Gesellschaft Und Kultur in Der Endzeit Des Realsozialismus (Beitrage Zur Politischen Wissenschaft, 98) (German Edition) 3428090136, 9783428090136

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German Pages 635 [648] Year 1997

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Gesellschaft Und Kultur in Der Endzeit Des Realsozialismus (Beitrage Zur Politischen Wissenschaft, 98) (German Edition)
 3428090136, 9783428090136

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WERNER ROSSADE

Gesellschaft und Kultur in der Endzeit des Realsozialismus

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 98

Gesellschaft und Kultur in der Endzeit des Realsozialismus

Von Werner Rossade

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rossade, Werner: Gesellschaft und Kultur in der Endzeit des Realsozialismus I von Werner Rossade. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft ; Bd. 98) ISBN 3-428-09013-6

Alle Rechte vorbehalten

© 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: W. März, Tübingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-09013-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Vorwort Das Manuskript, aus dem diese Publikation hervorgegangen ist, war im Februar 1989 abgeschlossen. Neun Monate später brach in Ostdeutschland der angeblich real existierende Sozialismus zusammen, tatsächlich ein real nicht existierender Sozialismus ("socialisme reellerneut inexistant": Chevimement 1992, 17) oder, wie ich sagen würde, ein längst nicht mehr existierender Sozialismus. Zwei Jahre danach war auch die realsozialistische UdSSR am Ende. Kennzeichnend für die realsozialistische Endzeit war, daß ein vorgeblich ,entwickelter Sozialismus' sich in der offiziellen Eigendarstellung als nunmehr auf seinen ,eigenen Grundlagen' beruhend und weiterschreitend präsentierte, während er tatsächlich mehr und mehr von Übernahmen und Entlehnungen aus dem westlichen Konkurrenz- und Partnersystem lebte, eingeschlossen dessen direkte Unterstützung für ihn. Auf dem Wege zum bloßen Abklatsch des westlichen Systems wollte sich der Realsozialismus gleichzeitig davon abgrenzen und sich aus - längst nicht mehr vorhandenen alten wie auch vermeintlich neu erworbenen - Alternativ- und Innovationsqualitäten legitimieren. An dieser Unvereinbarkeit ist er zugrunde gegangen. Als Mischgebilde aus Restbeständen des Friihsozialismus sowjetischer Prägung und, zumeist dilettantisch adaptierten, Strukturelementen des westlichen Kapitalismus und seiner Soziokultur konnte der sogenannte Realsozialismus weder eigene Grundlagen noch ein eigenes Gesicht gewinnen, es sei denn das von Niedergang, Stagnation und Auflösung. Angeblich einer großen Zukunft sicher, erwies er sich als reif zum Untergang. Das vorliegende Buch untersucht an Material hauptsächlich aus DDR und UdSSR soziokulturelle und politisch-kulturelle Spezifika dieses Vorgangs, als Beitrag zur Aufarbeitung einer Entwicklung, deren Analyse für weit gefaßte Kultur ebenso wie für die Aussichten von Demokratie und Sozialismus noch manches zu sagen haben wird. Es läßt die Veränderungen der letztvergangenen Jahre nicht außer Betracht, richtet sich jedoch vor allem auf die Endzeit des Realsozialismus, die als solche inzwischen schon Geschichte geworden ist, wenngleich ihre Nachwirkungen noch ganz und gar gegenwärtig sind und viele Eigenheiten des endenden Realsozialismus erst jetzt voll hervortreten, so in Gesellschaft und Politik des ,neuen' Rußland oder in den Aktionen seines Verbündeten, des groß-serbischen Faschismus.

6

Vorwort

Das ursprüngliche Manuskript entstand als Forschungsprojekt bei Ralf Rytlewski am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihm sind vielfältige Anregungen und Unterstützung zu verdanken, nicht zuletzt die Vermittlung finanzieller Förderung des Projekts durch die Fritz Thyssen Stiftung, die auch die Drucklegung durch einen finanziellen Zuschuß erleichtert. In dem Projekt arbeiteten seinerzeit Anna-Sabine Ernst, Birgit Sauer und Gabriete Stiller mit (s.a. unsere Beiträge in Berg-Schlosser I Schisster [Hg.) 1987; Rytlewski [Hg.) 1989; Wehling [Red.) 1989 und Mänicke-Gyöngyösi I Rytlewski [Hg.) 1990). Das 1989 vorliegende Manuskript wurde anschließend unter Beteiligung, neben unserem früh verstorbenen Kollegen und Freund Manfred Opp de Hipt, von Anna-Sabine Ernst, Christa Lang-Pfa.ff, Etke Macker, Birgit Sauer, Dietmar Schirmer und Gabriete Stiller diskutiert. Ihnen allen sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt, ebenso Ursu/a Fischer-Rossade, die mir über Jahre wiederum eine stets verläßliche Hilfe gewesen ist. Bei der Beschaffung der Vorlagen für die Fototafeln (Abb. I- XII) halfen Ulrike Osang, Birgit Sauer, Raymund Stolze und Utrike Treziak, die Bilderdienste dpa und Bilderberg sowie das Bundesarchiv in Koblenz und die Bibliothek des Instituts für Sportwissenschaft der Technischen Universität München. Die umfangreiche und komplexe Arbeit der Einrichtung des Textes für den Laserausdruck besorgte in bewährter Exaktheit und Zuverlässigkeit Dr. Wolfgang März. Für die verlegerische Betreuung der Publikation ist Herrn Prof. Dr. Norbert Sirnon und seinen Mitarbeiterinnen, insbesondere Frau Birgit Müller, zu danken. München, am 14. Juli 1996

Werner Rossade

Inhaltsverzeichnis Einleitung

19

I. Ethnosoziologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

2. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

3. Zum Forschungsstand

30

. .. . . .. . ... . . .. . . .. . .. . . . .. . . .. . .

4. Komponenten des Ansatzes, Gliederung der Untersuchung, zentrale These

A. Lebensstile

32

38

I. Lebensstile und Alltagskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

2. Sozialstruktur und Lebensstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

3. Unterschiede nach sozialer Schicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

3.1 Leiter und Werktätige, Arbeiterklasse und Intelligenz

. . . . . . . . . .

47

3.2 Die Führungsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

3.3 Die obere Leitungsebene nach der Spitzengruppe . . . . . . . . . . . . .

60

3.4 Mittlere Leiter und Fachleute

... . . .. . . .. . ... . . .. . . . . . .

62

3.5 Untere Funktionsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

3.6 Städtische Arbeiter und kleine Angestellte . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

3.7 Leiter und Werktätige auf dem Lande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

3.8 Reste von alter Bourgeoisie und traditionellem Kleinbürgertum . . . .

83

3.9 Studenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

3.10 Randgruppen und ,Aussteiger'

91

4. Unterschiede nach dem Geschlecht

95

4.1 ,Gleichberechtigung' und tatsächlicher Status . . . . . . . . . . . . . . . .

95

4.2 Rollenmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

4.3 Patriarchat und Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I 03

8

Inhaltsverzeichnis

5. Unterschiede nach Altersgruppen . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .

106

5.1 Nichtjugendliche Erwerbstätige und Hausfrauen . . . . . . . . . . . . . .

107

5.2 Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

5.2.1 Parteijugend und entfremdeter Jugendkult . . . . . . . . . . . .. .

109

5.2.2 Herrschende Muster . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. .

111

5.2.3 Spezifika des realsozialistischen Jugendlebens und der Umbruch

113

5.3 Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... ... .

116

5.4 Alte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .

120

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... .

123

6.1 Arbeitszeit, arbeitsfreie Zeit, Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . ... .

123

6.2 Arbeitstätigkeit und Lebensstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .

124

6.3 Komponenten der Freizeittätigkeit Amerikanismus . . . . . . . . . .. .

125

6.4 Kulturbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

6.5 Unterhaltungskultur .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .

141

6.6 Mode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

7. Zivil- und Mililärdienst .. .. . .. .. . . ...... . . .. .. ..... . .. .

155

7.1 Gegenseitige Durchdringung und Ergäpzung . . . . . . . . . . . . . .. .

155

7.2 Differenzierungen nach Alter und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . .

157

7.3 Waffendienst als Lebensstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

8. Öffentliche und persönliche Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

8.1 Öffentlichkeit im ,realen Sozialismus' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

8.2 Konflikt und Konsens .... . ..... . ...... . ........ . .. .

170

8.3 Offizielle und Zweite Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

8.4 Institutioneller und persönlicher Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

8.4.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

175

8.4.2 Staat und Partei. Von der SED zur PDS

175

8.4.3 Blockparteien und Massenorganisationen . . . . . . . . . . . . . .

182

8.4.4 Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften . . . . . . . . . . . .

186

8.4.5 Familie . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188

8.4.6 Persönliche Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

198

8.5 Wissenschaft und Lebenswelt . . . ... .. . ... . . . . . . . . . . . . .

203

8.6 Fazit zu Partizipation und Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . .. .

204

Inhaltsverzeichnis

B. Leistungsmuster (Arbeitsmuster)

9 212

9. Arbeitskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

212

9.1 Ökonomie der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

212

9.2 Rationalität, Rationalisierung, Effektivierung . . . . . . . . . . . . . . . .

213

9.3 Kreativität und Schematismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

217

9.4 ,Humanisierung der Arbeit' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

220

10. Wissenschaftskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

10.1 Bestimmungselemente von Wissenschaftskultur . . . . . . . . . . . . . .

226

10.1.1 Wissenschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

226

10.1.2 Originalität und Entlehnungen . . . . : . . . . . . . . . . . . . .

229

10.1.3 Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

230

10.1.4 DDR-Niveau und Weltniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

234

10.1.5 Proportionen und Akzente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

10.1.6 Ausstattung und Arbeitsmöglichkeiten der Wissenschaft . . .

242

10.1.7 Strukturen, Kommunikationsmöglichkeiten und Kommunikationsstile der Wissenschaftlergemeinde . . . . . . . . . . . . .

243

10.1.8 Sozialstatus und Lebenslage der Wissenschaftler . . . . . . . .

245

10.2 Konzeptionelle Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

10.2.1 Ein weiter Kulturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 10.2.2 Kybemetisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

256

10.2.3 Soziologisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

258

10.2.4 Wissenschaft und Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

10.3 Realsozialistische und westliche Wissenschaftskultur . . . . . . . . . .

276

II. Künstlerische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

11 .1 Politik und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

280

11.2 ,Optimismus' und Realistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

11 .3 Epigonen und Modeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282

11.4 Kitsch und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

286

11.5 Kunst und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288

11.6 Kunst und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

12. Körperkultur und Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294

10

Inhaltsverzeichnis 12.1 KKS als allgemeines Leistungsvorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294

12.2 Kulturwissenschaftliche Position von Körperkultur und Sport . . . . .

295

12.3 Spitzensport und Breitensport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

12.4 Selbstzweck oder Instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

12.5 Sport und politische Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306

13. Kultur der Naturverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

13.1 Marx über das Verhältnis zur Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

13.2 Menschlicher Körper und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

13.3 Natur in alltagssprachlichem Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

326

13.4 Verhältnis zum Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

13.5 Umwelt der industriellen Gesellschaft

334

. . . . . ... . . . .. .. . . . .

C. Politische Kultur

340

14. Das Paradigma ,politische Kultur'

340

15. Führungsvorgaben und Realitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

342

15. 1 Entwickelte sozialistische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

342

15.1.1 Der ,entwickelte Sozialismus' als spezifisch eigenständige Formation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

342

15.1.2 Der Realsozialismus als Epoche der Kulturgeschichte

344

15.1.3 Führung und Leitung, innenpolitisch und international

345

15.1.4 Der Realsozialismus als die ,bessere' Industriegesellschaft . .

350

15.2 Kulturelle Wertigkeit des Realsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

15.2.1 Der Realsozialismus als ,humane Friedensordnung' . . . . . .

355

15.2.2 Militär und Militarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

15.2.3 Sicherheit als zentrales Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

360

15.2.4 Normen der ,sozialistischen Persönlichkeit' . . . . . . . . . . .

363

15.3 ,Sozialistisches Leistungsprinzip' und ,sozialistische Lebensweise' . .

367

15.4 Kulturrevolution, Erbe, Modemisierung

. .. . ... . . .. .. . . . . .

372

15.4.1 Kulturrevolution und Realsozialismus . . . . . . . . . . . . . . .

372

15.4.2 Erberezeption und Geschichtsbewußtsein . . . . . . . . . . . . .

374

15.4.3 Theorie und Praxis von Modemisierung . . . . . . . . . . . . .

381

15.4.4 Gestaltung des Realsozialismus als Reproduktion von Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

386

Inhaltsverzeichnis

11

1505 Ethnokultur und Internationalismus 0 o o o 0 o o o o 0 o o o 0 0 0 0 0 0 0 0 389 l5o5ol Grundsätzliches 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 389 150502 Hinterlassenschaft des Realsozialismus in Osteuropa, der Russischen Föderation und der ,Gemeinschaft unabhängiger Staaten' (GUS) o o 0 0 0 o o 0 0 o o 0 0 0 o o 0 0 0 o 0 0 0 0 0 0 0 0 391 1505.3 Deutschland und seine neuen Bundesländer 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 396 1506 Realsozialistische Sprachmuster 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 402 l6o Künstler und Realsozialismus

0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 406

16.1 Partei und Kunstschaffende 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 406 1602 Leben im ,realen Sozialismus' 0 o o 0 o o o 0 0 0 0 o 0 0 0 0 o 0 0 0 0 0 0 0 410 1603 Arbeiterklasse und Partei o 0 o o o o 0 o o o 0 o o o o 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 411 16.4 Frau und Mann 0 0 o 0 o 0 o 0 0 0 0 0 0 0 0 o 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 412 l6o5 Neuerer und Aussteiger 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 413 l6o6 Einverständnis und Empörung 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 414 1607 Einverständnis und Nachdenken 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 416 16o8 Humanisierung gegen Technizismus 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 416 l6o9 Nüchternheit gegen Schwulst o o o o o o o o 0 o o o o o o 0 o o 0 0 0 o 0 0 0 416 16010 Allgemeinmensch und Historie o o 0 0 o 0 0 0 o o 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 417 l6oll Zur Positionstypologie der DDR-Schriftsteller 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 417 170 Perzeptionen und Aktionen von Opposition

432

1701 Ende einer Epoche von Sozialismus 0 0 o 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 432 1702 Bürgerbewegung und Wende 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 434 17.3 Alternative 0 o o 0 o o o o o o o o o o o 0 0 o o 0 0 0 0 o 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 439 18o Ostpolitik und Ostforschung 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 443 1801 Politik und Bewußtseinsbildung gegenüber dem Realsozialismus 0 0 0 443 18o2 Realsozialismusforschung o 0 0 o o o 0 0 0 o 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 447

Schluß

451

Anhang

456

Exkurs 1: Ein Generalsekretär und ein Partei- I Fraktionsvorsitzender: Eo Honecker und Go Gysi o o o o o o o 0 o o o o o o o o o o 0 o 0 0 o 0 0 0 0 0 0 0 456 Exkurs 2: Ein Politbüro und ein Devisenbeschaffet 0 0 0 0 o 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 461

12

Inhaltsverzeichnis

Exkurs 3: Eliten im Realsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

470

Exkurs 4: Handwerker im Realsozialismus

476

Exkurs 5: Realsozialismus und Dritte Welt

478

Literaturverzeichnis

487

I. Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

2. Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

3. Weitere Dissertationen (bis 1984) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

569

4. Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

572

Register

577

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 1: Zusammenhang von Qualifikation und Wertorientierungen . . . . .

54

Tabelle 2: Lebens- und Berufsalter von Leitern verschiedener Ebenen . . . . Tabelle 3: Infrastruktur der RGW-Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

Tabelle

72

Tabelle 4: Anteil der Berufstätigen in der Landwirtschaft der DDR nach Bezirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

Tabelle 5: Berufstätige in der Landwirtschaft der DDR . . . . . . . . . . . . .

77

Tabelle 6: Behinderte in der DDR (Altersgruppe 0 bis unter 18 Jahre [1978]) . . . . . . . •. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Tabelle 7: Bevölkerungsdichte DDR- BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

Tabelle 8: Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Belohnung von Kindern flir Mithilfe in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Tabelle 9: Komponenten der arbeitsfreien Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124

. . . . ... . . . . . . . . . . .

138

Tabelle 10: Freizeittätigkeiten nach Rangplätzen

Tabelle II: Mode-Interesse nach Altersgruppen und Geschlechtern . . . . . . .

152

Tabelle 12: Repräsentanz gesellschaftlicher Gruppen in den örtlichen Volksvertretungen der DDR (1965-1984) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

Tabelle 13: Sitzverteilung in der Volkskammer der DDR . . . . . . . . . . . . .

178

Tabelle 14: Mitgliederentwicklung gesellschaftlicher Organisationen der DDR (1961 - 1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Tabelle 15: FDGB (Mitgliederentwicklung, Funktionäre, Kommissionen, Aktive) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

184

Tabelle 16: Mitgliederentwicklung der Blockparteien . . . . . . . . . . . . . . . .

185

Tabelle 17: Anzahl der Ehescheidungen BRD- DDR . . . . . . . . . . . . . . .

194

Tabelle 18: Haushaltgrößen in beiden deutschen Staaten . . . . . . . . . . . . .

195

Tabelle 19: Personeller und finanzieller Aufwand flir Forschung und Entwicklung in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Tabelle 20: Entwicklung im Hochschulwesen der DDR . . . . . . . . . . . . . .

236

Tabelle 21: Erwartungen von Arbeitern an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Tabelle 22: Öffentliche Sporteinrichtungen in DDR und BR Deutschland . . .

298

Tabelle 23: Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen durch Schülersport . .

305

14

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabelle 24: Schülerleistungen und Freizeitsport . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Tabelle 25: Das Sexualleben als Lebenswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

Tabelle 26: Einstellung zu homosexuellen Neigungen . . . . . . . . . . . . . . .

324

Tabelle 27: Weltproduktion an Nerzen und Füchsen . . . . . . . . . . . . . . . .

332

Tabelle 28: Unterschiede in der Arbeitsproduktivität BRD- DDR . . . . . . . .

352

Tabelle 29: Berufliche Ausbildung und Qualifizierung von Kadern aus Entwicklungsländern in der DDR 1979- 1986 . . . . . . . . . . . . . .

483

Tabelle 30: Aufteilung der Erdteile nach dem Statistischen Taschenbuch der DDR . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ·..

484

Abbildung I: Schema des Zusammenhangs von sozialer Lage, kulturellem Habitus und Lebensstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Abbildung 2: Beziehungen zwischen Kollektivität (Leitungstätigkeit) und Arbeitsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Abbildung 3: Körperkultur und Sport im gesellschaftlichen System des Realsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Abbildung 4: Soziale Differenzierung des Sportverhaltens bei 18- bis 39jährigen Probanden der Landbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . .

304

Fototafeln (nach Seite 340) Abbildung I:

Militärparade in Ost-Berlin zum Gründungstag der DDR 1979 (dpa)

Abbildung II:

Militärparade in Ost-Berlin zum Gründungstag der DDR 1984 (dpa)

Abbildung ill:

Militärparade in Ost-Berlin zum Gründungstag der DDR 1986 (dpa)

Abbildung IV:

Honecker und Sowjetgeneral Kulikow auf der Jagd (aus: Honecker 1982, 449)

Abbildung V:

Honecker und Breshnew fahren zur Jagd (aus: ib., 444)

Abbildung VI:

Sportlerinnen (aus: Sport in unserem Leben 1979, 174f.)

Abbildung VII:

Erster Mai 1988, Ost-Berlin (privat)

Abbildung

vm:

Abbildung IX:

Erster Mai 1988, Ost-Berlin (privat) Glückwunschkarte zur Jugendweihe

Abbildung X:

Glückwunschkarte zum Frauentag

Abbildung XI:

Punks in Ost-Berlin (nach: GEO, 13.2.1985, Titelbild)

Abbildung XII:

Plakat zum Pfingsttreffen der FDJ i989

(Abb. IV und V: Wiedergabe mit freund). Genehmigung des Bundesarchivs in Koblenz)

Abkürzungsverzeichnis ABF

Arbeiter- und Bauernfakultät

ABI

Arbeiter- und Bauern-Inspektion

AdK

Akademie der Künste

AdW

Akademie der Wissenschaften

AG

Akademie fiir Gesellschaftswissenschaften

BGL

Betriebsgewerkschaftsleitung

BISS

Berliner Institut fiir sozialwissenchaftliche Studien

BPO

Betriebsparteiorganisation

BSP

Bruttosozialprodukt

CDU

Christlich-Demokratische Union

CSSR

Tschechoslowakische (Cehoslovakische) Sozialistische Republik

DBD

Demokratische Bauernpartei Deutschlands

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DEFA

Deutsche Film-Aktiengesellschaft

DFD

Demokratischer Frauenbund Deutschlands

DHfK

Deutsche Hochschule fiir Körperkultur

DKP

Deutsche Kommunistische Partei

DRK

Deutsches Rotes Kreuz

DSF

(Gesellschaft fiir) Deutsch-Sowjetische Freundschaft

DTSB

Deutscher Turn- und Sportbund

DVPW

Deutsche Vereinigung fiir Politische Wissenschaft

EOS

Erweiterte Oberschule

FDGB

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund

FDJ

Freie Deutsche Jugend

FGB

Familiengesetzbuch

FKK

Freikörperkultur

FuE

Forschung und Entwicklung

GEW

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

16

Abkürzungsverzeichnis

GO

Grundorganisation

GPG

Gärtner-Produktionsgenossenschaft

GST

Gesellschaft für Sport und Technik

GUS

Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

IM

Inoffizieller Mitarbeiter (des MfS der DDR)

IPW

Institut für internationale Politik und Wirtschaft

KB

Kulturbund

KDT

Kammer der Technik

KG

Kampfgruppe

KGB

Komitet Gosudarstwennoj Besopasnosti (Komitee für Staatssicherheit (der UdSSR))

KJS

Kinder- und Jugendsportschule

KJVD

Kommunistischer Jugendverband Deutschlands

KKS

Körperkultur und Sport

KKW

Kernkraftwerk

KMU

KarI-Marx-Universität

KP

Kommunistische Partei

KPD

Kommunistische Partei Deutschlands

KPdSU

Kommunistische Partei der Sowjetunion

KPF

Kommunistische Partei Frankreichs (PCF - Parti Communiste Fran,.ais)

KVP

Kasernierte Volkspartei

KZ

Konzentrationslager

LDPD

Liberaldemokratische Partei Deutschlands

LP

Langspiel(schall)platte

LPG

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

MfS

Ministerium für Staatssicherheit

MVR

Mongolische Volksrepublik

NDPD

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

NKFD

Nationalkomitee Freies Deutschland

NOK

Nationales Olympisches Komitee

NÖS

Neues Ökonomisches System

NPT

Nationalpreisträger

NS

nationalsozialistisch

NVA

Nationale Volksarmee

NVR

Nationaler Verteidigungsrat

Abkürzungsverzeichnis OECD

Organization for Economic Cooperation and Development

PDS

Partei des demokratischen Sozialismus

PG

Produktionsgenossenschaft

PGH

Produktionsgenossenschaft des Handwerks

PLO

Palästinensische Befreiungsorganisation

PO

Parteiorganisation

RFB

Rotfrontkämpferbund

RGW

Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe

RSFSR

Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik

SA

Sturmabteilung (der NSDAP)

SAJ

Sozialistische Arbeiterjugend

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

StGB

Strafgesetzbuch

SV

Schriftstellerverband

TKS

Technisch-kompositorische Sportarten

17

TNT

Trinitrotoluol

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

UNESCO

Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung und Wissenschaft

UNO

Organisation der Vereinten Nationen

VdgB-BHG

Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe - Bäuerliche Handelsgenossenschaften

VEB

Volkseigener Betrieb

VEG

Volkseigenes Gut

VKSK

Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter

VP

Volkspolizei

WAO

Wissenschaftliche Arbeitsorganisation

ZK

Zentralkomitee

zv

Zivilverteidigung

vs

2 Rossade

Volkssolidarität

Einleitung Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Soziokultur einer realsozialistischen Gesellschaft bzw. eines bestimmten Typus realsozialistischer Gesellschaften in ihrem Wandel, unter dem Gesichtspunkt hervortretender charakteristischer Prägungen, die in ihrer Gesamtheit die spezifische Eigenart einer solchen Gesellschaft ausmachen.

1. Ethnosoziologischer Ansatz Die Untersuchung richtet sich, um derartige gesellschaftlich-kulturelle Prägungen festzustellen, auf zwei Strukturierungen jeglicher Sozietät. Die eine läßt sich mit dem in den Sozialwissenschaften heute gebräuchlichen Begriff der Kulturmuster oder kulturellen Muster erfassen. Dem Konzept liegt die Tatsache zugrunde, daß Kultur(en), kulturelle Phänomene, Gesellschaft(en) unter kulturellem Blickwinkel nicht als amorphe Gebilde, sondern in besonderer Weise organisiert erscheinen. Soziokulturelle Gegebenheiten bieten sich dar als unterschiedene und unterscheidbare, relativ beständige Konfigurationen von Merkmalen und Eigenschaften (Bourdieu 1984, 278). Sie sind, da Gesellschaft aus dem Handeln von Menschen und Menschengruppen entsteht und besteht, Existenzweisen sozialer Praxis (ebenda). Ich verstehe diese Kulturmuster (,cultural patterns') als prägende Elemente der gesellschaftlichen Kultur, in der sie vorhanden sind, nicht als Synonym für deren Gesamtprägung (,pattern of culture'), wie Ruth Benedict (1934). Bei ihr fungierte das Kulturmuster als hypostasierter Idealtypus, als eine Art Platonsche Idee, die sich in den realen Erscheinungen der betreffenden Kultur (annähernd) verwirklicht, oder auch wie Archetypen im Sinne von C.G. Jung, und mystifiziert insofern die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Vorgänge. Für die soziokulturelle Gesamtprägung einer Gesellschaft (auch Epoche etc.) ziehe ich den Begriff Stil vor.1 Kulturmuster wären dann Elemente von Stil, stil' Stil im gebräuchlichen Verständnis meint die Gesamtprägung einer Kultur, einer Epoche, einer Gesellschaft, aber auch Einzelelemente der Soziokultur, z.B. den Stil des Umgangs der Menschen miteinander, den Ton in den Beziehungen auch zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, die Art und Weise wissenschaftlichen Arbeitens, künstlerische Stile auf partikularerer Ebene als Epochenprägungen. Der Begriff schließt bestimmte Wertungen ein, nicht nur positive: es wird auch von ,schlechtem Stil' gesprochen. Positiv ist die Wertung in Hinsicht auf Individualitäten, wenn etwa gesagt wird, etwas oder jemand habe Stil.

20

Einleitung

Von einschlägiger Wissenschaft in der DDR wurde der Stilbegriff in einer Weise gefaßt, die den Gegebenheiten der realsozialistischen Gesellschaft angemessen und wohl zumindest unbewußt davon mitbestimmt war, wenn auch das expressis verbis Gesagte vom anderen System handelte (Möbius Hg. 1984, 31 zu einem Aufsatz von Jost Hermand zur Restauration in der BRD). Zum Begriff generell hieß es: "Wir verstehen Stil als ein synthetisierendes Ordnungsverhalten, das Gruppennormen über die sinnliche Verkörperung in den sozialen Austausch einbringt." "Als stilbildende Faktoren wirken die Nervenzentren des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses, die heiklen Stellen, dort, wo die Existenz von Klassen oder Gruppen auf dem Spiel steht, wo Auseinandersetzung notwendig wird" (ebenda). "Stile als Ordnungsweisen von Verhalten (in der Kunst und im Alltag) fungieren als Ordnungsfaktoren - und Machtinstrumente - der sozialen Struktur und Lokalität. Stil ist ,nicht einfach Ausdruck von etwas', er dient vielmehr ,der Vermittlung von Sinn'" (ebenda mit Zit. aus Olbrich 1975). Unter Bezug auf Bourdieu und Norbert Elias handelte Möbius vom kulturellen Stil als Prestigeinstrument und Herrschaftsmittel (ib., 28ff.). In diesem Kontext erschien Stil auch als Inbegriff von "Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustem" (vgl. ib., 28). Der Zusammenstoß zwischen Bürger- und Feudalordnung - hier ist von einem bestimmten Ereignis die Rede, aber das Muster läßt sich verallgemeinern, gleichsam für den alltäglichen Klassenkampf schlechthin, abgesehen von dessen großen Ausbrüchen und heftigen Zuspitzungen - sei nicht in der politischen Streitrede erfolgt, nicht in der Form ökonomischer Sanktionen, nicht im Handgemenge, sondern "innerhalb eines Komplexes kultureller Verständigungsmittel", die Bourdieu symbolische Formen genannt habe (ib.). Der Stil, in dem die sozialen Klassen und Gruppen aufträten, sei eine Funktion ihrer Stellung in der Gesellschaft, Mittel der Abgrenzung und Unterscheidung, der Distinktion. Die Position in der Sozialstruktur gehe "mit symbolischen Verhaltensformen entsprechenden Stils einher" (Bourdieu 1974, 62; s.a. Bourdieu 1979, 19, 31 , 80, 241, 250f., 460, 658). Sobel (1981 , 14) spricht im Zusammenhang mit Lebensstilen von der stilistischen Einheit kultureller (Konsum-) Muster. Persönlicher Stil wird im soziologischen Kontext zum Aneignungsvermögen, zur Aneignungskompetenz in bezug auf die normsetzenden Gruppenmuster. (Zum Stilbegriff s.a. Gumbrecht I Pfeiffer Hg. 1986.) Stil ist wohl nicht nur als Integral von Kulturmustern zu fassen, obwohl dies der Hauptaspekt sein dürfte. Es besteht auch eine Rückbeziehung, insofern die jeweils sozial und historisch zu beziehende kulturelle Gesamtprägung selbst auch eine "Konfiguration von Merkmalen und Eigenschaften" sozialer Praktiken darstellt. Diese Problematik der Begrifflichkeit kann hier nicht weiter verfolgt werden. Jedenfalls unterscheidet sich die konkret sozialstruktureHe Verortung von Stil und Kulturmuster deutlich von der viel abstrakteren Fassung Ruth Benedicts, in der das durchgängig prägende Kulturmuster und die kulturelle Musterung einer Gesellschaft durchaus zu "Urformen von Kultur" tendieren, wie eine deutsche Übersetzung ihres Buches betitelt ist: "A culture, like an individual, is a more or less consistent pattem of thought and action. Within each culture there come into being characteristic purposes not necessarily shared by other types of society. (...) Taken up by a wellintegrated culture, the most ill-assorted acts become characteristic of its peculiar goals, often by the most unlikely metamorphoses. ( ... ) Such patteming of culture cannot be ignored as if it were an unimportant detail. The whole, as modern science is insisting in many fields, is not merely the sum of all its parts, but the result of a unique arrangement and inter-relation of the parts that has brought about a new entity" (Benedict 1961, 33). Die gesellschaftlich-historischen Wurzeln soichen "pattemings" werden nicht expliziert, es sei denn, man nimmt "the emotional and intellectual mainsprings ofthat society" (ib.) dafür. ,Muster' im aktuellen sozialwissenschaftliehen Gebrauch ist eine Übertragung des eng!. pattem. Dessen Etymologie zeigt seine Herkunft von patron, dem altfrz. Wort, das von lat. patronus = ,Beschützer' von Abhängigen abgeleitet ist (Concise Oxf. Dict. 1983, 752). Das letztlich sozial bestimmte patemale oder patriarchale Moment in dem Wort mag ein Unge-

Einleitung

21

bildende und stilprägende Elemente einer soziokulturellen Gesamtheit (Gesellschaft). Der konfigurationale Ansatz der Kulturanalyse hat sich in der Wissenschaft neben anderen - dem historischen, dem nonnativen u.a. - herausgebildet (vgl. dazu Kroeber I Kluckhohn 1952, 41 ff., 61 ff.; dort auch zu verschiedenen Fassungen des Begriffs ,Kulturmuster'). ,Muster' als Organisationsprinzip, das gewissen Kulturmerkmalen bestimmte Positionen im soziokulturellen Zusammenhang einräumt und andere, die dem Schema nicht entsprechen, ausschließt - das also sowohl integrativ wie auch selektiv wirkt -, wurde durch Ruth Benedicts Lehrer Franz Boas (1858-1942) eingeführt (vgl. Girtler 1979, 243f.). Die Philosophie stieß, aufbauend auf Ergebnissen der Völkerkunde, der systematischen Religionswissenschaft und der Religionsgeschichte, zu vergleichbaren Mustern, ,symbolischen Formen', vor (Cassirer 1924 I 1977, VIII und passim; s.a. Cassirer 1923 I 1985). In der amerikanischen Kulturanthropologie wurden die Muster, anstelle von philosophischer Abgehobenheit, mit ethnologischem Material angefüllt. Zu einer wirklichen Verbindung von Ethnologie und Soziologie kommt es jedoch erst im französischen sozialwissenschaftliehen Denken. Schon bei Durkheim, dem Vater der modernen Soziologie, war die ethnologische Betrachtungsweise Bestandteil der soziologischen Analyse (vgl. Durkheim 1912 I 1984), mehr noch bei seinem wichtigsten Schüler und Nachfolger Marcel Mauss (1950184), dem Mitbegründer des Institut d'Ethnologie nügen des Begriffs deutlicher machen, das - auch bei ,Muster' - in einer inhärenten Überbetonung des Formalen liegt. Modell würde sich stattdessen anbieten, das auch bei der Begriffserklärung des engl. pattem ins Spiel kommt (model; vgl. ib.). Französisch läßt sich Muster im vorliegenden Sinne ohnedies am besten mit modele wiedergeben. Dieses Wort kommt wie das dt. Modell über eine italien. Verkleinerungsform (modella oder modello) vom lat. modus, Maß. Modulus wäre also ein kleines Maß, ein Maßelement, was den intendierten Sinn von ,Muster' gut wiedergeben könnte, wenn Maß im Sinne von Hege! (5, 387ff.) als Einheit quantitativer und qualitativer Bestimmungen verstanden wird. (In der Physik und Technik steht Modul als Bezeichnung für verschiedene Konstanten und Kenngrößen, in der Elektronik als Bezeichnung "für eine zu einer Schaltungseinheit zusammengefaßte Gruppe von eng zusammengebauten Bauelementen" (Meyers Enzykl. Lexikon, Bd. 16, 1976, 376).) Jedoch ist ,Modell' heute sozialwissenschaftlich wie im Gebrauch der Kybernetik anders besetzt: als vereinfachende symbolische Darstellung von Sachverhalten bzw. als isomorphe Abbildung komplexer Zusammenhänge eines Bereichs in einem anderen (Fuchs u.a. Hg. 1978, 514f.; Klaus/Liebscher Hg. 1979, I, 483ff.; Klaus / Buhr Hg. 1977, IJ, 805ff.). Eine strikte Operationalisierung des Begriffs ,Kulturmuster' müßte empirische Kriterien angeben, nach denen Merkmale in das jeweilige Muster einzubeziehen und andere aus ihm auszuschließen sind. Dies kann hier nicht ausgearbeitet werden. In der vorliegenden Untersuchung wird aus den hervortretenden inneren Zusammenhängen des Untersuchungsgegenstandes erschlossen, welche soziokulturellen Merkmalskonfigurationen als Grundfiguren, als spezifische Prägemuster des Gesellschafts- und Wertewandels im Realsozialismus anzusehen sind (vgl. a. Kleining 1995; Lamnek 3 1995; Gadamer 1990, 270ff.).

22

Einleitung

in Paris (1926) und Professor fiir Soziologie am College de France. Ebenso ist der soziologisch I ethnologische Blickwinkel in der modernen französischen Kulturhistorie präsent (vgl. Duby 1980, 1985; Leroi-Gourhan 1984; Moscovici 1984; s.a. Devereux 1981 ), und selbst wo thematisch von ,Anthropologie' die Rede und damit begrifflich die Möglichkeit einer Trennung von Mensch und Gesellschaft gegeben ist wie bei Claude Levi-Strauss (2 1984 u.v.a.), ist es dem Forscher um konkrete Gesellschaftlichkeit, nicht um ein abstraktes Menschenwesen zu tun (s.a. Levi-Strauss 1972). Mitunter bzw. des öfteren wird als Kulturanthropologie bezeichnet, was nach gegenwärtigem Verständnis Ethnosoziologie heißen müßte, wie bei Mühlmann oder in dem von König und Schmalfuß ( 1972) herausgegebenen Sammelband mit Arbeiten von Mauss, Dumas, Malinowski, Thurnwald, Rene König, Mühlmann, Kluckhohn und anderen. Zur Ethnosoziologie, wie sie in Deutschland von Thurnwald ausgehend besonders von Mühlmann verändernd weitergeführt wurde, vgl. Goetze I Mühlfeld 1984; zur Diskussion um die Abgrenzung von Soziologie und Kulturanthropologie Girtler 1979, 49ff. In der französischen Soziologie wurde das Programm einer Verbindung von Ethnologie und Soziologie auch von Bourdieu (1984, 14: Vorwort zur deutschen Ausgabe) expressis verbis angesprochen. In gewisser Weise hat, wie gesagt worden ist, Pierre Bourdieu als erster Cassirers "Philosophie der symbolischen Formen", die schon von kulturellen Konfigurationen als unterschiedlichen Weisen von Symbolverwendung, der symbolischen Repräsentation sozialer Gegebenheiten und Beziehungen handelte, vom theoretischen Himmel auf die sozialwissenschaftliche Erde geholt (Taubes zit. in Bourdieu 1974, 4. Umschlagseite), insbesondere durch seine Verbindung der konfigurationalen sozialen Praxisformen mit den konkreten Implikationen der Sozialstruktur. Das führt uns zu der erwähnten zweiten, einer allgemeineren gesellschaftlichen Strukturebene, zu der ein ethnosoziologischer Ansatz der Kulturanalyse den Zugang eröffnet. Dieser Ansatz geht davon aus, daß menschliche Kultur in der bisherigen Geschichte wie in der Gegenwart stets nur als eine Vielzahl von Kulturen existiert hat und existiert, deren Träger - auch nach ihren Sprachen - voneinander unterschiedene und unterscheidbare Ethnien (Völker[schaften], Nationen, regionale Völkergruppen) sind. Er verwendet einen weiten Kulturbegriff, der Kultur nicht auf einzelne ihrer Seiten oder Elemente (,Hochkultur' insbesondere) einschränkt, sondern sie so umfassend versteht wie die Ethnologie, auch die Archäologie oder andere historische Disziplinen. Soziologische Rezeption der Ethnologie vermag Einsichten zu vermitteln, die sich in zwei Hauptpunkte zusammenfassen lassen (vgl. Thurn 1976, 73-93): Relativierung des Eurozentrismus in der Sicht und Wertung von Kultur; Öffnung der Kulturauffassung für die Bereiche, die für menschliches Leben und

Einleitung

23

menschliche Entwicklung fundamental sind und ohne die eine Hochkultur gar nicht existieren kann. Wie bei Bourdieu (1984, 17) formuliert, ist ein umfassendes Kulturverständnis erst dann erreicht, "wenn ,Kultur' im eingeschränkten und normativen Sinn von ,Bildung' dem globaleren ethnologischen Begriff von ,Kultur' eingefügt und noch der raffinierteste Geschmack für erlesenste Objekte wieder mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen verknüpft wird". Ethnosoziologisches Kulturverständnis hat eine Reihe von Konsequenzen, die sich unter wiederum zwei Aspekte subsumieren lassen, unter den der Soziokultur und den der Ethnokultur. Unter dem ersten Aspekt heißt ethnosoziologische Kulturauffassung hauptsächlich dies: l. Kultur besteht nur als Einheit ihrer materiellen und geistigen Elemente, wobei die zweiten auf den ersten aufbauen, von ihnen ableitbar sind. Kultur erschöpft sich nicht in Spitzenleistungen von Wissenschaft und Kunst, in religiösen Bildungen oder dem Lebensstil von sozialen Oberschichten, sondern zu ihr gehören an erster Stelle die jeweiligen Weisen der materiellen und geistigen Produktion, die Arbeits-, Ernährungs-, Wohn- und überhaupt Lebensverhältnisse vor allem der breiten Massen der Bevölkerung, nicht zuletzt auch die Beschaffenheit der politischen Institutionen und Strukturen einer Gesellschaft, in der solche Gegebenheiten vorhanden sind. 2. Kultur erschöpft sich nicht in spektakulären Ausnahmeerscheinungen oder dem gesellschaftlichen Lebensprozeß von Eliten, sondern besteht vor allem als Inbegriff massenhafter Alltagskultur. Die Abwendung vom eingeschränkten und Hinwendung zum ethnosoziologischen Kulturbegriff schließt die Aufnahme dieser Alltagskultur in Forschung und Begriffsbildung als wichtiges Moment ein. Wie in der Soziologie generell, so gewinnt in der Soziologie der Kultur der Alltag, d.h. der unspektakuläre Lebensablauf in (Klein-)Arbeit, laufenden Verrichtungen zur eigenen Person, in Haushalt und Familie sowohl in - ebenfalls mehr oder minder ritualisierten - Freizeitbeschäftigungen zunehmend Beachtung (vgl. Abschn. 1). Hierin wie in dem im ersten Punkt genannten Bezügen wird der Übergang zu einem weiten Kulturbegriff auch in einem allgemeineren, nicht nur spezialistisch wissenschaftlichen gesellschaftlichen Bewußtsein durch soziale und politische Veränderungen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den modernen Massenmedien, gefördert, die auf einen Abbau der Trennung zwischen ,hoher' und ,trivialer' Kultur hinwirken können (vgl. KpWb 1983, 7). 3. Kultur existiert nicht nur in einem allgemeinen Sinne in Einheit mit Gesellschaft, sondern die kulturellen Bildungen einer Gesellschaft, insbesondere die wirklichen Lebensstile der sie ausmachenden Menschengruppen, sind abhängig von der Sozialstruktur, von der in dieser Gesellschaft bestehenden

24

Einleitung

sozialen Schichtung. Wie Bourdieu (bes. 1974, 125ff.; 1984, 277ff.) herausgearbeitet hat, sind die gesellschaftlichen Kulturprozesse wesentlich ein Austragen widerstreitender sozialer Gruppen- und Schichtinteressen im Medium geronnener, tradierter Verhaltensmuster und symbolischer Formen, in denen sich soziale Realitäten scheinhaft, aber lebenswirksam verdoppeln (zu diesen Mustern s.a. Goffmann 1969; 1971; 1973; 1977; ferner Narojek 1990). Unter dem Aspekt der Ethnokultur folgt aus dem ethnosoziologischen Kulturverständnis: I. Pluralität der Kulturen bedeutet auch Kulturrelativität, d.h. es gibt keine Hierarchisierung der Kulturen nach höher- und minderwertigen. Die darin eingeschlossene Ablehnung von Eurozentrismus kann methodologisch für die Politikwissenschaft besonders im Kontext des globalen Nord-Süd-Konflikts und der Forschungen über die Dritte Welt von Bedeutung sein. 2. Wenn anerkannt wird, daß der Reichtum menschlicher Kultur wesentlich auch in der Mannigfaltigkeit der realen Ethnokulturen und der Sprachen, in denen sie sich ausdrücken, besteht, dann ergibt sich daraus eine Gegenposition zu den tatsächlich vorhandenen ethnisch-kulturellen Ungleichheiten und Diskriminierungen bis zum physischen Genozid, damit auch zu politischen Strukturen auf der Ebene von Staaten, die solche Ungleichheiten konservieren und verschärfen. 3. Vom Standpunkt freier Entwicklung aller historisch realen und möglichen Fähigkeiten der Menschheit, der von einem rationalen, aufgeklärten wissenschaftlichen Kulturbegriff nicht zu trennen ist, ist zu postulieren, daß die feststellbare objektive Entwicklungstendenz in Wirtschaft und Gesellschaft der Gegenwart zur Aufhebung der unterschiedlichen Ethnokulturen in einer universellen menschheitlichen Soziokultur auf demokratischem Wege realisiert wird, d.h. durch stufenweises Verschmelzen der Ethnokulturen in einem längeren historischen Prozeß, nicht auf traditionell herrschaftlichem Wege, indem eine oder einige wenige dominierende Ethnokulturen andere oder alle anderen mehr oder minder gewaltsam absorbieren. Derartiges ist heute vor allem im Hinblick auf den sog. Amerikanismus im Gange, eine europide Spätzivilisation mit sehr ausgeprägt ethnokulturellen, keineswegs universellen Charakteristika, die sich von dem machtpolitisch dominierenden Industriestaat der Gegenwart, den USA, her global ausbreitet. In verkleinertem Maßstab hatte dieser Vorgang ein Gegenstück in der Dominanz einer spezifischen industriegesellschaftlichen Ausprägung russischer Ethnokultur innerhalb großer Teile des realsozialistischen Staatenbereichs, hauptsächlich in der UdSSR. Daß diese beiden partikularen Ethnokulturen sich pseudo-universalistisch zur Herrschaft drängten und drängen - die eine primär mit kommerziellen und überhaupt wirtschaftlichen, die andere primär mit machtpolitischen Mit-

Einleitung

25

teln -, ist offensichtlich von der ,Super'machtrolle der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nicht zu trennen (zu dieser vgl. in Abschn. 15.1.3 und Exkurs 5). Insofern der reale Sozialismus, wie die vorliegende Untersuchung in mannigfacher Hinsicht aufweist, sich zunehmend an die von ihm als vorbildhaft perzipierte westliche Industriegesellschaft annäherte, tendiert der Pseudo-Universalismus dazu, sich auf seine amerikanistische Ausprägung zu reduzieren. Dieser Vorgang wird im Rahmen der folgenden Untersuchung vor allem im Zusammenhang mit der massenhaften alltäglichen Freizeitkultur, aber auch der Lebensweise im Realsozialismus überhaupt relevant (vgl. bes. 6.36.6). Die faktische Ungleichheit der Ethnokulturen im Realsozialismus behandelt hier vor allem der Abschnitt über die Dialektik von Nationalem und Internationalem (15.5). Wesentlich ist, den ethnokulturellen Aspekt in seiner Einheit mit dem soziokulturellen zu sehen; eine Trennung beider kann im Grunde nur für die Zwecke übersichtlicher Darstellung erfolgen. Wie schon unser gedrängter Abriß ethnokultureller Problematik zeigt, ist diese nicht nur von soziokulturellen Gegebenheiten schlechthin, sondern von politischen Herrschafts- und Konfliktfeldern unablösbar. Mit dem ethnosoziologischen in Verbindung mit dem konfigurationalen (Kulturrnuster-)Ansatz ist die hauptsächliche theoretische Basis dieser Untersuchung bezeichnet. Weitere Elemente des Ansatzes werden später zur Sprache kommen (Abschn. IV dieser Einleitung). Zunächst einige nähere Bestimmungen des Untersuchungsgegenstandes.

2. Gegenstand der Untersuchung Der Name ,Realsozialismus' für den Gegenstand dieser Untersuchung folgt der Selbstbezeichnung des soziopolitischen Systems, das in der UdSSR und den auf sie orientierten analog verfaßten Staaten herrschte. Die Bezeichnung war seit den 60er Jahren üblich. Sie kam im Zusammenhang mit der Abwehr alternativer Sozialismusmodelle auf, denen gegenüber das sowjetische Modell als der einzige wirkliche, reale Sozialismus dargestellt wurde; vorher wurde sie nicht verwendet. Ich nehme den Terminus ,Realsozialismus', aus Gründen praktischer Bequemlichkeit vorwiegend ohne Anführungszeichen geschrieben, als Synonym für das sowjetische System, das sich um die Mitte der 50er Jahre herauszubilden begann und das zumindest in der UdSSR und einer Reihe von ihr dominierter Staaten herrschte. Da grundlegende Veränderungen, die damals in der Sowjetunion begannen und sich in ihr und den abhängigen Staaten fortsetzten, 2 später auch in anderen früher sozialistischen Staaten - in 2 Konsens besteht darüber, daß nach dem Tode Stalins Anfang März 1953 ein grundsätzlicher Wandlungsprozeß in der Sowjetunion einsetzte. Nicht einhellig ist die Wertung die-

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China vor allem- eingesetzt haben, läßt sich der Name ,Realsozialismus' in diesem Sinne über den näheren Herrschaftsbereich der UdSSR hinaus ausdehnen. Gegenstand der folgenden Untersuchung sind jedoch nicht Aspekte der Soziokultur des Realsozialismus generell, wiewohl manche feststellbaren Muster sicherlich nicht nur für einige, sondern für alle oder doch die meisten realsozialistischen Gesellschaften zutreffen dürften. Gegenstand der Untersuchung ist lediglich ein bestimmter Typus realsozialistischer Gesellschaften, und zwar am Beispiel der DDR - mit öfteren Ausblicken auf die UdSSR, punktuell auch auf andere realsozialistische Staaten -, weil sich der Vf. mit dieser realsozialistischen Gesellschaft mehr beschäftigt hat als mit anderen. Zudem mag diese Gesellschaft aufgrund von ethnokulturellen Besonderheiten des deutschen Realsozialismus manche generellen Merkmale deutlicher ausprägen als etwa Bulgarien und die CSSR, selbst auch als die UdSSR, die alle zum gleichen Typus realsozialistischer Gesellschaften zu rechnen sind. Innerhalb des in Staaten aufgegliederten realsozialistischen Systems lassen sich verschiedene Gruppen zusammenfassen - teils (UdSSR und Osteuropa) nach Rigidität des herrschenden Systems und I oder Konsequenz eingeleiteter grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen sowie nach größerer oder geringerer politischer Nähe zur sowjetischen Hegemonialmacht, teils (Asien, Lateinamerika, Afrika) nach den unterschiedlichen regionalen und kontinentalen Bedingungen gegenüber Europa I Nordasien I Mittelasien. Die jeweils zugehörigen Staaten weisen unter sich mehr Ähnlichkeiten auf als zu anderen Staaten mit grundsätzlich analogem soziopolitischem System. Danach ergibt sich etwa folgende Einteilung: UdSSR, DDR, CSSR und Bulgarien als eine Gruppe zeigten sich als deutlich unterschieden in Europa von Polen und Ungarn auf der einen Seite, auf der anderen Seite von Rumänien, Albanien und Jugoslawien (die unter sich wiederum verschieden waren), erst recht aber von den analog verfaßten und in analogen Entwicklungen begriffenen Staaten in Asien: China; die Mongolische Volksrepublik, politisch ein faktisches Anhängsel der UdSSR; Vietnam mit seinen unterworfenen Protektoraten Laos und Kambodscha; ferner von den entsprechenden Ländern auf anderen Kontinenten (Kuba; ithiopien bis ses Vorgangs. Im Rahmen der institutionalisierten Realsozialismusforschung wie auch der DDR- bzw. vergleichenden Deutschlandforschung überwiegt eine reformistisch getönte Deutung. Danach befand sich die Sowjetunion mit den Staaten ihres unmittelbaren Einflußbereichs in einem zwar langsamen und widersprüchlichen, aber alles in allem doch fortschreitenden Übergang vom ,Stalinismus' zu für westliche (und überhaupt gültige politischmoralische) Standards akzeptableren Struktur- und Herrschaftsformen. Entsprechendes gilt für China nach 1976177. Die konkrete Untersuchung zeigt, daß diese Prozesse sehr viel komplexer und weniger eindeutig, in wichtiger Hinsicht sogar absolut gegenteilig einzuschätzen sind.

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um 1990 u.a. ). Eine Sonderstellung nimmt die Koreanische Volksdemokratische Republik ein, die wohl einerseits im Innem die vor dem Entwicklungsbruch von Mitte der 50er Jahre geltende Strukturen am meisten beibehalten, andererseits aber auch in ihrer internationalen Politik die früheren Orientierungen bewahrt hat. Die folgende Untersuchung zur realsozialistischen Soziokultur hat es also vorrangig mit dem erstgenannten Typus realsozialistischer Gesellschaften zu tun, am Beispiel der DDR, mit den erwähnten Ausblicken auf andere Staaten - auch solche außerhalb der Gruppe, wie etwa Polen und China. Die Evolution des Realsozialismus seit Mitte der 50er Jahre durchläuft mehrere Etappen. Der folgende Versuch einer Periodisierung, der mit vorliegenden Periodisierungen nur teilweise übereinstimmt, 3 zielt darauf ab, die tat3 Hermann Weber (1980) teilt folgendermaßen ein: I) Die ,antifaschistisch-demokratische Umwälzung', 1945 149;2) Stalinisierung der DDR, 1949153; 3) Vollendung des neuen Gesellschafts- und Herrschaftssystems, 1953 I 54- 1961 (hier wird der Bruch kaum deutlich, und "Vollendung" des Systems ist ein sehr relativer Begriff!); 4) Festigung der DDR, 1961/65 (die verbreitete, grundsätzlich mit der Eigendarstellung konforme Sicht des Mauerbaus als ersten Schritt zur Konsolidierung der DDR); 5) Spätphase Ulbrichts, 1966/70; 6) DDR als Teil der ,sozialistischen Staatengemeinschaft', 1971/75 (ein Element, aber nicht das hauptsächliche); 7) die DDR nach dem IX. Parteitag der SED, 1976180. Glaeßner (1984, 644) rügt daran wie an anderen Darstellungen des Ablaufs der DDR-Geschichte (Deuerlein), daß man grosso modo der Eigendarstellung folge, wenngleich mit zum Teil anderen Bezeichnungen. Eine entscheidende Schwachstelle in Webers Periodisierungen sei die Vernachlässigung der deutsch-deutschen Beziehungen und der internationalen Anerkennung der DDR fiir deren innere Verfassung in den 70er Jahren (ib., 645) - die Rolle, die eine andere internationale Seite, nämlich die Zuspitzung der inneren sozialen Konflikte in UdSSR und Polen mit ihren Folgen einer Zäsur in der gesellschaftspolitischen Orientierung auch fiir die DDR spielte, fehlt leider auch bei Glaeßner. Er verweist aber auf Staritz (1979), der die Entwicklungsetappen der DDR-Gesellschaft aus ihren sozialen Strukturen und Konflikten heraus bestimmen wollte. Staritz kam dabei z.B. zu dem Ergebnis, daß die in den 60er Jahren zunehmende Möglichkeit indirekter Formierung und Regulierung innerhalb der hergestellten (gewachsenen??) sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen ihr Gegenstück in einer höheren Konfliktpotentialität als Folge des Mauerbaus hatte (ib., 93). Er akzeptierte jedoch die ,Entwicklung auf den eigenen Grundlagen', ohne Berücksichtigung der Angleichung an die westlichen Vorbilder - die allerdings Ende der 70er Jahre noch nicht so hervortrat wie dann in den 80er Jahren (ib.; s. dazu Glaeßner 1984, 645ff.; hier auch zu dem Ansatz von H. Zimmermann). Vgl. a. Fischer / Weber 1979. Eine Periodisierung zu Kulturentwicklung und Kulturpolitik in der DDR (Jäger 1982) folgt teilweise in den Grundzügen den Einteilungen von H. Weber u.a., aber mit häufig deutlicheren Akzenten, wie sie möglicherweise von dieser Seite her leichter zu sehen sind. So ist die 3. Periode nicht eine von Vollendung des neuen Systems, sondern zutreffend von "Krisen und Kursschwankungen nach dem Tode Stalins" (1953-1958). Die folgende ist die des Bitterfelder Weges - der durchaus schon ein umfassendes gesellschaftspolitisches Konzept war, eine Art kulturpolitischer Ersatzrevolution. Nicht akzeptabel scheint mir die Benennung der Periode 1971175 mit "Honeckers begrenzte Abkehr von alten Tabus": das ist nur eine Äußerlichkeit in der neuartigen Formierung des schon weitgehend gewandelten Systems nach dem Schock von 1970 I 71. Die Kennzeichnung der folgenden Jahre mit "Pragmatische Willkür statt ideologischer Eindeutigkeit" trifft eine nicht unwichtige Er-

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sächlichen Knotenpunkte des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses im sowjetsozialistischen Bereich herauszustellen.

1. Periode, 1953 I 56: Vorbereitungsetappe eines grundlegenden Umschwungs von der Partei- und Staatsfiihrung der Sowjetunion her. Richtungskämpfe in der Führungsspitze der KPdSU, auch der SED. Große Fortschritte der sozialistischen Umgestaltung in China ( 1949 Volksrepublik), bedeutende Zunahme des internationalen Gewichts Chinas innerhalb wie außerhalb des sozialistischen Lagers, Entstehen einer selbständigen Bewegung der Dritten Welt mit China und Indien als Kern (Bandung-Konferenzen, Prinzipien der friedlichen Koexistenz). 2. Periode, 1956164: Wandel in der UdSSR unter Chruschtschow und seiner Gruppe. Nachvollzug in den meisten europäischen Blockstaaten, in der DDR mit Verzögerung ab 1958. Beginn aktiver sowjetischer Globalpolitik Verständigung mit den USA als der anderen ,Super'macht, Ausgreifen nach der Dritten Welt, zuerst nach Südasien und Afrika, dabei Zerstörung der Ansätze von Bandung. Kuba wird nach kurzer revolutionärer Periode Außenposten der sowjetischen Vormacht. Die unmittelbaren Verbündeten der UdSSR werden in die globale Einflußpolitik eingebaut. Militärische und wirtschaftliche Integration der ,sozialistischen Staatengemeinschaft'. Beginn einer militärischen Hochrüstung mit Massenvernichtungsmitteln und strategischen Offensivwaffen (interkontinentale Raketen). Spaltung des ehemaligen sozialistischen Lagers: Trennung Chinas und Albaniens von der sowjetischen Führung; schwere soziale und politische Unruhen bis zu bewaffneten Auseinandersetzungen innerhalb der Sowjetunion, in Ungarn und Polen (1953 bereits Erhebung in der DDR); Spaltungen in der internationalen kommunistischen Bewegung.

3. Periode, 1964/70: Ersetzung der Chruschtschow-Führung, deren innere ,Reform'politik und internationales Abenteurerturn zu schweren Schäden insbesondere in der Wirtschaft der UdSSR und hinsichtlich ihrer internationalen Position gefiihrt hat, durch eine andere Gruppe. Systematischer Ausbau der Globalpolitik, die sich - nach dem Scheitern der ökonomischen Überholprogrammatik aus der vorhergehenden Periode - zunehmend auf militärische Stärke stützt. Militärische Intervention der UdSSR und einiger Verbündeter gegen die CSSR (1968; ,Breshnew-Doktrin'). In der DDR seit 1963 Umorganisation der Wirtschaft im Zeichen des ,Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung'. Beginn der Kulturrevolution in China (1966). 4. Periode, 1971179: Erste Etappe der ,entwickelten sozialistischen Gesellschaft'. Am Anfang steht eine schwere innere Krise des Realsozialismus, scheinungsweise des fortgesetzten Wandels. S.a. die Neuausgabe (Jäger 1994); dazu Rossade in DA 1995110, 11 08ff.

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markiert durch Arbeiterunruhen in Polen und der Sowjetunion, worauf mit der Installierung einer ,Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik' geantwortet wird. Versuch innerer Festigung durch umfassende Integration der realsozialistischen Gesellschaft ,auf den eigenen Grundlagen'; zunehmendes Gewicht des militärischen und sicherheitspolitischen Faktors; Verlust der Mobilisierungskraft politisch I ideologischer Faktoren; ökonomisch I technisches wie überhaupt gesellschaftliches Zurückbleiben und wachsende Legitimationsprobleme werden durch verstärkte Anleihen aus dem westlichen System auszugleichen versucht, die als solche schon in der ersten Periode begonnen haben. Die militärisch abgestützte Globalpolitik, die sich, auch unter Ausnutzung einer Schwächeperiode des Konkurrenten I Partners USA, Einflußsphären in allen Teilen der Erde von Europa bis Ozeanien geschaffen hat und diese ausweitet, kulminiert am Ende der Periode mit der militärischen Intervention der UdSSR in Afghanistan. Umsturz in China nach dem Tode Mao Tse-tungs ( 1976 /77), zügige Veränderungen analog denen zum und im sowjetisch dominierten Realsozialismus.

5. Periode, Anfang bis Mitte der 80er Jahre: Rapider Niedergang dieses Realsozialismus trotz äußerer Machtfülle und teilweise zunehmender internationaler Unterstützung der herrschenden Gruppen und ihrer Politik, nicht zuletzt in Westeuropa. Die innere Krise bricht in Polen katastrophal auf, wo eine zeitweilige durch Erhebungen der Arbeiter mit Unterstützung der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit erzwungene Doppelherrschaft von Gewerkschaft und realsozialistischer Staatsmacht nur durch den militärischen Ausnahmezustand beendet werden kann. Nach außen verkommt die militärische Machtpolitik in einem zum Genozid ausgeweiteten Afghanistan-Krieg. In China macht die Restauration eines staatlich rahmengelenkten Kapitalismus rasche Fortschritte. Die Kluft zwischen den verarmenden, abhängigen Entwicklungsländern und dem auf ihre Kosten reichen ,Norden' der Erde, den westlichen und realsozialistischen Industriestaaten, vertieft sich. 6. Periode, Mitte bis Ende der 80er Jahre: Stagnation und Krise des von der UdSSR geprägten Realsozialismus treiben zum Zusammenbruch. Reformbestrebungen einer neuen Moskauer Führung, die Erneuerung auf realsozialistischem Boden bei zunehmend verstärkter Vorbildwirkung des Westens bringen sollen, geraten außer Kontrolle der Initiatoren. Die militärische Überholpolitik ist gescheitert. Atomkatastrophe von Tschernobyl. Ende des Realsozialismus zunächst im westlichen Vorfeld der UdSSR, dann in dieser selbst. Erhaltung der realsozialistischen Staatsmacht in Ostasien bei unterschiedlichem Grad wirtschaftlicher Kapitalisierung in den zugehörigen Ländern. Das weitgehende Ende des Ost-West-Konflikts verstärkt den Druck eines übermächtigen ,Nordens' auf die Dritte Welt (zu dieser s.a. Nuscheler Hg. 1985). Die 5. und 6. Periode lassen sich für den sowjetisch dominierten Realsozialismus als zweite und dritte Etappe der ,entwickelten sozialistischen Ge-

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sellschaft' bezeichnen (vgl. 15.1). Seine Evolution nicht nur für sich zu sehen, sondern in den internationalen Zusammenhang zu stellen, macht sich durch ihre tatsächliche Einbettung in diesen Zusammenhang notwendig. Der Realsozialismus wäre vermutlich gar nicht entstanden ohne die Präsenz seines insgesamt stärkeren westlichen Gegenstücks (s.a. Erklärung 1957, 16; Erklärung 1960, 62, 65) und sicherlich nicht ohne das gemeinsame Bedürfnis beider Ausprägungen von ,nördlicher' Industriegesellschaft, auf das Emporkommen und die Freiheitsbestrebungen der Dritten Welt zu reagieren. Zweifellos gilt auch für den Realsozialismus der Primat der Innen- gegenüber der Außenpolitik, d.h. diese wird nach den perzipierten Erfordernissen der Herrschaftssicherung ausgerichtet.4 Doch ist in einer Zeit kontinentaler und globaler historischer Umwälzungen die internationale Rolle eines Politikfaktors wie des sogenannten Realsozialismus sehr viel wichtiger als seine inneren Kulissenwechsel im Gefolge artikulierter Herrschaftsanliegen der Führungsgruppen (vgl. dazu 15.1.1, 15.1.3), was nicht aufhebt, daß seine inneren Wandlungen, die Gegenstand dieser Untersuchung sind, eben im Hinblick auf seine internationale Funktion nähere Analyse verlangen. Im übrigen spricht es für den Charakter der herrschenden Gruppen, welche internationale Politik sie ihrem System verordnet haben.

3. Zum Forschungsstand Als Analyse kultureller Prozesse bewegt sich die vorliegende Arbeit auf einem Gebiet, das bisher eher zu den vernachlässigten Feldern der DDR-Forschung gehört hat. Die umfangreichste Bestandsaufnahme dieser Forschung, die 1978 unter Leitung von P. Ch. Ludz erarbeitet wurde, stellte fest, daß dieser Bereich deutlich weniger bearbeitet ist als andere, beginnend mit Kulturbegriff und Kulturtheorie in der DDR, wozu es noch keine eingehendere Untersuchung gab und gibt (vgl. Ludz Vors. 1978, l076ff.). Allerdings ist dieses Bild insofern nicht ganz zutreffend, als jene Bestandsaufnahme von DDR- und vergleichender Deutschlandforschung einen traditionell engen Begriff von Kultur verwendete und diese weitgehend auf Kunst - plus Medien und kulturelle Organisationen I Institutionen - einschränkte. Andere Bereiche erschienen lediglich neben der Kultur, als ihr gegenüber selbständig auf gleicher begrifflicher oder klassifikatorischer Ebene. So in dem Abschnitt "Politik und Gesellschaft": Wissenschaft, Forschung und Technologie; Soziologie und empirische Sozialforschung; Sport und Sportwissenschaft; Ideologie; Jugendforschung; ferner als Anhang: Medien und Medienpolitik, Agitation und Propaganda. Kultur bildete nur einen Unterteil des Abschnitts "Sprache und 4 Zur Herrschaftssicherung durch die neue Ostpolitik der .damaligen Bundesregierung vgl. Reinhard Roth 1976.

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Kultur", während "Erziehung und Bildung" einen eigenen, den folgenden Abschnitt innehatten. Wird Kultur nicht derart verengt, sondern in der hier vorgeschlagenen Weite aufgefaßt, gab es schon damals doch wesentlich mehr Arbeiten zur Soziokultur der DDR, als es in der Darstellung erschien. Trotzdem trifft auch heute noch, Jahre später, zu, daß der Kulturaspekt in der genannten Forschung eine geringere Rolle spielt als andere und daß das Feld der Kultur, auch im weiten Verständnis, weniger bearbeitet ist als andere, etwa das der Wirtschaft, des politischen Systems usw. Anders gesagt, die Desiderata der Forschung treten auf diesem Gebiet deutlicher hervor als auf anderen, wenngleich auch auf diesen noch viele Fragen offen und wenig bearbeitet sein mögen. Immerhin hat sich seit der Bestandsaufnahme von 1978 einiges verändert. So liegt inzwischen, neben einer Fülle von Arbeiten zu Teilbereichen umfassend verstandener Soziokultur, ein gut geschriebener, pointiert instruktiver Überblick über die kulturpolitische Entwicklung der DDR von den Anfangen bis zum Beginn der 80er Jahre vor (Jäger 1982 / 94; vgl.a. in Anm. 3). Die umfangreichen, aber wenig strukturierten Materialsammlungen von Dokumenten zu Kulturentwicklung und Kulturpolitik in der DDR wurden fortgesetzt, leider nicht in der ausführlichen Weite wie vorher (vgl. Dok III gegenüber Dok I und II; s.a. Baske Hg. 1979). Einen wesentlichen Schritt vorwärts nicht nur in der umfassenden Darstellung der Soziokultur, sondern insbesondere auch in konzeptioneller Hinsicht bedeutete das von Ralf Rytlewski und anderen herausgegebene, Bundesrepublik Deutschland und DDR vergleichende Handbuch (KpWb 1983). Dazu kamen Arbeiten über Einzelaspekte und -bereiche der Kultur in der DDR: über die (künstlerische oder belletristische) Literatur, über Wissenschaft und Wissenschaftspolitik, Bildung und Erziehung, Jugend, Frauen, Familie, Kirchen, bildende Kunst, Musik, Körperkultur und Sport, Umweltprobleme. Erst durch das Handbuch von 1983 wurde ein umfassender ethnosoziologischer Kulturbegriff zugrunde gelegt, wie ihn auch die vorliegende Untersuchung verwendet. Seine programmatische Zielstellung "einer Ethnologie der Deutschen, bezogen im wesentlichen auf die kulturelle Konstellation in beiden Staaten" (KpWb 1983, 7), wies auf die Breite des kulturanalytischen Untersuchungsfeldes, das materielle Kultur ebenso wie Alltags- und ,Trivial'kultur einbezieht. Es gibt reichhaltiges Material und häufig weiterführende Analysen zu acht Hauptgruppen der Stichwortsystematik (vgl. ib., 8): Kulturpolitik; Kulturvermittlung (Medien und Institutionen); soziale und ökonomische Grundlagen von Kulturerwerb, Kulturvermittlung und Kulturteilhabe; kultursoziologische und -anthropologische Aspekte; Alltagskultur mit den Blickwinkeln soziales Umfeld, materielle Reproduktion und soziale Interak-

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tion; künstlerische und ästhetische Produktion; historische und politische Aspekte; philosophische und sozialpsychologische Gesichtspunkte. Mit seinem Ansatz und seiner Behandlungsweise der kulturellen und kulturpolitischen Gegenstände eröffnete es der Arbeit über den Realsozialismus Möglichkeiten, die zuvor nicht bestanden. Mehr einem allgemeinen Trend der Wissenschaftsentwicklung folgend als unter direktem Bezug auf diese neue Stufe in der DDR- und vergleichenden Deutschlandforschung liegen nun, wie schon angesprochen, eine ganze Reihe von Arbeiten vor, deren Gegenstände ein traditionell enger Kulturbegriff gar nicht unter Kultur subsumiert: Arbeit und Freizeit, Formen und Stile des Alltagslebens, Frauen und ihre gesellschaftliche Position, die Jugend mit ihrer spezifischen Lebensweise, politische Massenorganisationen und Kirchen, Unterhaltungsbetrieb, Mode und anderes. Sie bilden eine wesentliche Grundlage der folgenden Untersuchung.

4. Komponenten des Ansatzes, Gliederung der Untersuchung, zentrale These Der Ansatz der vorliegenden Arbeit verbindet in sich mehrere Komponenten. Sein Hauptelement, die ethnosoziologische Kulturauffassung, lag bereits dem vergleichenden Handbuch von 1983 zugrunde, wie eben dargestellt. Es ist jedoch hier weiter ausgefuhrt als dort, wo es lediglich einleitend skizziert, dann allerdings weithin in der Darstellung der verschiedenen soziokulturellen Aspekte implizit konkretisiert worden ist. Der Kulturmuster-Ansatz erscheint in der einschlägigen Forschung meines Wissens lediglich einmal als methodologisches Postulat, im Zusammenhang mit intersystemar vergleichender Jugendforschung (Schäfer 1986, 79ff.). Eingeschlossen in den ethnosoziologisch I konfigurationalen Ansatz sind Elemente, die teils auf gleicher sozialwissenschaftlicher Ebene liegen, teils aber auch hier umfunktioniert oder erst in produktiv negierender Abgrenzung als brauchbar verstanden werden. Dazu gehören Bezüge auf Georg Simmels Soziologie der Kultur und der Geschlechter; die Soziologie des Alltagslebens (vgl. Abschn. I); Theorien gesellschaftlicher Modemisierung und, damit zusammenhängend, des sozialen Wandels (vgl. 15.4.3); Theorie der Öffentlichkeit (8.1 ); das Konzept ,politische Kultur' (bes. Abschn. 14) und andere. Dazu gehört auch ein Element immanenter Kritik, insofern gesellschaftliche Praxis und Ideologie des Realsozialismus zur Programmatik und dem emanzipatorischen Anliegen des Marxismus, auf den sich der Realsozialismus berief, in Beziehung gesetzt werden. Insgesamt liegt also vor, was heute in Sozial- und Politikwissenschaft als gemischter Ansatz bezeichnet wird. Einem solchen Ansatz ist es darum zu

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tun, wie im Zusammenhang der Realsozialismusforschung gesagt worden ist, "sich die Erkenntnisse und Ergebnisse der einzelnen Konzepte und Ansätze zu sichern, ohne sich auf deren Absolutheitsanspruche einzulassen" (Glaeßner 1982, 276). Das ist genau das, was Eklektizismus im guten Sinne meint. Die präsente Tradition hält eher an einer zeitlich späteren gegenteiligen Fassung fest, die in Eklektizismus etwas Verwerfliches sieht, das Ersetzen eigener Position durch ein Sammelsurium aus den Lehren anderer, wie auch Hege! (19, 431) meinte, Eklektizismus gebe "nichts(....) als ein oberflächliches Aggregat". Vorher in der Aufklärung galt Eklektismus umgekehrt gerade als Zeichen und unerläßlich fiir die Selbständigkeit eines Denkers, fiir die Befreiung vom Vorurteil und kritische Prüfung bestehender Doktrinen "aufgrund des Zeugnisses eigener Erfahrung und Vernunft", wie Diderot in seinem Artikel "Eclectisme" fiir die berühmte Encyclopedie schrieb und wofiir ihm die Geschichte der Philosophie eine Fülle von Belegen darbot. Der Eklektiker untersuche alle Lehren ohne parteiische Rücksichten; er sei das Gegenteil von einem Sektierer, der nur der Lehre eines Philosophen anhänge. Keinen Meister anerkennend gehöre er zu der gewissen Zahl von Menschen, "die nur ein Prinzip gemeinsam haben: ihren klaren Verstand niemandem zu unterwerfen, mit eigenen Augen zu sehen und lieber an etwas Wahrem zu zweifeln als Gefahr zu laufen, mangels einer Prüfung etwas Falsches anzunehmen" (Diderot 14, 304; s.a. Mittelstraß Hg. 1980, 533). Die soziokulturellen Prägemuster lassen sich als Perzeptions- und als Handlungsmuster auffassen, d.h. als stereotype Grundfiguren von Wahrnehmung und Darstellung5 einerseits und ihnen entsprechende bzw. zugrundeliegende Grundfiguren des gesellschaftlichen Handeins andererseits. Es handelt sich also um verfestigte, ritualisierte Merkmalkonfigurationen sozialer Praxis. Als prägend fiir den endenden Realsozialismus werden hier folgende Musterkomplexe untersucht (s.a. Rossade 1987; Rossade 1990; Mänicke-GyöngyösiiRytlewski 1990, 9f.): 1. Lebensstile, differenziert nach der sozialen Schichtung, nach dem Geschlecht, nach Altersgruppen und nach gesellschaftlichen Tätigkeitssphären (Arbeit I Freizeit, Zivil- I Militärdienst, öffentlicher I privater Bereich);

5 Wahrnehmung bedürfte zu genauerer soziologischer Bestimmung der Untersuchung u.a. unter den Aspekten von Mentalität; von Ideologie und Ideologiekritik; Vorurteil; Lebenswelt und Alltagswissen; Herrschaft, Gewalt und Recht; zudem unter psychologischen und kommunikationswissenschaftliehen Gesichtspunkten. Vgl. zum Begriff auch MerleauPonty 1945.- Die Frage, wie weit ,Wahrnehmung' und ,Darstellung' übereinstimmen, wie weit also die Darsteller das ,glauben', was sie darstellen, ist für die Beschaffenheit des jeweiligen soziokulturellen Systems von Bedeutung; sie kann jedoch in der Definition der Muster,sorten' weitgehend ausgeklammert werden, insofern Wahrnehmung der übergeordnete Begriff gegenüber Darstellung ist - oder auch umgekehrt.

3 Rossade

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2. Leistungsmuster, darunter: Arbeitskultur, Wissenschaftskultur, künstlerische Kultur, Körperkultur und Sport, Kultur der Naturverhältnisse (dabei Sexualität, Kleingarten, Tierschutz, Ökologieproblematik); 3. Politische Kultur als Beschaffenheit der realsozialistischen Gesellschaft gemäß Perzeption und Handeln von unterschiedlichen soziopolitischen Positionen her, worin die bestehenden politischen Institutionen eingeschlossen sind: Vorgaben der politischen Führung und die Realitäten; Reflexe in künstlerischen Medien und deren Wirkung; Entwürfe und Aktionen kritischer und oppositioneller Kräfte. Dazu auch Perzeptionsmuster in der DDR-Forschung und in (westlichen) Massenmedien. Diese Musterkomplexe bilden in der gesellschaftlichen Realität nicht getrennte Bereiche, die nur mehr oder minder äußerlich miteinander verbunden wären, sondern sie stellen lediglich unterscheidbare Aspekte eines und desselben soziokulturellen Prozesses dar, in dem sich diese Aspekte vielfältig gegenseitig durchdringen und bedingen. Im Begriff des Kulturmusters liegt schon eine Akzentuierung des Ritual- und Symbo/charakters, der von Kultur, zumal von ethnologisch verstandener Kultur, nicht zu trennen ist. Speziell in den offiziellen Sichtvorgaben und Deutungsformeln mit ihren spezifischen Stereotypen erscheint ein starkes rituelles, in mancher Hinsicht (Titulaturen, ,Hotberichte' u.ä.) sogar liturgisches Element. Die Zelebration des Realsozialismus durch seine partei I staatlichen Repräsentanten und Repräsentationen zeigt massive Analogien zu magischen oder religiösen Kulthandlungen mit ihrem festgelegten Ablauf in vorgegebenen Formen, die zu verletzen Unheil - den Zorn und Unwillen der Geister oder Götter - heraufbeschwören. Die beträchtlichen Unterschiede zwischen Feiersprache, Sachsprache und Alltagssprache (s.a. in 15.6) weisen in die gleiche Richtung. Ritual ist symbolisches Handeln. Deutende Inszenierung, symbolische Verdoppelung über der sozialen Wirklichkeit ist ein Merkmal jeder Politik (s.a. Edelman 1976). Den Realsozialismus, speziell auch den vom hier untersuchten Typus, kennzeichnete jedoch ein Auswuchern, eine Hypertrophie der symbolischen Politik, verbunden mit einem Übermaß an Ritualisierung im gesellschaftlichen Leben. 6 Dies ist ein sehr wesentliches Element seines spe6 Hervortretende Rituale und Symbole realsozialistischer Gesellschaft in einer vorläufigen Aufgliederung:

Rituale

wirtschafts- und gesellschaftspolitische (der ,sozialistische Wettbewerb' u.ä.) staatspolitische (Kampagnen, Wahlen, Jubiläen, Versammlungen, Kundgebungen, Feiern, Jugend- und Sportfeste u.ä.) Imitationen von Übergangsriten (Jugendweihe, Namensgebung, sozialist. Eheschließung, Totenfeier) öffentliche und fachbezogene Diskussionen Bräuche und Traditionen Reproduktion ritueller, quasi-liturgischer Sprachformeln und Titularuren

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zifischen Stils (vgl. Sauer 1992). Als solches ist es durchgängiges Charakteristikum der offiziellen Politik und der offiziellen Gesellschaft, aber auch einer relativ eigenständigen Institution innerhalb dieser realsozialistischen Gesellschaft mit widersprüchlichen Beziehungen sowohl zum herrschenden System als auch zu kritischen und oppositionellen Kräften: der Kirche(n) mit ihren Ritualen und ihrer religiösen Symbolwelt Darüber hinaus und durchaus in Zusammenhang mit den genannten Gegebenheiten ist der Symbolismus und Ritualismus, beginnend mit der ,normalen' symbolischen Interaktion, konstituierend für die Perzeptions- und Handlungsmuster der unterschiedlichen sozialen Praktiken in bezug auf das etablierte Gesellschaftssystem; für die Kulturen der Leistungsmuster; .nicht zuletzt für die Lebensstile, insofern diese stets mehr an "bedeuten Sollendem" einschließen als das bloße angemessene Bewußtsein von der jeweiligen tatsächlichen, empirisch konstatierbaren Lebensweise. Der schematisierte Handlungsablauf nach einem festen Kanon, der das Ritual charakterisiert, ist wichtig für seine zeremonielle Symbolfunktion im gegebenen sozialen System. Aus der Stereotypik von Ritualen und Symbolen läßt sich eine Beziehung zu Topik herstellen. Topoi sind zunächst stereotype Redefiguren, durch eine zumeist längere kulturelle Tradition fixierte Auffassungs- und Darstellungsmuster vor allem in Geschriebenem, die ein Repertoire geistig-praktischer Reproduktion und Einordnung von jeweils Gegebenem durch den Bezug auf schon Dagewesenes bilden und damit Problemlösungen erleichtern (vgl. Lalande 1991, 1137). Es mag nahe liegen, den Toposbegriff über die Literatur (und andere künstlerische Medien), über Rhetorik und Philosophie hinaus auf stereotype Perzeptions- und Handlungsmuster generell zu erweitern, zumal diese durchweg auch mit toposhaften Redefiguren verbunden sind. So etwa der Topos ,Frieden' als eine Zentralfigur der realsozialistischen politischen Ideologie, die in einer höchst prekären Beziehung zur realen Praxis der Staatsmacht stand, die diese Ideologie vertrat (vgl. 15.2; zur Topik s.a. Rossade 1989, 25lff.; Rossade 1990, 53f.). Die Materialbasis der Untersuchung leidet nicht unter Mangel, sondern an Überfülle. Zwar konnten Erhebungen vor Ort nicht gemacht werden, aber die in der DDR veröffentlichten Daten und Informationen - Tagespublikationen,

-

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Symbole • politische (Fahnen und Embleme der Partei; Hoheitszeichen des Staates; Uniformen und Abzeichen; oppositionelle Symbole) • subkultureHe (äußere Unterscheidungszeichen in der Jugendkultur; Spezialwortschatz und Sondersprachen; Graffiti; .alternative' Gebrauchsgegenstände) • Elemente toposhafter Symbolik in Literatur, bildender Kunst, Film u.a. • Statussymbole (Demonstrativkonsum und Exklusionen; zeichenhafte Distinktion von Etablierten, Durchschnittsbürgern, Jugendlichen, Randgruppen und Aussteigern; Ehrungen und Auszeichnungen wie Titel, Orden, Prämien, Preise).

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lokale Materialien und, für den Gegenstand sehr wichtig, belletristische Arbeiten eingeschlossen - ergeben zusammen mit nicht im Druck erschienener Literatur wie Hochschulschriften (besonders Dissertationen und Habilitationen bzw. Dissertationen A und B) eine solche Masse an Stoff, daß für seine auch nur annähernd vollständige Aufarbeitung - gesetzt, die Kräfte dafür wären überhaupt vorhanden - die Frage der Relation von Aufwand und Ergebnis gestellt werden müßte (s.a. Hille 1985, 12). Die vorliegende Arbeit nimmt eine Auswahl, wobei neben Buchliteratur besonders auch einschlägige Zeitschriften ausgewertet wurden, einschließlich sowohl Wissenschaftlicher Zeitschriften von DDR-Hochschulen als auch einiger populärer illustrierter Blätter. Material der Untersuchung bilden also in der ehemaligen DDR veröffentlichte sozialwissenschaftliche Arbeiten und arbeits- wie führungsideologische konzeptionelle Vorstellungen sowie kompendienhafte Darstellungen zur realsozialistischen Soziokultur und kulturellen Gesellschaftspolitik; einschlägige Arbeiten aus dem westlichen Deutschland und darüber hinaus; die umfangreiche Zeitschriftenliteratur vornehmlich aus der DDR. Als nicht unwesentlich erwiesen sich kulturell I kulturpolitische Accessoires wie Buchumschläge, Klappentexte, Werbeprospekte u.ä. Die vorliegende Arbeit ist nicht schlechthin Sekundäranalyse schon vorhandener Analysen (vgl. Scheuch 1973, 169; Mayntz u.a. 1969). Sie ist es in dem Sinne, daß der Vf. seine Untersuchung nicht auf der Basis eigener oder direkt auf diese Arbeit bezogener empirischer Feldforschung (dazu: Handbuch, Bd. 2 und 3) vornimmt. Doch läßt sich das Sekundäre in dreifacher Hinsicht einschränken. Einmal bilden empirische Untersuchungen (Interviews u.a. Erhebungen) eine Säule des Datenmaterials, von dem die vorliegende Arbeit ausgeht. Zum anderen interessieren sozialwissenschaftliche und I oder ideologische Texte nicht lediglich als Vermittlung eines Gegenstandes, von dem sie handeln, sondern sind selbst Gegenstand der Untersuchung, als Bestandteile des realsozialistischen soziokulturellen Systems oder als Ansätze alternativer Bildungen. Drittens schließlich fehlen dem Vf. nicht unmittelbare Anschauung und Augenschein, primäre Empirie des untersuchten Gegenstandes. Er hat bis einschließlich 1974 fast 20 Jahre lang selbst in dem fraglichen Bereich gelebt. Somit verfügt er über die Früchte einer ,teilnehmenden Beobachtung' eigener Art, einer Beobachtung freilich ohne die Attitüde und das Instrumentarium des forschenden Soziologen. Daraus ergibt sich ebenso empirische Kenntnis von im Bereich Vorhandenem im einzelnen wie, was mehr Gewicht haben mag, ein Vertrautsein mit den Besonderheiten des Ganzen, mit Atmosphäre und Stil des Realsozialismus, wie es in aller Regel nur innerhalb dieses Systems, nicht als Beobachter lediglich von außen oder bei kurzen Besuchen im Lande erworben werden konnte. Die zentrale These der vorliegenden Untersuchung ist, daß der Realsozialismus zur gleichen Zeit und im gleichen Zusammenhang, worin er sich nun-

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mehr "auf seinen eigenen Grundlagen" zu entwickeln behauptete, tatsächlich mehr und mehr dem Vorbild seines Konkurrenzsystems und angeblichen Widerparts zu folgen bemüht war und schließlich daran zugrunde gegangen ist. Seit dem Zusammenbruch des sowjetrussisch dominierten Realsozialismus wird dies im Westen auch leichter wahrgenommen und verstanden. So ist gesagt worden, daß "der konsumorientierte Westen schon für die HoneckerPartei eigentlich das Vorbild war, dem die SED atemlos hinterherhechelte" (Jäger 1990, 831 ). Gelegentlich läßt sich Grundsätzliches auch aus der Ecke der PDS vernehmen, wohl der Zerrissenheit der SED-Nachfolgepartei, die sich insgesamt Rechtfertigung und Verklärung der realsozialistischen DDR angelegen sein läßt, in verschiedene Richtungen zuzuschreiben. So sagte eine Abgeordnete des Deutschen Bundestages, die selbst unter dem Honecker-Regime in Haft war, es gehe um "Bewertung der DDR an ihren eigenen Ansprüchen, d.h. an Kriterien gesellschaftlicher Emanzipation" (J. Braband in Pari 13, 20.3.1992, 10). Das, woraus der Realsozialismus wurde, war einst als Alternative zur alten Gesellschaft angetreten. Der ursprüngliche kulturrevolutionäre Impetus des Sozialismus - Aufbau und Schaffung einer neuen Zivilisation - verkam im sogenannten Realsozialismus zu ,kultureller' Gesellschaftspolitik und Wohlfahrtsstaatsdenken (vgl. Sauer 1993, 81, 90, 100). Die bestehende Herrschaft in der DDR wie auch in anderen zugehörigen Staaten, insbesondere in der Endphase der Sowjetunion, sollte gesichert werden durch Abgrenzung gegenüber dem westlichen Modell bei gleichzeitiger Übernahme eben dieses Modells (nach Sauer 1993, 92). Ein solches Verfahren konnte nicht gelingen, es mußte mit Notwendigkeit zum Zusammenbruch des Realsozialismus führen.

A. Lebensstile 1. Lebensstile und Alltagskultur Lebensstil läßt sich kennzeichnen als die in "Konsum- und Sozialverhalten beobachtbare qualitative Bedarfsstruktur und Mittelverwendung" von Personen, Gruppen, Schichten oder Gesellschaften, historisch auch von Epochen (WiswedeiKutsch in: KpWb 1983, 460). Der Begriff trifft sich mit ,Lebens~ haltungsniveau' und hat zu tun mit solchen wie Lebensweise (mode de vie, way of life) und Lebensqualität Solche Lebenshaltung existiert nicht ohne ökonomische Grundlage, aber sie erschöpft sich darin nicht, sondern bildet einen Komplex kultureller Elemente. 7 Lebensstile sind gegenüber Moden u.ä. dauerhafter und weit mehr verfestigt. Sie betreffen jeweils viele oder alle Bereiche des sozialen Lebens der Person, Gruppe, Gesellschaft (ib.). Mit solcher Sicht stimmten Definitionen aus der DDR nur im groben überein. Sie unterschieden sich von einer strikt soziologischen Fassung durch faktische Trennung zwischen Mensch (= Einzelperson) und Gesellschaft, durch Befangensein in traditionell bildungsbürgerlichen Kategorien wie ,eigene Vervollkommung' dieses einzelnen und durch sehr enge Koppelung des abstrakten Menschen an den Dienst für die ,sozialistische Gemeinschaft' (vgl. ib., 461; Staufenbiel 1966, 80; Kießig in Eh 1968 I 2, 234). In kompendienhaften, also offiziös verbindlichen Darstellungen aus der DDR erschien ,Lebensstil' nur als untergeordneter Aspekt von ,Lebensweise', nicht als eine selbständige Kategorie (KpWb 1978, 445 I 46, 446 I 49; H. Koch u.a. 1982, 233ff., 308ff.). Ein sowjetisches Kompendium dagegen sprach von ,Lebensformen' und stellte ,Lebensweise' nicht in den Mittelpunkt. ,Lebensformen' entsprachen auf Teilbereiche des persönlich-gesellschaftlichen Lebensprozesses eingeschränkten Lebensstilen: Es gehe dabei um "die durch die sozialökonomischen Verhältnisse bedingte Gesamtheit der Methoden und Formen der Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse der Menschen außerhalb der Produktion und der gesellschaftlichpolitischen Tätigkeit", "konkret" um "die Wohnverhältnisse der Menschen, ihre Ernährung und Kleidung, die Arbeit im Haushalt, die Haushaltsgegenstände, den Charakter der Freizeitbeschäftigungen, die Formen der Freizeit7 Zum kulturellen Gehalt dessen, worauf sich die Konzepte Lebensstandard, Lebensweise und Lebensstil beziehen, vgl. Rytlewski 1990.

1. Lebensstile und Alltagskultur

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gestaltung, Zerstreuungen, den Charakter des Familienlebens usw." (Grundlagen 1979, 223). Daß die Sphäre der Arbeit größtenteils und die der Politik gänzlich aus den ,Lebensformen' der Menschen ausgeklammert wurde, war charakteristisch für realsozialistische Sicht. Die entsprechende Kulturauffassung hielt die Trennung von Ökonomie, Politik und Kultur - diese in einem nur eingeschränkt ,weiten' Sinne - weitgehend fest (vgl. Abschn. 10.2.1). Daß Arbeit und Politik nicht zum tatsächlichen Leben gerechnet wurden, weist einerseits darauf, daß auch in dieser Gesellschaft der Mensch "erst außer der Arbeit bei sich und bei der Arbeit außer sich", also im Marxschen Sinne entfremdet war (vgl. MEW, Erg.bd. I, 514); andererseits auf den individualistischen Grundzug der realsozialistischen Kulturauffassung und Ideologie überhaupt, denn die vorgenommene Trennung hat überhaupt nur Sinn in bezug auf den Einzelmenschen: Der ,gesellschaftliche Gesamtmensch' und sein Lebensstil, also der Lebensstil einer Gesellschaft oder einer historischen Epoche, läßt sich nicht auf die Sphäre der individuellen Konsumtion, abgetrennt von Produktion und Politik (Klassenkampf) reduzieren (s.a. 9.lff.; 10.2.1). In der Relation von Arbeits- und Offizialideologie gesehen, ergab sich die Ungereimtheit, daß der Marxismus, auf den sich auch der Realsozialismus berief, Arbeit und Politik als die wichtigsten Lebenssphären versteht, während realsozialistische Sicht dazu tendierte, sie aus dem ,wirklichen Leben' auszuklammern. Es fragt sich, ob es haltbar ist, Lebensstil (,Lebensformen') lediglich auf die Konsumtions- und Freizeitsphäre zu beziehen und allenfalls über das Sozialverhalten andere Bereiche nicht von vomherein auszuschließen. Geht es um den Stil des wirklichen Lebens der Menschen, dann läßt sich weder von der Arbeits- noch von der gesellschaftlich I politischen Sphäre absehen, zumal dort nicht, wo diese erklärtermaßen und tatsächlich ein besonders großes Gewicht haben. In beiden Fassungen, bei Einschränkung auf den Konsumtionsbereich wie bei Ausdehnung auf Produktion I Arbeit und Politik, hat der Begriff ,Lebensstil' ebenso wie die wirklichen gesellschaftlichen Lebensstile mit Alltag zu tun. Stil, soziokulturelle Gesamtprägung des tatsächlich gelebten Lebens von Personen, sozialen Gruppen, Gesellschaften und Geschichtsepochen läßt sich nicht aus spektakulären Ausnahmeerscheinungen definieren, sondern nur aus der Masse der zugehörigen Vorgänge heraus, nicht aus den Feiertagen, sondern aus den ,gewöhnlichen' Werktagen, dem ,Alltag'. Dies verknüpft sich sogleich mit der hierarchischen Schichtung von Gesellschaft. In den Oberschichten ist, allgemein gesagt, öfter Feiertag als unten. Der graue Alltag ist mehr eine Sache der Unterschichten und der breiten Massen, der Nicht-Eliten. Geschichte des Alltags ist deshalb eine "Geschichte von unten" (Ehalt 1984).

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A. Lebensstile

Wie andere, vergleichbar diffuse und schwer faßbare Phänomene bringt Alltag für die Wissenschaft Schwierigkeiten des begrifflichen Festmachens (vgl. Hammerich/Klein in: dies. Hg. 1978, 7ff.; Elias, ib., 22ff.; Hammerich, ib., lOOff.). Doch sind die Anhaltspunkte hinreichend deutlich, was Alltag dem allgemeinen Verständnis nach ausmacht: unauffälliges, routinehaftes, vielfach als öde und uninteressant erfahrenes Geschehen normaler Arbeitsund Erholungstage; Unterworfensein der den Alltag Lebenden unter vorgeprägte Rollenerwartungen, scheinbar ohne Alternative; mehr oder minder unerfreuliche oder doch gleichgültig lassende Realitäten, die mit ideal(typisch)en Wunsch- oder Zielvorstellungen wenig zu tun haben (Greverus 1978, 93ff.). Kulturwissenschaftlich konzeptionell suchen ,Alltag' und ,Alltagswelt' vor allem die empirische Realität der sozialen Lebensvorgänge abseits von Einseitigkeiten und bloßen Abstraktionen zu erfassen (Mühlmann, Heilfurth u.v.a., vgl. Greverus 1978, 97-137, 29ff.; Thurn 1980; Leithäuser u.a. 1981; s.a. Bohnsack 1983; Roesner 1980; Arbeitsgruppe 1980). Alltäglichkeit im Sinne der grauen Öde setzt einen Bruch zwischen Gewöhnlichem und Erhabenem, Werktagsgeschehen und Feier voraus (Lefebvre 1972, 1974175; Kosik 1971; Greverus 1978, 94). Dieser Bruch hatte für den Realsozialismus ganz besondere Bedeutung, insofern hier die Kluft zwischen kleinlicher Plage in der empirischen Realität der sozialen Lebensvorgänge und dem hohen Feierton in den Ritualen und Symbolen der offiziellen Gesellschaft stark hervortrat. Im Realsozialismus war diese Kluft zugleich die zwischen ,hoher' Politik und den Niederungen alltäglicher Werktätigkeit, deren Träger von den Entscheidungen über diese Politik ausgeschlossen waren. Das Ausgeschlossensein der breiten Massen ist zwar als solches kein Spezifikum des Realsozialismus, aber erstens war es da besonders kraß und waren die Möglichkeiten von Partizipation besonders gering (vgl. Abschn. 8) und zweitens trat dazu die Frustration, daß nach der offiziellen Selbstdarstellung das Volk selbst, tatsächlich aber eine kleine Minderheit die große Politik machte. Vor dem Entwicklungsbruch zum Realsozialismus wurde die Überwindung oder der Ausschluß des Gegensatzes zwischen Alltag (Kleinarbeit) und Festtag immerhin als eine grundlegende politisch-moralische Norm gesetzt.8 Später wurde die Kluft einerseits grundsätzlich verdrängt, zum anderen gab es eine Ideologiebildung, die den Alltag im Sinne von indirekter Apolo' Michai/ Kalinin, einer der führenden sowjetischen Partei- und Staatsfunktionäre von den 20er bis zu den 40er Jahren, langjähriger Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, formulierte 1926 als Anforderung an den aktiven Konununisten, "daß er versteht, auch am gewöhnlichen Alltag in Festtagsstinunung zu arbeiten, ( .. .) daß sein Elan durch die Hindernisse, die das praktische Leben täglich, stündlich vor ihm aufrichtet, nicht gelähmt wird,( ... ) daß er in dieser Alltagsarbeit die Endziele sieht( .. . )" (Ka/inin 1950, 15). Die Überwindung der Kluft zwischen niederem Alltag und hohem Feiertag wurde also in die konkrete politische Praxis, die revolutionäre Kleinarbeit gelegt, bei progranunatischer Auffassung der kleinen Einzelschritte als gerichtet auf die konununistischen Endziele.

1. Lebensstile und Alltagskultur

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getik ,rehabilitierte' und eine bloße Scheinlösung gegen das Auseinanderfallen von Alltag und Feier anbot (Kaufmann 1978; vgl. in 15.6). Das Verdrängen äußerte sich auch darin, daß- im Unterschied zur westlichen Sozialwissenschaft - der Begriff ,Alltag' in der DDR weder im Zusammenhang der Kulturwissenschaften noch der Soziologie als eigene Kategorie erschien (vgl. KpWb 1978; SozWb 1978). Charakteristisch war auch, daß eine Broschüre aus der propagandistischen Reihe "Panorama DDR" mit dem Titel "Kultur im sozialistischen Alltag" weniger mit dem Alltag der DDRBürger befaßt war als damit, wie in der DDR Kultur tagtäglich und für alle präsent sei: als Erbepftege, als Kunstschaffen für das Volk, als Talent- und Minderheitenförderung u.a.m. (Kultur 1978). In künstlerischen Medien dagegen, vor allem in der Literatur, aber auch im Film und anderen Gattungen, wurde der Alltag im Realsozialismus zum Gegenstand der Darstellung - anstelle überhöhter und stilisierter Vorbildkonstruktion in didaktisch-propagandistischer Absicht (s.a. 16.2). Im westlichen Bereich waren Lebensstile, weitgehend in Verbindung mit dem täglichen Leben von Bevölkerungsmehrheiten, als sozialwissenschaftlieber Untersuchungsgegenstand relativ stark in den Vordergrund getreten. Dabei wurden auch differierende Stile des Intimlebens und deren Entwicklung erfaßt (Murstein Hg. 1978). Im Kontext der Suche nach alternativen Lebensformen ist eine "Lebensstilbewegung" hervorgetreten, die einen Neuen Lebensstil als Ansatz zur Gesellschaftsreform von der Basis her in den Mittelpunkt gestellt hat, freilich mit der Vorstellung verbunden, gesellschaftliche Zustände könnten von den Nischen der Gesellschaft her verändert werden, nicht vorrangig durch praktische Kritik ihrer Grundstrukturen (vgl. Wenke I Zilleßen Hg. 1978; s.a. Scheuch 1988, 23ff.). Die vorliegende Arbeit versucht, die Lebensstile der DDR-Bevölkerung in Umrissen nach produktivem, distributivem und konsumptivem Bereich gemäß dem ethnosoziologischen Ansatz zu erfassen, der keine normative Trennung von hohen und niedrigen Sphären, von Alltag und Feier zugrundelegt Was die Seite der Konsumtion angeht, so trifft zu, "daß in einem System, in dem die Versorgungssicherheit vergleichsweise geringer ist und die offiziellen und politischen Vorgaben stringenter" als in westlichen Industriegesellschaften, für "das Ausleben eines bestimmten Lebensstils über Formen des Konsums und des Besitzes" von Bedeutung ist, "was die Bürger überhaupt zum Konsum zur Verfügung haben, wieviel Geld für welche Güter oder Dienstleistungen ausgegeben und wie Eigentum gebildet werden kann" (Wiswede I Kutsch, a.a.O., 462). Die chronische Unterversorgung der großen Bevölkerungsmehrheit in der DDR wurde von der politischen Führung, nicht zuletzt im Kontext der bestehenden Westbeziehungen, für effektive Ausübung ihrer Herrschaft funktionalisiert (vgl. in 6.3).

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A. Lebensstile

2. Sozialstruktur und Lebensstile Die Verknüpfung der Lebensstile mit der Sozialstruktur liegt einerseits auf der Hand, denn die hinreichend augenfälligen Unterschiede in der Lebenshaltung und im Lebensniveau - nach Position der sozialen Gruppe oder der einzelnen Person im Produktionsprozeß bzw. allgemein im Wirtschaftsleben, nach größerer oder geringerer Nähe zu den Entscheidungsposten in der Politik, nach Umfang und Inhalt des materiellen und geistig-kulturellen Konsums gemäß dem Anteil am gesellschaftlichen Reichtum etc. - sind deutlich genug von der Stellung der betreffenden Gruppe oder Einzelperson in der sozialen Hierarchie abhängig. Daneben bestehen andere, gleichfalls sozial, sozioökonomisch und soziapolitisch determinierte Unterschiede der konkreten Lebensstile: nach dem Geschlecht, d.h. danach, ob jemand als Mann oder Frau in der betreffenden Gesellschaft lebt; nach der Altersgruppe vom Kind über verschiedene Stadien des Jugendalters und das soziale Dasein als erwerbstätige oder den Familienhaushalt besorgende Erwachsene bis zum ,Senioren'alter; nach korrelierten Tätigkeitssphären wie Arbeit und Freizeit, zivile Tätigkeit und militärischer Dienst, öffentlicher und privater Bereich. Wenn von der Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft die Rede ist, dann sind deren wechselnde Veränderungen zu beachten, die mit Mobilität zu tun haben. Mobilität wird vor allem verstanden als Übergang in eine andere soziale Schicht, nicht lediglich in eine andere Berufs-, Status- etc. Gruppe. Zunächst war die DDR, wie die anderen sozialistischen Länder, durch eine Umwälzung der früheren Sozialstruktur gekennzeichnet. Von 1947 bis 1977 verringerte sich ihre Wohnbevölkerung um 1,7 Mi!!. Personen. Trotzdem wuchs die Zahl der Berufstätigen um fast :X Mi!!. Die Anzahl der Beschäftigten in der Industrie erhöhte sich um 1,1 Mi!!., die in der Landwirtschaft sank um 1,3 Mi!!. (Lötsch I Freitag 1981, 95). Es gab grundlegende Veränderungen in der sozialen Schichtung: 1947 waren über 52% der Leiter von VEB frühere Arbeiter und Angestellte (mit einem Übergewicht der Angestellten), weitere knapp 18% waren Ingenieure. 1948 waren mehr als die Hälfte der Betriebsleiter ehemalige Arbeiter (Badstübner u.a. 1981, 68f.). Zwischen 1945 und 1953 sollen etwa 160.000 ehemalige Produktionsarbeiter leitende Funktionen in Staat und Wirtschaft übernommen haben (Grundmann 1978, 842). Die Vergenossenschaftung der Landwirtschaft, auch des Handwerks, ließ neue soziale Schichten entstehen. Die alten Oberschichten verschwanden oder wurden bedeutungslos (Privatkapital mit staatlicher Beteiligung). Die Intelligenz rekrutierte sich in beträchtlichem Umfang aus der Arbeiterklasse. Solche Veränderungen gehörten später der Vergangenheit an (s.a. Ludz I Ludz in: DDR-Handbuch 1985, 1222ff.), und statt dessen trat eine Tendenz zur Immobilisierung der realsozialistisch gewordenen Gesellschaft in den

2. Sozialstruktur und Lebensstile

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Vordergrund. Die Sozialwissenschaft in der DDR befaßte sich mit der neuen Lage grundsätzlich. Sie konstatierte nicht nur Immobilisierung, sondern machte diese zur Grundlage von Theorie. Damit wird sich der folgende Abschnitt näher befassen. Zunächst ist hier das Konzept zu explizieren, dem gemäß - im Anschluß an Bourdieu - der Zusammenhang von Sozialstruktur und Lebensstilen von mir aufgefaßt wird. Bourdieu leitet die konkreten Lebensstile aus der sozialen Lage ihrer Träger über deren kulturellen Habitus ab. Unterschiedliche soziale Existenzbedingungen bringen unterschiedliche Habitus, nach Bourdieu: Systeme soziokultureller Erzeugungsmuster, hervor. Erzeugt werden durch den kulturellen Habitus (einer Person, Gruppe, Schicht, Klasse) klassifizierbare Praxisformen und Werke zum einen, spezifisches Stilbewußtsein oder Geschmack (als Unterscheidung und Bewertung der Praxisformen und Produkte) zum anderen. In der Beziehung von Praxis und Geschmack konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt oder der Raum der Lebensstile. Die von den verschiedenen Habitus erzeugten sozialen Praxisformen erweisen sich ,,als systematische Konfigurationen von Eigenschaften und Merkmalen und darin als Ausdruck der Unterschiede, die, den Existenzbedingungen in Form von Systemen differenzieller Abstände eingegraben und von den Akteuren mit den erforderlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata zum Erkennen, Interpretieren und Bewerten der relevanten Merkmale wahrgenommen, als Lebensstile fungieren". Das heiße nicht, daß die Beziehung zwischen Existenzbedingungen "und Praxis oder Sinn der Praxis" sei es mechanisch, sei es bewußt sein müsse (Bourdieu 1984, 277ff.). Gemäß der Grundkonzeption von Bourdieu ist der Habitus nicht nur strukturierende, die Praxis und deren Wahrnehmung (perception: Bourdieu 1979, 191) organisierende Struktur, sondern er ist selbst abgeleitet, strukturiert, hervorgebracht, so daß gilt: "Das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen." Die soziale Lage selbst ist "bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere jedoch durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich in der Differenz". Die polare Struktur der sozialen Existenzbedingungen (oben I unten, reich I arm, gebildet I ungebildet etc.) setzt sich tendenziell als Strukturierung der Praxisformen und deren Wahrnehmung durch, wobei die sozialen Differenzen dahin tendieren, als natürliche aufgefaßt zu werden (Bourdieu 1984, 279). In schematischer Darstellung ergibt der Zusammenhang unterschiedlicher Lebensbedingungen als Erzeugungsgrund unterschiedlicher Habitus, die wiederum distinkte Praktiken, Produkte und Wahrnehmungs- (Geschmacks-) Muster hervorbringen, das folgende Bild:

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A. Lebensstile Wahrnehmungs- und Bewertungsakte bedingt

Lebensbedinguncen 1 objektiv kla:uifizierbar (Konditionierunssklassen) -) und Position innerhalb Struktur d~ Lebensbedingungen (als strukturierende Struktur)

1-bbitus 1 als mukturierte

und strukturierende Struktur

..

System der Erzeugungsschemau

,

klassifiz.icrbuen Prak,ikcn. und

Werken

System der

Wihmehmungsu. Bcwenungsschcmata (•der Geschmack•)

l.cbtnutiJ

1

als System von klassifiz:icnen u.

klassifizierenden

Praktiken i.c. von Untcrschcidungsuichcn (·die Geschmacks richrungcn•)

System der ..

Lebtnutils

Ltbcnsbtdlnauncen

Htbinu

l

=> Lebensbedingungen n

=>

1

System der

U$11.',

Abbildung 1: Schema des Zusammenhangs von sozialer Lage, kulturellem Habitus und Lebensstil (aus: Bourdieu 1984, 280)

Bourdieus Leistung besteht darin, daß er nicht nur schlechthin Kultur in ihrem gesellschaftlichen Kontext und mit ihren gesellschaftlichen Wurzeln sieht, sondern sie als Instrument der Durchsetzung schiebt- und klassenspezifischer sozialer Interessen begreift. Bildungstitel dienen als Legitimitätsnachweis für, der Sache nach, bestehende Herrschaftsverhältnisse (Bourdieu 1984, 31 ff. ). Bildungserwerb dient nicht der Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheit, sondern in erster Linie als Waffe im Konkurrenzkampf der Individuen um Posten und Position. Der scheinbar allen gleichermaßen zugängliche Markt der symbolischen Güter überlagert den der materiellen Güter, von dem er abhängig ist und mit dem er verschmilzt. Die in diesem System befangenen Individuen sind gezwungen, es ständig zu reproduzieren, zusammen mit den Mitteln der auch kulturellen Besitzaneignung (Bourdieu u.a. 1981 ). Bildung ist dabei nur ein, allerdings ausschlaggebendes Element im Komplex von Instrumentalisierung der schiebt- und gruppenspezifischen Lebensstile für Erhaltung und Festigung respektive auch für Veränderung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse, als Ort der Abgrenzung und Distinktion der Klassen und Schichten voneinander wie des Zusammenstoßes .ihrer divergierenden bis antagonistischen Interessen (vgl. Bourdieu 1984, 405ff.; s.a. Anm. I).

2. Sozialstruktur und Lebensstile

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Nach H.-P. Müller (1986, 162) gilt Bourdieus Aufmerksamkeit vorrangig "dem Verhältnis von Kultur, Herrschaft und sozialer Ungleichheit, denn in seinen Augen ist Kultur keine unschuldige Sphäre, sondern das entscheidende Medium zur Reproduktion der Klassenstrukturen in spätkapitalistischen Konsumgesellschaften". Für eine bestimmte Sicht kommt Kultur damit in zu enge Nähe und Abhängigkeit von Ökonomie und Sozialstruktur. Sie macht Bourdieu zum VoiWUrf, daß er Gesellschaft und Kultur als Felder eines sozialen Klassenkampfes sehe und damit zu "utilitaristisch" perzipiere (Honneth 1984; s.a. Ferry/Renaut 1987, 160ff. u.ö.). Neben solchen westlichen Rezeptionen gab es auch in der DDR schon Aufnahmen Bourdieus (s. in 10.2.3, 15.4.4, Anm. 1). Der Quasi-Marxismus, für den Bourdieu teils gelobt, teils gescholten wird, ist diesem selbst nicht erstrebenswert. In der Sicht von H.-P. Müller (1986, 163ff.) hält Bourdieu an Marx' Anspruch der Ableitung distinkter Lebensformen aus ökonomischen und sozialstruktureilen Unterschieden fest, wenn auch im Rahmen einer strukturalistischen Klassentheorie und in Analogie zu Max Webers Unterscheidung von Klasse und Stand. Nach Weber gliedern sich Klassen nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Güter, Stände nach den Prinzipien des Güterkonsums in Gestalt spezifischer Arten von ,Lebensführung' (vgl. ib., 169). Entsprechend kommt für Bourdieu der Klassencharakter erst dann sichtbar zum Vorschein, wenn ökonomische Unterschiede symbolisch übersetzt werden in soziale Klassifikationen und prestigedifferenzierte Lebensstile. Der symbolische Transformationsprozeß besteht darin, daß das unterschiedliche Haben in ein unterschiedliches Sein der Akteure scheinhaft umgewandelt wird. Was an gesellschaftlicher Distinktion aus der Stellung des Akteurs im sozioökonomischen System und dem damit verbundenen Reichtum folgt, stellt sich als persönliche Eigenschaft ihres Trägers dar (ib., 170). Konsequenterweise spielt sich dann für Bourdieu der symbolische Klassenkampf nur innerhalb und zwischen den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten ab, während die Unterschichten außerhalb bleiben. Daran läßt sich die Kritik knüpfen, daß hier "die Grenzen einer geschmackskulturellen Klassentheorie sichtbar (werden), weil sie über ihren eigentlichen Protagonisten, das Proletariat, aus Mangel an analytischer Trennschärfe nur noch stereotype Vorurteile zu (re)produzieren vermag" (ib., 171). Immerhin erfaßt die Theorie den soziologischen Sachverhalt, daß in einer Gesellschaft von diesem Typus das Proletariat vom Kulturleben weitgehend ausgeschlossen ist resp. daß das kulturelle Leben zumeist ohne die arbeitenden Unterschichten stattfindet. Müllers Abriß von Bourdieus Konzeption faßt sich in der Einschätzung zusammen, sie führe auf der Grundlage "einer materialistischen Kultursoziologie, die ökonomistischem Reduktionismus wie auch symbolistischer Überhöhung entgeht" den Nachweis "für die Existenz klassenspezifischer Wahr-

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A. Lebensstile

nehmungs- und kultureller Konsummuster". Ohne Übertreibung könne man damit Bourdieus Ansatz ,.als größte kultursoziologische Herausforderung in der gesellschaftstheoretischen Diskussion der letzten Jahre bezeichnen", die bereits zur Reorientierung der Ungleichheitsforschung, der Erziehungs- und Bildungssoziologie, der Sozialisationsforschung, der Kultursoziologie, der Freizeit-, Konsum- und Lebensstilforschung beigetragen hat (ib., 180). Bei seiner unbestreitbaren Fruchtbarkeit habe der Ansatz auch Schwachstellen, die Müller teils in begrifflichen Unschärfen - sozialen Raum/ soziale Felder, den Kapitalbegriff, die nähere Bestimmung des Habitus, die Mehrdeutigkeit von Distinktion u.a. betreffend - , aber auch in dem ,.unscharfen" Klassenbegriff (statt Statusgruppen) u.ä. sieht (ib., 180ff.). Seine wenigen ,.schwerwiegenden" Einwände laufen wieder darauf hinaus, Bourdieu sei zu marxistisch (vgl. ib., 183f.). Was dabei wohl stärker berücksichtigt werden müßte, ist Bourdieus eigene Gewichtung und Einbettung seiner Klassen-Geschmackssoziologie. Ihm scheint der philosophische Rahmen seiner Analysen weitaus wichtiger zu sein als ein bloßes Instrument im Sinne methodischer Aufbereitung gesellschaftlicher Daten, und seine Ablehnung des Marxismus ist sicherlich keineswegs nur verbal. 9 Dennoch bleiben die ,marxistischen' Elemente seiner Konzeption, relativ unabhängig von der eigenen Sicht des Autors, wie entsprechend bei vielen Theoretikern, deren Konzept auch mehr und anderes enthält als sie selbst beabsichtigen oder akzentuieren. In Anwendung auf eine realsozialistische Gesellschaft lassen sich kulturelle Distinktionen als Mittel zur Konservierung der bestehenden Sozialstruktur und als Instrument des alltäglichen ,Klein'-Klassenkampfes sehr wohl festmachen. Die feststellbaren Lebensstile in der DDR unter diesem Gesichtspunkt zu untersuchen und zu synthetisieren, wäre ein lohnendes - und unerläßliches - Thema weiterer Arbeit(en). 10 Abgesehen von vergleichsweise pauschalen, 9 Ein gutes Beispiel fiir die philosophisch-kulturtheoretische Einbettung von Bourdieus soziologischen Analysen, an der zugleich die Komplexität und Profundität dieser Analysen deutlich wird, scheint mir der Aufsatz über den Habitus aus der Sammlung "Zur Soziologie der symbolischen Formen" zu sein (Bourdieu 1974, 125ff.). Zu verweisen ist auch auf Bourdieus eigene Aussagen über den philosophischen, betont antisoziologischen Ausgangspunkt seiner Universitätsstudien in den SOer Jahren (Bourdieu 1987, 13ff.; 1986, 123) oder seine Bemerkung über lange verwickelte Sätze aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von La distinction (Bourdieu 1984, 14), die trotz seiner Betonung des französischen Charakters dieses Werkes mit seiner Aufnahme der deutschen Philosophie zu tun haben dürften. 10 In belletristischer Literatur aus der DDR werden solche schichtspezifischen Distinktionen in den Lebensstilen durchaus deutlich. Vorwiegend betreffen sie, durchaus im Sinne der verfestigten und auch konzeptionell begründeten realsozialistischen Sozialstrukturellen Differenzierung (vgl. 3.1), den als beispielhaft zu verstehenden Lebensstil der Intelligentsia, wobei im Sinne einer mechanistischen traditionellen Kulturauffassung Güter kulturellen Konsums als gleichsam neutral und darum von den einen wie den anderen Eliten nutzbar gesehen werden (s.a. in 10.2.1). So etwa bei M W Schulz (1974, 439): ein teures altes

3. Unterschiede nach sozialer Schicht

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aber auch grundlegenden Distinktionen wie der, die in dem vorbildhaften Herausstellen von Arbeits- und Lebensstil der Intelligentsia zum Ausdruck kommt, kann das noch nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. Die folgenden Abschnitte beschränken sich notwendigerweise auf Vorarbeiten dazu, indem sie die schicht-, geschlechts- etc. spezifischen Lebensstile einer realsozialistischen Gesellschaft in ihrem letzten Wandlungsstadium umrißhaft zu erfassen versuchen.

3. Unterschiede nach sozialer Schicht 3.1 Leiter und Werktätige, Arbeiterklasse und Intelligenz Der realsozialistische Wandlungsprozeß hatte in der DDR, wie schon angedeutet, zu einem Paradigmenwechsel hinsichtlich der (vertikalen) sozialen Mobilität gefiihrt. Wichtiger als Mobilität, so wurde gesagt, sei nun die "Sicherung der sozialen und politischen Stabilität" (Lötsch I Freitag 1981, 95). Früher galt solche Mobilität als unabdingbares Kriterium einer sozialistischen Gesellschaft. Nun trat, für das erreichte Stadium der Wandlung bezeichnend, Schmuckstück auf dem dunklen Kleid einer idealisierten DDR-Frau aus jener Schicht, als sie mit ihrem Mann, einem arrivierten Genossen Gesellschaftswissenschaftler, und hochverehrten sowjetischen Freunden aus der gleichen sozialen Schicht in Auerbachs Keller zu Leipzig bei gutem oder doch teurem Wein in funkelnden Gläsern sitzt. Den Platz in dem Renommierlokal hat der Mann nur aufgrund seiner persönlichen Beziehungen bekommen, die wiederum mit seiner Funktion im Herrschaftsapparat zusammenhängen (ib., 409ff.). Die Distinktion wird noch durch die Konfrontation der Intelligenzlergruppe und ihres ,hohen', jedenfalls gebildeten Gesprächs mit dem sie bedienenden Kellner, ihrem Domestiken gleichsam, unterstrichen (ib., 432 f.; s.a. Rossade 1982, 579 I 89). In ähnlicher Art diente in einem frühen, ziemlich platt affirmativen Text von Heiduczek, in dem es um die schließliehe Rettung eines braven höheren Töchterchens aus der neuen Bourgeoisie nach Verstrickung in die Beziehung zu einem disziplinlosen Genialischen geht, ein guter Kognak als Unterscheidungszeichen des gehobenen, gebildeten Intelligenzlers I Leiters von den mitgedachten unwissenden Proleten (1971, 83). In Neutschs "Spur der Steine" (1964, 203, 368, 389, 522 u.ö.) fungierten analoge Konsumgüter, aber auch Bücher und Bilder im Wohnraum, Sinn ftir Literatur und bildende Kunst und Museumsbesuche, zur Kennzeichnung der positiven, vorbildhaften, die dumpfen Massen erziehenden Parteiund Fachintelligenzler. Christa Wolfs "Geteilter Himmel" von 1963, aus den Anfangsjahren ihrer schriftstellerischen Arbeit, betrachtete den vom Lebensstil der Unteren abgesetzten Habitus von Bürgerlichen mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen (1977, 12f., 18, 35f., 62ff. u.ö.). Kritisch faßten andere Autoren die Distinktionsattribute - hier eindeutig der neuen, nicht einer überkommenen - Bourgeoisie ins Auge. So Jurek Heckers "Irrefiihrung der Behörden" einen mit Auto, Datsche, gut eingerichteter und ausgestatteter großer Wohnung versehenen relativ Hochgestellten nebst Ehefrau, in Entgegensetzung zu dem bescheidenen Häuschen, den hausgemachten einfachen Leckerbissen und dem Auftreten der Familie eines kleinen, subalternen Angestellten (1975, 15ff., 61ff., 112 u.a.). Das Abgesonderte, Distinguierte der Führungsschicht in ihrer "neuen Herrlichkeit" wurde immer deutlicher (de Bruyn 1984).

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Stabilität an die Stelle von Mobilität, Sozialstrukturelle Unbeweglichkeit an die Stelle sozialer Dynamik. ,Stabilität' ist eine Kategorie, die für die sog. entwickelte sozialistische Gesellschaft resp. den ,reifen' Sozialismus hohe Bedeutung hatte (vgl. 15.l.lff.). Die frühere Bewertung von Mobilität (s.a. Thomas 1983, 282) wurde nun abgelehnt. Mobilität sei durchaus nicht "durch ein ständiges hohes Maß oder gar durch ständiges quantitatives Wachstum gekennzeichnet". Es sei falsch, nach ,je mehr Mobilität, desto besser" zu werten. Mit dem Übergang zur intensiven Reproduktion gewinne auch Mobilität einen anderen Inhalt. Sie beziehe sich jetzt vor allem auf das Qualifikations- und Bewußtseinsniveau, also auf Persönlichkeitseigenschaften der einzelnen statt auf ihre soziale Schichtzugehörigkeit (vgl. Lötsch/Freitag 1981, 94ff., 99). In einem Nebensatz wurden gegenteilige sowjetische Sichtweisen als falsch bezeichnet (ib., 94; siehe Kossolapow u.a. 1977, 268ff.). Das zahlenmäßige Wachstum der Arbeiterklasse verringere sich oder höre ganz auf, und zwar in allen realsozialistischen Ländern. Der Anteil der Genossenschaftsbauern bleibe konstant. Die einzige Schicht, die auch zahlenmäßig wachse, sei die Intelligenz {Lötsch/Freitag 1981, 95, 97). Sie reproduziere sich überproportional aus sich selber, außerdem aus den Angestellten, die sich ihrerseits aus der Intelligenz reproduzierten (ib., 97f.). Dem gegenüber seien die Arbeiter vorzugsweise durch Änderung der Arbeitsinhalte und des Qualifikationsniveaus ,mobil' (ib., 96). Diese Proportionsverschiebungen und Verfestigungen wurden unter dem Effizienzgesichtspunkt durchaus positiv gesehen, und die Rolle der Intelligenz wurde dabei erhöht. Es sei zu fragen, "ob ein bestimmtes Maß der überproportionalen Reproduktion der Intelligenz aus sich selbst und mithin der Immobilität nicht auch mit Triebkräften und Effektivitätspotenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zusammenhängt." Für ein hohes Tempo dieses Fortschritts sei "eine effektiv arbeitende, leistungsorientierte Intelligenz von ausschlaggebender Bedeutung". Man käme zwangsläufig zu der "Hypothese, daß auch gewissen Mechanismen der Eigenreproduktion der Intelligenz Triebkräfte des Leistungsverhaltens innewohnen, die sorgfältig bewahrt und zum Nutzen eines beschleunigten wissenschaftlich-technischen Fortschritts gefördert werden müssen" (ib., 100, 101; Hvhbg. von WR.). Mobilitätsforschungen könnten sich, wie Sozialstrukturforschungen überhaupt, nur an der Triebkraftwirkung von Reduktion oder Reproduktion sozialer Differenzierungen orientieren, von der Untersuchungsanlage bis zur Ergebnisbewertung (ib., 101). Vorschnelle Nivellierungen könnten zwar vordergründig soziale Differenzierungen abbauen, aber um den Preis "von Rückschlägen in Leistungsbereitschaft und Leistungsverhalten". Ungenügende Differenzierung hemme sehr die "Entfaltung solcher Verhaltensweisen", die für internationalen Rang und Weltmarktfähigkeit von Wissenschaft I Technik und

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Wirtschaft unerläßlich seien (Weidig in: Lebensweise 1981, 34). Wenn also neue soziale Differenzierungen Effizienz fördern, sind sie zu bejahen - wie in China unter Deng Xiao-ping. Derartige technokratische Perzeption ließ erklärte Spezifika einer realsozialistischen Gesellschaft fallen; sie könnte ebenso in der westlichen Industriegesellschaft vertreten werden (Thomas 1983, 281; s.a. H. Rudolph 1972, 25f.). Man müsse sich, hieß es, vor "Nivellierung nach unten" hüten (Lötsch 1981, 67). Die Ideologie von der Annäherung der Klassen und Schichten in einer zunehmend homogenen realsozialistischen Gesellschaft (vgl. Die entwickelte 1980, 276ff.) wurde konträr aktualisiert durch den Verweis auf "ökonomisch effektive Funktion sozialer Unterschiede" und durch Kritik an "pauschale(n) Annäherungs- und Homogenisierungsmodelle(n)" (Lötsch 1982, 721 ). Sagen läßt sich dazu, daß "in dieser Position eine deutliche Orientierung an industriegesellschaftlichen Effizienzkriterien zum Ausdruck (kommt), die den gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch sozialistischer Politik weitgehend zurücknimmt" (Thomas 1983, 282). In der UdSSR traten grundsätzlich ähnliche Erscheinungen von Mobilitätsabbau und Tendenzen der Selbstrekrutierung von Eliten hervor wie in der DDR, wobei die dortigen Sozialwissenschaftler, pauschal gesagt, eher geneigt schienen, diesen Wandel mehr in die Vorgaben der Ideologie einzupassen (vgl. Ruban u.a. 1983, 137ff.; s.a. Inkeles 1968, 86-109, 133-210). Die Immobilisierung wies also Arbeitern und Intellektuellen ganz unterschiedliche soziale Orte zu. Der Arbeiterklasse war Berufs-, Bildungs- und Bewußtseinsstruktur weiterzuentwickeln. Die Intelligenz sollte - bei zahlenmäßiger Zunahme "bestimmter Berufsgruppen" - schöpferische Leistungen von internationalem Niveau hervorbringen und ein "anspruchsvolles geistigkulturelles Leben gestalten" (Steiner u.a. 1985). Arbeiter und Genossenschaftsbauern, die Grundklassen der bestehenden Gesellschaft, reproduzierten sich nur intensiv, analog zu und in Abhängigkeit von der vorrangigen Intensivierung in der Wirtschaft. Bei den Bauern kam es darauf an, die Klasse im gegebenen zahlenmäßigen Umfang zu erhalten, indem man die Dorfjugend für Agrarberufe zu gewinnen suchte und ihren Wohnsitz auf dem Lande verankerte (ib., 10; Lötsch/Freitag 1981, 95). Alle drei sozialen Hauptgruppen - Arbeiter, Bauern und Intelligenz - sollten ihre spezifischen Charakteristika intensiv reproduzieren, wofür ein hoher Grad von Selbstrekrutierung der jeweiligen Schicht am vorteilhaftesten sein sollte, mit entsprechend hohem Stellenwert von familiärer Sozialisation und sozialer Vererbung. Es gehe um Stabilisierung der Herkunftsmuster der Arbeiterklasse, denn Eigenschaften wie industrielle Disziplin seien bei denjenigen Arbeitern optimal, die aus generationsstabilen Arbeiterfamilien hervorgingen (Lötsch I Freitag 1981, 96, I 00; s.a. Erfahrungen 1986). Ebenso sei 4 Rossade

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eine hohe Eigenreproduktion der Bauemsehaft gesellschaftlich sinnvoll und wünschenswert, wegen des akkumulierten Wissens, der Arbeitserfahrungen von Generationen, die "durch spezifische familiäre Mechanismen" generationsweise weitergegeben würden und auch in einer industriell produzierenden Landwirtschaft Bedeutung behielten (ib., 97; vgl. Genossenschaftsbauern 1984). Der eindeutige Zusammenhang von "Mechanismen der sozialen Reproduktion ( ... ) mit Triebkräften des Leistungsverhaltens" wirke auch innerhalb der Intelligenz. "So setzt effektive geistige Arbeit spezifische Wertorientierungen voraus: etwa die selbstverständliche Fortsetzung des Arbeitsprozesses in der Freizeit oder genauer, die Verwischung der Grenzen von Arbeitszeit und Freizeit. Hohe Niveaus geistiger Leistungen gedeihen auf dem Boden eines allgemein hohen Niveaus der geistigen Kultur. Die Orientierung an internationalen Spitzenleistungen, aber auch an Spitzenleistungen des eigenen unmittelbaren Bekanntenkreises produziert höchste Ansprüche an die eigene Arbeit, familiäre Lebensstile, die durch den geistigen Inhalt der Arbeit der Eltern geprägt werden, können (allerdings niemals monokausal) Lernhaltungen und Berufsorientierungen frühzeitig formen und stimulieren (grundlegende Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung ( ... ) werden in früher Kindheit und Jugend durch familiäre Lebensstile, Traditionen und Normen maßgeblich determiniert etc.)." (ib., lOOf.). So wurden professionsspezifische Lebensstile, vorwiegend familiäre, zu einem recht unmittelbaren Effizienzfaktor. Von Bedeutung und führender Rolle der Arbeiterklasse war in solchen Kontexten nicht mehr die Rede. Der Rückgang auf Arbeiter-, Bauern-, Intellektuellenfamilien als zu stabilisierende Sozialstrukturen erinnert mehr an konservative Modelle einer Ständegesellschaft als an Sozialismus. Auch die Assoziation zu bewußter Züchtung ökonomisch I herrschaftstechnisch ,optimaler' Menschenklassen stellt sich ein, wie sie in den negativen Utopien von Autoren wie Zamjatin, Huxley oder Orwell als bedrohliche Zukunftsmöglichkeit unter Einschluß von Genmanipulation vorgeführt wurde. Abgesehen von der Revision sozialistischer Programmatik ist zu fragen, ob solche ständegesellschaftlichen Vorstellungen auch nur ihrem erklärten Zweck technisch I wirtschaftlicher Rationalisierung über Augenblickseffekte hinaus dienlich sein konnten. Erstens erscheint zweifelhaft, ob die Verfestigung bestehender Schichtungen schlechtweg als ökonomisch vorteilhaft gelten kann. Die sozialen Kosten mögen auf Dauer sehr viel höher kommen als zeitweilige Einsparungen, weil Immobilisierung eher Sterilität und Stagnation hervorbringt als Effizienz. Zweitens: Wenn der Realsozialismus seine offizielle Ideologie nicht mehr ernst nahm, so folgt daraus nicht zwangsläufig, daß die in ihr reflektierten historisch-gesellschaftlichen Prozesse nicht mehr

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extstleren. Bestehen sie aber fort, dann kann die Reproduktion anstelle von zunehmendem Abbau sozialer Differenzierungen schließlich nur wieder die alten Antagonismen herstellen, die vor Jahrzehnten zur sozialen Revolution geführt hatten (s.a. Bolte I Hradil 1984). Die realsozialistische Führungsideologie ersetzte die ,führende Rolle der Arbeiterklasse' nicht offen und blank durch das Postulat, eher schon durch implizites und explizites Konstatieren einer faktischen Führungsrolle der Intelligenz. Gegeben war diese Rolle vor allem durch die enge Verbindung zwischen Intelligentsia und Leitern, durch deren weitgehende soziale Identität. Eine grundlegende Differenzierung innerhalb der DDR-Gesellschaft folgte daraus, daß die Tätigkeit der Arbeiter vorwiegend ausführenden, die der Intelligenz jedoch mehr dispositiven Charakter hatte. So entstand schon auf Betriebsebene zwischen Produktionsarbeitern und Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz ein partieller Interessengegensatz, der indes "durch die gemeinsame Frontstellung gegenüber den höheren Leitungsinstanzen zum Teil kompensiert" wurde. Unter den Bedingungen der Produktionsverhältnisse, die die DDR-Gesellschaft strukturierten, war die soziale Abstufung zwischen Intelligenzangehörigen und Produktionsarbeitern grundsätzlich unüberwindbar (Erbe 1982, 207f.). Doch die Intelligenz war, bezogen auf das Verhältnis von Über- und Unterordnung, in sich nicht einheitlich. Herrschaftssoziologisch gesehen spaltete sie sich in den Teil, der zur Führungsschicht im engeren Sinne zu rechnen ist, und den weit größeren Teil, "der auf den nachfolgenden Rängen der politisch-ökonomisch bestimmten Leitungshierarchie im Rahmen der von der politischen Führungsschicht erlassenen Direktiven an der Herrschaftsausübung als Leitungskader oder Spezialist beteiligt" war. Dabei schloß die Unterscheidung zwischen Leitern und Spezialisten keine gravierende soziale Abstufung ein. Wechsel zwischen beiden Positionen war relativ leicht (ib., 72). Zur oberen Führungsschicht gehörte also nur ein kleiner Teil der Intelligentsia, doch hatte die ganze Schicht - oder doch die große Mehrzahl ihrer Angehörigen - als Funktionsträger im Leitungsapparat oder als Experten, mitunter auch in personeller Verbindung von beidem, Anteil an der Herrschaftsausübung. Andererseits stand sie in vorwiegend ausführender Funktion den Arbeitern (und vergleichbaren unteren Angestellten) näher. Insgesamt befanden sich die Intellektuellen als Schicht in einer Zwischenstellung. Leiter waren nach DDR-offizieller Definition Kader, die "im Rahmen eines Verantwortungsbereiches ein ihnen anvertrautes Kollektiv von Werktätigen leiten", d.h. seine Tätigkeiten lenken und koordinieren. Sie fungierten "als Beauftragte der Arbeiter-und-Bauern-Macht", die "in Übereinstimmung mit den sozialistischen Leitungsprinzipien im gesamtgesellschaftlichen Interesse" handelten (Ök Wb 1973, 556). Leitung als gesellschaftliches Verhältnis 4*

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war danach "ein notwendiges Moment der Realisierung der jeweiligen Klassen- und Machtverhältnisse" (ib., 557). Die Leiter unterschieden sich in ihrer Eigenschaft, Werktätige zu sein (vgl. DDR-Handbuch 1985, 1476), prinzipiell nicht von den Geleiteten, denn es wurde vorausgesetzt, sie seien wie diese keine Ausbeuter fremder Arbeitskraft. 11 Die theoretische Schwierigkeit, Herrschaft der Arbeiterklasse und Leitung der Arbeiterklasse durch Kader in Einklang zu bringen, löste sich fiihrungsideologisch nach diesem Grundmuster: Die Arbeiterklasse sei als fortschrittlichste und zahlreichste Klasse der Gesellschaft Träger der politischen Macht, eng mit dem ,sozialistischen Volkseigentum' verbunden, sie produziere den Großteil des gesellschaftlichen Reichtums. Sie bedürfe aber der Führung durch eine "marxistisch-leninistische" Vorhut, die Partei der Arbeiterklasse, in der sich deren bewußteste und fortschrittlichste Angehörige zusammenschlössen (Parteiprogramm der SED, in: Protokoll 1976, Bd. 2, 235). Implizit wurde dabei als Axiom vorausgesetzt, daß die Partei - genauer: deren Führung - stets auf der nämlichen Höhe von Bewußtsein und Progressivität bleibt, obwohl die Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Parteien genügend Gegenbeispiele bietet. Über dieses Konstrukt hinaus bedurfte die These von der Arbeiterklasse als Träger der politischen Macht jedoch einer weiteren politisch-ideologischen Kaschierung. Sie äußerte sich darin, daß in der DDR alle Staats- und Parteifunktionäre sowie alle Angehörigen und insbesondere auch alle Offiziere und Generale der bewaffneten Organe pauschal zur Arbeiterklasse gezählt wurden. Insofern ein Teil der obersten Spitzen von Partei, Staat, Armee, Polizei und Staatssicherheit noch von ehemaligen Arbeitern gestellt wurde, erschien der soziale Aufstieg vereinzelter ehemaliger Angehöriger der Arbeiterklasse als Aufstieg der Klasse selbst. Diese Darstellung - im Grunde eine Spielart bürgerlich I kleinbürgerlicher ,Lösung der Arbeiterfrage' auf dem individuellen Wege sozialen Aufstiegs - war ein Grundmuster speziell der realsozialistischen Perzeptionsweise, das sich in vielfältigen soziokulturellen Zusammenhängen wiederfindet. In der Führungsspitze der DDR war der Anteil regulär auf Hoch- und Fachschulen ausgebildeter Intellektueller noch nicht dominierend, obwohl er auch da zunahm, wie generell in den darunterliegenden Schichten der Leitungspyramide bis in die unteren mittleren Bereiche hinein. Zugehörigkeit zur Intelligentsia bemaß sich allerdings nicht nach der Ausbildung ("Hoch- und Fachschulkader"), sondern nach der ausgeübten Tätigkeit (vgl. Erbe 1982, 11 Es verdient festgehalten zu werden, daß der Begriff ,Werktätiger' systematisch weder im soziologischen noch im ökonomischen, sondern lediglich im politischen Zusammenhang kurz als eigene Kategorie auftauchte (vgl. Soz Wb 1978; Ök Wb 1973; Pol Wb 1978, 1010) - vielleicht ein indirektes Eingeständnis der Verschwommenheit dieser Benennung, unter der Arbeiter, Angestellte, Bauern, Intelligenzangehörige, kleine Warenproduzenten und Gewerbetreibende zusammengefaßt wurden.

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7lff.; Thomas 1983, 273ff.). So blieb die vorausgesetzte Zugehörigkeit der DDR-Elite zur Arbeiterklasse ideologische Illusion, denn nach den Tätigkeitsmerkmalen gehörte die Führungsgruppe zweifelsfrei ebenso zur Intelligenz wie die nachgeordneten Leiterschichten. Was manchem ihrer Angehörigen an regulärer Fachausbildung mangelte, wurde nicht nur durch die Erfahrung zentraler Leitungstätigkeit, sondern auch durch formelle Schulung in entsprechenden Partei- und Staatseinrichtungen, Sonderlehrgängen und Selbststudium aufgewogen (s.a. Brämer 1984). Die Intelligenz war nach der DDR-Definition die "wichtigste soziale Schicht" 12 , der "Träger der geistigen Produktion". Zu ihr wurden die "politische, militärische, technische, ökonomische, naturwissenschaftliche, pädagogische, medizinische, künstlerische" Intelligenz gerechnet (Wb WiKo 1982, 171 ). Die Sozialwissenschaftler wurden dabei offenbar auf politische, militärische, ökonomische und pädagogische Intelligenz aufgeteilt. Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen und selbst medizinischen Intelligenz erschienen sie nicht als eigene Gruppe. Große Teile der historischen, der Sprach-, Literatur- und Kunstwissenschaften würden nach der Definition ganz unter den Tisch fallen - gemäß der dominierenden technizistischen Betrachtungsweise. Das Beharren auf der sozialen Differenzierung als Produktivitäts- und Effektivierungsfaktor führte bis zur Verteidigung sozialer Ungleichheit als in gesellschaftlichem Interesse erforderlich (s.a. 9.1). Konsequenterweise wurde nun auch Elite, ein vorher in der realsozialistischen wie in der sozialistischen politischen Ideologie sehr negativ besetzter Begriff (vgl. Pol Wb 1978, 197; Soz Wb 1978, 156f.), neu definiert: als "Kaderauswahl", "Auswahl besonders geeigneter Menschen für bestimmte Aufgaben" (Herb. Hörz 1982; vgl. a. Kuczynski, zit. in Rossade 1986, 41, Anm. 18). In kulturtheoretischem Zusammenhang wurde der politisch I soziologische Paradigmenwechsel reproduziert. Zur sozialen Differenzierung hieß es, abgebaut werde nur der Teil sozialer Unterschiede, der mit der Unterprivilegie12 Daß dies nicht mit der Position, die der ,Arbeiterklasse' zugeschrieben wurde, in Konflikt geriet, verdankte man der Unterscheidung zwischen sozialer Klasse und sozialer Schicht. Trotzdem kam in der Formulierung ungewollt eine Wahrheit durch. - Die unmäßige Ausdehnung des Begriffs ,Arbeiterklasse' machte auch den DDR-Soziologen zu schaffen. Aber in der Bestimmung des Wesens der Intelligenzschicht durch ihre spezifische Tätigkeit, "die beruflich (professionell! - WR.) ausgeübte, hochqualifizierte und komplexe geistige Arbeit", wurden bei näherer Ausfuhrung doch die Vorgaben der politischen Ideologie beachtet (vgl. Die Intelligenz 1980, 10, 32ff., 89ff.; Winzer mit AK 1980; Erbe 1982, 18ff.; Weidig mit AK 1988, 125ff.). Ein Element in der Erhöhung der Intelligentsia war auch die Betonung der Hochbegabten und ihrer Förderung in der Endzeit der DDR (vgl. Mehlhorn mit AK 1988; Mehlhorn I Urban Hg. 1989; s.a. Feierabend 1989). Zur Sozialstruktur- und Lebensniveau-Problematik siehe weiter: Bergmann-Winberg 1987; Timmermann Hg. 1988; Soziale Gleichheit 1989. Zum Wandel in der Sozialstruktur Ostdeutschlands seit 1989 I 90: Geißler Hg. 1992.

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rung ("sozial nicht gleichberechtigten Stellung"; nicht: Ausbeutung) der arbeitenden Klassen in der Vergangenheit zusammenhänge. "Andere Unterschiede, die sich aus der verschiedenartigen Stellung der sozialen Klassen und Schichten im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß ergeben, bleiben bestehen und entwickeln sich weiter, wie beispielsweise die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen, das Qualifikationsniveau, die Höhe des Einkommens, Besonderheiten der sozialen Psyche, Formen und Inhalte des Freizeitverhaltens. Unterschiede zwischen geistiger und körperlicher Arbeit und zwischen Stadt und Land werden ebenfalls nicht alle beseitigt." (Koch u.a. 1982, 244f.) Bei solchem Nachdruck auf den bestehenden und zu festigenden sozialen Differenzen könnte erwartet werden, daß Unterschiede in Lebensniveau und Lebensstilen ein Thema kultursoziologischer Forschung in der DDR gewesen seien. Das war jedoch so nicht der Fall. Hier griffen politische Tabus, und das Integrationsideologem ,sozialistische Lebensweise' hatte in der Darstellung weit größeres Gewicht als konkrete Differenzierungen der Lebensstile. In allgemeiner Fassung erschienen Differenzierungen in Lebensweise und Kultur: nach nationalen Besonderheiten, nach Klassen und Schichten, nach Generationen, Familientypen, Siedlungsstruktur und Individualitäten (Koch u.a. 1982, 244ff.). Für die unterschiedlichen kulturellen Orientierungen von Arbeitern und Intellektuellen in der DDR gibt die folgende Tabelle einige Anhaltspunkte, die dem Autor zufolge auf mehljährigen empirischen Forschungen basierte. Tabelle 1

Zusammenhang von Qualifikation und Wertorientierungen

Ungelernte Angelernte Facharbeiter Meister Fachschulkader Hochschulkader

A

B

c

45 37 53 61 69 79

47 46 52 57 56 70

27 26 31 37 20 14

=

Anmerkungen: A = im Beruf etwas leisten; 8 ein vielseitiges Leben filh...,n; C = malerieller Wohlsland, das Leben genießen. Quelle: GuiSche 1984, 12; Anleite jeweils in Prozent

Die Zahlen besagen, daß die Leistungsorientierung von ungelernten Arbeitern bis zu Intelligenzangehörigen mit Hochschulausbildung fast stetig - eine Unterbrechung: Angelernte - steigt, besonders stark zur und innerhalb der Intelligenz. Vielseitigkeit des Lebens als Ziel zeigt im ganzen analoge Differenzen, allerdings ist der Unterschied zwischen Hochschulkadern und unge-

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lernten Arbeitern hier deutlich weniger groß als bei der Leistungsorientierung. Wohlstand und Lebensgenuß schließlich waren angeblich für Hachsehulkader nur mehr halb so wichtig wie für ungelernte Arbeiter, die aber selbst unter den Facharbeitern und insbesondere unter den Meistem lagen. Wenn daraus sehr hohe Leistungs- und geringe Genußorientierung der Intelligenz folgen sollte, so mag die weitere Untersuchung dieses Bild konkretisieren und möglicherweise modifizieren. 3.2 Die Führungsgruppe Unter Führungsgruppe verstehe ich die beherrschende Spitze der hierarchischen Leitungspyramide in der DDR. Sie ist als das faßbar, was Luhmann (1964, 327) als strategische Clique bezeichnet hat: eine Clique innerhalb formaler Organisation, die diese Organisation der eigenen Zielsetzung unterordnet und sie "als bloßes Mittel zur Ratifikation von Entscheidungen oder zur Festigung von Machterwerben" behandelt. Von der Clique in einem allgemeineren soziologischen Verständnis (vgl. Fuchs u.a. Hg. 1978, 131) unterscheidet sich die strategische Clique u.a. durch ihre formale Organisiertheit. Ludz ( 1970, 1976) hat mit dem Begriff strategische Clique den maßgebenden, politisch bestimmenden Teil der SED-Führungsspitze belegt, innerhalb derer er nach konkurrierenden Eliten differenzieren wollte. Hier wird als Führungsgruppe, zunächst ohne weitere Differenzierung in sich, das oberste Entscheidungs- und Führungsorgan der DDR gesehen, das sich als Politbüro plus Sekretariat des Zentralkomitees der SED identifizieren läßt. Dieses Gremium bestand Mitte der 80er Jahre aus 27 Personen, 25 Männem und zwei Frauen. Formell teilte es sich auf in Vollmitglieder des Politbüros (22), Kandidaten des Politbüros (5) und das Sekretariat des ZK, bestehend aus dem Generalsekretär als oberstem Parteifunktionär - der nach einer seit den 60er Jahren etablierten Tradition zugleich Vorsitzender des Staatsrates, des formell kollektiven Staatsoberhaupts der DDR war - und zehn Sekretären, in Personalunion mit Politbüro-Zugehörigen, die jeweils für ein oder mehrere Bereiche der politischen Führung (Sicherheit, Wirtschaft, Ideologie usw.) zuständig und denen die entsprechenden Fachabteilungen des Zentralkomitees nachgeordnet waren (nach: Staats- und Parteiapparat, Stand: 1.6.1986, 28f.). Diese wenigen Personen mit ihren Familien und evtl. sonstigem persönlichem Anhang bildeten die oberste Lage im Schichtgefüge der DDR-Gesellschaft, eine faktische Oligarchie mit dem Partei- und Staatschef an der Spitze. In ihren Händen war die oberste Entscheidungsgewalt und Anordnungsbefugnis fiir alle soziopolitischen Bereiche konzentriert: auch das faktisch, denn formell und nach dem Gesetz war in der DDR das höchste Organ der

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Staatsgewalt die Volkskammer, das höchste Organ der SED der Parteitag (Verfassung der DDR, Art. 48.1; Statut der SED, 27 c; s. zum Vergleich: Hoffmann-Lange u.a. 1980, 14ff.). Die soziale Position dieser Gruppe ist damit umrissen. Ihren Habitus und ihre Lebensstile zu konkretisieren, trifft auf große Schwierigkeiten, weil die Publizität in bezug auf die ihr Zugehörigen sehr gering war. Einige Grundzüge lassen sich jedoch ausmachen: (1) exponierte und isolierte Position in der Gesellschaft; (2) weit überdurchschnittlicher Aufwand für die persönliche Lebenshaltung; (3) extrem hoher Grad der Selbstrekrutierung der Gruppe, in der DDR weniger familiär als gruppen-kooptativ. ( 1) Die Exponiertheil der Position äußerte sich darin, daß die kleine Gruppe an der Spitze der Gesamtgesellschaft bzw. von deren politischer Organisation im Rahmen des bestehenden Systems uneingeschränkte Verfügungs- und Anordnungsgewalt besaß, ohne selbst wesentlichen Einschränkungen aus nachfolgenden Schichten unterworfen zu sein. Ihre Isolierung manifestierte sich, neben der Abgehobenheil etwa analog dem Vorstand I Aufsichtsrat eines Großunternehmens oder dem Oberkommando einer Armee, durch ihre Abschließung von der übrigen Bevölkerung in einem streng sekretierten Wohngetto in landschaftlich angenehmer Lage nahe Ost-Berlin als dem Sitz der zentralen Führungs- und Verwaltungsorgane. (2) Der vordem mehr nur gerüchtweise bekannte relativ luxuriöse Lebensstil der DDR-Führungsspitze läßt sich seit dem Zusammenbruch des SEDStaates auch empirisch belegen (s.a. in Exkurs I und 2). Er betrifft Konsumgewohnheiten, Wohnhäuser, Inneneinrichtungen, aufwendige Liebhabereien, Urlaubsbedingungen, Privatwagen, Ausstattung der Familien u.v.a. Allgemein bekannt sind Ausnahmebedingungen, die sich abgestuft zum Teil auch auf die nächstfolgende hierarchische Schicht erstreckten: Sonderläden für den täglichen Bedarf, Extraimporte hochwertiger Konsumgüter, eigene Krankenhäuser, Apotheken usw.; der Umstand, daß diese Spitzenfunktionäre kein Gehalt im üblichen Sinne bezogen, sondern über freie, d.h. unerschöptbare Konten verfügten, also formell hinsichtlich ihres Einkommens noch dem vermögendsten Privatkapitalisten alten Stils oder Feudalherren voraus waren. Einzelne Züge parasitären Aufwandes wurden publik, wie die Vorliebe L. Breshnews für Luxusautomobile (Kissinger 1982, 350), die Verschwendung in den Sippen von N.S. Chruschtschow und Breshnew oder das große private Jagdrevier Honeckers. Im persönlichen Lebensstil der realsozialistischen Führungsspitzen und ihrer Familien schien die "Aneignung und Nutzung aller Errungenschaften der zeitgenössischen Kultur und Zivilisation", die als allgemeines Entwicklungsziel hingestellt wurde (vgl. 6.3), schon am weitesten fortgeschritten zu sein.

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Die Führungsspitze der DDR war, insgesamt gesehen, anscheinend nicht in dem platten Sinne parasitär, daß die ihr Zugehörigen ein arbeitsloses Dasein mit Prassen hingebracht hätten. Der beherrschende Zug ihres persönlichen Lebensstils - des Lebensstils der, ganz überwiegend männlichen, Familienhäupter, vom Anhang abgesehen - dürfte vielmehr streBhafte Arbeit und Überarbeitung gewesen sein, auch im Sinne der oben zitierten Kennzeichnung des Lebensstils der Intelligenz als Aufbebung der Grenze zwischen Arbeits- und Freizeit. In der Eigensicht erschien die Kluft zwischen Lebenshaltung der Führungsgruppe und der breiten Massen nicht als Nachahmung früherer herrschender Klassen, sondern als Vollzug eines speziell verstandenen Leistungs- und Belohnungsprinzips. Daß bei tendenziell zunehmender Größe dieser Kluft und Verfestigung der Differenzierungen Quantität in Qualität umschlagen und auch von dieser Seite her - zusätzlich zu den autoritären politischen Strukturen - neuerliche Herr I Knecht-Verhältnisse unausweichlich sind, scheint als Überlegung der Führenden bei der Etablierung dieses Prinzips keine Rolle gespielt zu haben. Der wichtigste Faktor bei der Herstellung neuer sozialer Antagonismen war indes weder das eine noch das andere, sondern der Charakter der Politik, die von der realsozialistischen Führungsgruppe praktiziert wurde (vgl. in 15.1.3). Angleichung des Lebensstils dieser Gruppe an den früher herrschender gesellschaftlicher Spitzen gab es, zumindest partiell, auch in einem speziellen Bezug. Traditionell gehört zum Luxus von Herrschenden nicht nur Wohlleben hinsichtlich Ernährung, Kleidung, Wohnung, Fortbewegung, Erholung, sondern auch sexuelle Üppigkeit. Auch das jeweils andere Geschlecht, u.U. auch andere Menschen vom gleichen Geschlecht, werden zum Genußmi~tel historisch und in der Gegenwart ganz überwiegend Frauen für machthabende Männer. Was Marx einst den Bourgeois an heuchlerischer Doppelmoral ankreidete (vgl. MEW 4, 479), war auch der realsozialistischen Herrenschicht nicht mehr fremd. Der letzte Generalsekretär der SED, E. Honecker, hatte bereits in den 50er Jahren ein - später keineswegs auf die herrschende Schicht beschränktes- altes Muster von Mann/Frau-Beziehungen persönlich gelebt, das besonders für Männer mit Karriere geradezu klassisch geworden ist: Austausch einer gealterten Ehefrau gegen eine junge Geliebte, die dann neue legitime Frau wird. Von dem langjährigen Politbüromitglied und ZKSekretär Konrad Naumann, der zeitweilig sogar als designierter Nachfolger Honeckers galt, wurde berichtet, er sei dem Alkohol verfallen und vergnüge sich gern mit jungen bis sehr jungen FDJ-Ierinnen, wie sie bei den Gelagen der Obersten auch als Hostessen fungierten; dazu mache er anderen Größen der Elite die Ehefrauen abspenstig (s. Loeser 1984, 65ff.; DDR 1978, 30). Naumann mußte aus der Führung ausscheiden, doch war sein ,unmoralischer' Lebenswandel schon zu lange im Gespräch, als daß er für diesen Sturz als ursächlich angesehen werden könnte (s.a. Fricke in DA 1985 / 12, 125lff.).

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Wenn der Habitus der Führungspersonen, soweit er in nicht sehr deutlichen Umrissen erkennbar ist, auf seine Essenz zurückgefiihrt werden sollte, dann ist diese wohl in der Prägung und Deformierung durch das Machtinhaben und Machtausüben zu sehen (vgl. Exkurse I und 2). Derartige Prägungen sind weder neu noch ein Spezifikum realsozialistischer Machthaber; der Punkt ist jedoch gerade der, daß sich realsozialistische Herrschaftsfiguren nicht von altgewohnten unterschieden, obwohl sie darauf beharrten und sich durch solche nur behauptete Unterschiede legitimierten, sie mit zur ideologischen Abstützung ihrer vorausgesetzten Existenzberechtigung und -notwendigkeit benutzten. Daß sie sich von sozialistischen hohen Funktionsträgem unterschieden, darauf deuten z.B. Berichte aus großer Nähe über psychotisch anmutende Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit etwa von Chruschtschow und Breshnew, kontrastiert zur rationalen Ruhe und souveränen Persönlichkeit eines Tschou En-lai (vgl. Kissinger 1979, 790ff., 1204ff., 1296ff., l300ff., bes. a. 1204/05; s.a. 125; ders. 1982, 345ff.). Was die im vorigen Abschnitt angesprochene Arbeitereigenschaft der Leitenden betrifft, die diese für sich reklamierten, so war sie von der ausgeübten Tätigkeit her ohnehin gegenstandslos. Auch die soziale Herkunft der Herrschaftsträger in der DDR war nicht durchweg proletarisch oder bäuerlich. Hinsichtlich der fachlichen Qualifikation unterschieden sie sich immer weniger von regulär ausgebildeten Angehörigen der Intelligentsia. Dies hätte wahrscheinlich durch personelle Veränderungen der Führung im Zusammenhang mit der natürlichen Generationenfolge tendenziell zugenommen. Eine Verjüngung dieser Führung gab es praktisch nicht. Das Durchschnittsalter der Parteispitze nahm in den 80er Jahren lediglich relativ ab, aber absolut zu, d.h. der Alterszuwachs war zeitweise geringer, als er bei völliger personeller Kontinuität gewesen wäre. In den wichtigsten Schlüsselpositionen gab es keine Vetjüngung.13 13 Das nach dem X. Parteitag der SED 1981 gewählte Politbüro (mit Kandidaten und Sekretariat des ZK) hatte ein Durchschnittsalter von 59 Jahren, das nach dem XI. Parteitag 1986 gewählte ein Durchschnittsalter von 62,7 Jahren (berechnet nach ND, 17.4.1981, 5 und ND, 22.4.1986, 5). Insbesondere auf den Posten des Generalsekretärs, des Chefs der Staatssicherheit und des obersten Ideologie- und Kulturverantwortlichen verblieben die hochbetagten Amtsinhaber (Honecker, Mielke, Hager). G. Meyer (1985, 509) rechnete zum politischen Führungskern der DDR nicht nur das Politbüro der SED, sondern 7 Kategorien zentraler Leiter: 1. Mitglieder und Kandidaten des Politbüros 2. Sekretäre des ZK der SED 3. Erste Sekretäre der Bezirksleitungen der SED 4. SED-Mitglieder des Präsidiums des Ministerrats 5. Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates 6. Vorsitzender des Staatsrates 7. Präsident der Volkskammer. Diese Aufgliederung mag zweckmäßig sein, um das Geflecht von Gremien und Entscheidungsorganen, das von der Führungsspitze dirigiert wurde, in den Blick zu bekommen

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(3) Das führt zu dem dritten angeführten Charakteristikum, der hochgradigen Selbstrekrutierung der obersten Schicht realsozialistischer Gesellschaft. Dies bedeutete nicht vorwiegend, daß die Ämter in führenden Familien erblich wurden, obwohl Tendenzen zur Dynastiebildung in einigen mehr oder minder zugehörigen Staaten erkennbar sind (Rumänien, Nordkorea) und die Ausdehnung der vermeintlichen Leistungs-Remunerationen auf die Familien der Führungspersonen, sei es mit gewissen graduellen Unterschieden, in allen realsozialistischen Ländern üblich war. Hauptsächlich geht es darum, daß die realsozialistischen Führungsgruppen Veränderungen ihrer personellen Zusammensetzung selbst bestimmten, ohne daß nachgeordnete Funktionärsschichten ein wesentliches und die große Mehrheit der Parteimitglieder, gar der Bevölkerung überhaupt ein Mitspracherecht oder eine Einflußmöglichkeit gehabt hätten. Lediglich die Zentrale in Moskau hatte in ihrem Dominanzbereich solche Möglichkeiten und praktizierte sie, während sie selbst kaum in der Position gegenüber den Führungen der ,Bruderparteien' war, wie diese gegenüber den jeweils nachfolgenden Führungsschichten. Dieser Autokratismus mußte notwendigerweise auf die habituelle Prägung der betroffenen Machthaber als soziale Individuen stark einwirken. Die "widerlichen Praktiken der selbsternannten Parteibürokraten auf Lebenszeit" (DDR 1978, 38f.) haben mit der allgemeinen Versteinerung auch die Tendenz zur Überalterung der Parteiführungen hervorgebracht, die besonders in der Sowjetunion selbst extreme Formen angenommen hatte, augenfallig an der kurzen Regentschaft zweier Generalsekretäre nacheinander (Andropow, Tschernenko) im Anschluß an die selbst hochgradig überalterte BreshnewFührung. Nachdem sich das so nicht mehr halten ließ, wurde mit dem Übergang der Spitzenposition an Gorbatschow 1985 eine gewisse Verjüngung ein(vgl. ib., 51 0). Aber sie bringt keine Erweiterung des Führungskerns. Meyers Polemik gegen die These, eine Handvoll Leute machten die Politik der DDR (ib.), wird durch seine eigenen Angaben der Boden entzogen. Sein Führungskern reduziert sich nämlich weitgehend auf das Politbüro (1987 /89 mehr als 1984, aber grundsätzlich auch schon damals): 5 und 6 sind identisch mit dem Generalsekretär der SED, 7 ist Mitglied des Politbüros, ebenso die Sekretäre des ZK (Posten 2). Lediglich ein Teil der I. Sekretäre der Bezirksleitungen (9 Personen) und der SED-Mitglieder im Präsidium des Ministerrats (4 Personen) sind nicht Mitglieder oder Kandidaten des Politbüros. Es gibt aber keinen Grund, den Abstand in der Entscheidungsbefugnis bzw. zentralen Einflußmöglichkeit zu ignorieren, der durch Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zum Politbüro gegeben war, und damit den "Führungskem" über dieses hinaus zu erweitern. Politische Elite oder Machtelite war nach Meyer ein Kreis von etwa 330 Personen, wovon die Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED knapp 2 I 3 ausmachten. Sie hatte eine Mittlerfunktion zwischen der Führungsspitze auf der einen und den wichtigsten Herrschaftsinstitutionen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern auf der anderen Seite. Als solches hatte das ZK keine eigenständigen politischen Entscheidungsbefugnisse, sondern war ein Beratungs- und Diskussionsorgan, "das die vom Politbüro bzw. Sekretariat des ZK und seiner Kaderabteilung ausgewählten und mit dieser Prestigeauszeichnung versehenen, wichtigsten Repräsentanten der Partei in sich" vereinte (ib.).

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geleitet. Wechsel in der personellen Zusammensetzung, der obersten Spitze wie auch der darauffolgenden Schicht(en) der KPdSU-Führung, waren weitgehend davon bestimmt, daß jeder neue Generalsekretär bestrebt war, seine Anhänger auf Kommandoposten zu bringen und Gegner auszuschalten. In der DDR entsprachen diesen ,Seilschaften' z.B. Präferenzen des jeweiligen Parteichefs wie die Orientierung Honeckers auf frühere Mitarbeiter von ihm in der FDJ: Paul Verner, Axen, Krenz, Keßler, Naumann u.a. (vgl. G. Meyer 1985, 518f.). Solche Elemente zentraler Kaderauswahl sind nähere Bestimmungen der Art und Weise, wie die Selbstrekrutierung der Führung vor sich ging.

3.3 Die obere Leitungsebene nach der Spitzengruppe Die zweite hierarchische Schicht der DDR-Gesellschaft, von oben angefangen, bestand aus den hochgestellten Leitern und Repräsentanten der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche. Dazu rechneten: die Mitglieder des Zentralkomitees der SED neben denen von Politbüro und Sekretariat des ZK, damit die wichtigsten Leiter von Partei, Staat einschließlich bewaffneter Organe, Wirtschaft, Ideologie; die Spitzenfunktionäre der Blockparteien und der Massenorganisationen; soweit nicht in der erstgenannten Gruppe enthalten: die Regierung der DDR mit den Spitzen des diplomatischen Korps, die Vorsitzenden und evtl. einzelne weitere Leiter der Räte der Bezirke, die zentralen Leitungen von Justiz und ABI; die Spitzen von Leistungs- und von Prestigeelite, also von Wissenschaft, Technik, Forschung und Entwicklung, von Literatur, Theater, Film und den anderen künstlerischen Medien sowie des Kulturbetriebs, dabei die zentral leitenden Funktionäre der wissenschaftlichen, technischen, künstlerischen und publizistischen Berufsverbände (zum Umfang vgl. Staats- und Parteiapparat 1987 als, auch personelles, Verzeichnis der betreffenden Schicht). Das ZK der SED versammelte den überwiegenden Teil gesellschaftlichpolitischer Akteure dieser Ebene: zentrale Partei- und Staatsfunktionäre, soweit sie nicht zur obersten Führungsgruppe gehörten; die Bezirkssekretäre der SED mit der gleichen Einschränkung; die Spitzen des Militär- und Sicherheitsapparats, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kultur im engeren Sinne. Zu dieser Schicht waren aber auch Angehörige der Leistungs- und der Prestigeelite zu rechnen, die nicht der SED angehörten oder nicht in deren Zentralkomitee vertreten waren, etwa der Physiker Manfred von Ardenne oder der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski; die Schriftsteller Stephan Hermlin, Peter Hacks u.a., auch prominente Vertreter anderer Künste und des Schaugeschäfts. Erfüllen einer Leitungs- oder Orientierungsfunktion innerhalb des bestehenden Systems erschien als notwendige Voraussetzung für Zugehörigkeit zu dieser Oberschicht. Prominente Schriftsteller von der

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Art Christa Wolfs und andere bekannte Persönlichkeiten, deren Arbeit jenen Rahmen sprengte, Jassen sich schwerlich dazu rechnen. Das drückte sich auch in unterschiedlichen Lebensstilen aus, die sich hinsichtlich der Arbeitssphäre so umreißen Jassen: Verpflichtungen aus Mitgliedschaft und Funktionen in Gremien, Verbänden, Organisationen usw. versus weitgehende Freiheit davon; offizielle Ehrungen, Anerkennungen, Förderung der Arbeit mit Auswirkungen auf Status, Prestige, Einkommen versus Diskriminierung und Gefahrdungen mit ihren Auswirkungen auf Lebenslage und subjektive Verfassung; Gefahr des routinierten Konformismus versus Möglichkeiten für selbständiges, innovatives Denken und Arbeiten; Eingebundensein in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen versus Druck von oben auf gesellschaftliche Isolierung. Diese Faktoren griffen tief in die persönliche Sphäre auch außerhalb der Arbeit. Unterschiede in den Mustern geistiger und materieller Konsumtion, im Familienleben, in der Beschaffenheit des Freundeskreises, der tatsächlichen Kommunikation überhaupt würden sich wahrscheinlich durch intensives Aufarbeiten der insgesamt verfügbaren zugehörigen Daten weitgehend erschließen Jassen. Ein wichtiges Moment, das die Lebensverhältnisse der Angehörigen dieser Schicht bestimmte, war der Konkurrenzkampf der verschiedenen Eliten und Elitegruppen (für die UdSSR vgl. Meissner / Brunner Hg. 1975, 21-127). Darstellungen in der Literatur u.a. künstlerischen Medien sparten diese Schicht weitgehend aus, was gelegentlich auch von Autoren selbst angemerkt wird (vgl. Loest 1978, 157f.). Nur ausnahmsweise traten Angehörige der obersten beiden Strata in Romanen u.ä. auf, so in Neutschs Text ,.Spur der Steine" von 1964, wo nicht nur ein partiell nach Bernard Koenen stilisierter Hallenser Bezirkssekretär vorkommt, sondern auch der damalige Partei- und Staatschef W. Ulbricht persönlich, beide allerdings mehr als ideologiehaltige Schemen, nicht als soziokulturelle Personen (dazu Rossade 1982, 231 ff. ). Lebensbilder von Angehörigen dieser Schicht verdeutlichen, wie sich an Beispielen zeigen läßt, bestimmte Elemente von Habitus und Lebensstil (dazu Exkurs 3). Versteinerte Etabliertheit in Macht- und Einflußpositionen, die für den Großteil der sozialen Individuen dieser Gruppe als habitus- und stilprägend angenommen werden kann, wird auch durch eine Reaktion beleuchtet, zu der es im nächsten Familienkreis kam. Nicht ganz selten waren die Kinder von Zugehörigen entweder Kriminelle oder aber Rebellen, die mit den Lebensmustern ihrer Väter, mitunter auch Mütter, brachen und sie bewußt verwarfen. Beispiele dafür geben Thomas Brasch, Karl Winkler, Hans Noll und manche anderen Nachkommen von Angehörigen dieser Schicht der Macht-, Leistungs- und Prestigeelite in der DDR (vgl. Brasch 1977, 110; Loest in K. Winkler 1983, 198ff.; H. Noll 1985). Dieses Muster des Bruches mit der systemkonformen Elterngeneration war nicht nur in der Oberschicht nach der

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Führungsspitze, sondern auch in beiden Nachbarstrata anzutreffen: etwa bei Verwandten von W. Stoph auf der einen und einem jungen Autor wie Gerald Zschorsch, dessen Mutter in der DDR Richterin war, auf der anderen Seite (vgl. Presse zur Ausreise der Stoph-Verwandten, 1984; H. Noll 1985, 11 f., 17; Zschorsch 1978, 92).

3.4 Mittlere Leiter und Fachleute Der Umfang dieser Schicht aus Leitern und Fachkadern läßt sich etwa durch folgende Grenzen bestimmen: in der Wirtschaft vom Direktor eines mittleren Betriebes bis zum Abteilungsleiter, entsprechend im Bereich von Institutionen der Verwaltung, der Wissenschaft, der Forschung und Entwicklung, des Erziehungs- und Ausbildungswesens; in der Partei und anderen gesellschaftlichen Organisationen von den unteren Rängen der Bezirksleitung bis zu den Spitzen der Kreisorganisation und gleichgestellten BPOs; in den bewaffneten Organen das Offizierskorps unterhalb der Generalität; von den Kunst- und Kulturschaffenden die Personen und Gruppen zwischen den Spitzen der Prestigeelite und den lediglich lokal hervortretenden Akteuren. Den oberen beiden Schichten gegenüber subaltern, spielten die Angehörigen dieser Schicht im Gefüge der realsozialistischen Ordnung eine tragende Rolle, sei es als Vorgesetzte, sei es als Spezialisten ohne eigene Leitungsfunktion, gegenüber der untersten Leiterebene und der großen Zahl der nur Geleiteten. In gewisser Weise prägte diese Schicht nicht die Strukturen, aber das Gesicht, den Phänotypus der realsozialistischen Gesellschaft. Ohne Entscheidungsbefugnis in zentralen Fragen, aber der Masse der Bevölkerung gegenüber herausgehoben, bildete diese Schicht den unerläßlichen Mittelbau, ohne den die Herrschenden die Gesellschaft nicht hätten organisieren und dirigieren können. Die ihr Zugehörigen traten durch größere Anzahl wie durch geringere Isolierung (Abschottung) nach unten mehr in Erscheinung als die herrschende Schicht, was persönlichen oder relativ wenig vermittelten Kontakt zu den unteren Schichten angeht. Während die Götter und Halbgötter des Systems für die normalen Werktätigen in unerreichbarer Feme thronten, waren die Leiter und Kader des Mittelbaus flir die Unteren das bestehende Herrschaftssystem in sieht- und faßbarer Gestalt. Die Herausbildung des Realsozialismus hatte es sich mit sich gebracht, daß diese Mittelschicht als repräsentativ für Stil und Geschmack der bestehenden Gesellschaft gelten konnte. Die beiden oberen Schichten unterschieden sich von ihr qualitativ in der Machtfülle, aber hinsichtlich Persönlichkeitstypus und Lebensstil wohl nur durch - teilweise enorme - Quantitäten, nicht zuletzt des Aufwandes. Die Oberschicht drückte der Gesellschaft keinen Stempel auf, der sich von der Prägung jener Mittelschicht unterschieden hät-

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te, oder, anders gesagt, der Lebensstil der Oberschicht wurde zum herrschenden der Gesellschaft über die relativ breite und sozial augenfällige Mittelschicht. Seine konstituierenden Elemente lassen sich beschreiben als Herrschaftsposition, mehr oder minder intensive Arbeit, hoher Anteil sog. gesellschaftlicher (politischer) Aktivitäten einschließlich Sitzungen, Versammlungen u.ä. Veranstaltungen sowie demonstrativer Rituale, ein gewisser Fundus an eher technischer als traditionell akademischer oder quasiakademischer Bildung, Streben nach Bequemlichkeit und Luxus im Rahmen des Möglichen, Hochschätzung kulinarischer und sonstiger Genüsse mit unverbindlicher Geselligkeit sowie Konformität gegenüber den international, genauer: in den Industrieländern, geltenden Inhalten und Normen "der zeitgenössischen Kultur und Zivilisation". Solche Elemente sind charakteristisch weder für eine vorwiegend körperlich arbeitende, lediglich Objekt der Herrschaft darstellende Unterschicht noch für eine auch im Erscheinungsbild bloß parasitäre, nichtarbeitende Oberschicht (Herrscherkaste). Sie sind weder spezifisch proletarisch, sozialistisch noch feudal oder extrem großbürgerlich, sondern mittel- bis kleinbürgerlich und abzüglich einiger (nicht sehr vieler) realsozialistischer Eigentümlichkeiten für östliche wie westliche Industriegesellschaften gleich (s.a. in Anm. 196 zum realsozialistischen Sozialprofil). In diesem Sinne kann die realsozialistische DDR-Gesellschaft als eine "Mittelstandsgesellschaft" gelten (vgl. P. Zimmermann 1984, bs. 250ff.; Rytlewski 1986, 1l4ff.). Ihre bürgerliche Prägung deckte sich in den wesentlichen Bezügen mit den Prägungen heutiger Gesellschaften des westlichen Kapitalismus (vgl. dazu Bourdieu 1984, 405ff., 727ff.). Beide Gesellschaftstypen stimmen im industriegesellschaftlichen Zuschnitt überein (Rytlewski 1986, 134), der- im Norden des Globus inklusive einiger Einsprengsel im Süden - international ist. Die oben genannten Hindernisse für Untersuchungen der konkreten spezifischen Lebensstile in der DDR ließen lange Zeit eine soziologische Erforschung auch der Mittelschicht nur sehr bedingt zu. Dafür gibt es in der künstlerischen Literatur aufschlußreiche Darstellungen. So in Erich Loests Roman "Es geht seinen Gang" (1978), der mit den Arbeits- und Lebensverhältnissen eines Leipziger Ingenieurs und seiner sozialen Umwelt befaßt ist. Ein "Made-im-Speck"-Leben in den vergleichsweise bescheidenen Dimensionen, die dem Mittelbau der DDR-Gesellschaft an seinem unteren, breiteren Ende verfügbar waren, kontrastiert dennoch sehr deutlich mit den Arbeitsund Lebensverhältnissen in Proletarierkreisen: die Mutter des Ingenieurs, eine einfache Arbeiterin, hat schlechte Arbeitsbedingungen und lebt dürftig. Der Ingenieur verweigert sich den herrschenden, ihn in Beruf und Familie bedrängenden Karrieremustern und steigt willentlich sozial ab, nur um bei Unteren in Gestalt kleiner Dienstleistungsangestellter die gleiche bürgerlich I kleinbürgerliche Beschränktheit wiederzufinden, die ihn aus seiner bestehenden Ehe und Kleinfamilie vom Zuschnitt arrivierter Mittelschicht ver-

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A. Lebensstile

trieb. 14 Wenn auch das Unbehagen an solchem Lebensstil in der Endzeit der DDR nicht nur in der Literatur zunahm, so kann doch angenommen werden, daß ein beträchtlicher Teil des DDR-Mittelbaus sich in einem Leben wohl und bestätigt fiihlte, das westlichen Wohlstand mit geringeren Mitteln und Möglichkeiten nachvollzog und das im Westen von Kritikern als "materielle Kompensation einer Leistungs- und Konsumgesellschaft diagnostiziert worden (war), die ihre autoritären Herrschafts- und Klassenstrukturen hinter einer Warenfassade verbirgt" (P. Zimmermann 1984, 294). Den Lebensstil der Leiter, der Sache nach vorzugsweise den Lebensstil in dieser mittleren Ebene, untersuchte die DDR-Soziologie vergleichsweise intensiv unter dem Gesichtspunkt von Erhaltung und Steigerung der Effizienz der Leitenden. Die "Leiterpersönlichkeit" sollte einen Lebensstil praktizieren, der StreBfaktoren reduzierte und die Funktionsfähigkeit des Leiters optimierte. Dafiir wurden soziologische Forschungsansätze ins Spiel gebracht (Teßmann 1979). Persönlichkeit wurde in diesem Zusammenhang rein funktional und pragmatisch definiert, ohne Bezug auf ,allseitige Entwicklung' u.ä. Elemente der Ideologie: als "zwischenmenschliche Beziehungen und individuelle Verhaltensweisen konstruktiv beeinflussende Gesamtheit individueller Wirksamkeit". Diese setze "letztlich immer die Verankerung des einzelnen in grundlegenden Kollektivstrukturen (institutionell oder informell) voraus" (ib., 591 ). Die "Stabilität der sozialen Kontaktstruktur des einzelnen" sei "eine grundlegende Bedingung der Stabilität und der Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit" (ib.). Günstig dafiir seien positive soziale Situationen: stabile Familienbeziehungen, Vertrauen im Kollektiv, Standvermögen, ruhige und freundliche Wohnverhältnisse, Verständnis und Entgegenkommen der Umgebung (ib., 593ff.). Angemessene Lebensweise umfaßte Elemente wie das Transportmittel zur Arbeitsstelle, Übergewicht, Tabak- und Kaffeekonsum, Dienstreisen und Selbstfahrten, Ernährungsgewohnheiten, Alkoholkonsum, Überstunden, körperliche Betätigung, Lärmbelästigung, völliges "Abschalten" in einem festen Teil der wöchentlichen Freizeit, hinreichend Schlaf und Erholung (594). Als wichtigste soziale Stressoren erschienen: Überarbeitung durch Länge des Arbeitstages und Stoßzeiten extremer Intensität der Arbeit; Überlastung mit ,gesellschaftlicher' Arbeit; Krankheit in der Familie; Überforderung durch neue Arbeit; Spannungen zu Vorgesetzten; Probleme mit den eigenen 14 Die Mittelschicht lebt in unifonnem Wohlstand, der kleinbürgerlich phantasielose bescheidene Luxus sieht überall gleich aus, bei Bekannten zum Nachmittagskaffee sprechen die Frauen von Einkäufen im Exquisitladen und die Männer von Geld: zu viel davon unter den Leuten, höchste Sparkonten der Welt und wenig Zinsen, keine Anlagemöglichkeiten fiir hohe Einkommen. Der DDR-Bürger in seinem Betonklotz mit Nonnwohnungen und Normmöbeln stellt sich vor, wie in den benachbarten Betonklötzen dasselbe immer wieder da ist, wie "tausend Schrankwände tausend Couches gegenüberstanden, wie tausend Ehepaare tausend andere eingeladen hatten, alle aßen Fleischsalat und gefiillte Tomaten und garnierte EihäUten, bei zwei Dritteln quakelte der Fernseher, später wurde Hemus getrunken oder Natalie ( ... )" (Loest 1978, 12, 70, 139, 86, 8ff., 39).

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Kindern; generelle Überforderung; andauernde Spannungen unter Kollegen; Unterschätzung des Arbeitsumfangs. Als untergeordnete soziale Stressoren kamen vor: schwere Verfehlungen im Kollektiv; Nichtanerkennung der Arbeitsleistung; Arbeitsumstellungen; Eheprobleme; Veränderungen in der Familie; persönliche Perspektivlosigkeit (594 I 95). Die Leiter als "Beauftragte der sozialistischen Staatsmacht" wurden in hohem Maße fiir die Stärkung der ökonomischen Leistungsfähigkeit der DDR und das Wirtschaftswachstum verantwortlich gemacht ( Ladensack 1981, 15f.). Optimierung der "Dialektik von gesellschaftlicher Verantwortung, Arbeitsanforderungen und persönlichen Erwartungen, Bedürfnissen und Interessen der Leiter" erfordere Aufstellen, Systematisieren I Handhabbarmachen und Einüben von Handlungs- und Perzeptionsmustern, die diesem Ziel dienstbar sein könnten (vgl. ib., 23ff.). Ein wichtiger Aspekt war die Entwicklung der Risikofreude der Leiter. 15 Die Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen, galt generell als wünschenswerte Eigenschaft. Ihre Pflege und Entwicklung machte sich mit fortschreitender ,industriegesellschaftlicher' Evolution dringender, doch traf die Risikobereitschaft naturgemäß auf systembedingte, mehr oder minder enge Schranken. Die Problematik psychisch und vegetativ beeinträchtigter Leiter war Gegenstand einer eingehenden Analyse von Befragung Betroffener - wobei nur die Stichprobe zur Verfugung stand und kein Vergleich mit einer Nicht-Patienten-Stichprobe angestellt werden konnte - zu der Thematik, in der sich Persönlichkeits-, Arbeits-, Sozial- und Pathopsychologie durchdringen (Böttcher 1975). Besondere Bedeutung wurde auch hier den sozialen Beziehungen des Leiters beigelegt. Sein soziales Verhalten kann persönlichkeits- und gruppenpsychologisch gemessen werden (B. Weinert 1975). Die Kaderarbeit war ein zentraler Bestandteil der Bemühungen, "alle Vorzüge und Triebkräfte" der bestehenden Ordnung planmäßig zu entwickeln, wie das SED-Programm forderte (Protokoll 1976, Bd. 2, 238). Unter Bezug auf die ideologische Formel, der Mensch sei der Sinn des Sozialismus, und gestützt auf Untersuchungen in Betrieben des Schwermaschinen- und Anlagenbaus wurde die "Arbeit mit den Menschen" nach Reserven durchleuchtet. Solche Reserven seien: Zufalligkeiten in der Kaderentwicklung einschränken, den Effekt der Kombinate (Staatskonzerne) fiir die Kaderarbeit nutzen, früh auf gesellschaftlich wichtige Berufe orientieren, die Kader ausbildungsgerecht unter Beachtung der persönlichen Neigungen und Talente einsetzen (ein schweres Problem: s.a. 9.1 und 15.3}, um so einen "Teufelskreis" zu durchbrechen: "Um den 15 Eine Arbeit zur psychodiagnostischen Erfassung des Risikoverhaltens von Leitern in der Industrie untersuchte die Aussagegültigkeit risikodiagnostischer Verfahren und ihre Anwendbarkeit bei mittleren Leitern in Industrie-VEBs, um "das Inventar eignungsdiagnostisch nutzbarer Verfahren zu erweitern" (Irmer 1975, 461). Ein Test wurde konstruiert und analysiert, der möglicherweise geeignet sei, diese Variable quantitativ und ausreichend verläßlich zu erfassen.

5 Rossade

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Kadermangel zu beseitigen, muß man planmäßig Kader vorbereiten. Um planmäßig Kader als Leiter vorbereiten zu können, darf es nicht an Leiter(n) mangeln." (Haferberger 1979, 609). 16 Eine soziale Folge unzureichender Leitungstätigkeit war nach empirischen Untersuchungen erhöhter Krankenstand in den Betrieben (Kreutzmann 1980; s.a. 9.2). Die Untersuchung leistungsrelevanter Besonderheiten männlicher Verwaltungsdirektoren und weiblicher Verwaltungslehrlinge beim Lösen pädagogischer Problemaufgaben durch eine Befragung, deren Möglichkeit "einem glücklichen Zufall" zu verdanken war (Paeschel 1974, Anm. 1), ergab nur geringe Überlegenheit und teilweise Unterlegenheit der Direktoren gegenüber den Lehrlingen. Als auffallig wird bei den Leitern wie bei den älteren und den jüngeren Lehrlingen das Bestreben hervorgehoben, "pädagogische Konflikte auf autoritärem Wege zu lösen". Das stelle die Frage, ob nicht trotz vieler zentraler Beschlüsse und Empfehlungen - noch "Leiter häufiger, als es die Situationen erfordern, mit Hilfe autoritärer Leitungsmethoden Alltagsprobleme zu lösen versuchen und dadurch das Vertrauensverhältnis zu ihren Mitarbeitern erschüttern." Besonders heftiger Äußerungen hätten sich die 16jährigen Lehrlinge bedient, während die 18jährigen Mädchen und die männlichen Leiter stärker mit Ironie gearbeitet hätten. Die Ergebnisse ließen "vermuten, daß innerhalb des Motivationsgefüges, das das autoritäre Leitungsverhalten bedingt, ungenügende Lebenserfahrung, mangelhaftes Wissen und unterdurchschnittlich entwickelte Intelligenz akzentuierende Bedeutung haben" (ib., 30). Hervorgehoben wurde auch auf der kulturpolitischen Ebene die Verantwortung der Leiter für Persönlichkeitsentwicklung der Arbeitenden, wobei sie sich psychologischer Leitungsmethoden bedienen sollten (Lothar Hummel in: So 1981141, 7; s.a. Hans-Joachim Pohl in: So 198113, 2). Eine wichtige Seite der Leitungstätigkeit sei die "internationalistische Arbeit", d.h. der Abschluß von Partnervereinbarungen mit Gremien und Organisation in anderen realsozialistischen Ländern, ebenso das Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte im Territorium bei der Betreuung von Gästen aus dem realsozialistischen Ausland (Gerhard Mertink in So 1974 I 10, 2).

16 Um das Interesse an Leitungstätigkeit genauer zu ermitteln, wurden zugehörige Einstellungen mittels einer psychodiagnostischen Skala erfaßt (Marischka 1975). Um die Organisationsfähigkeit zu diagnostizieren, wurden z.B. über I00 Leiter aus vier verschiedenen Leitungsebenen in zwei Großbetrieben im Südwesten der DDR nach einem Testplan untersucht (Girndt 1975). Die "zielgerichtete Vorbereitung des Werktätigen auf die berufliche Tätigkeit eines Leiters" wurde unter dem Gesichtspunkt analysiert, die bisherige Praxis der Kaderauswahl zu überprüfen, nach der als Kriterien fiir Beförderung auf Leitungsposten galten: hohe Leistungsfähigkeit, hohe Fähigkeit zur Aktivierung anderer, auffällige gesellschaftliche Aktivität. Ergebnis war, es sei notwendig, einheitliche Rahmenqualifizierungsprogramme einer gezielten Ausbildung der Kader als professionelle Leiter zugrunde zu legen (Haferberger 1974).

3. Unterschiede nach sozialer Schicht

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So wurden im Sinne systemgerechter Funktionalisierung der Leiter zahlreiche Aspekte ihrer Tätigkeit behandelt, ohne daß ihre Lebenslage im sozialstrukturellen Kontext noch auch ihre Persönlichkeitstypen unter weiterführenden Gesichtspunkten untersucht worden wären. Die angeführten Erhebungen und ihre Auswertung weisen aber auf charakteristische Schwächen und auf gravierende Probleme realsozialistischer Leitungstätigkeit, die bis zum Ende der DDR nicht überwunden werden konnten und die ihr Teil zum Zusammenbruch des Systems beigetragen haben. Der beklagte Autoritarismus in der Leitungsarbeit kann als Ausdruck hierarchischen Denkens aufgefaßt werden, wie es auch sonst hervortritt. So hat der Soziologe Lötsch seine Schilderhebung der Intelligenzschicht (s. 3.1) einige Jahre später, nicht lange vor dem Ende der DDR, dahin modifiziert, daß ja nicht der ganzen Intelligentsia die kreativ innovative Rolle, faktisch an der Spitze der gesellschaftlichen Entwicklung, zukomme. Eine vertikale Strukturdimension innerhalb der Intelligenzschicht sei zu beachten, die Tatsache nämlich, "daß innerhalb der komplexen Gesamtfunktion der Intelligenz unterschiedliche Niveaus und Qualitäten geistiger Arbeit vollzogen" würden. Es bestehe ein wesentlicher Unterschied zwischen einem "führenden Vertreter pädagogischer Wissenschaften" und einem Lehrer an der Basis, für den "weite Bereiche der Arbeit regelrecht algorithmiert" seien: "Der Lehrplan duldet keine eigenständige Modifikation, der Stundenplan muß diszipliniert eingehalten werden." Ähnlich in der Medizin zwischen Grundlagenforschung und Allgemeinpraktiker oder Zahnarzt, etc. (in: Weidig mit AK 1988, 153f.). So wurde der sterile, obsolete Elitarismus noch weiter getrieben und zugleich mit der starren Unterscheidung zwischen Wegweisenden oben und bloß Ausfuhrenden unten die autoritäre Reglementierung, an der die realsozialistische DDR krankte und an der sie nicht zuletzt zugrunde gegangen ist, als unabänderlich gesetzt (s.a. Lötschs Tagungsbericht über eine Transformationskonferenz des BISS, Nachfolgeeinrichtung der ehemaligen "Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED", in DA 1993 I 2, 222ff.; ferner in 10.2.3. Zu quasi-realsozialistischer Sicht der Intellektuellenproblematik auch Kuczynski 1992). Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa und der UdSSR haben sich nicht wenige leitende Angehörige der technischen Intelligenz, vornehmlich aus dieser mittleren und der nächsthöheren Schicht, zu Unternehmern gemausert, in den neuen deutschen Bundesländern ebenso wie in den anderen vordem realsozialistischen Staaten (vgl. Aufschwung 1991; 1992; 1992a; Myritz 1992; Münch 1992; Myritz Hg. 1992; Koch I Thomas 1994; s.a. DDR-Geschäft 1990; Nathusius 1990). In Rußland sind die Direktoren der früheren Staatsbetriebe auf den gleichen Posten zu einer Hauptstütze der restaurativen Kräfte geworden. Im übrigen beschränkt sich das neue Unternehmertum nicht auf diese Schichten, sondern rekrutiert sich auch aus

s•

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anderen, bis hin zu ehemaligen hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS, wo dann etwa- ein dem Vf. bekanntgewordener Fall 17 - ein solcher Leiter jetzt selbständig oder als Subunternehmer im Finanzgeschäft tätig ist. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Ingenieure in der UdSSR hatten sich in der realsozialistischen Zeit beträchtlich verschlechtert, mit schwerwiegenden Folgen für Kreativität und Arbeitseinstellung und in krassem Gegensatz zu der von der Führung immer wieder als Aufgabe gestellten Effektivierung (Möllmann 1984; für die DDR siehe Lötsch und AK 1988). Eine Untersuchung über die kulturellen Interessen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in der DDR hat ergeben, daß diese Interessen und Aktivitäten Beruf und Familie subordiniert bzw. durch sie eingeschränkt waren, bei Vorrang ,klassischer' Kulturbereiche (Kultur immer im traditionellen engeren Sinne) und deutlichen Unterschieden zwischen an Universitäten I Hochschulen und in der Industrie(forschung) Tätigen (Riege 1992). Der in der Literatur festzustellende Nachdruck auf der wissenschaftlich-technischen Intelligenz entspricht der tatsächlichen Schwerpunktsetzung gerade in einer realsozialistischen Gesellschaft (zur künstlerischen Intelligenz dieser und der nächsthöheren Ebene vgl. in Exkurs 3, zur wissenschaftlichen Intelligenz auch 10.1).

3.5 Untere Funktionsträger Eine Zusammenstellung von Leitern verschiedener Ebenen nach Lebensalter und Dauer der beruflichen Tätigkeit als Leiter ergab folgendes Bild: Tabelle 2

Lebens- und Berufsalter von Leitern verschiedener Ebenen

Anzahl d. Leiter n = 303

40 72 26 82 46 37

Lebensalter Gegenwärtige Funktion des Leiters

Direktor Fachdirektor Hauptabteilungsleiter Abteilungsleiter Gruppenleiter Meister

beruflich als Leiter tätig

bis 35 Jahre

36-50 Jahre

älter als 50 Jahre

7 6 5 21 14 5

29 57 20 56 24 18

4 9 I 5 8 14

204

41

58

bis 5 Jahre

6-10 Jahre

mehr als 10 Jahre

-

5 19 22 9

6 19 4 32 9 6

34 53 17 31 15 22

55

76

172

Quell• : Haferberger 1974. 292.

17

Für den Vf. nachprüfbare Mitteilung aus seinem ostdeutschen Bekanntenkreis.

3. Unterschiede nach sozialer Schicht

69

Die ersten vier Kategorien gehören nach den o.a. Unterscheidungskriterien zur Schicht der mittleren Leiter. In die hier interessierende Schicht der unteren Funktionsträger fallen die Gruppenleiter und die Meister. Untere Funktionsträger verstehe ich als Leiter, die sich am unteren Rand der Leitungshierarchie, unmittelbar oder nur durch eine Zwischenstufe vermittelt über den Werktätigen ohne Leitungsfunktion befinden. Dies sind also im Produktionsbetrieb Brigadiere und Meister, in der Verwaltung entsprechende Gruppenleiter, bei den bewaffneten Organen das Unteroffizierskorps, in der Partei die Funktionäre von den nachgeordneten Chargen der Kreisleitung bis zum Parteisekretär einer kleineren PO und nebenamtlichen Parteifunktionären bis zur Ebene der Parteigruppe (Funktion des Parteiorganisators); in wissenschaftlichen Instituten die Arbeits- oder Forschungsgruppenleiter; unter den Kulturschaffenden analog die Schreibenden, Musiker und Sänger, bildenden und darstellenden Künstler, Publizisten und Journalisten, Unterhaltungskünstler usw. von nur lokaler Bedeutung. Die vorstehende Tabelle läßt einige Unterscheidungsmerkmale erkennen, die allgemeinere Geltung gehabt haben dürften: Gegenüber den mittleren Leitern waren die unteren im Gesamtdurchschnitt erst kürzere Zeit in ihrer Funktion; es gab jedoch gerade bei den Meistern auch sehr langjährige Tätigkeit. Der Vergleich der Lebensalter weist ebenso auf beide Tendenzen hin: kürzere Zeit in unteren Funktionen, wenn weiterer Aufstieg eingeschlossen wird, aber auch langer bis ständiger Verbleib in der unteren Funktion ohne weiteren Aufstieg in der Hierarchie. Im großen und ganzen lassen sich die Arbeits- und Qualifikationsanforderungen an die unteren Leiter, den zentralen Vorgaben nach, mit denen an die mittleren Leiter analogisieren, Abstriche im erforderlichen Qualifikationsund Befahigungsniveau vorausgesetzt. Die Stellung der unteren Leiter in der Hierarchie brachte, im Vergleich zu den mittleren Leitern, wesentlich geringere Machtbefugnisse und ein Überwiegen der Subalternität gegenüber der Anordnungsgewalt mit sich - was mitunter bei Inhabern solcher Funktionen in schikanöse Betonung ihrer Leitungsmacht im Verhältnis zu ihren Untergebenen umschlagen konnte und dann in gewissem Rahmen herrschaftstechnisch ausgezeichnet nutzbar war. In ihrem Gesamtlebensstil dürfte diese Schicht den Prägungen und Gewohnheiten der Arbeiter und gleichstehender Angestellter näher gewesen sein als denen der mittleren Leiter, selbstverständlich mit Schwankungen nach oben oder unten im einzelnen Fall (s.a. 3.6, 3.7, 15.2). Auf dieser Ebene hatte ein Faktor wahrscheinlich die geringste Bedeutung, der auf den höheren Ebenen gewichtiger war: die Personalunion von Parteiund anderen, vor allem staatlichen Leitungsfunktionen. Allgemein wird sich sagen lassen, daß dieses Moment von oben nach unten in seiner Bedeutung

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abnahm. An der Führungsspitze bestand Personalunion der obersten Leiter der Partei mit denen von Staat, Wirtschaft, Sicherheitskräften, Kultur, Wissenschaft, Volksbildung, Medien usw. Auf der zweiten Ebene war die Differenzierung schon größer, wenn auch weitgehende Verzahnung bestand, insbesondere durch das Zentralkomitee der SED. Auf der mittleren Ebene wuchs die Arbeitsteilung gegenüber den Personalunionen weiter an. So würde z.B. der Vorsitzende eines Rates des Bezirks - oder auch ein prominenter Schriftsteller I Schriftstellerfunktionär - Mitglied der Bezirksleitung der SED gewesen sein, aber der Ratsvorsitzende des Bezirks oder der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes im Bezirk konnte nicht zugleich Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED sein. Entsprechendes gilt für die nachfolgenden Ebenen (s.a. zu solchen Verzahnungen und Personalunionen in Rumänien als einem anderen realsozialistischen Land: Tontsch 1985, 120ff.; 132ff.). Für die untere Leitungsebene konnten sich solche Unionen mit ihren Folgen fiir die persönliche Position des betroffenen Funktionärs in der Leitungshierarchie und Auswirkungen auf seinen gesamten Lebensstil ergeben, wenn z.B. ein Brigadier oder ein Forschungsgruppenleiter zugleich (nebenamtlicher) Parteisekretär im oder des Betriebes wurde, das zweite allerdings nur in kleineren Betrieben /Institutionen, denn größere hatten einen hauptamtlichen l. Sekretär der SED-Parteiorganisation. Der unmittelbare Vorgesetzte in der Arbeitsgruppe steht in komplexen Beziehungen zu den von ihm Geleiteten. Gegenseitige Kontakte und Interaktionen der Gruppenmitglieder haben es nicht nur mit den Arbeitszielen der Gruppe zu tun, sondern auch mit dem Bedürfnis der Affiliation, der Geselligkeit. Außer den formellen Merkmalen der organisierten Tätigkeit kommen hier stets auch Merkmale informeller Gruppen zur Geltung. In diesem Geflecht ist die Gesamtpersönlichkeit des unmittelbaren Vorgesetzten gefordert, nicht nur seine fachliche Qualifikation oder sein Intellekt. Untersuchungen des slowakischen Arbeitssoziologen Jurovsky ( 1975) hatten ergeben, daß die Bewertung des Leiters durch die Gruppenmitglieder großes Gewicht im Kontext der Einstellung zu Arbeit und Beruf hat (vgl. die Tabellen ib., 424, 426, 428). Darin äußerte sich die besondere Bedeutung dieser Schicht als Herrschafts- und Führungsorgan gegenüber den Geleiteten. Sie waren die unmittelbaren Umsetzer der Vorgaben von oben unter den breiten Massen der Tätigen, vergleichbar speziell in einer realsozialistischen Gesellschaft mit der Rolle der Unteroffizierdienstgrade in einer Armee. (Zur Figur des Parteisekretärs und anderer Typen politisch-gesellschaftlicher Aktivität s.a. I. Hanke 1987' 258ff.)

3. Unterschiede nach sozialer Schicht

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3.6 Städtische Arbeiter und kleine Angestellte Der politischen Ideologie zufolge wuchs in der realsozialistischen Gesellschaft gesetzmäßig die Aktivität der Massen, speziell der Arbeiterklasse (Wallis 1982, 61). Sowjetische Soziologen und Philosophen suchten nach einem komplexen Kriterium, einem ,,System von Gradmessern der sozialen Aktivität", das es zuließ, diese Aktivität zu messen (ib., 63). Sieht man von den erwähnten ideologisch bestimmten Erweiterungen der ,Arbeiterklasse' bis in die oberste Schicht der realsozialistischen Gesellschaft und gerade in diese ab und behält man den Begriff den tatsächlichen Arbeitern und ihnen gleichkommenden unteren Angestellten vor, so ergeben sich als Grundbedingungen fiir deren Lebensstil(e) einerseits ihre Position in der Produktion und in der gesellschaftlichen Hierarchie, andererseits die Tatsache, daß sie hauptsächlich in städtischen Siedlungen konzentriert sind. In der DDR-Kulturtheorie erschien die Stadt als die Siedlungsform, die in den verschiedenen Perioden der Geschichte die Entwicklung von Politik, Ökonomie und Kultur, den Fortschritt von Technik und Zivilisation bestimmend geprägt habe (Koch u.a. 1982, 297). Die stadtzentrierte Industriekultur habe "die Umwandlung der Arbeiterklasse in den Führer und Organisator des Kampfes der Werktätigen begünstigt", gemäß Lenin, dem zufolge nur die Klasse, "die sich die gesamte städtische, industrielle, groBkapitalistische Kultur zu eigen gemacht" habe, die Entschlossenheit und Fähigkeit besitze, diese Kultur zu behaupten, zu bewahren und allen zugänglich zu machen (ib.; Lenin 29, 379). Städte und städtische Siedlungen seien ein wichtiges Erbteil der alten Gesellschaft, das die Arbeiterklasse nach der politischen Machtergreifung übernehme. Wo die ländliche Lebensweise überwog, sei der sozialistische Aufbau mit einem raschen Urbanisierungsprozeß verbunden, auch in den früher ganz agrarischen Gebieten der DDR. Kultur-, Verwaltungs- und Wohnbauten prägten das Gesicht einer Stadt und der sie ausmachenden städtebaulichen Ensembles (Koch u.a. 1982, 297fT.). Vor allem aber prägen doch wohl das Gesicht der "großkapitalistischen" Stadt die Bauten fiir wirtschaftliche Zwecke, von der Fabrik bis zur Bank, und ihre Verwaltungsbauten dienen weniger dienstleistenden Büros zur Unterkunft als den Organen politischer Herrschaft und Führung. Die Stadt vor allem ist der Ort des Wirkens der Intelligentsia, der Zwischenschicht, die in ihrer großen Mehrheit den jeweils Herrschenden dient, soweit sie nicht, wie im Realsozialismus, teilweise mit ihnen verschmilzt. In der industriellen Gesellschaft ist vornehmlich die Stadt der Ort der Auseinandersetzung zwischen ,Leitern' und ,Geleiteten', auch in der Form der kulturellen Distinktionen. Die Stadt ist ein wichtiger eigener Forschungsbereich der Soziologie (siehe Rene König 1977; Korte 1986; Kernig Hg. l966ff., Bd. 5, 384ff.). In der

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DDR gab es ebenfalls verhältnismäßig viele Arbeiten zur Stadtsoziologie, vor allem im Zusammenhang mit dem Wohnungsbauprogramm, einem der wichtigsten sozialpolitischen Maßnahmepunkte der Führung (vgl. 6.3). Was die Zukunft der Städte angeht, so besagte die herrschende Meinung, es gehe nicht darum, die Städte abzuschaffen. 18 Die Lebensbedingungen in den Städten seien zwar fiir viele Menschen "bedenklich", aber das gelte nicht nur fiir die Großstädte, sondern auch fiir Mittel- und Kleinstädte und selbst fiir viele ländliche Gebiete. Umweltprobleme seien überall da. Man müsse die Lebensbedingungen verbessern, nicht die Städte auflösen. Umgekehrt sei auch nicht das Dorf restlos zu verstädtern. Der Realsozialismus bekenne sich zu Stadt und Land. Bei der schrittweisen Verringerung der sozialen Unterschiede zwischen Stadt und Land sei die Stadt als Zentrum der Arbeiterklasse und der Industrie die fuhrende Kraft (Grundmann 1984). Wie in den anderen realsozialistischen Ländern bestand auch in der DDR ein disproportionales Übergewicht der Hauptstadt des Staates, hier also von Ost-Berlin, das unter dem Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht zu "Berlin, Hauptstadt der DDR" gemacht wurde - mit Verletzung geltenden Rechtes, auf das sich UdSSR und DDR in anderer Beziehung intensiv beriefen (Viermächtestatus von Berlin). Den Vorrang des Sitzes von Parteizentrale und Regierung bestätigte u.a. die Baukonferenz vom Juni 1985 erneut, auf der erörtert wurde, "wie die Hauptstadt mit Hilfe aller Bezirke, bei nunmehr verdoppelter Bautätigkeit, als Zentrum des politischen, wirtschaftlichen sowie wissenschaftlichen und geistig-kulturellen Lebens der Republik weiter ausgestaltet wird" (ND, 14.6.1985, 1). Solcher Vorrang war eine Erscheinungsform der überkommenen Diskrepanz zwischen ,Metropole' und ,Provinz' (s.a. KpWb 1983, 584ff.). Tabelle 3

Infrastruktur der RGW-Länder

CSSR DDR Polen Ungarn Rumänien Bulgarien UdSSR

Eisenbahnen

Autostraßen

103,0 131,0 87,2 86,0 46,8 39,1 6,3

574,2 439,8 814,7 320,4 308,4 328,8 63,7

Angaben in km pro 1.000 km' . Quelle: Grundmann 1984; Zahlenspiegel 1985. 5.

IM So auch schon Stalin (1972, 29f.) gegen Engels, der der Meinung gewesen war, die großen Städte würden in der sozialistisch / kommunistischen Gesellschaft von anderen Siedlungsformen abgelöst werden.

3. Unterschiede nach sozialer Schicht

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Die Siedlungsstruktur der DDR war die eines Industrielandes mit hoher Bevölkerungsdichte (154 Bewohner I km2 ) und einem dichten Siedlungs- und Städtenetz (23.400 Siedlungen auf 108.333 km2). Mit der CSSR stand die DDR hinsichtlich der Infrastruktur an der Spitze der RGW-Länder (s. vorstehende Tabelle 3). Die in den Städten konzentrierte Arbeiterklasse war nach der herrschenden Ideologie die führende Schicht der Gesellschaft. Diese Ideologie vor allem hemmte konlcrete Untersuchungen zur, um einen berühmten Titel von Engels sinngemäß zu zitieren, Lage der arbeitenden Klasse in der DDR. Trotzdem kamen solche Lebensumstände vielfach zur Sprache, wenn auch nicht systematisch und nicht unter dem Engelssehen Rubrum (s.a. 6.2ff., 9, 16.2 u.a.). Die konforme Presse brachte überwiegend Darstellungen, die Beispiele, Vorbilder aufstellen wollten und ihr Material grundsätzlich nicht nach Repräsentativität, sondern nach Aktivierungsrelevanz auswählten. Trotzdem gaben mit der Zeit auch solche Darstellungen Einblicke in die konkreten Lebensumstände und Lebensstile der Unteren, etwa eine Serie der kulturpolitischen Wochenzeitung "Sonntag" nach dem X. Parteitag der SED. Es handelte sich um die Äußerungen von zwei Angestellten und einem Arbeiter, aufgeschrieben von Brigitte Kirilow (So 1981 I 42, 7). Die eine Angestellte war Lohnbuchhalterin, 60 Jahre, noch berufstätig, obwohl schon Rentnerin. Mittelschule bis 1937, angelegt als Vorbereitung auf traditionelle Frauenpraxis: Schneiderin, Hausfrau, Büroarbeit Sie geht in eine Möbelfabrik, bald ins Lohnbüro. "Dort hat es mir eigentlich immer Freude gemacht, war ja damals noch eine knifflige Arbeit. Für jeden Kollegen schrieb ich den Lohnstreifen extra. Das war recht aufwendig. Wenn aber die Kollegen am Gehaltstag staunten, daß für sie alle, auch für die in den Filialen, das Gehalt bereitlag, war ich froh." "Stimmt schon, ich war ehrgeizig. Aber eigentlich wollte ich meine Arbeit auch immer nur so gut wie möglich machen." Nach 1945 strickte sie erst Pullover auf eigene Hand, kam dann wieder in die Lohnbuchhaltung, erst beim Berliner Magistrat. "Die suchten dort zu jener Zeit jemand, der stricken kann und etwas von der Lohnberechnung verstand. Ja, da war ich richtig. Sechs Jahre, bis 1955, habe ich die Löhne für Heimarbeiterinnen berechnet." Sie wechselte die Stelle wegen Umorganisation, wie sie aus der Möbelfabrik ging, als diese Banlcrott machte. "Von allein hätte ich wohl nirgends aufgehört, denn ich habe mich überall wohlgefühlt Dabei ist immer wichtig, wie man selbst den Leuten entgegenkommt. Ich bin nicht launisch oder zänkisch. Eine freundliche Atmosphäre ist einfach notwendig, wenn man jeden Tag arbeiten geht." Seit 1955 ist sie in der Gehaltsstelle des Ostberliner Tierparks. "( ... ) was soll ich zu Hause? Mein Mann ist tot, die Kinder erwachsen, in meinen vier Wänden käme ich mir überflüssig vor. Die Arbeit belastet mich nicht, im Gegenteil ( ... )" . Sie berät die Kollegen arbeitsrechtlich, will besonders auch die Lehrlinge informieren.

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Das Arbeiter-Porträt stammte von einem 37jährigen Kohlenträger. Wie viele wollte er vor allem "verdienen, mehr als bisher ( ... ) auf dem Bau, als er sich vor zwölf Jahren beim Kohlenhandel bewarb. Bauarbeiter, das war ihm nichts, wenig Geld und schwere Arbeit als Teilfacharbeiter. Das ginge auch anders, erzählte man ihm. Es ging, natürlich, aber viel schwerer als gedacht. Normen ließen die gemütlichen Verschnaufpausen bei Kunden ( ... ) rar werden, und mit den Trinkgeldern kam man auch nicht weit." Er verdient ohne Trinkgeld 750 Mark netto im Monat für eine fünfköpfige Familie, bei einer Tagesnorm von 86 Zentnern. "Er schafft mehr, wie die meisten, um auf sein Geld zu kommen. Dafür arbeitet er auf Leistung, geht 60 bis 90mal jeden Arbeitstag die Kellerstufen hinab mit etwa 90 Kilo auf dem Rücken." Er hatte es sich leichter vorgestellt, möchte aber dabei bleiben, solange er die Norm schafft - unter den Kollegen schon zu den Alten zählend. Er ist auch Vertrauensmann der Gewerkschaft für 22 Beschäftigte. Wenn Kohletragen nicht mehr geht, möchte er Lagerleiter (das setzt aber Abschluß 10. Klasse und kaufmännische Lehre voraus) oder Kraftfahrer sein. Fabrik nicht: "Ist wie eingeschlossen. Und das (S)elbständige ist auch ganz schön." Doch damit ist es nicht weit her. "Beim Kunden muß man ein bißeben seine Intelligenz anstrengen. Da kann man mal reden, 'ne Tasse Kaffee trinken. Das ist das angenehmste von allem. Sonst ist meine Arbeit ziemlich dreckig und stupide. Und was man da buckelt. Ich hab' mal ausgerechnet, was ich schon in den zwölf Jahren geschleppt habe: ungefähr einen Güterzug von hier bis Moskau." "Es ist Knochenarbeit, die der Kohlenträger Bartz auch deshalb seinen Kindern nicht wünscht, weil sie nicht nach anderer Leute Pfeife tanzen sollen." Das bezieht sich auf Kunden, die dem Kohlenmann die Arbeit unnötig erschweren. Aber: "Arbeiten muß man schließlich überall. Und was würden die etwa 8.500 Kunden, die bei uns bestellen, machen, wenn wir nicht wären? Ein bißeben halte ich noch die Stange. Alles andere wird sich finden." Der dritte Beitrag handelte von einer 40jährigen Krankenschwester, deren Mutter den gleichen Beruf hatte und die schon als Kind eine kranke Großmutter pflegte, später im Krankenhaus besuchte. "Mich faszinierte die Welt dort: die Sauberkeit, die Instrumente und dann die Schwestern. ( ... ) Nie wollte ich etwas anderes werden." Als Stationsschwester auf der Intensivstation hat sie nun "ein ganz natürliches Verhältnis zu den Kranken. Ich rede immer zu meinen Patienten. Wenn sie mich auch wohl nicht hören, vielleicht fühlen sie es. Zu den Schwestern sage ich: Stellt euch vor, die hier liegen, sind eure Angehörigen. Wer ist nicht mitfiihlend, zuvorkommend und hilfsbereit zu einem Angehörigen? Diese enge Beziehung muß unbedingt auch zwischen Personal und Patienten hergestellt werden." Das Gefühl des Gebrauchtwerdens fullt aus. Vielseitigkeit und wechselnde Situationen machen die Arbeit interessant und helfen über den Überlastungsfrust hinweg. Die In-

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tensität minutiöser Arbeit in der Rettungsstelle schafft eine gute Atmosphäre. Zur Freizeit: "Was ich mir wünsche nach einem anstrengenden Tag? Schlafen, nichts als schlafen. Einen Tag möchte ich mal nur im Bett sein, nichts tun, auch nicht zu Hause mit meinen Kindern. Später mache ich das mal, aber jetzt läuft man ja doch immer ein bißeben mit einem schlechten Gewissen herum: Entweder denke ich an die Kinder oder an die Arbeit. lrgendwo fehlt man." Diese Porträts gaben wahrscheinlich ein ziemlich unverstelltes Bild vom werktätigen Leben großer Bevölkerungsteile in der DDR, auch in ihrer nur scheinbar untypischen Auswahl der Dargestellten (zur industriellen Arbeitswelt vgl. 9.1-9.4). Einfache, bescheidene Arbeitende ohne Ambitionen, die in ihrer erschöpfenden Arbeit aufgehen oder - der Arbeiter! - sich ihr doch tapfer unterwerfen; die nicht primär an sich und ihre Familien, sondern eher zuerst an die anderen denken, für die sie unmittelbar arbeiten. Sie sind unpolitisch; die extrem harte Arbeit oder auch die vorauszusetzende Persönlichkeitsprägung (die Buchhalterin) lassen ihnen wenig oder keine essentiellen Interessen über Tagesarbeit und Familie hinaus. Weder Biographie noch Einstellungen waren spezifisch sozialistisch. Dieselben Muster könnten im westlichen Kapitalismus vorkommen. Nicht einmal die Präsentation erhob andere Ansprüche, abgesehen vom Rahmen, dem Parteitag. Die Vorstellung brachte wesentliche Elemente von Lebenslage und Lebensstil der breiten werktätigen, vor allem Arbeiterschichten in der DDR zur Sprache: schwere Arbeit für geringen Lohn; der Zwang, Akkord zu arbeiten, um einen einigermaßen auskömmlichen Lohn zu erzielen; die zentrale Stellung des Interesses am Geldverdienen unter diesen Gegebenheiten. Die Auswahl eines Kohlenträgers gab, sei es auch unbeabsichtigt, gleich einen doppelten Hinweis auf das relative Zurückbleiben, das für die DDR-Industriegesellschaft wie für die anderen realsozialistischen Staaten charakteristisch war. Einmal erschien darin der noch sehr hohe Anteil schwerer körperlicher Arbeit (s.a. 9.2, 9.3), zum anderen ein Mangel in der Lebensqualität (verbreitete Ofenheizung der Wohnungen, auch in der ,Hauptstadt der DDR'). Die erwünschte Festlegung auf sich selbst reproduzierende Berufsklassen fehlte nicht: die Tochter der Krankenschwester wird selbst Krankenschwester. Sehr plastisch kam die zermürbende Mehrfachbelastung der berufstätigen Frau zum Vorschein. Der Habitus der Vorgestellten ließe sich als proletarisch mit mehr oder minder starken kleinbürgerlichen Prägungen kennzeichnen: auch dies eher typisch als untypisch für die unteren deutschen ,Lohnabhängigen'. Selbst der Anteil der Angestellten an diesen Schichten ist hier nur quantitativ verzerrt (zu den Angestellten vgl. Soz Wb 1978, 20ff.; DDR-Handbuch 1985, 46f.). Zu untersuchen bliebe, in welcher Weise sich in der Arbeiterklasse der DDR Sozialcharaktere und Persönlichkeitstypen vorfanden, die sich historisch her-

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ausgebildet haben und die in verschiedene Typenkategorien zusammenfaßbar sind. So der unauffällige, eher selbstlose Durchschnittsarbeiter wie in den drei vorstehenden Porträts; der mehr ichzentrierte und konsumorientierte Schaffende, für den die Arbeit vorrangig nur Mittel zur Bedürfnisbefriedigung in der Freizeit ist; der klassenbewußte Proletarier und seine Organisationen; der Lumpenproletarier; der Ex-Arbeiter in Herrschaftsfunktionen ("Bonze"); der Held der Arbeit (zu den letzten drei Typen vgl. Stein Hg. 1985c; insgesamt s.a. 16.3, 16.5, 16.8; weiter zum Gegenstand: Herzberg 1987; Dahn 1987- zu beiden B. Sauer in: DA 1989/3, 33lff.; Niethammer 1988; zum Wandel städtischer Lebensstile in der UdSSR: Mänicke-Gyöngyösi 1990).

3.7 Leiter und Werktätige auf dem Lande Der Anteil der landwirtschaftlich Beschäftigten an der Gesamtzahl der Berufstätigen in der DDR ging von 1970 bis 1982 von 12,8% auf 10,6% zurück. Nach Bezirken ergab sich folgendes Bild: Die Nordbezirke hatten nach wie vor den größten Anteil von in der Landwirtschaft Tätigen, doch war hier der Rückgang auch überproportional hoch: im Bezirk Neubrandenburg von 33,4 auf 26,4; Schwerin von 27,3 auf 21,5; Frankfurt von 20,0 auf 16,0; Potsdam von 19,0 auf 16,2; Rostock von 17,3% auf 14,5%. Sechs von 14 Bezirken der DDR hatten 1982 einen Anteil landwirtschaftlich Tätiger von unter zehn, acht von 14 Bezirken einen Anteil von unter zwölf, zehn von 14 Bezirken einen Anteil von unter 15%. Tabelle 4

Anteil der Berufstätigen in der Landwirtschaft der DDR nach Bezirken Bezirk

1970

1982

Cottbus Dresden Erfurt Frankfurt [a.d.O.) Gera Halle Karl-Marx-Stadt Leipzig Magdeburg Neubrandenburg Potsdam Rostock Schwerin Suhl

14,6 9,5 15,1 20,0 11,8 11,7 6,6 9,3 18,6 33,4 19,0 17,3 27,3 11,0

11,3 7,8 11,4 16,0 9,6 9,5 5,8 8,3 14,9 26,4 16,2 14,5 21,5 7,8

DDR

12,8

10,6

Angaben in Prozent. Quelle: Bachmann 1984.

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3. Unterschiede nach sozialer Schicht

Die Berufsstruktur in der Landwirtschaft der DDR hatte sich so entwikkelt: Tabelle 5

Berufstätige in der Landwirtschaft der DDR 1970

1975

1980

1981

1982

Mitarbeitende LPG-Mitglieder

755.650 (100)

639.498 (84,6)

587.271 (77,7)

591.596 (78,3)

595.974 (78,9)

Arbeiter und Angestellte

181.506 (100)

194.487 (107,2)

229.389 (126,4)

230.114 (126,8)

229.220 (126,3)

9.311

7.233

6.207

6.093

6.120

946.467 (100)

841.218 (88,8)

822.867 (86,9)

827.803 (87.4)

831.314 (87,8)

25.122

26.756

30.975

28.249

29.625

79,8

76,0

71,4

71,5

71,7

Selbständige und mithelfende Familienangehörige Berufstätige insgesamt Lehrlinge Anteil der mitarbeitenden Genossenschaftsmitglieder an den landw. Berufstätigen in v.H.

Stand der Angaben jeweils 30.9. Quelle: DDR-Handbuch 1985.514 (ursprünglich aus: Statistische Jahrbücher der DDR).

Während die Zahl der LPG-Mitglieder wie der Selbständigen und der mithelfenden Familienangehörigen insgesamt beträchtlich zurückgegangen war und erst seit 1981 bzw. 1982 wieder leicht anstieg, nahm die Zahl der Arbeiter und Angestellten bis 1981 kontinuierlich zu, fiel allerdings 1982 unter die von 1980. Die Zahl der Lehrlinge war von 1970 bis 1982 insgesamt und fast ständig gestiegen. Diese Zahlen entsprechen der Zielstellung, den Anteil der in der Landwirtschaft Tätigen unter qualitativer Verbesserung auf dem erreichten Stand zu halten (s.o. S. 49). 19 Die Hauptunterschiede zwischen Stadt und Land und die Nachteile des Landlebens wurden - neben politisch-ideologischen Faktoren - alles in allem in der geringeren Lebensqualität im Vergleich zur Stadt hinsichtlich Charakter der Arbeit, Möglichkeiten der Freizeitausfüllung, Teilnahme am kulturel19 Der Landjugend kam im sozialen Prozeß der Reproduktion der "Klasse der Genossenschaftsbauern" auch wegen der fortschreitenden Überalterung in der Landwirtschaft besondere Bedeutung zu. Anfang der 80er Jahre wurde ein Überwiegen des Zugangs über die Abwanderung jugendlicher Arbeitskräfte erreicht (Sebastian u.a. 1982, 87). Besonders in den Nordbezirken, wo zudem die Dörfer kleiner und zersplitterter sind, war die Dorfbevölkerung überaltert. Von Bedeutung fiir Verbleiben auf dem Lande war die Wohnqualität Nur fiir etwas über die Hälfte der Betroffenen war Wegziehen aus einem Dorf gleich Landflucht (W Holzweißig 1985).

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A. Lebensstile

Jen Leben, Wahrnehmung von Bildungsmöglichkeiten u.ä. gesehen (Soz Wb 1978, 629ff., KpWb 1978, 646ff.; KpWb 1983, 66lff.; Kötter / Krekeler 1977, s.a. Haarnagel 1983; Stadt 1984; Zufriedene 1985; J. Lehrnann 1987; Eckart/Wollkopf u.a. 1994). Ein Teil dieser Unterschiede sollte in der weiteren Entwicklung überwunden werden, ein anderer Teil als objektiver Unterschied zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen Stadt und Land erhalten bleiben (Koch u.a. 1982, 30 I). Die ,sozialistische Lebensweise' in Stadt und Land entwickele sich differenziert; deshalb könne von spezifisch städtischer bzw. ländlicher (dörflicher) Kultur und Lebensweise gesprochen werden. Beide müßten, wie auch in der sowjetischen Parteizeitschrift vertreten werde, auf ihre Art gefördert werden (ib., 302). Auf dem Lande gebe es viele erhaltenswerte "Lebensbedingungen, Verhaltensweisen und Traditionen", die Einseitigkeiten und Begrenzungen des städtischen Lebens ausgleichen könnten: engere Gemeinschaftsbeziehungen, direktere Naturbeziehungen, harmonische Verbindung von Arbeit und Muße, mehr Ruhe und Stetigkeit des Lebens, mehr Kontakte zwischen den Generationen und Familien, leichteres Einbeziehen der Bevölkerung in ehrenamtliche gesellschaftliche Tätigkeiten, leichteres Einhalten der Gesetze und der Moralnormen, Weiterwirken und Nutzung "wertvoller Gewohnheiten und Traditionen der bäuerlichen Arbeit, der Lebensweise und Kultur auf dem Dorfe". Dies trotz unleugbarer Borniertheitendes dörflichen Lebens (ib., 306f.). Der Konservatismus ergriff also auch die Sicht des Landlebens, das der Tendenz nach romantisierend nostalgisch verklärt wurde, und zwar ganz nach überlieferten rückwärtsgewandten Mustern. Die falsche Vorstellung ging bis zu der Meinung, das Dorf sei von der allgegenwärtigen Umweltverschmutzung und Lärmbelästigung ausgenommen (ib., 307; vgl. dagegen Grundmann, oben S. 72). Eine Erneuerung der Lebensweise wurde nach diesem Konzept nicht aus völliger Umwälzung des ländlichen, wie ebenso auch des städtischen Daseins erwartet, sondern mehr aus wechselseitiger Überwindung von Einseitigkeiten des Stadt- und des Landlebens, aus einer Art von Summierung der ,guten Seiten' beider (vgl. Koch u.a. 1982, 307). Andere Autoren verfuhren da differenzierter und wandten sich kritischer gegen die Wirklichkeit des Stadtlebens im Realsozialismus. 20 Im Zuge der ökonomischen Intensivierung kam den größeren Städten als wichtigsten territorialen Organisationsformen der Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur und als politischen Zentren besondere Bedeutung zu (W. Ostwald in: Lebensweise 1981, 196). Bei Rationalisierung und intensiver Nutzung der 20 So wurde gesagt, das Einanderfremdsein der Bewohner sei in den Städten viel ausgeprägter als auf dem Land (T. Hahn I I. Runge in So 1981/26, 7). Es sei nötig, weiter zu differenzieren; es gebe nicht das Stadt- und das Landleben, sondern die Bedingungen seien regional und lokal unterschiedlich, außerdem spiele die Familienbeschaffenheit eine Rolle ("vaterlose Mutter-Kind-Familien" darunter) usw. (ib.; Krambach 1984).

3. Unterschiede nach sozialer Schicht

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vorhandenen Siedlungsstruktur - ohne Notwendigkeit erheblicher Stadterweiterungen oder gar des Baus neuer Städte - könnten die kleineren Städte wohnungsbaulich verbessert werden, die noch 28% der DDR-Bevölkerung beherbergten. In manchen Bezirken seien die Wohnbedingungen und die Kindergartenversorgung auf dem Lande bereits besser als in der Stadt, doch innerhalb der DDR regional noch sehr unterschiedlich (ib., 197ff.).21 Was die Struktur des Herrschaftssystems angeht, so wurden auch in der DDR nach wie vor die Entscheidungen, die die Landwirtschaft und damit die Landbevölkerung betrafen, außerhalb des Bereiches selbst getroffen, in den Städten, wo die politischen Instanzen der höheren Ebenen saßen. In der UdSSR habe sich da jedoch auf betrieblicher und lokaler Ebene eine Erweiterung vollzogen: von dem Befehlszug von Kreisleitung der KPdSU zur Kolchosleitung und der sehr herausgehobenen Stellung des "Pervak" (des 1. Sekretärs der lokalen Parteileitung) zu einem Viereck aus Parteileitung mit staatlicher Kreis-Landwirtschaftsverwaltung als Juniorpartner sowie mit den weiteren Komponenten Kolchosparteileitung und Kolchosleitung. Nach wie vor wurden dabei die Kolchosvorsitzenden faktisch von den Kreisleitungen der KPdSU ein- und abgesetzt (Wädekin in: Meissner/Brunner Hg. 1975, 165ff., 172f.). In der DDR hatte weder die soziale und politische Umwälzung auf dem Lande solche Dimensionen noch die Landwirtschaft innerhalb der Gesamtwirtschaft jemals solches Gewicht wie in der Sowjetunion. Die Industrialisierung der Agrarproduktion und die sukzessiven Veränderungen in Organisation und Leitung der Landwirtschaft hatten insgesamt die Parteikontrolle über den Bereich qualitativ verstärkt, wie sie die Landwirtschaft weit stärker in das Wirtschaftssystem der DDR integriert hatten, verglichen mit den Anfangsjahren oder auch den ersten Jahren nach der durchgängigen Kollektivierung. Die ländlichen Lebensbedingungen erschienen in diesen Kontexten als Faktor für das Hervorbringen systemkonformen Bewußtseins und entsprechenden Handelns. Bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft müßten diese Lebensbedingungen weitgehend von den 21 In der Sowjetunion lebten 1951 noch 60%, 1981 noch 37% der Bevölkerung auf dem Lande. Es bestanden noch beträchtliche Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Lebensweise. Diese sollten aber gemäß dem angefiihrten Konzept mindestens teilweise konserviert werden (s.a. Ruban u.a. 1983, 272ff.). Der Gegensatz von Stadt und Land war in realsozialistischer Sicht nicht dadurch aufzulösen, daß die Stadt umgekehrt wie im Kapitalismus dem flachen Land untergeordnet werde, sondern durch kulturelle Annäherung beider, wobei die Unterschiede ohnehin nicht absolut gesetzt werden dürften. In den Städten fiihrten z.B. viele Bewohner ein halb städtisches, halb ländliches Leben (Grundlagen 1979, 107ff., 113). Der erste Gesichtspunkt wurde auch polemisch gegen die "maoistische Ideologie" gewendet, die Weltdorf und Weltstadt entgegensetze (ib., 108). Das bringt allerdings eine ganz andere Ebene herein, die des Gegensatzes von Dritter Welt und Industrieländern.

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A. Lebensstile

Dortbewohnern selbst verbessert werden, und wie weit sich die einzelnen Dortbewohner daran aktiv beteiligten, hänge eben vom Entwicklungsstand ihres ,sozialistischen Bewußtseins' ab (A. Rogge 1983). Bei der Weiterentwicklung solchen Bewußtseins und der Aktivierung der Mitglieder von LPG und GPG ftir "herausragende Leistungen im sozialistischen Wettbewerb" wurde der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe eine wesentliche Rolle zugemessen (PI 1984/145, 6). Die VdgB war die Massenorganisation für die ländlichen Werktätigen, in der damals zwei Drittel aller LPG- und GPG-Mitglieder eingeschrieben waren. Sie habe rund 456.000 Mitglieder in fast 7500 Ortsorganisationen gehabt, darunter 133.000 Frauen und 46.000 Jugendliche. Über 90% der Mitglieder seien Genossenschaftsbauern und -gärtner gewesen, der Rest Angehörige des Verbandes der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter sowie andere (ib.). Beim Übergang zur industriemäßigen Pflanzenproduktion in einer LPG wurden als Faktoren für Steigerung des Bewußtseins und der Arbeitsmotivation festgemacht: fachliche Qualifizierung, Festigung der Arbeitskollektive mit konkreten Produktionsaufgaben, materielle Interessierung der Arbeitenden, Wettbewerb und Parteieinfluß, soziale und kulturelle Entwicklung des Dorflebens durch Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen, Kindergärten, Gesundheitsfürsorge, Kantinen und Gaststätten, Schulen, Jugendheime, Sporteinrichtungen (Jos. Müller in: Lebensweise 1981, 206ff.). Soziale Triebkräfte bäuerlicher Aktivität seien sowohl zunehmende Analogien zu den städtisch I industriell Arbeitenden als auch Besonderheiten der "genossenschaftlichen Existenzweise", wobei I. die Wirkung der genossenschaftlichen Organisation maßgeblich durch genossenschaftliche Demokratie vermittelt werde diese verstanden als gemeinschaftliche Verantwortung auf der Ebene des Betriebes unter Beachtung der Übereinstimmung der genossenschaftlichen Interessen mit den "gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen"; 2. die Kollektivität für die Genossenschaftsbauern ebenso Element der Lebensweise geworden sei wie für die Arbeiter, ungeachtet der wegen der Spezifik landwirtschaftlicher Produktion geringeren Stabilität der Arbeitsgruppen; 3. sich mit der genossenschaftlichen Eigentumsform auch die kollektiven Eigentümer reproduzieren müßten, insbesondere durch Sicherung von jugendlichem Berufsnachwuchs (Krambach in Lebensweise 1981, 203ff.). Die Funktionalisierung der Lebensbedingungen für Leistungssteigerung, die aus den angeführten Äußerungen deutlich wird (s.a. ib., 222ff.), war ein allgemeiner Zug des realsozialistischen Systems (vgl. unten 15.3). Die geringere Vergesellschaftung der Reproduktionsbedingungen auf dem Lande im Vergleich zur Stadt sollte auch durch Zentralisierung der Wohngebiete behoben werden (C.-K. Fuchs 1979). Die Beschäftigungsstruktur der ländlichen Siedlungen war in den 80er Jahren dadurch gekennzeichnet, daß ein beträchtlicher Teil (durchschnittlich über 30, teilweise über 50%) der dort Wohnen-

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den nicht in der Landwirtschaft, sondern in der Industrie der umliegenden Städte und Produktionszentren arbeitete (Bachmann 1984; s.a. S. Müller I Schneider 1986). Wie verhielten sich Vorgaben und ökonomistische Absichten zum wirklichen Leben der Genossenschaftsbauern in der DDR? Für Hintergrund und Lebensführung vieler von ihnen dürfte das folgende Ehepaar nicht untypisch sein, wenn auch für die Darstellung ausgesucht nach den politischen Vorgaben (So 1984 I 22, 3): 1932, mit Ende 20, kauften die jungen Bauern einen kleinen Hof, machten dafür hohe Schulden. Er war vorher Knecht beim Großbauern, Arbeit Tag und Nacht, keine Freizeit, kein Sonntag, kaum ein paar Tage Urlaub zum Heiraten. Auf dem Eigenen nicht weniger Arbeit. Langsam wird es besser, zwölf Kühe, einfache Maschinen, Pferde. Da muß der Bauer in den Krieg. Schwere Zeit, auch die ersten Nachkriegsjahre. Dann Besserstellung durch Verkauf von freien Spitzen (über dem Ablieferungssoll). Der Bauer in die SED, schon 1958 in die LPG, wurde Vorsitzender, arbeitete sich auf. Neue Schwierigkeiten durch die Umstellung auf spezialisierte Großproduktion, die den einzelnen vollends zum kleinen Rad in einer Maschinerie machte, ohne Anteil an den Entscheidungen fürs Ganze. Doch die LPG machte sich heraus, konnte sich mit ihrer Bullenzucht im Bezirk sehen lassen. Der jüngere Sohn ist Tierarzt auf einem VEG, "hat ein schönes Haus, nette Kinder, manchmal besuchen wir ihn". Der ältere Sohn absolvierte die LPG-Hochschule und löste den Vater als Vorsitzender ab. "Der reibt sich auf, ist jetzt Kooperationsvorsitzender, für 54.000 Hektar zuständig, fürs gesamte Futter hier, für 10.000 Schweine, für nochmals so viele Rinder. Aber er sagt, seine Arbeit sei sein Hobby." Die extreme Spezialisierung, die völlige Trennung von Viehzucht und Ackerbau, verengt den Aktions- und Gesichtskreis der Arbeitenden. Der alte Bauer: "Der Kreislauf Boden-Pflanze-TierBoden ist doch nicht zu verändern, der muß doch einheitlich ablaufen." Die vier Enkeltöchter bleiben überwiegend im Land- und Gartenbau, eine wird Buchhändlerin. Der ältere Sohn bewohnt mit seiner Familie das Haus von 1932, die Alten haben darin "zwei Zimmer und eine kleine Küche im hinteren stillen Teil" behalten. Hier leben sie ein kleines Feierabend-Glück mit Resten der einstigen Lebensarbeit. 22 Der Zuschnitt ihres Lebens war und

22 Im Garten steht eine Birke, die sie von ihrem einzigen Urlaub vor 20 Jahren, der nur in die Nähe fiihrte, mitgebracht haben. Der alte Bauer hat noch eine winzige Schafzucht, deren Grundstock ein Schaf als Prämie fiir Artikel über die Ortsgeschichte in der Kreiszeitung und ein zweites als Geschenk zur Goldenen Hochzeit waren. Am Sonntag: "Der Tisch ist ausgezogen, weiß gestärkte Kaffeedecke, Freesien und Apfeltorte mit Sahne. Die hat die Schwiegertochter gebacken. Die Großeltern sind zum Sonntagnachmittagkaffee eingeladen."

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ist kleinbürgerlich-bäuerlich, im Grunde ohne ,sozialistische' Spezifik außer den Rahmenbedingungen, die äußerlich bleiben. Ähnlich waren die hervortretenden Lebensbedingungen und Lebensstile der ländlichen Werktätigen und unteren Leiter, die aus den Interviews von Gabriele Eckart im Obstbaugebiet von Werder I Havel ablesbar sind. Systembedingte Unzuträglichkeiten gehen daraus hervor, aber auch Elemente neuer Arbeits- und Lebenskultur, die an der Basis entstanden. 23 Ein beträchtliches Manko waren Versorgung und kulturelles Leben. Da zeigte sich eine große Diskrepanz zwischen offiziellen schönen Bildern und Realitäten. 24 Eine junge Frau sagte, Großstadt sei schlimm, aber im Dorf fehlten nennenswerte Freizeitinhalte. "Es ist schon eine Strapaze, wenn ich sonnabends nach Berlin

23 Weil verschiedene Gemüsesorten angebaut würden, sei die Arbeit nicht eintönig. Mehr Verantwortung - als Vorgesetzte der zeitweiligen Erntehelfer im Sommer - lasse manche aufblühen, aber nicht alle. Eine Lösung des Problems wäre nur ein höherer Mechanisierungsgrad, worin der Gartenbau der Landwirtschaft nachhinke. Das sagt ein Brigadeleiter; er fährt fort: "Wenn ich sehe, wie schwer die Frauen in der Kälte oder in der Sonnenglut arbeiten, da haben es die Männer auf dem Traktor leichter. Ich suche mir deshalb Kulturen, wo ich die Arbeit mechanisieren kann, um die Frauen zu entlasten." Das geht aber derzeit nur bei einigen Kulturen, bei anderen "ist die Arbeit noch sehr schwer. Wenn ich mir vorstelle, ich müßte das alles auch noch machen, ob ich die Geduld und Ausdauer dafür hätte? Die Jüngeren wollen es nicht mehr machen, und ich weiß nicht, was werden soll, wenn die Älteren weg sind." (G. Eckart 1984, 126f.) Schwerarbeit für Frauen und Eintönigkeit bringt der Obstbau; nur die Brigadeleiterin kann von sich sagen, daß ihr die Arbeit Spaß macht (ib., 261). Als Vorzug wird die kürzere Arbeitszeit im Winter und der - für DDRVerhältnisse - ausreichende Verdienst bei annehmbaren Normen gesehen, allerdings von einem Traktorfahrer (76). Wechsel der Arbeit gibt einer 18-Jährigen, die in einer Jugendbrigade arbeitet, Arbeitsfreude (207). Sie zieht, wie auch andere, das Dorf der (Groß-)Stadt bei weitem vor (207, 237, 255, 263f.). Öfter wird von guten, akzeptierten Leitern berichtet (21, 43ff., 207f. u.a.). Doch gibt es auch andere: Unfähige, Schinder, Überhebliche, nach oben Dienemde (21, 23, 76, 137ff., 144f.). Da wirken weniger individuelle Schwächen als ein institutionelles Manko: Neue Leiter brauchen Jahre der Eingewöhnung, die erfahrenen Älteren haben es versäumt, sich als Leiter ausbilden zu lassen (23). Dabei spielte auch Kenntnis von den obrigkeitlichen Methoden eine Rolle: "Nie die erste Geige spielen, da bist du immer auf dem Abschuß! Dadurch hab ich alle (wechselnden Vorsitzenden- W.R.) überlebt." (21) Aus der Schicht der Arbeitenden selbst hervorgegangene untere Leiter, Frauen wie Männer, zeigen praktisch, daß die Position der Organisators und Koordinators nicht in ein Herr I Knecht-Verhältnis auslaufen muß, sondern auf Gemeinschaftlichkeit und gegenseitige Hilfe aufbauen kann und ohne Apparat auskommt (130f., 115ff., 192, 213ff., 261fT., 267). Die Größe der Genossenschaft macht den Vorsitzenden leicht zum Technokraten (21 7, 222). Häufiger Leiterwechsel hemmt die Arbeit (250). Sinnloser Papierkrieg und zu viele Sitzungen lassen zur eigentlichen fachlichen Arbeit zu wenig kommen (245f., 250). - Die jugendlichen Landarbeiter stellen vielfach eine negative Auswahl zum Untüchtigen und Asozialen hin dar, und die, die wirklich aus Lust und Liebe Gärtner werden wollten, stoßen sich an industriemäßigen Methoden (127, 20 I). 24 Genannt wurden die schlechten Wohnverhältnisse, das Schlangestehen vor halbleeren Läden, die mangelhafte Verteilung der vorhandenen Nahrungsgüter, die unzulänglichen sanitären Anlagen und ähnliches {G. Eckart 1984, 232, 269).

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einkaufen fahre. Da sehe ich die Leute rennen . . . bloß Hasten und Asphalt und Beton. Eine Kleinstadt wäre schön. Am Dorf stört mich, daß kulturell nichts los ist. Es müßte doch wenigstens mal ein Arzt oder jemand kommen und einen Diavortrag halten. So sitzt man abends immer zu Hause. - Die Männer hier wissen jetzt im Winter, wenn es zeitig dunkel wird, nicht, was sie machen sollen. Da geht's eben in die Kneipe. Das ist der einzige Ort, wo sie ein bißchen reden können." (Eckart 1984, 264). Von der Lebensweise der Bauern, der Landarbeiter und der untersten landwirtschaftlichen Leiter unterschieden sich die Lebensstile der Angehörigen gehobener Schichten, die der Intelligenz, den mittleren Leitern oder auch den Handwerkern/Gewerbetreibenden (zu diesen im folgenden Abschnitt) zuzurechnen sind: auf dem Lande neben dem LPG-Vorsitzenden oder dem VEGDirektor etwa Arzt, Lehrer, Pfarrer, aber auch Bäcker, Friseur, kleiner Bauunternehmer u.ä., wie sinngemäß auch in Kleinstädten. Solche Schichtung mit ihren Distinktionen brauchte die Wiederherstellung älterer Sozialstrukturen nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus nur weiterzuführen. Im übrigen gab und gibt es keinerlei Hinweise, daß eine ausgleichende Verbindung der vermeintlichen Vorzüge von Stadt- und Landleben, wie sie die Kulturtheorie des zu Ende gehenden Realsozialismus vertrat, praktisch im Gange war oder Ansätze dazu sich abzeichneten. 3.8 Reste von alter Bourgeoisie und traditionellem Kleinbürgertum Die ehemals herrschenden und die alten, recht breiten kleinbürgerlichen Schichten wurden von den früheren sozialstruktureilen Umwälzungen in der DDR bzw. noch in der SBZ stark betroffen. Sie existierten als solche praktisch nicht mehr, was die Großbourgeoisie (und die Großgrundbesitzer) angeht, und hatten sich in Umfang und Bestand verändert, was das alte Kleinbürgertum betrifft. Einzelne Vertreter zumindest der mittleren Bourgeoisie wurden in das neue System integriert, sei es als fuhrende Politiker u.ä., sei es als Komplementäre besonders in wirtschaftlich interessanten Branchen, sei es als Spitzenkräfte der Leistungselite. 25 Die kleinbürgerlichen Schichten wurden hauptsächlich durch Vergenossenschaftung in eine andere Sozialstruktur überfuhrt. Vor allem die Bauern: ihre Mehrzahl, die Klein- und Mittelbauern, standen zwischen Großgrundbesitzern und ländlicher Bourgeoisie (Großbauern u.a.) auf der einen und Landarbeitern, Halbproletariern etc. auf der ande2 ~ Zu dem langjährigen Minister Lotbar Bolz vgl. DA 1987 / 1, 12. Unter den alten Offizieren, die dann der NVA dienten, waren viele aus der Bourgeoisie und auch aus dem Adel. Von dem hochelitären Physiker Manfred von Ardenne ging die Sage, seine Tochter müsse in der Schule mit "Baronesse" angeredet werden. Vom früheren Parteichef als "Herr Ardenne" angesprochen, habe er erwidert: "Auch für Sie Herr von Ardenne, Herr VIbricht."

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ren Seite; sie gehörten zum Kleinbürgertum. Kleinhändler, kleine Gewerbetreibende u.ä. wurden zahlenmäßig stark reduziert, zum Teil im staatlichen Handel und der staatlichen Industrie absorbiert, in Resten bestehen gelassen. Die zweite große Genossenschaftslinie neben Landwirtschaft, Gartenbau, Fischerei betraf das Handwerk. Nach der offiziellen Fassung zählten diese ehemaligen oder auch weiter bestehenden kleinen Warenproduzenten etc. zu den sozialen Schichten (,Zwischenschichten'), die neben den beiden Hauptklassen - Arbeitern und Genossenschaftsbauern - existierten, mit der Intelligenz als wichtigster Schicht. Sie liefen in der Darstellung als "andere werktätige Schichten", wie "genossenschaftlich organisierte und private Handwerker, Gewerbetreibende und freiberuftich Schaffende" (SozWb 1978, 559). Die Zahl aller Handwerker hatte sich von 1950 bis 1982 auf weniger als die Hälfte vermindert (von über 850.000 auf etwas über 413.000), die Zahl der Betriebe ging von über 300.000 auf etwas mehr als 80.000 zurück, wesentlich auch durch Vergrößerung des einzelnen Betriebes (PGH). In der gleichen Zeit stiegen jedoch die Leistungen des Handwerks auf weit mehr als das Doppelte: von 4,42 auf 10,11 Md. Mark (Haendcke-Hoppe in: DDRHandbuch 1985, 59lf.). Nach Jahren der Einschränkung des Handwerks herrschte seit 1976 im Gefolge eines Politbüro- und Ministerratsbeschlusses eine Politik der Förderung (ib., 593; s.a. dies. in: DA 1981 I 12, 1276; dies. 1988). Damit hatte sich eine Tendenz verstärkt, die schon vorher bestand. Hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen wie ihres Einkommens und ihrer allgemeinen Lebenslage waren die Handwerker besser gestellt als die große Mehrheit der Arbeitenden. Sie sind dem sozialen Mittelbau zuzurechnen, wenn sie auch als Schicht nicht das Gewicht in der Herrschaftsstruktur hatten wie die mittleren Leiter und Experten. Eine volkskundliche Untersuchung von Anfang der 70er Jahre gibt Aufschlüsse über den Lebensstil von Handwerkern in der damaligen DDR (siehe Exkurs 4). Näherer Untersuchung bedürfte die Frage, wie weit in den damaligen kleinbürgerlichen Lebensstilen und Persönlichkeitstypen tradierte Muster des Philistertums, der Biedermeierei und des Spießbürgertums (vgl. Stein Hg. 1985b) bewahrt bzw. modifiziert worden waren. Generell läßt sich sagen, daß dieser Typus von Lebensstilen indes nicht so sehr auf die hier in Rede stehenden Schichten fixiert, vielmehr ein Charakteristikum der realsozialistischen Lebensweise und der sie tragenden Schichten allgemein war. Beim sozialen Ursprung realsozialistischer Genossenschaftsschichten liegt es nahe, daß die kleinbürgerliche Herkunft auch für viele einzelne Angehörige dieser Schicht zutraf, wobei sie keineswegs automatisch in für das Kleinbürgertum typische Persönlichkeitsmuster zwang, wie das Beispiel der im vorigen Abschnitt zitierten Erkundungen im Obstbaugebiet Werder I Havel zeigen kann.

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Die bürgerlichen und bourgeoisen Prägungen der realsozialistischen DDRGesellschaft, auf die diese Untersuchung vielfach kommt, waren zwar weder ohne typologischen noch ohne genetischen Zusammenhang mit aus bestimmten Schichtungs- und Herrschaftsverhältnissen herrührender Bürgerlichkeit und Kleinbürgerlichkeit der Vorvergangenheit. Es waren aber nicht primär die Reste von alter Bourgeoisie und traditionellem Kleinbürgertum, die für jene Prägungen verantwortlich zu machen wären. Dabei ging es in erster Linie nicht um die alte, sondern um eine neue Bourgeoisie, vornehmlich in der oberen und mittleren Leiter- und Spezialistenebene der realsozialistischen Gesellschaft. Aus ihr, aber auch aus den alten bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten rekrutiert sich nach dem Zusammenbruch des SED-Staates die wiederhergestellte bourgeoise Oberschicht westlichen Zuschnitts, zusammen mit personellen "Importen" aus dem Westen (s.a. Münch 1992; Myritz 1992; ders. Hg. 1992; Gesamtwirtschaftliche 1994). 3.9 Studenten Studenten weisen sich durch eigentümliche Arbeits- und Lebensinhalte als eine soziale Gruppe oder Schicht für sich aus, die keiner anderen schlechtweg einzuordnen ist. Sie sind der ständig erneuerte Nachwuchs der lntelligenzschicht, die "Leiter von morgen" (So 1978 121 , l ). An ihrem Ort, den Hochschulen und Fachhochschulen, verschränken sich für sie persönliche Lebenswünsche von Jugendlichen, die sie sind, mit vorgegebenen Kanierewegen, dem systematisierten Wissen und dem politisch wie wissenschaftlich I ideologisch vorstrukturierten Problernhaushalt der jeweiligen Gesellschaft (vgl. Rytlewski in: Husner 1985, 8; Rytlewski/Husner 1984, 135). Symbolische und organisationeile Aspekte des sozialen Lebens verflechten sich an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen; Wissensvermittlung und Sinnstiftung sollen Hand in Hand gehen (Rytlewski, a.a.O., 8). Die Grunddaten der offiziellen Orientierung in der DDR auf eine nach den geltenden Maßstäben gediegene fachliche und politische Ausbildung der Studenten lassen sich so zusammenfassen: Vermittlung und Verinnerlichung der herrschenden Weltanschauung, in der Eigensicht der DDR-Führung eine (die einzige gegenwärtig richtige) Ausformung des Marxismus-Leninismus; nach politisch I ideologischen Vorgaben selektiertes nationales und internationales Kulturerbe; hoher Stellenwert der Bündnisbeziehungen zur UdSSR und den anderen ,Bruderländern'. Dominanz von Politik !Ideologie ist deutlich, ohne daß, zumal in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern, Politik und Ideologie an die Stelle von Fachausbildung und Fachwissen treten würden, weithin auch ohne daß sich diese beiden Komponenten im gewünschten Maße verschränkten (vgl. ib., 7; Helwig in: DA 198015, 462f.; Kleinschmid in: DA 1980/10, l020ff.; RudolphiHusemann 1984; dazu Ammer in: DA

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1985/7, 773f.). Nach politischen Gesichtspunkten in erster und nach fachlichen Gesichtspunkten erst in zweiter Linie erfolgte auch die Selektion der Studienbewerber für das Studium, mit ausgeprägter Lenkung auf die verschiedenen Fächer entsprechend den Bedürfnissen der Wirtschaft, der Politik, des Bildungswesens, der Wissenschaft usw. (Rytlewski/Husner 1984, 137ff.; Husner 1985, 22ff.). Die soziale Herkunft der Studenten sollte im wesentlichen der sozialen Struktur der Bevölkerung entsprechen. Der demgemäß ausgewiesene Mehrheitsanteil von Arbeitern und Bauern leidet jedoch an der Unbestimmtheit vor allem dessen, was alles zur Arbeiterklasse gerechnet wird (Husner 1985, 27f.; s.o. 3.1). Der kulturelle Habitus des Studenten in der Industriegesellschaft als von anderen sozialen Gruppen I Schichten abgehobener sozialer Erscheinung läßt sich durch folgende allgemeine Merkmale umreißen: Die Lebenslage dieser Gruppe ist (im östlichen wie im westlichen Deutschland, wo Wohlhabenheit der Eltern nicht mehr die Rolle spielt wie früher und ein großer Teil der Studenten von mehr oder minder geringen Stipendien plus zusätzlicher meist unqualifizierter Arbeit lebt) durchschnittlich mit der von ,sozial schwachen' Unterschichten vergleichbar, was Einkommen und Möglichkeiten fiir persönlichen Aufwand betrifft. Eine solche Situation fuhrt jedoch nur bedingt (obzwar teilweise durchaus) zum Habitus sozial Randständiger, weil sie durch zwei Momente weitgehend kompensiert wird: 1) die Beschäftigung der Betroffenen mit geistig-kulturellen Inhalten und Verfahren, verbunden mit dem grundsätzlich und bekanntermaßen vorübergehenden Charakter dieses sozialen Status; 2) ihr in der Regel jugendliches Lebensalter. Von Arbeitsinhalten und Arbeitsweise her hat studentischer Lebensstil Besonderheiten, die zwar weniger die Kompensationen des Rand-Daseins ihrerseits wieder aufheben, aber doch zur Bohemienexistenz tendieren, insbesondere in Verbindung mit habitueller Gelegenheitsarbeit fiir den Lebensunterhalt. Dies ist der vorwiegend rezeptive und reproduktive Modus des Studiums, der sich -jedenfalls beim heutigen Stand - durch aktive, kreative Verfahren nur bedingt einschränken läßt und der sich zudem von Erwerbstätigkeit deutlich unterscheidet, auch darin, daß ein Studium nicht geregelte Arbeitszeit hat wie Iohnabhängige Erwerbstätigkeit Dies galt - zum Glück fiir die Studenten - auch in der DDR, trotz dem mehr schulmäßigen und strenger kontrollierten Ablauf des Studiums. Dieses relative Freisein von striktem Reglement - vielfaltig wieder eingeschränkt durch den Zwang zum Nachweis der Teilnahme an bestimmten Lehrveranstaltungen, zu Prüfungen usw. - berührt sich mit dem Arbeitsstil von wissenschaftlich, künstlerisch, publizistisch Freischaffenden, auch dem von Hochschullehrern und analogen Berufen, unterscheidet sich aber davon durch Mangel an Produktivität und finanziellem Entgelt.

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Weit weniger strikt getrennt als bei Erwerbstätigen ist bei Studenten die Sphäre kultureller und auch geselliger Freizeittätigkeit von der Arbeitstätigkeit Kulturelle Interessen und Aktivitäten liegen dieser Gruppe I Schicht näher als den meisten anderen sozialen Gruppen. Die Spezifika ihres Arbeitsund Lebensstils können die wohl weitestgehende Freiheit von den Zwängen und Einengungen von Erwerbsleben und Etabliertheit mit sich bringen, die in industrieller Gesellschaft ohne soziale Deklassierung möglich ist, und damit Voraussetzungen bilden für ein gesellschaftliches, kulturelles, geistiges Engagement, das nicht primär auf partikulare individuelle Zwecke ausgerichtet ist. Die werdenden Intellektuellen können weit mehr als die gewordenen ,freischwebend' sein im Guten wie im Schlimmen und darin auch die Möglichkeiten gleichsam am vollständigsten nutzen, die Jugend im Vergleich zu späteren (und fiüheren) Lebensaltern potentiell hat. Faktisch ist bzw. war all das beschnitten durch die lediglich andersartigen Zwänge des Brotstudiums in der westlichen, der politischen Lenkung von Studium und Berufskarriere in der realsozialistischen Gesellschaft. Zur Motivation der Studenten in der DDR sagte ein Leitartikel der kulturpolitischen Wochenzeitung "Sonntag" (1981 I 36, 2), jetzt reiche die Gewohnheit nicht mehr aus, "von ihnen hohe Studienleistungen, ein hohes gesellschaftliches Bewußtsein, Aktivität usw. zu fordern". Dies bedürfe mit den hohen Aufgabenstellungen der Partei für Wissenschaft und Technik der Präzisierung und Ergänzung, und zwar in der Richtung, daß die "objektiven" Anforderungen so verinnerlicht werden, daß sie mit den subjektiven Wünschen sich decken, "um auch Aufgaben mit hohen Schwierigkeitsgraden meistern zu können". "Erst wenn junge Wissenschaftler nicht nur die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Aufgabe, sondern auch die Möglichkeit sehen, in ihrer Bewältigung Bewährung und Glückserlebnis zu finden, werden sie sich diese Aufgaben ganz zu eigen machen." Vollständige Identifizierung mit einer gegebenen Aufgabe führe dazu, daß diese zum eigenen Problem werde, so daß ihre Lösung "alle Elemente eigenen Glückserlebnisses" enthalte. Dies ging in die Richtung der aktuellen Forderung nach völligem, "tiefem" Einswerden der einzelnen DDR-Bürger mit den gesellschaftlichen Vorgaben (vgl. 15.2.4). Hinsichtlich der Studenten wurde dabei besonders "schöpferisches", eigeninitiatives, risikofreudiges Arbeiten und Herangehen gefordert (s. in 9.3). Betont wurde in Auswertung der V. Hochschulkonferenz, das Studium sei harte Arbeit (Herb. Steininger in: So 42 I 1981, 2). Gesehen wurde, zumindest programmatisch, daß dies nicht ausschließliche Beschäftigung mit dem Studium bedeuten sollte: der junge Wissenschaftler dürfe über der Totahndentifikation mit seiner Aufgabe "seine kulturellen und allgemeinbildenden Bedürfnisse" nicht vernachlässigen (So 36 I 1981, 2). Die Universität müsse die Leiter von morgen auch kulturell erziehen. An der Humboldt-Universität (Berlin

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Ost) betätige sich fast die Hälfte aller Studenten in irgendeiner Weise kulturell-künstlerisch. Hochschullehrer, die Kultur fur ein bloßes Privatvergnügen ihrer Studenten ansähen und nicht einmal die kulturellen Möglichkeiten der eigenen Universität kennten, seien nicht auf der Höhe der Zeit ( vgl. So 21 I 1978, l ). Zu umfassendem Fitmachen des Studenten für seine Aufgaben gehörte auch der Sport, wobei die Realisierung obligatorischen Sporttreibens trotz jahrelang wiederholter Versuche weitgehend an passiver Resistenz und Desinteresse der Studierenden scheiterte (vgl. Knecht in: DA 1977 I 3, 233ff.; Rossade l987b, 167f. ). Experimentelle Untersuchungen zur Erweiterung des Belastungsumfangs von männlichen Studenten durch kombinierte sportliche Übungen standen im Kontext einer Effektivierung der "wissenschaftlichen Organisation des Studien- und Lebensrhythmus der Studenten". Das Niveau der körperlich-sportlichen Leistungsfähigkeit bestimme nämlich maßgeblich die "Lebens-, Arbeits- und Verteidigungsfähigkeit sowie die Gesundheit der Studierenden" (Nieber I Buhl 1982, 764). Die Trennung von Gesunderhaltung und Befähigung zu Leben, Arbeit und Wehrdienst im zitierten Satz ist wohl mehr als sprachliches Ungeschick: eher ein Symptom für die Ausrichtung, die Leistungsforderungen fur Staat und Gesellschaft sehr viel höher stellte als das Wohlbefinden der betroffenen Menschen. Die Haupttätigkeit der Studenten, das Studium in seiner Durchorganisiertheil und seiner gesellschaftlichen Funktionalisierung hat Husner (1985, 59ff.) durch Analyse der in der DDR dazu vorliegenden umfangreichen Literatur untersucht. Strenge Reglementierung in einer Regelstudienzeit von, je nach Fach, vier bis sechs Jahren mit einer durchschnittlichen Pflichtstundenzahl von 27 pro Woche prägte das Studium, zu dem neben dem Fachstudium das gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium, Sprachausbildung in Russisch und einer weiteren lebenden Fremdsprache, Sport und Wehrerziehung I Zivilverteidigung kamen (Rytlewski I Husner 1984, 140ff. ). Mit der Zielstellung eines "schöpferischen" Studiums kontrastierte die empirische Feststellung von DDR-Wissenschaftlern, daß die Studenten viel Faktenwissen bewältigten, gut vorgabenorientiert arbeiten konnten und über ein trainiertes Gedächtnis verfügten, das bis zur jeweils nächsten Prüfung reichte; dagegen fehlten häufig systematisches, beständiges Wissen, selbständiges Denken und eigenständige Beschäftigung mit dem Stoff (ib., 141). Die hohen Anforderungen an die Studenten, deren Papierform zum Teil Unerfüllbarkeit von vomherein einschloß, scheinen indes in der Realität merklich niedriger gewesen zu sein, da die meisten Studenten trotz offensichtlich nur teilweiser Erfullung der Anforderungen das Studienziel erreichten (ib., 145). Das gesamte wöchentliche Zeitbudget eines Studenten im Umfang von 168,1 Stunden teilte sich nach DDR-Untersuchungen im Durchschnitt so auf: 1 I 4 der Gesamtzeit (42,5 Stunden) fur das Studium einschließlich Leer- und Wegezeiten; reichlich 1 I 8 (22, I Stunden) für Befriedigung geistig-kultureller

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Bedürfnisse einschließlich gesellschaftlicher Arbeit, Informationsaufnahrne, Kommunikation und aktiver künstlerischer Betätigung; einiges mehr (27,2 Stunden) für notwendige Dienstleistungen und persönliche Bedürfnisse (s.a. unten 6.1 ); nicht viel weniger als Yz der Gesamtzeit (76,3 Stunden) für "Erholung, Entspannung und bestimmte physiologische Bedürfnisse" inklusive Schlaf (zit. ib., 80). Die gesellschaftliche Aktivität, wozu politische Arbeit in der FDJ, Arbeitseinsätze u.ä. sowie auch die Einbeziehung der Studenten in die Forschung gerechnet wurden, gehörte mindestens teilweise nicht zur Freizeit, sondern zur Arbeitszeit und war auch nur bedingt freiwillig (ib.). Die Freizeitbetätigungen der Studenten zeigten nach DDR-Untersuchungen kaum Gruppenoder Schichtspezifika im Sinne von werdender Intelligentsia. Die Unterscheidungslinie verläuft vielmehr zwischen Jugendlichen und Älteren (vgl. die Tabelle S. 138). Signifikante Unterschiede bestanden dagegen zwischen den Geschlechtern, gemäß den tradierten Rollenprägungen von Frauen I Männern bzw. Mädchen/ Jungen (Husner 1985, 83ff.).26 Gewisse Unterschiede in den Inhalten gleicher Freizeittätigkeiten, die sich auf Unterschiede in der Art der Arbeit und im Bildungsniveau zurückführen lassen, bestanden zwischen Studenten und jungen Arbeitern I Angestellten. So bevorzugten Studenten von der U-Musik Jazz und Chansons; sie gingen häufiger ins Kino als andere Jugendliche; im Fernsehen sahen sich Studenten am wenigsten, Schüler und Lehrlinge am häufigsten Spielfilme an; in der sportlichen Betätigung zogen Studenten Sportarten vor, bei denen der Leistungsaspekt zurücktritt; sie lasen problembaitigere Literatur als andere Jugendliche (ib., 84, 87). Die vom Staat durch Stipendien und Leistungsprämien gewährte Sicherheit grundlegender Lebensbedingungen der Studenten hob nicht auf, sondern förderte wohl eher in Verbindung mit dem Charakter des Systems, daß Studenten in der DDR ebenso wie in den osteuropäischen Ländern stärker selbstmordgefährdet waren als andere Bevölkerungsgruppen (vgl. Oschlies 1976). In den 80er Jahren verstärkten sich im Kontext der forcierten Effektivierungsbemühungen die Anforderungen an die Studenten in der DDR (Hw

26 Ein Studentenehepaar von der Technischen Hochschule Magdeburg hat im Wohnheim ein Zimmer zusammen mit einem Kind, ein zweites Kind ist unterwegs. Die Frau hat keinen so glatten und erfolgreichen Weg hinter sich wie der Mann, sie findet es aber normal, in mancher Hinsicht hinter ihm zurückzustehen. Die Entscheidung zwischen Kind und Auslandsstudium habe sie allein getroffen. Das erste Kind bekam sie mit 19. Weil es krank wurde, mußte sie das zweite Semester wiederholen. Zwischendurch arbeitete sie in den Werkstätten der Sektion Maschinenbau. Im Internat bewohnen 10 Familien je ein Zimmer. Für alle zusammen gibt es einen Duschraum, eine Küche und einen Waschraum. Schwierig sei das Leben zu dritt in einem Raum von 16 m2 • Ein Vorhang teile das "Kinderzimmer" ab. Der Ehekredit werde für eine Anbauwand mit Fernseher und Plattenspieler verwendet. (Claudia von Zglinicki in Wopo 1984 / 41, 16f.).

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198515, 140ff.; PI 12.3.85, 2f.; s.a. So 198418, 7). Es konnte angenommen werden, daß dadurch die Angepaßtheit dieser sozialen Gruppe an die bestehenden Verhältnisse zunehmen würde, zumal sie ohnedies als im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen höher eingeschätzt wurde (Rytlewski I Husner 1984, 146). Der Prozeß der ,Wende' hat das bestätigt. Im Gegensatz zu den Erfahrungen so gut wie aller auf Umwälzung gerichteter Bewegungen der Vergangenheit waren die Studenten an der friedlichen Revolution in der DDR vergleichsweise wenig beteiligt. Inzwischen vorliegende Erhebungen zeigen viel Verbundenheit dieser Studenten mit ,ihrem' Staat, wobei solcher Befund in der Literatur zum Teil positiv umgedeutet wurde (vgl. Heublein l Brämer 1990; Krönig I Müller 1994, 429ff. ). Während in früheren Perioden studentischer Widerstand eine hervortretende Erscheinung war (Krönig I Müller 1994), dominierte in der Endzeit der DDR eher der Konformismus. Zugleich ergab eine Untersuchung, daß schon kurz nach Herstellung der deutschen Einheit bei den Studierenden in Deutschland die Unterschiede zwischen Ost und West geringer waren als die Übereinstimmungen (Weihnacht I Sara 1991; Weihnacht/Beisler 1993; zu einem Aspekt der gemeinsamen Situation s.a. Student 1993). In Darstellung für Massenkonsum zu DDR-Zeiten erschienen Studenten und ihre Eltern reichlich kleinbürgerlich, 27 was indes wohl mehr über die Leitbilder der realsozialistischen Gesellschaft aussagt als über die Studierenden.

27 Das "Magazin" ( 1985 I I, 21 ff.) sah Studenten "zwischen Prüfungs- und Vaterschaftsangst", also grundsätzlich männlich, im übrigen traditionell kleinbürgerlich: "Zur Immatrikulation kommen manche noch wohlbehütet im Schoße der Familie. Vater fährt mit dem blankgeputzten Auto vor, und Mutter gibt Ratschläge: ,Daß du auch richtig ißt, und geh nicht so spät schlafen!' Wenn die jungen Leute nach vier oder funf Jahren ihre Alma mater verlassen ( .. .)". Geld werde außer fur billigen Rotwein und Zigaretten fur Bücher, Konzertkarten und besonders fur Mode ausgegeben (24). Gegen Mittag fulle sich - die Rede ist von der KMU Leipzig - das Cafe im FDJ-Jugend- und Studentenzentrum, das die Studenten selbst acht Jahre lang in alten Kasematten ausgebaut hätten. "Man redet über Marx und die Welt, wo man im Urlaub war, streitet, wohin mit der Seminargruppe: Wandern oder Kulturfahrt? Der Vorschlag, nach Suhl japanisch essen und baden zu gehen, sei absolut Asche, meint Anne, und überhaupt ,mancher flippt echt aus mit dem Geld von Papa und Mama!'" Im Zentrum sei jeden Abend etwas los, ,,mittwochs ,Paperlapop', die hauseigene Disko, sonnabends Kapellentanz (?!); zu geistiger Erbauung gibt es Länderabende, Dokumentarfilmveranstaltungen, Diskussionsrunden". "Vier bärtige Herren Studiosi am Billardtisch in der Ecke des Cafes zitieren pragmatisch. Lessing habe gemeint, daß nichts so sehr als der Fleiß närrisch mache; erst der Umgang mit Menschen brächte die rechte Bildung." (24f.) Vor Prüfungen sei die Liebe abgemeldet, der Kaffee-, Tee- und Zigarettenkonsum steige ebenso wie der Wert guter Vorlesungsmitschriften. "Christine schluckt bereits die dritte Aufmunterungspille. ,Das soll den Geist wecken.' ( ... ) Man ist abergläubisch und sucht die Bluse aus dem Schrank, in der es das vorige Mal gut gegangen ist. Ein großer Teddybär wird in die Tasche gestopft. ,Mein Maskottchen', sagt Iris, und sie wird rot und blaß und schämt sich ein bißchen. Die Herren scheinen gelassener, aber sie tun meist nur so. ( ... ) Wenn auch das Kommende lockt, so richtig Student sein kann man nur einmal im Leben." (25)

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3. Unterschiede nach sozialer Schicht

3.10 Randgruppen und ,Aussteiger' Alle bisher behandelten Schichten und Gruppen der DDR-Gesellschaft waren so oder so in sie integriert; in ihrer Gesamtheit machten sie diese Gesellschaft in der Hauptsache aus. Dazu kamen jedoch, wie in nicht-realsozialistischen Gesellschaften, Bevölkerungsgruppen, die am Rande der etablierten Gesellschaft standen und mehr oder minder aus ihr ausgestoßen waren. Mindestens drei solcher Gruppen lassen sich unterscheiden: Behinderte; Straffällige; ,Asoziale'. Als körperlich oder I und psychisch bzw. geistig Behinderte (DDR-Terminus: Geschädigte) galten Personen, die entweder seit ihrer Geburt oder durch spätere Einwirkungen, durch Unfall oder andere Ursachen, in einzelnen, mehreren oder allen Funktionen ihrer Psychophysis dauernd beeinträchtigt sind. Ihr Anteil an der gleichaltrigen Gesamtbevölkerung lag insbesondere bei Kindem und Jugendlichen relativ hoch: Tabelle 6

Behinderte in der DDR (Altersgruppe 0 bis unter 18 Jahre [1978]) Art der Schädigung

Zahl der Betroffenen

Prozentsatz der Gleichaltrigen

Körperbehinderung Geistige Störungen

401.619 153.911

9,44 3,57

Gesamt

555.530

13,01

Qu•lle: DDR·Handbuch 1985, 534.

Inhaber eines amtlichen Beschädigtenausweises waren 1980 (Personen über 14 Jahre, in bestimmten Fällen auch Kinder): 1,3 Mi!!., darunter 1,1 Mi!!. Körpergeschädigte. Geschädigte im berufsfähigen Alter gab es 1981: 615.000 = 5,8% der Altersgruppe (nach: DDR-Handbuch 1985, 534). Insgesamt war der Anteil der Behinderten an der Gesamtbevölkerung in der DDR und BRD etwa gleich hoch wie in anderen Industriestaaten (Helwig 1980, 38). Für die Lebenslage der Betroffenen lag jedoch ein wesentlicher Unterschied darin, daß in der DDR erst spät - vorbereitend in den 60er, realisierend seit der 2. Hälfte der 70er Jahre - staatliche Hilfe in nennenswertem Umfang einsetzte und die im westlichen Deutschland zunehmend verwirklichte Selbsthilfe (gegenseitige Hilfe) der Behinderten unterentwickelt blieb (vgl. ib., 38ff., 123ff.; DDR-Handbuch 1985, 535).28 Erst nach der Wende 28

Wenn fiir Kriegsbeschädigte in der DDR erst ab einem weit höheren Schädigungsgrad

92

A. Lebensstile

entstanden Selbsthilfegruppen von Eltern mit geistig behinderten Kindem (Turber 1995). Während vorher die Betreuung getstlg Behinderter, vor allem Kinder, weitgehend kirchlichen Einrichtungen überlassen blieb, wurden im letzten Jahrzehnt die staatlichen Stellen in der DDR damit stärker befaßt. Fortschritte gab es auch bei der Gewährleistung des Rechtes auf Arbeit, das nach der Verfassung der DDR allen Bürgern zustand, für die Behinderten, mitunter gegen den - ökonomistischen - Widerstand der Betriebe gegen ,nicht vollwertige' Arbeitskräfte. 1970 bestanden 2.200, Ende 1980 immerhin 35.123 geschützte Arbeitsplätze für Rehabilitanden, allerdings überwiegend nicht in Betrieben oder Werkstätten, sondern als Einzel- oder Heimarbeitsplätze (DDR-Handbuch 1985, 535). Die schwere familiäre Belastung, die ein geistig behindertes oder entwicklungsgestörtes Kind mit sich bringt, scheint in der DDR, beim Mangel an Heimplätzen und Fehlen von Organisationen wie der bundesdeutschen Lebenshilfe, privatistischer abgelaufen zu sein als möglicherweise in der BRD (vgl. Geppert 1978, zit. bei Helwig 1980, 200ff.). Die Schilderung aus der DDR spricht von extremem Unverständnis und fühlloser Gleichgültigkeit gegenüber dem hilflosen Vater eines kranken Kindes seitens ,normaler' Mitmenschen und von Kapitulation mindestens des väterlichen Elternteils (ib., 203; s.a. Schütze 1977; Nissler/Kurth 1982; Thom 1988). In der letzten Periode der DDR gab es einige Veränderungen hinsichtlich der Anerkennung offensichtlicher Fakten: der Existenz von Behinderten wie auch von sozial Geschädigten und des Bestehens von Vorurteilen in der Gesellschaft. Verneint wurde die Frage, ob in naher Zukunft die sozialen Bedingungen so beeinflußt werden könnten, daß sich der Anteil der Debilen an der Rentenleistungen gewährt wurden als in der BRD (vgl. DDR-Handbuch 1985, 756), so nicht deshalb, weil etwa in der DDR an die Akteure des faschistischen Krieges strengere Maßstäbe angelegt wurden als im Westen. Das Verfahren entsprach nur dem allgemeinen Muster, daß alle nicht oder nicht mehr Produktiven - Behinderte, Rentner, Waisen und andere - in der DDR auch relativ schlechter gestellt waren als in der BRD, eingeschlossen die politisch Verfolgten des NS-Regimes, und daß erst mit der sicherheitspolitisch bedingten Sozialpolitik in den 70er Jahren darin gewisse Verbesserungen eingetreten waren. - Zur psychosomatischen und sozialen Seite von Behinderungen vgl. aus PEP: Wilhelm Topel, Sozialnegatives Verhalten und familiäre Situation bei schwererziehbaren (spezialheimbedürftigen) Jungen der Oberschule (1972/42, 73ff.); ders., Besonderheiten des Leistungsverhaltens schwererziehbarer Jungen (1973/44, 57ff.); M. Borys I H. Krüger, Ursachen, Bedingungen und Prozeß der Entstehung exogener psychischer Fehlentwicklung im Kindesalter ( 1978 / 67, 4 7ff. ); Michail Kreyssig, Möglichkeiten des klinischen Psychologen in Diagnostik und Therapie auf der Grundlage der mehrdimensionalen Betrachtungsweise psychischer Erkrankungen ( 1979/71, 19ff.). - Die Geringschätzung ,unnützer' Gesellschaftsglieder im Realsozialismus zeigte sich an vielen Symptomen. Eines ist, daß die DDR Mitglied fast aller internationalen und europäischen Sportföderationen war, gemäß der hohen Gewichtung des Leistungssports als Prestigefaktor (vgl. Abschn. 12). Zu den wenigen Ausnahmen gehörte der Verband des Behindertensports (vgl. G. Holzweißig 1981, 116ff.).

3. Unterschiede nach sozialer Schicht

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Bevölkerung verringern würde. Gesellschaftliche Anforderungen und familiäre Bedingungen brächten mit sich, "daß Debile auch unter den Bedingungen einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft eine relativ stabile soziale Gruppe bilden" (Gottke 1980, 70; zu den Einstellungen in der Bevölkerung s.a. Kleye 1975). Verschlechtert hatte sich aber, verglichen etwa mit den 60er Jahren, die Lage hinsichtlich der Betreuung Schwerbehinderter und schwerkranker geistig Behinderter. Wie nach dem Zusammenbruch des SED-Staates öffentlich wurde, gab es da - wohl nur mit der Ausrottungspolitik des deutschen Faschismus gegenüber Kranken vergleichbare - Grausamkeiten in den entsprechenden staatlichen Einrichtungen, wo Behinderte unter übelsten Bedingungen gehalten und sterben gelassen, wenn nicht sogar aktiv zu Tode gebracht wurden (vgl. Stern, Hamburg, 1990 I 24, 4, 26- 36). Auch in der realsozialistischen Perzeption von Kriminalität innerhalb der eigenen Gesellschaft deutete sich in der letzten Periode des Besteheus der DDR ein Wandel an. Während diese Erscheinung lange Zeit gänzlich auf Überbleibsel, Nach- und Einwirkungen der kapitalistischen Gesellschaft zurückgeführt wurde (vgl. Sander 1979, 58ff.; Freiburg 1981, 29lf.), wurde später eingeräumt, Kriminalität entspringe auch auf dem Boden der realsozialistischen Gesellschaft (z.B. Kräupl 1976; vgl. Freiburg in DA 1975 I 10, l 077). Bis 1968 ging die Kriminalität in der DDR zurück, seitdem schwankte sie zwischen Stagnation und Zunahme. Eigentumsdelikte, politisch motivierte bzw. kriminalisierte Übertretungen sowie schwere Straftaten gegen Personen waren am meisten relevant (Grunow 1984; Freiburg 1981, 69ff.; ders. in DA 198212, 148ff.; Schroeder in DA 198013, 282ff.; 1981/8, 845ff.; s.a. DDRHandbuch 1985, 757ff.; Klapp 1977; Röhner 1980). Es waren also bereits dieselben Schwerpunkte der Kriminalität wie nach der Wende (mit verändertem Inhalt des ,Rowdytums'), was auch für die Jugendkriminalität zutrifft. 29 Die Turbulenzen des Wegrutschens der alten, realsozialistischen Verhältnisse haben in der Ex-DDR zu einem Ansteigen der Kriminalität geführt, ebenso wie in Polen und in anderen osteuropäischen Ländern, wenn auch längst 29 Zur Jugendkriminalität vgl. Schroeder in DA 1978 I 5, 497ff.; Freiburg in DA 1985 I 1, 68ff.; Helwig zu Lekschas 1984 und Queißer 1984 in DA 1985 I 5, 538ff.; DDR-Handbuch 1985, 692, 693 I 94). Ebenfalls ein Schwerpunkt war, neben den Eigentumsdelikten, die Rückfallkriminalität (Freiburg 1981 , 262ff.). Als aufflillig wurden ferner Verkehrsdelikte beschrieben, bei denen die registrierten Fälle im Tempo der Verkehrsdichte, aber wesentlich rascher als die Verkehrsunfälle zunahmen (vorwiegend Fahren unter Alkohol und ohne Fahrerlaubnis; ib., 139ff.; Rarland 1964, 255ff.). Zahlenmäßiges Erfassen der DDR-Kriminalität wurde generell erschwert durch Mängel und Lücken der Statistik, die nicht schlechthin auf Schlamperei zurückgingen, vielmehr eher absichtsvoll dazu dienten, den wenig prestigeträchtigen Bereich nicht zu sehr zu erhellen (vgl. Freiburg in DA 197911 , 68ff.; Freiburg 1981, 24ff., 30ff.). In Unterhaltungssendungen von Rundfunk und Fernsehen der DDR über Kriminalität und Kriminelle ließ sich eine Verschiebung des Täterkreises von sozialen Randgruppen auf ,durchschnittliche Werktätige' in Stadt und Land feststellen (Holzschuh 1984, 184ff.).

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A. Lebensstile

nicht in dem Ausmaß wie in den Bruchstücken der ehemaligen UdSSR, vor allem in Rußland. Die Häufigkeit von Straftaten, bezogen auf die Bevölkerungszahl, lag in der alten Bundesrepublik Deutschland beträchtlich höher als in der DDR (Sander 1979, 42ff.). Darin äußerte sich, wie der Kriminologie geläufig ist, daß mehr Druck und Kontrolle im politischen System die Kriminalitätsrate einschränkt, was etwas anderes ist als das Absterben krimineller Handlungen durch das Wirken bestimmter, humaner gesellschaftlicher Verhältnisse (s. Freiburg in DA 1975 I 10, 1084). Bekämpfung und Verhinderung von Straftaten galt in der DDR programmatisch als Sache nicht lediglich bestimmter Staatsorgane, sondern der ganzen Gesellschaft. "Die Öffentlichkeit schweigt nicht zu Straftaten, sie handelt", so schließt fast drohend ein Beitrag, der kurz nach dem VIII. Parteitag der SED veröffentlicht wurde, mit dem die letzte Phase der DDR-Entwicklung einsetzte (Staatsanwalt Prabutzki in: So 1971 I 33, 9). Die Strafe als "strengste staatliche Reaktion" auf Straftaten sei nicht als solche ein Mittel zur Beseitigung der Kriminalität, sie unterstütze nur dieses Ziel, und zwar nicht durch ihre Härte, sondern durch ihre Unabwendbarkeit für den Täter (Heimberger 1984, 282). Straffällige waren, trotz gegenteiliger Erklärungen, immer mehr Ausgestoßene als Wiedereinzugliedernde, insbesondere im Bereich systemspezifischer (politischer) Delikte, die offiziell als besonders gefährlich und verwerflich galten. Der Strafvollzug blieb unverändert rückständig und inhuman. Die Lebensbedingungen der sozialen Gruppe von Straftätern respektive Übertretern von Gesetzen des SEDStaates waren von gesellschaftlicher Diskriminierung- wie im Falle anderer minoritärer Randgruppen - und den Aus- und Nachwirkungen des Einsitzens in menschenunwürdigen Haftanstalten bestimmt, wie die des Autors Ulrich Schacht, der als Sohn einer deutschen politischen Gefangenen und eines sowjetischen Offiziers 1951 im Frauengefängnis Hoheneck geboren wurde (Schacht 1983; Schacht Hg. 1984; s.a. J. Fuchs 1978; Pricke 1979; K. Winkler 1983, 1985; Schacht 1989; Heyme I Schumann 1991 u.v.a.). Noch in DDR-Zeiten forderten bereits dortige Soziologen und Kriminologen Änderungen der strafrechtlichen Praxis und warnten vor Überschätzung der Resultate von Freiheitsentzug. Viel wichtiger sei allgemeine soziale Vorbeugung, darunter für die Jugendlichen mehr Eigenverantwortung statt Gängelei, damit sie sich mit der Gesellschaft und deren Zielen identifizieren könnten (vgl. Freiburg in: Helwig Hg. 1985, IOOf.). Von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR kam die Forderung, journalistische Gerichtsberichte sollten mehr Distanz zu Tat und Täter halten, um besser bei der Kriminalitätsverhütung zu helfen (Plath 1985). Systemspezifisch ist auch die nachdrückliche offizielle Ablehnung von Lebens- und Handlungsweisen, die als asozial galten und die in der DDRGesellschaft zunahmen (vgl. Schroeder 1976; DDR-Handbuch 1985, 9lf.).

4. Unterschiede nach dem Geschlecht

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Thema fast nur literarischer Arbeiten war ein stark hervortretender Zug zum ,Aussteigen' statt zum Arrivieren, Ausdruck lebenspraktischer Distanzierung von den Mustern einer betonten Leistungs- und Karrieregesellschaft (s.u. 16.5). - Die Problematik krimineller wie ,asozialer' Randgruppen lag in der UdSSR grundsätzlich ähnlich wie in der DDR, mit zum Teil krasseren und deutlicheren Erscheinungsformen, entsprechend den Unterschieden im soziokulturellen Gesamthabitus der beiden Länder (vgl. Gloeckner in: Ruban u.a. 1983, 174 ff. ). Der Zusammenbruch des Realsozialismus in diesem ausgedehnten Gebiet hat nicht nur die Kriminalität massiv ansteigen lassen, sondern auch zu einer Zunahme des Massenelends geführt. Damit prägen sich sozialstruktureile Charakteristika schärfer aus, die bereits den Realsozialismus kennzeichneten: eine gesellschaftliche Hierarchisierung von den "Eliten" bis zu den Obdachlosen und Gestrandeten mit entsprechenden Distinktionen in den Lebensstilen (z.B. in Ungarn: Utasi 1990). Auch in Deutschland hat die nunmehr vereinigte Hochleistungsgesellschaft soziale Gruppen stärker marginalisiert und in Lebenslagen der Armut, der Verelendung und des Sichaufgebens gedrängt, unter ihnen Langzeitarbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Rentner, alleinerziehende Mütter und perspektivlose Jugendliche (vgl. u.a. Gillen/ Möller 1992; Reller 1992).

4. Unterschiede nach dem Geschlecht 4.1 ,Gleichberechtigung' und tatsächlicher Status Ungleichheiten der Individuen und Gruppen sind nicht nur der so:z;ialen Schichtung inhärent. Epochen und Gesellschaftsformationen überdauert die soziale Ungleichheit der Geschlechter, die seit frühen historischen Zeiten im wesentlichen nach dem gleichen Grundmuster besteht. Die Dominanz des männlichen Geschlechts aufzuheben und die beiden Geschlechter sowohl rechtlich als auch sozial gleichzustellen, gehört zu den essentiellen Programmforderungen des Sozialismus. Juristische Gleichstellung der Frau ist eine der ersten Taten jeder sozialistischen Revolution. Die Befreiung der Frauen aus der Enge und Abhängigkeit von Haushalt und Familie als ausschließlicher praktischer Lebenssphäre durch Berufstätigkeit hat ebenfalls zu beträchtlichen Veränderungen geführt, wenngleich es dazu im Realsozialismus wieder rückläufige Tendenzen gab. Ein Grundmuster der realsozialistischen Eigendarstellung besagte, im Prinzip sei die Gleichberechtigung der Geschlechter in diesem soziopolitischen System verwirklicht. Nun komme es darauf an, daß die Frauen die ihnen gebotenen Chancen auch nutzten. So im Kontext der Kulturtheorie: Man müsse überall die Bedingungen schaffen, daß "die Frauen ihrer gleichberechtigten Stellung immer besser gerecht werden" (Koch u.a. 1982, 227; vgl. Kuhrig I

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A. Lebensstile

Speigner Hg. 1979). Solche Sicht tendierte im wesentlichen zu dem Muster, das als Grundverhältnis realsozialistischer politischer Kultur gelten sollte: Gute, nur sekundär verbesserungsbedürftige gesellschaftliche Institutionen auf der einen Seite, auf der anderen erziehungsbedürftige Individuen, die in Denken und Handeln auf die Höhe dieser Institutionen zu heben sind (vgl. Abschn. III; s.a. So 1975/10, I; So 1975/52, 7f.). Dagegen erhob sich immer mehr ein Gegendruck der Betroffenen. Sicherlich nicht ohne Zusammenhang damit differenzierten sich auch die offiziellen und sozialwissenschaftliehen Perzeptionsmuster in der DDR. 30 Was es nicht gab, war eine klare Einschätzung im Stil von Mao Tse-tung, der 1965 sagte, die rechtliche Gleichstellung der Frau mit dem Mann sei erst der Anfang. Überwindung der alten Mentalität und Kultur sei noch zu leisten, "es müssen die Vorstellungswelt, die Kultur und die Bräuche eines proletarischen Chinas sichtbar werden, das es noch nicht gibt. Was die chinesische Frau sein soll, das gibt es auch bei den Massen noch nicht als gelebte Wirklichkeit; aber sie fordert allmählich diese Wirklichkeit" (Mao T, VI.l, 105; s.a. Broyelle 1973; Die Befreiung 1977; Kessle 1984). 30 Dominierend war jedoch das erneute Einschwenken in überlieferte, verfestigte Rollenmuster. Eine Untersuchung der hauptsächlichen Frauenzeitschrift der DDR ("Für Dich") kam zu dem Ergebnis, daß dieses Periodikum keineswegs im Lauf der Jahre ein deutlicheres Profil ausbildete oder ,politischer' wurde. "Profilierung findet - wenn man den gestiegenen Ratgeber- und Modeteil in Rechnung stellt - in einem sehr auf die traditionelle Rolle der Frau bezogenen Sinne statt." (Scheel 1985, 199; vgl. ib., !55 - 198). - Die Jahrgänge 1983 und 1984 von FD ergeben, was die behandelten Themen angeht, folgendes Bild: Eine ständige Rubrik bilden Serien zu aktueller gesellschaftspolitischer Thematik, in der genannten Zeit eine Artikel- und Leserbriefreihe unter dem Titel "Familienklima- Arbeitsfreude". Leitende Gesichtspunkte dabei waren die Beziehung zwischen Privatbereich und Arbeitskollektiv, Mitsprache der Arbeitskollegen in Familiendingen, Wirkung häuslichen Streits auf die Arbeit, familiäre Stützung beruflichen Weiterkommens, "Antenne" des Leiters fiir persönliche Probleme der Mitarbeiter u.ä. (FD 1983: 16, 12ff.; 20, 12ff.; 22, 12ff.; 28, 12ff.; 31, 12ff.; Leserbriefe- 14, 12ff. (Eröffnung der Reihe); 17, 22f.; 21, 28f.; 23, IOf.; 25, 14f.; 22, !Of.; 27, !Of.; 28, 22f.; 29, 18f.). Verwandte Thematik hatte ein Beitrag über die Beziehungen im Arbeitskollektiv (FD 1984119, 46). Eine zweite Reihe lief unter dem Titel "Hier sind wir zu Hause" und war, mit starkem Heimat-Einschlag (vgl. 15.4.2) und unter Bezug auf lebende Vorbilder, mit der Herausbildung affirmativer Einstellung zum Bestehenden befaßt: Worauf sind Sie stolz? Welche Pläne haben Sie? Wer gehört in die Für Dich? (Wer hat Ihnen imponiert?) Die Serie erstreckte sich über ein volles Jahr, beginnend mit Leserzuschriften in FD 1983 I 41 und endend in FD 1984 I 40. - Traditioneller und ,amerikanistischer' Rollenprägung entspricht auch, daß bei Mädchen Stewardess und Mannequin als "Traum"-Berufswunsch häufig war (vgl. So 1981 15, 7). Symptomatisch fiir den Zustand der 80er Jahre war der Standpunkt der Kulturtheoretikerin Irene Dölling, die in Beiträgen auf Tagungen traditionalistische Rollenstereotype im DDR-Alltag kritisch referierte, in ihrem Konzept aber nur Resignation bis indirekte Apologetik fiir das Bestehende erkennen ließ. Soziale Gleichheit der Geschlechter wurde ihr zur bloßen Utopie, und die Zustände in der DDR stellte sie als unumgänglich dar (Dölling 1986, 112ff.; Bericht von Förtsch in DA 1988/10, 1107). Erst nach dem Ende der DDR veröffentlichte sie Kritik an sexistischer Frauendiskriminierung im SED-Staat (Dölling 1991). - S.a. Soziale Triebkräfte 1986, 200ff., 353; Speigner 1972.

4. Unterschiede nach dem Geschlecht

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Dem Realsozialismus in der DDR ging die Entwicklung nach 1945 voraus, als eine Mehrheit der Frauen berufstätig wurde, Bildungschancen bekam und die rechtliche Gleichstellung verwirklicht wurde, so daß die Frau nicht mehr unter der Kuratel des Mannes stand (s. dazu: Helwig 1974, 25ff., 77ff.; Helwig 1975; Helwig 1982; Pfister 1982; Schubert 1980, 30ff.; Enders 1986). Das Problem ist, daß danach keine Veränderungen mehr eintraten, die dieser Umwälzung an die Seite zu stellen wären, sondern die Entwicklung stagnierte und zum Teil rückläufig war. Statt weiterzugehen in Bereiche, die damals nur sehr am Rande berührt wurden und werden konnten - vor allem der Geschlechterproporz in gehobenen Positionen und die Mehrfachbelastung der Frauen, weil ihnen der Löwenanteil der Arbeit in Haushalt und Familie verblieb -, hatte sich die einstige Revolution auch in diesem Feld, das nach Marx das Kriterium überhaupt für wirkliche Emanzipation des Menschen ist/ 1 tendenziell umgekehrt. Dies hauptsächlich in zweierlei Hinsicht. Einmal gab es das Bestreben von oben, die Frauen wieder mehr auf Haushalt, Kinder und Familie zu beschränken, also aus dem Arbeitsleben herauszunehmen. Das kam Anfang der 60er Jahre im Zusammenhang mit dem NÖS auf, als es den Verantwortlichen ökonomischer erschien, die Betriebe von den durch Kindergebären und -betreuen öfter ausfallenden Frauen teilweise zu entlasten. Mit dem Familiengesetzbuch 1965 setzte ein entsprechender Wandel im Frauenleitbild der SED ein, der in den 70er Jahren voll wirksam wurde. Gesetzliche Maßnahmen zur Förderung von Familie und Mutterschaft haben das unterstützt (Enders 1986, 29f.). Neben den ökonomischen Erwägungen haben dabei vor allem bevölkerungspolitische eine Rolle gespielt, angesichts der sinkenden Einwohnerzahl der DDR. Der eingeschlagene Weg schien zwar den aktuellen Bedürfnissen des Systems angemessen zu sein, aber er berücksichtigte die weiteren sozialen Folgen gegenwärtiger Maßnahmen ebensowenig wie die Tendenz Sozialstruktureller Erstarrung aus Effizienzgründen (vgl. 3 .l ). Die neuerliche Orientierung auf Haus, Küche und Kinder mußte notwendigerweise das Ungleichgewicht verstärken, das bisher noch nie und nirgends wirklich überwunden wurde. Frauen werden entweder auf die Enge von Haushalt und Familie beschränkt oder müssen, wenn sie berufstätig bleiben, die Mehrfachbelastung in Kauf nehmen, weil die mit Haushalt und Versorgung, Kindem und Familie verbundenen Arbeiten nur zum geringen Teil zwischen Männem und Frauen geteilt werden. Reale Gleichberechtigung setzt aber Gleichverpflichtung der beiden Geschlechter in allen Lebensbereichen voraus (Enders 1986, 36). Was nicht heißen kann, daß man überholte Versorgungsformen im Kleinfamilienhaushalt konservieren und nur gleichmäßiger auf beide Elternteile etc. verteilen 31 Fourier, schreibt Engels, habe zuerst ausgesprochen, "daß in einer gegebnen Gesellschaft der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation ist" (MEW 19, 196, Anm. 129; vgl. MEW, Erg.bd. I, 535).

7 Rossade

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sollte, statt sie selbst auch zu revolutionieren und vieles davon abzuschaffen (s.a. 8.4.5). Nach Mao (T Vl.l, 105) werden die Frauen nicht durch die Fabrikation von Waschmaschinen und ihre Männer nicht durch Fabrikation von Straßenfahrzeugen befreit, sondern beide durch den Bau von Anlagen, in denen sich technischer Fortschritt mit alltäglicher praktischer Verwendbarkeit und gesellschaftlicher Bedeutung verbindet. Das zweite Moment ist, daß die leitenden und gehobenen Positionen in Partei, Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Kulturbetrieb ganz überwiegend von Männern gehalten werden, während die Frauen bis auf wenige Ausnahmen untergeordnete Tätigkeiten verrichten. 32 Das bemühte Aufrechterhalten dieser Disproportion wird zum Rückschritt, wenn ihre Änderung mehr und mehr auf die Tagesordnung tritt (s.a. in 16.4). Dabei betrug der Anteil der Frauen an der Bevölkerung der DDR mehr als die Hälfte. 1982 waren von 16.702.306 Personen Wohnbevölkerung einschließlich Berlin (Ost) 8.840.242 oder 52,9% weiblich, das sind fast eine Million mehr Frauen als Männer (nach DDRHandbuch 1985, 213). 4.2 Rollenmuster Die überkommenen sozialen Differenzierungen nach der Geschlechtszugehörigkeit, denen sich die DDR-Gesellschaft wieder näherte, sind in der industriell entwickeltsten Gesellschaft der Gegenwart, in den USA, besonders 32 Ein klassisches Muster ist das von Chef und Sekretärin. Chefin und Sekretärin kommt noch - viel seltener - vor, Chefin und Sekretär aber so gut wie nie, im Realsozialismus noch weniger als im westlichen Kapitalismus. (Zum "Wundertier Sekretärin" s.a. Mag 1984 / 11, 45ff.) Eine Analyse der einschlägigen empirischen Befunde zwischen 1971 und 1985 ergab, daß die Frauen in den Machthierarchien der DDR so vertreten waren: in Spitzenpositionen - ohne Einfluß; in höheren Leitungsfunktionen (ZK der SED, hauptamtliche Parteisekretäre, Staatsrat, Bezirksräte, zentrale Leitungen der Massenorganisationen, Direktoren u.ä. in Industrie und Landwirtschaft): eine kleine Minderheit, nämlich von etwa 5% bis 20%; in Basisaktivitäten und mittleren Leitungsfunktionen: qualifizierte Mitwirkung (Anteil etwa zwischen 25% und 40% in unteren Partei- und Organisationsfunktionen, in den staatlichen Vertretungskörperschaften der verschiedenen Ebenen, unter den Bürgermeistern, an Hochschulkadern, in Wirtschaftsleitungen außer den oberen, unter den Schulleitern, in der Neuererbewegung). Chancengleich waren die Frauen lediglich in Hinsicht auf Grundqualifikationen und in einigen wenigen, traditionell Frauen vorbehaltenen oder diese relativ bevorzugenden Bereichen: ihr Anteil betrug 50% und mehr an den Erwerbstätigen insgesamt sowie an Leitungsfunktionen in der Dienstleistungswirtschaft, im Handel, in der Leichtindustrie und im kulturell-sozialen Bereich einschließlich Volksbildung und Gesundheitswesen; an den Abschlüssen der allgemeinbildenden Schulen, an der beruflichen Aus- und Weiterbildung, an den Studierenden der Fach- und Hochschulen; an Mitgliedschaften in Massenorganisationen wie FDGB und FDJ (nicht Parteien!); an ehrenamtlichen Funktionen in solchen Organisationen, in Beiräten u.ä. (G. Meyer 1986, 295; detailliert ib., 294, 296-303 und Tabellen 305-311 ). Auch diese Chancengleichheit blieb aber insofern formell, als sie von der Mehrfachbelastung beeinträchtigt wurde.

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deutlich ausgeprägt. Amerikanische Soziologen haben herausgearbeitet, wie eine solche Gesellschaft das unterlegene Geschlecht mit den Druckmitteln der dominierenden Sozialisationsmuster zwingt, überkommene Rollen anzunehmen und in einer Mischung von Verinnerlichung und äußerlicher Demonstration betont vorzuweisen, gemäß den tradierten, verfestigten und ideologiegeladenen Erwartungen des herrschenden Geschlechts. Die Objekte dieser Sozialisation spielen das "femininity game" nach ritualisierten Mustern, zu denen wesentlich die Grundfigur unterlegener Schwäche gehört, die eines starken Schutzes bedarf. Dies ist das gerade Gegenteil der vorherrschenden Leistungsmuster, so daß von da her die Unterlegenheit des weiblichen Geschlechtes vorprogrammiert ist. Eine Grundregel des Feminitätsspiels besagt, daß die, die darin bestehen wollen, in Kauf nehmen müssen, alle anderen Spiele zu verlieren. Männer mögen keine Frauen, die gewinnen. Von einem Mann gemocht und geheiratet zu werden, ist aber das große Lebensziel der so sozialisierten amerikanischen Musterfrau. Nicht die anatomischen und physiologischen Unterschiede der Geschlechter, sondern soziale Festlegungen verbannen die Frauen aus soziokulturellen Tätigkeitsfeldern, die sich die herrschenden Männer vorbehalten wollen. Das entsprechende Training für die Frau beginnt beim kleinen Mädchen in der Normfamilie, die gemäß der Beschaffenheit der Gesellschaft um den Vater zentriert. Der nimmt den Sohn als zu formendes Abbild seiner selbst, die Tochter als Kleinausgabe der Ehefrau. Sie, die Tochter, empfängt Lob und Verstärkung für Hübsch- und Nettsein, der Sohn für Leistungsstreben nach Vaters Art (Yiannakis u.a. Hg. 1976, 182ff. ). Dies läßt sich auf eine Gesellschaft von der Art der DDR nicht rundweg übertragen, aber bestimmte Grundmuster der sozialen Rollenteilung zwischen Männern und Frauen finden sich auch im Realsozialismus wieder. Sie waren entweder nie überwunden worden oder aber befanden sich im Prozeß ihrer neuerlichen Einführung. Dieser Prozeß war flir die DDR in sich zwieschlächtig. Die Relativierung der Frauenberufstätigkeit als Leitbild, das auch seine statistische Entsprechung hat/3 war selbst für die Gegenwartsbedürfnisse des 33 War der Anteil der berufstätigen Frauen an den arbeitsfähigen Frauen in der DDR zwischen 1955 und 1975 von 54,9% auf 78,7%, also fast um die Hälfte der Ausgangsziffer, gestiegen, so stagnierte er seitdem: 1980 Rückgang auf78,1, 1981 leichter Anstieg auf den Anteil von 1975, der sich dann fortsetzte (1982: 79,1%, und 1983: 79,6%). Der Anteil der Frauen an allen Berufstätigen stieg bis 1980 kontinuierlich, um dann stetig abzusinken: von 49,9% 1980 auf 49,5% 1983 (Enders 1986, 28, Tabelle 1). Dabei war der Versorgungsgrad durch Kinderbetreuungs-Einrichtungen weitgehend gestiegen: bei Krippen ständig bis auf über 68% aller Kinder der Altersgruppe 1983; bei Schulhort ebenso bis auf 81,6%; bei Kindergärten bis 1980 auf92,2%, seitdem Abfall auf91,1% im Jahr 1983 (ib). Obwohl diese Einrichtungen besonders seit dem sozialpolitischen Schub Anfang der 70er Jahre beträchtlich vermehrt wurden (vgl. ib. die Zahlen fiir 1970 und fiir 1975), hat sich das auf die Berufstätigkeit der Frauen nicht ausgewirkt. - Vgl. zum Gegenstand auch Hein I Rosenfeld 1985; Bruhm-Schlegel u.a. 1981.

7*

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Systems problematisch. Die DDR-Wirtschaft konnte aus Gründen des vorhandenen Arbeitskräftereservoirs auf ausgedehnte Berufstätigkeit des weiblichen Bevölkerungsteils gar nicht verzichten. Diese Widersprüchlichkeit spiegelte sich auch in den propagierten Rollenmustem, wie sie etwa in der Frauenzeitschrift "Für Dich" hervortraten. Einerseits erschien die Frau da als vorbildliche Arbeiterin und gesellschaftliche Aktivistin, andererseits wurden ihr im Modeteil, mit Haushaltstips usw. die überkommenen und wieder aufgewerteten Rollenmuster nahegebracht, vorwiegend auf einem niedrigen kulturellen und politischen Niveau (s.a. Anm. 30). Ähnlich im kulturpolitischen Wochenblatt, dort mit einem geringeren Anteil der Haushalts- und ,Frauen'elemente im Sinne kommerzieller Konsummuster. Da fand sich modellhaft etwa die junge Facharbeiterin, verheiratet, eine Tochter, FDJ-Sekretärin, Teilnahme an Meisterlehrgang (So 1977 I 18, 6) oder die Gewerkschaftsfunktionärin, die seit 25 Jahren als Näherin in einem mittleren Damenmodenbetrieb arbeitete und ihre Norm am Band mit 160% übererfüllte (So 1977/7, 7f.); die Meisterin (So 1975 124, 7f.) und die LPG-Bäuerin mit Fernstudium, drei Kindem und blitzsauberer Wohnung, die immer noch gut aussah und immer guter Stimmung war, der nie etwas zuviel wurde und die nun auf agrotechnischen Facharbeiter umschulte (So 1975 I 38, 7f.); auch Schriftstellerin und Schauspielerinnen (So 1980 I 32, 5) oder die Frau als Regisseur, schon länger zurückliegend (So 1970 I 2, 6). Differenzierter wird das Bild, wenn die real existierenden Frauen selbst zu Wort kommen. Die Mehrzahl von ihnen zeigte charakteristische Übereinstimmungen im Lebensstil, den ihnen die Mehrfachbelastung und die zählebigen Muster männerherrschaftlich geprägter Gesellschaft aufzwangen, in deren Habitus aber zugleich Neues hervorsticht, das über die bestehenden Verhältnisse hinausweist. Ein sehr allgemeines Muster ist, daß Sichbehaupten in der patema1istischen Gesellschaft an die Frauen von vomherein höhere Anforderungen stellt als an die Männer. Sie kommen nicht mit wortmächtiger Routine ohne viel Taten durch. "Wenn man sich ( ... ) als Frau nicht voll engagiert, wird man überhaupt nicht akzeptiert. Als ich ( .. . ) einstieg, hatte ich viel Elan und Ehrgeiz, obwohl man mir das als Frau und mit dem Kind nicht zumuten wollte. Ich habe härter gearbeitet als ein Mann, um mich durchzusetzen."34 Die geschiedene Frau hat ihre speziellen Probleme, die verheiratete, in einer konventionellen vollständigen Familie lebende, die ihren (vgl. 8.4.5). Daß der Aspekt der Partnerbeziehung ein großes Gewicht hat, und für die Frau mehr

34 Mit der Hilfe eines Mannes hat sie, eine geschiedene Ärztin, "diesen Spießrutenlauf' durchgestanden, aber um den Preis gewisser Verkümmerung, auch in der Partnerbeziehung zu dem weitgehend zum Apparat gewordenen Mann und Kollegen. "Mein Leben ist eigentlich immer schwerer geworden." Lebendig erhalten sie das Kind, kleine Sinnenfreuden, der tägliche Kontakt mit den Nichtleitenden, Unteren, hier: Krankenschwestern, bei denen sie sich wieder "auflädt" (Wander 1978, 199f.).

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als für den Mann, ist ein wesentliches Symptom der konkreten Beschaffenheit einer Gesellschaft. Dies insbesondere im Falle der ledigen Mutter (vgl. a. Hauptmann 1985). Eine 24jährige Facharbeiterin sprach davon, kombiniert mit einem in der DDR verbreiteten, öfters auch kritisierten, Muster der Familien- und Generationsbeziehungen: "Meine Eltern, fortschrittliche Menschen, wa, aber die Erziehung von uns Kindern - furchtbar! Die Mädchen mußten schuften, die Jungs hatten ,n feinet Leben. Nach dem Tod meines großen Bruders haben meine Eltern den einzigen Jungen, den sie nu noch hatten, noch mehr verwöhnt. ( ... )" (Wander 1978, 36). Die junge Frau war, ähnlich wie ihre jüngere und anders als ihre ältere Schwester, immer ein braves, angepaßtes Kind. "Mit mir haben sie keene Schwierigkeiten jehabt, schulisch und so. Iek hab mir nie irgendwelche Sachen jeleistet, wo35 man tadeln könnte. ( ... ) Mensch, nach der Schule immer gleich nach Haus, hab saubergemacht, bin nie wegjegangen ( ... ) Der große Einbruch ist erst gekommen, wie ich det Kind gekriegt hab, wa? Da ist die Welt für meene Eltern eingestürzt." (ib.) Ein noch allgemeineres Problem war das der Alleinstehenden. Das Dasein ohne einen ständigen Geschlechts- und Lebenspartner scheint für Männer belastender zu sein als für Frauen (zu Alleinstehenden vgl.: So 1979 I 7, 8; So 1979/12, 8; So 1975/30, 7f.; zur Problematik der alleinstehenden Mutter bzw. des unehelichen Kindes: Wander 1978, 36ff.; Schubert 1980, 145ff.; Pross 1971, 82ff.; DDR-Handbuch 1985, 376). Traditionelle Muster waren auch sonst keineswegs selten. Etwa in der Zweitrangigkeit, die Handwerkerfrauen nicht nur im gesellschaftlichen Leben, sondern auch in der Familie zudiktiert wurde, wo sie überwiegend in der alten Weise als bloße Hausfrauen agierten (vgl. Harm 1971, 47); in der starken Unterrepräsentation weiblicher Studenten in den technischen Wissenschaften bei gewisser Überrepräsentation in Medizin und Wirtschaftswissenschaften sowie starker Überrepräsentation in Pädagogik (Husner 1985, 28); in den konventionellen Klischees von Heiratsanzeigen in der DDR-Presse (Pfister u.a. 1982) oder den konservierten geschlechtsspezifischen Rollenmustern im Sport. Sportlehrer im Studentensport betonten die insgesamt aktivere Rolle und das größere Leistungsstreben der männlichen Studenten; Studentinnen dagegen seien disziplinierter, williger und leichter zu fuhren, auch sensitiver für Forderungen und Wertungen, fur Lob und Anerkennung; kritischer wertend, ernster in der Einstellung, aber schneller resignierend. Typische Muster für Benachteiligte, ,Geführte', Minderberechtigte (vgl. Thiele in: TPK 1984 / 12, 882ff.). Ähnlich deutet sich z.B. in den Präferenzen fur den Stil der Wohnungseinrichtung eine gewisse größere Neigung von Frauen zu gesicherten, erprobten, wenig experimentel35 Hier müßte wohl im Zusammenhang des Berliner Dialekts "wat" stehen. Vielleicht hat die Österreicherin Maxie Wander eine Tonbandstelle versehentlich in dem ihr vertrauteren Dialekt gehört.

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len oder speziellen Mustern an (vgl. Silbermann 1993, 136). Grundsätzlich gleich, in vielem deutlicher ausgeprägt, erschien diese Rollenfestlegung in der sowjetischen Gesellschaft (vgl. Hansson I Li den 1983; dazu Helwig in: DA 1984111, 1215f.; Ruban u.a. 1983, 86ff.). Eine spezielle Belastung war, daß in der DDR im Zuge der intensivierten Wehrerziehung Frauen verstärkt für die sog. Zivilverteidigung herangezogen wurden (vgl. Gerda Weber in: DA 198215, 462f.). Ein Faktor in den überkommenen Rollenprägungen (zu diesen s.a. Stein Hg. 1985a) ist die weibliche, durch die familiäre und gesellschaftliche Sozialisation verinnerlichte Perzeption eines Über-Mannes in Gestalt des Vaters wie des Lebenspartners, auch des älteren Bruders (Wander 1978, 177ff.; 97f., 113f.; 37). Die Bedeutung, die emotionale und sexuelle Partnerbindungen speziell für die weibliche Hälfte der Bevölkerung haben und deren Hypertrophie als Symptom für den unentwickelten Zustand einer Gesellschaft gelten kann, weist unter heutigen ,industriegesellschaftlichen' Verhältnissen eine charakteristische Gebrochenheit auf, die in dokumentierten Äußerungen von Frauen aus der DDR gut zum Ausdruck kam (vgl. Wander 1978, 191, 193ff., 200f. u.a.; s.a. die Einleitung von Christa Wolf: ib., 14ff.). Die soziale Ungleichheit reflektiert sich in den geschlechtsspezifischen Mentalitätsprägungen. Zugehörige männliche Klischees wurden in der Endzeit der DDR auch dort zum Thema von Veröffentlichungen (Ch. Müller 1986; Lambrecht 1986; Eva Kaufmann in NDL 198713, 134ff.; NDL 1987 12, 162ff.; Barckhausen 1989; Lambrecht 1989; s.a. Typisch 1989). Die Befragungen zeigten die DDR-Männer voll befangen in den Stereotypen, nach denen sie sozialisiert wurden. "Vor Frauen posieren sie, wie gehabt, signalisieren Potenz und Stärke ( ... ) Sie rechtfertigen ihre zum Teil banalen Fehlschlüsse, liefern Ansichten und bieten wohlmeinend ichzentrierte Lebensentwürfe an. Es ist wie am Biertisch ( ... )"(I. Runge in So 1986128, 4). Nach der Wende werden in Ostdeutschland ehemalige sozialistische Fortschritte, die in DDR-Zeiten schleichend ausgehöhlt und schrittweise rückgängig gemacht wurden, offen konterkariert und abgeschafft. Ein gravierender Vorgang ist mit dem § 218 StGB (Schwangerschaftsabbruch) verbunden (Ende 1992). Die gegenüber der männlichen disproportional höhere Frauenarbeitslosigkeit verstärkt den Druck in Richtung traditioneller Geschlechterrollen- und Familienstrukturmuster (s.a. Helwig 1991). Die Wiederherstellung von Zuständen, die in den Umwälzungsprozessen nach 1945 schon einmal überwunden worden waren (vgl. Mocker u.a. 1990; Mocker I Sauer 1991; Klier 1991; SüßmuthiSchubert 1991; Helwig i Nickel Hg. 1993; Nickel 1993), erschöpft sich jedoch nicht in einer platten Rückkehr zu Althergebrachtem. Es gibt keinen Grund, die DDR-Zustände nachträglich zu rechtfertigen, etwa in der Art der langjährigen Konformistin Grandke (1990) mit ihrem Familien-Traditionalismus (dazu hier in 8.4.5; s.a. Bertram u.a. 1992).

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Der Zusammenbruch der DDR hat auch neue Möglichkeiten eröffnet. Er hat scharf und klar konturiert, was realsozialistische Fäulnis mit einem Wust von falschem Bewußtsein verwischen wollte, und er hat engstirnige Reglementierungen und überlebte Bevormundungen beseitigt, die der Selbstbestimmung der Frauen entgegenstanden.

4.3 Patriarchat und Alternativen In China wurde im Zuge der realsozialistischen Konterrevolution, die der Ex-Kommunist Deng Xiao-ping mit seinen Anhängern prägte, als Argument gegen Frauenansprüche vorgebracht, das Patriarchat sei ein historischer Fortschritt gewesen (zit. in SZ, 4.3.1986, 44). Derartiges hätte ebenso in die Ideologiestrukturen der Männerherrschaft in der DDR gepaßt. Die Unlogik der These stimmt zur Sache. Selbst wenn das Patriarchat in grauer Vorzeit ein ,Fortschritt' gewesen sein sollte - in ähnlichem Sinne, wie es die Sklavenhaltergesellschaft gegenüber der ursprünglichen herrschaftsfreien Gesellschaft mit ihrer weitgehenden sozialen Gleichheit war -, so besagt das nichts über seine heutige kulturelle Qualität, ganz abgesehen davon, daß nach der Offizialideologie der Leute, die solche Argumente gebrauchen, bisher jeder Fortschritt in der Geschichte zugleich ein relativer Rückschritt in der Kultur gewesen ist (vgl. MEW 21, 171). Für die Männerherrschaft in der DDR wurde in der westlichen Forschung zwischen den Aspekten des Patriarchalismus, des Paternalismus und des Patrimonialismus unterschieden. Patriarchatismus bezeichne als Element ("Teilmoment") des bürokratischen Sozialismus zunächst allgemein die tradierte Vorherrschaft des Mannes, des "Männlichen und Väterlichen" in Gesellschaft und Politik. Diese Dominanz sei besonders in vier Dimensionen zu beobachten: 1. in der gesellschaftlichen und politischen Machtverteilung zwischen Männern und Frauen, in der Herstellung und Reproduktion geschlechtsspezifisch geprägter Machthierarchien am Arbeitsplatz, in Verwaltung und Politik; 2. in der Orientierung an "männlichen Werten" bei der Ausrichtung des Handelns, in den Strukturen und der Funktionsweise wichtiger Institutionen vornehmlich in den Bereichen Sozialisation, Arbeit und Politik; 3. in den politisch-sozialen Einstellungen und Verhaltensweisen, in der politischen Kultur der Bürger und den faktisch wirkenden Nonnen öffentlich wahrnehmbaren Handelns; 4. in familialen und persönlichen Beziehungen, insbesondere in den autoritär patriarchalischen Familienbeziehungen, im alltäglichen Sexismus von Männem gegenüber Frauen, in der Geringschätzung reproduktiver Arbeit

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vor allem der Frauen gegenüber der vorwiegend männlichen Arbeit in der industriellen Produktion (und in anderen Bereichen, zumal in leitenden Positionen). Patriarchatismus ist so ein gesamtgesellschaftliches Charakteristikum und Determinante öffentlichen Handelns, Männer und Frauen unterschiedlich betreffend, auch hinsichtlich ungleicher Verinnerlichung der herrschenden Muster. Dies verfestigte sich durch in der DDR virulente Traditionen, neben denen der preußisch-deutschen Vergangenheit auch durch die selbst in der sozialistischen und kommunistischen Bewegung weithin herrschende Frauenfeindlichkeit. Die Dominanz männerherrschaftlicher Muster wurde dabei durch das hohe Gewicht von militärischen Elementen im Realsozialismus verstärkt (Meyer I Rahmeis 1986, l 03- 108). Unter Paternalismus werden die Strukturmerkmale gesamtgesellschaftlicher Herrschaftsbeziehungen verstanden, "in denen politisch-aministrative Macht als väterliche Autorität und wohlwollende Fürsorgepolitik gegenüber den Beherrschten ausgeübt" werde. Dieses Entmündigungsmuster betrifft zwar grundsätzlich beide Geschlechter, doch ebenfalls mehr die Frauen. Ihnen wurde z.B. schon durch die gesetzlichen Regelungen die Sorge um die Kinder nahezu ausschließlich zugewiesen. Erst wenn auch die Großmütter nicht herangezogen werden konnten, traf es die Väter der Kinder (ib., 108, 109f.). Patrimonialismus schließlich meint die undemokratische Machtausübung und Eliterekrutierung durch die herrschende, extrem minoritäre Oligarchie, worin das Moment der Frauendiskriminierung mit enthalten ist (ib., 114f.). Die Auswirkungen der Situation finden sich in den Äußerungen betroffener Frauen wieder. Über faktische Flucht in die privaten Beziehungen und über Resignation hinaus - genauer: in diese verwoben - findet sich das Bewußtsein der Entmündigung. "Etwas beschäftigt mich, daß ich nur für einen relativ kleinen Kreis zuständig bin und im übrigen alles hinnehmen muß, was geschieht. Trotzdem kann ich nicht die Augen verschließen. Ich möchte einfach mehr machen als meine (vorgeschriebene - WR.) Pflicht, und das ist nicht durchzuhalten." (Wander 1978, 199). Daraus ist der Schluß möglich, der hier nicht gezogen wurde, es gelte Zustände herzustellen, in denen die I der einzelne nicht nur im engen eigenen Kreis arbeiten, sondern auch die allgemeine Sache betreiben kann, und worin dies nicht nur durchzuhalten, sondern als Lebensbedürfnis und Lebensnotwendigkeit erfordert ist. Einen wesentlichen Gegenentwurf zur realsozialistischen Wirklichkeit hat insbesondere Christa Wolf in ihrer literarischen und publizistischen Arbeit über Jahre herausgearbeitet. Im Zusammenhang mit den eigenen Aussagen realer Frauen aus der DDR stellte sie die Frage, die für die Problematik tatsächlicher Gleichheit der Geschlechter fundamental ist: Kann die Gleichstel-

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Jung der unterprivilegierten Frauen darin bestehen, daß sie all das tun dürfen, was die Männerüberkommenerweise tun? Was tun die überhaupt? (in: Wander 1978, 17). Muß nicht die Alternative hier schon beginnen? Muß nicht statt Eindringen in die hierarchisch funktionierenden Apparate der Männer deren Ablösung durch unmittelbares Miteinander der Menschen angestrebt werden? (vgl. ib., 18). Die historische Entwicklung und die entstandene gesellschaftliche Situation eröffnet den Frauen Wege zur Überwindung der erstarrten Herrschaftsstrukturen - mit ihrer Allgegenwart in der Gesellschaft und ihrer Prägung aller Mentalität - und damit die Möglichkeit, "einen Lebensanspruch für Männer mit auszudrücken" (ib., 19). Frauen streben nicht mehr nur nach Gleichberechtigung, sondern sie suchen nach neuen Lebensformen. Dem äußerlichen Nützlichkeitsdenken und Pragmatismus der herrschenden Männe~ 6 setzen sie Vernunft, Sinnlichkeit, Glückssehnsucht entgegen - eine authentische Vernunft gegen den entfremdeten (Schein-)Rationalismus, der so tut, als "könne eine Menschheit zugleich wachsende Anteile ihres Reichtums für Massenvernichtungsmittel ausgeben und ,glücklich' sein; als könne es ,normale' Beziehungen unter Menschen irgendwo auf der Welt geben, solange eine Hälfte der Menschheit unterernährt ist oder Hungers stirbt. Das sind Wahnideen. Es kommt mir vor, daß Frauen, denen ihr neu und mühsam erworbener Realitätsbezug kostbar ist, gegen solchen Wahn eher immun sind als Männer. Und daß die produktive Energie dieser Frauen deshalb eine Hoffnung ist." (ib.) Was Christa Wolf anführt, sind keine speziellen Frauenprobleme, sondern die gegenwärtigen Lebensfragen der Menschheit. Ebensowenig ist die Durchsetzung von Vernunft gegen den herrschenden offenen oder getarnten Irrationalismus eine ,Frauenfrage' im überkommenen · Verständnis. Es sind die Fragen, in denen Frauen "einen Lebensanspruch für Männer mit ausdrücken" können. In der DDR waren die herrschenden Männer dabei, den Zustand weitgehender Entmündigung der Frauen wieder mit Schmus im Plüschstil vergangener Zeiten zu umhüllen. Im Kontext von Kulturtheorie hieß es, "welchen Grund sollte ausgerechnet die sozialistische Gesellschaft haben, all die vielfältigen und angenehmen Kulturformen nicht zu pflegen und weiterzubilden, in denen die Männer Ergebenheit und Liebe zum ,schönen Geschlecht', die Kinder Anhänglichkeit, liebevolle Verehrung und Hochachtung gegenüber den Müttern zum Ausdruck brachten?" (Koch u.a. 1982, 227). Nicht zuletzt 36 Georg Simmel hat schon Anfang des Jahrhunderts die Eigenständigkeit weiblicher Perzeptions- und Handlungsweisen gegenüber den dominierenden männlichen hervorgehoben, allerdings - wie nicht selten auch bei anderen Autoren, die diese Problematik behandeln - nicht frei von einem gewissen Absolutsetzen von Geschlechterdifferenzen, die in Wirklichkeit historische Prägungen bestimmter Gesellschaftsformationen sind (vgl. Weibliche Kultur, in Simmel 1919, 254ff.; s.a. Habermas in Simmel 1983a).

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in solcher Verallgemeinerung von platt idealisiertem, nicht problematisiertem bürgerlich/kleinbürgerlichem Erbe (s.a. in 15.4.2) äußerte sich der Sexismus, die vorwiegende männliche Einstellung zur realen Ungleichheit der Geschlechter in der DDR (s.a. Ibrahim in KpWb 1983, 21lff.; vgl. Abb. X). Nach der Wende im Osten Deutschlands sind einerseits die Herrschaftsverhältnisse deutlicher, weniger verstellt hervorgetreten, andererseits bieten die neuen politischen Freiheiten ungleich günstigere Möglichkeiten fiir eigene Aktivitäten, als sie vordem bestanden. Davon machen die Frauen Gebrauch (Rohnstock Hg. 1991; s.a. Frauen 1990). Auf dem Hintergrund der allgemeinen Situation, die fiir die Frauen ungünstiger ist als fiir die Männer, entwikkeln sich Elemente von Selbsttätigkeit, die in DDR-Zeiten weitgehend ausgeschlossen waren (vgl. Wald 1992; Luxus 1992). Dazu gehören Fortschritte im Feminismus (Diehl 1992 u.a.) bis hin zu einer Lesben-Bewegung, die sich schon seit den 70er Jahren trotz vielfacher Behinderungen entwickelt hat (Sillge 1991 ).

5. Unterschiede nach Altersgruppen Die DDR gehörte zu den heute nicht vielen Ländern der Erde, deren Bevölkerung nicht zu-, sondern abnimmt. Von 1946 bis 1986 ging die Bevölkerung auf ihrem Territorium einschließlich Berlin I Ost von fast 18,5 Mill. auf 16,624 Mill. zurück, d.h. um fast 1,9 Mi1l. oder mehr als 10% (vgl. DDRHandbuch 1985, 213, Tab. l; Stat TB 1987, 13). Im westlichen Deutschland wuchs die Bevölkerung in dieser Zeit von 46,2 auf 61,3 (1983) Mill., also um über 30%, zum Großteil durch Zuwanderung aus der DDR und Zuzug ausländischer Arbeiter (Zahlenspiegel 1985, 7). Die Bevölkerungsdichte im Gebiet der beiden Staaten entwickelte sich so: Tabelle 7 Bevölkerungsdichte DDR-BRD

1939

1950

1982

Gebiet BRD mit Berlin (W)

173

201

248

Gebiet DDR mit Berlin (0)

155

171

154

Quelle: Zahlenspiegel 1985. 6.

Das heißt, in der DDR war die Bevölkerungsdichte inzwischen geringer als im gleichen Gebiet 1939, im westlichen Deutschland dagegen um mehr als 40% höher.

5. Unterschiede nach Altersgruppen

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Die Bevölkerungsabnahme ging in der DDR fast kontinuierlich vor sich. Seit Anfang der 80er Jahre stagnierte die Bevölkerungszahl bei langsamer weiterer Verminderung zwischen 16,7 und 16,6 Mill. 37 Die großen Bevölkerungsverluste durch die Fluchtbewegung, die die DDR mehrere Mill. Menschen gekostet hatte (vgl. DDR-Handbuch 1985, 418ff.), fanden bis Mitte 1989 nicht mehr statt, doch die Förderungsmaßnahmen fur Mutter und Kind brachten es auch nicht dahin, wenigstens den weiteren Schwund aufzuhalten (s.a. Kriiger I Fritz 1981 ).

5.1 Nichtjugendliche Erwerbstätige und Hausfrauen Diese demografische Gruppe, die Altersklasse der erwachsenen Arbeitsfahigen, wird in anderen Zusammenhängen mehrfach behandelt (in den meisten Differenzierungen von Kap. 3, in Kap. 4, 6, 7, 8 u.a.). Hier sei nur kurz auf eine der - neben den Hausfrauen - anderen Problemgruppen innerhalb der demografischen Einheit verwiesen, auf die berufstätigen alleinstehenden Mütter. Ein relevantes Dokument dazu enthält die Sammlung von Maxie Wander. 38 Es macht Schwierigkeiten aus der konfliktträchtigen Spannung 37 Die Bevölkerungsabnalune, die die Statistik ausweist, wurde von der offiziellen DDR nicht geleugnet, aber es wurde zugleich eine strukturelle Verbesserung der Bevölkerung perzipiert. Der Altersaufbau habe sich seit Mitte der 70er Jahre zugunsten der arbeitsfahigen Bevölkerung verändert, der Anteil von Kindem (!) und Rentnern sei zurückgegangen. Die Verstädterung nelune zu, die durchschnittliche Lebenserwartung habe sich erhöht (D. Meyer 1981 ). Da aber die einfache Reproduktion der Bevölkerung "zur Zeit noch nicht erreicht werden kann" (Steiner u.a. 1985, 18; s.a. Schmidt I Gläser 1982), mußte sich aus der höheren Lebenserwartung wiederum eine Verschlechterung der strukturellen Zusammensetzung ergeben. Im Unterschied zur DDR wuchs die Bevölkerung der UdSSR weiterhin beträchtlich, doch sanken die Wachstumsraten, und der Zuwachs war ungleiclunäßig hoch. Hoch war er in Mittelasien und Kaukasien, niedrig bei den slavischen und baltischen Völkern, die im Verband der UdSSR lebten. Die Lebenserwartung stagnierte und war zum Teil sogar rückläufig (vgl. Ruban u.a. 1983, 39ff.). Ferner war hier für die Bevölkerungsstruktur von Bedeutung die große horizontale Mobilität in Migration und Urbanisierungsvorgängen (ib., 55ff., 66ff.).

38 Eine 22jährige Kellnerin mit fünfjährigem Sohn lebt in ziemlich harten persönlichen Umständen, auch durch äußere Schwierigkeiten (die aber keine soziale Notlage mit sich bringen), mehr infolge einer hohen persönlichen Erwartung gegenüber dem Leben, den Mitmenschen, der eigenen Konsequenz. Die Zuwendung für das Kind, die offenbar keine existente außerfamiliäre Instanz hervorzubringen in der Lage ist, schafft für die Frau ein ebenso berufliches wie persönliches Dilemma. Sie sagt: "Ach, der Kleine! Der ist mein ganzes Problem. Nun ist er schon fünf ( ... ) ich verurteile mich selber zu den härtesten Pflichten. Und kein Mensch fragt danach, wieviel Überwindung mich das kostet. Ich kellnere zum Wochenende fast nie, obwohl mir dadurch das meiste Trinkgeld verlorengeht Ich vergesse, wie jung ich bin, nur um den Kleinen rechtzeitig aus dem Heim zu holen. Dann verbringen wir die ganze Zeit zusammen, und ich sehe zu, daß mich keine Männer besuchen. Aber der Kleine hat Männer gern, weil er im Heim nur mit Frauen zu tun hat. Der ist ganz ausgehungert nach einem Vater. Ich lebe mit dem Kleinen wie Mann und Frau.

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zwischen Arbeit, Kind, Partnerbeziehung, ,Familie' deutlich, die für Alleinstehende besonders groß waren, die aber nach allen Erfahrungen und Erhebungen für alle erwachsenen Berufstätigen bestanden, die den komplexen und konfligierenden praktischen Rollenerwartungen als ,Werktätige', Geleitete oder Leiter, Mutter I Vater, Beziehungspartner usw. ausgesetzt waren. Sie spitzen sich zu, wenn Konformität mit den herrschenden Sozialisationsmustern nicht mehr fraglos gegeben ist. Die soziale Gruppe der Hausfrauen ist im Grunde ein Produkt allgemeiner und spezieller Rückständigkeit in der industriellen Gesellschaft, hier einer realsozialistischen. Innerhalb der einschlägigen Wissenschaft in der DDR gab es Beiträge; die das wirkliche Problem ansprachen: nicht Arbeitsteilung nach Geschlechtern, auch nicht schlechtweg gleichmäßige Verteilung der Hausarbeit, sondern deren Reduzierung. Ohne das könne es keine reale Gleichberechtigung der Frauen geben (Klenner 1984, 34). Die Frauen in der DDR leisteten mit durchschnittlich 3,8 Stunden täglich das 2,2fache an Hausarbeit als die Männer und hatten dabei im Durchschnitt nur 78% von deren Freizeit (ib.; s.a. in 8.4.5). Für die Verminderung der Hausarbeit gebe es zwei Wege, weitere Technisierung und weitere Vergesellschaftung. Neue Möglichkeiten, moderne technische Geräte im Haushalt anzuwenden, müßten sehr sorgfaltig auf ihre ökonomische Rationalität geprüft werden - ein indirekter Hinweis auf die in der DDR bestehenden wirtschaftlichen Grenzen für technische Modernisierung auf Gebieten, die weder politisch noch militärisch als vorrangig galten. Reserven gebe es noch bei der Vergesellschaftung, bei Wäschereiund Reparaturleistungen, Fertiggerichten usw. (ib., 35f.). Unter der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (Männer: 15-65, Frauen: 15-60 Jahre) war der Anteil der beiden Geschlechter nur wenig unterschieden. Er betrug jeweils zwischen 5,2 und 5,5 Mi!!. (1983-1985; Stat TB 1986, 146). Von den arbeitsfähigen Frauen sind in den 70er und 80er Jahren etwas über bzw. etwas unter 80% berufstätig gewesen (DDR-Handbuch 1985, 447). So verblieben von über fünf Millionen arbeitsfähigen Frauen immerhin über eine Million Hausfrauen. Dazu kamen noch verkürzt arbeitende Frauen und Heimarbeiterinnen: Halbhausfrauen sozusagen. 1974 stellte die DFDVorsitzende fest, in der DDR gebe es fast 2 Y7 Mill. Frauen, die vorwiegend

Ich behandle ihn nicht wie ein Kind, weil ich das so furchtbar gefunden hab, wie sie mit mir umgesprungen sind, ich gehorche ihm sogar, weil er so praktisch veranlagt ist und weil ( ... ) ich es schön finde, wenn sich jemand um mich kümmert." Im Traum pfeift sie zusammen mit dem höchlichst amüsierten Kind auf die bevorstehenden Schulzwänge. Dabei ist da keine prästabilierte Übereinstimmung: "Seine Interessen und meine, die gehn vollkommen auseinander. Und es gibt keinen Menschen, der würdigt, daß ich es trotzdem versuche." Männer will sie, zur Lust, aber nicht zu nahe, das n,ervt sie. Also: "Der Kleine kriegt nie einen Vater! Mit mir nie! Stell dir vor: In zehn Jahren ist er fiinfzehn, und ich bin erst zweiunddreißig, das wird doch irre." (Wander 1978, 84 I 85, 86)

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über das Wohngebiet - nicht über die Betriebe - für politische und gesellschaftliche Beteiligung zu gewinnen seien: 1.031.000 nicht-berufstätige Frauen bis 60 Jahre, knapp eine weitere Million, die verkürzt arbeiteten, über 170.000 Frauen in vorwiegend kleinen Privatbetrieben und viele Heimarbeiterinnen (vgl. Gerda Weber in: DA 1975 I 4, 352). Da sich Bevölkerung und Anteile seitdem nicht wesentlich verändert hatten (s. DDR-Handbuch 1985, 447; Stat TB 1986, 146), ist zu schließen, daß nahezu die Hälfte aller Frauen im arbeitsfähigen Alter nicht oder nur partiell im regulären Arbeitsleben stand - eine bedeutsame Korrektur des Bildes von den ganz überwiegend berufstätigen DDR-Frauen und ein Hinweis auf das beträchtliche Gewicht, das die Bevölkerungsgruppe der Hausfrauen und "Halbhausfrauen" für die DDR-Gesellschaft hatte. Nur 1 I 3 aller berufstätigen Frauen arbeiteten in der Industrie (DDR-Handbuch 1985, 447). Verbreitet war, wie auch im westlichen Deutschland, daß Frauen nur deshalb berufstätig waren, weil das Familieneinkommen sonst zu gering gewesen wäre: als bloße Zuverdiener (vgl. Leciejewski in DA 1987 I 6, 61 0). Die Wirkung bloßer Häuslichkeit auf eine nach Entfaltung strebende Frau hat Christa Wolf in ihrem ,.Nachdenken über Christa T." gezeigt (Wolf 1977a, 22 u.ö.; s.a. Rossade 1982, 40 lff. ).

5.2 Jugendliche Nach den üblichen Einteilungen gelten als Jugendliche die Angehörigen der Altersgruppe von etwa 12114 bis etwa 25 Jahre, gegen das zunehmende Alter abgegrenzt zu den Erwachsenen, gegen das abnehmende zu den Kindem. Die Lebensjahrziffern sind nur ein ungefahres Hilfsmittel, da es große Gruppen- und individuelle Unterschiede bei den Übergängen gibt, die die Altersgruppe der Jugendlichen als Periode zwischen physiologischer Geschlechtssreife und ,sozialer Reife' definieren (vgl. Schiffer 1977, 18; Kreutz 1980, 26). 5.2.1 Parteijugend und entfremdeter Jugendkult

Gewinnung der Jugend für ein soziopolitisches System ist eine nicht unwesentliche Garantie fiir dessen Bestandssicherung in die Zukunft. Die Jugendorganisation der DDR, die FDJ, war das Nachwuchsreservoir der SED. Als Zeichen für die Bedeutung der Jugend wie für Leistung als den dominierenden Aspekt, unter dem sie von der offiziellen DDR gesehen wurde, kann gelten, daß die Abteilung "Jugend" des Zentralkomitees der SED ebenso wie dessen Abteilung "Sport" dem ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen zugeordnet war, dem auch sämtliche bewaffneten Formationen unterstanden. Damit ist auch der militärische Bereich angesprochen, für den die Jugend noch wichtiger ist als für andere und der in einer realsozialistischen Gesellschaft politisch sehr hoch gewichtet wurde.

llO

A. Lebensstile

Der moderne Kult mit der und um die Jugend ist durch und durch historisch gesellschaftlich und in keiner Weise ,natürlich' bedingt; Jugend dabei verstanden mehr als Zustand denn als bestimmte Altersklasse, obwohl von dieser nicht gänzlich abstrahiert werden kann. Der Realsozialismus trug dazu nichts grundsätzlich Eigenes bei. Der Mythos Jugend ist ein Produkt der Industriegesellschaft um die vorige Jahrhundertwende, mit zumindest potentiell starken emanzipatorischen Elementen, aber auch Momenten des Eskapismus und der ideologischen Verstellung soziahistorischer Realitäten (vgl. Koebner u.a. 1985). Das zweite Moment findet sich ausgeprägt im amerikanischen Jugendkult, der zum Teil auf Infantilismus und lnfantilisierung der Kultur hinausläuft (dazu: Rosenmayr 1976, 19ff.). Die zugehörige Fetischisierung von unverbrauchter Frische, Körperschönheit, Elan und Dynamik kommt, soweit sie den herrschenden Mustern der Konsumgesellschaft - damit des Kommerz - verhaftet ist, im Grunde nicht weiter als die Spiegelung modisch gestylter Jugendlichkeit im Inferioritätssyndrom eines nicht mehr ganz jungen Mannes in einem Stück von M. Walser: "( ... ) rundherum wimmelt es von Vierundzwanzigjährigen. Und Felix fühlt sich fast als Mann. Falls überhaupt noch, denkt er, dann mit denen. Hier gilt, was bewußtlos macht. Und das bist nicht du. Das sind sie. Die jungen Geschöpfe. Vollkommen wie ein guter IndustrieartikeL Die qualifizierte erotische Norm. Was darunter bleibt, kommt nicht in Frage" (Walser, Die Zimmerschlacht; zit. in Stein Hg. l985b, 239). Es besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen Jugendlichkeit als scheinhaftem oberstem Wert in Kommerz, Vergnügungsindustrie, Leistungsmustern und tatsächlicher Gerontokratie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die ideologische Verhimmelung der Jugend im Kontrast zu ihrer sozialen Entmündigung und Benachteiligung durch den westlichen Kapitalismus hatte ihre Entsprechung in dem Grundmuster des Realsozialismus, daß politisch-ideologische Hochbewertung der Jugend und ihre Instrumentalisierung für die bestehende Herrschaft kein Pendant in der gesellschaftlichen, politischen und soziokulturellen Position der Jugendlichen fand. Analog zu den Frauen waren auch die Jugendlichen nicht Subjekt von Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit, sondern Objekt von "Förderung" durch die paternalistische und patriarchalische Herrschaft, die im wesentlichen von älteren Männern ausgeübt wurde. Das in der realsozialistischen Eigendarstellung gepriesene Grundmuster der Förderung schloß herablassende Bevormundung der Geförderten ein, die durchaus aktiv werden sollten, aber innerhalb des vorgegebenen Rahmens. Jugend konnte dabei als bloßer Mangelzustanq erscheinen, etwa im Zusammenhang von ,sozialistischer Persönlichkeit', die nur als Produkt der Erziehung durch Partei, Staat, gesellschaftliche Organisationen und Arbeitskollektive entstehen könne. In diesem Prozeß, wurde gesagt, "nehmen Eigenverantwortung und Selbsterziehung mit wachsendem Alter (.. ,) ständig zu" (Wonneberger Hg. 1982, 432; zu jungen Künstlern: So 1972/29, 3f.; über "Be-

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währungsmöglichkeiten ohnegleichen": So 1981/7, 8). Je jünger also Frau oder Mann, desto weniger Eigenverantwortung stand ihnen zu, wohl weil die Selbsterziehung gemäß verinnerlichten vorgegebenen Normen noch nicht stabil genug war. Revolutionen waren immer durch das jugendliche Alter ihrer Akteure gekennzeichnet. Der post- und konterrevolutionäre Zustand trägt den Stempel der Greise, die ihn verwalten. Das dominierende Erziehungsziel war nicht Befähigung der Jugend zu Selbständigkeit und Gewinnen eigener Erkenntnisse, sondern Sozialisation zu selbstgewollter Einordnung in Muster, die von den Herrschenden vorgegeben wurden (s.a. Grunenberg 1990, Kap.III; Literaturbericht von Anweiler in DA 1995 / 6, 660ff.). 5.2.2 Herrschende Muster

Der ,industriegesellschaftlichen' Entwicklung des Realsozialismus gemäß waren die grundsätzlichen Lebensstilprägungen der Jugendlichen in der DDR von denen im westlichen Deutschland nicht qualitativ verschieden (vgl. schon Jaide/Hille Hg. 1977; Baske/Rögner-Francke 1986). In der Presse fand sich mehr zu Arbeit und Beruf als im Westen, auch mit bemüht zuversichtlicher Tönung, abgehoben von der Stimmung der "Nuli-Bock"-Generation im Westen (siehe z.B. NL 1977110, 4; 197711,8; 1978 / 11 , 18ff.; 1980/11, 2). Es hieß, spezifische Persönlichkeitsprägung ergebe sich "aus dem praktischen Lebensprozeß der Heranwachsenden unter den Bedingungen ihrer konkrethistorischen Gesellschaft", aber die konkrete Historie trat zurück gegenüber Allgemeinheiten: "Die heutigen Teenager (sie!) denken und verhalten sich häufig anders als die Jugendlichen vor 25, 20 oder 10 Jahren." (WZ KMU 1984/2, 248). Das entsprach der generellen Ersetzung formationsspezifischer Charakteristika durch allgemeine oder als allgemein geltende der "Epoche" (s.a. 6.2, 6.3, 10.2.1). Das Kolloquium zur Jugendforschung, von dem die zitierten Sätze stammen, konzentrierte sich auf: Erforschung des Leistungsverhaltens bei Jugendlichen, Einstellungsdiagnostik bei Jugendlichen, Durchführung von Intervall- und Experimentalstudien. Weitere Themen waren Jugendpolitik und Jugendverband (FDJ); Arbeit, Bildung und Beruf; Intelligenz, Begabung und Schöpfertum. Zugleich tagte die Arbeitsgruppe "Bildung und Sozialstruktur" einer multilateralen Problernkommission der Akademien realsozialistischer Länder zum Thema "Wechselbeziehungen sozialer Mobilität, Sozialstruktur und Bildung" in diesen Ländern (WZ, a.a.O., Anm. I; vgl. in 3.1, 15.2.2, 15.3). Einstellungsuntersuchungen zumal zu Ehe und Familie zeigten ein großes Beharren tradierter Muster. Andererseits machten massenpublikatorische Ausrichtungen in der DDR etwa zum Thema "Mädchen heute" deutlich, daß die vordergründig realsozialistischen Inhalte durchweg auf einem Hintergrund klischeehafter überkommener, als quasi anthropologisch hingenommener Prä-

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gungen bestanden. Die tatsächliche Lebenspraxis der Jugendlichen in der DDR entsprach bis weit in die jeweils aktuellen Moden hinein den im westlichen Deutschland und anderen vergleichbaren westlichen Staaten geltenden Mustern (vgl. bes. 6.3ff.). 39 Dazu gehörte nicht zuletzt auch das Liebes- und Sexualleben der jungen Menschen, in dem realsozialistische Spezifika praktisch nicht vorhanden waren, dafiir tradierte Einstellungen und Übereinstimmungen mit der anderen deutschen Gesellschaft, eingeschlossen die überkommene Rollenteilung nach Geschlechtern (vgl. Starke I Friedrich 1984, 131 ff., 146ff. u.a.; s.a. in 13.2). Diese Rollendifferenzierung herrschte in der DDR auch in viel alltäglicheren Zusammenhängen schon bei Kindern, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen wird. Aufschlußreiche Ergebnisse würde wahrscheinlich eine Untersuchung liefern, die in der vorliegenden Arbeit nicht angestellt werden kann: eine Konturierung des Jugendlichen-Typus, wie er in der offiziellen und konformistischen Eigendarstellung der DDR erschien, mit zwei kontrastierenden Typen, dem der sowjetischen revolutionären Frühzeit und dem der NS-Zeit in Deutschland. Der eine gehört zu der Tradition, auf die sich der Realsozialismus auch in der DDR berief, der andere zu der nationalen Geschichte, die auch fiir die DDR eigene Vergangenheit darstellte. Ein soziokulturelles Manipulationsmuster, mit dem die Herrschaftstechnik der DDR-Obrigkeit arbeitete, nutzte den Vorsprung des westlichen Deutschland in Technik und Konsumgüterangebot bzw. die Wirkung dieses Vorsprungs auf die Bevölkerung der DDR sehr bewußt, um die Menschen in der DDR im Bann von Konsumglück und Konkurrieren um die günstigeren Anteile daran zu halten und von den echten Problemen ihrer sozialen und politischen Situation abzudrängen (vgl. in 6.3). Diesem Verfahren, das in den Zusammenhang der gelenkten Entpolitisierung der DDR-Gesellschaft von oben gehört, waren die Jugendlichen infolge der bei ihnen vorherrschenden kulturellen Prägungen noch mehr ausgeliefert als die erwachsenen und die älteren DDR-Bürger.

39 Zum Jugendjargon vgl. Osch/ies in: B 1986/40- 41; Marg. R einemann 1989. Zum äußeren (punkhaften) Erscheinungsbild von DDR-Jugendlichen s. hier Abb. XI; Rathenowl Hauswald 1987, 27, 61, 118 u.ö. Dagegen zur Darstellung der Jugend in konformer Sicht z.B. BVs 1979 / 5, 167ff. oder Sallmon 1984, 18 u.a., über "Kultur und Kunst im Leben der Jugend", wo gesagt wird, die Jugend erwarte von Kunst und Kultur, daß sie das Gute, Schöne und Wahre im realen Sozialismus sichtbar machten. Unterhaltungsbetrieb sei positiv zu bewerten, weil er der Entspannung und Erholung diene. Kunst sei polyfunktional und entfalte ihre Wirkungspotenzen über komplizierte, vielfaltige psychische Mechanismen; häufig sei sie auf Langzeitwirkung angelegt.

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5.2.3 Spezifika des realsozialistischen Jugendlebens und der Umbruch

Dies ist schon ein nicht unwesentliches Element der Besonderheiten realsozialistischen Jugendlebens in der DDR, wenn es auch - oder gerade weil es - auf analogen Prägungen von westlicher und realsozialistischer industrialisierter Gesellschaft beruhte, ohne die es gar nicht existiert hätte. "Das Verhalten einer Gesellschaft zu ihrer Jugend ist der Wahrheitsbeweis für ihren ethischen Charakter" (Bentzien in So 1976 I 50, 2; s.a. So 1978 I l, 3; Margot Honecker in So 1976 I 22, 4 ). Demnach sah die offizielle DDR nicht gut aus, ninunt man zu dem eben erwähnten Element insbesondere den Platz der Jugend im Gefüge der realsozialistischen Militarisierung der Gesellschaft. Der dominierende Leistungsaspekt kleidete sich von offizieller Seite, zumal bei festlichen Anlässen, gern in die klassischen Gleichsetzungen von Jugend und Revolution wie bei Engels oder Lenin, aber in der späteren DDR mündete dies unweigerlich in die wissenschaftlich-technische Revolution und die durch sie zu bewirkende Stärkung der Wirtschaftskraft der DDR als die Revolution unserer Tage (vgl. z.B. Hans Eggert, Jugend und Leistung, in So 1984 I 24, 2). Im Bericht an den XI. Parteitag der SED wurde gesagt: "Das gewachsene Niveau der Oberschüler, ihre aktive, optimistische Haltung zu ihrer Zukunft, das Bedürfnis zu Jemen und zu arbeiten, haben auch zu weiteren Fortschritten bei der Berufswahl geführt." In den Jahren davor hätten etwa 85% aller Schulabgänger mit der Erstbewerbung ihren Berufswunsch erfüllen können, offenbar weil durch den "guten Rat" von Eltern, Vertretern der Betriebe und Genossenschaften, Lehrern und Berufsberatern die erforderliche Berufslenkung gemäß den Bedürfnissen der Wirtschaft der DDR schon vor den Bewerbungen stattgefunden hatte (vgl. Honecker 1986, 84; A. Klaus 1985; Tobien 1985; Gerth 1985; weiter zu den konformistischen Leistungsforderungen: So 1980 I 13 zu den Hochschulen; Franz 1982; PI 6.6.1985, 6; AK 1985; Reifezeit 1985; So 1980 I 50 und 1981 I 48 zu den "Messen der Meister von morgen"; u.v.a.; s.a. Musiolek i Neumann 1979). In der Lenkung der DDR-Jugend generell hatte der einheitliche Jugendverband, die FDJ, einen zentralen Platz. In dem Verband waren mehr als 70% der Schüler, Lehrlinge und Studenten sowie 95% der jungen Armeeangehörigen organisiert (s. dazu Freiburg I Mahrad 1982). Die vor- und paramilitärische Ausbildung, die bereits in jungem Schulalter einsetzte, war Sache einer eigenen Organisation, der GST (vgl. unten 7.1ff.). Insgesamt läßt sich der Stil der offiziellen Jugendprägung in der DDR mit einem Satz des Autors E. Neutsch kennzeichnen: "Von der Kinderkrippe bis zur Universität: ein reiner Zensurenstreß. Sei brav, iß dein Süppchen, setz dich aufs Töpfchen und hole dir feine Einsehen." (NDL 1979 I 5, 68). Die Lehrerin Elke Willkonun schrieb in einer Erzählung: "Leistungskontrolle. ( .. . ) Fleißig gelernt. Der Schüler wird sein Sehr gut bekonunen ( ... ) Wo war ein einziger eigener Gedanke des sehr guten Schülers, ein einziger nur?" (NDL 1975111, 148; vgl. ib., 175). 8 Rossade

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Zu der Atmosphäre unter dem Leistungsdruck der Schule ließ Neutsch einen Beteiligten sagen: "Unter uns Schülern tobt ein mächtiger Konkurrenzkampf, einer will den anderen ausstechen. Und die Lehrer betrachten uns nicht als ihre Verbündeten, gar Freunde, sondern als ihre Gegner" (a.a.O., 33; zur Schule auch: Jurek Becker 1978). Diesen Konkurrenzkampf hat Erich Loest zum Thema einer kleinen Erzählung von hoher Intensität und Genauigkeit gemacht. Eine Schülerin stellt ihrer besten Freundin in der entscheidenden Klassenarbeit eine üble Falle, um sie im Rennen um die Zulassung zur EOS - in dem Mädchen gegenüber Jungen ohnedies benachteiligt sind - auszustechen. Danach ist ihr sterbensübel, und der Spiegel zeigt ihr in ihrem noch kindlichen Gesicht eine erste, kaum wahrnehmbare Falte: Symbol der früh verlorenen moralischen Integrität, einer nicht anatomischen, sondern charakterlichen ,Entjungferung' (Eine Falte, spinnwebfein, in: Loest 1979, 219ff.). Was die offizielle Perzeption nicht kannte, waren die zunehmenden gegenkulturellen Orientierungen von DDR-Jugendlichen, die eine Abkehr von der Mittelstandskultur der Erwachsenen, von der ,sozialistischen Lebensweise' und dem ganzen staatlichen Jugendbetrieb belegten (Haase u.a. Hg. 1983; Fehr 1984, 76ff.; Oschlies 1984; Winkler 1983; s.a. Jugendhelfer in So 1980/27, 7; vgl. in 6.3ff.). Der Stimmung vieler Jugendlicher in der DDR dürfte der Ausruf eines Mädchens entsprochen haben, den Maxie Wander protokolliert hat: "Es ist furchtbar, wenn junge Leute alles vorgekaut bekommen, dadurch werden sie lahm. Ich kann einfach keine Ratschläge von Erwachsenen mehr hören. Ich will, daß man mich in Ruhe läßt!" (Wander 1978, 183). Aber es gab sicherlich nicht nur Empörung und Abwendung von den Mustern der platten Konsumgesellschaft, sondern auch deren Verinnerlichung, wie in den Äußerungen einer Sechzehnjährigen aus den gleichen Protokollen, die bis auf Kritik an mangelnder Freizügigkeit konform erscheinen, an denen freilich auch deutlich wird, wie eine Resignation schon sehr junger Menschen aus den herrschenden Verhältnissen selbst entsprang: "Ich bin eigentlich einverstanden mit allem. So wie jetzt möchte ich weiterleben. Ob ich die Welt verändern will? Nein, das kann ich ja gar nicht. Warum soll ich was wollen, was ich nicht kann? Man paßt sich unwiJJkürlich an. Man möchte ein bißeben mehr Geld haben, daß man sich was leisten kann. Eine schön eingerichtete Wohnung, mal eine Party geben, die Kinder schön anziehen, dafiir sorgen, daß es ein richtiges Milieu wird. Was kann man noch alles fiir Geld machen? Ich würde mir wünschen, daß ich einen Mann finde, der zu mir paßt, und daß ich mal nach Italien fahren kann, bevor ich ein Tattergreis bin. Wenn ich Mutti sehe, die ist noch nicht alt, aber die war noch nie im Ausland, immer nur zu Hause. Nein, ich habe keine Probleme. ( ... ) Was Glück ist? Ich weiß ja auch nicht, vielleicht wenn man sich was wünscht, und das erfiillt sich dann. Als ich von meiner Mutti das Tonbandgerät bekommen

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hab. Unter meinem künftigen Beruf, Wirtschaftskaufmann, stell ich mir nichts vor. Ich weiß ja nicht, wo sie mich hinstecken werden. Meine Mutti sagt immer: Nur nicht den Kopp heißmachen, alles auf sich zukommen Jassen." (ib., 151 ). Je mehr sich die realsozialistische DDR ihrem Ende näherte, um so mehr wurde die Jugendweihe, einst Bestandteil sozialistischer Ideologie und Politik im Kontext von Antiklerikalismus, Aufklärung und Freidenkerbewegung, zur bloßen rituellen Einführung Fünfzehnjähriger in die Konsumwelt der Erwachsenen (RytlewskiiSauer 1988; Sauer 1992, 275-387; Sauer 1993, 94ff., 100; zum Nachleben im heutigen Ostdeutschland: M. Hartmann 1992; ders. 1993; DA 19951 l, 90; s.u. Abb. IX: Glückwunschkarte zur Jugendweihe). Wie andere erstarrte Rituale offizieller Festlichkeiten sollte dieser alljährliche Ritus Verbundenheit der Bevölkerung und speziell der Jugend mit dem System und Konfonnismus fördern, er bestätigte aber letzten Endes nur die zunehmende Sinnleere der offiziellen Vorgaben (Sauer 1992; 1993). Nichtkonfonne Jugendliche konnten im Realsozialismus schwersten Repressionen ausgesetzt sein, in der DDR z.B. in dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, über den inzwischen eine Dokumentation vorliegt. Diese KZ-ähnliche Erziehungsanstalt mit hartem Reglement und noch härterer Praxis hatte als Insassen nicht straffällige, sondern lediglich ,schwierige' 14-l8jährige Jugendliche, die ohne Gerichtsurteil und ohne Prüfung durch eine unabhängige Instanz eingewiesen wurden (Der Geschlossene 1994). "Bis zu sechs Monaten konnte die drakonische Verwahrung hinter Hundelaufgräben, Stacheldraht und Wachtünnen dauern. Für Tausende von unbequemen DDR-Jugendlichen wurde ,Torgau' zum Synonym für Angst, Drill und Strafe." (ib., 206; s.a. Bauer I Bösenberg 1979). Der Zusammenbruch des SED-Staates stellte die ostdeutschen Jugendlichen plötzlich vor und in neue, weitgehend unbekannte und bisher nicht erfahrene Verhältnisse. "Daß der friedlich-revolutionäre Aufbruch der DDRStrukturen, der im Herbst 1989 zur Öffnung der Staatsgrenzen fuhrte, sich schon seit Mitte der 80er Jahre im praktischen und ideologischen Loyalitätsverfall der Jugendlichen und jungen Erwachsenen abzuzeichnen begann, war aufmerksamen Jugendforscherinnen in Ost und West nicht entgangen; doch wer hätte gewagt, daraus das abrupte Ableben des 40jährigen, ideologisch und militärisch hoch gerüsteten Leviathan DDR abzuleiten? Kein noch so kompetenter Experte im In- oder Ausland, geschweige denn die betroffene Jugend selbst." (Kindheit 1993, 357). Diese Veränderungen haben die gesamte Lebenswelt der ehemaligen DDR-Jugendlichen ergriffen (Friedrich I Förster 1991 ; 1991 a; Jugend ,92; Böckler 1992; Tagungsbericht in DA 1994 I I, 82ff.). Ein Zeugnis für die Schwierigkeiten der Umstellung ist die zunehmende Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung, mit überproportionaler Beteilis•

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gung Jugendlicher (Klinger 1993; Golz 1993; Breyvogel Hg. 1993). Ausländerfeindlichkeit äußert sich, häufig in brutalsten Formen (Leenen 1992; s.a. Butterwege I Isola Hg. 1990). Drogenerfahrung und Suchtverhalten sind, jedenfalls im derzeitigen Umfang, neuartige alltägliche Probleme (G. Müller 1994), ebenso wie die- durchaus ambivalente- Begegnung Jugendlicher mit Religion (Barz 1993, dazu Sroka in DA 1995/1, 88ff.). Die ostdeutsche Jugend ist aber nicht in erster Linie ein Opfer der Wende und ihrer Schwierigkeiten. Ihre Abwendung vom realsozialistischen System und dessen politischer Führung war mit entscheidend für seinen Zusammenbruch (Sauer 1993, 99, 100), und die neuen Möglichkeiten, die sich mit dem Abtreten des überlebten Alten eröffnen, sind Chancen vor allem für die Jungen. Jugendforschung wurde in der DDR seit den 60er Jahren betrieben. In Leipzig bestand das Zentralinstitut für Jugendforschung. Es gab eine ausgedehnte, vor allem sozialpsychologische Untersuchungsarbeit gemäß westlichen Standards, um die Jugendpolitik der SED wissenschaftlich zu fundieren. Erforscht werden sollten Bedingungen und Regelmäßigkeiten der persönlichen und sozialen Entwicklung Vierzehn- bis Fünfundzwanzigjähriger zwecks Erarbeitung geeigneter Erziehungsmethoden und Beratung der jugendpolitischen Leitungsinstanzen, speziell der FDJ. Wie in anderen Feldern gerade auch der Sozialwissenschaften fällt eine gewisse personelle Kontinuität der Forschenden auf (vgl. DA 1991/7, 701, 761; zur Forschung s.a. DA 199418, 849ff.).

5.3 Kinder Als Kinder gelten im wesentlichen die unter Vierzehnjährigen, mit den Altersgruppen: Kleinst- und Kleinkinder bis drei bzw. vier Jahre, Vorschulkinder, Schulkinder der Altersgruppe sechs I sieben bis zehn, Schulkinder der Altersgruppe zehn I elf bis 14 Jahre. Ihre Integration in die bestehende Gesellschaft erfolgte durch das System staatlicher Kinderkrippen und Kindergärten (s. dazu Zahlenspiegel 1985, 100) und das einheitliche Bildungssystem (zu diesem und zur DDR-Pädagogik: Kessel I Bluhme 1989; H.-J. Fischer in DA 1989 I 2, l56ff.; ders. in DA 1989 I 8, 870ff.; ders. 1989; Hieke I Fuchs 1992; Anweiler u.a. Hg. 1992; Krüger i Marotzki Hg. 1993; zur Sonderpädagogik in DDR und UdSSR: Jürgen Hofmann 1986; Novikov u.a. 1988; Marwege 1989; zu Heimkindern: Risch 1991). Mit Schulbeginn wurden die Kinder von der Schülersparte des Jugendverbandes erfaßt. In den ersten drei Klassen waren sie Jungpioniere, von der 4. bis zur 7. Klasse Thälmannpioniere, ab der 8. Klasse folgte dann die FDJ. Der Pionier-, d.h. Schüler-Organisation "Ernst Thälmann" gehörten nahezu alle Kinder an, die die Schulklassen 1 bis 7 besuchten. Die Organisation mit über l ,3 Mill. Jungen und Mädchen als Mitgliedern war untergliedert in über

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5.500 "Pionierfreundschaften", die den Schulen, und etwa 68.000 "Pioniergruppen", die den Schulklassen entsprachen. Sie unterstanden den Bezirksund Kreisleitungen der FDJ (Freiburg I Mahrad 1982, 36). Aus bevölkerungspolitischen Gründen war die Mehrkinderfamilie erwünscht, aber einschlägige Untersuchungen stellten auch heraus, daß in kinderreichen Familien die Gefahr debiler Kinder zunehme, weil solche Familien ohnehin eher unter Asozialen anzutreffen seien (vgl. Gottke 1980, 66). Die tradierten Rollenmuster waren schon im Kindesalter virulent. Die Kindergärten hätten keine getrennten Erziehungsmuster mehr für Jungen und Mädchen, doch die Eltern verhielten sich vorwiegend noch traditionell (Regina Sinderrnann in FD 1984146, 13ff.). Einen Beleg daflir scheint die folgende Aufstellung zu liefern, die wiedergibt, in welchem Ausmaß Mädchen und in welchem Jungen für Mithilfe in der Familie belohnt wurden. Tabelle 8

Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Belohnung von Kindern für Mithilfe in der Familie Die Kinder haben noch nie Geld bekonunen für Hilfe im Haushalt Pflege von Fahrzeugen der Familie Andere Hilfeleistungen

Jungen

Mädchen

35% 63% 29%

50% 83% 47%

Q11elle: Wopo 1981 / 32,30.

"Was bei den Jungen belohnt wird, erwartet man von den Mädchen als selbstverständlich. So erklären sich ein ausgeprägteres Verantwortungsgefühl, kollektives Verhalten und positivere Lerneinstellung bei Mädchen. Jungen haben mehr Freizeit und entwickeln demzufolge vielfaltigere Interessen. Hier bahnen sich Entwicklungen an, die in der jungen Ehe und Familie zu Problemen werden können" (Claudia Richter in Wopo 1981 I 32, 30). Eine auch institutionelle Wende erfolgte dann bereits in den ersten Schulklassen. Die Jungen kamen in die naturwissenschaftlich-technischen, die Mädchen in musische Arbeitsgemeinschaften (R. Sinderrnann, a.a.O.). Festgestellt wurde, daß die Rollendifferenzierung nach dem Geschlecht zu- statt abnahm (vgl. ib., 15). Über das Alltagsleben von DDR-Kindern gibt ein kleiner Protokollband Auskunft, der im Ostberliner Kinderbuchverlag zum Jahr des Kindes 1979 erschien und als Lizenzausgabe auch im Westen veröffentlicht wurde. Die Äußerungen der Elf- bis Dreizehnjährigen sprechen von Leistungsstreß, Erholungsmängeln, Generationsfragen (mangelndem Verständnis von Erwachsenen

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für die Kinder), Ehe- und Versorgungsproblemen, nicht zuletzt von verinnerlichten Mustern kleinbürgerlicher Konformität. Ein Mädchen, das die offiziell massiv vertretene ,Friedens'ideologie ausführlich wiedergibt und das, wie ihm beigebracht wurde, "unserem Staat dienen" will (Um sechs 1980, 39f., 41 ), hat schon unter den Gepflogenheiten des Herrschaftsapparates zu leiden: "Im allgemeinen verstehe ich mich gut mit meiner Schule, mit meinen Klassenkameraden und auch mit den Lehrern. Nur manchmal sind Lehrer ungerecht. Nur weil ich Gruppenratsvorsitzende bin, werde ich für alles verantwortlich gemacht. Manchmal wird mir meine Arbeit auch zuviel. Dann ist mein Kopf voll, und man wird noch angeschimpft. Dann wundern sich die Lehrer, daß ich manchmal patzig bin." (ib., 40). Das Arbeiterkind (ib., 41) empört sich über gängige Usancen und Ungerechtigkeiten; auch wenn sie sich darüber nur innerlich ärgern kann, möchte sie Fehler beseitigen. 40 Ein anderes Mädchen gesteht Schwächen, aber läßt auch erkennen, daß es weiter denkt als seine unmittelbaren Anliegen reichen. "Ich zähle nicht gerade zu 40 Vater und Mutter der 13jährigen Dagmar Jurischka sind Schichtarbeiter. "Am meisten ärgert mich, wenn ein Mensch angibt. Manche Menschen reden gut, aber wenn es an die Praxis geht, tun sie nichts. Unordentliche Menschen kann ich nicht leiden. Manchmal sehe ich, daß sich ein größerer Junge an einen kleineren Jungen heranwagt. Ich kann dagegen nicht viel tun, aber im Inneren ärgere ich mich sehr darüber. Wenn ein Mensch einen großen Fehler hat, so sage ich ihm dies, damit er den Fehler beseitigen kann. Ich bin manchmal sehr vorlaut, aber wenn ich etwas nicht leiden kann, möchte ich es beseitigen." (ib., 39). Dergleichen kann von dem sozialisierten Kind nicht mit ihrer Gesellschaft als solcher in Verbindung gebracht werden. Diese sieht sie ganz nach den Vorgaben als eine Ordnung von Menschlichkeit und Frieden. Sie verstehe nicht, "warum sich die kapitalistischen Länder so gegen den Sozialismus wenden". "Es ist doch so schön hier" (40). Auch das Schuldsuchen bei sich selbst, das den Unteren von klein auf gesellschaftlich anerzogen wird, findet sich bei dem Mädchen, gleich nach der im Text zitierten Kritik an den ungerechten Lehrern: "Gut - ich bin manchmal wirklich sehr unordentlich und vorlaut. Ich arbeite aber strengstens daran, das zu verbessern. Ich packe am Abend meine Mappe, und am Morgen kontrolliere ich sie. Ich müßte allerdings viel selbständiger werden, besonders, wenn es um das Leiten einer Sitzung geht. Dabei hilft mir besonders meine Klassenlehrerin." (40). Das "vorlaut" kommt zweimal (39, 40), wahrscheinlich ist das Mädchen dafür wiederholt gescholten worden. Gleichzeitig soll sie aber selbständiger werden. Daß hier ein Bruch in den Erziehungsprinzipien ihrer Lehrer vorliegt, der sehr viel mit der Beschaffenheit der realsozialistischen Gesellschaft, mit deren Patemalismus zu tun hat, das kann die 13-Jährige unter den gegebenen Bedingungen nicht durchschauen. - Ihre Wünsche sind bescheiden und von den herrschenden Konsum- wie auch Leistungsmustern geprägt: "Am schönsten ist es, wenn ich mit meinen Eltern am Kaffeetisch sitzen kann und wir uns das Neueste erzählen. Das kommt leider selten vor, denn meine Eltern sind Schichtarbeiter. Beim gemütlichen Zusammensein am Sonntag merkt man so richtig, daß wir eine Familie sind. ( ... ) Ich werde einen schönen Beruf erlernen. Einen festen Berufswunsch habe ich aber noch nicht. Ich wünsche mir zwei oder drei Kinder. Ich werde fleißig arbeiten und unserem Staat dienen. Ich werde helfen, den Weg unserer Genossen weiter zu beschreiten. Kurzum, ich stelle mir ein glückliches Leben vor, mit Freuden, aber auch mit harter Arbeit. Ich werde mir eine schöne Wohnung einrichten, ein Auto kaufen, und ich möchte mit meiner Familie viele Reisen machen." (40 I 41) Ob damit auch Reisen über die ,Bruderländer' hinaus gemeint sind, läßt sich nach dem Text nicht entscheiden.

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den fleißigsten Menschen, und wenn ich ehrlich sein soll, am liebsten esse und schlafe ich. Ich habe aber auch Tiere sehr gern, und ich fürchte mich auch, zum Beispiel daß ich einmal einen großen Fehler mache, der mein gutes Verhältnis zu meinen Mitschülern stört (!). Dabei ärgere ich mich besonders, daß ich immer wieder mit ansehen muß, wie das Essen verwüstet wird. Es gibt viele Kinder auf der Welt, die noch hungern und verhungern. Sie würden sich gewiß über dieses Essen freuen. ( ... ) Unser Dorf ist groß und schön. Wir haben erst eine neue Schule, eine neue Ambulanz und vieles andere mehr erhalten. In der Siedlung ist zwar ein Spielplatz, aber die kleinen Kinder müssen sehr weit laufen. Ich würde für einen neuen Spielplatz sorgen." (ib., 63f.).41 Wie bei den Erwachsenen rangierte unter den Freizeitin41 Die Prägung gemäß der traditionellen Frauenrolle, die sehr aufs Äußerliche geht, tritt früh hervor. Eine 13jährige Kerstin sagt, sie köMe ja nur einiges Wichtige über sich kurz aufschreiben, und unter diesem Wichtigen rangiert gleich an zweiter Stelle, nach der Femsehsucht, sie werde "sauer, wenn ein Mädchen mir meinen Freund wegnimmt". Was die Schule angeht, sei sie mit sich ganz zufrieden. ,,Aber ich ärgere mich darüber, daß meine Haare immer so schnell fettig werden." Sie wünscht sich- wie von den Mädchen in dieser Dokumentation häufig geäußert- zwei Kinder, dazu "einen guten Mann (ohne Brille, braune oder schwarze Haare, schlank und gut)" (Um sechs Uhr 1980, 64f.). Der politisch indoktrinierte Konformismus erscheint massiv, wozu vermutlich auch die Auswahl durch die Hg. beigetragen hat (ib., z.B. 65, 102fT.). Im Geleitwort von Benno Pludra ist zu lesen: "Die Kinder heute sind ( ... ) in Mehrheit den realen Dingen zugewandt. Die meisten haben genaue Pflichten, ihr Leben ist ziemlich eingeteilt, auch die Zukunft häufig schon eingeteilt, Beruf und Familie fest im Plan. So gut das wahrscheinlich zu nennen ist, ( .. .) es köMte sein, es bleibt zuwenig Raum für Ungebundenheit, das Abenteuer jeden Tages, Poesie und Zauber, wie ihn nur die Kindheit geben kaM. Hierauf zu achten wäre eine unserer Pflichten." (ib., 8). Dafür war die dominierende offizielle Richtung durchaus nicht günstig. Ihr zufolge war Ordnung schon für Schulkinder das "halbe Leben" ( ChristophI Leymann 1985, 25; s.a. Marg. Kleinert 1985). Der autoritäre Grundzug realsozialistischer Erziehung erschien z.B. auch im Messen des "Erzogenheitsniveaus" von Schülern nach sowjetischen Vorbildern (M. Engel 1978). Stimmen gegen Kindererziehung als "Dressur" wurden parteimäßig zurückgewiesen (vgl. H.-D. Schmidt in NDL 19821 10; Neuner in Eh 198313- 4; Helwig in DA 198512, 124f.). Mitunter wurde aber auch andere Sicht als die vorherrschenden Perzeptionen und Verfahren publiziert. So von Regina Scheer (So 1979 I 1, 3): Liebe zu Kindem als elementare humane Regung; }(jnder nicht nur lehren, sondern auch von ihnen lernen: von ihrer Naivität, ihrer Wißbegier ohne Vorurteile, ihrer Lust am Hervorbringen, an der Arbeit - was alles sich durch bittere Lebenserfahrung verliere. Die alte Idee, daß in den Kindem die besten menschlichen Vermögen angelegt seien, die danach von der Gesellschaft verkrüppelt würden, transportierte unausgesprochen grundsätzliche Kritik am Bestehenden. Entsprechend dem offiziellen Schönfärben gab es auch sehr harmonisierte Bilder z.B. vom Leben in der Kinderkrippe (Wopo 1986130, 4f.). Dagegen Wander (1978, 82, 84 u.a.) zu analogen Kinderproblemen wie im Band "Um sechs Uhr ... ". Beispiele aus dem "Sonntag": Wenig Zeit und Raum für Beschäftigung mit den Kindem wegen Berufsbelastung und Wohnungsproblemen; ähnlich im Urlaub: "Wer bekommt mit drei Kindem schon einen Ferienplatz?" (1976 I 38, 7f.; 1979 I 29, I0; 1979 I 39, 8). Mangel an städtischen Spielplätzen; eine Hausgemeinschaft organisiert selbst Kinderbetreuung; kindgemäßes Spielzeug (1974119, 7; 1978120, 8; 1974149, 7, 8).- Durch solche alltagsnahen Berichte wurde das Bild offizieller ,kinderfreundlicher' Eigendarstellung nicht unwesentlich eingeschränkt.

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halten der Kinder das Fernsehen ganz vom (s.ib., 40, 64 u.ö.), die Scheinwelt dieses elektronischen Mediums und anderer massenhaft konsumierter mehr oder minder oberflächlicher Unterhaltung. Diese Medien waren ein integrierter Bestandteil des Alltagslebens der Kinder in der DDR, dessen Spezifika die Objekte der realsozialistischen Erziehung in die Richtung von Kompensation, Eskapismus und Privatismus drängten, als vermeintliche Einrichtung von Zeiten und Orten, "wo man Vergnügen, Gefühl und Affekt jenseits von Lernen, Pflichterfüllung und erzieherischer Zurichtung erfahren kann. Indem (nicht nur) Medien und medienbezogene Handlungsstile Kreativität, Phantasie und Autonomie binden, gehen der Gesellschaft aber diese Potentiale verloren, weil sie selber nur pädagogisch mit ihnen umgehen kann. Die Gesellschaft entläßt ihre Kinder ( .. . ) an eine Medienrealität Die Ausmaße von solch realsozialistischer ,Medien-Kindheit' sind in Umrissen erkennbar, die Folgen noch nicht abzuschätzen" (Rogge/ Jensen 1987, 272). Absorption durch die mediale Scheinwelt des Unterhaltungs- und Zerstreuungsbetriebes ist wiederum ein Moment der Gemeinsamkeit zwischen Realsozialismus und westlichem Kapitalismus. Nach der Wende wurde auch das ostdeutsche Schulsystem verändert und dem westdeutschen mehr oder minder angeglichen (Helwig in DA 1991/9, 897ff.; A. Fischer 1992; Kinder 1992; Helwig in DA 1992/9, 897ff.). Über den Schulbereich hinaus haben sich Kinder auch zum ganzen Erscheinungskomplex des ostdeutschen Umbruchs geäußert (Leidecker u.a. Hg. 1991 ). 5.4 Alte Wie die Soziologin und Publizistin Irene Runge (1979, 493) ausführte, galt in der DDR als höheres Lebensalter die Phase jenseits des 6. Lebensjahrzehnts. Diese Vorstellung finde ihren Ausdruck in den gesetzlichen Bestimmungen zur Rentengrenze, wonach Frauen mit Erreichen des 60. (vgl. dazu oben in 4.1 ), Männer mit Erreichen des 65. Lebensjahres in den Altersruhestand treten können. Eine generelle Lebensbedingung für die große Mehrheit der Angehörigen dieser Altersgruppe in der DDR waren die sehr niedrigen Renten. Besser gestellt waren lediglich Angehörige der Intelligenz, deren Bedeutung auch von dieser Seite her unterstrichen wurde, und allenfalls noch die - aussterbende- Gruppe der Opfer des Faschismus/Verfolgten Entwickelt war in der DDR die Kinderliteratur. Auch das Kindertheater, aber es habe wie im westlichen Deutschland, läßt sich ergänzen - zu wenig Stücke gegeben, und die Theaterleiter hätten die Kinder nur als statistische Größe zur Erfüllung des Besucherplans genommen (Rodenberg 1985; Budde 1983a, s.a. So 1977 I 33, 7 über ein Ferienlager fl.ir ,schreibende Schüler' analog zu den ,schreibenden Arbeitern' ). S.a. Brock 1980 (Kindermusik).

5. Unterschiede nach Altersgruppen

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des NS-Regimes, die jedoch bezeichnender- und schändlicherweise trotzdem weit weniger erhielten als im westlichen Deutschland (zur Rentensituation in der DDR und zur Rentenpolitik der SED vgl. Ruß 1981 ). Die Einkommenssituation der Alten war ein wichtiges Motiv für Berufstätigkeit über die Altersgrenze hinaus, die von der Partei- und Staatsführung aus Gründen der Arbeitskräftelage ebenfalls angestrebt wurde, jedoch praktisch auf administrative Erschwernisse traf (Kondratowitz 1978, 92ff.). Die Weiterarbeit der Rentner wurde auch soziokulturell begründet. Dabei ging es um Einbeziehen der Alten in das normale Leben, von dem sie als Ruheständler weithin und u.U. katastrophal isoliert sind. Was in DDR-Zeiten dagegen getan wurde, erscheint als unzulängliches Stückwerk. Man versuchte, ältere Menschen zum Umzug aus den ihnen vertrauten Altbaugebieten mit oft für sie zu großen Wohnungen in Neubauwohnungen zu bewegen, die altersgerechter angelegt gewesen sein sollen (FD 1986 I 30; 20). Doch hier waren die Alten nur unter sich und wußten mit ihrer Zeit, die sich endlos dehnte, nichts anzufangen (vgl. Belwe 1986, 45). Die Volkssolidarität sorgte für billiges "Essen auf Rädern", aber Plätze in Altenheimen waren knapp (s.a. Rytlewski u.a. 1989, Abschn. 5.2). Doch wer einen solchen Platz bekam, sah keinem freudvollen Lebensabend entgegen. "Leben im Heim bedeutet, sich einem stark reglementierten Tagesablauf unterordnen zu müssen, weitgehend entmündigt zu sein, erhebliche Einschränkungen der Privatsphäre in Mehrbettzimmern hinnehmen zu müssen, und nicht zuletzt den Verzicht auf individuelle Gestaltung der räumlichen Umgebung sowie der Auswahl von Kontakten. Wer auf einer Pflegestation liegt, ist oft über Jahre hinweg mit dem eigenen Tod und dem seiner Bettnachbarn konfrontiert." (ib., 129) Eine eindringliche Schilderung, "wie die Tauergreise dasitzen und dich anglotzen, wie die Hühner auf der Stange", hat Jurek Becker gegeben (1975, 201; s.a. de Bruyn 1984, 18lf.; Schleef 1984). Von dem freudlosen Lebensende Prominenter im Altersheim des Zentralkomitees der SED - betroffen waren neben anderen Wieland Herzfelde und Anna Seghers - schrieb H. Noll (1985, 109ff.; s.a. 26f., 82ff., 107f., 130; 1987, 15f., 375ff.). Dagegen wurde zu setzen versucht: Älterwerden im Arbeitsalltag (Runge in So 1981147, 7); Forderungen, wie im westlichen Deutschland, nach einer Veteranenuniversität (Runge; So 1978 I 40, 8) und nach Aufbebung der Isolierung älterer Menschen in besonderen Bereichen, faktisch Gettos (Margarete Böhme in So 1978 I 26, 2). Nicht ans Grundsätzliche gingen sicherlich Orientierungen auf mehr Geselligkeit im Altenheim (So, Interview, 1982 I 34, 7). Ebenso ist äußerst fraglich, ob ein Komfort-Appartement wie in Dresden (So 1974147, 7) der Isolierung hätte abhelfen können. Besser ist zweifellos das normale Wohnen in üblicher Nachbarschaft, mit einigen Erleichterungen für Ältere, etwa hinsichtlich der Etagenhöhe (Runge in So 1978 I 39, 9; vgl. Hoop 1983; Oehlert 1984; s.a. Das Alter 1988; Kondratowitz 1988; Fürsorge 1989).

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A. Lebensstile

In der DDR lebten beträchtlich mehr alte Frauen als Männer: 1982 über zwei Millionen Rentnerinnen gegenüber 816.000 Rentnern (DDR-Handbuch 1985, 447), 1983 schon 2.050.440 Rentnerinnen zu 773.172 Rentnern (Wopo 1985 I 29, 5) - nicht nur wegen ihres früheren Rentenalters, sondern auch infolge des generellen Frauenüberschusses, der höheren Lebenserwartung der Frauen und der Dezimierung von Männerjahrgängen durch den Krieg. Frauen-Prototypen in der offiziellen Darstellung sind z.B. eine 73jährige Brigadeköchin, trotz schwerster Arbeit und hohem Alter weiter berufstätig (FD 1983/17, 12ff.); die 95jährige politische Veteranin Wilhelmine Schirmer-Pröscher, stellv. DFD-Vorsitzende, Volkskammerabgeordnete (FD 1984 I 28, 7ff.); die 80jährige Roberta Gropper, älteste Delegierte zum Gewerkschaftskongreß (So 1977 I 20, 7). Dem Alltäglichen und den Unteren näher sind Alte aus den Frauenprotokollen Maxie Wanders (1978, 202ff., 179f., l44ff.): die Großmutter aus dem Landproletariat; die Eltern einer Einundzwanzigjährigen; der etwas unordentliche Großvater, bester Freund der Enkelin, den deren Mutter mit tödlicher Folge fur ihn aus dem Hause weist. Ein in mancher Beziehung DDR-durchschnittliches Lebensbild zeigt ein Rentnerehepaar aus Langensalza (Wopo 1985129, 4f.): Jugend unter NS-Einfluß, Kriegsdienst und Pftichtjahr, Verwundung, nach dem Krieg Krankenpfleger und Handelskauffrau, der Mann in die Wismut wegen mehr Einkommen, Steigerschule wegen Einspruch der Frau abgelehnt, Auszeichnungen der unteren Ebene, Steinsäger, Instrukteur der SED-Kreisleitung, Anzeigen- und Vertriebsleiter bei der Tageszeitung in Erfurt, Lehrgänge, AWG-Wohnung mit den beiden Kindern, Kreissekretär der Urania, die Frau als Sachbearbeiterin im Handelsbereich, der Mann mit 64 invalidisiert, hat Angst vor Krankheiten = Siechtum und den Kindem zur Last Fallen. Beide seit langem aktiv in der Volkssolidarität, er als Vorsitzender, sie als Kassier, entsprechend dem akzeptierten Muster, wer dominiert: "Selbstverständlich, wenn wir uns nicht einig sind, entscheidet mein Mann" (ib., 5). Nach Runge ( 1982, 11, 18) hatten die realsozialistischen Gesellschaftswissenschaften bis dahin "keine umfassende Konzeption fur das Leben altgewordener Menschen und die sozial-kulturelle Bedingtheit von Altersleben erarbeitet". Im Gegensatz zur naturwissenschaftlich I medizinischen Altersforschung hatte die soziologische Gerontologie keine eigenen Forschungsergebnisse aufzuweisen (vgl. Schwitzer in Jahrbuch 1984, 233; Runge in So 1978 I 17, 7; So 1978134, 7; Runge 1979, 493ff.: Altenpolitik mehr als bloßer Teil der Gesundheitspolitik, Alterospolitik der Jugendpolitik gleichzustellen, soziale Modelle daftir; Groth 1981). Eine polnische Untersuchung hatte das Erleben alter Menschen zum Gegenstand (Rembowski 1983). In der DDR gab es bis zuletzt von offizieller Seite nichts, was über den Stand von Anfang der 80er Jahre erwähnenswert hinausgekommen wäre (vgl. Weidig mit AK 1988, 348ff.). Im Jahr vor dem Ende des realsozialistischen Gebildes räsonnierte

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit

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man darüber, daß Zurückführung von Unterschieden der Lebensweise auf ihre Sozialstrukturellen Quellen es erleichtere, "sachliche Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie das Leben im Rentenalter regional Ieitungs- und planungsmäßig gestaltet werden" könne (Weidig mit AK 1988, 362). Der Umbruch in Ostdeutschland hat den Rentnern dort grosso modo eine Verbesserung ihrer Einkommens- und damit Lebenslage gebracht. An ihrer marginalen Stellung in der Gesellschaft hat sich kaum etwas geändert; sie gehört ohnehin zu den Gemeinsamkeiten, die zwischen Realsozialismus und westlichem Kapitalismus bestehen (vgl. Helwig 1980). Gemeinsam war auch ein Tabu-Verfahren, das die unbequemen Alten zu "Ornis" und ,.Opis" verniedlicht und damit vermeintlich entproblematisiert (vgl. ib., 188f.). Von ähnlicher Art war der DDR-offizielle Euphemismus "Feierabendheim" für Altenheim, durchaus entsprechend einem westlichen "Seniorencenter". Der westliche Sprachgebrauch kennt anstelle von Alten nur mehr Senioren, wie es für ihn auch keine Armen, sondern nur noch ,sozial Schwache' gibt.

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit 6.1 Arbeitszeit, arbeitsfreie Zeit, Freizeit Das gesamte Zeitbudget eines jugendlichen oder erwachsenen Erwerbstätigen teilt sich in Arbeitszeit und arbeitsfreie Zeit oder Nichtarbeitszeit (s.a. Quaas 1974). Dies ist eine grundlegende Differenzierung der Tätigkeitssphären, zumal in der industriellen Gesellschaft. Freizeit, d.h. die Zeit für Muße, Liebhabereien, geistig-kulturelle Betätigung etc., macht nur einen Teil der arbeitsfreien Zeit aus. Deren Aufteilung läßt sich nach einer DDR-Darstellung (Ök Wb 1973, 68f., 1042f.) wie gezeigt wiedergeben (dazu umseitig Tabelle 9). H. Hanke (1979, l02ff.) hat gegen den "engen" Freizeitbegriff polemisiert, der Befriedigung physiologischer Bedürfnisse, Kinderbetreuung, Arbeit im Haushalt u.ä. nicht zur Freizeit rechnet, obwohl dies doch auch Betätigungen mit kulturellen Elementen seien. Danach wäre aber die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Nichtarbeitszeit überhaupt überflüssig, denn die hauptsächliche kulturschöpferische Tätigkeit ist ja die Arbeit. Der Sache nach verdeckte Hankes Vorschlag die große Beeinträchtigung der freien Zeit, die in der DDR durch übermäßigen Zeitaufwand für Einkäufe u.ä. gegeben war. Nach Marx ist die disponible = freie Zeit die eigentliche Grundlage menschlicher, d.h. kultureller Entwicklung (MEGA, Il, Bd. 3.1, 168f.; MEW 26.3, 252f.). Eine einschlägige Konferenz in der DDR stellte wesentliche Übereinstimmung mit der Marxschen These fest, daß disponible Zeit der

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Tabelle 9

Komponenten der arbeitsfreien Zeit Arbeitsfreie Zeit = Zeitbudget insgesamt minus effektive Arbeitszeit

,j, Arbeitsgebundene Zeit: Zeitaufwand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Arbeitszeit (für den Weg zu und von der Arbeitsstätte; flir Umkleiden, Wasehen usw.; ftir Arbeitspausen während des Arbeitstages)

,j, Zeitaufwand flir Hauswirtschaft, u.a. Tätigkeiten zur Vorbereitung der individ. Konsumtion ("Einkäufe, Aufsuchen von Dienstleistungseinrichtungen und Verwaltungsstellen")

,j, Kinderbetreuung und -erziehung; Betreuung Erwachsener

,j, Befriedigung physiol. Bedürfnisse (Nahrungsaufnahme etc., pers. Körper- und Gesundheitspflege, Schlat)

,j,

Freizedbl

Quelle: (a) Ök Wb 1973, 388f.: (b) ib., 305f.; Soz Wb 1978. 192ff.; Kp Wb 1978, 216f.

wirkliche gesellschaftliche Reichtum sei. Allerdings könne dieser noch nicht gemessen werden, weil das Instrumentarium dafiir fehle (vgl. Marx. 1983, 1409). Die Reserven fiir die Gewinnung von Freizeit durch Reduzierung der Hausarbeit, dabei insbesondere der Einkaufszeit, seien in der DDR größer als die durch Reduzierung der Arbeitszeit (Elsner 1980). Diese Feststellung weist in mehrfacher Hinsicht auf realsozialistische Spezifika, sowohl was die Versorgungssituation als auch was die Arbeitszeit angeht. Eine Untersuchung ergab (siehe Elsner 1980, 34), daß in den DDR-Haushalten der Einkauf mit Abstand als stärkste Belastung empfunden wurde. Eine relative Mehrheit der Befragten nannte ihn als Hauptbelastung, vor Saubermachen, Waschen und Kochen. Er war dies vor allem fiir die Frauen. In 61% der Fälle machte die Frau den Einkauf, bei 3% der Mann, bei 19% Frau und Mann gemeinsam, bei 17% Kinder und andere Familienangehörige -vorzüglich wohl Omas. Mit anderen Zweigen der Soziologie hatte sich in der DDR auch eine Freizeitforschung etabliert (s. Gransow I Gransow 1983; Lüdecke 1978: methodische Probleme anläßlich einer Zeitbudget-Erhebung bei Pädagogen).

6.2 Arbeitstätigkeit und Lebensstil Die Arbeitszeit nahm in der DDR stets einen größeren Teil des Zeitbudgets ein als in der westlichen Industriegesellschaft Die generelle Dauer lag seit Ende der 60er Jahre bei 43 % Wochenstunden, seit 1977 bei 40 Stunden fiir Mehrschichtarbeiter. Das arbeitszeitpolitische Ziel bestand im schrittweisen Übergang zur allgemeinen 40-Stundenwoche bei Erhaltung der 5-Tage-

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Arbeitswoche, die erst seit den 60er Jahren galt, und ohne Lohnminderung. Angestrebte Überstundenbeschränkung war wegen mangelnder Kontinuität im Arbeitsablauf nur zum Teil realisierbar. Einschränkungen der Arbeitszeit erfolgten durch Freistellungen für gesellschaftliche (d.i. staatspolitische) Arbeit einschließlich Wehrübungen, in gewissem Umfang auch für Qualifizierung. Arbeitsverpflichtung war als Maßnahme zur Arbeitskräftelenkung seit 1954 nicht mehr Gesetz, doch konnten zulässige Lenkungen auf Zwangsverpflichtung hinauslaufen. Innerbetrieblich konnte einem Mitarbeiter bis zu vier Wochen auch gegen seinen Willen eine Tätigkeit übertragen werden, die nicht zu seiner vereinbarten Arbeitsaufgabe gehörte. Die Berufslenkung mochte zur Prägung des individuellen Lebens durch Arbeit führen, die gegen Absicht und Neigung übernommen werden mußte. Alle diese Spezifika waren wesentliche Bedingungen für die konkreten Lebensstile der DDR-Bürger, die sich im übrigen nach den unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen gemäß der sozialen Schichtzugehörigkeit, dem Geschlecht und der Altersgruppe differenzierten (vgl. 3- 5). Neben der Ungleichheit für Männer und Frauen sind es insbesondere die ungleichen Arbeitsbedingungen für Angehörige und Nichtangehörige der Intelligenzschicht (eingeschlossen die betonten Unterschiede hinsichtlich Trennung und Nichttrennung von Arbeits- und Freizeit), die lebensstilprägend wirkten. Dazu kommen die alltäglichen Unterschiede und Distinktionen, die auf Betriebsbasis schon durch die deutlich differierenden Arbeitsbedingungen, Arbeitskleidung etc. von Produktionsarbeitern und Angestellten gegeben sind. Die überkommenen Differenzen von Arbeits- und Freizeit werden durch die industriegesellschaftliche Entwicklung der sachlichen Produktivkräfte, durch das Fortschreiten von Technik und Wissenschaft in Frage gestellt (s.a. Schlutz Hg. 1985). Dies ist ein allgemeines Merkmal heutiger industrieller Gesellschaften, im Unterschied zu den oben angegebenen lebensstilprägenden Charakteristika von Arbeitstätigkeit im Realsozialismus. Auf eine Allgemeinheit legten dessen Vertreter selbst großen Wert, und zwar auf eine die Grenzen von westlicher und realsozialistischer Industriegesellschaft übergreifende, epochale Gemeinsamkeit beider, die keineswegs nur darin bestehen sollte, daß beide Systeme im wesentlichen gleiche Produktionstechnik mit grundsätzlich gleichen ökonomischen und ökologischen Konsequenzen benutzten.

6.3 Komponenten der Freizeittätigkeit. Amerikanismus Die gesetzte epochale Gemeinsamkeit von, der Sache nach, westlicher und realsozialistischer Industriegesellschaft war ein Grundmuster, in gewisser Weise das Grundmuster realsozialistischen Selbstverständnisses. Es wurde gesagt, nicht nur Arbeitsmittel, Technologien und Produktionsbedingungen, sondern auch die Besonderheiten des Alltags- und Familienlebens, der Frei-

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Zeitbeschäftigungen usw. seien "unserer Zeit" als solcher zugehörig. Der Akzent liegt auf Epochen-, nicht auf Formations- (Sozialismus versus Kapitalismus) Differenzen. Die "Lebensweise des Menschen unserer Zeit" unterscheide sich von der Lebensweise z.B. im Mittelalter oder in der Antike, aber nicht primär in sich (vgl. H. Koch u.a. 1982, 243). Eine solche Perzeption hatte Konsequenzen insbesondere für die massenhafte Alltagskultur. Das Muster war ,industriegesellschaftlich' nicht nur im Sinne der Einheit von Osten und Westen, sondern auch - und dies ist die wichtigere Kehrseite der gleichen Sache - als Absolutsetzen des globalen ,Nordens'. Dieser, d.h. die gegenwärtigen industriell entwickelten Gesellschaften, sind die Epoche schlechthin; die Entwicklungsländer kommen nicht vor, respektive sie rangieren unausgesprochen, selbstverständlich als diejenigen, die noch nicht auf der Höhe solcher "Epoche" sind. Das Muster impliziert zugleich Amerikanismus, Auffassen der USA als der industriell vorerst noch entwickeltsten Gesellschaft und der stärkeren Supermacht, als Vormacht des Westens und Hauptlieferant der gängigen massenhaften Popularkultur, im Sinne eines erstrebensund nachahmenswerten Vorbildes für zeitgemäßen Lebensstil oder die "Lebensweise des Menschen unserer Zeit". Als amerikanistisch lassen sich sowohl die spezifischen Ausprägungen der Industriekultur einer relativen (,spätbürgerlichen') Endzeit in den USA und deren exportierte Nachahmungen oder Reproduktionen in anderen Gesellschaften als auch die eben charakterisierte Einstellung bezeichnen, die ein Produkt solchen Exports und solcher Nachahmungen ist. In der DDR wie in vielen anderen realsozialistischen Ländern war dieser Amerikanismus eine zunehmende, nicht mehr bekämpfte, sondern offiziell vorangetriebene Tendenz, die sich bis zuletzt verstärkte und bruchlos in die popularkulturelle Einheit mit dem ,Westen' übergehen konnte, auch weil die letzte Führung der UdSSR noch intensiver als ihre Vorgänger seit Chruschtschow zu den USA hindrängte (vgl. 15.1.3, 15.1.4). Konzeptionell ist diese Tendenz nur logisch - muß es sein, weil das Konzept den politischen Bedürfnissen entspringt, nicht umgekehrt -, denn wenn eine nicht weiter reflektierte heutige Industriegesellschaft die Lebensweise unserer Zeit repräsentiert, wird die vollständigste Ausprägung solcher Gesellschaft notwendigerweise zum Leitbild. Zu konkreten Folgen dieser Konstellation wird in den nächsten Abschnitten weiteres gesagt werden. Hier geht es zunächst noch um einige grundsätzliche Aspekte. Einer ergibt sich mit Konsequenz unmittelbar aus dem Grundmuster. Wenn die heutige Industriegesellschaft ·,allgemein-menschlich', unhistorisch perzipiert wird, dann entfällt die Möglichkeit, deren angenommenes Paradigma, also die USA, historisch zu sehen. Das fällt schon westlich-industriegesellschaftlicher Perzeption ungemein schwer, und deren Abklatsch (den Abhängigkeitsbeziehungen nach war die realsozialistische Perzeption ja nichts anderes) naturgemäß noch schwerer. Anscheinend gibt es in diesem Rahmen

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die Vorstellung oder Einsicht, die USA, ihre gegenwärtige Position und internationale Rolle seien auch vergänglich, nur außerhalb sozialwissenschaftlicher Erörterungen. 42 Wirklich relevant wird das allerdings erst, wenn dieses Paradigma schon heute überholt ist, wofür nach meiner Meinung manches spricht (vgl. in 15.4.2, 17.1 ). Der genannte Aspekt bezieht sich auf historische Soziokultur. Nicht davon zu trennen ist ein ethnokultureller Aspekt. Der Amerikanismus muß als ein Pseudo-Universalismus gelten, nicht nur in der Hinsicht, daß seine vermeintliche Allgemeingültigkeit nur durch Absehen von der Historie gewonnen werden kann, sondern auch im Hinblick auf seine ethnokulturelle Konsistenz. Er ist, wie allgemein bekannt, keineswegs vom konkret Ethnischen abgehoben, sondern steht in einer ganz bestimmten Kulturtradition, vornehmlich einer englischen, mit durchaus partikularen historisch-psychologischen, alltagssoziologischen, ideologischen (einschließlich nicht zuletzt religiöser) Prägungen. Deren Allgemeingültigkeit erscheint um so anfechtbarer, je mehr sie durch einen noch nicht dagewesenen Apparat von Zerstreuungsindustrie und Werbung international propagiert wird und gerade auch dabei ihre hochgradige Besonderheit, nicht Universalität, offenbart. Aus dem realsozialistischen Blickwinkel war die Relativität und Relativierungsbedürftigkeit angloamerikanischer Massenkultur ebensowenig zu erfassen wie von daher die Prädominanz der englischen bzw. amerikanisch-englischen Sprache problematisiert werden konnte, deren heutige Position als internationales Kommunikationsmittel ebenso akzeptiert wie die vereinseitigte Wertschätzung von Englischsprachigem geteilt wurde. 43 Der Realsozialismus übernahm die Vergötzung 42 "We are the greatest nation in history", sagte ein USA-Senator in einer Sendung, die am 7.3.1985 vom bundesdeutschen Fernsehen übertragen wurde. "Vielleicht sind die Vereinigten Staaten mit aller ihrer Macht nur eine Episode im Leben Amerikas" (Yehudi Menuhin, zit. in SZ, 10.111.11.1979, 142). Diese Vermutung bezieht sich selbstverständlich auf die Zukunft, fiir die Vergangenheit bedarf sie keiner Erörterung. Der Kontinent ,Amerika' wurde vor 20.000 Jahren von Asien her besiedelt, und diese seine angestammten Bewohner haben Hochkulturen entwickelt, gegen die Dauer und Qualität der ZOOjährigen Geschichte der USA nicht sehr ins Gewicht fallen. Ich sehe keinen Grund fiir die Annahme, daß das in Zukunft anders sein sollte. 43 Charakteristisch war z.B. die Disproportion in der Darstellung englisch I amerikanischer Literatur im Vergleich zu anderer nichtdeutschsprachiger europäischer in einem Lexikon der Weltliteratur (Lexikon 1977, passim). Ähnlich die Beiträge in 'einer Illustrierten wie "Für Dich", wo relativ oft Britannien und gelegentlich die USA, aber kaum Frankreich und andere europäische Länder behandelt wurden. Bei Honecker ( 1982, 254) gibt es eine Aufzählung von Autoren der Weltliteratur, die nach 1945 fiir die DDR-Jugend wichtig geworden seien. Von 22 Namen sind 7 Russen, I Franzose (Louis Aragon) und nicht weniger als 14, d.h. fast 2 I 3, Anglophone, darunter auch der Kolonialismus-Romancier Kipling, der Bürger Galsworthy, der Abenteuerautor London und die von der DDR-Jugend sicherlich eher wenig gelesenen Oscar Wilde und Walt Whitman . Englisch ist bekanntermaßen nicht die Kultursprache, nicht einmal die Europas: das ist seit dem Hochmittelalter die französische Sprache, anfangs neben der provenc;alischen. In

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des Angloamerikanischen selbstverständlich auch aus dem Westen, aber wie bei Kopien und Wiedergaben aus zweiter Hand üblich - war er (und sind seine Nachfolgegebilde) darin eher noch eifriger als das Original. Ein Blick über die Zäune der Anglophonie, etwa gar in Richtung der Dritten Welt und ihrer Sprache(n), also der zunehmend großen Mehrheit und nicht der kleinen ,weißen' Minderheit der Menschheit, ist schon im Westen selten, nicht zu reden von seinem realsozialistischen Abklatsch. Der faktische Übergang zum Industriegesellschaftsmodell in der realsozialistischen Ideologie war lediglich ein Reflex des Umstandes, daß die Unterschiede zwischen ,westlichen' und ,östlichen' Industriegesellschaften tatsächlich im Schwinden begriffen waren. Bezüglich der Lebensweise in Arbeitsund Freizeit äußerte sich die zunehmende Kongruenz nicht nur im Verhältnis zum Amerikanismus, sondern auch in einem anderen Grundmuster. In einer DDR-Veröffentlichung zur Freizeitproblematik wurde gesagt, vorerst ließen sich die Arbeitsbedingungen nicht abschaffen, "die die Persönlichkeitsentwicklung noch behindern". 44 Nach wie vor leisteten in der DDR Werkitalienischer, katalanischer, deutscher, spanischer, portugiesischer Sprache ist jeweils mindestens ebensoviel Wichtiges gedacht und geschrieben worden wie in englischer - obwohl sich dieser in Europa auch Schotten, Waliser und Iren bedient haben -, in polnischer und russischer Sprache nicht viel weniger, und das sind bei weitem noch nicht alle europäischen Völker, Sprachen und Kulturen. International hat sich Englisch vor allem dadurch etabliert, daß das von England dominierte Inselreich an der Nordwestecke Europas vom 18. bis zum 20. Jahrhundert das größte Kolonialimperium der Erde erobert hatte und dann in der globalen Hegemonie durch die anglophonen USA, einen Ableger englischer Kolonisation, abgelöst wurde. Dieser Kolonialherrschafts-Ursprung anglophoner Dominanz müßte ihr in der Zukunft ein absolutes Ende setzen. Zwar sind früher einmal z.B. aus dem Jargon römischer Besatzungssöldner nach Jahrhunderten und unter vielfaltigen Kultureinflüssen Sprachen entstanden, in denen große Beiträge zur Menschheitskultur erbracht worden sind: die romanischen Sprachen Europas außerhalb von Italien. Die englische Sprache hat davon auch profitiert. Daß sie überhaupt für die Funktion einer internationalen Verkehrssprache brauchbar wurde, ist nicht vorstellbar ohne die neue Qualität von Weltläufigkeit und den Zuwachs an Wortschatz, an Differenzierungs- und Nuancierungsmöglichkeit des Ausdrucks, die das alte Angelsächsische erst durch seine Verschmelzung mit dem Französischen seit dem II. Jahrhundert gewann. Außerdem nähert sich das heutige Englisch mit seiner Tendenz zu Einsilbigkeit und Flexionslosigkeit, mit dem Schwinden morphologischer Unterscheidung zwischen den Wortklassen und der zunehmenden Bedeutung von Partikeln an das Chinesische an (vgl. Bodmer 1964, 111 ff., 234fT.). Trotzdem erscheint es weder als wahrscheinlich noch als kulturell wünschenswert, daß diese Sprache einer europäischen Kolonialmacht und ihres Erben USA bei ihrer derzeitigen Rolle bleibt. Nicht nur wegen der Vergangenheit von der sich eine zukünftige Menschheit gründlich lösen müßte - und den gegenwärtigen internationalen politischen Konstellationen, sondern ebenso sehr wegen der kulturellen Inhalte, die heute in dieser Sprache transportiert werden und die sich auf deren eigenem Boden nur schwer verändern lassen.Vor allem aber wird es immer dringender, daß die großen, hochentwickelten Kultursprachen aus der heutigen Dritten Welt einen angemessenen Platz in der Praxis des internationalen Kulturlebens gewinnen. 44 Daß Wissenschaft und Technik erst künftig dahin kommen sollten, den Charakter der

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tätige in vielen Bereichen mühselige Handarbeit, müßten noch Routinearbeiten gemacht werden, die die geistigen Fähigkeiten unterforderten. Um so wichtiger sei, "daß sich die schöpferischen Fähigkeiten der betreffenden Werktätigen vor allem in der Freizeit entfalten. Dort gehen sie interessanten Hobbys nach, bilden sie sich weiter und entwickeln sie vielfaltige kulturelle und sportliche Aktivitäten" (Voß Hg. 1986, 21; s.a. H. Koch u.a. 1982, 278). So kam die Marxsche disponible Zeit als eigentlicher Reichtum der Gesellschaft zur bloßen Kompensation für Arbeit herab, die die Fähigkeiten nicht entwickelt, sondern verkümmern läßt. Die Industriesoziologie im Westen hatte schon vor Jahrzehnten, an einer Änderbarkeit der Arbeitsbedingungen für die Mehrzahl der Tätigen verzweifelnd, kein anderes Hilfsmittel mehr gesehen als solchen kompensatorischen Ausgleich in der Freizeit (vgl. Friedmann 1953, 280ff.). Der Realsozialismus, später ,realistischer' im Vergleich zu hochfliegenden Projekten in seinen Anfangszeiten unter N.S. Chruschtschow, suchte sich in analoger Weise zu arrangieren. Dabei wurde die Entfremdung konserviert, die darin besteht, daß der Arbeitende nur außerhalb der Arbeit sich als Mensch fühlt und die Arbeit statt als Lebensinhalt lediglich als Mittel zum Beschaffen von Lebensinhalten oder Surrogaten dafür in der Zeit außerhalb der Arbeit auffassen kann. Für eine große Mehrheit der in heutiger Industriegesellschaft Lebenden verschiebt sich damit das Zentrum ihres Daseins von der produktiven Tätigkeit auf die bloße Konsumtion. Im Realsozialismus fragte soziologische Forschung nach den "Ursachen der Verbreitung des konsumtionellen Lebensstils in der sozialistischen Gesellschaft" und versuchte "Identifikation und Charakteristik der in der Gesellschaft auftretenden Konsummuster", eingeschlossen den Einfluß "übermaterieller Elemente der Lebensbedingungen auf das Konsumverhalten". Aus den bisherigen soziologischen und sozialpsychologischen Untersuchungen der Konsummuster sei bekannt, "daß die Milieufaktoren einen größeren Einfluß auf ihre Gestaltung haben als die Persönlichkeit des Individuums". Wichtig sei die Funktion des einzelnen in der Gruppe, seien Probleme "wie der Demonstrationseffekt, soziale Nachahmung, die Rolle der ( ... ) Bezugsgruppen, die Rolle und Merkmale der Vertreter öffentlicher Meinung und auch die Mode" (Strzelecka 1979, 5f.). Konsum als gewichtiger Freizeitinhalt hatte im Realsozialismus Besonderheiten, die aus dem Mangel resultierten. Die Probleme der Versorgung mit dem täglich Lebensnotwendigen wie mit sog. langlebigen Konsumgütern (Industriewaren) blieben ungelöst, auch in der DDR, die innerhalb des sowjetisch bestimmten Realsozialismus noch am günstigsten gestellt war. Der Arbeit grundlegend zu verändern, entspricht einer allgemeinen Tendenz des späteren Realsozialismus, alle größeren Wandlungen - immer weiter - in die Zukunft zu schieben (vgl. 15.1.1). 9 Rossade

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Mangel bewirkte, daß Gütererwerb und -besitz, der in den westlichen Industriegesellschaften weniger problematisch ist (wobei dann freilich auch die Ansprüche steigen), in den realsozialistischen von Zeitaufwand und subjektiv beigemessener Bedeutung her alles andere in den Hintergrund drängen konnte. Diese Abkehr von den wesentlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen und Bezügen diente auch unmittelbar der Erhaltung und Verfestigung der bestehenden Verhältnisse, insbesondere anläßlich der begehrten Westwaren. Nach R. Koch ( 1987) nutzte die DDR-Führung bewußt als Herrschaftsinstrument aus, daß das Herankommen an und Verfugen über diese hoch bewerteten Güter in der Bevölkerung, zumal unter der Jugend, als Ausweis gleichsam fur Lebenstüchtigkeit, fur das Aufderhöhesein von Erfolgsmenschen, fur praktische Findigkeit und soziale Brauchbarkeit galt. Demonstrativkonsum und Imponiergehabe gewannen in solchem Kontext besondere Akzente. In der Regel eher banale Konsumelemente wurden mehr als anderswo zu Vehikeln der Unterscheidung und Distinktion - keiner klassenmäßigen, sondern einer industriegesellschaftlich ,allgemein-menschlichen' im Sinne des realsozialistischen Konzepts. Die Verkehrung von Lebensinhalt und Lebensmittel, die Entfremdung also, erreichte eine neuartige Stufe. Die Lebenslage der DDR-Bevölkerung bildete eine Voraussetzung fur das herrschaftliche Spiel der Partei- und Staatsfuhrung. Im westlichen Deutschland war das durchschnittliche Nettoeinkommen der Lohn- und Gehaltsempfänger mehr als doppelt so hoch wie in der DDR, selbst bei Berücksichtigung der höheren Steuersätze; die Durchschnittsrenten betrugen mehr als das Dreifache (Zahlenspiegel 1985, 74f. ). Die Einkommensschichtung wies in der DDR einen sehr viel höheren Anteil der unteren Einkommen auf (ib., 75). Die Kaufkraft war bei Industriewaren generell sehr viel geringer als in der alten Bundesrepublik, bei Dienstleistungen zum Teil höher (gemessen in Arbeitszeit, die fur Anschaffungen erforderlich ist; ib., 77). Bei Nahrungs- und Genußmitteln war die BRD stark im Vorteil, bei Mieten die DDR (ib., 78). Der durchschnittliche Bestand an langlebigen Konsumgütern, vom Pkw bis zum Telefon, war in den Haushalten der BRD - zum Teil beträchtlich - höher als in denen der DDR, außer bei Motorrädern und bei Rundfunkempfängern (ib., 79). Der Pro-Kopf-Verbrauch ausgewählter Nahrungs- und Genußmittel (ib., 80) zeigte höheren Verbrauch der DDR bei Brotgetreide, Zucker, Eiern, Milch, Schweinefleisch, Kartoffeln (fast doppelt), Gemüse, Spirituosen (fast doppelt); niedrigeren bei Käse, Fisch, Obst und Südfrüchten, Kaffee, Tee, Wein und Sekt. Innerhalb des von der UdSSR beherrschten Staatenblocks lag die DDR - mit der Tschechoslowakei und Ungarn - an der Spitze hinsichtlich der Konsumkultur (s.a. H.-W. Schmidt 1994), aber der direkte, bewußtseins- und mentalitätsbildende Vergleich der Bevölkerung ging in die andere Richtung, zum westlichen Deutschland.

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit

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Die Mängel in der Konsumtionssphäre waren nicht zu trennen von denen in der Arbeitssphäre (vgl. 6.2). Nach G. Schneider (1987) stand die wöchentliche Arbeitszeit noch auf dem Niveau von 1967, wenn auch 20% der Berufstätigen (Schichtarbeiter und vollbeschäftigte Mütter mit zwei und mehr Kindern) kürzer arbeiteten; sie lag über dem europäischen Durchschnitt. Die Urlaubsdauer stagnierte auf dem Stand von 1979. Schichtarbeit wurde ausgeweitet, ohne Ausgleich durch mehr Erholungsmöglichkeiten. Das Geldeinkommen stagnierte: im Planzeitraum 1981 I 85 gab es keine Anhebung der Mindestlöhne wie 1971 und 1976 (damals von 300 auf 350 bzw. von 350-400 auf 400 - 500 Mark brutto). 28% der Beschäftigten verdienten immer noch weniger als 600 Mark brutto im Monat (ib., 408). Nur Stipendien und Lehrlingsgeld wurden seit 1981 aufgestockt; dazu kamen soziale Maßnahmen wie die Erhöhung des Kindergeldes (das immer noch weit unter dem westdeutschen lag; vgl. Zahlenspiegel 1985, 82). Der Kaufkraftzuwachs für Rentner betrug 1981 I 85 nur II% des Zuwachses von 1971 I 75. Zugenommen hatte der Anteil der Zinsen aus Sparguthaben (Sparzinssatz: 3,25%) am Zuwachs des Geldeinkommens: 1971/75 betrug er 41%, 1981185 dagegen 81% - infolge des Stagnierens des Geldeinkommens aus der Arbeit. Preissteigerungen, die im DDR-System ökonomisch erforderlich wurden, wurden aus politischen Gründen kaschiert und auf Umwegen verwirklicht (G. Schneider 1985). Die Versorgungsmängel bewirkten einen Kaufkraftüberhang, der - bei einer gewissen Sättigung des Grundbedarfs - stets wieder zu Engpässen führte: "Der Kauf von Waren vieler Sortimente ist nicht mehr zwingend und läßt sich längere Zeit verschieben, bis das Angebot in vollem Umfang der Nachfrage entspricht. Andererseits sind die Einkommensverhältnisse so, daß neue ansprechende Ware sofort in großen Mengen gekauft werden kann." (Herb. Koch 1984, 9). Dagegen wurde versucht, den Bedarf der Bevölkerung zu lenken und die Bedürfnisentwicklung zu steuern, was sich in einer letztlich erfolglosen Symptombehandlung erschöpfen mußte (vgl. ib., 10; 0 . SehrnutzIer 1979, 1984; J. Sehrnutzier 1981; Ebert 1982). Im Zusammenhang mit solcher "Herausbildung eines sozialistischen Konsumentenverhaltens" hat Elsner (1979, 676) auf einen Faktor verwiesen, der für den Lebensstil der Bevölkerungsmehrheit in der DDR wie anderswo relevant war: die private Nahrungszubereitung, deren Rückständigkeit und Mittelverschwendung schon in der alten sozialistischen Kritik fungierte (siehe Bebel 1974, 510). Sie zitiert Untersuchungen, nach denen in der DDR für die ständige Speisenherstellung das Arbeitsvermögen von 2,3 Mill. Beschäftigten gebunden wurde und in allen Industrieländern die Nahrungszubereitung die zeitaufwendigste Tätigkeit außerhalb der Erwerbsarbeit ist, wobei die DDR einen vorderen Platz einnahm (vgl. Elsner, a.a.O.). Kantinenessen während der Arbeitswoche spielte in der DDR wie in anderen westlichen und östlichen Industrieländern eine beträcht9•

132

A. Lebensstile

liehe Rolle. Dafür, daß die Gewohnheiten der Nahrungsbereitung sich grundsätzlich änderten, etwa im Sinne der alten sozialistischen Programmatik ganz von der Gesellschaft übernommen würden, sind aber Voraussetzungen erfordert, die der Realsozialismus mit seiner inhärenten Tendenz zur Privatisierung nie erfüllen konnte. Die Postulate blieben in dem Dilemma zwischen sozialistischen Entwürfen und realsozialistischen Gegebenheiten. - Für den alltagspraktischen Umgang mit den Versorgungsmängeln hatte auch der Handel mit Gebrauchtwaren zunehmende Bedeutung (DA 1987/4, 347f.; zur Bedeutung der Dienstleistungen und zu einem Aspekt von Werbung - beim Absatz von Feinkeramik - vgl. Lemm 1976; Klinge 1971). Nicht unwesentlich für Lebenslage und Lebensstile ist das Gesundheitswesen (s.a. ScheuchI Schreinicke 1989; Seefeldt 1989). Die öffentliche Gesundheitspflege und -vorsorge war in der DDR vergleichsweise gut entwikkelt, doch hat es an Zurückbleiben des Gesundheitswesens schon früh auch Kritik gegeben (vgl. z.B. den V. Parteitag der SED 1958: Protokoll 1959, Bd. 1, 432). Nach gravierendem Mangel an Ärzten und insbesondere Zahnärzten bis in die 70er Jahre war inzwischen den Zahlen nach ein recht ausgeglichener Besatz im Vergleich zur BRD erreicht. Die Zahl der Apotheken (die im westlichen Deutschland allerdings weithin zu Gemischtwarenhandlungen geworden sind) lag beträchtlich, die der Krankenhausbetten geringfügig unter denen der BRD. Die Säuglingssterblichkeit war in der DDR etwas und die Müttersterblichkeit um ~ niedriger als in der BRD (vgl. Zahlenspiegel 1985, 84). Bei ausgewählten meldepflichtigen Krankheiten (ib.) fallt die um ein Mehrfaches größere Häufigkeit von Scharlach und Gonorrhoe in der DDR gegenüber der BRD auf. Auch Kreislaufkrankheiten und Diabetes als Todesursachen waren in der DDR beträchtlich häufiger, Krebserkrankungen als Todesursachen etwas seltener als in der BRD (ib.). Auf einen für die Lebensqualität wichtigen Mangel wurde von Christa Wolf hingewiesen: die zeitliche Überlastung der Ärzte schloß geduldiges Zuhören, wirkliches Eingehen auf die Patienten aus, was sich nicht zuletzt bei diffizilen Fragen wie gynäkologischen als Zusammenhang von "Krankheit und Liebesentzug" manifestieren konnte (NDL 1987/2, 162; 1986/10, 84ff.). Weit größer noch als in der DDR waren die Probleme in der UdSSR (vgl. Ruban u.a. 1983, 241 ff.; zur Lage in Deutschland nach der Vereinigung: Thiele Hg. 1990; DA 1991/3, 274f. Zum "Erholungswesen" in der DDR vgl. das gleichnamige Buch von 1989). Die Volkskrankheit Alkoholismus, die sich vor allem in Rußland nach dem Zusammenbruch der UdSSR in ungebrochener Kontinuität zu einem gesellschaftlichen Desaster auszuweiten droht, konnte auch in der DDR gegen Ende nicht mehr ignoriert werden (siehe Winter u.a. 1988; Strack 1989). Ein weiterer Komplex, der für den Lebensstil der DDR-Bevölkerung außerhalb des Arbeitsbereichs von großer Bedeutung war, ist mit dem Wohnen

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit

133

verbunden. Die Wohnungsfrage ist ein alter Bestandteil sozialistischer Kritik und Programmatik, weil die Proletarier nicht nur in der Arbeit und beim Kauf ihrer bescheidenen Freuden in der arbeitsfreien Zeit übervorteilt werden, sondern ihre Lebenslage ganz wesentlich durch miserable, ebenso unzureichende wie ungesunde und schlecht ausgestattete Behausungen bestimmt wird (vgl. Engels 1869, in MEW 21, 192ff.). Die Lösung der Wohnungsfrage wurde in der DDR lange Zeit vernachlässigt. Erst als soziale Verbesserungen zu einer Lebensfrage des Systems geworden waren, kam es auch zu einem großangelegten Wohnbauprogramm, das indes die aufgelaufenen Probleme nicht im entferntesten zu lösen vermochte (s.a. in 15.1.4). Beim Zusammenbruch des SED-Staates bot vor allem die ältere, extrem vernachlässigte Bausubstanz ein verheerendes Bild. Aber auch den seit den 60er Jahren in der DDR errichteten Plattenbauten hatte erhaltende Pflege gefehlt, und die industriell hochgezogenen Neubaukomplexe waren um so unsolider, hellhöriger und im ganzen bewohnerfeindlicher, je kürzere Zeit sie gestanden hatten. Die 8. Baukonferenz im Juni 1985 hatte bereits einige Aspekte hervorgehoben, die fur die kulturellen Prägungen der späten DDR kennzeichnend waren. Einmal der auch kulturelle Zentralismus (vgl. dazu Laveau 1985, 204). Wie die heikle Versorgung der Bevölkerung in Ost-Berlin meist doch etwas besser war als in anderen Großstädten, nicht zu reden vom Rest der DDR, so hatte auch im Bauprogramm das Zentrum Vorrang, und die anderen hatten dafur ihren Beitrag zu leisten. Eine Ausstellung zu der genannten Konferenz zeigte, "wie die Hauptstadt mit Hilfe aller Bezirke, bei nunmehr verdoppelter Bautätigkeit, als Zentrum des politischen, wirtschaftlichen sowie wissenschaftlichen und geistig- kulturellen Lebens der Republik weiter ausgestaltet wird" (ND, 14.6.1985, 1; Hvhbg. von W.R.; s.a. S. 72). Zum anderen wird die bewußte Konsumglück-Orientierung deutlich, die eine "unpolitische Gesellschaft" wie die realsozialistische DDR (vgl. 8.4.6) markierte. Über die auszubauende Ostberliner Friedrichstraße hieß es, sie werde "attraktivste Geschäftsstraße der Hauptstadt. 2700 neue Wohnungen entstehen dort, viele Geschäfte, attrative Cafes, Restaurants und kulturelle Einrichtungen". Die Reihenfolge spricht fur sich. Zusammen mit dem im Bau befindlichen Marx-Engels-Forum und dem Platz der Akademie biete sich im Modell "ein eindrucksvolles Bild der bis 1990 weitgehend fertigzustellenden Innenstadt" (ND, a.a.O., lf.; vgl. dazu: Winters 1985; Ackermann 1986).45 45 Eine soziokulturelle Analyse des gegenwärtigen Wohnerlebnisses in Ostdeutschland gibt Alphons Silbermann nach den wohnpolitischen Rahrnenbedingungen, Wohnstandard, Wohnräumen, Wohnverhalten, Wohnbedürfnissen und Wohnzufriedenheit, den Wertsetzungen beim Wohnerlebnis (Silbermann 1993; s.a. Chr. Lemke 1991 , 210ff.; Helwig in DA 1992 I 5, 454f.; dies. in DA 1992 I 8, 788ff.). Ein gravierendes Datum sind die steigenden Wohnungsmieten in Ostdeutschland, nach den für die meisten Objekte künstlich sehr niedrig gehaltenen Mieten der DDR-Zeit. Der west I ostdeutsche Vergleich für 1991 und 1994 zeigt nachstehendes Bild:

A. Lebensstile

134

Dieses Grundmuster realsozialistischer Gesellschaftspolitik zwecks Herrschaftssicherung, die fiir den Lebensstil der Bevölkerungsmehrheit sehr relevante Orientierung auf ein Konsumglück (von bescheidenem, unbefriedigendem Niveau), hat ein Gedicht von Günter Kunert aufgegriffen. Als "schwunglose Engel", d.h. Ideologeme ohne kulturelle Potenz, sah der Text die in plattes, dabei nicht einmal erfiillbares Streben nach Befriedigung von Trivialbedürfnissen gewandelten einstigen gesellschaftlich-kulturellen Ansätze (Kunert 1979, 289): "Sieh da die schwunglosen Engel Auch wir haben das System des Überflusses vor allen Dingen in Form von überflüssigen Dingen welche die notwendigen ablösten ohne sie zu ersetzen: Die Läden sind übervoll von Produkten die keiner braucht indes alles Benötigte durch Abwesenheit glänzt und immer glänzender ist und wird durch Verlangen danach: so schweben wir über der Erde eine Handbreit stets." Anteil von Miete und Haushaltsenergie am verfogbaren Haushaltseinkommen in Prozent

Rentnerhaushalte (2 Personen)

Lohnabhängige mittl. Einkommen (4 Personen)

Lohnabhängige höh. Einkommen (4 Personen)

Ostdeutschland 1991 Mitte 1994

11,6 21,4

7,3 15,9

6,6 12,8

Westdeutschland Mitte 1994

31,2

22,0

17,8

Die Aufstellung zeigt, daß die einkommensschwächeren oder ärmeren Schichten, Rentner und abhängig Erwerbstätige mit mittlerem Einkommen, in Ostdeutschland anteilmäßig signifikant mehr (bei Rentnern: beträchtlich mehr, fast das Doppelte) aufwenden müssen als Haushalte, die ein höheres Einkommen zur Verfügung haben. Ebenso verhält es sich in Westdeutschland, wobei hier der Anteil, vor allem bei den unteren Kategorien, immer noch deutlich höher liegt als in Ostdeutschland. Allerdings sind die Einkommen im Osten weiterhin niedriger als die westdeutschen. - Neuerdings wird aber eine Abwärtstendenz der ostdeutschen Mieten angekündigt, wegen Überangebot von Mietwohnungen in Ballungsräumen, verursacht durch Vergünstigungen für die - fast ausnahmslos westdeutschen Kapitalanleger (SZ, 15.3.1995, 29).

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit

135

Damit war die Reduktion aller kulturellen Fähigkeiten der gesellschaftlichen Menschen auf den Sinn des Habens (vgl. Marx in MEW, Erg.-Bd. I, 539f.), die der Realsozialismus noch stärker hervorbrachte als der Kapitalismus alter Prägung, nach ihren zwei Seiten angesprochen: Ablösung wirklicher kultureller, humaner Lebensinhalte durch Surrogate, die sie nicht ersetzen können; Steigerung der Sucht nach bestimmten Konsumgütern durch Produktion von ,Ladenhütern', die nicht brauchbar sind. Die Folge ist- von den Herrschenden zu ihrer Absicherung funktionalisierter - Realitätsverlust, der unfähig macht, die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten in ihrer Tatsächlichkeit und in den wirklichen Proportionen zu erfassen. - Aus Empirie vor Ort ließe sich auf das Beispiel eines Altkommunisten hinweisen, promovierten Abteilungsleiter-Stellvertreters in einem politisch-wissenschaftlichen Institut, dessen fast ausschließliches Gesprächsthema in Mittagspausen und sonstiger Kommunikation außerhalb der unmittelbaren Arbeitszusammenhänge sein Auto, dessen Instandhaltung, das Beschaffen von Ersatzteilen etc. war. Der Umbruch in der DDR und die Vereinigung Ostdeutschlands mit der wirtschaftskräftigen alten BRD haben die Konsumtionssituation grundlegend verändert, für eine beträchtliche Mehrheit der Bevölkerung im positiven Sinn. Zugleich sind, wesentlich wiederum von der Arbeitssphäre her, neuartige Belastungen ins Leben getreten. Die arbeitsfreie Zeit vieler Ostdeutscher, gerade auch Jugendlicher, bekommt eine gänzlich andere Qualität, wenn sie zur leeren Zeit von Arbeitslosen wird. Die ,Abwicklung' und Transformation des alten Wirtschaftssystems, in der die bekannte Treuhandanstalt eine Hauptrolle gespielt hat, erfolgte weithin in einer traditionellen kapitalistischen ,Plattmach'-Manier, die nicht wenig zu den Unsicherheiten der heutigen Ostdeutschen in materieller wie in mentaler Hinsicht beigetragen hat.46 Von überwie46 Vgl. zur Arbeitslosigkeit: Berg in DA 199013, 417ff.; DA 199019, 1338ff.; DA 1990110, 1504; Belwe 1991; Friedrichl Wiedemeyer 1992; Berufsstrukturanalyse 1993; Sakowsky 1994; Helwig 1994; dies. 1994a. Zur Berufsbildung: Kroymann I Lübke 1993. Zu ,Abwicklung' und Transformation: Becher 1991; Ostdeutschland 1991; Umbruch 1992; Siebert 1992; Schutz I Volmer Hg. 1992; Sakowsky 1992; ArnoldI Meyer-Gosau Hg. 1992; Heidenreich Hg. 1992; Von der 1992; Unvollendete 1992; Stratemann 1992; Lange I Schöber 1993; R. Schmidt Hg. 1993; Naßmacher u.a. 1993; Vollbrecht 1993; R. Hoffmann u.a. Hg. 1993; Wirtschaftsnahe 1994; Das vereinte 1994. Zur Treuhandanstalt: Treuhandgesetz 1990; Homann 1991; H. Luft 1991; Chr. Luft 1992; Flug 1992; W Fischer u.a. Hg. 1993; Kombinate 1993; B 43-4411994. Zu Unsicherheiten der Lebenslage, VeiWirrungen und Vergegenwärtigungen des Umbruchs, zu dessen Vorgeschichte und Folgen: Maaz 1990; Meckel 1990; Leonhard 1990; LangeiMatthes 1990; Mayer 1991; Keine 1991; I. Hanke 1991; Menge 1992; Kornbichler 1992; Was ist 1993; Das gespaltene 1993; HardtwigiWinkler Hg. 1993; Hilbig 1993; Eppelmann 1993; Drück Hg. 1993; Spittmann 1994; Gries 1994; Hilsberg 1994; Seickert 1994; Wilfr. Schutz 1994. Ein Element ist die wachsende Kriminalität (Schwerin I Görner 1992; s.a. in 3.10). Angst wurde schon vor der Wende in der DDR fiir gesellschaftlich relevant gehalten (vgl. Katzenstein I Sitte 1989).

136

A. Lebensstile

gend kulturhaltigen Lebensstilen in der Nichtarbeitszeit sind sie nach wie vor noch weiter entfernt als die Westdeutschen.

6.4 Kulturbetrieb Die Rede von der Gestaltung des Zentrums der ,Hauptstadt der DDR' (S. 133) zeigt einige bestimmende Züge des Stils, in dem die Stätten der Reproduktion der Arbeitskraft gehalten sein sollten. Denn dies war die Hauptfunktion der Freizeit in realsozialistischer Perzeption; die kompensatorische Funktion in bezog auf deprimierende und dequalifizierende Arbeitsinhalte ist davon nur ein Teil. Freizeit ist durch ihre quantitative Ausweitung und deren soziokulturelle Folgen zu einem Problem für die Industriegesellschaft generell geworden (vgl. Scheuch 1977; Huck Hg. 1982; Scholz 1982). Obwohl, wie gezeigt, in der realsozialistischen Industriegesellschaft die arbeitsfreie Zeit und die Freizeit als deren Teil jeweils geringeren Umfang hatten, war die Problematik grundsätzlich die gleiche (s.a. Mieksch 1972; Ziegler 1977; Steitz 1979; Winzer u.a. 1980, 263ff.; Naumann 1981 ). Bestimmter war jedoch hier die konzeptionelle Funktionalisierung der Zeit außerhalb der Arbeit fiir Reproduktion der Arbeitskraft (vgl. Koch u.a. 1982, 281). In dieser Funktion war Freizeit keine Privatangelegenheit, sondern, so wie sie gesellschaftlich zur Verfugung gestellt sei, auch gesellschaftlicher Auftrag, was ihre erwünschten Inhalte wie was ihren arbeitsproduktiven Zweck anging (ib., 285; vgl. H. Koch 1983, 88ff.; Grundlagen 1979, l80ff., 228ff.; Kulturarbeit 1986). Sie wurde perzipiert als "Mittel, um hervorragende Ergebnisse in der materiellen Produktion zu erreichen" (Beiträge 1975, 45). In Marx' Fassung der Freizeit als Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, das dann als Hauptproduktivkraft auf die Produktivität der Arbeit zurückwirke (vgl. Grundrisse, 599), war letztlich der kulturelle Gesichtspunkt dominant, da auch die Arbeit keinen anderen Endzweck haben sollte als menschliche Freiheit. Im Realsozialismus war umgekehrt der ökonomische Gesichtspunkt und der wieder als Instrument bestimmter Politik - dominant. Abgesehen von der elementaren physischen Reproduktion der arbeitenden Individuen (Nahrungsaufnahme, Schlaf, etc; auch Reproduktion der Gattung) ist so gesehene Reproduktion der Arbeitskraft vor allem Sache des Kulturbetriebes - Bildungsmöglichkeiten, Unterhaltung, kulturell-ideologische Aspekte materieller Kultur wie Wohnung und Kleidung, in gewissem Sinne auch politische Tätigkeit (,gesellschaftliche Arbeit') eingeschlossen. "Die steigenden Anforderungen im Produktionsprozeß, aber auch notwendiger Zeitaufwand für Qualifizierung und ehrenamtliche gesellschaftliche Tätigkeit, wecken natürlich auch unterschiedliche Bedürfnisse: das Bedürfnis nach kulturellen Gemeinschaftserlebnissen ebenso wie das nach individueller Tätigkeit

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit

137

und Erholung." (Hager 1972, 22). Das praktisch äußerst wichtige Feld des Unterhaltungsbetriebs wird im folgenden Abschnitt gesondert behandelt. Hier zunächst zu einigen anderen Elementen der realsozialistischen Freizeitkultur. " ... was Jugendliche unserer Republik hier und heute alles auf die Beine stellen können. Der eine möchte Sport treiben, aber die Turnhalle ist schon vergeben. Was kann er trotzdem tun? Die Disko am Wohnort ist lahm, wie können wir sie selbst beleben? Eine Reise im Sommer, wie organisieren wir sie? In der Freizeit lernen, ob das Freude macht?" (Voß Hg. 1986, 1). Hier klangen auch reale Schwierigkeiten der Freizeitausfüllung schon von den vorhandenen Mitteln her an. Im weiteren erschienen als Freizeittätigkeiten: Fernsehen; Bücher, Theater, Museen, künstlerische Selbstbetätigung; Sport und Reisen; Disko (in der DDR gebe es pro Jahr gegenwärtig über 55 Mill. Besucher in öffentlichen Diskotheken; ib., 104); Lernen; Freundschaften und Liebesbeziehungen; Essen, Trinken, Rauchen, Psychohygiene; Mode als "die schönste Nebensache der Welt" (ib., 175); Jugendklubs. Eine andere Publikation (Muße 1984) schlug als Freizeitinhalte Wandern, Schlemmern, Baden, Fernsehen, Sticken, Scherenschnitte u.a. vor. Man solle die Freizeit nutzen, um die Familienbindungen zu pflegen (s.a. 8.4.5). Es gehe um aktive Erholung, d.h. gesundheitsbewußte Freizeittätigkeit, wobei auch "kluge Vorausplanung" empfohlen wurde. Zur laienkünstlerischen Betätigung (dem "künstlerischen Volksschaffen") als Freizeitinhalt vgl. Geyer u.a. 1984. Was den Urlaub angeht, eine wesentliche Möglichkeit zur Wiederherstellung der Arbeitskraft, so hatten die Berufstätigen in der BRD durchschnittlich über fiinf, die in der DDR etwa vier Wochen Urlaub. Die DDR-Werktätigen hatten sehr viel weniger Möglichkeiten fiir Urlaubsreisen, speziell auch ins Ausland. (vgl. Zahlenspiegel 1985, 101 /02). Im Zuge der Intensivierung wurden die Beziehungen zwischen Freizeit und "dem Leistungsverhalten in der Arbeit" immer enger (Lothar Gierkein IS 1985 / 4, 5; s.a. die weiteren Beiträge ib., 6ff.). Die Statistik (vgl. umseitig Tabelle 10) zeigt, daß Fernsehen und Betätigung im Kleingarten unter den Freizeitinhalten der DDR-Bürger generell die beiden ersten Plätze einnahmen. Tendenziell analog stagnierten oder waren rückläufig Tätigkeiten, die- gegenüber dem massenhaften Fernsehen- mehr Aktivität voraussetzen oder - gegenüber dem Kleingärtnern - höhere Ansprüche an die Ausübenden stellen. Dabei zeichnet sich als ein Grundmuster ab, daß qualitativ neue Stufen kultureller Partizipation, die in früheren Stadien der DDR-Entwicklung erreicht werden konnten, im Verlauf der realsozialistischen Evolution nicht gehalten wurden. Ein Beispiel ist das Theater. Nach der DDR-Statistik sank die Gesamtzahl der Theaterbesuche zwischen 1960 und 1986 fast kontinuierlich von 16.127.000 auf 9.680.000. Stark rückläufig waren, außer dem Jugendstück, alle ausgewiesenen Theaterformen (Oper, Operette, Schauspiel); lediglich

A. Lebensstile

138

Tabelle 10

Freizeittätigkeiten nach Rangplätzen Junge Werktätige/ Studenten Schallplatten bzw. Tonbänder hören Treffen mit Freunden Kinobesuch Sport treiben Tanzveranstaltungen besuchen Fernsehen Lesen Weiterbildung Theaterbesuche Arbeit im Garten Hobbys

I.

2. 3. 4.

5. 6. 7. 8. 9.

-

Schüler (9. und 10. Klasse) I.

2. 3. 5.

-

4.

6. 7. 8.

-

Gesamtbevölkerung

-

5. 9. 3. 6.

I. 4.

10. 7. 2. 8.

Quelle: AK Voß 1981, 132: zit. Husner 1985.83.

"übrige Veranstaltungen", nach dieser Aufteilung also wohl hauptsächlich Unterhaltungsvorfiihrungen geringeren Anspruchs, konnten ihre Besucherzahl weit mehr als verdoppeln (Stat TB 1987, 128). Die gesondert ausgewiesenen Kabaretts hatten von 1982 bis 1986 einen Besucherzuwachs von 428.767 auf 565.325 (ib.). Auch die Zahl der Konzertbesucher stieg: von 12,5 je 100 Einwohner im Jahr 1970 auf 21,8 je 100 Einwohner 1986, wobei allerdings bei kontinuierlicher Zunahme von 1970 bis 1985 ein geringer Rückgang von 1985 auf 1986 eintrat (ib.). Zugenommen hatte auch die Zahl der Museumsbesucher: von 15,6 Mill. 1965 auf 34,3 Mill. 1986 (ib., 130). Doch lag hier der große Sprung zwischen 1970 und 1975 (von 19,8 auf 30,3 Mill.). Danach schwankten die Zahlen wechselnd zwischen über 30 bis über 34 Mill. (ib. ). Ähnlich die Bibliotheksbenutzung. Die Benutzerzahl stieg von 1965 bis 1977 von 3,62 Mill. auf 5,05 Mill., von 1977 bis 1986 aber nur mehr geringfugig (1986: 5,166 Mill.), während die Bestände recht kontinuierlich von 49,3 Mill. Einheiten (1965) auf 93 Mill. Einheiten (1986) zunahmen (ib., 129). Die DDR als "Leseland"- Lesen stand unter den Freizeittätigkeiten der Gesamtbevölkerung an 4. Stelle, wobei die Älteren mehr lasen als die Jugendlichen, bei denen Lesen lediglich die 6. bzw. 7. Position einnahm (s. obige Tabelle) - wird nur dann zutreffend verstanden, wenn das Lesen auch als Ersatz fur sonst Fehlendes aufgefaßt wird. Günter Kunert hat (1979, 375) darauf hingewiesen, daß der DDR-Leser vom Buch Lebenshilfe erwartete, "etwas wie ( ... ) eine unre1ativierbare Wahrheit inmitten so vieler flüchtiger oder bereits verflüchtigter", aber auch Information, die anderwärts nicht gegeben wurde (dazu auch Nowotny in WB 1979 I 7, 18), und eine Ausweitung

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit

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wenigstens in der Phantasie seines "auf engste Funktionen regredierten Lebens" (s.a. Chr. Wolf 1984, 15; zur Selbstdarstellung der DDR als ,Literaturgesellschaft' vgl. Emmerich 1981, 19ff.). Die Theatennisere erscheint um so bemerkenswerter, als von den materiellen Voraussetzungen her (Theaterbauten, Ensembles, Subventionierung der Eintrittspreise u.a.) eine günstige Lage gegeben war (s.a. Laveau 1985, 20 If.). Dem Rückgang des Theaterbesuchs insgesamt stand der Mangel an Eintrittskarten für begehrte Aufführungen in Theater und Konzert gegenüber (vgl. Seeger, Früh um flinf zu Johann Strauß, in Wopo 1985 I 2, 18; s.a. H.-P. Minetti, Wopo 1985 I 44, 16, über Theaterbesuch als Vergnügen und als- gesellschaftliches Ereignis). Für Spezifika des DDR-Kulturlebens mag eine Einzelheit nicht ohne Relevanz sein wie die, der Kulturbund solle sich auch mit Heraldik befassen (So 1979112, 9): mit der sehr gegenwartsfernen, dem Feudalismus und seinen Überbleibseln auch in europäischer Gegenwart47 zugewandten Liebhaberei der Wappenkunde, die übrigens auch im westlichen Deutschland ein Stück Erneuerung erlebte, mit der Mode der Herstellung von Familienwappen für durchaus (klein-)bürgerliche Namensträger. Der nostalgische Zug in solcherlei Freizeitbeschäftigung entsprach einer Grundbefindlichkeit in der realsozialistischen DDR (s. bes. 8.4.6). Im übrigen war Routine wohl das Merkmal schlechthin realsozialistischen Kulturbetriebs, auch oder besonders auch in der DDR,48 und die vorwiegenden Freizeitinhalte der großen Bevölkerungsmehrheit waren nicht dazu angetan, festliegende, wenig aktivierende Abläufe zu verändern. Beobachtern fiel das "Graue" des DDR-Kulturbetriebs auf (Bathrick 1983). Äußere Erscheinungsbilder wie in der Produkt- (Waren-) Gestaltung, für das tägliche Leben und Alltagsästhetik von großer Bedeutung, verstärkten eher den dominierenden Eindruck von Öde und Zukunftslosigkeit, nicht zuletzt deswegen, weil sie weithin nur mehr oder minder unglückliche 47 Besonders stilecht nach den mittelalterlichen Regeln der Heraldik ist das große Staatswappen des ,Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland'. 4H Einen solchen ritualisierten Routineablauf im Kulturbetrieb hat der "Sonntag" (I 987 I 43, I) publiziert: 1975 habe Christa Wolf dem Aufbau-Verlag die Texte einer jungen Frau, Ingeborg Arlt, empfohlen. 1978 gab es Gutachten von Lektoren zu Arlts erstem Manuskript, und nochmal neun Jahre später erscheine nun ihre erste Erzählung ("Das kleine Leben"), die die Akademie der Künste immerhin der Auszeichnung mit dem AnnaSeghers-Stipendium für würdig befunden habe. "Trotz bester Empfehlung also ein mühevoller Weg, über den die noch auskunftsungewohnte Autorin beim Verlagstag im Petrochemischen Kombinat Schwedt ganz selbstverständlich, fast routiniert befragt wurde. Dort hat man Erfahrung nach siebzehn Veranstaltungen dieser Art, die achtzehnte war eine unspektakuläre, im Ritual des Gewohnten doch sympathische: Treffen im Verlag, Busfahrt, Begrüßungsreden, Mittagessen, Betriebsbesichtigung, Diskussion in den Kollektiven, Abendessen, Rückfahrt. Mit dabei: (es folgt eine Aufzählung von fünf Namen, als erster Heinz Kahlau - W.R.) - kaum einer davon zum ersten Mal. Für Ingeborg Arlt könnte der 20. Verlagstag an Vertrautes erinnern, denn für 1989 hat der Verlag ihr nächstes Buch im Plan."

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A. Lebensstile

Nachahmungen westlicher Vorbilder waren (vgl. Bertsch/ Hedler I Dietz 1990; s.a. H. Hirdina 1988; zu einer der wenigen Ausnahmen siehe in Exkurs 3). Letztlich waren aber solche Erscheinungen nur ein Ausfluß der Grundgegebenheit, daß die "Politikfelder von Wirtschaft, sozialer Sicherung und Kultur" verflochten waren, mit Sicherheit - nicht nur im Sinne von Sozialpolitik, sondern vor allem und übergreifend von staatlicher Sicherheit, Absicherung des Staates und seines realsozialistischen Systems - als dominierendem Anliegen (vgl. Rytlewski 1988; unten 15.2.3; zu den letzten zwei Jahrzehnten der DDR-Kultur: Grunenberg 1990). Wie in der Wirtschaft hat auch in der Kultur im engeren Sinne der ostdeutsche Umbruch zu massiven Veränderungen geführt. "Die Vereinigung beider deutscher Staaten hat dem Beitrittsgebiet DDR viele Freiheiten gebracht, die deren Bürger lange vermißt haben. Andererseits findet aber auch eine Verarmung von Kultur statt, Theater werden geschlossen, Orchester aufgelöst, Museen, die Medien werden gesichtslos (was sie allerdings vor der Wende erst recht waren - WR.)." Dazu sagte Erich Loest unter anderem: "Es ist ganz gewiß falsch gewesen, einer Anarchie auf dem Gebiet der privaten Fernsehsender zuzustimmen, denn das ist nicht Freiheit, sondern Anarchie. Und im Kampf um die Werbeeinnahmen und die Einschaltquoten begibt sich auch das öffentlich rechtliche Fernsehen auf ein immer niedrigeres Niveau. Die Nachrichtensendungen werden, bis ins Radio hinein, zerhackt. Den Leuten wird das Sehen und Hören abgewöhnt. Das alles hat zu einer Kurzatmigkeit geführt." (Loest/Görner 1994, 171) Das ist Kritik am Kulturbetrieb des westlichen Kapitalismus, der sich den verendeten Realsozialismus einverleibt, aber keine Erhöhung der realsozialistischen Vergangenheit, die gänzlich fehl am Platze wäre. Analyse des Vergangenen; Abwicklung und Transformation des Kulturbereiches im engeren Sinne, eingeschlossen die Massenmedien; das "Hinüberretten in den Kapitalismus" (Kersten 1991, 463); fallende Schranken und die Unzuträglichkeiten mechanischer Zusammenschlüsse sind zum Gegenstand einer sich ausbreitenden Literatur geworden. 49 Grundsätzlich ist festzuhalten, daß gerade im Felde des Kulturbetriebs der Umbruch, jedenfalls in inhaltlicher Beziehung, weniger gänzlich Neues brachte als vielmehr Kontinuität, eine Fortsetzung von schon Vorhandenem (s.a. Hesse 1988).

49 Eine Auswahl: Roßmann 1989; ders. 1989a; Streu/ 1989; Jäger 1990a; ders. 199Gb; Funkhaus Hg. 1990; Kersten 1991; Streu/ 1992; Jäger 1992; Loest 1992; Ernst u.a. 1993; Kulturpolitische Aufgaben 1993.

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6.5 Unterhaltungskultur Besonders deutlich zeigt sich das im Unterhaltungsbetrieb, einer der massenwirksamsten und alltäglich am meisten erfahrbaren Erscheinungen von Kultur im engerem Sinne. Die in der realsozialistischen Eigendarstellung so genannte Unterhaltungskultur der DDR wurde in den 70er I 80er Jahren zunehmend durch drei bestimmte Muster geprägt. 1. Ihre Elemente wurden, mehr noch als andere kulturelle Erscheinungen, ,allgemein menschlich' respektive der gegenwärtigen Epoche generell zugehörig, also - in den Kategorien immanenter Kritik gesprochen - system- und klassenindifferent verstanden. Das neuartige Grundmuster entsprach der Bescheidung mit einer vorgeblich besseren ,Industriegesellschaft' anstelle von sozialistischer Alternative (vgl. 15.1.4). Gesagt wurde, ein Streit darüber, ob es sich in der DDR um sozialistische Unterhaltungskunst oder Unterhaltungskunst im Sozialismus handle (also etwas, was im Westen und im Realsozialismus gleichermaßen da sei), könne als müßig gelten. Sie wirke im Sozialismus "und kann und muß hier mehr und Besseres bewirken" als im Westen, nicht indem sie andere Aufgaben und höhere Zwecke erfüllen wolle, sondern indem sie "mit Energie und Phantasie" die ihr eigentümlichen Ziele verfolge, "das Publikum gut zu unterhalten, es anzuregen und aufzuregen, abzulenken und hinzulenken, es wenigstens zeitweise in einen anderen Gemütszustand zu versetzen, Besinnlichkeit und Nachdenklichkeit ebenso zu ermöglichen wie den großen Spaß, den Rausch der Gefühle und Sinne" (H. Hanke in Inform 1986/ l, ll; s.a. Rossade 1986, 32ff.; Leitner 1983). Das Konzept stellte also "Unterhaltungskunst" auf eine Stufe mit Elementen materieller Kultur. So wie es keine proletarischen oder bourgeoisen Eisenbahnschienen gibt, sondern diese Metallerzeugnisse von gegensätzlichen Gesellschaftssystemen verwendet werden können, so sollte jene Kunst und Kultur gewissermaßen an einem dritten, neutralen Ort vorhanden und von westlichem Kapitalismus oder Realsozialismus nach Bedarf zu gebrauchen sein. Dabei ist die sozioökonomische (kapitalistische), soziokulturelle (bürgerliche) und ethnokulturelle (anglo-amerikanische oder ,angelsächsische') Partikularität gerade der zeitgenössischen Popularkultur deutlich genug. Wenn der Realsozialismus schließlich dahin kommen konnte, sie für klassenneutral zu erklären, dann deshalb, weil er sich selbst vom westlichen System nicht mehr grundsätzlich unterschied. Sehr deutlich wird in dem zitierten Konzept auch die Kompensationsfunktion, die im Realsozialismus den Freizeitbeschäftigungen und Freizeitinhalten überhaupt zugemessen wurde. Wenig später verzichtete dann eine Konferenz des Staatlichen Komitees für Unterhaltungskunst der DDR noch eindeutiger auf alle Eigenständigkeit des Realsozialismus hinsichtlich der ,U' -Kultur (In-

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form 1986 I 3; umfangreiches Material zur Problematik in einer studentischen Abschlußarbeit G. Stiller, Die Entwicklung der Unterhaltung als Teil der Kulturpolitik in der DDR seit 1970, FU Berlin, Dez. 1986). Ansätze zu den Positionen aus dem letzten Jahrfünft der DDR finden sich bereits Ende der 70er Jahre (vgl. Spahn 1980). Der generelle ,industriegesellschaftliche' Wandel des Realsozialismus weist im ,U' -Bereich einige zusätzliche Spezifika auf. Zum einen waren frühere Versuche, der westlichen Unterhaltungs- und Zerstreuungsindustrie etwas Eigenes - auf grundsätzlich gleicher, nicht auf einer alternativen Ebene entgegenzustellen, kläglich gescheitert. Aus den späten 50er Jahren kann da ein künstlich aufgebrachter, biederer Gesellschaftstanz namens "Lipsi" (von Leipzig) als Beispiel dienen (vgl. dazu Dok I, 561). Die spätere Kapitulation vor dem übermächtigen Einfluß dessen, was der Westen an Unterhaltungsproduktionen zu bieten hat, trug insofern einen resignativen Zug gegenüber Eigenem. Dabei wirkte sich aus, daß massenhafte populäre Alltagskultur im sowjetischen Sozialismus teils - anfangs wohl mit Notwendigkeit - immer am Rande stand, teils ihre nach 1917 aufblühenden mächtigen Ansätze alternativer Art nicht weitergeführt wurden (vgl. in 15.4.2, 15.4.3). Hauptfaktor war jedoch der generelle Übergang von sozialistischen zu ,industriegesellschaftlichen' sozialstruktureilen und soziokulturellen Orientierungen mit der Folge, daß auch für die Unterhaltungskultur lediglich . Konkurrenz mit dem Westen auf einem von diesem geprägten Boden und das Ziel des Mitbestimmens der ,Weltspitze' anstand. Während etwa der frühere französische Kulturminister Jack Lang gegen den übermächtigen, einseitigen Einfluß von Massenware aus den USA sprach und in den USA selber die Prägungen und Inhalte der ,U'-Industrie auch sehr kritisch beleuchtet werden, dominierte im Realsozialismus, je näher sein Ende rückte, das im Grundsätzlichen kritiklose Nachäffen.50 Zurückbleiben des Systems, vor allem in der UdSSR und der 50 Jack Lang kritisierte sowohl die Disproportionen in den wechselseitigen Massenkulturbeziehungen zwischen den USA und Europa als auch die Inhalte der Importe aus den USA. Die Filme, die in Europa über Leinwand und Bildschirm flimmern, stammen zu 70% aus den USA, umgekehrt sind es keine 5% (Lang 1985, 20). Für die USA geht es dabei direkt (eben durch den Verkauf dieser Produkte; s.a. SZ, 10.3.1995, 19: US-Forderungen, die europäischen Film- und Medienmärkte noch weiter fiir Importe aus den USA zu öffnen) wie indirekt um wirtschaftliche Interessen: "Mit ihren Bildern exportieren sie gleichzeitig ihren ,way of life' und folglich ihre Wirtschaft. Tun wir es ihnen nach! Nehmen wir ihre zähe Entschlossenheit zum Modell! Wir sind dazu in der Lage." (ib.) Der Export/Import von Massenkonfektion wie der sehr publikumswirksamen Fernsehserien bedeutet nicht nur, daß "Europas facettenreicher Filmindustrie die wirtschaftliche Grundlage entzogen wird", sondern auch, "daß sich der Alte Kontinent geradezu nahtlos in eine Weltkultur des Kitsches (made in USA) integriert" (Text zu red. Bildbeigabe, ib.). Was da verbreitet wird, zielt auf eine Welt nach dem B.ilde der hegemonialen ,Super'macht. Postman nannte die Bewohner der USA "die am besten unterhaltenen und zugleich wahrscheinlich die am schlechtesten informierten Leute der westlichen Welt" ( 1985,

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DDR, gegenüber seinem erkorenen kulturellen Vorbild ist ein essentieller Bestandteil des Wandels. 2. Eine weitere auffallende Prägung der Massenkultur in der realsozialistischen DDR (wie in der Sowjetunion) war, daß seit Ende der 50er Jahre, durchaus analog zum und teilweise noch bemüht eifriger als im Westen, zunehmend ,Unterhaltung' zum allgemeinen, durchgängigen Grundzug von Vorführungen für ein breites Publikum wurde, und zwar in einem sehr äußerlichen Verständnis (s.a. Mattesius 1983). Stilelemente der - unpolitischen Revue, des kommerziellen Schaubetriebs mit seinen ganz bewußt auf Oberflächenwirkung abstellenden Giltzereffekten breiteten sich überall aus, vielfach mehr, simpler und dilettantischer als im Westen, aber nach seinem Vorbild. Erfaßt hatte diese Manier schließlich nahezu alle Veranstaltungen, die mehr oder minder massenwirksam sein sollten, vom ,ernsten' Theater und dem schmückenden Aufputz von Parteitagen der SED bis zu gymnastischen Massenvorführungen oder der Aufmachung von Eiskunstläufern, wobei das ebenfalls recht allgemeine - sexistische Ausstellen weiblicher Nacktheit penetrant wurde. In der Eigendarstellung klang das dann so wie die Beschreibung einer entsprechenden Veranstaltung in Prag: "13.824 Frauen aus allen 132). Zur Unterhaltungsindustrie und zur Medienproblematik s.a. Alberts u.a. 1974; Bischoff/ Maldaner Hg. 1982; Kaase / Schulz Hg. 1989, 30lff., 314-472. Zur Übereinstimmung zwischen Realsozialismus und Westen s.a. Marg. Reinemann 1989 und Oschlies in DA 1990/2, 285ff. Die Kultur- und Kulturpolitiktheorie in der DDR der realsozialistischen Endzeit nahm "die populären Künste" wie Popmusik, Filme, Schauveranstaltungen (insbesondere im Fernsehen), Videos, gezeichnete Fortsetzungsgeschichten (Bandes dessinees oder. BDs; Comic strips oder Comics), Produktgestaltung (,Design'), Mode, Werbung u.ä. ohne Rücksicht auf ihre soziale und ethnokulturelle Bestimmtheit als die moderne Volkskultur, als zeitgemäße Gestalt traditioneller Volks- im Unterschied zu elitärer Hochkultur, in völliger Übereinstimmung mit westlicher Sicht (vgl. z.B. Kneif 1980). Sie wollte dabei die Klassenneutralität dieser Massenkultur mit den "internationalen Gemeinsamkeiten in der Lebensweise und in den Persönlichkeitseigenschaften der arbeitenden Klassen in der heutigen Welt" (etwa zwischen Arbeitenden in Schweden und in Bolivien oder Südafrika, in Deutschland und in Vietnam, Indien oder Burkina Faso?!) und den "industriell und in nationaler wie internationaler Arbeitsteilung produzierten Existenzmittel(n) der Menschen wie Nahrung und Kleidung, Energie und Wohnung, Bildung und Information, Kunst und Unterhaltung, die fur alle da sind" begründen (H. Hanke 1986, 11; s.a. Hansen 1984) - als wären die hochpolitisierten und -ideologisierten (und keineswegs fur "alle" existenten) Bereiche wie Bildung und Information, Künste und Unterhaltung mit solchen wie Nahrung oder Wohnung(sgebäuden) schlechtweg auf eine Stufe zu stellen; als wäre nicht schon die Kleidung als ein Hauptobjekt der Mode voll in ideologisch-kulturelle Zusammenhänge integriert; und als wäre jene Massenkultur wirklich eine Hervorbringung des Volkes, nicht vielmehr einer durchkommerzialisierten Industrie von gigantischen Dimensionen und einem entsprechend massenhaften Produktionsausstoß. Daß diese Industrie nach bestimmten soziokulturellen Leitbildern produziert und diese zu hinterfra&en wären, war den realsozialistischen ,Marxisten' auch nicht mehr geläufig. Und ihr Obergang zum ,Industriegesellschafts'-Konzept versperrte ihnen konsequenterweise die Sicht auf globale Realitäten, reduzierte ihr Blickfeld auf den industriell entwickelten ,Norden' der Erde.

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Teilen unseres südlichen Nachbarlandes verwandelten den ( ... ) ,größten Sportplatz der Welt' auf dem Strahov-Hügel der Moldaumetropole in eine Arena voller Anmut, Schönheit und Harmonie". So habe man die Slawischen Tänze Dvofliks noch nie gesehen (ND, 1.7.1985, 7; s.a. in 12.5; Abb. 6/7). Ebenso fand sich schon die Tendenz zur Auflösung des Sachlichen in von einem für schwachsinnig gehaltenen bzw. systematisch dazu gemachten Publikum - angeblich einzig verdauliche ,U'-Häppchen, etwa in Informationssendungen des Fernsehens, bei ohnehin zunehmendem Übergewicht der als solche direkt ausgewiesenen ,Unterhaltung'. Auch diese Manier starrunt aus dem Westen, wo sie jedoch auch, zum Teil heftig, angegriffen und nicht nur für einen Höhepunkt volksnaher Aufbereitung von Kultur erklärt wird (vgl. etwa R. Gernhardt in Spie 1985/43,86, zu dem "Verwursteln", oder Postman 1985, 132ff.). 3. Eine dritte Prägung war die äußerlich kleinbürgerliche. Kann das beherrschende Prinzip der Zurichtung (Stilisierung, des ,Styling') der Unterhaltungskultur im Westen als großbürgerlich gelten - jedenfalls im Sinne eines gleichsam obersten Wertes von ,U', zu dem hin sich auch das auf kleinbürgerliche Mentalitäten Abzielende ausrichtet -, so war die entsprechende realsozialistische Massenware ganz überwiegend kleinbürgerlich zubereitet. Hier regierte das, was Hanns Eisler schon in der Frühzeit der DDR anläßlich der Berieselung der Rundfunkhörer mit schnulzigen ,Schlagern' als "entsetzlich abgegriffene Plattheit" und "Konformismus zur Vergangenheit" kennzeichnete, vorgetragen in der Art von "Chören für Coca-Cola-Reklame", gleichen Stils also wie die "Werbemusik ( ... ), die zum Kauf von Waren auffordert" (in: Bunge 1972, 29f.). Mentalitätsprägende Unterhaltung im Realsozialismus blieb jedoch bei solcher kleinbürgerlichen Dununheit in der Musik nicht stehen. In der UdSSR empfahl die Zeitung des Komsomol, des offiziellen Jugendverbandes, die Aufstellung von Jagdspielautomaten in Kinofoyers, Klubs u.ä., mit denen das Erlegen von Wild in effigie "kinderleicht" werde. "Der Schütze beobachtet das Auftauchen eines Tieres auf dem Bildschirm, drückt ab, und es ertönt der Schrei eines verwundeten oder sterbenden Tieres" (zit. von G. Bahro 1986, 9lf.). Übung im Töten als Zeitvertreib, akustisch wirklichkeitsnah, das liegt durchaus auf der Linie ,realistischer , Erschießungsspiele, wie sie in den 90er Jahren im Westen aufgetaucht sind und Kritik erfahren haben. Für Hintergrund und Inhalte des Unterhaltungsbetriebs in der DDR recht kennzeichnend war wohl ein DEFA-Film von Mitte der 80er Jahre, der unter dem Titel "Ab heute erwachsen" alternatives Jugendleben mit Feminismus, Wohnungsbesetzung, männlicher Homosexualität, Freiluftrock und antiautoritärer Erziehung durch alleinstehende Mütter zeigte. Für die jungen Leute sei die etwas dünne Geschichte reichlich mit Rockmusik garniert worden. Be-

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leuchtet werde nur die Oberfläche, es fehle an psychologischer Tiefenschärfe. "Immerhin vermitteln Alltagsbeobachtungen ein Bild des Lebens im anderen deutschen Staat, wie es kaum in den Zeitungen steht. Man ist mit seinen Ansprüchen an DEFA-Filme ja schon bescheiden geworden." (Kersten in DA 1985/7, 691f.; zur ,Szene' in der Endzeit der DDR vgl. Stock/ Müh1berg 1990). Eine eigenständige Unterhaltungskultur zu schaffen ist dem Realsozialismus in der DDR wie anderswo ebensowenig gelungen, wie es jemals eine ,sozialistische deutsche Nationalkultur' neben der im wesentlichen einen, wenn auch facettenreich zusammengesetzten, deutschen gegeben hat (dazu Jäger 1991). Insbesondere gilt das auch fiir moderne oder modernistische Ausdrucksformen in den verschiedenen Medien und Gattungen (siehe Niemandsland 1988/5; Rossade in DA 1991/9, 988).

6.6 Mode Im Kontext der Mode werden die Grundmuster spät-realsozialistischer Popularkultur noch deutlicher. Versuche in der Frühzeit der DDR, eine eigenständige, sozialistische Mode zu schaffen, waren ebenso gescheitert wie die Bemühungen um eine sozialistische Unterhaltungskunst (vgl. Ernst 1990). Später galt dann wie in dem anderen Fall die vom westlichen Kapitalismus bestimmte Mode als die epochal verbindliche. Die gesellschaftliche Bedingtheit von Mode stand gegenüber ihrer vermeintlichen Allgemeingültigkeit, die auf Gesetzen der (Massen-)Produktion und der davon abhängigen massenhaften Lebensweise beruhen sollte, sehr am Rande. Zugestanden wurde lediglich, Mode könne "auch" Ideologie sein (Gespräch 1984; s.a. Rossade 1986, 33).51 Nur bestimmte unpraktische Extravaganzen seien nicht nachahmenswert (Gespräch 1984), ähnlich wie in der Rockmusik gewisse extreme westliche Kruditäten (noch?) nicht erwünscht waren (vgl. Dannenberg / Kohlll Im "Jugendlexikon Kleidung und Mode" hieß es immerhin, Mode sei "eine von der gesellschaftlichen Entwicklung abhängige Erscheinung", die "geistig-kulturelle Strömungen, Lebensweisen und technische Errungenschaften" widerspiegele, wobei "Haltungen und Ideale, Ziele und Interessen von sozialen Schichten und Gruppen deutlich" würden. Die Setzung anthropologischer Allgemeinheit äußerte sich in der Darlegung, Mode fördere "das menschliche Bedürfnis nach Selbstdarstellung, Vervollkommnung und Anerkennung", aber es wurde auch gesagt, Mode diene der "Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse innerhalb einer Gesellschaft" (Kosak u.a. 1986, 143). Sehr ,allgemein-menschlich' erschien die Mode dagegen im konkret wirtschaftlichen, marktbezogenen Zusammenhang. Sie dokumentiere auch im Realsozialismus "den objektiv und permanent vorhandenen Wunsch der Menschen nach Wandel" und sei daher "durch ständige Dynamik gekennzeichnet" (Wittek 1975, 24; s.a. Donat 1985, 21: man dürfe soziale Determiniertheit nicht einseitig begreifen, sondern "der Mensch selbst" schaffe und gestalte "durch sein Verhalten" auch die gesellschaftlichen Verhältnisse).

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schmidt 1985). Darin erscheint eine Grundtendenz des Realsozialismus, übereinstimmend mit sozialdemokratischen (rechtssozialistischen oder revisionistischen) Attituden, die darauf hinausläuft: im Prinzip möchte man sein und haben wie der hoch- und spätkapitalistische Westen, aber bitte wohlanständiger, braver, kleinbürgerlich biederer (s.a. 15.1.4). Die sozialstrukturell und sozialpolitisch bestimmte Sicht, auf der ein solches Muster beruht, kam gelegentlich relativ offen zum Vorschein, schon in der Zeit von Ulbrichts kulturpolitischer Ersatzrevolution Ende der 50er Jahre (vgl. 15.4.1): "Der aus der Not geborene proletarische Habitus ( .. . ) ist einer soliden Bürgerlichkeit gewichen" (Leipziger Neueste Nachrichten, 2.1 0. 1959). Proletarischer Habitus wäre demnach ein bloßer Mangel, durch Rückkehr zu, Bezug auf die alte - Bürgerlichkeit zu überwinden. Aus den Ansätzen der Arbeiter- und der proletarischen Kultur etw;ls Eigenständiges zu entwickeln, blieb außerhalb der realsozialistischen Programmatik (siehe 15.4.2). In der UdSSR fand solche Ausrichtung in der Endzeit Konkretisierungen wie die, daß als besonderes Frauentagsgeschenk für die weibliche Bevölkerung die Chefin der westdeutschen Burda-Moden von der Ehefrau Gorbatschows empfangen wurde, zwecks konkreter Entwicklungshilfe für die sowjetische (Damen-)Mode (vgl. SZ, 5.3.1987, 3). Dort war auch, bei generellem Übereinstimmen mit dem Wunsch kleinbürgerlicher Abmilderung westlich-kultureller Extrema, Streben nach Gleichziehen mit US-amerikanischer Megalomanie im Bereich besonders prestigehaltiger materieller Kultur anzutreffen. So mit der sowjetischen Limousine von gewaltigen Abmessungen, durch die "sowjetische Automobilkonstrukteure irgendwann ihren Cadillac-Komplex bewältigt haben müssen", einem "riesige(n) Blechgehäuse" in Nachahmung amerikanischer Straßenkreuzer (Bölling 1983, 31 ). Wiederum ist es nicht schlechthin westliches, sondern vor allem US-amerikanisches Vorbild, nach dem die Ausrichtung erfolgte. Mit dem Versuch, Ideologisches auf Materiell-Kulturelles zu reduzieren (siehe Anm. 50), gelangte der Realsozialismus faktisch zu einer Art Heiligsprechung der Jeanskultur. Was in der ersten Hälfte der 70er Jahre noch sehr ,alternativ' klang und heftig diskutiert wurde (vgl. Plenzdorf 1973; Dok Il, 920ff.), war ein reichliches Jahrzehnt später offiziell anerkannt. Die emblematischen Niethosen (,Bluejeans') können geradezu als Musterbeispiel für die Ideologisierung von einem Element materieller Kultur gelten. Ursprünglich eine nicht weiter beachtete Arbeitskleidung nordamerikanischer Unterschichten, wurde sie ins Warenhausglück integriert und stieg bis zum teuren Modefetzen der bourgeoisen Schickeria auf. Symbolisches Zeichen vor allem der (westlichen) Jugend für vermeintliche Distanzierung von der steifen und verheuchelten Erwachsenenwelt in einem ,eigenen' Lebensstil (den eine riesige, profitable Industrie massenhaft bereitstellt!), wurde es im Zuge der amerikanischen Auf-

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weichung des Realsozialismus von ideologischen Wortführern als Banner erklärter freiheitlicher Bestrebungen gegen dogmatische Enge von festgelegten Parteifunktionären übernommen, ohne den mindesten kritischen Bezug auf gesellschaftliche Wurzeln und Umfeld der ,Jeanskultur'. In Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." hieß es: "Natürlich Jeans! Oder kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen? Jeans sind die edelsten Hosen der Welt. ( ... ) Für Jeans konnte ich überhaupt auf alles verzichten, außer der schönsten Sache vielleicht. Und außer Musik. Ich meine jetzt nicht irgendeinen Händelsohn Bacholdy, sondern echte Musik, Leute. (Hier spricht sich der pop-ideologische Gegensatz ,Bildungsmusik' gegen Quasi-'Volksmusik' aus, worunter damals Jazz, später Rock verstanden wurde. Ansonsten verarbeitete der Text aber gerade ein - literarisches - Bildungsgut, Goethes "Werther"- W.R.) ( ... )Ich meine, Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen." (Plenzdorf (1973) 1977, 26f.; s.a. ib., 29f.). Ähnlich kam F. R. Fries in dem Roman "Der Weg nach Oobliadooh" (1966) mit seiner diffusen, jazzbesessenen Boheme nur zu einer Scheinalternative zur herrschenden realsozialistischen Borniertheit, mehr poetisierende intellektuelle Arroganz gegenüber dem gemeinen Volk als gesellschaftliche Substanz. In solcherart Ideologie erschöpfte sich die ,modische' Kritik an realsozialistischen Gegebenheiten bis zum Ende der DDR. Objektiv lieferte sie lediglich den realsozialistischen Machthabern einige brüchige kulturelle Inhalte, auf die - auf deren repressive Tolerierung - sie sich noch eine Weile stützen konnten, als ihnen sozialistische Inhalte längst verloren gegangen waren. Seltener als die Verklärung amerikanischer Muster war ihre - echte, nicht realsozialistisch reaktionäre und bloß scheinhafte - Ablehnung. Sie findet sich jedoch auch, so bei Franz Fühmann im Kontext vernichtender Kritik an alten, aktuell konservierten Herrschaftsmustern. Frauen in der DDR werden von ihren ,starken' Pascha-Ehemännern als Haustierchen gehalten, sehr ähnlich frustrierten Nur-Ehefrauen in den USA, und das Erscheinungsbild dieser Dominanztypen kommt aus derselben Ecke, diesmal nicht in Jeans, sondern in Leder: "Lederjacke, Macho-Leibgürtel und Macho-Handgurte, breite, spitznietige Kunstlederbänder, Silber auf Schwarz, erstarrte Gewalt" (Fühmann 1985, 107, 97; s.a. Rossade in DA 1989 / 6, 691). Ähnlich wie mit dem emblematischen Kleidungsstück verhält es sich mit dem Hauptelement der "Jeanskultur", von dem nach den zwingenden Regeln der Mode jenes Emblem nicht zu trennen ist: der Rockmusik, die für den Lebensstil beträchtlicher Bevölkerungsteile - besonders, aber nicht nur, der Jugend - im industrialisierten Norden des Globus und bis weit in die Dritte Welt hinein aktuell prägend war. Anfange und Ursprünge dieser Musik liegen im Milieu der diskriminierten Afroamerikaner in den USA. Daraus kamen ihr - trotz Elementen wie der bonbonhaften Prägung durch die Unterhaltungsatmosphäre billiger Bars und trotz Aufblicken zu Größen des etablierten Amüsierbetriebes wie dem Schmalzsänger F. Sinatra - auch authentische Ge10*

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halte von Volks- und Gegenkultur. Aber sie wurde von ,weißen' Gruppen aufgenommen, verwässert und massenhaft verbreitet, so in den herrschenden Schaukommerz integriert und als dessen Element zum ganz wichtigen Werkzeug einer Lebensstilprägung nach den Moden des amerikanistischen Kulturimperialismus (vgl. zur Entwicklung: Shaw 1983; Kneif 1980). Dessen verschiedene Erscheinungsformen fassen sich weitgehend in den Mustern der kommerziellen Werbung zusammen. Diese kamen nach der Wende in der DDR in aller unkritischen Abundanz heraus, sie machten vor nichts halt. Exemplarisch ist etwa der Spruch der PDS "Don't wony, take Gysi", der in den Wahlkämpfen des Jahres 1990 hunderttausendfach geklebt wurde. Derartiges übertrifft noch westdeutsche Mode-Usancen, war aber gerade darin nur eine Fortsetzung, keine Wende. Schon in DDR-Zeiten überstieg Aufputz nach US-Mustem mitunter die westlichen Vorbilder. 52 Und 52 Jugendliche Besucher aus dem Westen hatten Mitte der 80er Jahre in Ostberlin diese Eindrucke: "Gegenüber den gestylten Ost-Typen sahen wir in unserer Kluft ganz schön blaß aus." "Wir haben während der zwei Tage, die wir in Ost-Berlin verbrachten, ein äußerst bunt gefärbtes Treiben beobachten können. So ziemlich alle Phänomene westlicher Subkulturen, die in den letzten zehn Jahren von sich reden machten, etwa langhaarige Hippies, buntgefärbte Punks und New-Wave-Kids, Rockabilly-Cats im Stil der 50er Jahre, Skinheads, Modem Romantics, Popper etc. liefen uns über den Weg." Nachfragend, ob da nicht etwa Westbesucher aufträten, sei zu erfahren gewesen, "daß es sich entweder um Ost-Berliner oder um Besucher aus anderen Teilen der Republik handelte" (zit. Kapferer 1986, 87; s.a. Anm. 39 und Abb. XI; ferner in Rathenow I Hauswald 1987; Wikke / Ziegenrücker 1985; K. Gerlach 1984). Die Protestqualität solcher Jugend-Nebenkultur war weitgehend nur scheinhaft; sie stärkte sich aus den Repressionen bzw. wurde durch sie erst erzeugt (s.a. Rathenow/Hauswald 1987, 14). Insofern die Unterdruckung eine Ausbreitung der Popkultur förderte, verstärkte sie aber die amerikanistischen Einflüsse im Realsozialismus. Für die Macher dieser Kultur in der DDR waren selbstverständlich die anglo-amerikanischen Akteure die (unerreichbaren) Vorbilder, denen es nachzustreben galt. Aktualisierten Blues etwa stellte man sich so vor, "wie's die Stones machen. Auf jeder Platte haben sie einen Blues, der Rest klingt anders". Inländische Fans schrieben Tausende von Briefen an ihre Lieblingsgruppe. "Die standen auf Puhdys und auf uns (d.i. die Gruppe "Rockhaus" W.R.). Und ich sage dir: Was kann fiir einen Rockmusiker schöner sein als zehn, elf LP zu produzieren, große Konzerthallen zu fiillen. Es steht fest, daß die Puhdys hier im Lande die schärfste Band sind. ( ... ) Wir können doch nicht sagen, wir wollen so groß sein wie die Stones. Das ist völliger Blödsinn. Wir leben hier. Und die hiesigen Stones sind die Puhdys. Und nur die bieten sich als Vergleich an." (Balitzki 1985, 45, 141, s.a. passim). Die Rolling Stones (s.a. AK 1986) gehörten übrigens zu den ,weißen' Gruppen, die den schwarzen Rhythm and Blues fiir die herrschende Ethnokultur verdaulich machten und kommerzialisierten (vgl. Rock-Lexikon 1977, 300). Den westlichen Sternen scheinen die DDR-Rockmusiker auch in ihrem Lebensstil nachgeeifert zu haben. K. Wink/er ( 1985, 192) zitierte aus dem Brief eines Freundes in der DDR dessen Frustration, "weil sich hier langsam aber sicher die Aktivität nur noch in den Köpfen abspielt und jeder halbwegs machbare Typ nur noch irgendwelche Spruche kloppen kann. Die Musikscene ist total out und tot. Was zählt: Kohle, Weiber, Saufen - Musik als Marktprodukt". Die Namen, aber auch. nicht mehr, der übernommenen Popkulturelemente wurden zum Teil eingedeutscht oder eingeDDRt. So wurde aus dem Breakdance - ebenfalls ursprung-

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nicht nur die westdeutsche DKP stilisierte ihre politischen Plakate nach den Klischees kommerzieller Kaufverlockungen. Ein Plakat zum letzten Jugendtreffen in DDR-Manier beispielsweise unterschied sich in nichts von üblicher platter, sexistisch aufgeladener Kaufbausreklame (siehe Abb. XII). Übrigens sind das keine Ausrutscher, sondern Konsequenzen einer kalkulierten Stratelieh aus der schwarzen Unterschicht in den USA und bald lukrativ vermarktet - unter Beibehaltung des Namens ein ,jugendliches pantomimisches Musik-Laientheater", eine "freudebetonte Übung", die als positiver Streß den Abbau von physischen und psychischen Spannungen fördern - also der Kompensation entfremdeter Arbeit und unzuträglicher Lebensverhältnisse dienen - könne. Aus den nach der Absicht gesundheitsfördernden Verrenkungen Aerobic wurde in der DDR eine willkommene "Popgymnastik" (vgl. Deine Gesundheit, Berlin (0), 198419, 22; TPK 198518, 593ff.). Mitunter ist es nach der Wende zu einer Ent-Anglisierung gekommen, wenn davor schon ein Anglizismus in Gebrauch und auf DDR-Verhältnisse festgelegt war. Die bekannten "Goldbroiler" hießen im Mai 1993 am Berliner Alexanderplatz wieder Brathähnchen. Im "Magazin" gab es Beiträge zu berühmten westlichen Eilm- und Musiksternen, mit erotischen Fotos und dosierter Kritik, die mehr an die Opfer des Schaugeschäfts als an dieses gerichtet war. So zu Marilyn Monroe, Janis Joplin, Jimi Hendrix, dem Tarzan-Darsteller John Weissmuller und anderen (Mag 198215, 18ff.; 198218, 36ff.; 1983 15, 68ff.; 198317, 16ff.). Bei Romy Schneider erschien es so, als sei sie mitschuldig am frühen Erlahmen ihrer Lebenskraft gewesen, obwohl der grausame Unfalltod ihres 14jährigen Sohnes erwähnt wird. Sinn des Ganzen war eine kitschbefrachtete Nutzanwendung fiir die DDR der 80er Jahre, die unter starker Abwanderung von Schauspielern litt: Romy habe nicht die Kraft ihrer Großmutter Rosa Albach-Retty gehabt, die, nicht lange vor der Enkelin, mit I 06 Jahren gestorben sei, allerdings im Gegensatz zu dieser auf die ganz große Karriere mit Traumgagen verzichtet habe und lieber an der Seite "eines geliebten Mannes" geblieben sei, "der seine Heimatstadt Wien nicht verlassen wollte". Worauf sie "glücklich an seiner Seite und ein Star des Burgtheaters" geworden sei (Mag 1982 I 8, 38; Vf.: R. Holland-Moritz). Diese Tonart weist darauf, daß Mode- wie Unterhaltungsbetrieb in der DDR keineswegs nur amerikanistisch geprägt waren. Der traditionelle deutsche Sentiment-Kitsch behielt seine Position in Einheit mit der kleinbürgerlich biederen Seichtheit, wie sie im Westen paradigmatisch wohl am besten von den Blättchen vertreten werden, die im Einzelhandelsläden als Gratiszugabe zu bekommen sind. Die Humorseiten in "Für Dich" und anderen Illustrierten oder auch nicht wenige Modenschauen waren Beispiele dafiir aus der DDR (s.a. Anm. 55). Analoges gab es auch in der Singebewegung (zu dieser E.-M. Hilimann 1973; Klagge 1981; Jank 1983; F Krüger 1986), bei der schon der Name auf überholt Latschermäßiges hindeutet (vgl. E. Weinert 1968, 82f.). Da brachte Rezeption der Rockmusik doch wenigstens, sei es auch verdünnt im Vergleich zu deren - insgesamt keineswegs vorwiegenden - kritischen Elementen im Westen, teilweise Substantielleres hervor, wie etwa die Ballade "Paule Panke" über ein Lehrlingsleben in der DDR, hergestellt von der Gruppe "Pankow" (Balitzki 1985, 116ff.). Einschlägig waren u.a. auch das im Namen etwas unglücklich an ein Insektenpulver erinnernde ,.Jugendradio DT 64" (dazu Wopo 1986 I 9, 3), ein ,Spie/meister' namens Heinz Rennhack (Wopo 1981121, 15) und nicht zuletzt der nach Umbau neueröffnete Friedrichstadtpalast in Ostberlin mit seinen eher konventionellen Varietenummem (dazu Wopo 1984114, 15; 1984118, 7; 1984147, 7). Zu erwähnen bleibt, daß der westdeutsche Blödelftim ,. Otto " mit dem Spaßmacher Waalkes in der DDR alle Kassenrekorde der Kinos brach (Kersten in DA 1987 I 1, 9), ein Stück ,U'-Kunst keineswegs unterster Ebene, aber doch durchaus ,unpolitisch' und insofern der realsozialistischen DDR angemessen (siehe 8.4.6 u.a.).

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gie, der die Überzeugung zugrundeliegt, heutzutage sei eben der Kommerz allgegenwärtig und allmächtig, und darauf habe sich Politik mit ihren ,Verkaufsangeboten' einzustellen. In solcher Kapitulation vor überbordendem kapitalistischem Wirtschaftsdenken scheinen die realsozialistischen Akteure ihren westlichen Kollegen zumindest teilweise sogar voraus gewesen zu sein. Mode drückt sich traditionell insbesondere in den jeweiligen Eigentümlichkeiten der Kleidung aus, so wie sie bürgerlich-traditionell vor allem eine Sache der Frauen und der Jugend gewesen ist, von Bevölkerungsteilen also, die in den bestehenden Herrschaftssystemen, den Realsozialismus eingeschlossen, benachteiligt sind. Mögliche Ästhetik der alltäglichen Lebensweise wird so im Herrschaftsmechanismus essentielle Angelegenheit der nicht für voll Genommenen, während sie für die herrschenden Männer vorwiegend marginal bleibt. Mode ist nicht nur in dieser Beziehung integriert in den symbolischen Kampf um die Macht (vgl. König 1983, 511 f. ). Ein anderes Moment erschien in der DDR mit einer charakteristischen Zurichtung der sonst heruntergespielten gesellschaftlichen Bedingtheit von Mode. Bekleidung, hieß es, sei nicht nur unter dem Aspekt der Nützlichkeit zu sehen, sondern eben auch unter dem der Mode, d.h. nicht nur als Gebrauchs-, sondern als Kulturwert, dabei auch als "Mittel für die Befriedigung der Bedürfuisse nach Selbstdarstellung, Ausstrahlungskraft und Repräsentation", was "nicht im Sinne von Geltungsstreben oder Sozialprestige" zu verstehen sei, sondern als "Dokumentation von Persönlichkeit, Bildungs- und Kulturniveau und sozialistischer Lebensweise" - als wäre solches Dokumentieren, abgesehen von der nebulosen sozialistischen Lebensweise, nicht eben auf Sozialprestige und Geltung gerichtet. Bekleidungsstil nenne man den "ausdrucksvollen Zusammenklang von Kleidung, Frisur und modischem Beiwerk, der das äußere Erscheinungsbild eines Menschen seinem Wesen und Typ gemäß" forme, z.B. Jugendlichkeit oder Sportlichkeit hervorhebe (s. dazu 5.2.1). Bekleidungsstile seien aus Traditionen gewachsen, relativ zeitlos und würden auf "Erfahrungen bezüglich der Typgestaltung" aufbauen (Kosak u.a. 1986, 19). Nach Möbius (in Möbius Hg. 1984, 28) wird insbesondere auch durch die Mode die Sphäre des sozialen Austausches oder der Lebenssicherung als Kernzone "der Entstehung und Durchsetzung von Stilen, der Auseinandersetzung und gegenseitigen Anverwandlung von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern" im Kontext der soziokulturellen Distinktion erwiesen. Geschmack ist nach einer DDR-Definition "ein an verinnerlichten Normen orientiertes Urteilsvermögen über die Eigenschaften von Objekten (z.B. Kleidung, Schmuck), die der einzelne unmittelbar sinnlich wahrnimmt". Geschmacksurteile, die sich keineswegs immer logisch begründen ließen, spielten eine große Rolle bei einschlägigen Perzeptionen. Der Geschmack bilde

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit

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und entwickle sich "im wirklichkeitsbezogenen, kritischen und schöpferischen Umgang mit Kleidung, Beiwerk, Schmuck und Kosmetik" abhängig von Alter, Bildung, Reife, Lebensumständen und Idealen (Kosak u.a. 1986, 59; zur Geschichte der Mode vgl. Brost 1984). Georg Simmel hat in seiner soziologischen Studie "Zur Psychologie der Mode" ( 1895) diesen Distinktionskomplex so bestimmt: Mode genüge "einerseits dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung, insofern sie Nachahmung ist; sie führt den einzelnen auf der Bahn, die alle gehen; andererseits aber befriedigt sie auch das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sichabheben, und zwar sowohl durch den Wechsel ihrer Inhalte, der der Mode von heute ein individuelles Gepräge gegenüber der von gestern und morgen gibt, wie durch den Umstand, daß Moden immer Klassenmoden sind, daß die Moden der höheren Schicht sich von denen der tieferen unterscheiden und in dem Augenblick verlassen werden, in dem diese letzteren sie sich aneignen." Die Mode sei eine besondere unter den Lebensformen, durch die man "einen Kompromiß zwischen der Tendenz nach sozialer Egalisierung und der nach individuellen Unterschiedsreizen" herzustellen gesucht habe (im Orig. hervorgehoben). "Gerade wie die Ehre ursprünglich Standesehre ist, d.h. ihren Charakter und vor allem ihre sittlichen Rechte daraus zieht, daß der einzelne in seiner Ehre zugleich die seines sozialen Kreises, seines Standes repräsentiert und wahrt: so bedeutet die Mode einerseits den Anschluß an die Gleichgestellten, andererseits den Abschluß dieser als einer ganzen Gruppe gegen die Tieferstehenden." (Simmel 1983, 132f.). Materielle Basis der Mode von der Produktion her waren die Textil-, die Schuh- und andere Zweige der Leichtindustrie. Deren Orientierung erschien etwa bei der Gelegenheit der Einweihung eines neuen Betriebes und der Überreichung des Ehrenbanners des ZK durch Minister Halbritter für die Massenherstellung von "modischen Freizeitschuhen, wie sie Jugendliche jetzt gern tragen", nämlich "Sport- und Jugendschuhe mit angespritzten Polyurethan-Formsohlen" wie im Westen (siehe ND, 11.4.1986, 3). 53 In dieser Hin53 Rita Urbanski, Fachgebietsleiterin für Damenoberbekleidung im Modeinstitut der DDR, sagte in einem Interview, jedes Kleidungsstück müsse funktionsgerecht sein. Nicht jedes im DDR-Handel angebotene Modell sei zweckmäßig. Das Modeinstitut habe die Aufgabe, Vorlauf zu schaffen, internationale Trends zu analysieren, der Bekleidungsindustrie langfristige Orientierung zu geben. Seine Erkenntnisse seien Empfehlungen an die Industrie. Es bestünde ein konkreter Kooperationsvertrag mit dem VEB Kombinat Oberbekleidung Lößnitz. Die "Anleitungskollektion" des Modeinstituts solle zur Grundlage der Massenherstellung werden - keine Sache der Exquisit-Läden. Der Informations- und Erziehungsprozeß des Handels müsse noch intensiver werden (Wopo 1982/ II, 3). - Im Zusammenhang mit einer Ausstellung "Kunst und Form" in Ostberlin wurde die Mode als eines der interessantesten Gebiete der Industrieformgestaltung bezeichnet und konnte auf einzelne Beispiele künstlerischer Modegestaltung verwiesen werden, wozu kritisch angemerkt wurde, daß sich die Entwerfer zumeist als Kunsthandwerker für Einzelstücke ver-

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A. Lebensstile

sieht galt seit langem bloßer Nachvollzug der westlichen Entwicklungen, meist mit mehr oder minder großem zeitlichem Verzug. In der Jugendmode gab es wenigstens theoretisch weitgehende Annäherung an die westlichen Standards, wie das 1986 erschienene "Jugendlexikon Kleidung und Mode" zeigt. 54 Eine statistische Aufstellung für Jugendliche unter 25 und Erwachsene ab 25 Jahre zeigt die überkommenen Prägungen hinsichtlich der Altersgruppen wie insbesondere der Geschlechterrollen: Tabelle 11

Mode-Interesse nach Altersgruppen und Geschlechtern Interessengrad

großes bis sehr großes Interesse etwas Interesse wenig Interesse kein Interesse I keine Meinung

Jugendliche

Männer

I

Frauen

ab 25 Jahre

rnännl.

weih!.

41 46 II

80 18 I

18 42 27

51 33 8

2

I

13

8

Qu•ll•: Kahlert 1978. 24; s.a. ib.. 25, Tab. 3.

stünden, ohne Förderung der Produktion für den Massenbedarf (Axe/ Bertram in Wopo 1985 I 4, 14f.). Also Elitisrnus der Modegestalter, grundsätzlich ähnlich wie in der westlichen bourgeoisen Mode, aber mit weniger Auswirkung auf die Massenmode als dort. 54 Die alphabetischen Sachbegriffe reichen von "Abendkleidung", "Abnäher" und "Abstimmung" (gegenseitige Anpassung von Kleidungsteilen, Zubehör und Beiwerk) über "Ballerina" (Fiachschuh - ,Slipper' - in der Art eines Ballettschuhs), "Diadem", "Dirndl", "Edelstein", den "Fall" des Stoffes am Körper, "Farbensymbolik", "Fiatterhernd", "Frisur", "Grundgarderobe" u.v.ä. bis zu "PreH'I-Porter", "Poncho", "Twinset", "Typgestaltung", "Uniform", "Urtypen der Bekleidung", "Wolle", "Zylinder". Behandelt werden historische Begriffe bis zur Allongeperücke ebenso wie die großen zeitgenössischen, großenteils französischen Modeschöpfer wie Pierre Cardin oder Coco Chane!. Jeansgrößen (238f.) kommen vor und anderes auf die aktuell gängigen Bekleidungsgewohnheiten Bezügliches, aber auch eher ausgefallene Begriffe wie "Banane" (eine hochgesteckte Langhaarfrisur der 50er Jahre) oder "Jodhpurhose" (eine Reithose). Die übliche Anglo-Lastigkeit zeigt sich z.B. darin, daß unter "Accessoires" nur ein Verweis auf deutsche Fassung ("modisches Beiwerk") zu finden ist, während Slipper, Slip, Top u.v.a., auch "Afro-Look" und Ähnliches, mit Selbstverständlichkeit unverdeutscht erscheinen (Kosak u.a. 1986, passim). Völlig ohne Abhebung von Eigenern werden die westlichen Muster verallgemeinert (siehe z.B. ebenda: Dernokratisierung der Mode; Jeans; romantischer Stil u.a.). Entsprechend der geltenden Orientierung zeigen die Abb. von Kleidung wie Frisuren keinerlei Unterschied gegenüber der Westmode (vgl. Titelbild und dieS. 16, 25, 40, 51, 57, 62 163 , 73, 81, 91, 102, 103, 131, 137, 140, 159, 171, 177, 196,207,208,222, 224). - Die Jungen heißen im Modekontext "Junioren" (ib., 232; s.a. Andrea Hartmann 1985, 27), die Mädchen bleiben aber Mädchen (vgl. Kosak u.a. 1986, 233) und werden nicht Juniorinnen. Unter Berufstracht erscheinen nicht nur der Zimmermann und der Schäfer, sondern auch der Priester (ib., 2 11 ).

6. Arbeits- und Freizeittätigkeit

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Entsprechend war die Ausgabenstruktur bei den Jugendlichen. Der Aufwand fiir Bekleidung nahm unter den persönlichen Geldausgaben bei 46% der Jugendlichen in der DDR den ersten, bei 23% den zweiten und bei nur 9% erst den dritten Platz ein (ib., 24), wobei die wahrscheinlich aufschlußreiche Unterscheidung nach Geschlechtern hier nicht getroffen wird. Der Trend der Stilisierung ging dabei von "sportlich I elegant" zu "sportlich I leger", und zwar - was wiederum den Geschlechterstereotypen entspricht - bei den jungen Männem (von 1976 bis 1983 eine Steigerung von 35% auf 62%) deutlicher als bei den jungen Mädchen (Steigerung von 28% auf 47%) (Andrea Hartmann 1985, 27). Die eifrige Übernahme westlicher Muster brachte es mit sich, daß selbst Kindem ein diskussionswürdiges Modebewußtsein zugebilligt wurde. Die Schülerzeitung der Pionierorganisation brachte das erzieherische Anliegen vor, die ( 11- bis 12jährigen) Kinder sollten auf die wenig modische äußere Erscheinung einer Mitschülerin ("Martina") nicht mit Aggressionen reagieren, sondern mehr auf substantiellere Werte achten und sich nicht einfach nach dem vorherrschenden Wind drehen, allerdings auch der Martina helfen, modischer aufzutreten. Denn: "Es ist schon angenehm, gut gekleidet zu sein, und man kann sich auch freuen, wenn man schicke Sachen geschenkt bekommt." (Trommel, 38 [1985] 3, 15). Auch hier also ein Distinktionsmuster nach traditioneller bürgerlich I kleinbürgerlicher Art. Das Modemachen unter realsozialistischen Bedingungen zeigte weitere Distinktionen gemäß der Sozialstrukturellen Schichtung und anderen Gruppenunterschieden, auch Besonderheiten, die sich aus der wirtschaftlichen Lage der DDR ergaben. 55 Reproduktion alter Ungleichheiten aus dem kulturel55 Im "Zentralen Klub der Jugend und Sportler" in Erfurt gab es einen Zirkel Textilgestaltung, der vor allem mit textilem Wandschmuck befaßt war. Er erhielt mehrfach den Titel "Ausgezeichnetes Volkskunstkollektiv der DDR", seine Leiterin die "Medaille für Verdienste im künstlerischen Volksschaffen", und beschickte zahlreiche Ausstellungen (BVs 27 [1982] 5, 174f.). Soziokulturelle Distinktionen zeigten sich etwa an dem Modejournal "Sibylle" gegenüber dem Modeteil der Frauenillustrierten "Für Dich", der sehr biedere, hausbackene Aufmachungs-Vorschläge brachte. "Sibylle" war dagegen mehr auf ein arriviertes und intellektuelles Publikum zugeschnitten, die Anleihen und die Annäherung an die westlichen Vorbilder waren entsprechend direkter und gekonnter, und das charakteristisch Altfränkische realsozialistischen Modernachens zumindest teilweise überwunden, etwa bei "Strickboutique" oder "Männermode unkonventionell" (Sib 1983 I 5; s.a. Zeichnungen von Pariser Mode in Sib 1984 I 4, 56ff.). Inneneinrichtungen mit modernen bis abstrakten Gemälden halfen dazu, und die Vorführung von "Gold und Seide" (Sib 1983 I 6) kam den Aspirationen der neuen Bourgeoisie entgegen. Freilich blieb genug Enge und traditioneller Hausfrauenmief, in der gezeigten Mode wie mehr noch in der Art ihres Zeigens, ebenso in der Gesamtaufmachung der Illustrierten mit Kulturpolitik, politischer Agitation und konformen Frauenporträts, mit Zuckertüten-Kindern und Kochrezepten; schließlich auch in Extras wie einer brav-lüsternen Unterwäscheschau (Sib 1984 I 3; s. dagegen dasselbe in Mag 1984 I 8, 60ff., teils auf ,verworfene' Revue, teils auf romantisch und häuslich intim gemacht).

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A. Lebensstile

len Bereich heraus wurden beispielsweise auch für Ungarn festgestellt (R6bert 1990, 157). Jene Besonderheiten der DDR aber sind inzwischen bereits weitgehend überholt, und die Modesphäre in Ostdeutschland ist, in konsequenter Fortsetzung der im späten Realsozialismus hervortretenden Tendenzen, auf dem Wege vollständiger Integration in das gesamtdeutsche Kulturleben.

In beiden Fällen sind es nur Frauen, keine Männer, die in Dessous vorgefiihrt werden. Männer zeigen z.B. verschiedene Haar- und Barttrachten, ,spaßhaft' aufgemacht oder getarnt mit der Erläuterung, in Wirklichkeit handele es sich bei den Abb. um "einen Mann, der sich ein paar vergnügte Stunden daraus machte, als er die Haare stutzen lassen mußte, weil er zum Dienst als Reservist der NVA einberufen wurde" (Mag 1985/ I, 45-47). Die Differenz von Modetypen gemäß dem Gegensatz etwa von "Für Dich" und "Sibylle" (zu qualifizierterer Modegestaltung vgl. auch die "klassisch feminine" Kollektion einer von acht Diplomierten der Kunsthochschule Berlin-Weißensee in Wopo 1985 I 42, 1, 4) regte mitunter Satirisches an wie dies: "Sie glauben gar nicht, was es alles fiir Zeitschriften gibt bei uns! Illustrierte zum Beispiel. ,Für Dich', um nur eine zu nennen, da sagts der Name schon - fiir mich isse nichts. ( ... ) Aber sonst haben wir ja auch Zeitschriften fiir Sachen, die wir gar nicht haben. Modezeitschriften zu Beispiel. Da staune ich immer wieder, wie die mit dem, was es im Konsum nicht gibt, ganze Zeitschriften vollmachen. Wenn unsre Mode nur halb so gut wäre, wie sie in der ,Sybille' fotografiert wird, dann wäre sie mindestens doppelt so gut, wie sie ist. Naja, in den Exquisitabteilungen kann man ja schon eine ganze Menge fotografieren. So kriegen die finanziell schwächeren Bürger wenigstens ein Bild von dem, was sie sich nicht leisten können. Motto: Kauf dir nich so ville - kauf dir 'ne ,Sybille'!" (Ensikat in Schal/er / Zobel Hg. 1978, 40f.). Der Anteil selbstgeschneiderter Bekleidung an der Garderobe betrug nach Weichsel (1976): 10,1% Männer ("Herren") Frauen ("Damen") 34,6% Jungen ("Knaben") 5,6% 13,0% Mädchen Es seien die Wünsche "nach Bekleidung mit persönlicher Note", darunter "nach modisch hochaktueller Garderobe", die "namentlich bei den Frauen Einzelanfertigungen stimulieren" (ib., 13; s.a. Weichsel 1982, 36: das kritische Modebewußtsein, das die meisten DDR-Frauen hätten, lasse sie individuelle Akzente suchen und sich nicht einfach dem "Modediktat" beugen). Die geschneiderte Oberbekleidung teile sich nach ihren Herstellern so auf (ausgewählte Positionen, in Prozent; vgl. Weichsel1976, 14): An fertiger Träger selbst Verwandte, Bekannte o.a. in Nebenarbeit gewerbliche Schneider, Maßkonfektion o.a. Dienstleistungseinrichtungen

Männer

Frauen

25 75

32 40 28

Sicherlich war das Ausweichen auf geschneiderte statt konfektionierter Kleidung, mehr als es in der zitierten Darstellung erscheint, auf die Konfektions-Versorgungsmängel hinsichtlich Sortiment, Qualität und modischer Aktualität zurückzufiihren.

7. Zivil- und Militärdienst

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7. Zivil- und Militärdienst 7.1 Gegenseitige Durchdringung und Ergänzung Alles Militärische war im Alltag der realsozialistischen Staaten, besonders von dem Typus, dem UdSSR und DDR zugehörten, hochrelevant und ausgedehnt präsent. Soziokulturell bestand eine Komplementarität von zivilem und militärischem Bereich, insofern auch jener von der Führung her unter ein ähnliches Verpflichtungs-, Verantwortungs- und Dienstethos gestellt war wie der Waffendienst, nicht zuletzt durch die üppig ins Kraut geschossenen Sicherheitsrestriktionen. Andererseits war das Militärische ein wichtiger Erziehungs- und Formierungsfaktor fiir alle Lebensbereiche, der vor allem den männlichen Bevölkerungsteil durch sein ganzes aktives Leben begleitete, von der ideologischen und praktischen Wehrerziehung in Schule und Organisationen über die Ableistung des obligatorischen Militärdienstes - dem sich nur eine Minderheit im Gefangnis wegen Wehrdienstverweigerung oder in den paramilitärischen Baukolonnen zu entziehen vermochte - bis zu den nachfolgenden regelmäßigen Einberufungen als Reservist oder den Wehrübungen der Kampfgruppen von Betrieben und Institutionen. Dazu kamen zahlreiche analoge Beanspruchungen und Einordnungsmöglichkeiten, wie Volkspolizeioder Grenzhelfer oder auch informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Auch die Frauen waren betroffen und wurden durch GST oder Kampfgruppe erfaßt, für Sanitätsdienst und allgemein in der sog. Zivilverteidigung.56 Der 56 Die ZV bestand in der DDR seit dem 11.2.1958 (Verabschiedung des Luftschutzgesetzes durch die Volkskammer). Ende der 60er Jahre wurde dieser zur Zivilverteidigung als Bestandteil der Territorialverteidigung erweitert, gesetzlich fixiert am 16.9.1970. Seit 1978 galt der II. Februar als "Tag der Zivilverteidigung", einer der zahlreichen Ehrentage von Organisationen, Berufssparten usw. Die ZV unterstand zunächst dem Ministerium des Innern, seit dem 1.6.1976 aber auf Beschluß des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) der DDR dem Ministerium fiir Nationale Verteidigung. Neuregelungen des Dienstes in der ZV erfolgten durch das Verteidigungsgesetz vom 13.10.1978, das Wehrdienstgesetz vom 25.3.1982 und die vom NVR erlassene Dienstlaufbahnordnung vom gleichen Tag. ZV galt auch als Wehrersatzdienst, der außerdem bei den kasernierten Einheiten des Mdl, des MfS oder den Baueinheiten der NVA abgeleistet werden konnte, soweit Wehrpflichtige überhaupt davon Gebrauch machen durften (s.a. Eisenfeld 1995). Uber Organisation und Stärke der ZV wurde in der DDR nichts publik. Nach westlichen Schätzungen waren etwa 15.000 Männer und Frauen Berufs-ZVsoldaten. Chefs der ZV im jeweiligen Bereich waren die staatlichen Leiter von den Ministern (außer denen fiir die bewaffneten Organe) abwärts bis zu den Betriebsleitern und Genossenschaftsvorsitzenden. Zentrale Ausbildungsstätte fiir Kader war das Institut fiir ZV, das 1979 den Status eines Hochschulinstituts erhielt. 1983 wurde dort ein Vierjahresstudium fiir ZV-Offiziere mit Diplomabschluß eingefiihrt. Seit 1981 erschien eine eigene Vierteljahresschrift der ZV, betitelt "Schützen und Helfen". Zum Pflichtdienst konnten Frauen und Männer von 16 bis 60 bzw. 65 Jahren herangezogen werden. Die DDR-Medien sprachen von Hunderttausenden ehrenamtlicher Mitarbeiter, wohl einschließlich des Roten Kreuzes, das zu enger Zusammenarbeit mit der ZV ver-

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A. Lebensstile

Wehrsport war ein grundlegender Bereich des gesamten Sportbetriebs (vgl. Rossade 1987b, 135ff.). Wehrerziehung war nicht nur Sache der NVA selbst, der GST, FDJ und der Schulen, sondern z.B. auch der Gewerkschaften und überhaupt der ganzen offiziellen Gesellschaft (vgl. Arsenal 1978; Hartwig I Wimme! 1979; Wehrpropaganda 1982; Die paramilitärischen Verbände 1983; Hübner I Effenberger 1983; Jugendlexikon 1984; Gewerkschaften 1985; Fragen und Antworten 1985; Armee 1985; Zahlenspiegel 1985, 34; Zeittafel 1986). Diese ,wehrerzieherische' Durchdringung gehörte zur allgemeinen Militarisierung der realsozialistischen Gesellschaft (vgl. 15.2.2). Im Rahmen der von der SED geführten ,sozialistischen' Wehrerziehung, so wurde gesagt, leiste auch die NVA ihren Beitrag. Neben der Zeit des Wehrdiensts selbst organisiere die NVA zugleich eine vielgestaltige wehrpolitische Öffentlichkeitsarbeit, darunter: militärpolitische Qualifizierung und Aufklärung durch Schulungen z.B. für Funktionäre und durch massenpolitische Veranstaltungen; Partnerschaftsbeziehungen mit Betrieben und Schulen; Unterstützung des Wehrunterrichts durch sog. Offiziersschüler - diese noch relativ neue wehrpolitische Aktivität finde großen Anklang; die Tätigkeit der "Beauftragten für Nachwuchssicherung" und der Leiter von "FDJ-Bewerberkollektiven für militärische Berufe"57 ; die Zusammenarbeit mit gedienten Reservisten; Treffen von Werktätigen und Soldaten in den Garnisonen mit wehrpolitischen Informationszentren und Möglichkeiten eigener Betätigung für die Besucher; die "überaus aktive" Mitarbeit von NVA-Angehörigen, meist Mitgliedern der Wehrkommandos, in den Kommissionen "Sozialistische Wehrerziehung" und den Koordinierungsgruppen für Nachwuchssicherung bei den Räten der Kreise und Bezirke. An diesen "bewährten Formen" werde man festhalten, aber mit Konzentration auf den "Prozeß der Wehrdienstvorbereitung", um hohe Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft künftiger Armeeangehöriger und die personelle Auffüllung der Streitkräfte zu sichern. Die wehrpolitische Öffentlichkeitsarbeit sollte mehr intensiv als extensiv betrieben werden: Sie sei vorrangig auf jene Personen auszurichten, die sich für

pflichtet war. Ein Hauptreservoir der ZV waren die Frauen, die diesen Dienst ersatzweise fiir die überwiegend (Kampfgruppen) oder ganz (Reservistenkollektive) den Männern vorbehaltenen Dienste zu leisten hatten. In "Schützen und Helfen" erschienen vornehmlich Erfahrungsberichte über die freiwilligen Helfer, die Sanitätszüge des DRK und die Betriebsfeuerwehren (Brandschutzgruppe). Nicht freiwillig war die Teilnahme von Schülern, Lehrlingen und Studenten an der ZV, die seit 1978 durch Verfiigungen und Anweisungen über Wehrkunde als Schul- und Studienpflichtfach geregelt war. Die militärisch durchgefiihrte Lagerausbildung war besonders fiir Mädchen und Frauen eine schwere physische und psychische Belastung. Die ZV war eindeutig und betont Bestandteil des Militärapparats, keine bloße Organisation fiir den Schutz der Zivilbevölkerung bei Krieg und Katastrophen (Holzweißig in DA 1988 / I, 17f.). 57 Das Auftreten eines Werbeoffiziers der NVA vor Jugendlichen in der Schule hat Jurek Becker in seinem Roman "Schlaflose Tage" geschildert (J. Becker 1978, 137ff.).

7. Zivil- und Militärdienst

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das Militärische interessierten und/ oder sich in Vorbereitung auf den Dienst als Pflicht-, Zeit- oder Berufssoldat befänden. Konkrete Ansprechpartner seien dabei die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaften "Freunde der NVA", die Schüler der 9. und 10. Klassen mit ihrem Wehrunterricht, die FDJ-Bewerberkollektive für militärische Berufe, Teilnehmer an der vormilitärischen Laufbahnausbildung und am Wehrkampfsport der GST sowie die Reservistenkollektive. Gezielte wehrpolitische Arbeit mit diesem Personenkreis verspreche "nachhaltige militärische und militärpolitische Wirkungen für die Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft der Streitkräfte" (MW 1986 I 1-2, 107ff.). Dieses Programm war wohl so zu verstehen, daß die konkrete Militärerziehung öffentlich weniger auffällig, dafur um so mehr auf die erfolgversprechenden und fur die Schlagkraft der Armee entscheidenden Zielgruppen konzentriert geführt werden sollte (zur Intensivierung s.a. Schönherr 1987). Das höhere Gewicht und die größere Präsenz des militärischen Faktors im realsozialistischen Alltag ergibt sich aus der grundlegenden Beschaffenheit und Zielorentierung dieses Systems. Dazu gehörte auch ein stärkerer quantitativer Anteil der bewaffneten Macht im Vergleich etwa von DDR und westlichem Deutschland.58 Maßgebend sind jedoch letztendlich nicht solche Zahlenverhältnisse, sondern die Gesamtverfassung der realsozialistischen Gesellschaft (vgl. in Abschn. 15). 7.2 Differenzierungen nach Alter und Geschlecht Besonders betroffen von der Omnipräsenz und -determination des Militärischen war naturgemäß die Jugend, vor allem die männliche, aber auch die Mädchen entgingen der Wehrerziehung nicht. "Vorbereitung auf Belange der Landesverteidigung ist keinesfalls nur Sache der männlichen Jugendlichen. Konkreter und konsequenter als bisher sollten auch die Mädchen in die sozialistische Wehrerziehung einbezogen werden. Das ist wichtig für die Entwicklung ihrer eigenen Wehrbereitschaft und für ihren positiven Einfluß auf die Wehrmoral der Jungen." (Böhme / Spitzner in: Eh 1977 / 5, 562). Die militärisR Die Bevölkerung der DDR machte lediglich 27% von der des westlichen Deutschland aus, doch betrug die Stärke ihrer Land-, Luft- und Seestreitkräfte fast 40% der bundesdeutschen: 167.000 Personen. Dazu kamen noch 48.000 Angehörige der Grenztruppen (Bundesgrenzschutz: 20.000, eine Bereitschaftspolizei, während die DDR-Grenztruppen auf der Ebene der regulären Armee standen). Weitere bewaffnete Formationen der DDR, die in der BRD kein Äquivalent hatten, waren die Kampfgruppen, zahlenmäßig etwa doppelt so stark wie die NVA: 400.000 Angehörige oder 2,4% der Bevölkerung. Die Zahl der Reservisten erreichte 44% der bundesdeutschen: 330.000 zu 750.000. Die Mobilisierungsstärke in der DDR betraf 3,24, in der BRD 2,5% der Bevölkerung. (Alle Zahlen: 1982; nach Zahlenspiegel 1985, 30. S.a. Prö/1 1983; Rühmland 1984). Eine staatssicherheitsnahe Sondertruppe mit entsprechend elitärem Bewußtsein von Offizieren und Mannschaften waren die Grenztruppen (vgl. VA 1986/48, 6; AR 1986 I 11, 40ff.; Lapp 1987).

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A. Lebensstile

sehe Orientierung begann bewußt schon im Kindergarten, für beide Geschlechter und in der Altersstufe angemessenen Weisen, etwa unter Ausnutzung des Zeichen-, Mal- und Basteibedürfnisses der Kleinen, das in Lobpreisungen und Geschenke flir ,unsere Soldaten' umgemünzt wurde, oder durch gegenseitige Besuche von Kleinkindem und Waffenträgem. Nicht zu vergessen ist das bei Kindem weithin beliebte Kriegsspielzeug. Die Schüler in den oberen Klassen der Sekundarschule hatten bereits, einige körperlich nicht Taugliche ausgenommen, eine harte militärische Ausbildung im Rahmen der GST, und nach Ableistung der Wehrpflicht mußten die, die nicht ohnehin Berufs- bzw. Zeitsoldaten waren, als Reservisten oder in der Kampfgruppe bis zum Alter von 60 Jahren zur Verfügung stehen (zu dieser vgl. Handbuch 2 1986; Lappin DA 1989111, 1292f.). Schon vor NVA und den verschiedenen paramilitärischen Organisationen gab es seit Sommer 1952 eine wenig bekannte Vorläuferorganisation, eine Art Arbeitsdienst unter den Namen "Dienst für Deutschland", ein heterogen zusammengesetzter wilder Haufe von mehreren tausend Jugendlichen beiderlei Geschlechts unter militärischem Kommando, untergebracht in mehreren Zeltlagern im Norden der DDR, wo die Arbeits- und Lebensbedingungen jeder Beschreibung spotteten. Das gründlich verpfuschte Unternehmen bestand nicht einmal ein Jahr lang (vgl. Diedrich in DA 1994 I 8, 830ff.; Buddrus 1994). Zusätzlich zu der laufenden Einbindung in ein militarisiertes Leben gab es für die Jugendlichen der DDR bei besonderen Anlässen und in kritischen Situationen noch weitere Auflagen wie die, die Ulbricht nach Abriegelung der DDR im August 1961 in einem Kampfauftrag des Politbüros der SED an die FDJ verkündete. Darin kamen Sätze vor wie diese: "Auf die Deutschen, die den deutschen Imperialismus vertreten, werden wir, wenn sie frech werden, schießen. Wer provoziert, auf den wird geschossen. Das muß in der FDJ klar gesagt werden." (Uibricht 1961, 891) Die Frauen wurden nicht nur von der Zivilverteidigung erfaßt, sondern es gab für sie auch Berufe innerhalb der Polizei, den Organen der Staatssicherheit und der regulären Armee. Im Zusammenhang mit der Konstatierung guter Ergebnisse beim Übergang zur Vierjahresausbildung mit Diplomabschluß in den Offiziershochschulen sagte der Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA, auch eine Ausbildung weiblicher Offiziere, Fähnriche und Unteroffiziere komme gut voran. "Mädchen und Frauen sind bereits in den unterschiedlichsten Dienststellungen tätig" (VA 1986 I 8, 7). 7.3 Waffendienst als Lebensstil Das ständige Gegenwärtigsein des Militärischen erfaßte in den beschriebenen Weisen große Bevölkerungsteile unmittelbar und erreichte darüber hinaus

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durch Paraden, Aufzüge, Bücher, Bilder und Filme, die Presse und insbesondere die elektronischen Massenmedien die gesamte Bevölkerung. Für besonders betroffene Bevölkerungsgruppen wurde der Waffendienst direkt zum Lebensstil, zumindest zeitweise und als bestimmte Komponente der individuellen Lebensfuhrung (s.a. Steiger 1985). Hier lassen sich drei Kategorien unterscheiden: 1. Berufssoldaten, Angehörige der Polizei- und der Justizorgane, hauptberufliche Mitarbeiter der Staatssicherheit; 2. die jungen Wehrpflichtigen in der NVA selbst und in der Vorbereitung dieses Dienstes durch GST, FDJ und Schule; 3. die Reservisten und Kampfgruppenangehörigen, fiir die Waffendienst nicht Hauptberuf war, aber doch einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit und Leistungsfähigkeit beanspruchte. · Besonders über die ersten beiden Gruppen gibt es nicht wenig Material: über die Lebenslagen der professionellen Waffenträger wie über Lebensumstände, mentale Verfaßtheit und Sprache der Wehrpflichtigen, vom Neuling in der NVA bis zum "EK" ("Entlassungskandidat", also Pflichtsoldat gegen Ende seiner aktiven Dienstzeit; früher: "Eisernes Kreuz", der vielstufige preußisch-deutsche Kriegsorden). Von oben wurde ein ,Wehrfähigkeitsbedürfnis' generell vorausgesetzt, nahezu als eine anthropologische Konstante, zumindest des sog. sozialistischen Menschen ( vgl. Wonneherger Hg. 1982, 466: Bedürfnis nach "Steigerung der Wehrfähigkeit und Wehrbereitschaft"). Ähnlich erschien die Wehrpflic~t als ein fundamentales Recht der betroffenen DDR-Bürger (vgl. z.B. Körperkultur 1968, 104), wie sie auch üblicherweise mit dem Feiernamen "Ehrenpflicht" und die Uniform mit den analogen "Ehrenkleid" - belegt wurde. Solche Euphemismen sind, einer sehr alten Tradition und keineswegs irgendwelchen sozialistischen Besonderheiten gemäß, um so eher zur Hand, je weniger die Realitäten des Kriegerlebens geschönten Idealvorstellungen entsprechen. Berufsmilitärs. "Nur wer über die besseren Militärs verfugt, der ist auch besser auf einen Krieg vorbereitet." Deshalb habe die SED der Erziehung und Entwicklung entsprechender Militärkader stets hohe Aufmerksamkeit geschenkt. Der Anteil der Parteimitglieder liege beim Offizierskorps fast bei I 00%, bei den Berufsunteroffizieren immer noch über der Hälfte. Mitglied oder Kandidat der SED seien 99,4% der Berufsoffiziere, 96,5% der Fähnriche und 55,5% der Berufsunteroffiziere (MW 1986 I 1-2, 53) Die Altersstruktur der NVA sei ausgewogen, die NVA sei sogar eine junge Armee: der Anteil der Offiziere, Fähnriche und Berufsunteroffiziere unter 40 Jahren lag in der Mitte der 80er Jahre bei über 60%. Auch bildungsmäßig könne sich die NVA sehen lassen. Zur Zeit ihrer Gründung hätten nur 2,6% der Offizie-

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re einen zivilen Hochschulabschluß besessen; jetzt seien es 73%, darunter 26% mit akademischem Grad (MW 1986 I I -2, SOff.). Die Parteiarbeit in der Armee bezöge ihre höheren Aufgaben aus dem Übergang zu Intensivierung und Rationalisierung auch im Militärwesen. Alle Genossen sollten die Parteibeschlüsse vollinhaltlich erfassen, Verständnis für Strategie und Taktik der Partei entwickeln und sich auf die "Kompliziertheit des Klassenkampfes von heute" einstellen. Die ideologische Motivierung und politische Führung des Intensivierungs- und Rationalisierungsprozesses rücke mehr und mehr in den Vordergrund der Parteiarbeit Gemeinsam müsse man nach neuen und effektiven Lösungen für alle entscheidenden militärischen Prozesse suchen, darunter auch die Dienst-, Arbeits- und Lebensbedingungen der Armeeangehörigen. Dazu müßten sich die SED-Grundorganisationen stärker solchen Fragen widmen wie dem Abbau ungerechtfertigter Belastungen und mehr Planmäßigkeit und Organisiertheit des militärischen Lebens (VA 1987 I 20, 3). Die Führung durch die Partei zwecks Erhöhung von Kampfkraft und Kampfwert der Armee zielte nicht nur auf die politisch-moralische, sondern auch auf die physische Leistungsfähigkeit der Armeeangehörigen. Worum es ging, äußerte sich z.B. in der Antwort des Soldatenmagazins "Armeerundschau" auf die Anfrage eines Unteroffiziers, ob es überhaupt vertretbar sei, daß nun auch diese Chargen zu Frühsport verpflichtet seien (wie die einfachen Soldaten). Die Antwort war, das sei unerläßlich, denn aus Leistungsüberprüfungen habe sich ergeben, daß die körperliche Verfassung der Unteroffiziere nicht gut sein. Deshalb müßten auch sie Frühsport machen, neben den Soldaten, den Fähnrich- und Offiziersschülem, um Gefechtsbereitschaft und Gefechtsfähigkeit zu erhalten (AR 1986 I 10, 3). Auch von den sowjetischen Streitkräften wurde schlechte körperliche Verfassung insbesondere der jungen Rekruten beklagt (vgl. Krasnaja Zvezda, Moskau, 12.3.1986). Die Führung durch die Partei sei Garant für Zuverlässigkeit und Stärke der NVA. Die Partei habe stets und zum richtigen Zeitpunkt die notwendigen Entscheidungen für die Entwicklung der Streitkräfte getroffen. So mit dem Beschluß des Politbüros vom 11 .6.1985 über die politisch-ideologische Arbeit in den Streitkräften. Diese sei auch in der Armee das Herzstück der Parteiarbeit. Gerade die widersprüchlich verlaufende Entwicklung des menschlichen Bewußtseins zwinge dazu, die Weltanschauung der Partei noch stärker als Triebkraft zu entfalten, für Leistungsbereitschaft und Initiative, politische Standhaftigkeit und Wachsamkeit, "unerschütterlichen" Kampf- und Siegeswillen, entschlossenes und diszipliniertes Handeln. Militärische Führung sei Arbeit an und mit den Menschen. Ein massenverbundener Führungsstil sollte bewußte militärische Disziplin hervorbringen, also verinnerlichte Überzeugung statt bloßem Nachgeben auf äußeren Zwang. Überzeugungsarbeit sei die grundlegende Erziehungsmethode, doch könne sie nur Erfolge haben, wenn "wir zugleich Befehle konsequent durchsetzen" und sich "militärische Ge-

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wohnheiten" herausbildeten. Verbesserung der Dienst-, Arbeits- und Lebensbedingungen sollten "die Freude der Soldaten am Dienst und die Berufszufriedenheit der Militärkader" stärken (Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA in: VA 1986/6, 3, 7). Das reale Bild des Kommandeurkorps der NVA, wie es sich aus gelegentlichen dokumentarischen Schilderungen ergibt, kontrastiert mit den Vorführungen aus wehrerzieherischen Gründen, wie sie nicht zuletzt die vom Verlag des Ministeriums für nationale Verteidigung der DDR herausgegebene umfangreiche Heftehenliteratur für den Massengebrauch insbesondere von Jugendlichen, aber auch die allgemeine Belletristik enthalten. 59 Für die Lebensumstände und Mentalitätsprägungen der Berufsoffiziere wie mehr noch für bestimmte Grundmuster der realsozialistischen Lebensweise überhaupt ist kennzeichnend, wenn die Frauenzeitschrift "Für Dich" auf eine absolute Hilfs- und Dienerrolle der Offiziersfrau orientierte. Ein Offizier der NVA könne seinen Dienst nicht mit ganzer Kraft versehen, wenn er zu Hause eine 59 Über schlechten Kunstgeschmack von DDR-Waffenträgern - hier mehr solchen vom MfS als von der NVA- vgl. Bölling 1983, 28. (Zum Lebensstil von Staatssicherheits-Offtzieren vgl. in 15.2.3.) Militärisches Zeremoniell aus diplomatischem Anlaß zeigte vor der Front der Ehrentruppe in ihren theatralischen Paradeuniformen mit weißen Handschuhen, in denen das Sturmgewehr mit aufgepflanztem Bajonett ebenso deplaziert wirkt wie flacher Stahlhelm und traditionelle Uniform schlecht zueinander passen, - den Kommandeur der Truppe, einen bulligen Riesen mit dicken Ehrenschnüren und blankem Degen, dessen Gesicht auf dem Foto eine gewisse Ähnlichkeit mit dem von F.J. Strauß aufweist (Bölling 1983, 34 I 35). Zutreffen dürfte auch, daß so "frenetisch preußisch", wie sich das der Staatssicherheit zugehörige Ostberliner Wachregiment darstellte, die NVA bei näherer Betrachtung nicht war. "Die klirrenden Reden des Verteidigungsministers ( ... ) können nicht verschleiern, daß die Mehrzahl der Wehrpflichtigen ohne alle Begeisterung in die Armee einrückt und die Indoktrination gegen den angeblich aggressiven Klassenfeind unter dem NATO-Dach die meisten innerlich nicht erreicht. Auch die Privilegierung des Offizierskorps mit ihren vielen materiellen Annehmlichkeiten macht aus der NVA augenscheinlich nicht die Elitearmee, als die ihre Generäle sie im Westen und auch innerhalb der eigenen Allianz gern gesehen haben möchten." (ib., 37) Zur Heftehenliteratur mit militärischer und militärisch abenteuerlicher Thematik vgl. Mallinckrodt 1984, 62ff. Für sonstige literarische Darstellung mag eine Erzählung kennzeichnend sein, in der es um eine - infolge mitmenschlicher Regung des Kommandeurs, der einem Soldaten aus familiären Gründen Urlaub gewährt - mißlingende Parade geht, in deren Folge der Kommandeur einen Herzinfarkt erleidet und seinen Posten verliert (Schöning 1979). Ein anderer Prosatext befaßte sich mit der Problematik der Offiziersfrau, die das Kasernenleben nicht erträgt und, schwanger, einen Ausbruchsversuch macht, der mit einer Totgeburt und der Rückkehr zu dem verlassenen Ehemann endet (Kruschel 1979). S.a. Kuhern 1982; W Neubert 1989. Eine Armee wie die NVA, die ihre Waffentechnik fast ausschließlich von der hochmodern gerüsteten UdSSR bezog, stellte neben die politisch-ideologische Seite ihrer Führungstätigkeit gleichgewichtig das technische Expertentum. Die hochtechnisierten Waffensysteme verlangten entsprechend ausgebildete Anneeangehörige. Auch sollte diese neue Art von Militärtechnik in möglichst kurzer Zeit beherrscht werden (Generaloberst J. Goldbach, Minister-Stellvertreter, Chef Technik und Bewaffnung der NVA, in VA 1987 I 2, 3). Auch in der Wehrerziehung spielte die technische Seite eine wichtige Rolle (Brämer 1984a).

II Rossade

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unzufriedene Frau habe. Die Frauen müßten nötigenfalls auf eigenen Beruf und Weiterkommen darin verzichten; der militärische Beruf des Ehemannes gehe vor. Ihr Verständnis sei außerordentlich wichtig für die Landesverteidigung. Mädchen sollten so erzogen werden, "daß sie später die Entscheidung ihres Freundes für einen militärischen Lebensberuf unterstützen" (FD 1982 I 46, 12). Solche Rollenfestlegung für Mädchen und Frauen ging nicht nur in die Richtung des alten Preußen, es übertraf dessen Sitten eher noch.

Wehrpflichtige. Die Pflichtsoldaten mit der von der Führung gewünschten Mentalität auszurüsten, traf offenkundig auf beträchtliche Schwierigkeiten. Mancher junge Armeeangehörige, schrieb ein Oberstleutnant in der Wochenzeitung der NVA, frage sich anfangs, ob er an seinem Arbeitsplatz in der Produktion die DDR nicht besser hätte stärken helfen können. Die Bedeutung des Wehrdienstes im Realsozialismus werde nicht von allen jungen Bürgern voll erfaßt, und diese jungen Bürger hörten auch von Erlebnissen in den Streitkräften, die jener Bedeutung nicht entsprächen. Der junge Soldat müsse im Wehrdienst praktisch erleben, daß dieser Dienst Teil des realsozialistischen "Friedenskampfes" sei. Alle Armeeangehörigen müßten spüren, daß sie unbedingt gebraucht würden, daß von ihnen der "Schutz" des Realsozialismus und seiner Politik abhänge. Nur so würden sich die für die "Verteidigungsbereitschaft" nötigen "stabile(n) sozialistische(n) Wehrmotive" ausprägen (VA 1987 I 30, 3; vgl. Handbuch 15 1986). Die "Erlebnisse in den Streitkräften", die der vorausgesetzten Bedeutung des realsozialistischen Waffendiensts nicht entsprächen, waren seit den 70er Jahren auch in der DDR zum Gegenstand kritischer Darstellung geworden: Stumpfsinn und Sinnleere des militärischen Betriebs, Abwesenheit authentischer Motivationen der Betroffenen, Schikanen und Unterdrückung, die Persönlichkeit zerstörende Reglementierung (vgl. J. Fuchs 1981, 8ff., 25 u.v.a.; ders. 1984). Einer, der die NVA so am eigenen Leibe erlebt hat, sieht in ihren Soldaten nicht nur Opfer, sondern auch solidarisch Mithandelnde des Systems "und künftige, befehligte Täter". Wolfgang Borcherts gedenkend schreibt er: "Wir treten wieder an auf einen Pfiff hin ( ... ) Der finsteren Zeit, in deren Flut andere untergegangen sind, bin ich nicht entronnen, wie es aussieht." (J. Fuchs 1984, 184, 384). "Unser Ziel ist es, ein vorbildliches Kampfkollektiv zu werden", sagt der Ausbilder. Dazu gehören persönliche Verpflichtungen. "Die muß jeder mit Hand schreiben und in seinen Spind hängen, an die Innentür, daß er das immer vor Augen hat. Inhalt gebe ich noch bekannt, es gibt immer Muster dafür... " Ferner: Zeitungsschau. "Einer ist verantwortlich. ,Neues Deutschland' lesen und das Wichtigste berichten." Und ein sowjetischen Kriegsbuch muß gelesen und gemeinsam besprochen werden. "Gehört zur Pflichtlektüre eines Soldaten, mußten wir auch lesen auf der Unteroffiziersschule". Dies ist noch nicht alles. "Jeder muß freiwillig(!) mindestens eine Zeitung bestellen. ,Neues Deutschland' oder ,Freie Presse', ,Volksar-

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mee', ,Armeerundschau'." Der Ausbilder "ist keiner von den Überzeugten, das merkt man ( ... ) Freilich zieht er alle Befehle durch und wird auch jeden melden, der aus der Reihe tanzt. Er muß davon ausgehen, daß einer in der Gruppe noch andere Gesprächspartner (solche vom MfS - W.R.) hat ... " Diese Einstellung ist sehr charakteristisch für Mentalität und Handlungsmuster subalterner, kleiner Leiter, die sich mehr vorsehen müssen als sie selbst Macht ausüben können. - Der "Genosse Unterfeldwebel" hat das Seine auf der "Gruppenversarnmlung der 3. Gruppe des 3. Zuges der 3. Kompanie" getan. Zeitungsobmann und Verantwortlicher für die Buchlektüre sind bestimmt, die Orders ausgegeben. Er geht. "Und was jetzt? Wir stehen da und sehen uns an. ( ... ) Wir warten darauf, daß uns mitgeteilt wird, was wir tun müssen." (ib., 166f.).

Gegen solche Identitäten mit finsterster deutscher Vergangenheit - die in der DDR angeblich ein für allemal abgetan wurde - wirken kulturelle und ,demokratische' Verbrämungen des Kriegsdienstes eher läppisch.60 Wirklichkeitsnäher war da schon eine Sorge der Mütter um ihre wehrpflichtigen Jungen, wenn auch in überkommener Hilflosigkeit nur auf deren leibliches Wohl bezogen. 61 60 Ein Gefreiter fragte bei der "Volksarmee" an, woher man Schallplatten und Kassetten für die zwei Plattenspieler und Tonbandgeräte bekomme, die im Kompanieclub vorhanden seien. Die Zeitung antwortete mit breiter Darlegung der Angebote für sinnvolle Freizeitgestaltung, die solche Clubs "unseren Soldaten" böten. Die Tonträger würden von der Truppenbibliothek an eingeschriebene Leser ausgeliehen. Die Bibliothekare erhielten sie durch die Politische Hauptverwaltung der NVA. Im Durchschnitt gebe es im Tonträgerangebot jährlich zwischen 35 und 50 Neuerscheinungen aus allen musikalischen Genres, darunter Militärmärsche, Orgelkonzerte und "natürlich" auch Popmusik, "um dem Geschmack junger Leute entgegenzukommen". Zum Angebot der Truppenbibliotheken hätten im letzten Jahr z.B. die 14. LP der Puhdys, die "Rockbilanz 1985" und Kassetten von "Chuck Berry" oder "Shakin' Stevens" gehört. Es sei jedoch nicht möglich, alle Einheiten mit einem ausreichenden und aktuellen Tonträgerangebot auszustatten, wegen des hohen Aufwands und auch der differenzierten musikalischen Interessen der Soldaten (VA 1987 I I, 7). Dies war zugleich charakteristisch für eine Manier der offiziellen DDR, Versorgungsmängel nur am Rande von viel Gerede über Leistungen zuzugestehen, statt auf eine Frage direkt zu antworten. Ebenso für den Marktjargon von Warenabsatz, der in kulturellem Kontext besonders penetrant wirkt, und für den Amerikanismus der U-Kultur für Jugendliche. Eine andere Frage betraf die Militärschöffen. Sie seien, hieß es in der Antwort, nicht nur Beisitzer der Militärgerichte, sondern würden demokratisch gewählt und seien Partner der Militärrichter, die an deren Entscheidungen gleichberechtigt mitwirkten. Sie unterstünden in Rechtsangelegenheiten nicht der Befehlsgewalt ihrer Vorgesetzten und könnten wegen ihrer richterlichen Tätigkeit nicht disziplinarisch belangt werden. Die Militärschöffen hätten neben der Rechtspflege aber auch rechtserzieherische und rechtspropagandistische Aufgaben (VA 1987 125, 7). 61 Das Soldatenmagazin appellierte an die Mütter der Soldaten, keine Lebensmittelpakete mehr in die Kasernen zu schicken. Weder Geräuchertes noch Schmalzfleisch seien in der Truppe nötig, da brauche niemand zu darben. Zu den Festtagen gebe es sogar erhebliche Zulagen, so daß kein Wehrpflichtiger auf den traditionellen Gänse-, Enten- oder Putenbraten verzichten müsse. Den Verpflegungsoffizieren werde angst und bange, wenn sie an den weihnachtlichen Paketstrom und die anschließend überquellenden Abfallkübel dächten. 15% der ausscheidenden Wehrpflichtigen kehrten mit Übergewicht nach Hause zurück (vgl. AR 1985 I 12, 9). - In diesem Kontext trat auch der hohe Stellenwert zutage, den

,,.

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Auch für die Annee galten ritualisierte Aktivierungskampagnen, wie sie das zivile Arbeitsleben dominierten, so insbesondere der ,sozialistische Wettbewerb'. Für die Grenztruppen schloß er sich 1986, nach einem auch in der Wirtschaft gern geübten Verfahren, dem in der zugehörigen Presse veröffentlichen Aufruf einer Gruppe an der Basis, hier der Grenzkompanie Lorenz aus den Truppenteil "Martin Schwantes" an, auf den alle anderen Einheiten zu reagieren hatten. Konkrete Verpflichtungen waren: die Zeitnonnen in der Grenzsicherheit zu unterbieten und die Gefechtsbereitschaft zu erhöhen, vorbildliche Leistungen im Grenzdienst zu erbringen, darunter ständig hohe Wachsamkeit im Grenzdienst, die weitere Qualifizierung der Grenzposten und eine höhere erzieherische Wirksamkeit der Kontrolltätigkeit der Vorgesetzten (VA 1986145, Beilage, lff.). Zu bedenken ist dabei, daß der Grenzdienst ja den hauptsächlichen Sinn hatte, die Flucht von DDR-Bürgern aus ,ihrem' Staat zu verhindern. Eine von vielen wiederkehrenden Kampagnen waren die ,Wettbewerbe' zum jeweiligen Parteitag der SED (für den XI. Parteitag vgl. Minister Keßler in VA 1986 I 4 7, 3f. ). Von oben her wurde Wert darauf gelegt, daß die Verbindung der Wehrpflichtigen zu den Betrieben, in denen sie vorher tätig waren, nicht abriß und daß überhaupt enge Beziehungen zwischen Annee und Produktionsarbeitern hergestellt wurden (s. Schulze u.a. 1985). Manche Aufgabenstellungen waren den zivilen Verpflichtungen, vorzugsweise in der Produktion, analog. So wurde z.B. die Auszeichnung "Für vorbildliche energiewirtschaftliche Arbeit" als Belohnung für Energieeinsparungen auch in der NVA vergeben (VA 198717, 7). Eine Kampagne, auf die besonderer Wert gelegt wurde, war die alljährliche "Woche der Waffenbrüderschaft" mit den UdSSR-Streitkräften in der DDR. Sie ging auf einen Vorschlag der FDJ von 1967 zurück und wurde erstmals 1968 veranstaltet, also im Jahr der CSSR-Besetzung. Auftakt war ein "Kampfmeeting" in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen (vgl. VA 1987 I 6, 7). Von da an fand diese "Woche" jedes Jahr zwischen 23.2. und 1.3. statt, also zwischen den Gründungstagen der Sowjetarmee und der NVA. Anfangs gab es nur vereinzelte Begegnungen und Besuche, doch später war daraus eine die gesamte Annee, GST, FDJ und weite Teile der Bevölkerung erfassende Veranstaltungs-Massierung geworden. 1984 sollen fast 1,5 Mill. DDR-Bürger, nahezu 10% aller Bewohner, daran teilgenommen haben. Im Mittelpunkt habe gestanden, die besten Methoden der Gefechtsausbildung und der Beherrschung moderner sowjetischer Militärtechnik zu verallgemeinem und das Zusammengehörigkeitsgefühl der "Waffenbrüder" zu vertiefen. Seit Anfang der 80er Jahre wurde auf Beschluß des SeEssen und Trinken allgernein im Lebensstil der realsozialistischen DDR hatte, nicht zuletzt infolge des Mangels an anderen Konsumgütern, und prinzipiell als Ausdruck der nachrevolutionären Veräußerlichung ,sozialer Errungenschaften'.

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kretariats des ZK der SED die Öffentlichkeit und insbesondere die Jugend noch stärker einbezogen. Unter anderem habe es regelmäßige Treffen beider Armeen in Betrieben und Schulen gegeben (MG 1986/ I, 4lff.; s.a. Tage 1986). In Aufnahme von Gorbatschows ,Perestroika' wurde versucht, aus dem Streben nach Effektivierung des Realsozialismus Nutzanwendungen für die NVA der DDR zu ziehen: Schluß mit dem Schlendrian, mehr Leistungsfähigkeit und Leistung, weg mit den Unfähigen und Leisetretern. Konkret hieß das Eintreten für bessere Disziplin und Ordnung, gegen Nachlässigkeit und Vereinfachungen in der Gefechtsausbildung und im politischen Unterricht, mehr Aufmerksamkeit den Dienstleistungen für das Personal und die Familienangehörigen. Ein Teil der Jugendlichen sei physisch und psychisch nicht ausreichend auf den Militärdienst vorbereitet. Erschwerend wirkten zudem die schlechten Russischkenntnisse "mancher" junger Soldaten. Die Lage in den Streitkräften hänge ganz entscheidend von der Kompetenz der Kader ab. Die große Mehrheit erfülle ihre Pflichten. "Leider gibt es auch anders geartete Fälle - Vernachlässigung der Dienstpflichten, ungenügendes Verantwortungsbewußtsein, mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber den Unterstellten, Furcht vor Offenheit und wahrheitsgetreuer Information sowie das Bestreben, Mängel zu verbergen und Schönfärberei zu betreiben. Derartige Erscheinungen müssen auf parteilich-prinzipielle Art eingeschätzt und mit der Wurzel ausgerottet werden ( ... )" (VA 1987 I 12, 6ff.). Den Zusammenbruch konnten solche Absichtserklärungen allerdings weder hier noch dort aufhalten. Für die erwünschte Ausrichtung der Armeeangehörigen war ein intaktes Feindbild nicht zu entbehren. Das wurde schwierig, als die globalpolitischen Bündnisabsichten einen Wandel alter Muster und Stereotype nahelegten. 1987 sagte der Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, 0. Reinhold, im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Dokument von Gewi-Akademie und Grundwertekommission der SPD, in dem auch von Abbau der Feindbilder die Rede ist, ein Verzicht des Realsozialismus auf Feindbilder könne nicht in Frage kommen, solange der Westen solche Bilder gegen den Realsozialismus verbreite. Doch "eine große Anzahl von Klischeevorstellungen, Verleumdungen und Verdächtigungen" des kalten Krieges seien zu überwinden. Die SED sei immer bestrebt gewesen, eine wissenschaftliche Analyse der Vorgänge in der kapitalistischen Welt und im internationalen Rahmen zu suchen. Das werde konsequent fortgesetzt werden. Ohne solches Herangehen wären die Beziehungen, die sich zwischen SED und SPD entwickelt hatten, nicht möglich gewesen (ND, 11.11.1987, 3; DA 1988 / 1, 102; zum Feindbild s.a. Henrich 1981; Lappin DA 1989111, 1292f.). Solche Modifikationen auf der politischen Ebene, die der zunehmenden Annäherung des Realsozialismus an den westlichen Teil des globalen ,Nordens' entsprachen, konnten auf der militärischen Ebene naturgemäß nicht

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einfach nachvollzogen werden. Erhaltung und Verfestigung von ,Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft' verlangten nach einem Feindbild, das sich nicht partiell auflöst. Deshalb hatten Intensivierung von Kampfkraft, Unversöhnlichkeit und Wachsamkeit (MW 1986, 1-2, 37ff.) ihre Bedeutung fiir die NVA und die anderen bewaffneten Organe behalten. Abgrenzung erfaßte für diese Organe auch Erscheinungen wie den westdeutschen "Becker-B(u)oom": die Springerpresse benutze den Tennisspieler Boris B., um die Ideologie von "Deutschland, Deutschland über alles" mediengerecht zu verbreiten (VA 198719, 15)- sicherlich ein Frontmachen gegen Popularität des Tennissterns auch unter den Soldaten der NVA, wovon die Politoffiziere eine Beeinträchtigung des Feindbildes in bezug auf das westliche Deutschland befürchteten. Ein anderer ,Schmetterer' dagegen war in der DDR wieder zu Ehren gekommen, im Zuge der Rehabilitierung und Aufnahme auch von Kar! May als Element geistiger Wehrertüchtigung: Old Shatterhand, der weiße Held von Mays fragwürdigen Schmökern (vgl. Loest in DA 1983 I 4, 398). Nach dem stellv. Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA war die Aufgabe der politisch-ideologischen Arbeit, "die Kompromißlosigkeit einer bewaffneten Auseinandersetzung nachzuweisen und den selbstlosen Einsatz im Gefecht politisch zu motivieren". Die NVA stehe dem potentiellen Gegner unmittelbar gegenüber, und ein Krieg sei nach wie vor möglich (MW 1986 I 1-2, 37ff.). Dafür wurde auch die gezielt aufbereitete Tradition eingesetzt (vgl. in 15.2.2, 15.4.2). Die emotionale Erziehung der jungen Soldaten am Beispiel der Leistungen vorangegangener Soldatengenerationen sollte zu einem festen Bestandteil der Ausbildung werden (VA 1985 I 46, 10). Reservisten. Die GST als "sozialistische Wehrorganisation der DDR" bereitete nicht nur die Jugendlichen auf den aktiven Wehrdienst vor, sondern erhielt auch die Wehrfähigkeit der Reservisten (Hartmut Gabler, Jugendhochschule "Wilhelm Pieck", in JG 1987 I I, 63). Der VIII. Kongreß der GST im Mai 1987 in Karl-Marx-Stadt faßte den Beschluß, die Reservisten noch stärker in den Wehrsport einzubeziehen. In Auswertung dieser Veranstaltung hieß es, möglichst alle ungedienten Reservisten seien für den regelmäßigen Wehrsport zu gewinnen, zugleich sei allen gedienten Reservisten ausreichend Gelegenheit für Wehrsport zu bieten. Schließlich sei das eine anspruchsvolle und erlebnisreiche Form der Freizeitgestaltung. Probleme seien nicht zu übersehen, da die GST im Wehrkampfsport schon bis an die Grenzen ihrer Kapazitäten gehe. Doch dieser Sport sei ein Beitrag zum gesellschaftlichen Auftrag der Reservisten, zu jedem "gesellschaftlich notwendigen" Zeitpunkt Wehrdienst leisten zu können (vgl. VA 1987121, 10).

Ein Leutnant der Reserve von der Universität Leipzig stellte fest, an der Sektion "Tierproduktion und Veterinärmedizin" dieser Universität werde mit der Wehrerziehung der Studenten praktisch schon in der ersten Woche des

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ersten Studienjahres begonnen. Dort werde mit den gedienten Reservisten gesprochen, ob sie bereit seien, Offizier der Reserve zu werden, worauf dann einige Wochen nach Studienjahrsbeginn das Reservistenkollektiv formiert werde. Die Zeit bis zum Beginn der "militärische(n) Qualifizierung und Zivilverteidigungsausbildung" im zweiten Studienjahr werde zur Erhaltung der Wehrfähigkeit genutzt: mittels Herbstmarsch, Wintermarsch und wehrsportlieber Wettkämpfe. Der Herbstmarsch, der unter Leitung der GST in eigener Verantwortung der Studienjahre organisiert werde, umfasse einen Fußmarsch über 6 km und anschließendes Kleinkaliberschießen. Der Wintermarsch, der in der Regel die "Woche der Waffenbrüderschaft" im Februar abschließe, bestehe aus einem 8-km-Lauf einschließlich Handgranatenweitzielwurf, aus Erster Hilfe und Luftgewehrschießen. Das zweite Studienjahr beginne dann mit der direkten Vorbereitung auf militärische Qualifizierung und Zivilverteidigungsausbildung (VA 1987 I 35, 11 ). Der Reservistendienst galt als Teil der allgemeinen Wehrpflicht. Er diente nicht nur dazu, militärisches und militärpolitisches Wissen und Können der Reservisten auf dem gewünschten Niveau zu halten, sondern auch der planmäßigen Sicherung ständiger personeller Auffüllung der NVA "angesichts der komplizierten bevölkerungspolitischen Entwicklung" in der DDR. Manche NVA-Einheiten bestanden ganz aus Reservisten; im übrigen wurden die Reservisten zur Auffüllung ständig einsatzbereiter Truppenteile herangezogen. Sie waren damit ebenso Träger von Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft wie die aktiven Wehrpflichtigen. Deshalb wurden sie zunehmend oft einberufen (AR 1987 I 5, 3). Die Rolle des Militärischen im gesellschaftlichen Leben des Realsozialismus bedingte auch eine ausgebaute Militärwissenschaft mit Institutionen und Zeitschriften, gelehrt an zahlreichen Hoch- und Spezialschulen der bewaffneten Organe mit differenzierten Studiengängen. Zu diesem Wissenschaftsbereich gehörte auch die Wehrsoziologie als eigene Zweigsoziologie (vgl. Soz Wb 1978, 707ff.).

8. Öffentliche und persönliche Sphäre 8.1 Öffentlichkeit im ,realen Sozialismus' Kernpunkt der fixierten realsozialistischen Auffassung von Öffentlichkeit war deren Gleichsetzung mit den offiziellen Organisationen - insbesondere der jeweiligen Staatspartei (KPdSU, SED usw.) - respektive den Führungen dieser Organisationen mit ihrem Apparat einschließlich der beherrschten Druck- und elektronischen Medien (vgl. Uledow 1964, 99ff., 172ff.; Zagatta 1984; Leymann 1981). Im Zuge des System- und Ideologiewandels gab es

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jedoch gewisse Annäherungen an westlich-,industriegesellschaftliche' Fassungen von Öffentlichkeit.62 Unverändert blieb die Partikularisierung der ,öffentlichen Sache' (res publica), d.h. die Monopolisierung aller wichtigen Entscheidungen, die die Gesamtheit der Bevölkerung betrafen, durch die zahlenmäßig verschwindend kleine herrschende Gruppe, 1Jnd die damit verbundene Trennung zwischen diesen Inhabern der obersten Staatsgewalt und der großen Mehrheit der Bevölkerung. Die öffentliche Selbstdarstellung der Führungsspitze schwankte, wie gesagt worden ist, zwischen überzogenem Personenkult und weitgehender Entpersönlichung. "Die politischen Führer, allen voran der Generalsekretär, möchten persönlich erscheinen, aber ihre politische und soziale Distanz, ihre Auswechselbarkeit in den höchsten Funktionen als bürokratisch-parteiliche Sachwalter der Politik geben ihnen oft den Anschein einer merkwürdigen Schwerelosigkeit und Schemenhaftigkeit als Personen, darin oft profan und mythologisiert zugleich, antiken Göttern vergleichbar." In diese Spezifik von Herrschaftsausübung gingen nicht zuletzt geschlechtsakzentuierte patriarchalische Züge ein (vgl. Meyer/Rohmeis 1986, 106f.). 63 Der hier aufscheinende Wesenszug des realsozialistischen politischen Systems bedingt eine und ist gleichzeitig ein bestimmender Ausdruck von Hypertrophie symbolischer Politik, die von diesem System nicht zu trennen ist und die sich praktisch vor allem darin manifestierte, daß an die Stelle von Teilnahme des Volkes an der Ausübung politischer Macht die bloße Einbeziehung von Unteren in das System der Herrschaftsausübung trat. 64 Die Entwesung der Herrschaftsinhaber 62 So bei Weimann (1979, 221), der in "sozialistischer Öffentlichkeit" keinen "konfliktfreien Ausdruck einer Menschengemeinschaft" sehen und Öffentlichkeit nicht so voluntaristisch verstehen wollte, wie sie "in hastiger Kampagne aus der Presse zu stampfen" versucht wurde, sondern die Frage nach ihren tatsächlichen historischen Bedingungen und sozialen Grundlagen für dringlich hielt. Lenkung durch die Partei sei aber nötig, um einer Entmündigung der Bürger durch Marktmechanismus entgegenzuwirken (ib., 224, 232) - als könnte man eine Entmündigung mit einer anderen austreiben (s.a. R. Thomas in: Niemandsland 1988 I 6). Zur realsozialistischen Öffentlichkeit s.a. Bathrick (1983, 54ff., 59ff.), der aber, aus den USA heraus, nur absolut gesetzte Leitvorstellungen westlicher Industriegesellschaft als Modell kennt und die realsozialistische Evolution zu oberflächlich sieht: als Erwartungsdruck einer Bevölkerung, die durch .,den wirtschaftlichen Aufschwung der 60er Jahre" (den es so nicht gegeben hat!) ermutigt sei und unter der erweiterte Bildungshorizonte, zunehmendes Wissens- und Informationsbedürfnis und höher entwickelter Industrialismus das Verlangen nach mehr individueller Freiheit stärkten (ib., 53f.). 63 Die geschlechtsspezifischen männlich-partriarchalischen Züge seien "am besten mit den Stichworten abstrahierender Entindividualisierung, konfliktverdrängender Ideologisierung, eines pragmatischen, nur sozialistisch überhöhten ,social and human engineering' und militarisierender Disziplinierung" zu beschreiben (Meyer I Rahmeis 1986, I 07; im Orig. kursiv). - "Von den. Ritualien des Systems abgesehen - Schaustellung auf Tribünen, arrangierte Begegnungen mit den Werktätigen - verbinden die Bürger der DDR ihre Vorstellung von höheren Funktionären mit verhängten Limousinen auf dem Weg zwischen Amtssitzen und Wohngetto" (Gaus 1983, 69). 64 Ein charakteristisches Beispiel für solche Einbeziehung ist der Vorgang, den ein Farb-

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als Personen war gleichsam die systeminhärent notwendige Kehrseite des Femhaltens der großen Mehrheit von der wirklichen Politik und ihrer Beschränkung auf einen anderen Partikularismus, den der gesellschaftlich mehr oder weniger irrelevanten, jedenfalls zweitrangigen Privatsphäre (vgl. 8.4.5, 8.4.6). Eine andere Folge dieser Antagonismen war die Veräußerlichung und Verkehrung selbsttätiger politischer Aktivität zum bloßen von oben auferlegten Betrieb hohl lärmender Kampagnen, deren hektischer vermeintlicher Fortschritt "nur Staub aufwirbelt und nichts Bleibendes stiftet" (H. Kant 1975, 211) - ein künstlich erzeugter Schein von Leben, der steril in sich selber kreist (vgl. Jur. Becker 1978, 53), letztlich wegen der Misere der großen Mehrheit, "an einer Sache nur dann beteiligt sein zu dürfen, wenn man keinen Einfluß auf sie nahm" (ib., 146). Der bloße Schein von Leben, zumal wenn er immer inhaltsloser wird, läßt sich auf die Dauer nicht halten. Als die Aussichtslosigkeit der entstandenen Lage und die Perspektivlosigkeit des ,realen Sozialismus' fiir viele DDR-Bewohner unerträglich geworden war, kam es zu dem Umbruch (vgl. Süß 1990; s.a. Peltzer 1987, dazu Fogelklou in DA 1989 I 5, 582ff.; Niemann 1993). Vorgebliche Demokratie (siehe Initiativreiches 1989; Steinkopf 1989; Zur Wirksamkeit 1989) verschwand in einer Erhebung der vielberufenen Volksmassen. Die einheitlich gelenkte Presse etc. (s.a. Anm. 62) begab sich auf den Weg in eine plurale Medienlandschaft (vgl. Kutsch Hg. 1990; Pannen 1992, dazu Beth in DA 1993/7, 859f.; R. Schubert 1992).

foto dokumentiert, das Honeckers Autobiographie als Illustration beigegeben ist. Es zeigt drei junge Soldaten, befangen und offensichtlich nicht von gleich zu gleich, bei Honecker, der ihnen "die Politik von Partei und Staat erläutert". Dabei sitzen der Verteidigungsminister (Armeegeneral Hoffmann), dessen Politstellvertreter Admiral Vemer und weitere mindestens vier der höchsten Generäle, darunter der Minister für Staatssicherheit, Mielke (Honecker 1982, 324). Zur Hypertrophie symbolischer Politik gehörte die zunehmende Bedeutung von Ritualen, zu denen Vorzeige-Empfänge wie der eben beschriebene zu rechnen sind. Mit dem Schwinden kommunistischer Mobilisierungskraft infolge der Entleerung der Offizialideologie im Realsozialismus versuchten Rituale, wenigstens teilweise an deren Stelle zu treten, indem sie dazu beitrugen, "kohärente Ausdruckssysteme für bereits organisierte Gesellschaften zu entwickeln" (vgl. Rytlewski/Kraa 1987, 33 / 35). Zur auswärtigen Seite der politischen Ritualisierung bemerkte Bölling (1983, 31): "Man weiß, daß die DDR-Staatsführung Protokollarisches ungemein wichtig nimmt, ja daß sie das Protokoll aus Gründen der eigenen Selbstdarstellung mit geradezu kultischer Bedeutung versieht: Womit klar ist, daß es weniger darauf ankommt, den fremden Gast mit den Emblemen des eigenen Staates auszuzeichnen, als darauf, die starke und selbstbewußte DDR im Sonntagsstaat vorzuführen."

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A. Lebensstile 8.2 Konflikt und Konsens

Aus der undemokratischen Grundstruktur des realsozialistischen politischen Systems folgte, daß das die Lebenslage insgesamt bestimmende Muster eine Befindlichkeit des Konfliktes zwischen herrschender Minderheit und beherrschter Mehrheit war. Das schließt nicht aus, daß partielle Konsensfelder zwischen beiden existieren konnten. Es gab sogar einen partiellen Solidarisierungseffekt von DDR-Bürgern mit ,ihrer' Führung, wesentlich ausgelöst durch Arroganz von Westdeutschen, gegen die eine Art Trotzreaktion der Ostdeutschen erfolgte, etwa nach dem Muster: "Nicht nur ihr im Westen habt euch angestrengt und es zu etwas gebracht, das haben auch wir, und unter schwierigeren Bedingungen". Wahrscheinlich verschränkten sich da tradierte soziale Perzeptions- und Handlungsmuster mit DDR-spezifischen Mentalitätslagen und auch Einflüssen der parteioffiziellen Sicht, deren Propagierung die Ostdeutschen ständig ausgesetzt waren. Unter anderem mag darin auch eine unterschwellige Kompensation von Selbstvorwürfen mitspielen, ein Stück Selbstrechtfertigung angesichts der Tatsache, daß ohne die tätige Mithilfe und passive Duldung großer Teile der Bevölkerung der SED-Staat nicht solange hätte bestehen können. In analoger Zusammensetzung dürften die heutigen Elemente von DDR-Nostalgie (,Ostalgie') wirken, die als Reaktion auf die westliche ,Abwicklung' der ostdeutschen Gesellschaft aufgetreten sind und den Restaurationszielen von Organisationen wie der PDS ins Konzept passen. Allgemeiner Hintergrund solcher Erscheinungen war die Perzeption, man könne an den bestehenden Zuständen, mit denen man eigentlich nicht einverstanden sei, ja doch nichts ändern. Derartige Resignation wurde spätestens seit den 70er Jahren durch die offizielle westliche, zumal westdeutsche, Politik noch gefördert. Teilweise tendierte sie zu einem Muster, das die frühe Christa Wolf recht deutlich ausgesprochen hatte. In ihrem Text "Der geteilte Himmel" von 1963, der es direkt mit dem Mauerbau von 1961 zu tun hatte, schlug das schmerzhafte Sichabfinden mit der Trennung in eine politisch-moralische Konstruktion um, die etwa besagte: Aus der DDR wegzugehen ist der einfachere Weg, dazubleiben - unter im Grunde unerträglichen Verhältnissen - ist viel schwerer, denn das stellt viel höhere Anforderungen, zuvörderst an die Selbstüberwindung jedes einzelnen (vgl. C. Wolf 1977, 179ff.; s.a. Rossade 1982, 313f., 321f.). Nicht zu übersehen ist, daß eine solche Wendung zumindest formell in die Nähe eines faschistischen Perzeptionsund Handlungsmusters gerät, einer Mischung von protestantisch I kantischem Pflichtrigorismus mit der leeren, nihilistischen Heroenpose von Berufssöldnern und Gangstern. Basierend auf dem Grundmuster indirekter Apologetik, die Realität sei zwar inhuman und widerwärtig, aber so und nicht anders sei eben das Reale und deshalb müsse man es bejahen, hat für jene faschistische Sicht rückhaltloser Einsatz und das Aufsspielsetzen der eigenen Person um so

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höheren Eigenwert, je dubioser Gegenstand und Ziele solchen Sichopferns sind. Akzeptanz verdiente eine Forderung, sich Unzumutbarem nicht einfach zu entziehen, sondern es zu bekämpfen und abschaffen zu helfen. In dem faschistischen Muster wie bei der frühen Christa Wolf wird das Unzumutbare aber als unabänderlich hingenommen und grundsätzlich bejaht. Zeitweise schien die ständige Propaganda eine gewisse Wirkung zu erzielen, besonders die auf verträgliches Mittelmaß und auf ,Friedfertigkeit' des Realsozialismus abstellende, obwohl das zweite mit der wirklichen Politik vor allem der Moskauer Führung scharf kontrastierte (vgl. 15.lff.). Auf Dauer indes konnten sich weder die alltagskonzessiven noch die bemüht konstruierten Einverständnismuster halten. Die fundamentale Konfliktsituation setzte sich durch. Sie ergab sich - unbeschadet oberflächlicher Urteile vor allem im Westen über Stabilisierung und innerliche Festigung der DDR seit dem Mauerbau 1961 - zu jeder Zeit aus der mangelnden Legitimation und der Unfähigkeit des herrschenden Regimes, gegen das es bereits im Juni 1953 einen, sei es auch wenig organisierten, eher dumpf chaotischen als sozial bewußten und zielklaren Aufstand der ,herrschenden' Arbeiterklasse gegeben hatte, den die sowjetische Besatzungsmacht niederschlug. Acht Jahre später blieb für Regime und Schutzmacht nur noch rigoroses Sperren der Grenzen nach dem Westen als extremes Mittel, weitere Bevölkerungsverluste zu verhindern, die, hätten sie sich so fortgesetzt, die DDR schon damals und nicht erst 28 Jahre später hätten zusammenbrechen lassen. Nach der Absperrung setzte sich die Fluchtbewegung, nächst offenem Widerstand der entschiedenste Ausdruck von Dissens, in kleinen Sickerbächen anstelle der großen Flut fort, später widerstrebend auch fallweise genehmigt, mit Erpressung der westlichen Verhandlungspartner, Ausreisewillige mit harter D-Mark loszukaufen, als schäbigster Praktik der ostdeutschen Machthaber (dazu Rehlinger 1991 ). Am Ende war die Flut wieder so angeschwollen wie niemals zuvor, und sie gab den Anstoß zum Zusammenbruch der DDR. 65 Die Fluchtbbewegung war zwar 65 Zwischen 1949 und 1962 gab es insgesamt an die 2.760.000 Flüchtlinge aus der DDR ins westliche Deutschland, wobei diese Zahl die Personen addiert, die spätestens ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in BRD oder Berlin (W) die Anerkennung als Flüchtling bzw. die Notaufnahme beantragten. Auffal!ig ist, daß die höchsten jährlichen Flüchtlingszahlen (1953: 331.000; 1955, 1956, 1957, 1958, 1961 jeweils - zum Teil weit - über 200.000) bis auf 1961 in Jahren liegen, da ,Liberalisierungen' des realsozialistischen Regimes aktuell waren: der ,Neue Kurs' nach dem Juniaufstand 1953 und die Aufweichungen in den späteren Jahren nach Stalins Tod, besonders nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 (zu den Zahlenangaben vgl. Rytlewski I Opp de Hipt 1987a, 28). 1958 wurde in einem Diskussionsbeitrag auf dem V. Parteitag der SED gesagt, von jedem sechsten Studenten der Medizinischen Akademie Magdeburg seien in den vorhergehenden zwei bis drei Jahren ein oder mehrere der nächsten Angehörigen, Eltern oder Geschwister, "republikflüchtig" geworden (Protokoll 1959, Bd. 1, 431). Zur Fluchtbewegung wie auch zu westdeutschen Reaktionen darauf vgl. weiter: Gräf 1987; Kunert Hg. 1988; Böttger in DA 1989/1, 24f.; zum Reiseverkehr in DA 1989/2, 236; Pratsch / Ronge

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nicht einfach Weggehen aus der DDR, sondern sie hatte ihren Zusammenhang mit dem wachsenden inneren Widerstand, der weit mehr Antwort auf zunehmende Unterdrückung war als deren Ursache; mit den Toten an der Mauer (vgl. Handwörterbuch 1992, 469; s.a. P. Boris in DA 1989 I 8, 925ff.) und der Instrumentalisierung aller Organe des SED-Staates zur Erhaltung der bestehenden, überlebten Herrschaft. 66 Diese Zustände prägten den Alltag fiir die große Mehrheit der DDR-Bürger, sei es, daß sie darunter litten, sei es, daß sie - der kleinere Teil - selbst als Agenten des Herrschaftsapparates tätig waren.

in DA 1989/8, 904ff.; Herdegen ebenda, 912ff.; Helwig in DA 1989/10, 1073ff.; Flucht 1989; Ammer in DA 1989/11, 1206ff.; Hilmer/Köhler in DA 1989/12, 1383ff.; dies. ebenda, 1389ff.; Ahrends Hg. 1989, Range 1991; Wendt 1991; Rosen Hg. 1992; Heidemeyer 1994; Krönig/Müller 1994, 394ff. - Der Menschenhandel mit Ausreisewilligen wurde damit verglichen, wie einst deutsche Doudezfiirsten ihre ,Landeskinder' als Söldner verkauften. Es würden Menschen verschachert, "damit die DDR-Fürsten ihre Ruhe und Devisen haben, um ihre Schulden bezahlen zu können" (K. Wink/er 1985, 178; s.a. 191: möglichst hohe Strafen fiir Gefangene, damit beim Loskauf durch den Westen der Preis hochgetrieben werden kann). Ähnlich ökonomistisch und politischer Moral bar war, daß die einzigen DDR-Bürger, die (außer sie waren ,Geheimnisträger') einigermaßen problemlos aussiedeln konnten, die Rentner waren. Ihr Wegzug war fiir den Staat kein großer Verlust, und die Rentengelder konnte er einstreichen. Zum Aufstand vom Juni 1953 und zum Mauerbau 1961 s.a. Spittmann Hg. 1987, 187ff., Muel/er I Greiner 1969; zum inneren Widerstand: Fricke i 979; Fricke 1984. In der Mauer drückte sich die Schwäche des SED-Regimes aus (vgl. Bölling 1983, 25; weiter zu den Grenzsperrungen: Manale 1990; Zum Jahrestag 1990; Mehls 1990). Ein Ausdruck der Stimmungslage im ummauerten Realsozialismus waren die Ausbrüche zielloser Zerstörungswut. ,.Warum machen Leute Telefonzellen kaputt und schlagen ohne Grund Menschen zusammen? Ich glaube, weil sie mit ihrem Leben unzufrieden sind und nichts anzufangen wissen mit sich und mit ihrer Freizeit oder der Zeit überhaupt." (K. Wink/er 1985, 137f.). Ähnlich die Hakenkreuzschmierereien von Jugendlichen, der Rassismus und die Gewalttätigkeiten von ,Skinheads' und anderen Neonazis, die sich vornehmlich gegen Jugendliche der Alternativszene (Punks) richteten: "Frustration über den realen Sozialismus als Grund fiir die Faszination des Autoritären" (taz, 14.11.1987, 9). In einem der Untergrundpapiere, die sich mit den neonazistischen Gruppen befaßten, wurde gefragt, ob in der DDR, trotz umfangreicher schulischer und publizistischer Behandlung von Faschismus und NS-Verbrechen, eine ,.echte Faschismusaufarbeitung passiert ist, die über die allgemeine Floskel, die andern waren's, hinausgeht" (zit. ib.). Die Lust an Gewalt gegen andere spiegele die Unterdrückung wider, die die Gewalttäter selbst als DDR-Bürger erfuhren (ib.). 66 Zu den Repressionen vgl. Pari 1988/10, 11; Fricke 2 1988; Brunner Hg. 1989; Schacht 1989; Schacht 1990; Amnesty 1990; Kuo in DA 1990/3, 346ff.; Anhörungen 1993.- Zur Zensur: P. Dittmar 1988; Bothmer 1989; zur Informationspolitik am Beispiel der ADN jetzt auch 0/ivier 1995.- Zur Dienstbarkeit des Rechtes und der Justiz (s.a. oben, S. 94) und den neuen Entwicklungen seit 1989 I 90 vgl. Lohmann 1986; Roggemann 1987; Zieger/Schroeder 1988; Lieser-Triebnigg 1988; Kittke / Rieger in DA 1989/2, 174ff.; Rodenbach in DA 1989/5, 559ff.; H. Zimmermann in DA 1989 / 9, 974ff.; Schroeder 1989; Rechtsetzung 1989; Messerschmidt Hg. 1991; Frucht 1991; Fricke 1994; Schul/er 1994; Weinkein DA 1994/10, 1093ff.; In eigener 1994; Meyer-Seitz 1995; Weinkein DA 1995 / 2, 202ff.- Zu Wahlverfahren und Wahlfälschung vgl. Lappin DA 1989 / 6, 614ff.; Wahlfälschungen 1989.

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Charakteristisch für die offizielle realsozialistische Perzeption war die Ideologie von der Übereinstimmung als Triebkraft gesellschaftlicher Entwicklung. 67 Aus der Kenntnis der realen Gegebenheiten ergab sich eine entgegengesetzte Sicht, die nämlich, daß "eine Zeit der Nichtübereinstimmung beginnt, genauer: der offenen Nichtübereinstimmung" (Jur. Becker 1978, 27). Dies hat sich inzwischen als die tatsächliche Perspektive der DDR erwiesen.

8.3 Offizielle und Zweite Kultur Die realsozialistische Führung versuchte, ein Aufbrechen der Antagonismen - außer durch sedative Sozialpolitik und durch offene Repression einschließlich der drohenden Präsenz des scheinbar übermächtigen Militärapparates - dadurch zu verhindern oder mindestens immer wieder hinauszuschieben, daß sie in den vor sich gehenden Prozeß des Systemwandels lenkend eingeschaltet blieb, so daß das kontinuierliche, in seinen einzelnen Elementen oder Differentialen unspektakuläre Farbewechseln (um diesen Terminus der KP Mao Tse-tungs zu verwenden) nicht mit einer Gefährdung oder gar Ablösung der Führung einherging. Dies prägte die Spezifik der Beziehungen zwischen offizieller und Zweiter Kultur in der DDR wie in anderen, wohl den meisten realsozialistischen Staaten. Wird die Zweite Kultur primär als ,Alter67 Aus den 60er Jahren, einer Hochzeit des Ökonomismus, stammte die Ideologie, wonach die "Übereinstimmung der gesellschaftlichen, kollektiven und individuellen Interessen" Triebkraft der realsozialistischen Entwicklung sei. Theoretisch stand das in einem niemals aufgelösten konträren Verhältnis zu der offizialideologischen These vom Widerspruch als Motor der Entwicklung in allen Wirklichkeitsbereichen. Eine Auswirkung der traditionellen Ideologie und Praxis von ,Konfliktlosigkeit' war das Fehlen von echtem Meinungsstreit, was in der DDR selbst immer wieder einmal kritisiert wurde (vgl. DA 1987 I 6, 585; s.a. DA 1987 I 3, 268). Charakteristisch für nur scheinbar kontroverse, tatsächlich doppelbödig konformistische Diskussion "offener Fragen" waren die zahlreichen publizistischen Beiträge von J. Kuczynski, u.a. das 1986 bereits in 6. Auflage mit über I 00.000 verkauften Exemplaren vorliegende Buch "Dialog mit dem Urenkel". Gern ließ sich K. von der westdeutschen Tageszeitung "Die Welt" als "orthodoxen Dissidenten" bezeichnen (vgl. SF 1986 I 5, 1031; Jäger in DA 1987 I 3, 267). Wirkliche Kontroversen waren mit dem kulturpolitischen Eklat aufgebrochen, der 1976 mit der Maßregelung und Ausweisung kritischer Schriftsteller und den Protesten dagegen einsetzte und sich in den folgenden Jahren fortsetzte, bis ans Ende der DDR (vgl. /. Gerlach 1979, 122ff.; Emmerich 1981 , 180ff.; Rossade 1982, 453ff., 709ff.). Bei Jurek Becker erschien auch das zukunftsträchtige Muster, daß ein von der realsozialistischen Obrigkeit grundlos Gemaßregelter nicht sich bei der Obrigkeit, sondern die Obrigkeit sich bei ihm zu entschuldigen habe und daß der Untere nur noch kurze Zeit bereit sei, solche Entschuldigung anzunehmen (Hecker 1978, 156; vgl. a. Rossade 1982, 815-821). Ein um Gründlichkeit bemühter westlicher Blick auf die DDR ergab: "Der Beobachter erkennt, daß es viele Fässer dort gibt, die zum Überlaufen nur noch eines Tropfens bedürfen." Die "Bürokratie in Ämtern und Betrieben, mit deren Hilfe die SED das Land verwaltet", habe "immer diesen Tropfen zur Hand" (Gaus 1983, 50). Gewisse Schlüsse auf "Übereinstimmung" und "Nichtübereinstimmung" lassen auch Leserbriefe in Tageszeitungen zu (vgl. Bos 1993).

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nativkultur' verstanden, die sich in der verweigerungs- und protesthaltigen Nebenkultur von jungen Menschen, ,Aussteigern' und ähnlichen Gruppen kundgibt, so sind die häufig geringe Substanz und die unzureichende gesellschaftliche Tragfähigkeit dieser Abweichungen von der bürgerlichen Norm nicht zu übersehen. Nimmt man Lenins Bestimmung der Zweiten Kultur als die in jeder gespaltenen Gesellschaft vorhandenen Keime und Ansätze demokratischer und sozialistischer Kultur als Negation der herrschenden bürgerlichen/reaktionären Kultur (vgl. Lenin 20, 8f.), so ist zu sagen, daß derartige Elemente in der Zweiten Kultur der DDR-Gesellschaft sicherlich vorhanden waren, deren Beschaffenheit aber nicht bestimmten.68 Für die 80er Jahre läßt 6M Für Konkretisierung des Problems, "welcher Art der Anteil der Arbeiterklasse an der Hervorbringung und Aneignung des gesamtgesellschaftlichen Kulturprozesses im Kapitalismus war und ist", bezieht sich Emmerich (1974, 30ff.) auf die Theorie von den zwei Kulturen in der K/assengesellschafl (Lenin, Rayrnond Williarns, Ethnologen aus der DDR). Drei Punkte hebt er hervor (ib., 34f.): die materialistische Ableitung der Zweiten Kultur aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen des Proletariats; die in dieser Kultur enthaltene Perspektive demokratischer und sozialistischer Veränderung der bestehenden Produktions- und Herrschaftsverhältnisse, die ihren Inhalt mehr definiert als ein mechanischer Bezug auf die Arbeiterklasse als sozialen Träger der Zweiten Kultur; die Unmöglichkeit, daß die Elemente demokratischer und sozialistischer Gegenkultur unter kapitalistischen Verhältnissen jemals zur herrschenden Kultur werden. Gegen Habermas betont er den Alternativcharakter dieser Elemente (ib., 35). Elemente der Nichtübereinstimmung mit den offiziellen Vorgaben und Darstellungen nahmen im letzten Jahrzehnt der DDR besonders in den künstlerischen Medien, aber auch in der Wissenschaft und in der Tages- und Wochenpublizistik zu, häufig in einer kryptischen Sprache, die genaues Lesen, Hinhören und Hinsehen erforderte. Die Führung setzte sich dieser anschwellenden Flut im Grunde nicht entgegen, sondern suchte sie in ihrem Sinne zu kanalisieren und mit ihr oben rnitzuschwirnrnen. Ein kleines, aber charakteristisches Symptom z.B. der Begfeittext zu Girnus' eher unorthodoxem, einige Sprengkräfte transportierendem autobiografischem Buch. Da heißt es, Figur und Autor seien "Kommunisten alter Schule, starke und eigenwillige Persönlichkeiten, die selbst im Widerspruch noch Respekt fordern" (Girnus 1984, hinterer Klappentext). Noch einige Jahre zuvor hätte ein solches von allerlei ,Abweichungen' und ,Fehlern' strotzendes Buch, immerhin eines hohen Partei- und Staatsfunktionärs, nicht erscheinen dürfen, mindestens hätte es harte Kritik daran gegeben. Nun dagegen - repressive - Toleranz in der nicht originär realsozialistischen Manier, Ablehnung auf die Ebene von Meinungsstreit und quasipluralistischer Auseinandersetzung in zivilen Formen zu heben. Zur Neben- oder Subkultur läßt sich an einen Bericht von innen (Rathenow I Hauswald 1987, 124) anknüpfen: Der Herausgeber einer der in der Endzeit der DDR zahlreichen Kleinzeitschriften im Selbstverlag wollte keine Alternativkultur (Alternative zum Staat), sondern lieber zweite Kultur = Subkultur. Der Staat zeige Toleranz, allerdings nicht ganz, "weil sein Mißtrauen größer ist als der modische Ekel einiger Szenenkreise vor Dingen, die als politische betrachtet werden". Entpolitisierung also auch hier von oben erwünscht, nicht bekämpft. Entsprechend gab es für Kleidung (und äußere Aufmachung überhaupt) kein Tabu mehr. "Jede Form des Chics ist erlaubt." "Darf sich das reizvolle Fremde entfalten, weil es von eigenen Problernen ablenkt? Muß es nur exotisch genug sein? Äußerliche Extreme erweisen sich oft als das Harmlosere, da sich Aufbäumen gegen die Norm in der Auffälligkeit erschöpft." (Zu dieser Ablenkungs- und Lähmungswirkung vermeintlich alternativer Subkultur, zur offiziell ausgestellten Kultur und verwandten Fragen s.a. ib., 127, 103 u.ö.; Kolbe u.a. Hg. 1988; Muschter / Thomas Hg. 1992; Forschungsstelle 1993).

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sich von einem Gegen-, Mit- und Ineinander vor Vorzeige- und Wirklichkeitskultur sprechen, wobei in der zweiten der Kampf zwischen Elementen der Fäulnis und solchen authentischer Alternative wohl bis zum Schluß unentschieden blieb (s.a. in 15.4.1).

8.4 Institutioneller und persönlicher Bereich 8.4.1 Allgemeines

Jeder DDR-Bürger lebte in einem spezifischen Spannungsfeld von ,organisierter' und ,privater' Handlungssphäre. Einzelpersonen und nichtoffizielle Gruppen auf der einen, Staat und (die meisten) Verbände auf der anderen Seite standen sich gegenüber. In der realsozialistischen Gesellschaft herrschte ein durchgehender und alles übergreifender Primat der Politik (s.a. Habermas 1985, 359f.). Nur scheinbar im Gegensatz dazu, tatsächlich als konstituierendes Moment der realsozialistischen Politik existierte ein lebensweltlicher Druck auf Entpolitisierung der großen Bevölkerungsmehrheit, ein bestimmender Trend zur "unpolitischen Gesellschaft" (vgl. u.a. I. Hanke 1987, 31 Off.). 8.4.2 Staat und Partei. Von der SED zur PDS

Im Realsozialismus von dem Typus, dem die DDR zugehörte, entsprach der Monopolisierung wirtschaftlicher Macht durch die partei I staatliche Führungsspitze eine Zentralisierung der politischen Entscheidungskompetenz. Die politischen Akteure waren, unter dem Begriff von Leiter I Leitung, die .Führungen von SED und staatlicher Verwaltung auf den verschiedenen Stufen der Hierarchie. "Ihre Leistung besteht darin, die arbeitende Bevölkerung dahin zu bewegen, mehr als zur einfachen Reproduktion der Arbeitskraft zu leisten und das so entstehende Mehrprodukt entsprechend politischer Zielsetzung umzuverteilen" (Rytlewski 1986, 127). Aus dieser Konstruktion des Systems folgte das essentielle Fernhalten der Masse der Geleiteten von den wirklichen politischen Entscheidungen, entgegen der Eigendarstellung, nach der im ,Arbeiter-und-Bauern-Staat' die Werktätigen selbst die politische Macht in den Händen hatten. Soziologische Überlegungen zu Dimensionen und Merkmalen politischer Tätigkeit in der DDR, die diese These grundsätzlich akzeptierten, erschöpften sich beim versuchten Nachweis der Massenhaftigkeit politischen Handeins teils in den Quantitäten der Einbeziehung von Bevölkerungsschichten bis hin zu unteren Leitern und Werktätigen ohne hierK. Wink/er ( 1985, 189) zitierte einen Brief aus der DDR: "Ansonsten bin ich nicht mehr so auf der ,Scene' . Die Typen, das Durchgehänge und das viele intellektuelle Geschwätz kotzt mich mächtig an." Als Anderes sah der Schreiber nur den privatistischen Rückzug: "Allein, daheim, in Ruhe mit mir und meinem ,Ich' komme ich recht und schlecht zurecht."

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arehisehe Leitungsfunktion in die bestehenden politischen Repräsentativgremien (vgl. K.-0. Richter 1985, 15ff.), teils in der Gleichsetzung von Tätigkeit der SED und Durchsetzung der Interessen der Bevölkerungsmehrheit (ib., 20). Als Maß galten Daten wie der Umstand, daß etwa jeder zweite DDR-Bürger mindesten eine ehrenamtliche Funktion ausübte (ib., 23). Eingehen auf sozialstruktureHe Differenzierungen politischer Tätigkeit kam nicht an fortdauernder Überrepräsentanz der Männer gegenüber den Frauen und an zunehmender Überrepräsentanz der Intelligentsia vorbei (ib., 23ff.). Selbst in den örtlichen Volksvertretungen sank die Repräsentanz der Arbeiter und Angestellten, während nicht nur die der Intelligenz, sondern auch der Handwerker sowie der landwirtschaftlich Tätigen zunahm: Tabelle 12

Repräsentanz gesellschaftlicher Gruppen in den örtlichen Volksvertretungen der DDR (1965-1984)

Arbeiter und Angestellte Mitglieder von LPG, GPG und PwF Mitglieder von PGH, selbständig Erwerbstätige''' und freiberuftich Tätige Personen mit Hoch- oder Fachschu1abschluß