Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution [1. Aufl.] 9783839410608

Seit etwa 1995 beschäftigt sich das Gegenwartstheater verstärkt mit wirtschaftlichen Themen und untersucht das Verhältni

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German Pages 370 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater
Inszenierungen und Performances
Tatort Theater. Über Prekariat und Bühne
Theatrum Europaeum Precarium. Rimini Protokolls Dramaturgie der Ökonomie
Performance und Kollektivität in der Netzwerkökonomie
Entzug und Behauptung. Reaktionen auf den Souveränitätsverlust
Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell. Das Festival Palast der Projekte
Ästhetik des Ökonomischen. Alles muß raus! und livingROOMS von lunatiks produktion
»Wenn wir den Narzissmus verspürten, unendlich werden zu wollen, müssten wir das Medium wechseln!« Ein Gespräch mit Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll
Institution
Ist Theaterspielen Arbeit?
Institution und Utopie. Was die Soziologie vom Theater lernen kann
Kunst oder Kinsey?
Theatertexte
Störsignale. René Pollesch im ›Prater‹
Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von René Pollesch. Zur Verschränkung von Neoliberalismus und Gender
»McKinseys Killerkommandos. Subventioniertes Abgruseln«. Kleine Morphologie (Tool Box) zur Darstellung aktueller Wirtschaftsweisen im Theater
Atemlos. Arbeit und Zeit in Kathrin Rögglas wir schlafen nicht
Verfahren und Strategien des politischen Gegenwartstheaters (am Beispiel von Veiels Der Kick und Rimini Protokolls Wallenstein)
Europa zwischen Fluchtfabeln und Luftwurzeln. Der belgische Autor Tom Lanoye über Kapitalismus, Wissenschaft und Biopolitik in seinem Stück Festung Europa
Doppelte Buchhaltung in der Familien-Firma. Thomas Manns Buddenbrooks in der Bühnenfassung John von Düffels mit einem Blick auf Heinrich Breloers Verfilmung
Die Kollateralschäden der Gewinnmaximierung. Das Drama der Buddenbrooks
Ästhetische Ökonomie
Bühnendinge. Elfriede Jelineks Requisiten
Morphing Schiller. Die Szene des Dialogs nach dem Dialog. Anmerkungen zu Jelineks Ulrike Maria Stuart
Die Bühne als medialer Echo-Raum. Zu Elfriede Jelineks Bambiland
Autorinnen und Autoren
Abbildungen
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Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution [1. Aufl.]
 9783839410608

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Franziska Schößler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart

T h e a t e r | Band 8

2009-06-26 13-10-00 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02b9213915213070|(S.

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Franziska Schössler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Erhard J. Scherpf, Kassel, »Opernbühne« Lektorat & Satz: Franziska Schößler, Christine Bähr Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1060-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT

Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater FRANZISKA SCHÖSSLER/CHRISTINE BÄHR 9

Inszenierungen und Performances Tatort Theater. Über Prekariat und Bühne EVELYN ANNUSS 23

Theatrum Europaeum Precarium. Rimini Protokolls Dramaturgie der Ökonomie KATHARINA PEWNY 39

Performance und Kollektivität in der Netzwerkökonomie WOLF-DIETER ERNST 57

Entzug und Behauptung. Reaktionen auf den Souveränitätsverlust CHRISTOPH LEPSCHY/ANDREA ZIMMERMANN 71

Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell. Das Festival Palast der Projekte FRANZISKA SCHÖSSLER 93

Ästhetik des Ökonomischen. Alles muß raus! und livingROOMS von lunatiks produktion HEINER REMMERT 115

»Wenn wir den Narzissmus verspürten, unendlich werden zu wollen, müssten wir das Medium wechseln!« Ein Gespräch mit Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll NA-YOUNG SHIN 127

Institution Ist Theaterspielen Arbeit? AXEL HAUNSCHILD 141

Institution und Utopie. Was die Soziologie vom Theater lernen kann TANJA BOGUSZ 157

Kunst oder Kinsey? JÜRGEN BERGER 167

Theatertexte Störsignale. René Pollesch im ›Prater‹ NORBERT OTTO EKE 175

Die Dialektik der Postmoderne in Theatertexten von René Pollesch. Zur Verschränkung von Neoliberalismus und Gender FRANZISKA BERGMANN 193

»McKinseys Killerkommandos. Subventioniertes Abgruseln«. Kleine Morphologie (Tool Box) zur Darstellung aktueller Wirtschaftsweisen im Theater BERND BLASCHKE 209

Atemlos. Arbeit und Zeit in Kathrin Rögglas wir schlafen nicht CHRISTINE BÄHR 225

Verfahren und Strategien des politischen Gegenwartstheaters (am Beispiel von Veiels Der Kick und Rimini Protokolls Wallenstein) HAJO KURZENBERGER 245

Europa zwischen Fluchtfabeln und Luftwurzeln. Der belgische Autor Tom Lanoye über Kapitalismus, Wissenschaft und Biopolitik in seinem Stück Festung Europa THOMAS ERNST 259

Doppelte Buchhaltung in der Familien-Firma. Thomas Manns Buddenbrooks in der Bühnenfassung John von Düffels mit einem Blick auf Heinrich Breloers Verfilmung ORTRUD GUTJAHR 279

Die Kollateralschäden der Gewinnmaximierung. Das Drama der Buddenbrooks ANNA KINDER 299

Ästhetische Ökonomie Bühnendinge. Elfriede Jelineks Requisiten KONSTANZE FLIEDL 313

Morphing Schiller. Die Szene des Dialogs nach dem Dialog. Anmerkungen zu Jelineks Ulrike Maria Stuart ULRIKE HASS 331

Die Bühne als medialer Echo-Raum. Zu Elfriede Jelineks Bambiland EVA KORMANN 343

Autorinnen und Autoren 357

Abbildungen 365

D I E E N T D E C K U N G D E R ›W I R K L I C H K E I T ‹. ÖKONOMIE, POLITIK UND SOZIALES IM ZEITGENÖSSISCHEN THEATER FRANZISKA SCHÖSSLER/CHRISTINE BÄHR

In den letzten Jahrzehnten scheinen sich die Arbeitsbedingungen und Produktivitätsstrategien in den Industrienationen nachhaltig verändert zu haben, wie neuere arbeitssoziologische Studien profilieren: Das Subjekt wird zur Ich-AG, zum Unternehmer seiner selbst, der seine Arbeitskraft eigenständig kontrolliert und sich selbst vermarktet, um seine employability zu wahren. Der Arbeitskraftunternehmer, der teamfähig, flexibel und mobil agiert, dessen psychische, physische wie geschlechtliche Dispositionen vollständig durch ökonomische Leistungsanforderungen reglementiert sind, avanciert zu einer prototypischen Subjektivierungsform im postfordistischen Zeitalter (Voß/Pongratz 1998; Weiskopf 2005; Bröckling 2007). Damit setzt sich die Kontrollgesellschaft – so ein Begriff von Gilles Deleuze – an die Stelle der von Michel Foucault beschriebenen Disziplinargesellschaft; die gouvernementalen Strategien werden »gasförmig« und durchdringen die Subjekte in toto (Deleuze 1993: 254f.). Parallel zu diesem forcierten Produktivitätskonzept, das den Einsatz der gesamten Subjektivität verlangt, also auch die geschlechtliche Performanz umfasst (Boudry/Kuster/Lorenz 1999), wird die Arbeitslosigkeit zur bestimmenden Erfahrung prekarisierter Bevölkerungsschichten (im Osten Deutschlands weitaus stärker als im Westen). Der Kampf um Arbeit wird zur neuen Tragödie (Negt 2001). Auch das Theater als Teil des ökonomischen Feldes ist von den sich verschärfenden Wirtschaftsbedingungen betroffen und muss insbesondere nach 1989 einschneidende ›Rationalisierungsmaßnahmen‹ hinnehmen. Die Wende brachte, so Hans-Thies Lehmann, »Strukturdebatten, Finanz-, Orientierungs- und Funktionsprobleme« (Lehmann 1999: 15), führte zur Zusammenlegung von Sparten, zu Schließungen ganzer Häuser, zu Publikumsschwund und Legitimationskrisen. Vielleicht auch deshalb interessieren sich die Theater seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt für die neuen Arbeitssubjekte. Dramentexte, Inszenierungen und Performances spüren 9

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sowohl den (theatralen) Strukturen des wirtschaftlichen Diskurses nach – Claus-Dieter Hohmann beispielsweise spricht von den liminalen Erlebnisräumen der Verkaufscenter (Hohmann 2005) – als auch den ökonomischen Bedingungen des Theaters. Eine große Zahl an »Wirtschaftsdramen« – von Urs Widmer, Falk Richter, Kathrin Röggla, Moritz Rinke, Gesine Danckwart, Dea Loher, Robert Schimmelpfennig, Martin Heckmanns, Rolf Hochhuth und Albert Ostermaier, um nur einige zu nennen – beschäftigt sich mit dem wachsenden Dienstleistungssektor, mit Flexibilisierung und Mobilität, vor allem jedoch mit der grassierenden Arbeitslosigkeit von Akademikern, von ›freigesetzten‹ Managern – der alte Konflikt zwischen Arbeiter und Kapital scheint ausgedient zu haben. Meist wird den ehemals starken Machern ihre pathologische sowie kriminelle Seite entlockt und damit in gewissem Sinne derjenige Argwohn fortgeschrieben, der den großen Vermögen sowie der ›organisatorischen Spitze‹ des kapitalistischen Arbeitsprozesses bereits im 19. Jahrhundert entgegengebracht wurde (Schößler 2009). Das virulente Thema der (verschwindenden) Arbeit erweitert die ästhetische Ausdruckspalette und die theatralen Produktionsformen: In Anlehnung an das Dokumentartheater unternehmen die Autorinnen und Autoren Feldforschungen, üben sich in der ethnologischen Methode der teilnehmenden Beobachtung und werden zu Expertinnen und Experten der jeweiligen Fachsprachen. Vielfach kehren die Stücke mit ihrem Fokus auf das Wirtschaftssubjekt als dramatis persona zu narrativ-dramatischen Formen zurück (Lehmann 1999; Frei 2007). Diese genau recherchierten Wirtschaftsdramen leisten in gewissem Sinne der Forderung des Intendanten Thomas Ostermeier Folge, eine »Nabelschnur« zur Wirklichkeit zu legen und soziale Geschichten auf der Bühne zu präsentieren (Ostermeier 1999: 10f.) – auch um den Legitimationsproblemen des Theaters in einer veränderten politisch-kulturellen Landschaft zu begegnen und ihm neue Relevanz zu verschaffen. Setzen die Bestandsaufnahmen von Einsamkeit, Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung in diesen Stücken meist das traditionelle Repräsentationstheater voraus, das das Prekäre subalterner Lebensformen durch ein stellvertretendes Sprechen tendenziell distanziert, so scheint sich die Forderung nach Wirklichkeitsnähe gegenwärtig auf noch andere Weise einzulösen: Das Theater entdeckt sich zunehmend als sozioökonomisches Laboratorium und wendet sich konkreten Lebenserzählungen zu, um diese in ›fiktionaler Authentizität‹ zu präsentieren. Wirklichkeit wird nicht mimetisch simuliert, sondern die theatrale Fiktionalität mit sozioökonomischen Konkreta überschrieben oder aber es werden soziale Situationen arrangiert, die beispielsweise die Störanfälligkeit der global-medialen Kommunikation erfahrbar machen. Darüber hinaus versteht sich das The-

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DIE ENTDECKUNG DER ›WIRKLICHKEIT‹

ater selbst als ökonomische Anstalt – eine Definition, die für die freie Szene offensichtlich besondere Geltung besitzt, denn auf einem finanziell ungesicherten Terrain ist der Theatermacher immer auch ein Projektemacher (Krajewski 2004), wie beispielsweise das Festival am Hebbel Theater Berlin Palast der Projekte. Zum Verhältnis von Theater und Ökonomie illustriert. Diese Reflexionen über Arbeit am Theater, wie sie allen voran René Pollesch anstellt, sind eng mit neuen Produktionsformen korreliert, die unter anderem die klassische Arbeitsteilung zwischen Regisseur, Dramatiker und Verlag suspendieren. Es besteht eine verstärkte Tendenz zu kollektiver Arbeit, auf der Theaterproduktionen freilich immer schon basieren, doch nun werden (auch im Anschluss an Brecht und seine Irritation des auf Originalität setzenden Literaturbetriebs) auch Texte gemeinsam verfasst. Diese Zunahme an Team- und Projektarbeit entspricht bezeichnenderweise recht genau den Entwicklungen im Wirtschaftssektor. Nach Luc Boltanski/Ève Chiapello (2001; 2003) und Ulrich Bröckling (2007) wird Arbeit gegenwärtig vor allem projektförmig organisiert, das heißt gefragt sind Teamgeist, kommunikative Kompetenzen, Netzwerke, Kreativität, kurzfristige Zusammenschlüsse und Flexibilität, wie sie eben auch die Theaterarbeit, zumal die gegenwärtige, verlangt. Die Arbeitssoziologie und Betriebswirtschaft entdecken das Theater wohl auch deshalb als zukunftsweisende Institution im Kontext der Creative Industries (Eikhof/Haunschild 2004: 4f.), weil die aktuelle Produktivitätsdoktrin auf die Integration von Kreativität in die kapitalistischen Arbeitsprozesse setzt und die projektförmige Arbeit am Theater als vorbildlich gelten kann. Das Theater reflektiert also die Durchökonomisierung aller Lebensbereiche (auch seiner selbst) in vielfältiger Hinsicht und folgt nicht zuletzt so dem Primat wirtschaftlicher Rentabilität. Denn die innovativen ästhetischen Formate dieses »Wirtschafstheaters« versuchen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit als knappe Ressource zu sichern. Inszenierungen werden als Produkte vermarktet, die Zielgruppenspezifik gewinnt an Bedeutung und der Stückauftrag (für junge Autorinnen und Autoren) reichert das Angebot mit begehrten (und nicht immer nachgespielten) Uraufführungen an. Die Entdeckung des Sozialen als kollektive Arbeit, als Projekt, als Netzwerk und Gegenstand der Kunst wäre mithin ein Effekt des ökonomischen Druckes und eine Form des Widerstands. Gegenwärtig scheint derjenige Diskurs, der die wirtschaftliche Dimension des Theaters verschleiert hatte – die Kunst (um der Kunst willen) –, nicht mehr reibungslos zu funktionieren, sodass das Theaterspiel als Erwerbsarbeit kenntlich wird und sich Kunst nicht mehr als Gegenteil des ökonomischen Erfolgs definiert (Bourdieu 1999). Der vorliegende interdisziplinäre Sammelband untersucht die damit angedeuteten Schnittstel-

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len von Ökonomie und Theater genauer und zwar aus theater-, literaturund betriebswirtschaftlicher, aus performancetheoretischer und -praktischer sowie soziologischer Perspektive. Der erste Abschnitt des Bandes widmet sich Inszenierungen und Performances, die der Prekarisierung von Bevölkerungsgruppen sowie der Flexibilisierung und Globalisierung von Arbeitsverhältnissen Rechnung tragen und die Theatralität bestimmter Wirtschaftsoperationen freilegen. Evelyn Annuß untersucht die ästhetischen Möglichkeiten des Theaters, prekäre Lebensformen auf die Bühne zu bringen, und richtet ihren Blick zunächst auf die parasitäre Attitüde des Repräsenta-tionstheaters, das auf eine sozialrealistische Verkörperung des Elends setzt, zugleich allerdings die bildungsbürgerlichen Vorbehalte gegenüber der (proletarischen) Masse fortschreibt. Die anonyme Masse der Subalternen wird in den hier untersuchten Inszenierungen (von Thomas Ostermeier, Dimiter Gotscheff und Luk Perceval) tendenziell verweiblicht (wie es der Tradition seit Le Bon entspricht) und mit einer adornistischen Medienkritik assoziiert, die das Fernsehen beziehungsweise die Populärkultur überhaupt für die beklagenswerte Auswechselbarkeit der Subjekte verantwortlich macht. Ganz anders sehen die Interventionen von René Pollesch aus, der die Geste der Repräsentation als Auslöschung subalterner Stimmen vorführt. Auch der Beitrag von Katharina Pewny geht dem Zusammenhang von wirtschaftlichen Sujets wie Prekariat, Niedergang der New Economy et cetera und innovativen ästhetischen Formen nach, die die Darstellung von Wirklichkeit auf dem Theater durch ein Theater als Wirklichkeit ersetzen und auf diese Weise die geläufigen Konzepte von Autorschaft, Zuschauer und Publikum verschieben. Pewny untersucht beispielsweise die Durchbrechung des Authentizitätsvertrags in Karl Marx: Das Kapital, Erster Band von Rimini Protokoll: Spielt hier eine Figur tatsächlich eine andere (wie sonst selten in den Performances der Gruppe), so steht diese Reetablierung der theatralen Täuschung mit der Akkumulation von Kapital in unmittelbarer Verbindung; Repräsentationsästhetik und Kapitalismus werden miteinander verknüpft. Call Cutta von Rimini Protokoll ergänzt die biografischen Erkundungen von Das Kapital durch eine transnationale Perspektive, wobei das komplexe intermediale Arrangement den theatralen Prozess dem modernen Habitus der Mobilität und Flexibilität anpasst und die globale Kommunikation als labilen Vorgang erscheinen lässt. Diese Labilität profiliert auch Wolf-Dieter Ernst in seinem Beitrag zu Call Cutta, der die Bedeutung von Netzwerken für ästhetische und kognitive Prozesse unterstreicht. Zunehmend setzt sich der Lebensstil des

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DIE ENTDECKUNG DER ›WIRKLICHKEIT‹

›online‹, die multiple Vernetzung von Informations- und Mitteilungsquellen durch und transformiert selbst die Textproduktion. Damit entsteht eine fragile Form der Interaktion, die im Sinne Niklas Luhmanns von permanenten Störungen bedroht ist und die Rimini Protokoll in ihrer prinzipiellen Unwahrscheinlichkeit ausstellt. Die Performances reproduzieren diese kommunikative Vernetzung nicht mimetisch, sondern generieren sie in Alltagsräumen neu. Auf diese Weise wird die unkontrollierte Theatralität von Netzkommunikation erfahrbar, wie sie auch in den Ausbildungsbroschüren für Call-Center-Mitarbeiter anschaulich wird. Die bislang genannten Produktionen konstellieren das Verhältnis von Wirklichkeit und Theater neu – ein Verfahren, das sich als Reaktion auf den Souveränitätsverlust des kritischen Subjekts (der 1968er Jahre) begreifen lässt, wie Christoph Lepschy und Andrea Zimmermann in ihrem Beitrag zu dem Regisseur Volker Lösch und der Dramatikerin Nora Mansmann ausführen. Beide Künstler reagieren in unterschiedlichen Arbeitsfeldern und mit je anderen Mitteln auf den Abbau autonomer Subjekte (denen die ästhetische Form des individualisierenden Repräsentationstheaters entspricht). Die Texte von Mansmann generieren performativ (wie sich im Anschluss an Michel Foucault und Judith Butler beschreiben lässt) postideologische Figuren, deren Körper die Schnittstelle konfligierender Machtdiskurse sind und die sich unablässig neu herstellen. Löschs Inszenierungen irritieren die Authentizitätssuggestion einer individualistischen Repräsentation, indem er klassische Texte mit anonymen Chören konfrontiert, die gleichwohl persönliche Erfahrungen artikulieren und die Vorlagen (beispielsweise Dürrenmatts Besuch der alten Dame) auf lokale Verhältnisse zuschneiden (beispielsweise die hohe Privatverschuldung in Düsseldorf). Das Festival Palast der Projekte. Zum Verhältnis von Theater und Ökonomie (Hebbel Theater Berlin, April 2008), das Franziska Schößler ins Zentrum ihres Beitrags stellt, untersucht die Theaterförmigkeit von Ökonomie und die wirtschaftlichen Bedingungen des Theaters. Die vorgestellten Performances legen die Schnittstellen von Börse, Kaufhaus, Projekt und Theater frei, indem beispielsweise die freie Szene an den historischen Diskurs über Projektemacher angeschlossen wird – in beiden Bereichen fungiert Zukunft als kontingentes Terrain temporaler Wertschöpfung. Die Performances verhalten sich einerseits kritisch zu ihrem Gegenstand (beispielsweise der Börse), andererseits nutzen sie das theatrale Potenzial, die Spannung, den Thrill (der Spekulation) für den dramaturgischen Aufbau ihrer Abende – Kritik und Faszination an ökonomischen Verfahren sind nicht zu trennen. Heiner Remmert, Mitglied der Berliner Performance-Gruppe lunatiks produktion, unterstreicht ebenfalls den Zusammenhang von freier Thea-

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terarbeit, ökonomischen Inhalten und neuen Formen. Insbesondere freie Gruppen sind auf effektive Marktstrategien und Innovation zur Aufmerksamkeitssteuerung angewiesen – Remmerts Aufsatz selbst lässt sich in diesem Sinne als Eigenwerbung verstehen – und scheinen deshalb für die aktuellen Schlagwörter der Werbung wie Geiz, Schnäppchen und Restposten in besonderem Maße empfänglich: Die Performance Alles muß raus! von lunatiks produktion verwertet Restposten früherer Produktionen und verscherbelt hochkulturelle Zitate sowie die Akteure selbst; livingROOMs verlegt die ersteigerte (also käuflich erworbene) Aufführung in die Wohnräume der Kunden und erobert sich auf diese Weise die knappe Ressource medialer Aufmerksamkeit. Der erste Teil des Bandes schließt mit einem Interview ab, das Na-Young Shin mit Rimini Protokoll anlässlich der Aufführung von Karl Marx: Das Kapital, Erster Band am Trierer Stadttheater geführt hat und das das Verhältnis von Theorie und Theater thematisiert. Das Bühnenexperiment der Gruppe verknüpft die abstrakte Argumentation der Marx’schen Texte (auch wenn diese für ihre plastisch-illustrativen Begriffe berühmt sind) mit konkreten Lebenserfahrungen und intermedialen Rezeptionskontexten. Dem Theater kann mithin die Funktion zukommen, wissenschaftliche Erkenntnisse im Sinne des Link’schen Interdiskurses zu rekonkretisieren und zu ›rehumanisieren‹, indem ihre Konsequenzen für biografische Erfahrungen aufgezeigt werden. Der zweite Abschnitt des Sammelbandes präzisiert aus (arbeits-)soziologischer Perspektive und aus dem Blickwinkel eines Theaterkritikers die institutionellen Entwicklungen. Axel Haunschild beschreibt die Ambiguität der Theaterarbeit am deutschen Repertoiretheater, die zwar als Spiel gilt, doch eine spezifische Form von Erwerbsarbeit darstellt und sich über das Konzept des Arbeitskraftunternehmers konturieren lässt. Auch Schauspielerinnen und Schauspieler organisieren ihre Arbeitskraft selbstkontrolliert und diszipliniert, werben permanent (bei jeder Aufführung, bei den Premierenfeiern et cetera) für sich selbst, müssen sich als teamfähig erweisen und sind von Netzwerken abhängig, die über zukünftige Rollen entscheiden. Allerdings werden diese ›Ausbeutungsverhältnisse‹, die die gesamte Subjektivität des Arbeitenden erfassen, durch einen bestimmten Habitus, durch den Lebensstil der Boheme sowie die Überzeugung verdeckt, man widme sein Leben ganz der Kunst (um der Kunst willen). Tanja Bogusz untersucht in ihrem soziologischen Beitrag über die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz den Zusammenhang von Abweichung, Utopie und Institution. Auch sie akzentuiert die Bedeutung des Theaters für die Inszenierung und (institutionalisierte) Lebbarkeit von

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Abweichung (als Verweigerung gegenüber der profanen Arbeits- und Beamtenwelt) und betont, dass das Ensemble um Frank Castorf in diese Dissidenz eingeübt war, als es seine Arbeit im ›vereinigten‹ Deutschland begann. Zudem war die Gruppe mit dem Staatssozialismus vertraut, der das kulturelle Netz sehr viel enger auf das Soziale und die Arbeitswelt bezogen hat, und hatte mit dem Zerbrechen der Ideologie nicht auch die Utopie abgebaut – alles Voraussetzungen für die Erfolgsgeschichte der Volksbühne in den 1990er Jahren. Wie ambivalent die Situation des Theaters aufgrund des zunehmenden ökonomischen Druckes ist, streicht der Theaterkritiker Jürgen Berger mit Blick auf die Doppelgesichtigkeit ästhetischer wie betriebswirtschaftlicher Strategien heraus: Die Theater experimentieren mit neuen Formen, lancieren Stadterkundungen, erweitern ihre Angebotspalette (zum Beispiel durch die Dramatisierung von Romanen) und unterstützen in Autorenlabors junge Dramatikerinnen und Dramatiker. Diese ästhetischen Bemühungen fungieren zugleich als Werbestrategien, um sich die Zuschauer zu sichern und eine neue Klientel zu erobern. Der dritte Abschnitt des Sammelbandes beschäftigt sich mit Theatertexten, die das Sujet der Ökonomie im Kontext eines sich politisch verstehenden Gegenwartstheaters bearbeiten – diese Positionierung erweist sich gegenwärtig als ebenso vielfältig wie schwierig, denn klare Frontstellungen wie in Zeiten der großen Erzählungen sind nicht mehr möglich. Hatte das politische Theater bis in die 1980er Jahre eine wesentliche Motivation in der Kritik an dem inhumanen Wirtschaftssystem gefunden, so haben Boltanski und Chiapello gezeigt, dass sich der Kapitalismus als flexible Ordnung seine Kritik einzuverleiben wusste und ästhetische Strategien sowie kreative Potenziale integriert hat, sich damit aber gegen Vorwürfe immunisiert. Eröffnet wird mit zwei Aufsätzen zu René Pollesch, der sich an der Schnittstelle von Inszenierung und Text bewegt. Norbert Otto Eke stellt die Prater-Trilogie ins Zentrum seines Beitrags und verfolgt Polleschs Doppelstrategie, das politische Subjekt älterer Couleur zu zitieren und mit ironischen Effekten auf die Arbeitsverhältnisse im postfordistischen Zeitalter zu beziehen. Besonderes Augenmerk legt Eke auf die Funktion von Theorie bei Pollesch, denn der Theatermacher versteht seine Auseinandersetzungen mit Deleuze, mit der genderorientierten Arbeitssoziologie, mit Giorgio Agamben et cetera in Anlehnung an Hegel als genuines Verfahren alltagsweltlicher Orientierung. Diese Theoreme bindet Pollesch (ähnlich wie es Brecht in seinen TUI-Fragmenten visioniert hat) im Sinne der Agamben’schen Profanierung an konkrete Erfahrungen zurück,

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reichert sie mit biografischem Material an und vermeidet so das substituierende Sprechen des Repräsentationstheaters. Der Aufsatz von Franziska Bergmann untersucht das Verhältnis von Neoliberalismus und queerer Theorie, auf die sich Pollesch in seinen Theaterarbeiten wiederholt bezieht. Denn die Queer Theory, die die heterosexuelle Zwangsmatrix massiv kritisiert, erweitert das Feld des sexuellen Begehrens, so dass sich eine Analogie zur Marktfreiheit ausmachen lässt – Flexibilität, Mobilität und das Dogma der Selbstverwirklichung durchziehen beide Diskurse. Das postfordistische Arbeitsleben (im Dienstleistungssektor), das Pollesch in Heidi Hoh vorführt, erscheint zwar als Ausweg aus dem (heterosexuellen) Familienparadigma, das auf unbezahlte weibliche Hausarbeit setzt, gleichwohl zementiert auch die neue Arbeitswelt die heterosexuelle Matrix. Bernd Blaschke stellt in seiner Diskursanalyse deutschsprachiger Wirtschaftsdramen, die sich als Handreichung, Bastelbogen und Tool Box versteht, rekurrente Darstellungsstrategien, Themen und formale Verfahren zusammen. Die Stücke schreiben beispielsweise ein traditionsreiches binäres Metaphernsystem fort, das die heißen Gefühle der Leidenschaft dem kalten Kalkül der wirtschaftlichen Ratio entgegensetzt – bereits die Romantik bewertete kapitalistische Praktiken als kalte herzlose Verfahren. In den zeitgenössischen Stücken dominieren zudem Körperbilder des Verfalls, der Hysterie und der Erschöpfung, die die kreatürliche Endlichkeit gegen die unendliche Akkumulation und die permanente Leistungsanforderung setzen, wobei die Arbeitsbedingungen am Theater einen blinden Fleck dieser Dramen bilden. Der Gegenüberstellung von Dynamik und Stillstand sowie von Vitalität und Entkräftung als Parameter der Arbeitswelt im zeitgenössischen Theatertext widmet sich der Beitrag von Christine Bähr. Im Zentrum steht Kathrin Rögglas Theatertext wir schlafen nicht, dessen Aktualisierung von Zeitstrukturen und -erfahrungen mit Blick auf den zeitdiagnostischen Diskurs um die ›Entgrenzung‹ von Arbeits- und Lebenszeit und um das neukapitalistische Credo der ›Kurzfristigkeit‹ untersucht wird. Rögglas dokumentarisch geprägter Text reflektiert das performative Moment ökonomischen Wissens wie auch der professionellen Selbstdarstellung und irritiert das Ideal der belebenden Beschleunigung durch die ›unheimliche‹ Präsenz des Vergangenen und des Irrealen. Hajo Kurzenberger stellt die Frage nach dem politischen Profil eines Gegenwartstheaters, das ohne antikapitalistische Reserven auskommen muss, zudem auf verallgemeinerbare Aussagen verzichtet, gleichwohl in vielfältiger Form an der Politizität von gezielter Verstörung festhält. Er untersucht Andres Veiels genau recherchiertes Stück Der Kick, das sich ein Bilderverbot verordnet und mit der Reduktion als Bedingung einer

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DIE ENTDECKUNG DER ›WIRKLICHKEIT‹

konstruktiven Verwirrung arbeitet. Rimini Protokoll, der zweite Schwerpunkt dieses Beitrags, überschreibt in einem ebenfalls dokumentarischen Verfahren Schillers Wallenstein mit realen Biografien aus Politik und Militär, das heißt die Figuren werden (im Sinne einer produktiven Differenz, die auch die ästhetischen Narrative des Biografischen kenntlich macht) als Readymades des sozialen Alltags auf die Fiktion projiziert. Tendieren diese politischen Stücke dazu, lokale Soziogramme zu erarbeiten, so wurde auch das primär wirtschaftlich begründete Konstrukt Europa zum Gegenstand theatraler Reflexionen, allem voran in Festung Europa des belgischen Theatermachers Tom Lanoye, dem sich Thomas Ernst widmet. In diesem sprachlastigen Stück wird die Fluchtbewegung nach Europa, gegen die sich die ›Festung‹ zunehmend abschottet, umgekehrt, weil Lanoye dem Kontinent die Diagnose eines dekadenten Verfalls stellt. Die Ideologien Europas wie der Kapitalismus und die biopolitische Reproduktion erscheinen als effeminiert-dekadente Praktiken, denen das ›Fremde‹ (Afrika und Asien) als Hort ›wahrer Männlichkeit‹ entgegengesetzt wird. Lanoye entstellt mithin das Superioritätsgefühl Europas zur Karikatur, reproduziert jedoch die dichotome Struktur einer kolonial semantisierten Geschlechterordnung. Eine Vielzahl der zeitgenössischen Theatertexte demonstriert das Eindringen ökonomischer Strukturen in die Psychen der Subjekte, einen Prozess also, den Thomas Manns Erfolgsroman Buddenbrooks bereits um 1900 im Kontext des puritanischen Leistungsethos illustriert hat. Ortrud Gutjahr und Anna Kinder setzen sich deshalb mit der überaus erfolgreichen Dramatisierung des Romans von John von Düffel auseinander. Gutjahr profiliert, dass das kaufmännische Diktat der Gewinnmaximierung bei Thomas Mann alle, auch die intimen Beziehungen erfasst hat und als psychischer Zwangsmechanismus erscheint. Diesen führt auch von Düffel mit Fokus auf die Geschwister vor, unterschlägt jedoch die Motivation für den angestrengten Akkumulationsprozess, das heißt er spart den luxurierenden Lebensstil völlig aus, wie die karge Bühne in der Inszenierung von Stephan Kimmig unterstreicht. Gutjahr betont die zentrale Funktion des patrizischen Lebensstils, den der Roman ebenso breit ausmalt wie die Verfilmung von Heinrich Breloer. Anna Kinder legt die ›dramatische Anlage‹ des Romans Buddenbrooks von Thomas Mann frei, der sich durch eine exponierte Dialogstruktur, die Raumsemantik sowie zahlreiche Botenberichte auszeichnet, und geht der Funktion des (säkularisierten) Leistungsethos sowie der Aktualität dieses Konzeptes nach, das den Menschen primär über Arbeit definiert. Thomas Mann antizipiert zudem die zentrale Bedeutung des Kredits für expansive Wirtschaftsaktivitäten, begegnet dieser Praxis der

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Geldschöpfung (aus Zeit) jedoch in einem antimodernen Habitus mit Argwohn, weil sie auf dem labilen Kriterium des Vertrauens basiert. Ökonomie kann nicht nur in einem planen Sinne als das Feld wirtschaftlicher Transaktionen begriffen werden, sondern auf ästhetischer Ebene als Ökonomie eines Textes (die durchaus mit den herrschenden Wirtschaftsdiskursen in Zusammenhang steht). Insbesondere das Theater Elfriede Jelineks, das zwar auch ganz manifest vom Kapitalismus im Verbund mit Medien und Geschlecht spricht, verhandelt Ökonomie über das formale Arrangement der Texte, die in einer Geste der Überbietung die Fülle des medialen Sprechens in ein anökonomisches Szenario der Verschwendung und des Abfalls überführen. Konstanze Fliedl entwickelt diese Tendenz mit Blick auf die Funktion von Requisiten überhaupt und bei Elfriede Jelinek im Besonderen. Die Requisite, ein Stiefkind der Theorie, ist nicht nur ihrer Etymologie nach mit dem Eigentum assoziiert (als ›Besitz‹ der Akteure), sondern die unhintergehbare Materialität macht sie regelrecht zu einer marxistischen Umkehrfigur, indem die Dependenz des Bewusstseins vom Sein markiert wird. Der eher strenge Funktionalismus auf klassischen Bühnen – nur die Requisiten, die ›arbeiten‹ (sprich bedeutsam sind), dürfen mitspielen – wird im postdramatischen und Jelinek’schen Theater verabschiedet, das eine Ästhetik der Vergeudung, des Abjects und der Hybridisierung entwirft. Der Beitrag von Ulrike Haß profiliert das Diskursiv-Verschwenderische, das Jelineks Stück Ulrike Maria Stuart in Szene setzt, allerdings hier nicht in Opposition zu einer klassischen Ästhetik, sondern als deren konsequente Fortschreibung. Denn Schillers Maria Stuart und insbesondere der berühmte Dialog zwischen den Antagonistinnen bereiten durch die Sprach-Wut der Rednerinnen das sich perpetuierende Leerlaufen der Sprache vor, das bei Jelinek evident wird. Insistiert Jelinek auf einem ›Sprechen mit vollem Mund‹, dem ›alles davon sprüht‹ (ein anökonomisch-vergeudendes Sprechen), so lässt bereits das Rededuell Schillers die Bedeutungslosigkeit der einzelnen Worte sinnfällig werden. Eva Kormann liest abschließend Jelineks Bambiland als Krieg der Diskurse, die der Etymologie entsprechend auseinanderlaufen und die Marktförmigkeit des Wissens illustrieren. Nicht mehr Experten- und Elitewissen ist gefragt, sondern die mediale Community entscheidet über die Geltung von Wissen in prämierenden Verfahren sowie durch Angebot und Nachfrage. Diesen babylonischen Markt bildet Jelineks Sprachverwirrung nach, indem sie die einzelnen Diskurse zu Sprechern macht und die nicht-lineare Rezeption von rhizomatischen Hypertexten mimetisch umsetzt.

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DIE ENTDECKUNG DER ›WIRKLICHKEIT‹

Der vorliegende Sammelband fasst die Vorträge der Tagung Ökonomisierungsprozesse im Gegenwartstheater (Mai 2008, Foyer des Theaters Trier) zusammen, die zentraler Bestandteil des ersten Trierer Festivals für zeitgenössisches Theater, Maximierung Mensch!, war. Das Festival, das das Theater Trier (unter der Intendanz von Gerhard Weber), die Fachhochschule Trier und die Universität Trier gemeinsam ausgerichtet haben, wurde vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz großzügig unterstützt. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken, insbesondere bei Doris Ahnen, die die Schirmherrschaft übernommen hat, und bei Dr. Karl Josef Pieper, der uns mit fachkundigem Rat zur Seite gestanden hat. Dass das Projekt zustande kommen konnte, ist darüber hinaus dem Präsidenten der Universität Trier, Prof. Dr. Schwenkmezger, der die Kooperation mit Nachdruck unterstützt hat, zu verdanken. Dank gilt zudem Barbara Engel und Ariane Totzke für die redaktionelle Arbeit.

Literatur Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2001): Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel. In: Berliner Journal für Soziologie 11, H. 4, S. 459–477. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Boudry, Pauline/Kuster, Brigitta/Lorenz, Renate (1999): Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit und Zuhause. Berlin: b_books. Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 254–262. Eikhof, Doris/Haunschild, Axel (2004): Der Arbeitskraftunternehmer. Ein Forschungsbericht über die Arbeitswelt Theater. In: Theater heute, H. 3, S. 4–17. Frei, Nikolaus (2006): Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994–2001). Tübingen: Narr (Forum modernes Theater, 35).

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Hohmann, Claus-Dieter (2006): Liminalität als Begründungsmerkmal für neue Orte der Vermittlung. Reflexionen zur Ökonomie von Emotion und Ästhetik. Aachen: Shaker (Diss., Wuppertal 2005). Lehmann, Hans-Thies (1999): Die Gegenwart des Theaters. In: FischerLichte, Erika/Kolesch, Doris/Weiler, Christel (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin: Theater der Zeit (Recherchen, 2), S. 13–26. Krajewski, Markus (2004) (Hg.): Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. Berlin: Kadmos Kulturverlag. Negt, Oskar (2001): Arbeit und menschliche Würde. Göttingen: Steidl. Ostermeier, Thomas (1999): Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung. In: Theater der Zeit, H. 4, S. 10–15. Schößler, Franziska (2009): Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich und Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Frank Norris und Émile Zola. Bielefeld: Aisthesis. Voß, G. Günther/Pongratz, Hans J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50, S. 131–158. Weiskopf, Richard (2005): Gouvernementabilität. Die Produktion des regierbaren Menschen in post-disziplinären Regionen. In: Zeitschrift für Personalforschung 19, S. 289–311.

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INSZENIERUNGEN

UND

PERFORMANCES

TATORT THEATER. ÜBER PREKARIAT UND BÜHNE EVELYN ANNUSS

»Kann man einen richtigen Penner mit einem richtigen Schauspieler verwechseln«, lässt Einar Schleef den MANN 2 in Die Schauspieler fragen (Schleef 1986: 51). Mit seinem 1986 erstmals publizierten Stück bringt Schleef das geregelte Verhältnis zwischen Dargestelltem und Darstellendem durcheinander. Er verwendet Konstantin Sergejewitsch Stanislawskis autobiografische Erzählung vom Ensemblebesuch auf dem Moskauer Chitrow-Markt (Stanislawski 1991: 310–315). Zur Vorbereitung der legendären Uraufführung von Maxim Gorkis Nachtasyl 1902 nämlich hatte das Moskauer Künstlertheater dort erst einmal echte Penner in Augenschein genommen, wie Stanislawski berichtet. Dies zitierend invertiert Schleef die Ankunft des Lumpenproletariats im Theater, die Gorkis Nachtasyl um die Jahrhundertwende einleitet. Schleef transponiert den vorausgegangenen Besuch der Schauspieler bei den real existierenden Prekarisierten ins szenische Geschehen. Er setzt also an dem an, was der Figuration des Lumpenproletariats auf der Bühne vorausgeht. Das Stück operiert als reflexive Unterbrechung seiner fictio personae in dramatischer Gestalt. »Asyl. Nacht« (Schleef 1986: 8) heißt es zu Beginn des Stücks denn auch in einer szenischen Anweisung. Diese reißt den von Gorki durch Stanislawski hindurch zitierten Titel auseinander und kehrt ihn um. Schleefs Text exponiert mittels seiner zitathaften Form das Parasitäre einer sozialrealistischen Verkörperung des Elends, seiner fingierten Personalisierung auf der Bühne. Indem er das vorgängige obszöne Geschehen auf dem Chitrow-Markt ins Gedächtnis ruft, weist Schleef auf die Voraussetzungen des Dargestellten hin. So offenbaren seine Schauspieler die Politizität der Form.

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Schauspieler (Kerlin/Lettow/Schmuck) In einer für den Mülheimer Ringlokschuppen und das Schlosstheater Moers 2008 erarbeiteten Fassung greifen Alexander Kerlin, Fabian Lettow und Mirjam Schmuck das auf. Sie übertragen Schleefs Einsatz in die Frage nach einer anderen Form der Rede. Wie in permanenter Parekbase präsentiert ihre Inszenierung Schleefs Stück auf einer quadratischen, nach allen Seiten offenen Spielfläche zwischen zwei Zuschauerblöcken. Dort wird nicht dialogisch, miteinander, sondern ins Publikum gesprochen. Man kann das als Fortschrift von Schleefs Absage an die Dramatisierung des Elends lesen. Die Inszenierung aber bleibt nicht dabei stehen, sich mit der nichtprotagonistischen Präsentation einzelner Figuren zu beschäftigen. Szenisch erkundet sie Schleefs Versuche zu Form und Funktion chorischer Darstellungen. Damit führen Kerlin, Lettow und Schmuck das Bochumer Chorexperiment Westend und die von ihnen 2006 besorgte Mülheimer Adaption von Elfriede Jelineks Nora fort. Im Zitat von Schleefs programmatischem Essay Droge Faust Parsifal (Schleef 1997) wird das Publikum nun hinterrücks mit dem akustischen Einbruch einer chorisch formierten, nicht personalisierbaren Figur konfrontiert. Mehrfach zäsuriert deren gespenstische, an den einzelnen Mund nicht rückbindbare Stimme1 das szenische Geschehen vom Auditorium aus und allegorisiert das aus der dramatischen Darstellung des Elends ausgeschlossene kollektive Moment. Durch das präzise rhythmisierte Sprechen, die tonalen Wiederholungsstrukturen und Modulationen wird Schleefs Arbeit am Chor erinnerbar gemacht. Wie eine Heimsuchung tritt der Chor aus 19 Bochumer Studierenden immer dann auf, wenn auf der Spielfläche über das unkontrollierbare Geschehen draußen, die außerhalb des Nachtasyls tobenden Straßenschlachten, gesprochen wird. Er zitiert aus Antonin Artauds Text über Das Theater und die Pest (Artaud 1979: 17–34), der auf das Hervorbrechen des Latent-Gehaltenen zielt, ebenso wie aus Bertolt Brechts und Hanns Eislers Liedern von der Einheitsfront und der Solidarität. So wird in dieser Inszenierung praktisch erforscht, wie Subalternität jenseits des protagonistischen Prinzips szenisch präsentierbar ist. Im Spannungsfeld zwischen artaudscher ›Grausamkeit‹ und kommunistischer Formierung geht es mithin um die Darstellungsproblematik und den Ort von der Bühne verdrängter Kollektiva im bürgerlichen Theater. »Wir bitten nicht, wir fordern.« Ausgestattet mit der stärkeren Lungenkraft einer Kollektivfigur brüllt der Chor schließlich Schleefs bislang unveröffentlicht gebliebenen Flüchtlingstext – eine Inversion der aischy1

Zur entsprechenden Bestimmung des Chors vgl. Haß 2005 und Lehmann 1999: 235. 24

TATORT THEATER

leischen Klagelieder aus Den Schutzflehenden. Dabei reißt er die Ränder der Spielfläche ein, um sich dort niederzulassen: So gerät jener Abgrund, der die beiden Zuschauertribünen trennt, zur Orchestra und zur Baustelle, um im Hier und Jetzt der Szene zitierend nach einer angemessenen Auftrittsform der Prekarisierten zu fragen. Mit dem Auftritt des Chors wird – Schleef folgend – ausgelotet, inwiefern sich Prekarisierung überhaupt angemessen szenisch darstellen lässt. Dieser Frage ist meine folgende Auseinandersetzung mit Regiearbeiten Thomas Ostermeiers, Dimiter Gotscheffs, Luk Percevals und René Polleschs gewidmet. Denn angesichts gegenwärtiger Neoliberalisierungsprozesse, von Massenarbeitslosigkeit und dem Abbau einmal erkämpfter sozialstaatlicher Sicherungssysteme hat das Theater das Prekariat in den letzten Jahren als Bühnenfigur neu entdeckt.

›Theaterrevolutionäre‹ (Ostermeier) 2002 inszeniert Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne Richard Dressers Goldene Zeiten (Better Days), ein etwa zehn Jahre zuvor entstandenes Stück über den Amoklauf des Lumpenproletariats im neuenglischen White-Trash-Ambiente. Die Aufführung steht im Zusammenhang eines von der Schaubühne bereits zwei Jahre zuvor proklamierten Neuanfangs politischen Theaters, »das versucht, von den individuell-existentiellen und gesellschaftlich-ökonomischen Konflikten des Menschen in dieser Welt zu erzählen« (Schaubühne 2000, Hervorhebungen EA).2 Zu Beginn von Ostermeiers Intendanz veröffentlichen die ›neuen Realisten‹3 der Schaubühne unter dem Heiner Müller entwendeten Titel Der Auftrag das eben zitierte Manifest. Nach »dem Kollaps der großen Ideologien und politischen Lager« (Schaubühne 2000) wird vollmundig angekündigt, es ginge nun darum, gegenwärtige Schicksale auf der Bühne zu erzählen und endlich mit den längst überholten ästhetischen wie politischen Positionen etablierter Theaterleute Schluss zu machen. Zwei Jahre soll das gesamte Ensemble in einer öffentlichkeitswirksamen Aktion weder für Film, Funk noch Fernsehen arbeiten. In einer kollektiven »ästhetischen und soziologischen Recherche« will man sich stattdessen »mit der eigenen Wirklichkeit und der gesellschaftlichen Realität künstlerisch auseinandersetzen« (Schaubühne 2000). Schließlich wird mit Dressers Stück ›das Prekariat‹ für die Bühne neu erfunden. Im Rückbezug auf Goldene Zeiten gerät es zur Projektionsfläche für hochkulturbeladene Ressentiments gegenüber den Massen. 2 3

Zur Kritik siehe unter anderem Tiedemann 2000. Vgl. Lehmanns implizite Schaubühnen-Kritik (Lehmann 2002: 15). 25

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Bei Dresser nämlich werden die Stellvertreter des Prekariats dazu verdammt, einen Fernseher anzubeten und aus Verzweiflung über ihre Arbeitslosigkeit eine Sekte des »wahren Werts« zu gründen. Als solche fackeln sie von der zum Trailer umdesignten Schaubühne aus schließlich die Fabrik ab, in der sie früher gearbeitet haben, und machen sich damit zu Erfüllungsgehilfen ausländischer Spekulanten. Ostermeiers Bearbeitung von Dressers medienkritischem Prekariatsstück greift nun ihrerseits vermittelt auf Gorki zurück. Mit Kinderinstrumenten ausgestattet, geben die Schauspieler das »Lob des Kommunismus« (Brecht, GBA 3: 351) aus der vom BrechtKollektiv 1931 fortgeschriebenen Fassung der Mutter zum Besten. Was in Gorkis Prekariatsroman um die Jahrhundertwende als authentifizierende Literarisierung realen Elends konzipiert wurde und in den frühen 1930er Jahren zur szenischen Episierung zeitgenössischer Verhältnisse herangezogen wird, gerät der Auftragsprogrammatik der Schaubühne gemäß zur Persiflage eines überkommenen Bühnen- und Politikverständnisses. Der Brecht-Song wird in Goldene Zeiten zur Katzenmusik und dient nun dem Abgesang auf den Verlust individueller Artikulation. Dabei wird er als unzeitgemäßer Revolutionskitsch für Kinder präsentiert.4 Wie in Stanislawskis von Schleef zitierter Autobiografie erscheinen die Vertreter eines vermeintlich neuen Gegenwartstheaters zu guter Letzt als die eigentlichen Experten des Elends. Die Neuerfindung des Prekariats auf der Bühne – angeblich Ergebnis einer »soziologischen und ästhetischen Recherche« – ist dabei allerdings nur mehr Spielmaterial für deren PR-trächtige Selbststilisierung.

Held der Arbeitslosigkeit (Gotscheff, Perceval) Einen anderen, im medienkritischen Impetus allerdings verwandten Zugriff auf Prekarisierung wählt Dimiter Gotscheff. 2003 inszeniert er den Tod eines Handlungsreisenden am Berliner Deutschen Theater als politischen Kommentar zur gegenwärtigen Arbeitslosigkeit einer ganzen Serie vereinzelter Einzelner. Seine Klassikerinszenierung versucht Arthur Millers Stück von 1949 zu aktualisieren. Dieses führt am Beispiel des alternden, für seine Firma längst unrentabel gewordenen Handlungsreisenden Willy Loman vor, wie der Ausschluss aus der Verwertungsgemeinschaft den Verlust von Dialogfähig4

Dies im Unterschied zu Slevogts Deutung, es handle sich hier um eine Fortsetzung des brechtschen Lehrtheaters mit den Mitteln der Unterhaltungsindustrie (Slevogt 2002). 26

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keit bewirkt. Darauf hat bereits Peter Szondi in seinen Ausführungen zur millerschen Erinnerungsdramatik aufmerksam gemacht (Szondi 1978: 140–146): Miller überführt die dramatische Rede in den gespenstischen Dialog eines überflüssig gewordenen Vertreters mit imaginären Erinnerungsfiguren und lässt die szenisch anwesenden Familienmitglieder nur noch aneinander vorbeireden. Den von Szondi so benannten Rettungsversuch des neuzeitlichen Dramas mobilisiert Gotscheff 65 Jahre später zur Kritik heutiger Ökonomisierungsprozesse. Die Prekarisierten werden von Christian Grashof in Gestalt Willy Lomans verkörpert. Dieser protagonistischen Figur stellt Gotscheff nun einen seriellen Chor gegenüber. Anders als in der eingangs erwähnten SchauspielerInszenierung, die den Chor als Figuration des Politischen erkundet, tritt er hier jedoch als Bild einer entpolitisierten, neoliberalen Masse in identischen Hemden mit Krawatte und weißer Totenschminke auf – vorzugsweise in synchronisierten Bewegungen.5 Er wird nicht als Gruppenfigur aus einzelnen, zugleich aber unterscheidbaren und vom szenischen Geschehen ausgeschlossenen Körpern präsentiert, sondern als aufgereihtes Serienwesen in männlich normierter Unternehmer- beziehungsweise Angestelltenkluft. »Ich ich ich« skandierend gerät dieses kollektive Wesen zum Chor der Einverstandenen, als illustriere es die gängige Abwertung der Massen, wie man sie etwa aus dem Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung (Adorno/Horkheimer 1981) und zahllosen adornitischen Sequels kennt. Nur an einer Stelle wird Gotscheffs uniforme Kollektivfigur äußerlich differenziert. Für Millers Restaurant-Szene erscheinen die weiblichen Chormitglieder in weißen Monroe-Kleidern. Ihr Auftritt ruft das berühmte Foto ins Gedächtnis, das Marilyn Monroe mit hochfliegendem Rock auf der Straße zeigt und auf dem Cover von I Wanna Be Loved by You abgebildet ist. In schriller Tonlage Monroe nachsingend erinnern die Choreutinnen an die Autobiografie Millers, der in zweiter Ehe mit Monroe verheiratet war. Verwiesen wird über den autobiografischen Umweg auf die kulturindustrielle (Re-)Produktion imaginierter Weiblichkeit.6 Das serielle Monroe-Remake ist in dieser Inszenierung Projektionsfigur der Massenkultur. Hier zeigt sich Gotscheffs Verwandtschaft mit Ostermeiers Medienkritik, die die Ablösung des Individuums durch den neoliberalisierten Massenmenschen beweint. Vom Theater aus wird Entfremdung und Entpolitisierung als Effekt einer kulturindustriellen »Beeindruckungsmaschine« fingiert, die uns vermeintlich zu normierten Serienwe5

6

Darin unterscheidet sich Gotscheffs Inszenierung einer Kollektivfigur etwa von Schleefs dekonstruktivem Umgang mit dem Chor; vgl. hierzu Annuß 2008. Zur Begriffsprägung vgl. Bovenschen 1979. 27

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sen transformiert. Im Unterschied zu Ostermeiers symbolischem Mord an einem Vater des politischen Theaters aber folgt Gotscheff dem millerschen Ernährerdrama. Die ihm zugrunde liegende, inzwischen doch allzu befremdlich erscheinende Geschlechterkonstellation wird dabei nicht infrage gestellt. Bei aller Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse bleibt die Inszenierung letztlich der normativen Darstellung eines männlichen Protagonisten auf der Folie der bürgerlichen Kleinfamilie verhaftet. So erscheint der Held der Arbeitslosigkeit aus dem kleinbürgerlichen Trauerspiel von 1948 als Repräsentant heutiger Prekarisierung und macht auf den deutschsprachigen Bühnen der Gegenwart erneut Karriere. 2006 beispielsweise bringt auch Luk Perceval – wiederum an der Berliner Schaubühne – eine Neufassung vom Tod eines Handlungsreisenden. Darin wird der von Bruno Cathomas gespielte Sohn Biff, der auch bei Miller noch nie einen geregelten Job hatte, anstelle des Vaters Willy (Thomas Thieme) zum eigentlichen traurigen Helden. Percevals patrilinear aktualisierte Übersetzung des sozialkritischen Familiendramas in die Ära Hartz IV hält wie Gotscheffs Inszenierung an der protagonistischen Darstellung der Prekarisierten fest. Die persona wird hier jeweils zum singulär erscheinenden Exemplar.

Posthume Erfindung (Pollesch) Vor dem Hintergrund dieser reihenweisen Übertragung Millers ins Gegenwartstheater inszeniert René Pollesch Anfang 2006, kurz nach Luk Percevals Miller-Fassung, seinen Tod eines Praktikanten am Prater der Berliner Volksbühne. Offenkundig zitiert der Titel Millers Versuch dramatischer Krisenintervention. Vor allem an Gotscheffs im familialen Bermudadreieck versenkten Gendering setzt Polleschs dekonstruktiver Hebel an: An einer Stelle reden die drei Darstellerinnen Nina Kronjäger, Christine Groß und Inga Busch denn auch über Biff und Happy von 2003. Entsprechend zitieren ihre weißen Kleider das serielle MonroeOutfit aus Gottscheffs Inszenierung. Die Auftrittsform der drei PolleschDarstellerinnen allerdings ist eher dem laut Theweleit mit Bewilligungsbescheid und Stammnummer versehenen zeitgenössischen »tribe called ›Arbeitslos‹« (Theweleit 1998: 167) verwandt als der Figur einer uniformen Masse. Pollesch setzt der Reanimation Millers durch Gotscheff eine andere – nicht-geschlossene – Form der Serialität entgegen. Von der Bühne aus untergräbt diese Form die allzu grobschlächtige, Rezeptionspraxen ausblendende Kritik der Kulturindustrie. Pollesch verleiht seinen Monroe-Sequels im Gotscheff-Zitat wieder einen eigenen Spielraum, der

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es ihnen ermöglicht, sich im Sprechen gegenseitig die Bälle zuzuspielen7 und als singuläre Körper wahrnehmbar zu machen: Zwischen ihnen herrscht eine bestimmte Distanz; ihre Bewegungen sind nicht synchronisiert. Und die Stimmen werden in Abfolge eingesetzt. So wird Polleschs serielle Präsentation der drei Bräute im Zitat lesbar als szenisch gewordene Frage, inwiefern etwa Gotscheffs vermeintlich gesellschaftskritische Gegenüberstellung von seriellem Chor und singulärer Gestalt nicht gerade den Ausblick auf die Möglichkeitsräume politischer wie ästhetischer Praxen in der Gegenwart verstellt. In diesem Sinn ironisiert die Inszenierung das protagonistische Darstellungsprinzip: Die Figuren in den Klassikern könnten sich nicht solidarisieren, sagt eine Schauspielerin; sie lebten schließlich in getrennten Stücken. Anders als Percevals oder Gotscheffs Miller-Versionen setzt Pollesch entsprechend nicht das psychische Trauerspiel erzwungener Untätigkeit am Beispiel einer Figur repräsentativ ins Bild. In seiner Inszenierung geht es weder um das ungute Gefühl vereinzelter Einzelner, überflüssig zu sein, noch um die adornitische Projektionsfigur der Masse vermeintlich Einverstandener. Gegenstand ist vielmehr das Theater als Tatort – als Repräsentations- und Arbeitsplatz. In der Rede wie über das Outfit werden dabei immer wieder die Darstellbarkeit hinterszenischer Ausbeutungsverhältnisse und die damit einhergehenden fiktionalen Selbstverwirklichungsstrategien der Theatersubalternen untersucht.

Abbildung 1: René Polleschs Tod eines Praktikanten (Foto: Thomas Aurin) 7

Zur bandartigen Auftrittsform von Polleschfiguren vgl. Diederichsen 2005. 29

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Pollesch weist die Schauspielerinnen über ihre Brautkleider als Tagelöhnerinnen der Volksbühne aus. Was ihre Auftrittsform äußerlich unterscheidet, ist ihr Preis. Auf ihren identischen Kostümen ist die jeweilige Tagesgage aufgedruckt; nur darf darüber, wie die Schauspielerinnen sagen, nicht gesprochen werden. An ihrem Körper stellt Polleschs Inszenierung die Preisfrage, indem er offenlegt, wodurch die Darstellerinnen vergleichbar sind: ihre Verwertbarkeit. Soziale Ungleichheit und serieller Auftritt sind hier anders als bei Ostermeier und Gotscheff verschränkt. An die Stelle einer negativen Projektionsfigur für distinktionsbedürftige Bildungsbürger setzt Pollesch den Verweis auf die Kehrseite formaler Gleichheit. In einer den schleefschen Schauspielern verwandten Weise unterläuft er die einfache Referenz auf fiktionale Figuren; szenisch bringt der Gagenaufdruck den Bezug zur Existenzform der Darstellerin außerhalb des Dargestellten ins Spiel. Pollesch widersetzt sich dem Modell personaler Verkörperung. Den Auftritten von Busch, Groß und Kronjäger kommt keine Evidenz stiftende Darstellungsfunktion zu. Sie können weder Willy noch Biff Loman Gestalt verleihen und zugleich ihren Marktwert als Darstellerinnen offenbaren. Wie sie ihr Publikum in einer Art Parekbase belehren, geht es im Tod eines Praktikanten eben anders als im Drama nicht um entkörpertes, zu verkörperndes Wissen. Donna Haraways These vom situated knowledge (Haraway 1995) in einem performativen Widerspruch als objektiv anführend, stellen sie ihre standortspezifische Perspektive zur Schau. Dann demonstrieren sie die – unterschiedlich – bezahlte Serienproduktion von Figurationen ›der anderen‹. Wenn Busch, Groß und Kronjäger als dreifaches Sprachrohr Haraways auftreten, sind die Schauspielerinnen also keineswegs als Alltagspersonen mit sich identisch. Vielmehr unterlaufen diese Hybridwesen durch die von ihnen szenisch produzierte referenzielle Verwirrung zwischen Mensch und Serienfigur die geregelte Relation zwischen Darstellerin und dargestellter persona. Sie fordern dazu heraus, sich gemeinsam über die Mitteilbarkeit fremder wie eigener Lebens- und Arbeitsbedingungen im Theater zu verständigen. In diesem Punkt ist Polleschs Einsatz auch als Gegenentwurf zur vermeintlichen politischen Neubegründung des Theaters durch die Schaubühne bestimmbar. Die szenisch gestellte Gagenfrage verwendet anstelle des von Ostermeier bloß karikierten »Lob des Kommunismus« das brechtsche Lehrstück als Formzitat.8 Im Tod eines Praktikanten wird der »Song von der Ware« aus der Maßnahme (1929–1931) szenisch fortgeschrieben, um gegenwärtige Vergesellschaftungsformen im Kulturbetrieb

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Zum Begriff des Formzitats vgl. Böhn 2001: 18. 30

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zu reflektieren.9 Pollesch bringt die brechtsche Preisfrage nach ›dem Menschen‹ und seiner Verwertbarkeit ins Spiel. Demonstrativ wird sie am Körper der drei ›Bräute‹ über die an ihnen ausgestellte Tagesgage – mithin von außen10 – allegorisierend zur Anschauung gebracht. »Weiß ich, was ein Mensch ist? Weiß ich, wer das weiß! Ich weiß nicht, was ein Mensch ist Ich kenne nur seinen Preis.« (Brecht, GBA 3: 115)

Dieses Lehrstückzitat wird von Pollesch auf die Körper seiner Schauspielerinnen appliziert und so auf das Theater als Verwertungsbetrieb beziehbar. Sind die Lehrstücke zur spielerischen Selbstverständigung konzipiert (Lindner 1993; Müller-Schöll 2002: 185–407), wird das brechtsche Modell von Pollesch mit einem spezifischen Bezugspunkt ausgestattet. Es ist das Theater selbst, das hier exemplarisch unter die Lupe genommen wird. Im Bezug auf Brecht bringt Tod eines Praktikanten so die Einsicht in die Politizität der Darstellung gegen die szenische Erzählung von den »individuell-existentiellen und gesellschaftlichökonomischen Konflikten des Menschen in dieser Welt« (Schaubühne 2000) ins Spiel. Im Formzitat nimmt Pollesch die physische Präsenz der Prater-Schauspielerinnen zum Ausgangspunkt, um nach jenen deregulierten Arbeitsverhältnissen zu fragen, die vom werbeträchtigen Verzicht des Schaubühnenensembles auf Fernsehgagen ausgeblendet werden. »Und deine Tagesgage kannst du dir an den Hut stecken«, sagt Christine Groß an einem Punkt. »Du verdienst doch auch beim ZDF«. Anstelle der moralisierenden PR-Strategie der Schaubühne und deren Denunziation einer massenhaften Glotzkultur setzt Pollesch die Präsentation der mitspielenden ›Tagelöhnerinnen‹ in ihrer Verwertbarkeit als V-Effekt gegen die Dramatisierung von Arbeitslosigkeit durch vorzugsweise männliche Protagonisten ein. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit dem arbiträren Darstellungscharakter von Sprache eine zentrale Rolle. Auch in der Rede verwirrt Pollesch die Referenzen. Wie in seinen anderen Inszenierungen werden die Figuren in Tod eines Praktikanten ständig rhetorisch gemorpht: »CHRISTINE GROSS: Hallo Herr Moser, Sie sind doch Millionärin? NINA KRONJÄGER: Nein, bin ich nicht. Ich, Wolfgang Tillmans, trage die Post aus. Das ist doch ganz klar zu sehen.« 9

Siehe zum Verhältnis von Lehrstück und Pollesch bereits Wirth 2003: 126 und Karschnia 2004: 190. 10 Vgl. Norbert Otto Ekes Beitrag in diesem Band. 31

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Diese Wechselrede offenbart die Differenz zwischen Prosopopoiia, den männlich fingierten personae Moser beziehungsweise Tillmans, und den weiblich markierten Körpern von Busch, Groß und Kronjäger – zwischen Text und szenischer Präsenz. Die sprachlich hergestellte fictio personae (Quintilian 1975: 283, IX.2, 32) konfligiert mit Körperbild und Stimmklang. So zeugt das Widerspiel von männlichen Instanzen der Rede und seriell eingesetzter Weiblichkeitsimago vom Akt der Referenzbildung, den das »Theater der Verkörperung« (Fischer-Lichte 2001) verstellt. Auch Bert Neumanns Kulisse lässt nach dem Referenzial der Darstellung fragen. Die Schauspielerinnen müssen sich vor, hinter und zwischen den von ihm entworfenen Stellwänden bewegen und sind dadurch oft nur mehr auf Videoscreen zu sehen. Sie werden mithin live ins Zweidimensionale überführt, während die Bühnenbilder uns ans Reale außerhalb des Theaters zu erinnern scheinen. Auf Neumanns Wänden, die den Blick auf das szenische Geschehen abschirmen, sind Bilder von den Nebenhäusern des Prater in Originalgröße und auf deren weißer Kehrseite wiederum der Preis der Fototapete aufgedruckt. Auch diese Straßenszene ließe sich als Verweis auf Brecht, auf dessen »Beispiel allereinfachsten, sozusagen ›natürlichen‹ epischen Theaters« (Brecht, GBA 22: 371) lesen. Was Walter Benjamin in seinem Text über das epische Theater als ›Zeigen des Zeigens‹ (Benjamin, GS II.2: 529) beschrieben hat, ist hier allerdings reflexiv auf die visuelle Darstellung selbst bezogen. Deutlich wird Polleschs Straßenszene von den Schauspielerinnen immer wieder »als großer Fake« medial vermittelter Bilder ausgewiesen, ohne gleich ins Bashing einer vermeintlich übermächtigen Kulturindustrie zu verfallen. »Komisch, gestern hab ich noch davon gegessen«, sagt Inga Busch über die Bild gewordenen Obstauslagen gleich zu Beginn und imitiert dann grinsend die Fressbewegung virtueller Pacman-Piranhas aus der grauen Vorzeit heutiger Computerspiele. Während sich die drei Bräute immer wieder zwischen Neumanns Bildern durchschieben, diese herunterreißen, umdrehen und dann neu aufhängen, problematisieren sie jene Darstellungsform, die ›das Elend anderer kreativ bearbeitet‹, das heißt dramatisiert. In dem Film Snowcake, sagt Kronjäger an einem Punkt, werde von der Protagonistin Sigourney Weaver die Differenz zur Norm fingiert, um eben diese zu zementieren. Im Film nähme eine Millionärin die männliche Mittelstandsposition ein, indem sie eine Autistin spiele. Das Performen ›der anderen‹ wird hier gerade nicht als Akt des Stimme-Verleihens zu denken gegeben. Vielmehr verweist Pollesch implizit auf Gayatri Chakravorty Spivaks Can the Subaltern Speak? – auf die Kritik an einer entmündigenden Vertretung jener Subalternen, die im normativen Darstellungsmodus eben keine Stimme haben. Kronjäger wälzt sich entspre-

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chend im Umriss einer anthropomorphen Figur, der wie die Markierung eines Tatorts durch die Mordkommission aussieht. Die Markierung wird sozusagen als platte Figuration ›der anderen‹ in einem allgemein gültig erscheinenden Rahmen präsentiert. Damit führt Polleschs Theater die Möglichkeit einer anmaßenden Stellvertretung auf ein serielles Darstellungsschema zurück, das andere mortifiziert, indem es sie neu erfindet. Polleschs Formkritik zieht dabei eine Linie vom klassischen Drama bis hin zum Gegenwartskino. Entsprechend wird der Verweis auf die Figur ›der anderen‹, der hier nicht zuletzt an den Tatort als ein dem Drama nacheiferndes Format erinnert, von den Schauspielerinnen später unter dem Motto »Reclam the Streets« unter gelben Klassikerbänden begraben. Und genau über die platte Figuration der mortifizierten ›anderen‹ bringt Pollesch Prekarisierung als etwas gänzlich anderes denn Überflüssigkeit ins Spiel. Castingallee nennt man die vom Bühnenbild reproduzierte Kastanienallee im Volksmund. Sie ist Boulevard prekarisierter Hippster aus der »Generation Praktikum« (Scholz 2005), die an der Volks- oder der Schaubühne unzählige Hospitanzen absolvieren und dabei als Subalterne des Theaters von ihrem großen Auftritt träumen. Wenn die drei Tagelöhnerinnen der Volksbühne im Tod eines Praktikanten hinter den Kulissen auf einen personalen Umriss stoßen, interpretieren sie ihn denn auch als die szenisch abwesende Titelfigur ihrer Aufführung. »Wo hab ich denn mit dir zu tun«, fragt Christine Groß durchs Mikrofon und damit aus der als solche exponierten Distanz. »Lieber Praktikant«, sagt Nina Kronjäger schließlich – ebenfalls durchs Mikrofon ans Publikum gerichtet. Sie macht auf die Differenz des eigenen Standorts zu dem des Pulikums aufmerksam. Die Zuschauer werden adressiert, als ob sie die Stellvertreter der szenisch abwesenden Figur, als ob sie mit dem toten Praktikanten verwandt seien. Denn wie das Publikum hat ›der Praktikant‹ nichts auf der Szene zu suchen. Davon ausgehend wiederum wird die Frage nach dem Status der Theaterprekarier und ihrer angemessenen Darstellung dem Publikum überantwortet. Pollesch hat das Verhältnis von Prekarisierung und totaler Selbstverwertung bereits in den 1990er Jahren bearbeitet. In seiner Blood, Sweat & Tears zitierenden Heidi-Hoh-Serie brachten Christine Groß und Nina Kronjäger noch Polleschs eigene, damals prekäre Arbeitssituation aufs Tablett. Immer wieder ging es um jene Selbstausbeutung innerhalb des kulturellen Feldes, die die Grenze zwischen Arbeit und Leben auflöst. Damals schon traten die Schauspielerinnen als Serienwesen auf, um die von Angela McRobbie und anderen beschriebenen Arbeitsstrukturen im Kreativsektor zur Sprache zu bringen (MacRobbie 2002; 2004). Reihum wurde auf der Bühne sitzend in rasanter Geschwindigkeit der Verlust

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der eigenen ›Hinterbühne‹ (Diederichsen 2005: 8) beklagt. Bereits in Heidi Hoh schienen die in Abfolge – nacheinander – sprechenden Körper letztlich im Rahmen einer Instanz der Rede aufzutreten, als seien sie austauschbar. Mit Tod eines Praktikanten nimmt Pollesch nun einen Einstellungswechsel vor. Die Rede ›über sich selbst‹ aus Heidi Hoh wird auf die Apostrophé und Nachstellung des toten Praktikanten übertragen: Selbst längst im Betrieb angekommen, führt Pollesch Prekarisierung nun konsequenterweise als Repräsentationsproblem an der mortifizierten Figur ›der anderen‹ vor: »CHRISTINE GROSS: Es sind Lebensumstände, die ständige Bearbeitung erfordern. Wie zeigt man das, wo nichts darauf wartet, lebbar zu sein? Und dann liegt da ja auch der Praktikant. Wie ist der denn ums Leben gekommen? INGA BUSCH: Keine Ahnung, wie das denn passiert ist.«

Dem Zitat der Castingallee gemäß wird der anthropomorphe Umriss hinter den Kulissen in dieser Szene der Figur des toten Praktikanten zugeschrieben. Seine spätere Darstellung ist vorab bereits als posthume Erfindung ausgewiesen. Hier spannt sich der Bogen zu Schleefs Einsatz, der in seinen Schauspielern das Fingieren der Prekarisierten auf die Bühne bringt. Im Unterschied zu den genannten Inszenierungen Gotscheffs oder Ostermeiers konzentrieren sich Pollesch wie Schleef dabei auf die Kritik an der nachträglichen Dramatisierung des Elends. Anders als Schleef aber bezieht sich Pollesch in einer weiteren Denkspirale auch auf den von den Darstellerinnen präsentierten Zwang, die eigene Existenz im deregulierten Betrieb als kohärente Erfolgsgeschichte gelungener Selbstverwirklichung erzählbar zu machen. So kündigt Christine Groß gegen Ende an, dass da jemand sei, der sich als Praktikant vorstellen wolle. Sie geht hinter die Kulisse und öffnet »Dingdong« rufend die darauf abgebildete Tür. Dann stellt sie sich als besonders hipper Praktikant vor, der es eigentlich gar nicht nötig hätte, unbezahlt im Theater zu arbeiten: »Guten Tag, Orlando Bloom ist mein bester Freund.« Das Tagesgagenkleid wird hier deutlich zum V-Effekt, denn die Existenzform des Praktikanten können die Darstellerinnen gerade nicht mit ihrem demonstrierten ›eigenen Leben belegen‹. Tod eines Praktikanten erzählt also nicht von, sondern fragt nach den Fiktionalisierungen des Selbst hinter der Theaterszene. Im ›Tatort‹ Theater werden standortspezifisch Vorstellungen von den Bedingungen wie Grenzen kollektiver Selbstverständigung über die dort herrschenden ökonomischen Verhältnisse durchgespielt. Wenn der Tod eines Praktikanten die brechtsche Preisfrage szenisch reformuliert und über die abwesende Figur des Praktikanten die Selbstfiktionalisierung unsichtbarer Zuarbeiter als Fake der Darstellerinnen 34

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präsentieren lässt, ist der Hinweis auf die Gage als darstellungspolitischer Gestus lesbar.11 Nur in fortgesetzter Rückkopplung geraten die real existierenden Verwertungsprozesse zum Gegenstand szenischer Selbstreflexion. So können die drei Serienwesen denn auch Widerspruch provozierend einmal als »Praktikantenreisende«, dann wieder als Millionäre auftreten, als ob diese beiden Rollen – ihrem personalen Rahmen entsprechend – einfach austauschbar seien: »Ich bin Hans Moser und ich finde es gut, dass im Theater alle umsonst arbeiten. Da ist man doch gerne dabei.« Damit bringt eine der Serienfiguren den Witz figuraler Verwechslung und der ihr zugrunde liegenden Formproblematik schließlich auf den Punkt. Tod eines Praktikanten reflektiert also vom eigenen Betrieb aus zeitgenössische Prekarisierungsprozesse als Darstellungsproblem. Hierin besteht die politische Dimension von Polleschs Theater.12 Ins Serienformat überführt und mit ihrem Preis ausgezeichnet, allegorisieren die Schauspielerinnen die in der Wiederholung aufscheinende Widerständigkeit des Zitierens. Und dieser allegorisierende Zugriff, der sich im Zitat der gestalthaften Repräsentation entzieht, verbindet Polleschs Problematisierung verkörperten Elends bei aller Differenz mit Schleefs Chorarbeit und der eingangs genannten Schauspieler-Inszenierung. Schnittstelle der zwei unterschiedlichen Auftrittsformen, von Chor- und Serienfigur, ist jenes Moment, das sich der personalen Verkörperung gesellschaftlicher Verhältnisse entzieht. So zeugen Pollesch wie Schleef von der Existenz eines neuen Volkstheaters – eines Theaters, das sich der effektheischenden Dramatisierung des Prekariats auf der Bühne verweigert und stattdessen kollektive Formen des szenischen Auftritts erprobt.13

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11 Vgl. im Unterschied zu dieser Lesart Slevogt 2007. Die darstellungspolitische Funktion der Kleider verkennend, kritisiert sie, dass Pollesch als »Großverdiener« des Betriebs die eigene Tagesgage ausblendet. 12 Rebentisch hat dies aus einer etwas anders gelagerten Perspektive am Beispiel von Cappuccetto Rosso beschrieben (Rebentisch 2006: 77–78). 13 Zu Pollesch vgl. Lehmann 2006: 20. 35

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THEATRUM EUROPAEUM PRECARIUM. RIMINI PROTOKOLLS DRAMATURGIE DER ÖKONOMIE KATHARINA PEWNY

Erstens skizziere ich Veränderungen im europäischen Theater des 20. Jahrhunderts. Sie lassen sich als Paradigmenwechsel von der Darstellung von Wirklichkeit im Theater zu dem Theater als Wirklichkeit beschreiben. Zweitens und drittens analysiere ich die Inszenierungen Karl Marx: Das Kapital, Erster Band und Call Cutta. Mobile Phone Theatre des Regielabels Rimini Protokoll mit Fokus auf ihre Dramaturgie der Ökonomien. Meine These ist, dass Rimini Protokolls überragender Erfolg aus ihrer gelungenen Fortschreibung und Veränderung der Grundlagen des europäischen Sprechtheaters resultiert. Die genannten Produktionen zeigen die ästhetischen Konventionen der europäischen sogenannten Hochkultur als ungesichert und von wechselnder Gestalt.1 Prekär werden zunehmend auch die Lebensweisen des Publikums des bürgerlichen Sprechtheaters – der Mittelschichten. Das Prekäre erweist sich somit als Schnittstelle des zeitgenössischen Theaters und der transnationalen Ökonomien. Es konstituiert das Theatrum Europaeum Precarium und wird von diesem hervorgebracht.2

Theater als Realität Im bürgerlichen Sprechtheater in Europa verkörpern Schauspieler Rollen und spielen Handlungen, die in schriftlich verfassten Dramentexten no-

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Das sind zwei der vielen Bedeutungen des Wortes ›prekär‹. Das Theatrum Europaeum ist ein 21-bändiges historisches Sammelwerk aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Ich beziehe mich nicht explizit darauf; die Ähnlichkeit des Titels meines Aufsatzes spielt jedoch indirekt auf das Bild Theatrum Mundi an. Vgl. http://lexikon.meyers.de/wissen/Theatrum+ Europaeum. Stand: 29.09.2008. 39

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tiert sind. Dies findet in ausgewiesenen Theaterräumen vor Zuschauern statt. Dabei ist die Theateraufführung eindeutig von anderen Realitäten abgegrenzt, der Theatertext von anderen Textsorten, die Schauspieler vom Publikum und die Theaterräume von anderen Räumen. In Folge der künstlerischen Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden seit den 1950er Jahren in den USA und in Europa vielfältige Formen der Performancekunst. In der Performance Art und in der Body Art demontieren Performer, oftmals mittels der (schmerzvollen) Bearbeitung ihres eigenen Körpers, klare Unterscheidungen von Kunst und Alltag, von künstlerischer Rolle und eigener Identität und von Theatertexten und anderen ästhetischen Grundlagen ihrer Performances (Jones 1998). Damit wird die Repräsentation von Realität – in einem Tafelbild oder in einer Theateraufführung – zu einer Realität, die hic et nunc als künstlerische Aufführung stattfindet (Fischer-Lichte 2004). In den folgenden Jahrzehnten halten ästhetische Praktiken aus der Performancekunst, die aus den Bildenden Künsten entstand, in die großen Sprechtheater (des deutschen Sprachraumes) Einzug. Somit werden die Konventionen des bürgerlichen Sprechtheaters – das Schauspiel, der dramatische Theatertext, die Differenz von Zuschauern und Schauspielern und der Theaterraum als Rahmen von Theateraufführungen – auf vielfältige Weise transformiert.3 Diese Veränderungen sind nicht ausschließlich der Performancekunst, sondern auch der künstlerischen Entwicklung des Theaters selbst, von Max Reinhardt über die beiden Avantgarden bis hin zu Antonin Artauds Theater der Grausamkeit, geschuldet. Am Ende des 20. Jahrhunderts entsteht ein Theater der Präsenz (Lehmann 1999: 254), das eine spezifische Wirklichkeit hervorbringt, die zwar mit dem Einsatz von Medien gestaltet und ebenso aufgezeichnet werden kann, jedoch als Ereignis einmalig und unwiderbringlich ist. Angesichts der genannten Entwicklungen in der Kunst, aber auch angesichts einer zunehmenden Theatralisierung der sogenannten Wirklichkeit beschäftigen sich Theatermacher und Theaterwissenschaftler nachdrücklich mit Relationen von Theater und Realität. 1998 lautete der Titel der Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft: Wie bringt man die Realität ins Theater?, zwei Jahre später fand in Leipzig eine Konferenz zum Thema Der Alltag theatralisiert sich – was macht das Theater? statt, die Zeitschrift Theater heute rief im Jahr 1998 eine Reihe mit dem Titel Theater als Real Life ins Leben (Matzke 2005: 234). Aus den Titeln ist der diskursive Paradigmenwechsel von der Rede, Realität könne in das Theater 3

Solche Transformationen beschreibt Gabriele Klein als »Performativität im zeitgenössischen Theater« ausführlich anhand von Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart am Hamburger Thalia Theater (Klein 2007: 65–81). 40

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gebracht werden (was voraussetzt, dass Erstere Letzterem vorangeht), hin zu der Rede vom Theater als Realität ersichtlich. Das postdramatische Theater ahmt folglich nicht die sozialen Entwicklungen nach, sondern es bringt die Wirklichkeit des Sozialen mit bestimmten ästhetischen Mitteln hervor. Es ist gleichzeitig verbunden mit und unterschieden von den politischen und sozialen Entwicklungen seit den 1990er Jahren, die den Boom und Niedergang der New Economies, den Rückbau der europäischen Sozialstaaten und die Zunahme ungesicherter, prekärer Existenzen beinhalten. Dies betrifft besonders das klassische Publikum des bürgerlichen Sprechtheaters, das als Mittelschicht in europäischen Ländern eine Zerstörung der Mittelschichten (Bologna 2006) erfährt. Es erlebt drastische Verunsicherungen der eigenen Existenzweisen, die sich der traditionellen Prekarität künstlerischer Lebensformen annähern. In diesem Zusammenhang sind im letzten Jahrzehnt vier Entwicklungen am Theater zu verzeichnen, die ich im Folgenden skizziere: Die Verquickung des Sozialen und des Ökonomischen ist Stoff für Umschriften und (Neu-)Inszenierungen von Klassikern der Literatur, die Verarmungsprozesse zum Gegenstand haben. In Deutschland werden in den letzten Jahren beispielsweise mehrere Inszenierungen von Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden gezeigt. Thomas Manns Roman Die Buddenbrooks, der den Zerfall des Handelsimperiums einer reichen norddeutschen Kaufmannsfamilie erzählt, wird von John von Düffel in ein Theaterstück umgeschrieben und in Folge in großen Theaterhäusern gezeigt.4 Zweitens sind soziale Phänomene Inhalte von Theatertexten junger Autor/innen wie Anja Hilling, Martin Heckmanns, Juliane Kann, Moritz Rinke und Steffi Hensel.5 Drittens liefern sie dokumentarisches Sprachmaterial aus Schuldnerberatungen oder Managementetagen für Theatertexte, beispielsweise die Texte von Kathrin Röggla oder Falk Richter. Viertens bringen sie Selbstinszenierungen des Prekariats, also von Menschen, die unabgesichert (unter anderem) in den Bereichen Kunst und Kultur arbeiten, hervor. Das zeigt beispielsweise das Video Kamera läuft! der Gruppe Kleines postfordistisches Drama (2003) und ein Video des spanischen Netzwerks Precarias a la derivá (2004). In beiden Videos werden visuelle Identitäten kreiert und durch Selbst4 5

Vgl. den Beitrag von Ortrud Gutjahr in diesem Band. Dies wird beispielsweise in der Langen Nacht der Autoren des Hamburger Thalia Theaters (2008) sehr deutlich, wobei Migration die anderen sozialen Probleme, die seit 2003 Thema waren, sukzessive abzulösen scheint. Zur zeitgenössischen, jungen Dramatik vgl. Stefan Tigges/Pewny, Katharina/ Deutsch-Schreiner, Evelyn (Hg.) (2009): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsspielräume in Theater, Tanz und Performance. Bielefeld: transcript. 41

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Erzählungen vorgeführt. Ähnlich verfährt auch Jochen Roller in seinem Tanzstück Perform performing von 2004, in dem er die ungesicherte Arbeitssituation von Künstlern performt. Roller ist mit dieser Produktion erfolgreich und arbeitet nunmehr als fest angestellter Tanzdramaturg in dem renommierten Hamburger Performancehaus Kampnagel. (Vgl. Pewny 2008) Aus der großen Bandbreite der künstlerischen Aufführungen, die sich mit ökonomischen Realitäten auseinandersetzen und vom Schauspieltheater bis zu Selbst-Interviews reicht, stechen zwei Regisseure beziehungsweise Regiekollektive hervor. Das ist der Autor und Regisseur René Pollesch, der durch die Thematisierung prekärer Existenz am Theater seit der Jahrtausendwende reussiert,6 und das Regiekollektiv Rimini Protokoll. Ich stelle im Folgenden Rimini Protokolls preisgekrönte Inszenierung Karl Marx: Das Kapital, Erster Band vor, um dann ihre Performance Call Cutta zu besprechen. Dies führe ich entlang von Rimini Protokolls ästhetischen Transformationen der vier Elemente aus, die ich eingangs als konstitutiv für das bürgerliche Theater in Europa bezeichnet habe: erstens das Schauspiel, zweitens der vorgefertigte Dramentext und damit zusammenhängend die Institution des Autors, drittens die Auflösung der Differenz von Schauspielern und Publikum und viertens das Blurring von Theater- und Alltagsräumen.

Die »Experten« des Kapitals Das Regiekollektiv Rimini Protokoll, dessen Name sich auf ein internationales Abkommen zur Sicherung von Erdölressourcen bezieht, beschreibt sich selbst wie folgt: »Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel haben am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft studiert und arbeiten in unterschiedlichen Konstellationen unter dem Label Rimini Protokoll. Sie gelten als die ›Protagonisten und Begründer eines neuen Reality Trends auf den Bühnen‹ (Theater der Zeit), der die junge Theaterszene geprägt hat. Die Arbeiten finden in der bunten Zone zwischen Realität und Fiktion statt und haben international Aufmerksamkeit erregt. Seit 2000 entwickeln sie auf der Bühne und im Stadtraum ihr Experten-Theater, das nicht Laien sondern Experten der Wirklichkeit ins Zentrum stellt.«7

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Vgl. den Beitrag von Evelyn Annuß in diesem Band. http://www.rimini-protokoll.de/website/de/. Stand: 20.05.2008. 42

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In dem deutschen Kultursender 3sat wird am 15. Juni 2007 Karl Marx: Das Kapital, Erster Band präsentiert. Ihre Arbeitsweise wird wie folgt vorgestellt: »Die Gruppe Rimini Protokoll steht für sogenanntes Realitätstheater. Bei ihnen geht es immer um wahre Geschichten, die unseren Alltag ausmachen. Es sind keine Schauspieler, sondern Laiendarsteller, die diese Geschichten selbst erlebt haben oder Fachleute, die sich mit dem jeweiligen Thema auseinandergesetzt haben.« In Karl Marx: Das Kapital, Erster Band erzählen acht Protagonisten, die als Betroffene, Zeitzeugen oder Angehörige bestimmter Bevölkerungssegmente auftreten (Diederichsen 2007), von der Rolle, die das Buch Das Kapital oder Geld in ihrem Leben spielt oder spielte. Ich beschreibe diese Protagonisten im ersten Schritt, um dann zu dem Wechsel von dem »Authentizitätsvertrag« zu dem »Täuschungsvertrag« zu kommen, der in der Inszenierung stattfindet. Vorerst stelle ich die acht Experten des Alltags (Dreysse/Malzacher 2007) vor, die in der Inszenierung auftreten: Der Filmemacher Talvaldis Margevics erzählt, wie ihn seine Mutter auf der Flucht aus Riga beinahe als Ware im Tausch gegen Essen eingesetzt hätte. Seine Erzählung illustriert die Marx’schen Begriffe »Ware«, »Tausch-« und »Gebrauchswert«. Jochen Noth, in den 1960er Jahren Anhänger der deutschen Studentenbewegung, nunmehr China-Experte und Unternehmensberater, erzählt von seinem Leben in Deutschland und China. Noth zeugt von der Transformation des chinesischen Staatskommunismus in die mittlerweile kapitalistisch organisierten, florierenden Märkte Asiens. Eine weitere zentrale Person ist der Statistiker und Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski. Er trägt aus Karl Marx’ Das Kapital vor; dies führe ich in dem folgenden Abschnitt zu Autorschaft genauer aus. Mit Abstand die jüngste Person ist der Medienkaufmann-Azubi Sascha Warnecke. Das Mitglied der globalisierungskritischen Vernetzung Attack reckt die Faust in die Luft und möchte eine Revolution. Der Elektroniker Ralph Warnholz berichtet aus seinem vergangenen Leben als Spielsüchtiger. Mittlerweile geheilt, würde er gerne anderen Menschen helfen, sich von ihrer Spielsucht zu befreien. Als ehemaliger Spieler verkörpert Ralph Warnholz den Mangel der Unfähigkeit, viel Geld auszugeben. In ihm materialisiert sich die Gleichzeitigkeit der Produktion von Mangel und von Überfluss, die moderne Ökonomien, die sowohl Exzess als auch Knappheit produzieren, auszeichnet (Baudrillard 1970). Neben diesen »Experten«, die von menschlichen Alltagen in spätkapitalistischen Ökonomien zeugen, stehen zwei Figuren, die die Ökonomie der Wahrnehmung – und damit Wahrnehmung im Theater – thematisieren. Das sind Christian Spremberg, ein blinder Call-Center-Agent und Schallplattensammler, und Franziska Zwerg, eine Übersetzerin, die in der

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DDR geboren wurde. Spremberg berichtet, dass seine Blindheit ihn vor dem Einströmen der Werbungsbilder und dem Fernsehen bewahre. Seine körperliche Verfasstheit ist immun gegen die visuelle Ökonomie in der Gesellschaft des Spektakels (Dubord 1996). Er gestaltet eine akustische Chronologie von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. Werbungslieder aus den 1950er Jahren kommen dabei ebenso zum Einsatz wie das Lied Der Pleitegeier sitzt im Portemonnaie. Die Sphäre des Akustischen und die Vorstellung von Christian Spremberg als Call-Center-Agent rufen künstlerische Aufführungen seit der Jahrtausendwende auf, die die Auslagerung von Dienstleistungen in Call-Center inszenieren.8 Die Übersetzerin Franziska Zwerg arbeitet auf der Bühne, denn sie übersetzt live. Daher ähnelt sie dem Kapital, das ebenfalls arbeitet, indem es zirkuliert und sich vermehrt (Lotter 2006: 170–178).

Abbildung 2: Rimini Protokolls Karl Marx: Das Kapital, Erster Band am Düsseldorfer Schauspielhaus (Foto: Sebastian Hoppe) Die Inszenierung erscheint auf den ersten Blick als lose Aneinanderreihung der Auftritte der acht »Experten«. Ihre Dramaturgie, die auf den

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Das sind zum Beispiel Arjun Rainas Inszenierung A terrible beauty is born (Wiener Festwochen 2007), Jochen Rollers Tanzstück Perform performing (Kampnagel Hamburg 2004) und Rimini Protokolls Theaterspaziergang Call Cutta (Hebbel Theater Berlin 2005), den ich zum Ende besprechen werde. 44

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zweiten Blick ersichtlich wird, führt chronologisch von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart. Sie verwandelt sich von längeren, eindeutig markierten Szenen zu schnellen Szenenwechseln und zu der Gleichzeitigkeit mehrerer Handlungen. In der zweiten Hälfte der Inszenierung wechseln sich Lesungen aus Das Kapital und Gruppenaufstellungen mit Herrn Harksens Erzählung ab. Ich bespreche im Folgenden erstens Herrn Harksens Auftritt und zweitens die Lesungen aus Das Kapital.

Vom theatralen Täuschungsvertrag zum Authentizitätsvertrag und wieder zurück Jürgen Harksen stellt sich als »Legastheniker und Kind eines arbeitslosen Alkoholikers« vor. Er berichtet von seiner Tätigkeit als Anlageberater, in der er auf Kosten der Leute, deren Geld er anlegen sollte, selbst Kapital anhäufte, bis das ganze Gebäude aus Täuschung und finanziellen Tricks in sich zusammenfällt. Die Steuerbehörde sitzt ihm im Nacken, die Anleger begreifen, dass sie ihr Geld nie in der versprochenen Vervielfachung zurückerhalten werden, und Jürgen Harksen verlässt Hamburg in Richtung Kapstadt (Harksen/Mailänder 2006). Gleichzeitig mit der Entlarvung von Jürgen Harksen als Betrüger in der Erzählung findet auch seine Entlarvung auf der Bühne statt. Der ehemalige Spieler Ralph Warnholz steht maskiert neben ihm und reicht ihm ein Buch. Der vermeintliche Jürgen Harksen entpuppt sich als Ulf Mailänder, ein Autor und Coach, der Biograf von Jürgen Harksen, der bis Februar 2008 in Hamburg im offenen Strafvollzug ist. Diese Szene ist als Überraschungseffekt angelegt, denn wer erwartet schon in einer Aufführung von Rimini Protokoll, die für ihre Arbeit mit »Experten des Alltags« bekannt sind, dass jemand einen anderen spielt? Der Authentizitätsvertrag, für den Rimini Protokolls Theater berühmt ist, wird aufgerufen und durch Jürgen Harksen spektakulär gebrochen. Ulf Mailänder, der Jürgen Harksen spielt, agiert gemäß des Täuschungsvertrags des Illusionstheaters. Folgerichtig erscheint das Insignium des Theaters der Repräsentation, die Maske, im Moment der Entlarvung. Sie wird von Ralph Warnholz, dem Spieler, getragen, der dem Schauspieler zur Seite steht. An dieser Stelle verkehren sich die Erzählung und die ästhetischen Mittel ineinander: Während Jürgen Harksen einen Millionär spielt, der er nicht ist, spielt der Autor Ulf Mailänder Jürgen Harksen. Das Spielen verbindet die Produktion von Mangel, der sich als Überfluss ausgibt, mit der Spielsucht des Ralph Warnholz. Damit wird nicht nur die kapitalistische Ökonomie, sondern auch der theatrale Täuschungsvertag explizit zum Thema. Dieser setzt ein geteiltes Einverständnis voraus, dass Schauspieler die Rollen

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von Bühnenfiguren spielen. Die theatrale Täuschung wird überdies mit der Vortäuschung der Anhäufung von Kapital gleichgesetzt und beides zugleich als Schein entlarvt. Der Schein des ›Echten‹ erweist sich als virtuell. Ulf Mailänder spielt auch nach seiner Entlarvung als Schauspieler Jürgen Harksen. Seine Geschichte geht weiter wie folgt: Nach seiner Entlarvung durch das deutsche Steueramt geht Jürgen Harksen nach Kapstadt. Er lädt alte und neue Anleger dorthin ein und nützt die Mittel des Theaters, um das symbolische Kapital seines Namens wieder in Geld zurückzuverwandeln. Harksen engagiert Schauspieler, die Banker und Kapitalanleger spielen, um seine Seriosität zu untermauern. Damit ist er so erfolgreich, dass er von 1993 bis zu seiner Auslieferung nach Deutschland im Jahr 2002 von dem Geld, das ihm alte und neu gewonnene Anleger anvertrauen, in Luxus leben kann. In dieser Passage stützen sich Kapital und Theater gegenseitig: Mithilfe des Theaters wird vorgeführt, wie nicht nur Geld in Kapital, sondern auch Kapital zurück in Geld verwandelt werden kann. Bislang habe ich die Verflechtungen von Theater und Kapital in Rimini Protokolls Produktion Karl Marx: Das Kapital, Erster Band gezeigt. In Folge gehe ich auf die Transformation der Institution Autorschaft ein.

Die Dekonstruktion des Autors als Kollektivierung des geistigen Eigentums Der oben angedeutete Paradigmenwechsel weg von den Inszenierungen dramatischer Theatertexte hin zum postdramatischen Theater stellt den Beruf des Dramatikers infrage. Die Theaterautoren Rolf Kemnitzer, Andreas Sauter und Katharina Schlender veröffentlichen im September 2007 unter dem Titel Uns pflegen, heißt euch pflegen ein Autorenmanifest, in dem sie zu öffentlichen Debatten über die gesellschaftliche Funktion von Dramatikern aufrufen: »Eine offene Debatte mit allen Theaterschaffenden über die bestehenden Strukturen, über die Zukunft des Theaters und die Frage, ob es nicht auch ohne neue Dramatik geht.« (Kemnitzer/Sauter/Schlender 2009) So lautet der letzte der 10 Wünsche an den Umgang mit Theaterautor/innen in dem Autorenmanifest. Einige Monate zuvor geht der renommierte Mülheimer Dramatikerpreis an Helgard Haug und Daniel Wetzel vom Regieteam Rimini Protokoll für ihre Inszenierung Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. Rimini Protokolls Inszenierungspraxis stellt die individuelle Autorschaft dramatischer Texte zweifellos in Frage. Durch den Titel Karl

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Marx: Das Kapital, Erster Band installieren sie jedoch eine traditionelle Autorposition in der symbolischen Ordnung des Buchdrucks (McLuhan 1968). Damit ist ein spezifisches Besitzverhältnis impliziert, das den Autor eines gedruckten Buches als Besitzer seines geistigen Privateigentums ausweist (Case 1996: 24). Karl Marx steht jedoch nicht für die Anhäufung von Privateigentum, sondern für die demokratische Verteilung von Ressourcen. Textausschnitte aus Das Kapital, die Teile des Marx’ schen Privateigentums sind, werden im Lauf der Aufführung durch die Protagonisten verlebendigt. Das Buch wird an die Zuschauerinnen und Zuschauer verteilt, kollektiv gelesen und körperlich angeeignet.

Abbildung 3: Thomas Kuczynski in Rimini Protokolls Karl Marx: Das Kapital, Erster Band (Foto: Sebastian Hoppe) Dadurch ist der Autor, Karl Marx, in der Inszenierung zugleich symbolisch anwesend und abwesend. Er besitzt keine letztgültige Deutungshoheit und Autorität über seine Gedanken, denn diese werden in der Ins-

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zenierung bespielt, verlebendigt und kollektiviert. Nicht nur während der Inszenierung, sondern bereits während der Proben werden Textausschnitte aus Das Kapital mit den Erzählungen der »Experten« amalgamiert. Hieraus entsteht während der Proben ein Protokoll, aus dem sich der Theatertext zusammensetzt (Malzacher 2007: 39f.). Die Autorposition in Karl Marx: Das Kapital, Erster Band setzt die Instanz Autor zwar ein, jedoch verschiebt und vervielfacht sie. Sie ähnelt der pluralen Autorposition, die Michel Foucault und Roland Barthes Ende der 1960er Jahre entwerfen (Barthes 2000: 185–193; Foucault 1988: 7–31). Rimini Protokoll bedient sich der symbolischen Ordnung des Buchdrucks, indem die Gruppe im Titel Karl Marx: Das Kapital, Erster Band den Autor, den Werktitel und die Bandzahl nennen. Die Autorposition in Karl Marx: Das Kapital, Erster Band ist zwar durch wissenschaftliche Konventionen ausgewiesen, betrifft aber auch die Institution des Dramatikers und damit die Ökonomie des Dramatikerpreises. Wer gewinnt den Mülheimer Dramatikerpreis im Jahr 2007? Das Regie-Label Rimini Protokoll? Die Protagonisten, die Teile ihrer Lebensgeschichten erzählen und so zu dem Theatertext beisteuern? Oder gar Karl Marx selbst, posthum? Das symbolische Kapital des Preises und das Preisgeld gehen jedenfalls an Rimini Protokoll, das kollektiv als Label agiert. Dies ist zulässig, weil eine schriftliche Fassung des Theatertextes existiert.9 Auch das Bühnenbild und die Involvierung des Publikums als Lesende sind Performanzen der symbolischen Ordnung der Schrift. Die Bühne, von Helgard Haug und Daniel Wetzel in Zusammenarbeit mit Daniel T. Schultze gestaltet, wird von ihrer hinteren Wand dominiert. Sie ist wie ein überdimensionales Bücherregal gestaltet, in dessen Fächern die Performer sitzen. Jeder hat einen eigenen Bereich, in dem Bücher, Marx-Büsten und andere Utensilien angeordnet sind. In freien Flächen zwischen den Regalen blitzen später Bildschirme auf, die die Namen der Figuren, Jahreszahlen der Erzählungen, Ausschnitte aus Filmen und Textpassagen aus Karl Marx’ Buch Das Kapital zeigen. In der sechsten Szene steckt der Statistiker und Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski den Kopf durch das Bücherregal und kündigt wie aus einem Rahmen oder einem Bildschirm heraus die Ausgabe des Buches Das Kapital an.10 Dann gehen Menschen durch die Zuschauerreihen und verteilen an jeden 9

Das Jurymitglied Jürgen Berger erzählte mir im Gespräch vom 31. Mai 2008, die Jury habe diese Information telefonisch eingeholt, bevor sie die Preisvergabe durchführen konnte. 10 Thomas Kuczynski ist der Sohn Jürgen Kuczynskis, des Begründers und Leiters der Abteilung Wirtschaftsgeschichte im Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften in der DDR, der besonders nach 1968 außerordentlich bekannt und populär war. 48

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einen Band von Das Kapital, in dem man mitlesen kann, was Kuczynski auf der Bühne verliest. Die Textauszüge werden zusätzlich auf Bildschirme projiziert, und die entsprechenden Stellen sind im Buch mit Leuchtstiften markiert. Die Zusehenden halten die Bücher in den Händen, lesen die sorgsam unterstrichenen Zeilen und befinden sich in einer hörsaalähnlichen Situation, die durch die ansteigenden Sitzreihen betont wird. Sie können Textauszüge in drei verschiedenen Medien wahrnehmen: das Buch, das sie in Händen halten, lesen, die Textausschnitte auf den Bildschirmen auf der Bühne verfolgen und Thomas Kuczynskis Stimme hören. Verschiedene Modi des Sehens und das Hören werden angesprochen und ineinander verschaltet. Rimini Protokolls intermediale Dramaturgie schult die Wahrnehmung der Zuschauer für den Umgang mit plurimedialen Arrangements. Diese Schulung funktioniert nicht ausschließlich auf der Ebene rationaler Erkenntnis. Die Berührung und Verbindung des Mediums (Buch) mit den Körpern der Zuschauer ist ebenfalls bemerkenswert. Durch die Platzierung des Buchs auf den Beinen der Zuschauer werden zusätzlich zu dem expliziten Einsatz der Medien Buch, Bildschirm und Stimme neue Kommunikationstechnologien präsent. Das Buch ›sitzt‹ dort, wo nicht nur an Universitäten oftmals der Laptop sitzt, im Schoß, auf den Oberschenkeln der Zuschauer. Das Kapital toppt den ›Lap‹, also den Schoß, es sitzt ihm gleichermaßen auf. Es berührt die Körper der Zuschauer und affiziert sie, sind doch Körper in der Gesellschaft des Spektakels Kapital und Konsumobjekt zugleich (Baudrillard 1970).

Transnationale Aspekte bei Rimini Protokoll — Call Cutta. Mobile Phone Theatre Rimini Protokoll erhält im April 2008 den Europäischen Theaterpreis in der Kategorie Neue Realitäten. Spätestens mit dem Preis sind Rimini Protokoll als international auf europäischer Ebene anerkannte Theatermacher ausgewiesen. Wie aber sind die Paradigmata ›Nation‹ und ›Transnationalität‹ in den Inszenierungen präsent? Karl Marx: Das Kapital, Erster Band spielt durch die Erzählungen der Übersetzerin Franziska Zwerg, aber auch durch Filmausschnitte auf die deutsche Vergangenheit und Gegenwart an. Zusätzlich inszeniert es die erweiterten Grenzen des neuen Europa nach 1989 durch die Erzählung der Flucht aus Riga. In Jürgen Harksens Erzählung wird Kapstadt als gastfreundlicher Ort für deutsche Steuerflüchtlinge etabliert. Die transnationalen Aspekte der Inszenierung sind im Kontext der Erörterung

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des Marx’schen Kapitals interessant, weil transnationale Geldflüsse ein Motor der gegenwärtigen globalisierten Akkumulation von Kapital sind. Neben diesen expliziten Hinweisen auf die Paradigmata ›Nation‹ und ›Transnationalität‹ ist die Abwesenheit der Auseinandersetzung mit Globalisierung und Neoliberalismus auffällig. Globale ökonomische Entwicklungen wie die Auslagerungen von Dienstleistungen aus den Ländern des Nordens und des Westens, die Verknappung der natürlichen Ressourcen und die virtualisierten Gewinnmaximierungen durch die transnationale Kapitalzirkulation sind in Karl Marx: Das Kapital, Erster Band nicht Thema. Sie sind folglich unsichtbare Kontexte, vor denen sich Karl Marx: Das Kapital, Erster Band konturiert. Einzig in dem Attack-Mitglied Sascha Warnecke, der als »Revolutionär und Azubi Medienkaufmann« vorgestellt wird, klingt all dies an. Die Abwesenheit der Thematisierung der politisch begrenzten Zirkulationsmöglichkeiten von Menschen und der wirtschaftlich entgrenzten Zirkulationsmöglichkeit von Kapital verwundert, weil Rimini Protokoll in anderen Produktionen transnationale Mechanismen neoliberaler Wirtschaft thematisiert. Beispielsweise in ihrer Produktion Sabenation (Belgien 2004), in der ein asiatisches Mädchen als Hoffnungsträgerin der Ökonomie angesichts des Zusammenbruchs der nationalstaatlichen Wirtschaft erscheint, ebenso in dem Theaterspaziergang Call Cutta, den ich nun vorstelle. Für den Theaterspaziergang Call Cutta. Mobile Phone Theatre (Hebbel Theater Berlin 2005) können sich die Zuschauer beim Berliner Hebbel Theater anmelden. An einem festgesetzten Termin bekommen sie ebendort Handys ausgehändigt. Vor dem Theater erhalten sie einen Anruf aus einem indischen Call-Center. Die anrufende Person gibt den einzelnen Besuchern über Kopfhörer Anweisungen, wie er beziehungsweise sie sich durch die Berliner Straßen bewegen soll. Die Theaterspaziergänge, die Rimini Protokoll mit Call Cutta erfunden hat, finden nicht in einem konventionellen Kunstraum statt, sondern machen die Stadt zum Theaterraum. Die Rezipienten bewegen sich im Berliner Stadtteil Kreuzberg West, der vielen von ihnen vertraut ist. In diesem einstündigen Theaterspaziergang werden die Besucher zu Performern, denn sie bewegen sich in öffentlichen Räumen und werden dabei von anderen wahrgenommen. Zwischendurch erhalten sie beispielsweise die Anweisung, jemandem zu winken oder eine bestimmte Bewegung auszuführen. Die Menschen im Call-Center werden hingegen zu Regisseuren, die die Bewegungen der ›Besucher‹, die nunmehr Performer sind, im Raum und durch den Raum dirigieren.

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Rimini Protokoll spielt hier nicht nur mit Vermischungen der theatralen Funktionen Regisseur/Schauspieler/Zuschauer, sondern auch mit dem Potenzial von Stimmen, Sprache und Körper zu verbinden. In Call Cutta vermitteln die sprachlichen Anweisungen, wohin die Körper sich bewegen und wohin die Zuschauer blicken sollen. Die Körper der Performer bleiben abwesend beziehungsweise sie sind sehr weit entfernt – in Kalkutta. Damit wird die Ko-Präsenz von Schauspielern und Publikum in akustische Ko-Präsenz verwandelt. Call Cuttas Theatralität besteht in der Rückwendung des Körperlichen auf die Körper der Besucher, auf ihre Bewegungen und auf ihre Sinneswahrnehmungen. Das Potenzial der Stimme als Verbindung von Sprache und Körper wird hier eingesetzt, um die Sinnlichkeit der Bewegung und die Sinnlichkeit des Hörens zu verbinden. In Call Cutta werden über das Sprechen und das Hören Phantasien kreiert, zum Beispiel die Phantasie, individuell von den Call-Center-Agenten angesprochen zu werden. Die Stimmen fungieren als Übergangsobjekte zwischen Körper und Sprache, zwischen Berlin und Kalkutta, zwischen der sogenannten Ersten und der sogenannten Dritten Welt. Sie organisieren die Wahrnehmungsmodalitäten und die Körperbewegungen der Besucher. Die Entscheidung, in welche Richtung sich jemand wendet, wird während der Aufführung nicht (hauptsächlich) aufgrund der optischen Sinneswahrnehmungen getroffen, sondern aufgrund der Anweisungen, die er aus dem Headset erhält: Eine Stimme, deren Träger sich in Kalkutta befindet, sagt, wohin sich die Person in Berlin wenden soll. In Call Cutta überbrücken die Stimmen viele tausend Kilometer, sie überbrücken die Aufspaltung des Lokalen (des Stadtteiles) und der transnationalen Wirtschaftsvorgänge des Spätkapitalismus. Die mobile kabellose Kommunikation stellt eine Verbindung mit Menschen her, die körperlich abwesend sind. Die optische und die akustische Wahrnehmung sind dabei entkoppelt, die Kommunikationstechniken an die Anforderungen von Mobilität und Flexibilität angepasst. Die Aufspaltung der körperlichen Wahrnehmung und der Entscheidung über die Bewegungsrichtung nimmt die Situation auf, in der sich Call-Center-Agenten befinden. Sie führen Anweisungen aus und beantworten Fragen, die sie aus einem anderen Kontinent erhalten. Die Entscheidungen über die Arbeitssituation der Call-Center-Mitarbeiter werden ebenfalls am anderen Ende der Welt getroffen, ihre Arbeitssituation ist nicht kollektiv geschützt: Rimini Protokoll berichten auf ihrer Homepage, dass es keine lokalen Gewerkschaften für Menschen gibt, die in Call-Center arbeiten. Call Cutta erinnert an die künstlerische Praxis der Radioballette, in denen eine Gruppe von Menschen (Performern) über Kopfhörer Anweisun-

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gen erhält, wie sie sich im öffentlichen Raum bewegen soll. Radioballette, erfunden von der Hamburger Radiogruppe Ligna im Jahr 2002, werden in dem Zwischenraum von künstlerischer und politischer Intervention im öffentlichen Raum inszeniert. So bewegt sich im Juni 2005 ein Dutzend Performer in der Wiener Einkaufsstraße Kärntnerstraße eng an den gläsernen Auslagen entlang, sie klopfen an die Glasscheiben und legen ihre Ohren an diese an. Angestellte privater Sicherheitsdienste fordern die Performer dann auf, ihre Handlungen zu unterlassen. Im Unterschied zum unsichtbaren Theater zielen Radioballette jedoch nicht auf Debatten und Konfliktsituationen ab, sondern auf Intervention durch die bloße Sichtbarmachung der Verhältnisse. Die Privatisierung der Kontrolle städtischer Räume wird in den Einkaufsstraßen durch das Radioballett evident. Dies funktioniert unter anderem durch die Störung der Funktionen von Performern und Zuschauern. Unklar ist für Beobachter, ob die Akteure ›echt‹ sind oder ›Theater spielen‹, und die Beobachter selbst werden auf ihren Alltagswegen zu Zuschauern in einem performativen Kunstereignis, auch wenn sie sich dessen vielleicht nicht bewusst sind. Call Cutta unterscheidet sich vom Radioballett, weil die Zuschauer/Performer nicht als Gruppe und gleichzeitig, sondern alleine und zeitlich versetzt unterwegs sind. Call Cutta ähnelt den Radioballetten, denn beide machen die »unsichtbaren Architekturen«11 von Städten erfahrbar. Auch machen beide Kunstpraktiken auf aktuelle Kommunikationstechnologien im Zusammenhang transnationaler Wirtschaftsräume und neoliberaler Konsumtechniken aufmerksam. Die genannten Ähnlichkeiten des Radioballetts mit Call Cutta zeigen die Nähe von Rimini Protokolls ästhetischen Verfahrensweisen zu öffentlichen Interventionen, die im Zusammenhang globalisierungskritischer Bewegungen entstehen und nicht auf Theatertraditionen zurückführbar sind. Call Cutta hingegen verhält sich mimetisch zum Theater als Nachahmung, weil es die Kommunikationsregeln, die Call-Center-Agenten in ihrer Ausbildung erhalten, nachahmt, das heißt die Erzeugung einer möglichst persönlichen Situation zwischen dem Agenten und dem Kunden. Gelingt dies, dann wird die neoliberale Ökonomie performt, die zusammen genommen mit Karl Marx: Das Kapital, Erster Band eine vollständige Charakteristik gegenwärtiger Ökonomien bietet. Das ist das Begehren nach ›mehr‹, das uneingelöst zurück bleibt und die Theaterbesucher möglicherweise in die nächste Aufführung von Rimini Protokoll lockt.

11 Den Begriff »unsichtbare Architektur« entlehne ich von Eléonore Bak. Siehe den gleichlautenden Vortragstitel von Eléonore Bak bei dem Symposion Ökonomisierungsprozesse im Gegenwartstheater (Trier 2008). 52

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Rimini Protokolls Prekarisierung des europäischen Theaters Ich habe gezeigt, dass Rimini Protokoll in ihren Inszenierungen vier Konventionen des bürgerlichen Sprechtheaters – das Schauspielen, den dramatischen Text, die Differenz von Performenden und Publikum und den Theaterraum als Kunstraum – zitieren und transformieren. Die analysierten Arbeiten sind, da sie aus der Zitation und Transformation der genannten Ästhetiken erwachsen, europäisch. Das bürgerliche, europäische Sprechtheater bildet ihren teils sichtbaren, teils unsichtbaren Rahmen. Dieses ist prekär geworden in dem Sinn, dass seine Grundlagen, wie zum Beispiel der dramatische Theatertext und die Institution der Autorschaft, keinen sicheren Boden bilden, sondern einen – metaphorisch gesprochen – schwankenden Untergrund, der von wechselnder Gestalt ist und sich jederzeit verändern kann.12 Das Theatrum Europaeum, als dessen wichtiger Bestandteil Rimini Protokoll spätestens mit dem Erhalt des Europäischen Theaterpreises im Jahr 2008 ausgewiesen wird, erneuert seine ästhetischen Grundlagen laufend, wie ich gezeigt habe. Es produziert sich in permanenter Differenz zu sich selbst und vermag daher – und dies ist ein Merkmal seiner Dramaturgie der Ökonomie – auch neue Labels und Formen zu kreieren. Insofern ist es, wie das Prekäre, persistent und wandelbar zugleich.

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12 Ich fasse hier lexikalische Bedeutungen des Wortes ›prekär‹ zusammen, die ich in meiner Habilitationsschrift zu Theater und Ethik – Performances des Prekären ausführe (vgl. Pewny 2009). 53

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Diederichsen, Diedrich (2007): Betroffene, Exemplifizierende und Human Interfaces. Rimini Protokoll zwischen Theater, Performance und Kunst. In: Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin: Alexander, S. 158–164. Dubord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Tiamat. Foucault, Michel (1988): Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–31. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Harksen, Jürgen/Mailänder, Ulf (2006): Wie ich den Reichen ihr Geld abnahm: die Karriere eines Hochstaplers. Frankfurt am Main: Scherz. Jones, Amelia (1998): Body Art: Performing the Subject. Minneapolis: University of Minnesota Press. Kemnitzer, Rolf/Sauter, Andreas/Schlender, Katharina (2009): Uns pflegen, heißt euch pflegen. Unter: http://www.nachtkritik.de/index. php?option=com_content&task=view&id=447&Itemid=104. Stand: 06.05.2009. Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (2005): Performance als soziale und ästhetische Praxis. Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld: transcript, S. 7–24. Klein, Gabriele (2007): Der entzogene Text. Performativität im zeitgenössischen Theater. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek. Bielefeld: transcript, S. 65–78. Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Lotter, Konrad/Meiners, Reinhard/Treptow, Elmar (Hg.) (2006): Das Marx-Engels-Lexikon. Berlin: Papyrossa. Malzacher, Florian (2007): Dramaturgien der Fürsorge und der Verunsicherung. Die Geschichte von Rimini Protokoll. In: Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin: Alexander, S. 14–46. Matzke, Annemarie M. (2005): Testen Spielen Tricksen Scheitern: Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater. Hildesheim: Olms. McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The Extensions of Man. New York: Signet Books. McLuhan, Marshall (1968): Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Wien/Düsseldorf: Econ. Pewny, Katharina (2008): Medial real oder die Ökonomie der Präsenz als Präsenz der Ökonomie. In: Schoenmakers, Henri u. a. (Hg.): Theater

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PERFORMANCE UND KOLLEKTIVITÄT NETZWERKÖKONOMIE1

IN DER

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Vernetzung ist momentan nicht nur ein urbaner Lebensstil, Vernetzung in ihren technischen und sozialen Realisierungen wird vom aktuellen experimentellen Theater reflektiert. Diese Reflexion findet auf zwei Ebenen statt: Zum einen reagieren die Dramaturgien der Theater auf den gewandelten Lebensstil, indem sie soziale Netzwerke für sich entdecken und deren soziale Bindungskraft auf die Institution ›Theater‹ zu übertragen suchen. Ein Beispiel von vielen mag dies verdeutlichen: So werden etwa an den Münchner Kammerspielen die Tage der jungen Dramatiker, das soziokulturell inspirierte Programm Bunny Hill, eine Reihe Nacht Talk mit renommierten Philosophen und diverse Partys mit DJ, VJ und Performances organisiert – alles Veranstaltungen für Zielgruppen, die sich signifikant von jenem Publikum unterscheiden, welches für gewöhnlich das Programm auf den Bühnen verfolgt. Die Institution ›Theater‹ öffnet sich hier für soziale Netzwerke von Kulturschaffenden, bietet einen Ort und Veranstaltungsrahmen für soziale Aktivitäten, die nicht im eigentlichen Sinne als Theater angeschaut werden wollen. Man ging ins Theater zur kontemplativen Betrachtung von Kunst, nun geht man ins Theater, um sich zu informieren, um zu diskutieren, um sich mit anderen zu treffen. Das soziale Netzwerk, welches sich in diesem Rahmen etabliert, überkreuzt die traditionelle ›Theaterfamilie‹ des Stadttheaters mit der des freien Theaters und der Szene der musikalischen Clubkultur. Das Publikum wandelt sich, indem es einen anderen Gebrauch von der Institution ›Theater‹ macht, und dies hat Auswirkungen auf das, was schließlich auf der Bühne gezeigt wird. Denn auf einer zweiten, formal-ästhetischen Ebene findet eine intensive Auseinandersetzung mit dem Lebensstil der 1

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung meines Artikels Akteure im Netz. Rimini Protokolls Call Cutta und die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Rebstock, Matthias/Kurzenberger, Hajo/ Ortheil, Hans-Joseph (Hg.) (2008): Kollektiv Körper. Hildesheim: Olms, S. 181–193. 57

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Vernetzung, des ›being online‹ statt. Dies lässt sich etwa in den Cut-upGeschichten René Polleschs aufzeigen, die dieser aus den Biografien von Schauspieler/innen fertigt, es reicht jedoch auch bis in gebaute Versuchsanordnungen, wie sie von Rimini Protokoll gezeigt werden. Wie die szenische Reflexion von Vernetzung aussehen kann, möchte ich an deren Produktion Call Cutta2 aufzeigen. Dies kann jedoch nicht ohne einen gewissermaßen selbstreflexiven Verweis geschehen, der bereits in die Mitte der Arbeit von Rimini Protokoll und dem Phänomen der (virtuellen) Vernetzung zielt: Er betrifft die Produktionsbedingungen dieses Textes, die selbst inzwischen nur noch als vernetzt begriffen werden können. Geschrieben ist dieser Beitrag zur Ringvorlesung Kollektiv Körper an der Universität Hildesheim im Sommersemester 2006. Ort der Abfassung war der Zug zwischen Mannheim und der niedersächsischen Provinz. Drei und eine halbe Stunde ›Bürozeit‹, zweimal wöchentlich, abgeschirmt durch Kopfhörer von den Gesprächen anderer Mitreisender. Abgeschirmt auch von bibliografischen Referenzen. Zwei Jahre später überarbeite ich den Text, in einem Coffeeshop in München-Schwabing. Der Laptop fragt mich, ob ich die WLAN-Verbindung Black Bean öffnen wolle, sie sei jedoch »keines ihrer vertrauenswürdigen Netzwerke«. Ich wusste nicht, dass ich über letztere verfüge und willige ein, da ich noch eine Fußnote zur Rahmentheorie angeben möchte. Es scheint mir »vertrauenswürdig«. Ich möchte ja kein vertrauliches Gespräch führen. Ich möchte ›nur‹ eine Literaturangabe im Katalog der Universitätsbibliothek recherchieren, ich beziehungsweise der wissenschaftliche Text, Ort A, möchte Daten tauschen mit dem Archiv, Ort B. Es ist ein Austausch von Information. Jedoch zeigt dieser kurze Hinweis zu den vernetzten Arbeitsbedingungen, Zug, Bibliothek, Coffeeshop bereits eine unkontrollierte Theatralität, um die es mir hier zu tun ist. Unkontrolliert insofern, als quasi der Schreibapparat über seinen dezenten Hinweis, er sei jetzt ›online‹, den Schreibprozess bestimmt: Die Möglichkeit des Zugriffs auf Informationen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Ausarbeitung von Fußnoten, ebenso wie das Schreiben der ersten Version im Zug, auf dem Schienennetz und doch ›offline‹, mich dazu zwang, mit Bordmitteln eine halbwegs plausible Überlegung zu Vernetzung, Kommunikation und experimentellem Theater zu entwickeln. Gewiss, diese Bedingungen der Textproduktion sind gerade von Literaten immer wieder reflektiert worden. Man denke nur an die Exilliteratur. Neu ist jedoch der rasante, ja zufällige Wechsel zwischen den verschiedenen Netzen, zwischen An2

Premiere im Februar 2005 im Star Theater in Kalkutta; ich beziehe mich auf die Version, welche im April 2005 im Berliner Hebbel-Theater am Ufer gezeigt wurde. 58

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schluss an und Ausschluss von Informationsquellen, welcher die heutigen Arbeitsbedingungen prägt. Neu ist auch, dass die Schreibapparate sich zu Kommunikationspartnern aufschwingen, welche die Szene der Textproduktion betreten mit dem Versprechen freien Datenverkehrs. An die Stelle statischer Konzepte der Orte, der Apparate und der Kommunikationsverhältnisse treten die Transiträume, die »Nicht-Orte« (Augé 1994), und mit ihnen auch eine gewisse Unkontrollierbarkeit der Produktion unter Bedingungen gesteigerter Mobilität. Unkontrollierte Theatralität meint also jenes Phänomen, dass sich die Mittel der Textproduktion selbst mitteilen, sich in den Vordergrund spielen und die ›eigentliche‹ Argumentation verzögern, aufschieben, suspendieren. Und in eben diesem Sinne einer Selbst-Mitteilung möchte ich die theatrale Reflexion von Vernetzung durch Rimini Protokoll im Folgenden betrachten. Als Selbst-Mitteilung nimmt sie ihren Ausgangspunkt nicht allein beim Thema der Vernetzung, nicht bei der technischen Realisierung. Es ist keine Inszenierung von Vernetzung einer Call-Center-Verschaltung mit einem Mobiltelefon allein, vielmehr sind das Inszenieren und Spielen auf der Bühne selbst vernetzt. Es ist die zeitgemäße urbane Arbeitsform, welche nicht mehr an Orten wie der Bühne oder dem Schreibtisch allein stattfindet, sondern sich in der Latenz von »Nicht-Orten« vollzieht. Ein Rahmenprogramm eines Stadttheaters ist ebenso wenig eine emphatisch erlebte Aufführung, wie dies einer jener schnell ›weggesprochenen‹ Dialoge eines Pollesch oder die Arbeit Call Cutta von Rimini Protokoll sind. Es sind szenische Arrangements, die mit der Latenz von inszenierter und zufälliger, gefundener, selbst-mitteilender und zum Teil kakophonischer Vernetzung spielen. Einen theoretischen Einstieg, welcher uns die Phänomene unkontrollierter Theatralität und gewandelter Kommunikationsbedingungen durch Vernetzung erhellt, könnten Netzwerktheorien (Winkler 1997; Stingelin 2000; Gendolla/Schäfer 2005) bieten. Netze sind durch die Einführung medientechnischer Netze, Internet, WWW, Telefonnetze et cetera inzwischen für uns ein Alltagsphänomen. Historisch fand die Beschreibung und Analyse von Netzen aus zwei divergenten theoretischen Perspektiven statt: Zum einen dominierte eine strukturell-funktionale Sicht auf die Netze, zum anderen gab und gibt es empirische Studien zum Phänomen Netz und Fernanwesenheit, zum Gebrauch und Nutzen der Netze. Eine phänomenologische Darstellung der Vernetzung, die man vielleicht im Anschluss an Vilém Flussers Gestologie (Flusser 1993) versuchen könnte, steht meines Wissens noch aus und wird wohl auch so lange verhindert, wie die materialisierten Netze, also die jeweilige technische Neuerung noch immer den Angelpunkt der Betrachtung bilden. Jedenfalls fühlt man sich angesichts der Euphorie und der teilweise auch basisde-

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mokratisch-emanzipatorischen Utopien, mit denen die neuen Medien jeweils begrüßt wurden, unweigerlich an den Ausspruch Bertolt Brechts erinnert, der anlässlich der Einführung des Rundfunkempfängers bereits 1932 sagte: »Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegt, nichts zu sagen.« (Brecht 1967: 128) Das Netz als lediglich technische Verschaltung müsste um ein Konzept kultureller Praxis der Vernetzung erweitert werden. Aus eben diesem Beweggrund spricht man inzwischen von Vernetzung als einer »Kulturtechnik« (Barkhoff/Böhme/Riou 2004)3. Diese kulturelle Praxis aber kann nicht allein positiv als Verknüpfung aller mit allen gedacht werden, muss vielmehr reversibel als Kopplung und Ent-Kopplung betrachtet werden. Vernetzung ist instabil, sie könnte in Anlehnung an eine Überlegung von Niklas Luhmann als »unwahrscheinlich«4 verstanden werden. Folgt man dieser Idee Luhmanns, deren theoretischer Rahmen, die Theorie der sozialen Systeme, hier nicht weiter behandelt werden soll, so rückt die Frage in den Vordergrund, welche Bedingungen nötig sind, damit sich Verknüpfungen etablieren können, welche Bedingungen das sichern, was Luhmann dann Anschlussfähigkeit nennt. Wie wachsen Netze, wie halten sie sich aktiv? Braucht es dafür nicht Ereignisse der Störung von Kommunikation? Solche Störungen sind uns inzwischen geläufig, etwa, wenn eine Face-to-Face-Kommunikation unerwartet durch das Klingeln eines Mobiltelefons unterbrochen wird und man nach dem Telefongespräch den Kontakt zum Gegenüber wieder aufbauen muss. Ich möchte diese Überlegungen zur Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation zum Ausgangspunkt nehmen, um die Frage der Vernetzung 3

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Grundsätzlich sind in diesem Zusammenhang die Ansätze der AkteurNetzwerk-Theorie einschlägig. Vgl. zur Einführung Belliger/Krieger 2006. Vgl. auf theatrale Inszenierungen bezogen Ernst/Wagner 2007. Die hier angestellten Überlegungen sind eng mit dem Forschungsprojekt Networking. Zur Performanz distribuierter Ästhetik verbunden, welches im Rahmen von LMUexcellent unter der Leitung von Prof. Christopher Balme zum 1. Oktober 2007 seine Arbeit aufnahm. »[Man] muss […] bei aller Kommunikation mit einer mehr oder weniger großen Verlustquote rechnen, mit Unverständlichkeiten, mit Ausschussproduktion. […] Gesehen im Kontext evolutionärer Errungenschaften muss kommunikativer Erfolg als zunächst äußerst unwahrscheinlich gelten.« (Luhmann 1994: 216f.) So entwickelt Niklas Luhmann die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von Kommunikation. Die Störung und Unwahrscheinlichkeit ist ihm vor dem Hintergrund der kybernetischen Unterscheidung von Rauschen und Signal notwendige Bedingung für weitere Anschlusskommunikation und stellt die Differenz zur Konsenstheorie im Anschluss an Jürgen Habermas dar. 60

PERFORMANCE UND KOLLEKTIVITÄT IN DER NETZWERKÖKONOMIE

(von Akteuren und ›Publikum‹) zu verdeutlichen. Dazu werde ich in drei Skizzen das Konzept und die Rahmenbedingungen der Performance Call Cutta vorstellen.

Gewandelte Kommunikation in vernetztem Theater: Kunstwissenschaftliche Perspektive »Ein Theaterbesucher wird per Mobiltelefon von einem indischen Call-CenterMitarbeiter durch Berlin geführt. Über eine Distanz von zehn Flugstunden hinweg vertraut er sich seinem indischen Lotsen an. Er öffnet Türen zu Gebäuden, die er sich alleine vielleicht nie zu öffnen getraut hätte und sieht seine Stadt, wie er sie ohne die Anweisungen aus Indien vielleicht nie gesehen hätte.«5

So heißt es im Ankündigungstext der theatralen Intervention Call Cutta von Rimini Protokoll. Auf den ersten Blick sind die Koordinaten Publikum, Akteur, Regie, wie sie uns geläufig sind, verschoben: Das Publikum wird vereinzelt. Der Akteur erscheint nur fernmündlich. Die Verkörperung der Aufführung wird dem einzelnen Besucher überantwortet. Die Regie der Aufführung verlagert sich von der Textinterpretation zur Bereitstellung einer Handlungsanweisung für einen Stadtrundgang, sie sichert nur den Ablauf und Zeitrahmen des Events, verzichtet aber auf genaue Festlegung von Inhalten oder Geschichte. Die Umwandlung der theatralen Kommunikation ist durch viele Experimente der Re-Theatralisierung vorbereitet – sie basiert auf der Ebene des Konzepts keineswegs auf telematischer Technologie.6 Die Strategien zur Partizipation des Publikums in Happening und Fluxus haben die Rolle des passiven Zuschauers ebenso ins Visier genommen, wie bereits Futuristen und Dadaisten ihr provokantes Potenzial vorzugsweise in Konfrontation mit dem Zuschauer entfalteten. Wir haben es also mit Bestrebungen zur Interaktion mit dem Publikum zu tun, die lange vor der Einführung interaktiver Technologie anzusetzen sind und kunstwissenschaftlich ins Umfeld der von Michael Fried initiierten Debatte um die Absorption des Betrachters in die Kunstwerkentstehung gehören (Fried 1995).7

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So die Beschreibung des Projektes unter http://www.goethe.de/kue/the/prj/ cak/prj/deindex.htm. Stand: 01.03.2008. Eine ausführliche Dokumentation der Arbeit von Rimini Protokoll liegt mit Dreysse/Malzacher 2007 vor. Vgl. hierzu etwa die Geschichte der interaktiven Kunst: Söke Dinkla 1997. Vgl. auch die luzide Analyse von Goerges Didi-Huberman 1999: 33–62. 61

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Konzept-Kunst statt Regie: Rimini Protokoll als Akteur Das Konzept der Kollektiv-Regie überantwortet dem Zuschauer und Operator zu einem gewissen Grad die Verantwortung für die Aufführung. In einem Interview antwortet das Kollektiv Rimini Protokoll auf die Frage »Was interessiert Euch als Theatermacher an dieser Form?«: »[U]ns interessiert die Möglichkeit, dass sich beide Seiten komplett erfinden können – nicht wie im Theater, wo der da vorne immer die Geschichte in der Hand hat. Bei Call Cutta können sich beide als literarische Figur erlebbar machen. Dadurch, dass man sich nicht sieht, bleibt immer eine Unsicherheit.«8

Die Verantwortung für die Aufführung bringt eine Unsicherheit mit sich. In Call Cutta wird diese Unsicherheit als command performance inszeniert, bei der ein fernabwesender Lotse den Zuschauer steuert, dieser wiederum Informationen über seinen Standort zurückmeldet. Diese Informationen über das, was zu sehen und zu hören ist, werden dann abgeglichen mit jener bildlichen und textlichen Beschreibung der Tour, welche der Telefonist vor sich auf dem Computerschirm sieht.

Abbildung 4: Screenshot aus der CD-ROM Call Cutta von Rimini Protokoll. Führung und Anweisung des Zuschauers durch den Agenten 8

Aus einem Interview von Florian Malzacher mit Daniel Wetzel und Helgard Haug. Vgl. http://www.goethe.de/kue/the/prj/cak/int/deindex.htm. Stand: 01.03.2008. 62

PERFORMANCE UND KOLLEKTIVITÄT IN DER NETZWERKÖKONOMIE

Die Inszenierung stellt den Alltagsprozess einer Help-Desk-Telefonschaltung aus, den jeder kennt, der einmal eine Kreditkarte sperren lassen musste und zur Abholung eines Notfall-Bargeldes in eine bestimmte Lokalität, etwa eine Bank oder ein Postamt, gelotst wird. Rimini Protokoll geht es nun auch darum, den gravierenden Rahmenwechsel9 zuzulassen, mit dem sie als Künstlergruppe im Rahmen einer Theateraufführung konfrontiert sind: den Wechsel von sozialer zu ästhetischer Rolle, die Aneignung und Ausstellung lebensweltlicher Vorgänge als solche. Die Gruppe erweckt nicht den Anschein von natürlicher Telefonschaltung, will kein Call-Center imitieren. Deshalb ist der Zuschauer immer wieder aufgefordert, mit einem lauten »Ich bin dabei« dem Operator am anderen Ende seine aktive Teilnahme am Experiment zu versichern.10 Dem Zuschauer muss also immer deutlich sein, dass er sich in einem Kunstkontext bewegt. Er bringt diese Erwartung mit (und zwar durch Ankündigung, Aufmerksamkeitssteuerung und Vermarktung im Vorfeld gesteuert), seine Erwartung wird nicht gebrochen. Warum auch? Es geht ja nicht mehr um die Differenz von Kunst und Leben oder den Versuch, Leben künstlerisch nachzuahmen, Fiktionen von Leben herzustellen. Es geht darum, eine Kunst der zwischenmenschlichen Verbindung herzustellen, die in Kauf nimmt, dass es heterogene Handlungsfelder gibt. Zu solchen heterogenen Handlungsfeldern gehören heute die Ökonomie, der urbane Erlebnisraum und eben auch die Kunstinstitutionen, Theater, Galerien et cetera.

Produktion als Rezeption: Die Darstellung von Call Cutta Was geschieht nun in der Aufführung? Der Betrachter bewegt sich angeleitet durch ›seinen‹ Agenten durch Berlin-Kreuzberg, wobei ein Sinn dieser Schnitzeljagd wohl darin besteht, mit der Angst vor Verirrung und Kontrollverlust umzugehen. Darüber lagern sich eine detailreiche Stadtkartografie und Stadtlegende als Gesprächsgegenstand. Die Details suggerieren einerseits gesteigerte Ortskenntnisse des Operators, andererseits wird so sichergestellt, dass das jeweilige Team aus Lotse und Pilot nicht vom Kurs abkommt. Es eröffnet sich eine Differenz zwischen unmittelbarer Anschauung des vertrauten europäischen Stadtviertels und ihrer 9

Der amerikanische Soziologe Erving Goffman deutete derartige Wechsel des Bezugsrahmens im Sinne der Theatermetapher als Modulation des »als« in das des theatralen »als ob« (vgl. Goffman 1977). 10 Vgl. den ›Erlebnisbericht‹ zur Aufführung von Jens Roselt unter http:// www.goethe.de/kue/the/prj/cak/ber/deindex.htm. Stand: 01.03.2008. 63

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Beschreibung aus der indischen Ferne. Das Englisch im indischen Dialekt leistet dieser Verfremdung des Gewohnten Vorschub. Im Verlauf der Stadtrallye kommt dann ein dritter Sinn hinzu: Der Agent lanciert Bemerkungen, die auf ein amouröses Interesse schließen lassen. In der ersten Minute fragt er: »Gibt es viele Leute, die Dich an Deiner Stimme am Telefon wieder erkennen?« Nach sieben Minuten verrät er seinen ›richtigen‹ Namen. Nach zwölf Minuten heißt es: »Weißt Du, ich mag Deine Stimme, sie klingt so ...« Und schließlich nach 28 Minuten die offene Frage: »Hast Du Dich schon einmal am Telefon verliebt?«11

Abbildung 5: Screenshot aus der CD-ROM Call Cutta von Rimini Protokoll. »Hast Du Dich schon einmal am Telefon verliebt?« Die offizielle Gesprächsebene wird verlassen, erneuter Kontrollverlust droht diesmal durch die Verletzung einer Thematisierungsschwelle, den Einbruch des Intimen. Call Cutta wäre also zunächst eine Art Happening mit elektronischen Kommunikationsmedien. Die telematische Vernetzung von Akteur und Operateur weist jedoch auf eine gesellschaftlich relevante Fragestellung: Wie gelingt es fernanwesenden Akteuren überhaupt, eine Kommunikation aufrechtzuerhalten, sich »etwas zu sagen zu haben«, wie Brecht es formulierte? Ich möchte behaupten, dass Call Cutta seine ästhetische Wirkung gerade daher gewinnt, dass es die Unwahrscheinlichkeit des 11 Alle Zitate stammen aus der Power-Point-Präsentation, die auf der CDROM Dokumentation Call Cutta (Berlin 2006) zu finden ist. 64

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Gelingens von Kommunikation ausstellt, eine Unsicherheit, wie sie heute durch den Gebrauch von Telefonen, Handys und Internet zur alltäglichen (Leid-)Erfahrung geworden ist.

Allgemeine Verunsicherung: Ästhetische Vernetzung des Publikums und Vernetzung als soziales Phänomen Der Rahmenwechsel, den man in der Performance Call Cutta vornimmt, wird deutlich, wenn man sich die zeitgeschichtlichen Entwicklungen elektronischer Kommunikation und von Geschäftsgebaren vergegenwärtigt. Telefonischer Kundenservice zielt massiv darauf ab, die Fernabwesenheit vergessen zu machen. Das Ziel dieser Bestrebungen lautet Kundenbindung, die Mittel, mit denen man diese zu erreichen trachtet, reichen bis zur Herstellung quasi zwischenmenschlicher Gefühle. Ein Blick in die Ausbildungskonzepte für Call-Center-Mitarbeiter mag diesen Befund bestätigen. Dort werden unter der Rubrik »Attitude« quasi charakterliche Grundeinstellungen wie Glaube, Begeisterung, Entspannung, Interesse, Fröhlichkeit und Aufrichtigkeit aufgeführt, die ich hier auszugsweise zitieren möchte. Was es mit ›Interesse‹ und ›Fröhlichkeit‹ auf sich hat, wird mit folgenden Merksätzen umschrieben: »Interest. Everybody wants to be approached in a personal way. For this reason, try to ›bond‹ with the customer. Be attentive. ›Make friends‹. Listen without preconceptions and with genuine interest. Cheerfulness. Let your conversation partner hear that you enjoy doing your work. Keep your attitude and mood swings under control. A familiar expression in telephone communication is that your conversation partner can ›hear‹ you smiling.« (Pieterman&Partners 1999: 9)

Die hier beschriebenen Faustregeln für die Arbeit im Telefonservice tragen den deutlichen Appell in sich, sich persönlich in das Gespräch einzubringen, um wiederum den anderen persönlich zu erreichen. »›Bond‹ with the customer« heißt es dort – ›Bonding‹ ist ein fester Terminus aus der frühkindlichen Entwicklungspsychologie und bezeichnet die erste Fixierung der Mutter beziehungsweise des Vaters mit dem Säugling. Weiter ist nicht nur eine emphatische Stimme gefordert. Nein, auch ein Lächeln sollte zu vernehmen sein (»›hear‹ you smiling«). Dieses Lächeln in

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der Stimme wird tatsächlich in Übungseinheiten vor dem Spiegel eingeübt.12 Es geht also im Call-Center-Service gerade darum, die Differenz von Information und Mitteilung möglichst zu kaschieren, um auf jeden Fall ein Gelingen der Kommunikation und des Verstehensaktes zu suggerieren. Die Call-Center-Kommunikation steht dabei vor dem Problem, eigentlich nur Informationen liefern zu können, zwischenmenschlich aber die Erwartung von Kommunikation und Verstehen erfüllen zu müssen. Jedem, der schon einmal eine bessere Sprachansage mit einem Telefonpartner verwechselt hat, kennt diesen schmerzlichen Rückfall von der Kommunikation auf die Ebene rein maschineller Information. Rimini Protokoll nutzt dieses Spiel der Kaschierung von Differenzen im ästhetischen Sinne, was impliziert, dass die Theatermacher die Differenz von Information und Kommunikation explizit machen (der IndischEnglisch-Dialekt, der deutsche Kiez, die fremde Stimme und das vertraute Stadtbild et cetera). Damit jedoch zitieren die Theatermacher lediglich die unkontrollierte Theatralität des Kundengesprächs, wie sie den Servicebereich heute heimsucht. Man kann diesen Befund anhand der Begriffe ›Nähe‹ und ›Ferne‹ verdeutlichen. Call-Center-Mitarbeiter lernen, ihren Kunden Nähe und Vertrautheit zu suggerieren. Das erleichtert es insbesondere jenen Kunden Vertrauen zu fassen, für die eine virtuelle Kommunikationssituation noch Neuland ist. Nähe und Vertrautheit aber stellen sich dann ein, wenn der Kunde den Eindruck gewinnt, dass dieses Call-Center sich in seiner physischen Nähe befindet, dass der Agent dieselbe Weltsicht hat wie der Kunde und sein Problem daher nachvollziehen kann, kurz, dass er sein persönlicher Berater ist. Entsprechend werden die Mitarbeiter im Call-Center angewiesen, den Dialekt des Kunden zu imitieren, lokale Ereignisse und Ortskenntnisse in das Gespräch einfließen zu lassen und regionale Sprachspiele anzuwenden. Ungewollt theatral wird dieser Vorgang freilich dann, wenn die Agenten – viele tausend Kilometer und einige Zeitzonen entfernt – an ihren Telefonen in verschiedene Rollen schlüpfen müssen – also im deutschsprachigen Raum nacheinander etwa eine schweizerische Genauigkeit, einen Wiener Schmäh oder eine hanseatische Unterkühlung mimen müssen. Gemeinschaftsgefühl wird im kommerziellen Service hergestellt, um Kundenbindung zu garantieren, ist also Mittel zum Zweck. Ein zweiter Punkt dieser Inszenierung berührt den Wandel von Kommunikation mit dem Aufkommen neuer Medien. Man kann sich diesen Wandel modellhaft als aufsteigende Reihe von der technischen In12 So die Erfahrung des Autors als Mitarbeiter und Trainer der Firma Cendant Membership Services B.V. in Maarssen/Niederlande in den Jahren 1998– 2001. 66

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formation über die gelungene Kommunikation hin zur Kommunion oder Kollektivität vorstellen. Der Hintergrund ist folgende medientheoretische Überlegung: Jedes neue technische Medium beeinflusst die herkömmlichen Medien und deren Funktionen. Von der Einführung des Briefverkehrs, Telefons oder Chats etwa ist das zwischenmenschliche Gespräch empfindlich betroffen. Es verändert seine Funktion und Qualität. Gleiches gilt sicher für die theatrale Darstellung in Ko-Präsenz von Zuschauer und Akteur. Wir gehen nicht ins Theater, um Neuigkeiten aus aller Welt zu erfahren, um uns zu begegnen oder um ein Geschäft abzuwickeln. Man kann also von persönlicher oder intimer Atmosphäre des Kunst- und Literaturtheaters wohl erst dann sprechen, wenn andere, meist technische Medien Kommunikationsprozesse von der Funktion entlasten, Informationen bereitstellen zu müssen. Information und Kommunikation, Wissen und Soziales fallen also mit dem Aufkommen technischer Medien in unterschiedliche mediale Sphären. Dabei haben wir es heute mit einer Zunahme von Informationen und verkürzten Zugriffszeiten zu tun. Der Zunahme von Information entspricht – so kann man ganz entgegen einem Datenoptimismus wohl formulieren – ein Mangel an gelungenen Kommunikationen. Dies zeigt ja gerade die Verzögerung in der Textproduktion, die Folge einer Spekulation darauf ist, dass prinzipiell alle möglichen Informationen, bibliografischen Angaben, Quellen und Bilder ›im Netz‹ zu finden sein werden. Was im Informationszeitalter also rar wird, ist die Kommunikation und wohl auch die Kommunion, die Gemeinschaftsbildung in Gesprächen. Gespräche, die tatsächlich geteilt und gemeinsam als sinnvoll und tief greifend erlebt werden, müssen heute in der Durcharbeitung von Störungen inszeniert werden, bedürfen vielleicht eher einer Stille oder Unterbrechung des Hintergrundrauschens, welches uns umgibt. Eben diese Erfahrung der von Mick Jagger besungenen ›useless information‹, die einem in Radio, TV, Telefon und Printmedien entgegenschlägt und mit Einzug der sogenannten Outbound-Kundenwerbung am Telefon auch die Privatsphäre, meine Telefonnummer, meine Ohrmuschel besetzt, wird von Rimini Protokoll aufgenommen. Auf diese Entwicklung spielt der Liebesdiskurs an, welcher in dem Gespräch mit dem Call-Center-Agenten inszeniert wird. Der Liebesdiskurs markiert dabei zweierlei: 1. Es könnte jetzt gerade hier auf wunderbare Weise passieren, dass ich telefonisch gerührt und berührt bin. 2. Es ist ebenso unwahrscheinlich, dass diese Liebe wirklich gemeint ist, wie im Falle, dass mir jemand auf der Straße eine Erklärung seiner Liebe geben würde. Liebe zumindest der romantischen Art braucht kommunikative Nischen, wenn sie nicht gar »inkommunikabel« ist, wie Luhmann am Beispiel der Aufrichtigkeit vorführt (Luhmann 1994: 207).

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Die Überlagerung von elektronischem Netz und einem Liebesdiskurs führt nicht nur etwas szenisch zusammen, was nicht zusammengehört: Fernanwesenheit und körperliche Nähe. Sie ist auch sichtbarer Ausdruck einer prinzipiellen Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Denn was ich weder von einem anonymen Städtebewohner auf der Straße noch von einer Handy-Call-CenterVerschaltung erwarten darf, ist eine verlässliche Antwort auf die Frage: Was geht hier eigentlich vor?

Fazit Setzt man das Gelingen von Kommunikation als unwahrscheinlich voraus, so muss Kommunikation und damit auch Kollektivität immer erst gegen gewisse Störungen hergestellt werden; sie bedarf, um sichtbar zu werden, eines Rahmenwechsels. Solche Störungen und Transformationen manifestieren sich heute in der Erfahrung von Vernetzung und Fernanwesenheiten. Sie zeitigen Effekte einer unkontrollierten Theatralität. Das lässt sich im telefonischen Geschäftsgebaren ebenso aufzeigen wie im Bereich des Telefonsex oder der Telefonseelsorge. Rimini Protokoll beobachtet und notiert diese immer schon ablaufenden theatralen Prozesse vernetzter Informationsflüsse und legt den Finger auf die Bruchstellen, die Information und Mitteilung voneinander trennen. Ich lasse mich aus Indien durch meine Stadtlandschaft führen (Information) und zugleich verführen (Mitteilung). Zur Deckung kommen die beiden Aspekte der Kommunikation dabei nicht mehr. Analog des klaren Konzepts von Call Cutta könnte es nicht nur im vernetzten Theater darum gehen, die Kollektivität eines Publikums als einen Faktor zu verstehen, der sich erst im Verlauf des theatralen Experiments herstellt, und zwar herstellt gegen die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation und den Überschuss an Information. In diesem Sinne der Herstellung einer fragilen Kommunikation, der Begegnung ›zweier Biografien‹ äußert sich auch Rimini Protokoll. Auf die Frage, warum der Zuschauer nicht per Global Positioning System (GPS) geortet und kontrolliert würde, heben sie gerade hervor, dass es ihnen überhaupt nicht um Ortung geht, nicht im technischen Sinne, noch im urbanen Sinne, sondern eben um das Netz und die Stadt als Begegnungsraum und Quelle der Poesie. »Es ist uns wichtig, dass die Strecke tatsächlich gemeinsam [von Operator und Zuschauer] abgeklappert wird. Das liefert eine Basiskommunikation, bei der

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beide ständig Vertrauen herstellen müssen. Das gemeinsame Abtasten der Strecke ist die Quelle von Geschichten und Fragen.«13

Eben durch diesen gezielten und begrenzten Medieneinsatz, der es Zuschauern und Operateuren zuallererst erlaubt, aufeinander angewiesen zu sein, erst durch die Unsicherheit der Kommunikation zeigt sich Kollektivität – zumindest für die Dauer der Aufführung.

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13 So Haug und Wetzel im Interview mit Malzacher unter: http://www.goethe. de/kue/the/prj/cak/int/deindex.htm. Stand: 01.03.2008. 69

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ENTZUG REAKTIONEN

UND

AUF DEN

BEHAUPTUNG. SOUVERÄNITÄTSVERLUST

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»Zur Demokratie gehört nicht nur die Diskussion, sondern auch die Aktion« (Rischbieter 1968: 1). So kommentierte der Theater-heute-Herausgeber Henning Rischbieter 1968 die Debatte über die Vietkong-Sammlung nach den Aufführungen des Stückes VietNam Diskurs von Peter Weiss an den Münchner Kammerspielen. Dokumentiert ist sie im Septemberheft 68 von Theater heute. Stein des Anstoßes war die Programmatik einer Aufführung, die nicht nur »›einen Missstand in der Welt bloßstellen‹, sondern zur Behebung dieses Missstandes konkret auffordern will« (Schwiedrzik/Stein 1968: 3), so die Regisseure Peter Stein und Wolfgang Schwiedrzik, indem unmittelbar im Anschluss an die Vorstellung eine Sammlung für Waffen für den Vietkong durchgeführt wurde. Knapp 40 Jahre später, im Februar 2008, resümiert der Regisseur Volker Lösch in einem Gespräch über die neuen Formen eines zeitgenössischen ›politischen Theaters‹ eine zentrale Schwierigkeit des Theatermachens, die zugleich den Motor seines Arbeitens bildet: »Wir kommen ja gar nicht ran an die Wirklichkeit« (Behrendt/Burckhardt/Wille 2008: 12). Seine Arbeiten sind der Versuch, diesem »Erfahrungsmangel« (Merck/Pilz 2005: 17) entgegenzuwirken. Man bemerkt den Abstand, der zwischen diesen Konzeptionen liegt: Der souveräne Gestus kritischer Selbstvergewisserung ist abhandengekommen und wird im Zeichen des Verlusts registriert. Die Tatsache, dass wir im Theater an die Wirklichkeit im Sinn einer uns unmittelbar umgebenden sozialen Realität nicht »rankommen«, hat sicher zu einem guten Teil mit den institutionellen Eigenheiten des realen Theaterbetriebs und seiner Tendenz zur Selbstreferenz zu tun. Die angesprochene Unzugänglichkeit ist aber zugleich in einem Begriff von ›Wirklichkeit‹ selbst begründet, der totalisierenden Wahrnehmungsmustern längst nicht mehr zugänglich ist. Insofern ist der ›Verlust von Wirklichkeit‹ als gesellschaftliches Phänomen zu begreifen, das aus der kollektiven Erfahrung der Unübersichtlichkeit und Unsicherheit einer in mehrfachen Moderni-

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sierungsschüben hoch beschleunigten Welt resultiert. Löschs Ausgangspunkt siedelt demnach im Zentrum eines Paradoxes: Aus der von sozialen Realitäten der Gesellschaft weitgehend abgekoppelten Institution Theater heraus unternimmt er Recherchen in den zersprengten, dem direkten Zugriff entzogenen Feldern unserer ›Wirklichkeit‹. Die Komplexität der gesellschaftlichen Zustände lässt es nicht mehr ohne Weiteres zu, mit aufklärerischem Furor eine Position zu beziehen, von der aus wir diese nicht nur beschreiben, sondern sogar verändern könnten. Dabei besteht die Schwierigkeit vor allem darin, eine glaubwürdige Position zu beziehen, die eine kritische oder gar agitatorische Haltung überhaupt legitimiert. Wo jede Geste des Widerstands früher oder später Gefahr läuft, als Marketingstrategie verdächtigt zu werden, wo jedes Zeichen der Kritik zum Design wird, ist die Möglichkeit einer souveränen kritischen Identität nicht mehr gegeben. Aus dem Inneren eines Systems, das ebenso Anteil hat an den Ökonomisierungsprozessen wie jede andere gesellschaftliche Institution oder Firma, lassen sich schwerlich überzeugende kapitalismuskritische Positionen formulieren, ohne einer Bewegung paradoxer Selbstaufhebung anheimzufallen. Das heißt freilich noch lange nicht, dass es falsch oder obsolet ist, solche Positionen zu suchen und zu besetzen. Das heißt auch nicht, dass es unter den Theatermachern kein Unbehagen über diese Situation gäbe, und das heißt erst recht nicht, dass die Sehnsucht nach kritischer Partizipation erloschen wäre. Im Gegenteil. Gerade das Bewusstsein dieses Souveränitätsverlustes hat in den letzten Jahren vielfache Reaktionen erzeugt und zu einer gewissen Repolitisierung der Theaterarbeit geführt, die sich dadurch auszeichnet, dass die Theater Erfahrungen außerhalb ihres angestammten Bezirks suchen und in die Theaterarbeit integrieren. Die unter diesen Prämissen entstandenen Inszenierungen können freilich nicht als gemeinsame Bewegung interpretiert werden. Umso wichtiger ist es, die einzelnen Versuche genauer anzuschauen. Im Folgenden werden wir deshalb eine Autorin und einen Regisseur und ihre Arbeitsweisen vorstellen, mit denen uns eine konkrete Arbeitserfahrung verbindet. Im Hinblick auf das formulierte Dilemma, in dem sich das Theatermachen zwischen Entzug von Wirklichkeit und der Behauptung ihrer möglichen Kritik befindet, förderte der Austausch über diese Arbeitserfahrungen überraschende Analogien in auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Theaterkonzepten zutage. Nora Mansmann und Volker Lösch thematisieren den Souveränitätsverlust des Individuums und zwar vor allem, indem sie dessen Verhältnis zum Körper reflektieren. Beide zeigen das Subjekt und seinen Körper als von Machtdiskursen affiziert. Beide verfolgen dabei das Anliegen offenzulegen, dass Subjekte sowohl Medium als auch Effekt der Macht sind

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und dass Macht sozusagen ›von unten‹ arbeitet, indem das Subjekt im dynamischen Zusammenspiel zwischen handelnden, sozialen Institutionen, kulturellen Bedeutungen, Konventionen und Beschränkungen zustande kommt. Beide insistieren dabei auf der Möglichkeit, sich zu diesem Souveränitätsverlust zu verhalten.

Die Autorin Nora Mansmann »assoziatives schreiben / ist wie gehirnjogging für mich« In TERRORMUM, dem ersten veröffentlichten Theaterstück von Nora Mansmann, findet sich dieses Zitat (Mansmann 2005: 23), das auch als Kommentar der 1980 in Hessen geborenen und aufgewachsenen Autorin zu ihrer Arbeitsweise gelesen werden kann: Das Schreiben von Stücken beginnt für Nora Mansmann mit dem Sammeln heterogener Textfragmente, die sie nach und nach in ein Verhältnis zueinander setzt. So entsteht aus den miteinander verwobenen Einzelteilen ein Stoff, der verschiedene Muster variiert, sodass einerseits ein struktureller Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen erkennbar ist, die einzelnen Motive innerhalb des Zusammenhangs andererseits ihre Selbstständigkeit bewahren. Was für die Lektüre der einzelnen Texte gilt, lässt sich für alle bisher von Nora Mansmann veröffentlichten Texte konstatieren: Bestimmte Strukturen, Themen oder Motive fallen immer wieder ins Auge. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass weitere Texte die Perspektive auf den Gesamtzusammenhang ihres Schreibens grundlegend verändern werden. Die assoziative Arbeitsweise schlägt sich auch in der Mikrostruktur ihrer Texte nieder: Je nach Ort der Zäsuren, die mangels vorgegebener Interpunktion meist selbst zu setzen sind, und je nach Zuordnung variabel gehaltener Textpassagen zu einzelnen Figuren, verschiebt sich die Bedeutung des Textes. Auf sehr humorvolle Weise nimmt die Autorin in ihren absurden Geschichten das Verhältnis zwischen einer Gesellschaft und der sie bildenden skurrilen Subjekte in den Blick. Spezifisch ist dabei unter anderem der von den Figuren als existenziell bedrohlich empfundene Verlust einer stabilen Identität, der in der Unfähigkeit der Figuren, souverän über ihre Körper zu verfügen, manifest wird. Das Verhältnis zwischen den Protagonisten und den Bedingungen, unter denen sie existieren, wird in verschiedenen Facetten als ein diskursiv konstruiertes ausgestellt, wie ich in

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der folgenden Lektüre der drei abendfüllenden Texte, die bisher von Nora Mansmann veröffentlicht wurden, zeigen werde. Während in TERRORMUM (Mansmann 2005) Vater und Sohn darum ringen, ihre Subjektposition in Abhängigkeit von der abwesenden Position der Mutter zu konstruieren und aufrechtzuerhalten, stellt Nora Mansmanns zweiter Text herr tod lädt nicht ein aber wir kommen trotzdem (Mansmann 2006) die Identität der Protagonisten als medial konstruiert aus. Ihr drittes Theaterstück zwei brüder drei augen (Mansmann 2008) schließlich fokussiert auf den Körper als Gebilde, in dem sich soziale Strukturen materialisieren und das sich aufgrund permanenter Veränderung jeder Klassifikation entzieht.

»anaphylaktischer schock (mein name ist nicht ulrike)« Bereits der Prologtitel von TERRORMUM (Mansmann 2005: 4) setzt die heftige Reaktion eines Körpers mit der einer Gesellschaft gegen die je eigene Struktur parallel: Versteht man unter einem anaphylaktischen Schock eine krankhafte Reaktion des menschlichen Immunsystems auf chemische Reize, die zum tödlichen Organversagen führen kann, ruft »mein name ist nicht ulrike« die terroristische Position von Ulrike Meinhof auf, Gründungsmitglied und intellektuelle Führungspersönlichkeit der RAF. Ähnlich wie der menschliche Körper im anaphylaktischen Schock seine Abwehrmechanismen gegen sich selbst richtet und sich zu vernichten droht, stellte der Terrorismus der RAF die bundesrepublikanische Gesellschaft mit ihren Werte- und Machtsystemen zur Disposition und zielte auf ihre Abschaffung. In allen bisher erschienenen Texten von Nora Mansmann wird vorgeführt, wie die einzelnen Figuren von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen und durch die sie existieren, durchdrungen sind. Liest man die Texte auf der Folie der Diskurstheorie nach Michel Foucault und Judith Butler, lässt sich die Wechselwirkung zwischen den Figuren und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie leben, genauer analysieren: Foucault geht davon aus, dass sich Diskurse,1 verstanden als sprachliche Handlungen, die die gesellschaftlichen Machtverhältnisse durchsetzen, in den einzelnen Körpern niederschlagen: »Ich suche zu zeigen, wie die Machtverhältnisse in die Tiefe der Körper materiell eindringen können, ohne von der Vorstellung der Subjekte übernommen zu werden«, so Foucault (1978: 108). Diese Machtverhältnisse, die als verschiedene 1

»Der Diskurs ist jenes regelmäßige Ensemble, das auf einer Ebene aus sprachlichen Phänomenen und auf einer anderen aus Polemik und Strategien besteht.« (Foucault 2002: 670f.) 74

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Diskursformationen auftreten, lassen sich nicht auf die Intention oder den freien Willen eines souveränen Subjekts zurückführen. Vielmehr setzt Foucault einem solchen transzendentalen Subjekt ein historisches Subjekt entgegen, zu dessen Konstitution zahlreiche Komponenten wie Wissen, Praktiken und Normen beitragen, die wiederum in unterschiedlichen und miteinander im Widerstreit stehenden Diskursformationen in Erscheinung treten. Diskurse bilden Wirklichkeit somit nicht ab, sondern stellen sie mittels der unzähligen Machtbeziehungen zwischen den Subjekten einer Gesellschaft her, die gleichzeitig Bedingung und Folge der in den Diskursen wirkenden Macht sind: »Zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen Körpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, zwischen dem, der weiß, und dem, der nicht weiß, verlaufen Machtbeziehungen, die nicht die schlichte und einfache Projektion der großen und souveränen Macht auf die Individuen sind; sie sind eher der bewegliche und konkrete Boden, in dem die Macht sich verankert hat, die Bedingungen der Möglichkeit, damit sie funktionieren kann.« (Foucault 1978: 110)

Folglich werden die einzelnen Subjekte nicht von außen zu etwas gezwungen, sondern werden zur Selbstkontrolle angehalten, sodass Machtverhältnisse eine spezifische Form der Selbstwahrnehmung der Subjekte produzieren: »die Macht geht durch die Individuen hindurch, sie wird nicht auf sie angewandt« (Foucault 2003: 238). Judith Butler fokussiert in ihrer Theorie, die Foucaults Diskurstheorie aufgreift und modifiziert, auf die Schaffung der Subjektposition durch Sprechakte. Sie bezieht sich dabei neben Foucault vor allem auf die Sprechakttheorie nach Austin, in der dargestellt wird, dass Sprache nicht nur einen referenziellen, sondern auch einen performativen und somit handelnden und wirklichkeitskonstituierenden Charakter hat. Auch für Butler tritt das Subjekt erst durch den Prozess der Subjektivation in Erscheinung, die im Anschluss an Foucault als Unterwerfungsprozess unter die Machtverhältnisse durch Diskurse beschrieben oder als Umwendung im Sinne von Althusser verstanden werden kann (Butler 2001: 8). Hierbei wird das Individuum in dem Moment zum Subjekt, in dem es durch einen Sprechakt angerufen wird, sich zu dieser Anrufung umwendet und sich somit der aufgerufenen Identität unterwirft. Effekt dieses Unterwerfungsprozesses ist, dass das angerufene Individuum eine Identität erhält, mit der es sozial anerkennbar ist, und so den Subjektstatus erreicht. Der Preis, den das Individuum für das Zusprechen einer handlungsfähigen Subjektposition zu zahlen hat, ist ein Normierungsprozess, denn nur die aufgerufenen Anteile des Individuums haben Platz in der intelligiblen

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Subjektformation. Alles, was nicht sozial anerkennbar ist, muss abgespalten und verworfen werden. In TERRORMUM (Mansmann 2005) lässt sich der Prozess der Subjektkonstruktion vor allem im Verhältnis zwischen den Hauptfiguren Dennis, seinem Vater Volker und seiner Mutter beobachten. Sowohl die Position des Vaters als auch die des Sohnes ist zunächst durch die Relation zur Mutter bestimmt, obwohl diese im gesamten Stück abwesend ist. Doch der permanente Bezug auf sie und ihre politische Vergangenheit macht sie zur zentralen Figur: Das gesamte Geschehen konstruiert und verweist permanent auf die Position, die durch das Verschwinden von Dennis’ Mutter zum vakanten Zentrum der Familienstruktur geworden ist. Dennis ist »irgendwo zwischen über zwanzig und unter dreißig. versager« (Mansmann 2005: 3). An seine Mutter kann er sich nicht mehr erinnern, doch sie war – zumindest in den Erzählungen seines Vaters – eine wichtige Figur der 68er Revolution, »eine von den ganz großen« (Mansmann 2005: 3). Seit ihrem plötzlichen Verschwinden sitzt »dennis’ PAPA volker« (Mansmann 2005: 3) regungslos auf dem Sofa und lebt nun seit Jahren beinahe ausschließlich in der verklärenden Erinnerung an diese große Zeit. Ohne der politischen Bedeutsamkeit seiner Mutter etwas Eigenes entgegensetzen zu können, beschließt Dennis, basierend auf den Erzählungen seines Vaters, ein Buch über ihre Geschichte zu schreiben: Projekt TERRORMUM. So wird die verschwundene Mutter durch permanentes Zitieren zum zentralen – und doch eigentlich abwesenden – Referenzpunkt für die Subjektpositionen von Mann und Sohn, dessen Aufrechterhaltung zunächst für beide überlebenswichtig ist. Während Dennis versucht, auf der Vergangenheit seiner Mutter seine eigene Zukunft aufzubauen, hat sich der Vater entschieden, jenseits eines Sprechens, das fast ausschließlich im Zitieren dieser Vergangenheit besteht, seinen Körper stillzulegen. Er verharrt in einer Art »ohnmacht« oder »stand-by-zustand« (Mansmann 2005: 4): »jetzt hab ich die bedienungsanleitung für mich vergessen hab sie nicht dabei wie blöd« (Mansmann 2005: 4). Verbunden mit dieser Konzentration auf die Vergangenheit ist so die Weigerung, sich zur Gegenwart zu verhalten. Er antwortet ausschließlich auf die Anrufung als Mann der großen Revolutionärin und wahrt dadurch seine Subjektposition. Lediglich das Erzählen seiner Biografie, die sich für ihn ausschließlich in Relation zu »MAMA« (Mansmann 2005: 3) bestimmt, trennt ihn von der gesellschaftlichen NichtExistenz. Ob er jenseits dieser permanenten Rekonstruktion existieren kann, ist fraglich. Als Dennis das Projekt TERRORMUM abbricht, um einen Science-Fiction-Roman zu schreiben, antwortet »PAPA« gar nicht mehr, entzieht sich endgültig dem Diskurs und gibt damit seine Existenz

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als wahrnehmbares und handlungsfähiges Subjekt auf. Für Dennis hingegen bedeutet die Aufgabe des Projekts TERRORMUM, sich aus der alles beherrschenden Vergangenheit zu lösen, seine Gegenwart als Subjekt zu gestalten, seinen Ort in der ständig performativ wiederhergestellten Familienkonstruktion zu verlassen und sich schreibend eine mögliche Zukunft und mögliche Welten zu erschließen.

»einmal im leben richtig spaß haben oder bonny und clyde« Auch in ihrem zweiten Stück herr tod lädt nicht ein aber wir kommen trotzdem (Mansmann 2006) nimmt Nora Mansmann die Kinder der 68er in den Blick, beschreibt in drei assoziativ verbundenen Variationen, wie im Prologtitel bereits angedeutet (Mansmann 2006: 4), jedoch ein Lebensgefühl, das sich an einer medial vermittelten Wirklichkeit orientiert. Hilflos versuchen die Figuren, sich zu den Protagonisten ihres eigenen Films zu machen, dadurch Originalität zu erlangen und der tödlichen Langeweile ihres Alltags zu entkommen. Orientierungslos und zwischen Resignation und Aufbruch (fragt sich nur wohin) probieren die Figuren verschiedene Leitbilder aus, die sie von der Leinwand kennen. Hollywood-Helden und Terroristen werden Vorlage einer ziellosen Nachahmung. Wissen die beiden Protagonisten auf der Suche nach dem »roadmovie-gefühl« (Mansmann 2006: 5) nicht mehr, wie das Spiel der Geiselnahme weitergeht, steigen sie einfach aus ihrer Rolle aus. Das Spiel mit dem Tod – ob mit dem eigenen oder dem eines anderen Menschen – scheint die einzige Möglichkeit, zumindest über den Gedanken der Endlichkeit kurzfristig ein Gefühl für die eigene Bedeutung zu erlangen. Sie flirten mit dem Tod und spielen wie mit der Fernbedienung in der Hand die verschiedenen Szenarien des Sterbens durch, denn »je näher du dem tod kommst desto lebendiger fühlst du dich« (Mansmann 2006: 29). Judith Butler hat gezeigt, wie die performativ hergestellten Normen der herrschenden Diskurse ihre Herstellungsprozesse verschleiern und sich den Anschein des Ursprünglichen oder Natürlichen geben. Hollywood-Helden sind solche inkorporierte Normen, die als Originale wahrgenommen und medial vermittelt werden. Angehalten zur Selbstkontrolle versuchen die Subjekte einer Gesellschaft, diesen Normen in Bezug auf Lebensstil und Körperpraxis zu entsprechen. herr tod lädt nicht ein aber wir kommen trotzdem führt somit die paradoxe Situation zweier Subjekte vor Augen, die im Versuch, selbst zum Original zu werden, die Normen zitieren und performativ aufrechterhalten.

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»heute morgen bin ich aufgewacht und mein geschlecht war weg« Auf den ersten Blick sind vor allem die Körper der Figuren in Nora Mansmanns drittem Stück zwei brüder drei augen (Mansmann 2008) den sich ständig wandelnden Bedingungen ihrer Umwelt ausgeliefert: Alle Figuren sind permanent von spontanen Mutationen bedroht, nur »OMA« (Mansmann 2008: 3) liegt in ihrem Bett fixiert im Teilzeitkoma und stellt gleichsam einen Fixpunkt im Zentrum der Geschehnisse dar. In ihrer Wohnung leben auch ihre beiden Enkel: »FROTZI hermaphroditIn« und »WOWA ihr verblödeter bruder, dreiäugig« (Mansmann 2008: 3). Während sie für Frotzi nur noch als bedauernswerter Körper anwesend ist – »unsere oma wirklich traurig zu sehen was mal aus uns werden wird da liegt man dann als hirnlose masse und niemand stellt die apparate ab« (Mansmann 2008: 11) –, unterhält Wowa weiterhin eine Beziehung zu ihr, spricht sie als Subjekt an und erhält auch Antwort. »omas wohnung« (Mansmann 2008: 6) ist der letzte Ort, an der sich die Behauptung einer bürgerlichen Ordnung zunächst noch aufrecht erhalten lässt, und wird im Verlauf des Stückes immer mehr zur (scheinbar möglichen) Zuflucht vor einer Wirklichkeit, die in psychologischer, politischer und physikalischer Hinsicht alle bisher angenommenen Gesetzmäßigkeiten überschreitet. Dies betrifft auch die Figuren, die bereits im Prolog als Mutanten charakterisiert werden. Sie können sich nicht mehr auf kontinuierlich definierte Körpergrenzen beziehen, wie sie zur Beschreibung einer intelligiblen Identität notwendig sind. Umso wichtiger ist für sie das Sprechen als Akt der Konstitution und Vergewisserung als Subjekte: »der urknall damit fängt es an wir sprechen ein universum explodiert im kopf aber was soll das hier dieser urschleim oder was das ist dieser schleimige urschleim aus dem wir bestehen entstehen irgendwas organisches zellen haufen haufen von zellen körper formen konturen augen schwarz ohren schwarz hände haut gesicht körper schwarz alles immer schwarz immer noch aber wir sind da wir sprechen wir sind der raum scheiß dunkler riesen raum ohne decke ohne boden ohne wände ohne aua wir wissen gar nicht wo genau wir sind und was es gibt keine orientierung es gibt nichts zu essen vielleicht gibt es wenigstens ein sofa« (Mansmann 2008: 4).

Durch Sprache entstehen aus einer Anhäufung von Zellen die einzelnen Figuren, werden die Individuen zu einzelnen erkennbaren Subjekten und

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somit erst handlungsfähig. Der Prolog lässt sich also parallel zu dem von Butler beschriebenen Prozess der Subjektivation lesen: »Individuen besetzen die Stelle, den Ort des Subjekts (als welcher ›Ort‹ das Subjekt zugleich entsteht), und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in die Sprache eingeführt werden. Das Subjekt ist die sprachliche Gelegenheit des Individuums, Verständlichkeit zu gewinnen und zu reproduzieren, also die sprachliche Bedingung seiner Existenz und Handlungsfähigkeit.« (Butler 2001: 15f.)

Der Prozess der Subjektwerdung ist jedoch nie abgeschlossen. Die mit der Subjektposition geforderte Matrix der Intelligibilität muss durch einzelne Akte immer wieder zitathaft aufgerufen und bestätigt werden. Butler greift mit einer solchen performativen Herstellung der Identität einen Gedanken von Jacques Derrida auf, der im Anschluss an die Zeichentheorie de Saussures und deren Weiterentwicklung durch Lacan die arbiträre und differenzielle Konstitution der Signifikate durch die Signifikanten betont. Bedeutung entsteht in diesem Sinne erst durch die dynamische Strukturation der Zeichen untereinander: Sowohl Wiedererkennbarkeit verbunden mit zwangsläufigen Vorannahmen als auch permanente Bedeutungsverschiebung durch die jeweilige Aktualisierung und Kontextualisierung der Zeichen sind für Sprache konstitutiv (Derrida 1976). Für Normen und gesellschaftlich intelligible Subjektpositionen bedeutet dies, dass sie mittels Zitieren einerseits kontinuierlich hergestellt werden, die einzelnen Akte ihrer Aktualisierung andererseits individuelle Bedeutungen und somit Bedeutungsverschiebungen produzieren.2 Vor allem in Bezug auf die Hauptfiguren von zwei brüder drei augen lässt sich beobachten, wie sie dadurch in eine zunehmend prekäre Lage geraten, dass ihnen konventionelle Differenzen als Referenzpunkte, die bisher eine verlässliche Deutung ihrer Wirklichkeit möglich machten, in wachsender Geschwindigkeit abhandenkommen: Wowa hat durch sein drittes Auge beängstigende apokalyptische Visionen, in denen sich die Differenz zwischen Organischem und Anorganischem auflöst: Treppenhäuser, Fahrstühle und Zimmer werden zu Teilen eines riesigen lebenden Organismus. Diese Visionen, die als Blick in die Zukunft auch die Differenz zwischen den Zeitdimensionen auflösen, hindern ihn daran, die scheinbar sichere Wohnung zu verlassen; doch auch die Unterscheidung von Innen- und Außenraum wird zunehmend schwieriger. Zuflucht 2

»Die Kraft und die Bedeutung einer Äußerung sind nicht ausschließlich durch frühere Kontexte oder ›Positionen‹ determiniert; eine Äußerung kann ihre Kraft gerade aus dem Bruch mit dem Kontext gewinnen, den sie ausführt« (Butler 2006: 227). 79

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nimmt Wowa zum einen immer wieder in der selbstvergewissernden sprachlichen Beschreibung der Situationen. Zum anderen fahndet er permanent nach der Antwort auf die Frage: »was ist schönheit?« (Mansmann 2008: 4), in der Hoffnung, dass diese ihm, einer Zauberformel gleich, (ästhetische) Kategorien zugänglich machen könnte, die ihm seine Wirklichkeit in einem sinnvollen Zusammenhang zu erschließen vermögen. Besonders prekär ist die Situation für Frotzi, die sich jenseits der für eine intelligible Subjektposition konstitutiven Matrix der Geschlechtsidentität aufhält. Judith Butler stellt die heterosexuelle Matrix, die bestimmt, wie sich biologisches Geschlecht, kulturelles Geschlecht und Begehren im Sinne einer klar konturierten Identität zueinander zu verhalten haben, als grundlegende Bedingung für die Intelligibilität des Subjekts heraus. Wer sich jenseits dieser Matrix aufhält, kann in der Gesellschaft keine Position als anerkennbares und handlungsfähiges Subjekt einnehmen. Bei Mansmann heißt es: »heute morgen bin ich aufgewacht und mein geschlecht war weg ja das passiert mir in letzter zeit öfter zuerst war das nur für kurze zeit und dann war es plötzlich wieder da (…) und es ist nicht nur das geschlecht das kam zuerst aber jetzt der körper der ganze körper ich verliere meinen körper er löst sich auf und ich sitz da und guck von irgendwo ich weiß nicht wo von außen? auf mich drauf und finde alles so absurd dass die so mit mir reden als wäre nichts passiert als wär ich ganz normal als wär ich wirklich da bin aber nicht im körper sondern außerhalb und gleichzeitig innerhalb bin irgendwie überall die grenzen verschwimmen die grenzen nach außen und dieses ding da im spiegel soll ich sein da muss ich lachen mein ich was ist das denn wo ist das denn was ist denn das ich weiß manchmal gar nicht ob es mich eigentlich noch gibt« (Mansmann 2008: 33).

Die Dekonstruktion des zunächst als weiblich anerkennbar konstruierten Körpers wird zur existenziellen Not. Als »hermaphroditIn« kann sich Frotzi im binären Zwei-Geschlechter-Modell nicht mehr verorten. Als sie sich in Nobbi, einen »freundlichen, älteren werwolf« (Mansmann 2008: 3), verliebt, wird die Situation nicht gerade einfacher: Es ist Frotzi unmöglich, die eigene (Geschlechts-)Identität als verlässliche und konti80

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nuierliche Position zu erfahren, und die gerade beginnende Beziehung zu Nobbi trägt durch die nicht einzuordnende und instabile Begehrensstruktur zum Chaos in der Geschlechtermatrix bei.

Abbildung 6: Janina Sachau als Frotzi in der Uraufführung von zwei brüder drei augen, 20. Juni 2008, Düsseldorfer Schauspielhaus, Regie: Christian Doll (Foto: Sebastian Hoppe) Dabei ist auch Nobbi permanenten Veränderungen ausgesetzt: Abgesehen von spontanen Mutationen zum Werwolf, an die er sich bereits gewöhnt hat, entpuppt sich eine Beule an seinem Kopf als singender Tumor namens »STALIN« (Mansmann 2008: 3), der ihn nach und nach ›übernimmt‹. Er kann keinen Bezug zu sich selbst mehr herstellen, da seine Identität unterlaufen wird. Das Ich scheint auseinanderzufallen oder sich immer weiter auszudehnen. So sind auch seine Körpergrenzen nicht mehr wahrnehmbar. Das Selbst, das im Spiegel reflektiert wird, kann nicht mehr in Bezug zu einem Ich gesetzt werden: »es ist kein schönes gefühl im moment erscheint es mir als würde ich einfach immer dicker werden aufgeblasen werden oder aufgeschwemmt ich hab nichts gemacht nichts geändert weiß nicht wo das herkommt weiß nicht wo das hinführt kann mich selbst schon fast nicht mehr erkennen im spiegel oder mein spiegelbild in der fensterscheibe« (Mansmann 2008: 4).

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Frotzi und Nobbi suchen in der Beziehung zueinander nach gegenseitiger Vergewisserung ihrer Identität und deren Bedeutung. Doch diese Sehnsucht erfüllt sich nicht: »scheiß mutationen mir reichts nobbi kommt vorbei wir haben sex und seine äußere körperform ändert sich ständig« (Mansmann 2008: 31).

Zum ›Glück‹ haben alle eine Therapeutin: »DR. FOXY, hno-ärztin und psychotherapeutin« (Mansmann 2008: 3). Pillen, Tabletten und Therapien sollen die Probleme in den Griff bekommen. Doch Dr. Foxy nutzt die Sitzungen lediglich zum Sammeln wichtiger Informationen, schließlich will sie mithilfe des »GROSSEN TUMORS« (Mansmann 2008: 17) die Weltherrschaft übernehmen. Therapie als Mittel der Selbstreflexion wird ad absurdum geführt, ist vielmehr Einfallstor für Manipulation durch die Therapeutin und den Diskurs der Medizin, dessen Autorität als zugeschrieben entlarvt wird. Der Versuch, eine natürlich erscheinende (Geschlechts-)Identität durch Medikation und Therapie zu produzieren, wird ausgestellt, die Matrix der Intelligibilität wird des Anscheins der Natürlichkeit beraubt und die Kontingenz ihrer Normen offensichtlich. So steuert alles auf den Weltuntergang zu, als mit der Ununterscheidbarkeit zwischen Ich und Anderem die letzte Differenz fällt. Die Welt mutiert und mit ihr alle Lebewesen. Das Ziel von DR. FOXY scheint erreicht: »die reine harmonie die reine utopie das ist es das ist unser ziel ihr wisst nicht was gut für euch ist wir werden alle eins sein zusammenmutieren metastasieren alle zusammen unter der obhut des GROSSEN TUMORS« (Mansmann 2008: 42).

Der Regisseur Volker Lösch Auf den ersten Blick haben der Regisseur Volker Lösch und die Autorin Nora Mansmann wenig miteinander zu tun. Während bei Mansmann die Realitätsaneignung in filigran gearbeiteten, assoziativen Textnetzen verläuft, arbeitet Volker Lösch in seinen Inszenierungen mit heterogenem Material aus biografischen Erfahrungen, Texten und Personen aus der ›unmittelbaren Wirklichkeit‹. Was sie verbindet, ist der Versuch, mit unterschiedlichen Mitteln auf das gesellschaftliche Bewusstsein des Souveränitätsverlustes zu reagieren statt es nur zu beschreiben.

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Volker Löschs Theater verwendet eine Reihe von Strategien zur Wirklichkeitsaneignung mit dem Ziel, die Grenzen zwischen Theater und gesellschaftlicher Realität durchlässiger zu machen. Diese sollen hier strukturell beschrieben und anhand eines Beispiels aus der Arbeitspraxis plastisch werden.

Geografische Verortung Der gemeinsame Ausgangspunkt oder vielleicht besser: Angriffspunkt fast aller Inszenierungen von Lösch ist zunächst eine ganz konkrete geografische Verortung. Lösch macht Theater ausgehend von dem Ort, an dem er jeweils arbeitet. Er findet die Bezugspunkte für seine Arbeiten in der urbanen Gesellschaft in der unmittelbaren Umgebung der Theater, an denen er inszeniert. Ob es die Migrantinnen in der Stuttgarter Medea3 (die einen realen Raum konkreter Fremdheitserfahrung öffnen), ob es der Rechtsextremismus im Dresdner Woyzeck4 (mit dem Dresdner Bürgerchor, der Texte aus einer Umfrage unter Dresdner Bürgern präsentierte) oder die biografischen Erfahrungen von Privatbankrotteuren in der Düsseldorfer Inszenierung Besuch der alten Dame5 sind: Stets wird der geografische Ort auch als sozialer Ort begriffen. Lösch und sein Team recherchieren, manchmal gemeinsam mit den Schauspielern, an diesen Orten offener oder versteckter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und er implementiert die vorgefundenen Diskurse direkt in seine Aufführungen. Man könnte sagen, wo bei Nora Mansmann der Bezug auf den deformierten Individualkörper den Ausgangspunkt bildet, ist es bei Lösch das konkrete Segment eines gesellschaftlichen Körpers, das er auf die Bühne zu stellen versucht. Das geschieht einerseits über die Montage von dokumentarischem Textmaterial, andererseits über die Integration von Laien (den derzeit populärsten Repräsentanten der ›Wirklichkeit‹ auf deutschen Bühnen) in das Bühnengeschehen, vor allem in Form des Chores.

Zitat und Montage Die Inszenierungen von Volker Lösch bewegen sich dabei oft in einem Raster von Figur und Handlung, das ganz in der Tradition eines klassi3 4 5

Staatsschauspiel Stuttgart, Premiere am 26.05.2007 Staatsschauspiel Dresden, Premiere am 12.10.2007. Düsseldorfer Schauspielhaus, Premiere am 09.02.2007. 83

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schen Dramenbegriffs steht. Allerdings bringt er ihn in Spannung mit einer Form von kollektiver Autorschaft, die mittlerweile alle seine Projekte auszeichnet. Häufig greift er dafür auf bewährte Texte aus dem Schauspielrepertoire (Medea, Woyzeck, Die Weber, Der Revisor, Der Besuch der alten Dame, Hamlet et cetera) zurück, die er gleichsam als Basisgeschichten nutzt und im Lauf des Arbeitsprozesses mit dokumentarischen Texten durchsetzt und anreichert. Diese stammen aus Interviews, aus der Presse, aus dem Internet, es sind Reden von Politikern, Wirtschaftsvertretern und anderen Prominenten, es sind Presseerklärungen oder biografische Erzählungen. Der allusive Umgang mit Theatertexten, der auf den identifikatorischen Wert vieler klassischer Texte setzt, und den herauszuarbeiten nach wie vor als ein herrschendes Paradigma der Theaterpraxis gelten kann, ist nicht sein Arbeitsfeld. Lösch interessiert sich nicht dafür, die sogenannte Aktualität im überlieferten Text behutsam freizulegen und assoziativ Gegenwartsbezüge zu erzeugen. Ihm liegt daran, die Stücke unmittelbar mit dem Blick auf konkrete gesellschaftliche Verwerfungen zu erzählen. Die dafür benötigten Fremdtexte werden häufig im Rahmen von ausgreifenden Recherchen in denjenigen gesellschaftlichen Segmenten gewonnen, die später im Zentrum der jeweiligen Inszenierung stehen. Sie erscheinen dann entweder als unmittelbare Figurenreden und treten an die Stelle der ursprünglichen Dialoge oder sie werden zu Sprachpartituren der Chöre verarbeitet. In der erwähnten Stuttgarter Medea wurde ein Chor aus 16 türkischen Migrantinnen, die in Interviews von ihren Fremdheitserfahrungen in der schwäbischen Metropole erzählten, in die Tragödie des Euripides eingefügt. Für den Dresdner Woyzeck wurden Interviews mit 529 Dresdner Bürgern über ihre Haltung zu Rechtsextremismus und Gewalt geführt. In beiden Fällen wurden diese individuellen Berichte zu Chortexten kompiliert und ersetzten oder ergänzten die ursprünglichen Dialoge des Stücks. Die subjektiven Erfahrungen werden dabei im Chor entpersonalisiert und unter dramaturgischen Gesichtspunkten montiert. In Medea sind es die Migrantinnen selbst, die auf der Bühne stehen, in Dresden ist es ein Bürgerchor, der sich im Laufe von insgesamt drei Projekten (Orestie, Die Weber, Woyzeck) gebildet hat. Entscheidend ist, dass das Material zwar von Laiendarstellern, die den thematisierten sozialen Milieus entstammen, präsentiert wird, die chorische Form jedoch jeden Anspruch auf unmittelbare Authentizität dementiert. Man könnte also sagen, dass dieses Prinzip stets den Widerspruch zwischen jener vermeintlichen Authentizität, die die individuellen Darsteller garantieren, und einer Darstellungsform, die deren persönliche Erzählungen im Chor anonymisiert, offenhält und austrägt.

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Ähnliches gilt allerdings auch meist für die individuelle Sprache der Einzelfiguren in diesen Projekten: Der zitathafte Charakter des Sprechens wird keineswegs verschleiert und tritt umso deutlicher hervor, je erkennbarer die diskursiven Bruchstücke zwischen den Originaltexten bleiben und sich mit diesen wechselseitig ergänzen. Indem dieses Sprechen auf seine diskursive Herkunft verweist und dabei manchmal geradezu schablonenhaft erscheint, dementiert es implizit ebenfalls den Gestus authentischer Figurenrede. Auf der literarischen Ebene ist das Resultat dementsprechend von großer Heterogenität, es sind Montagen unterschiedlicher Textsorten disparater Qualitäten, die nicht mehr oder kaum von einem einzelnen Autorenwillen durchformt sind und ihren zitathaften Kompilationscharakter nicht verbergen. Auf der Ebene der Darstellung aber entsteht die Kraft eines Kollektivs, das den formulierten Problemen biografisch verbunden ist und sie entsprechend zu beglaubigen vermag.

Der Besuch der alten Dame Der Prozess einer kollektiven Texterfindung war auch die Basis für die Arbeit an Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt am Düsseldorfer Schauspielhaus, eine Arbeit, die zwar ohne Chor auskommt, dafür aber die Schauspieler als Autorenkollektiv an der Neufassung des Stücks beteiligte. Das Stück ist ein gutes Beispiel für einen Text, dessen allgemein verbindliche Kapitalismuskritik mittlerweile jegliche Schärfe verloren hat und mit dessen Grundaussage sich jedermann ohne Schwierigkeit identifizieren wird. Dafür sorgt schon die durch die Gattung der Parabel bedingte und in der Wahl des Ortes hervorgehobene Allgemeingültigkeit: Güllen, so Dürrenmatt, ist eine Kleinstadt »irgendwo in Mitteleuropa« (Dürrenmatt 1998: 141), die Zeit, ganz lapidar, die »Gegenwart« (Dürrenmatt 1998: 12). Dabei steckt in der dramaturgischen Struktur des Stückes nach wie vor erhebliches polemisches Potenzial, vor allem im Hinblick auf die Frage nach der Definitionsmacht des Geldes über den Begriff und die Praxis von ›Gerechtigkeit‹ beziehungsweise auf das komplizierte Abhängigkeitsgefüge von Schuld und Schulden. Im Sinne der oben skizzierten Arbeitsweise galt es nun, Dürrenmatts Forderung nach Gegenwart wörtlich zu nehmen und das Stück dafür zunächst geografisch zu verorten. Für ein Stück über die Macht des Geldes erwies sich Düsseldorf als der geradezu klischeehaft adäquate Ort. Aus dieser Setzung ergaben sich Konsequenzen: Das Stück spielt im Original in einer verfallenden Kleinstadt mit verarmtem Gemeinwesen. Der Hand-

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lungsort aber sollte jetzt eine wohlhabende Großstadt sein. Damit stand auch die Grundvoraussetzung der Handlungslogik des Stückes, die Not und die Erpressbarkeit der Stadtbevölkerung ebenso wie die Charakterzeichnung und Konstellation der einzelnen Figuren zur Disposition. In Dürrenmatts Stück entfaltet das unmoralische Angebot der alten Dame, um den Preis des Todes eines Mitbürgers einer ganzen Stadt zu Wohlstand zu verhelfen, seine Wirkung vor dem Hintergrund einer verarmten (Nachkriegs-)Gesellschaft. Gegenwärtig liefern die allgegenwärtigen Verlustängste längst ein gesellschaftliches Panorama, das sich als Experimentierfeld für Claire Zachanassian ebenso tauglich erweist. Die Erhaltung des Wohlstands als ultimative Handlungsmaxime sorgt für ausreichende Erpressbarkeit und bietet einen wirksamen Ansatzpunkt für die Versuchsanordnung Dürrenmatts. Wir begannen uns mit dem Reichtum in Düsseldorf zu beschäftigen und stießen rasch auf das Thema Schulden: Düsseldorf ist zwar als Stadt schuldenfrei (und damit strukturell weit entfernt von Dürrenmatts imaginärem Güllen), aber die Quote der Privatverschuldung, das heißt die Quote der in Düsseldorf lebenden privaten Bankrotteure, liegt deutlich über dem Landes- und Bundesdurchschnitt. Recherchen führten uns zu Schuldnerberatungen, kleinen und großen Schuldnern, wir sammelten Geschichten über Menschen, die auf unterschiedliche Weise über ihre Verhältnisse leben, erfuhren von ihren Strategien damit zu leben, von den Augenblicken des Bankrotts und gewannen mehr und mehr Material für die Biografien der Figuren. Schließlich ließ sich die Setzung Dürrenmatts von der existenziellen Not seiner Stadtbewohner unter den Bedingungen der zeitgenössischen Schuldenfalle neu perspektivieren und als Kampf um den Statuserhalt des Einzelnen in einer wohlhabenden Gesellschaft weiterverfolgen. Das Motiv der verschuldeten Gesellschaft ist auch im zweiten Teil von Dürrenmatts Originaltext ein entscheidender Hebel, wenn sich die Güllener maßlos und mutwillig verschulden (indem sie unter anderem Vollmilch und Cognac kaufen) und damit selbst jenen Druck erzeugen, dem sie schließlich Alfred Ill opfern. Dementsprechend galt es einen für unsere Version adäquaten Verschuldungsprozess zu erfinden, der einen Fluchtpunkt für die mit dem Geld der Claire Zachanassian verbundenen Erlösungshoffnungen zu öffnen vermag. Wie oben im Abschnitt über Nora Mansmann ausgeführt, schlagen die gesellschaftlichen Zusammenhänge stets auf die Formierung und Deformierung der Körper zurück. Wenn bei Mansmann Körper als Gebilde erscheinen, in denen sich explizit soziale Strukturen manifestieren, lag es im Fall von Löschs Güllener Düsseldorfern nahe, den umgekehrten Weg

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Abbildung 7: Düsseldorfer Schauspielhaus, Der Besuch der alten Dame, Rainer Galke, Hans-Jochen Wagner, Urs Peter Halter, Claudia Hübbecker, Matthias Leja, Katharina Abt, Cathleen Baumann, Christoph Müller (Foto: Sebastian Hoppe)

Abbildung 8: Düsseldorfer Schauspielhaus, Der Besuch der alten Dame, Matthias Leja, Christoph Müller, Katharina Abt, Rainer Galke, Cathleen Baumann, Urs Peter Halter, Hans-Jochen Wagner (Foto: Sebastian Hoppe)

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einzuschlagen und den plastischen Chirurgen aufzusuchen: Denn die kosmetische Chirurgie suggeriert, Identitäten modellieren zu können, sie entzaubert den Mythos der ewigen Jugend und rückt ihn in die Sphäre ökonomischer Verfügbarkeit. Mit der Verfügbarkeit der Körper aber verbindet sich die Hoffnung auf Glück. Dergestalt erscheint am Horizont der kollektiven Erlösung die chirurgische Modellierung der Identität im Zeichen ewiger Jugend. Für die Inszenierung hieß das: Die maßgeblichen Güllener sind zu Beginn alle um die 60 und werden im Laufe des zweiten Akts immer jünger – außer Alfred Ill. Von diesen vor Probenbeginn vorgenommenen Setzungen – Großstadtbewohner, Privatbankrotteure, Patienten der plastischen Chirurgie – ausgehend, erweiterten wir nun das ursprüngliche Personal und erfanden neue Figuren hinzu (zum Beispiel Medienmanager und Kunstprofessor). Die Recherchen der Dramaturgie wurden gemeinsam mit den Schauspielern fortgesetzt. In Improvisationen mit den gesammelten und erfundenen Texten, häufig auf der Grundlage von Dürrenmatts Dialogen, dabei fast immer seinem dramaturgischen Gerüst folgend, entstand eine zeitgenössische Variation des Stücks. Dabei ist der zitathafte Charakter der Sprache manchmal offensichtlich, manchmal verbinden sich Zitat und Erfindung mit Dürrenmatts Original zu eigenwertigen Dialogpassagen. Immer offen bleibt so allerdings die Frage nach der Herkunft eines Wortes, eines Satzes. Das offensichtliche Verfahren der Textverfremdung macht es unmöglich, die einzelnen Äußerungen ausschließlich als gesicherte und psychologisch begründbare Figurenreden zu interpretieren. Ständig weisen diese Reden über sich hinaus und reflektieren ihr eigenes Zustandekommen. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang auch das ironische Spiel der Inszenierung mit fadenscheinigen Gesten der Publikumspartizipation: Die Schauspieler sitzen anfangs im Publikum, das Publikum wird zum Mitsingen aufgefordert. Der karnevalistische Vergnügungsgestus erzeugt eine größtmögliche Identifikation des Publikums. Am Schluss werden die Zuschauer zur Abstimmung über den Tod von Alfred Ill gebeten und auf perfide Weise für seine Ermordung mitverantwortlich gemacht: »Wer sitzen bleibt, ist dafür.« Der Gestus vermeintlicher Publikumspartizipation funktioniert auch hier reibungslos und reflektiert ziemlich genau ein zeitgenössisches kollektives Ohnmachtsgefühl. Das Spiel mit der Theaterkonvention macht auf eine Struktur aufmerksam, die so selbstverständlich und geläufig geworden ist, dass sie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt. Lösch operiert hier auf ähnliche Weise wie bei der Sprachbehandlung der Figuren: Indem er eine Konvention verwendet und sie zugleich ausstellt, wird deren »Verwen-

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dung zu einem expliziten Beispiel von Diskursivität [...], das eher reflektiert als für ein gesichertes Verfahren der Normalsprache gehalten werden sollte.« (Butler 2006: 158) An diesem Punkt berühren sich die poetischen Verfahren von Nora Mansmann und Volker Lösch fast explizit. Auch im Schlussbild ist dieses ›diskursive Spiel‹ wirksam: Die Hinrichtung von Alfred Ill ist als religiöses Opferritual inszeniert, das von den Güllenern in einem Chorsatz gerechtfertigt wird, der aus Versatzstücken der allgegenwärtigen Opferrhetorik in politischen und ökonomischen Diskursen besteht und so auf deren religiöse Dimension aufmerksam macht.

Fazit. »ist das nicht schön verschwinden und gleichzeitig eins sein mit allem« Nora Mansmann zeichnet mit den Mitteln der Groteske und der Ironie das Bild einer postideologischen Generation, die zum einen mit den Aufräumarbeiten der Mythen ihrer Vorgänger beschäftigt ist und zum anderen permanenten Verschiebungen innerhalb der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ausgesetzt ist, die weder überblickt noch gesteuert werden können. Wie im Schlusszitat von zwei brüder drei augen (Mansmann 2008: 47) werden in ihren Stücken die Konsequenzen der diskursanalytischen Annahme der Konstruktion von Subjekten, ihrer Identität und ihrer Körper mit Humor auf die Spitze getrieben. Nora Mansmann macht jedoch nicht nur auf die instabilen Grenzen einer intelligiblen Identität aufmerksam, indem sie eine solche Identität als Effekt permanenten Zitierens ausstellt. Durch die Methode des Ausstellens der Produktionsprozesse, die auf die intelligible Identität eines Subjekts abzielen, und der Normen, die eine solche intelligible Position bedingen, werden diese entsprechend dem Anliegen Judith Butlers6 als historisch 6

»Die ästhetische Umsetzung eines verletzenden Ausdrucks kann den Ausdruck sowohl verwenden als auch erwähnen, d.h. sie kann ihn gebrauchen, um bestimmte Wirkungen hervorzurufen, aber sich auch zugleich auf die Verwendung beziehen und damit die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es sich um ein Zitat handelt; und damit diese Verwendung in einer Zitattradition situieren, um die Verwendung zu einem expliziten Beispiel von Diskursivität zu machen, das eher reflektiert als für ein gesichertes Verfahren der Normalsprache gehalten werden sollte. Eine ästhetische Umsetzung kann außerdem das Wort verwenden, es aber zugleich ausstellen, auf es zeigen, als ein Beispiel des Arbiträren der Sprache darstellen, das benutzt wird, um bestimmte Effekte zu erzeugen. In diesem Sinne kommt die se89

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veränderbar erkannt. Die der Sprache konstitutiv verbundenen Eigenschaften der Iterabilität und der permanenten Bedeutungsverschiebung werden zum Ausgangspunkt einer möglichen Subversion der Machtverhältnisse. Der erste Schritt ist mit der Entschleierung der Normen als kontingent getan. Ohne verlässliche Subjektposition und definierbare Körpergrenzen, unfähig, die Innen- von der Außenwelt, das Ich vom Anderen zu unterscheiden, sind ihre Figuren untrennbar mit den permanenten Verschiebungen der in Diskursen präsenten Machtverhältnisse verbunden. Aus dieser Situation speisen sich einerseits der spezifische Humor der Texte und andererseits die Sehnsucht nach Bedeutung und Authentizität, die Mansmanns Figuren umtreibt und sie an einer fast schon romantischen Suche festhalten lässt: »aber wenn ich doch mal zu mir komme in so einer situation so einer umgebung oder atmosphäre wie hier gewissermaßen kontemplativ dann fallen mir sachen ein zum beispiel stelle ich mir manchmal vor dass alles sich verändert dass die langweile plötzlich weg ist und das leben irgendwas bedeutet oder so« (Mansmann 2008: 11).

Auch das Theater von Volker Lösch arbeitet mit den Mitteln der Groteske. Im Zentrum steht bei ihm der Gesellschaftskörper, der – auf vergleichbare Weise wie der Individualkörper in den Texten Mansmanns – Verwerfungen ausgesetzt ist, die er nicht zu überblicken vermag. Permanent ist er mit Grenzziehungen und Ausschlussverfahren befasst, deren diskursives Zustandekommen häufig verschleiert bleibt. In diesem Sinn kann man Volker Löschs Arbeiten als Versuche begreifen, diese Prozesse sichtbar zu machen: Durch die geografische und soziale Verortung des Personals, durch die Auseinandersetzung mit möglichst konkreten Segmenten der außertheatralischen ›Wirklichkeit‹, durch die offenkundige Montage von Diskursfragmenten und ihre groteske Zuspitzung werden gesellschaftliche Strukturen in ihrer Entstehung wahrnehmbar. Als solche können sie dann auch wieder zur Disposition gestellt werden.

mantische Leere des materialen Signifikanten in den Blick, als das leere Moment in der Sprache jedoch, das zum Ort einer semantisch überlaufenen Tradition und ihrer Wirkungen werden kann.« (Butler 2006: 158) 90

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Literatur Behrendt, Eva/Burckhardt, Barbara/Wille, Franz (2008): Die Rechten sind nicht nur die Anderen. In: Theater heute, H. 2, S. 11–19. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1976): Signatur Ereignis Kontext. In: Ders.: Randgänge der Philosophie. Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein, S. 124–155. Dürrenmatt, Friedrich (1998): Der Besuch der alten Dame. Zürich: Diogenes. Foucault, Michel (1978): Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere. Ein Gespräch mit Lucette Finas. In: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, S. 104–117. Foucault, Michel (2002): Die Wahrheit und die juristischen Formen. In: Defert, Daniel/Ewald, Francois (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 669– 792. Foucault, Michel (2003): Vorlesung vom 14. Januar 1976. In: Defert, Daniel/Ewald, Francois (Hg.): Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 231–250. Mansmann, Nora (2005): TERRORMUM. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Mansmann, Nora (2006): herr tod lädt nicht ein aber wir kommen trotzdem. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Mansmann, Nora (2008): zwei brüder drei augen. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Merck, Nikolaus/Pilz, Dirk (2005): Den Bogen spannen, bis die Sehne reißt. In: Theater der Zeit, H. 11, S. 16–19. Rischbieter, Henning (1968): Editorial. In: Theater heute, H. 9, S. 1. Schwiedrzik, Wolfgang/Stein, Peter (1968): Demokratie ist auch Aktion. In: Theater heute, H. 9, S. 2–3.

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DAS THEATER ALS BÖRSE, KAUFHAUS UND BORDELL. DAS FESTIVAL PALAST DER PROJEKTE FRANZISKA SCHÖSSLER

Ökonomie ist seit den 1990er Jahren ein nicht wegzudenkendes Sujet in deutschsprachigen Theatertexten und Inszenierungen. Waren es zunächst Top Dogs, arbeitslose Akademiker, Praktikanten und Dienstleistende, die die Texte bevölkerten (Schößler 2004: 288f.) (allerdings kaum Proletarier), so wird gegenwärtig in einer neuen Spielart das Theater selbst als Unternehmen wahrgenommen und seine ökonomischen Strukturen zum Gegenstand von Stücken und Performances. René Pollesch beispielsweise untersucht in seinen kollektiv erarbeiteten Stücken über die postfordistische Arbeitswelt auch die Theaterarbeit und profiliert die prekären Ausbeutungsverhältnisse, denen insbesondere Schauspielerinnen ausgeliefert sind. Diese Reflexion über die ökonomischen Bedingungen des Theaters lässt die Schnittstellen zwischen wirtschaftlichen Praktiken (die meist selbst ein theatralisches Potenzial besitzen) und Theater attraktiv werden, beispielsweise die Affinitäten des Theaters zur Börse, die zumindest der kollektiven Wahrnehmung nach auf Spiel, Spannung und Unterhaltung basiert, oder auch zum Kaufhaus, das (insbesondere zu seiner Entstehungszeit) Sensationen bietet und in architektonischer Hinsicht (zu denken wäre an die Schaufenster, Auslagen und Lichthöfe) theatral-visuell organisiert ist (Bowlby 1985; Lindemann 2008: 198) – Maximilian Harden ist um 1900 der Auffassung, die Warenhäuser führten das im Niedergang begriffene Theater fort (Lamberty 2000: 69). Darüber hinaus ließe sich von einer Nähe des Theaters zur Prostitution sprechen, denn der Kauf einer Eintrittskarte berechtigt zum voyeuristischen Blick auf exponierte Körper. Und profiliert werden könnte die Affinität zur Spekulation und zum Projekt, denn der Projektemacher gilt der Tradition nach (zum Beispiel bei Daniel Defoe) als Scharlatan und Genie, als korrupter Spieler und (künstlerischer) Phantast (Krajewski 2004).

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Umgekehrt interessiert sich die Ökonomie zunehmend für das Theater (Hohmann 2005): Betriebswirtschaft und Arbeitssoziologie untersuchen seit den 1990er Jahren das Theater als Teil der Creative Industries und als (vorbildliches) Paradigma projektförmiger Arbeitsorganisation, wie sie zum Beispiel Boltanski/Chiapello (2001; 2003) und Ulrich Bröckling (2007: 248) als prototypisch für den flexibilisierten Produktionskosmos der Gegenwart beschreiben. Das Projekt (und eine Theaterinszenierung ist ein solches) zeichnet sich durch zeitlich begrenztes Teamwork, personale Netzwerkbildung und Spekulationen mit der Zukunft aus, denn gemeinhin basiert es auf einem Plan (der auch die Geldgeber überzeugen muss). Die Arbeitssituation am Theater, die engagierte Subjekte verlangt und die fordistische Work-Life-Balance sprengt, setzt in gewissem Sinne den »autonomen Arbeitskraftunternehmer« voraus (Voß/Pongratz 1998), der im Sinne Michel Foucaults kreative Leistungen eigenständig-innengeleitet hervorbringt und seine gesamte Biografie auf die Perfektionierung von Kompetenzen ausrichtet, zudem durch permanente Selbstvermarktung seine employability wahrt. Die Identifikation des Arbeitnehmers mit dem Theater wird durch einen hoch besetzten Künstler- beziehungsweise Boheme-Diskurs gestützt, der die (rastlose) Tätigkeit im auratischen Glanz reiner Kunst erscheinen lässt. Setzen sich auch am Theater zunehmend prekäre sowie kontingente Arbeitsformen durch (gefördert durch die kurzzeitigen Verträge), so lassen sich die Konsequenzen der Flexibilisierung von Arbeit und der Vermarktung von Lebensstilen in diesem Sektor auf anschauliche Weise ablesen (Haunschild 2003; Eikhof/Haunschild 2004). Das Theater als spekulatives Projekt – diese Definition gilt insbesondere für die freie Szene, die sich in weitaus höherem Maße als das subventionierte Stadttheater um die ökonomische Deckung ihrer Ideen und Phantasien sorgen muss. Von dieser Diagnose nimmt das Festival Palast der Projekte. Zum Verhältnis von Theater und Ökonomie1, das das HAU vom 17. bis 30. April 2008 an drei Spielstätten veranstaltet, seinen Ausgang. Im begleitenden Programmflyer heißt es: »Das Besondere der Arbeit am HAU beziehungsweise generell in der freien Szene ist das Paral1

Der Titel verweist auf Ilya Kabakovs Installationen in der Essener Zeche Zollverein, die die utopische Dimension von Projekten in 64 Entwürfen fassbar zu machen versuchen; der wissenschaftliche Abend, der das Festival begleitet und zu dem einschlägige Theoretiker/innen wie Joseph Vogl, Urs Stäheli, Markus Krajewski, Rita Horn und andere eingeladen waren, präsentierte auch sein Projekt genauer. Diejenigen Studien zu Projektemachern, Hochstaplern und Börse, die das Festival auf diese Weise als seinen intellektuellen Kontext markiert, werden im Folgenden, zum Teil jedenfalls, die Lektüren der theatralen Aktionen leiten. 94

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leldenken von Ökonomie und Kunst. Fast jedes Projekt, das sich zunächst im Kopf entwickelt, wird relativ schnell an seiner Realisierbarkeit, sprich Finanzierbarkeit gemessen.« Die gezeigten Performances reflektieren diese Abhängigkeit und legen diverse Facetten einer theatralen Ökonomie sowie eines ökonomisch dependenten Theaters frei. Begleitet werden die Veranstaltungen von einem ›akademischen Diskussionsabend‹, der den theoretischen Rahmen des Festivals absteckt und die Referenzen, beispielsweise zu dem russischen Künstler und Utopisten Ilya Kabakov, entwickelt.2

Börse, Utopie und Theater als spekulative Operationen Die am HAU 1 gezeigte Performance Utopia Stock Exchange3 geht von einem gemeinsamen (historischen) Ursprung der Börsenspekulation und des utopischen Denkens aus, weil beide auf eine kontingente Zukunft (als Bedingung von Wertschöpfung und Veränderbarkeit) ausgerichtet sind. Der Wirtschaftsexperte Werner Sombart führt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Untersuchung Der Bourgeois aus,4 dass »die Entwicklung des Börsenspiels rein äußerlich dazu beigetragen [hat], daß andere Geisteskräfte, die stark am Aufbau des kapitalistischen Geistes beteiligt gewesen sind, überhaupt zur vollen Entfaltung haben kommen können. Ich meine die schon erwähnte Vorliebe zur Projektenmacherei, die gegen das Ende des 17. Jahrhunderts in ganz Europa verbreitet war und unmittelbaren Anlaß 2 3

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Die Analysen basieren auf einem einmaligen Besuch der Veranstaltungen. Idee/Gesamtleitung: Carolin Hochleichter und Jutta Wangemann. GameDesign/Programmierung: Sebastian Quack. Raum: Marc Bausback. Utopie-Stunts: Armin Chodzinski, Florian Feigl. Geräusche: Max Bauer. Broker/innen: Hanka Boldemann, Anne Kleiner, Veit Merkle, Vladimir Miller, Eva Plischke, Carrie Roseland, Christoph Scheurle, Tanja Thomsen, Frank Willens, André Winzer. Utopien: Ariane Andereggen, Christine Dissmann, Anne Makarov, Michael Arnold, Ingmar Redel, Geo Reisinger, Max Schumacher, Philipp Solymosi, Charlotte Wetzel, Anders Zettelmann. USE-TV: Timm Ringewaldt & Philipp Dreißig, Roman Leitner, Diana Näcke, Vadim Schäffler. Zornbörse und Zornbank Anlageberatung: Verena Busche, Andreas Liebmann, Lajos Talamonti. Filminstallation Representations of Future: Katya Sander. Seine Kapitalismusschriften nehmen das zeitgenössische antijüdische Wissen auf, um die Ursprünge der kapitalistischen Moderne zu erklären. Insbesondere die Börse, die um 1900 in hohem Maße verrufen ist, wird jüdischen Spekulanten zugeordnet. 95

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zur Begründung zahlreicher kapitalistischer Unternehmungen geboten hat. Diese Projektenmacherei [wie sie auch utopischen Entwürfen zugrunde liegt; Anm. v. Verf.] hätte aber nicht annähernd die Wirkung ausüben können, wenn sie nicht mit dem um dieselbe Zeit auftauchenden Börsenspiel zusammengekoppelt worden wäre« (Sombart 1913: 66).

Diese historische Allianz von Börse und Utopie legt die Performance am Hebbel-Theater frei, denn das Publikum spekuliert mit zehn Utopien, und zwar an einer Präsenzbörse, für die die Anwesenheit der Spekulanten Voraussetzung ist, nicht aber die »Präsenz der Waren« (hier der Utopien). Die begleitenden ›akademischen‹ Ausführungen des Abends unterstreichen, dass für die Börse die Abwesenheit der Waren regelrechte Bedingung sei, was nicht unwesentlich zum notorisch schlechten Ruf der Börse im ausgehenden 19. Jahrhundert, insbesondere nach dem Platzen der Spekulationsblase 1873, beigetragen hat.5 Der Börse sei, so unterstreicht Max Weber in seinem apologetischen Börsenbericht von 1894, das Kalkül mit noch nicht bestehenden Gütern eigen, sodass sie leicht in den Ruch des Phantastischen käme. In seiner Börsenschrift heißt es: »[A]n der Börse wird ein Geschäft geschlossen über eine nicht gegenwärtige, oft noch unterwegs befindliche, oft erst künftig zu produzierende Ware.« (Weber 1894: 140) Die Börse gilt deshalb als ein Ort reiner Abstraktion und selbstreferenzieller Geldfixierung, weil sich die Preise nicht an dem Materialwert der Waren orientieren, sondern durch ständig fluktuierende Angebote und Nachfragen ermittelt werden. Die Börse interessiert sich nicht für die monetären Referenzen (die Waren), sondern Geld wird »zum reinen Medium ohne eigenen Wert und ohne Repräsentationsfunktion« (Stäheli 2007: 66). Diese Abstraktion, wie sie die harsche Börsenkritik im 19. Jahrhundert profiliert, betonen die informativen Beiträge der Performance, und der Abend simuliert die Absenz von Waren, denn die ›Erfinder‹ der Utopien sind auf die Galerie verbannt und dürfen das ›Parkett‹ erst nach ›Börsenschluss‹ betreten. Dass die Börse von Inhalten abstrahiert und den reinen Gewinn, die Zahl in den Vordergrund treten lässt, versucht die Performance Utopia Stock Exchange über den Wechsel unterschiedlicher Formate erfahrbar zu machen. Dazu gehören die ökonomischen Spekulationen des Publikums, wissenschaftliche Ausführungen über die Börse – der Abend stei5

Max Weber spricht in seiner Börsenschrift, die dem schlechten Leumund der Aktiengeschäfte zu begegnen versucht, von dem verbreiteten Vorurteil, dass das Institut der Börse »seiner Natur nach eine Art Verschwörerklub zu Lug und Betrug auf Kosten des redlich arbeitenden Volkes darstellen müsse und deshalb am besten irgendwie vernichtet würde und – vor allem – auch vernichtet werden könne« (Weber 1894: 135). 96

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gert durchaus die Kompetenz potenzieller Kleinanleger – und die Präsentation der Utopien, die zum Teil an bekannte Gesellschaftsentwürfe anschließen, zum Teil eher pragmatischer oder auch burlesker Natur sind und als kollektive Gemeinschaftserfahrung umgesetzt werden. Dieser Wechsel von Information, Entspannung und Spekulation (als Thrill) profiliert die Diskrepanz zwischen abstraktem Geldspiel und utopischen Inhalten, das heißt den völligen Verlust von Engagement durch die Reduktion auf die Zahl und den Gewinn. Tatsächlich erfasst das Publikum während der theatralen Simulation der Börsenaktivitäten ein regelrechtes Spekulationsfieber: Nach und nach glaubt man, die Regeln zu durchschauen, treibt die Kurse durch Kartellbildung in die Höhe (weil dadurch der Wert der eigenen Aktien steigt), beobachtet auf den Bildschirmen die Kursentwicklungen und wird spürbar von Spekulationsgier umgetrieben. Als in der dritten Phase auf Anweisung der Spielleiter ein Crash inszeniert werden soll, zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass der Gewinn eine wesentlich höhere Attraktivität besitzt als der Verlust. Auf die Aussage vertrauend, dass das erspielte Geld nach Ende der Veranstaltung ausbezahlt wird, verzichtet das Publikum fast völlig auf ›destruktive‹ Transaktionen oder kauft raffinierterweise zu Dumpingpreisen. Die Performance Utopia Stock Exchange markiert neben der Geldgier der Teilnehmer auch die geschlechtliche Codierung des Aktiengeschäfts, wenn gleich zu Beginn sämtliche Mitspieler/innen in einem initiatorischen Akt Krawatten als Embleme der männlichen Macht anlegen. Tatsächlich wird der Börsianer, historisch betrachtet, mit Vorliebe als Homo Oeconomicus, als klar rechnender Rationalist konzipiert, während das Unkalkulierbare, ja ›Hysterische‹ der Börse weiblich chiffriert und von Allegorien wie Lady Credit – eine Figur Daniel Defoes – und Cynthia Speculation verkörpert wird (vgl. Stäheli 2007: 268f.). Das ›Irrationale‹ der Börse entspricht mithin dem weiblichen Geschlechtscharakter, während der männlich-rationale Spekulant den Verführungen des kontingenten Marktes durch ebenso geplant-kontrollierte wie kompetente Operationen zu widerstehen vermag. Die »Konzeption der Spekulation als Ort des Weiblichen macht den Spekulanten zum Mann«, der gleichwohl der permanenten Hysterie an der Börse ausgesetzt bleibt (Stäheli 2007: 274). Stäheli führt aus, dass diese Institution Frauen deshalb lange Zeit unzugänglich war, weil sie die chaotischen Aktionen wild spekulierender, entnervter Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs nicht beobachten sollten. Die Performance am HAU 1 markiert den Börsenplatz diesem traditionsreichen Gender-Code entsprechend als männlich, macht die vormals exklusive Position jedoch auch dem weiblichen Publikum zugänglich.

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Der Abend verfolgt insgesamt ein didaktisches Ziel, das jedoch verfehlt wird, allerdings in seinem Misslingen aussagekräftig ist – erklärtes Ziel der künstlerischen Projekte auf diesem Festival ist schließlich das Scheitern. Der Gewinn der spekulativen Operationen soll, so die Anweisung der Spielleiter zum Schluss des Abends, den ›Erfindern‹ der Utopien zugute kommen, und zwar denjenigen, auf die man gesetzt habe, sodass die Arbitrarität der Spekulation, das Verschwinden der Inhalte in der Zahl, rückgängig gemacht beziehungsweise rückwirkend eine inhaltliche Motivation des Aktienkaufs unterstellt wird. Die Performance versucht mithin, die Abstraktion der Börse im Namen des konkreten Projekts aufzuheben. Allerdings sind Utopien auch immer schon in dem Sinne abstrakt (und damit börsenähnlich), dass es sich um Spekulationen mit der Zukunft handelt. Insofern wird während der Performance mit Spekulationen spekuliert und die Zukunftsorientierung der Börse potenziert, die hier in zweierlei Gestalt erscheint: als Utopie, der an einer Verbesserung des menschlichen Schicksals gelegen ist, und als Aktiengeschäft, das aus Temporalität Wert schöpft. Darüber hinaus rufen die Performer zu einem (moralisch anmutenden) Verzicht auf den Gewinn auf, doch die Zahl derjenigen, die ihr Geld den Utopisten ›opfern‹, ist eher gering. Im Angesicht der spielerisch ›erwirtschafteten‹ Summe siegen die (allerdings spürbar gewordene) Besitzlust und der Wunsch, das Geld für eigene Bedürfnisse zu verausgaben.6 Utopia Stock Exchange begegnet also der abstrakten ökonomischen Operation mit einer Erziehung zu (utopischen) Inhalten, lässt gleichwohl die Lust an der Spekulation spürbar werden und legt das theatrale Potenzial der Börse frei, denn auch diese Institution scheint Spannung sowie Unterhaltung zu produzieren und gleicht bereits in architektonischer Hinsicht einem theatral-spektakulären Raum: »Die Börsenarchitektur führt jedem, der sie betritt, dieses theatrale Dispositiv vor. Von der Galerie kann das Geschehen auf dem Parkett beobachtet werden. Es ist dieser Blick von der Galerie, der in zahlreichen Börsenbeschreibungen auftaucht und den ersten Kontakt eines Novizen mit dem Börsengeschehen be-

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Das Theater weist sich durch seine Spielanleitung als Institution aus, die ihre Eintrittsgelder aufs Spiel setzt und sich so dem omnipräsenten Gesetz des Gewinns nicht zu unterwerfen scheint. Allerdings verschafft sich der Abend durch den spektakulären Akt des Verzichts, durch den Verstoß gegen das ökonomische Kalkül – der Theaterboden ist mit glitzernden EinCent-Stücken wie mit Sterntalern übersät – Aufmerksamkeit, eine ebenfalls valide Währung in der zeitgenössischen Mediengesellschaft. Auch Verschwendung kann gewinnbringend sein. 98

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schreibt. Vom Balkon der Weizenbörse in Chicago kann das ›great world drama of wheat‹ beobachtet und genossen werden« (Stäheli 2007: 113),

wie es beispielsweise der amerikanische Naturalist Frank Norris in The Pit schildert. Die Performance Utopia Stock Exchange macht diese Theatralität (unter anderem die analoge Konstruktion der Räume) erfahrbar und nutzt das Spannungsprinzip der Spekulation für den Theaterabend. Gleichwohl versucht sie, der Abstraktion, sprich: der Faszination der reinen Zahl durch den Hinweis auf eine ›andere‹ Form der Spekulation, auf die Utopie, entgegenzuwirken und schreibt das negative Bild der Börse als Ort der Kontingenz, der Abstraktion und des skrupellosen Spiels fort. Utopia Stock Exchange bedient sich also des theatralen Potenzials der Börse und versucht ihr kritisch zu begegnen.

Der Thrill der Börse und des Theaters Das Gegenwartstheater kann im Sinne des aufklärerischen bürgerlichen Programms Bildungsanstalt sein, wenn es beispielsweise darum geht, nebulöse und angsterzeugende Wirtschaftspraktiken zu durchleuchten und die Zuschauer zu Experten zu machen, das heißt ein Elitewissen zu popularisieren. Der Videokünstler Chris Kondek, der zunächst bei der Wooster Group, dann mit Laurie Anderson arbeitete und zunehmend auf deutschen Bühnen zu sehen ist, widmet sich bereits in seinem interaktiven Börsenlehrstück Dead Cat Bounce, 2004 mit dem 3sat-Theaterpreis ausgezeichnet, dem Wertpapierhandel. In der Performance Loan Sharks,7 die er auf dem Festival Palast der Projekte zeigt, beschäftigt sich Kondek mit dem globalen Netzwerk des Schuldenmarktes und der Börse, um sein Publikum zu instruieren. Die Veranstaltung oszilliert zwischen Vortrag und Demonstration einerseits – Flugblätter erklären zentrale Mechanismen der Börse und der Kreditkrise – und Partizipation, Rock-Konzert sowie Videoabend andererseits. Die Performance beginnt mit Ausschnitten aus dem 1953 gedrehten amerikanischen Film Loan Sharks, der die Machenschaften eines kriminellen Kreditvereins in einer kleinen Stadt schildert. Ausgehend von dem historischen Material unternehmen die Performer eine Reise in die Gegenwart und versuchen, die intrikaten Zusammenhänge der gegenwärtigen Finanzkrise transparent zu machen, indem der Zuschauer selbst zum Akteur wird. Diese Mitspieldramaturgie – 7

Regie: Chris Kondek. Mitarbeit: Philipp Hochleichter. Komposition: Hannes Strobl, Hanno Leichtmann. Mit: Lars Rudolph, Thomas Wodianka, Chris Kondek, Philipp Hochleichter, Hannes Strobl (Bass), Hanno Leichtmann (Drums). 99

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die Teilnehmer spekulieren mit Dividenden, setzen also auf die Differenz zwischen Währungen und wetten, ob der Euro steigt oder fällt – vermittelt vornehmlich die Erfahrung, dass die Börse mit Zeit, genauer: mit kleinsten Intervallen arbeitet und die minimalen Einsätze durch Kredite, die die Banken (damals noch freigiebig) zur Verfügung stellen, exponentiell vergrößert werden können.8 Der Zuschauer als potenzieller Kleinanleger wird zum Spekulanten – die Performer betonen, dass gegenwärtig 90 % der Börsenaktivität spekulativ sei – und soll gleichzeitig mit Wissen sowie Kritikfähigkeit ausgestattet werden, denn man versucht ihm Begriffe wie »Asset-Backed Security« oder »Collateralized Debt Obligation« näherzubringen. Auch diese Performance steht damit wie Utopia Stock Exchange in einem ambigen Verhältnis zu ihrem Gegenstand: Der theatrale Akt vermittelt zum einen Fachwissen und will den Zuschauer mit Kompetenzen ausstatten – ein Anspruch, den die Kritiken unisono für gescheitert erklären.9 Zum anderen bedient sich die Dramaturgie des Abends der kritisierten ökonomischen Praktiken, um über ihre Popularisierung theatrales Material für den Aufbau, die Zeitstruktur und die Szenen der Performance zu gewinnen, die beispielsweise die ›Ratio‹ des Geldes in phantasmatisch-megalomanische Wortkulissen überführen: Lars Rudolph evoziert eine poetisch-visionäre Wortkulisse, die von begleitenden Drums rhythmisiert wird. Der Abend erinnert mit seinen Wechseln von medialen Präsentationsformen und eingeschobenen Songs (zum Beispiel über Inflation und Deflation) an die Verfremdungsästhetik Brechts und sein Programm des eingreifenden Denkens. Zugleich jedoch profitiert die Performance von einer spezifischen Qualität der Börse, die dieser gemeinhin zugeschrieben wird: vom Thrill, wie ihn insbesondere Wettspiele garantieren. »Für den Spieler ist die Kontingenz Selbstzweck, für ihn ist die Chance ›final‹ und ein aufregendes Mittel, sich zu amüsieren« (Stäheli 2007: 69). Die Zuschauer spekulieren mit echtem Geld (wenn auch mit kleinen Beträgen), und die Spannung, die die für Laien unkalkulierbare Börsenkurve produziert, trägt den gesamten Abend, verbindet die diversen Formate und wird gegen Ende ganz offensichtlich zum theatralen Leitprinzip: Auf der Leinwand tickt eine Uhr, die Aktionen beschleunigen sich und die Musik kulminiert in einem rasenden Trommelwirbel. Die Spannung, die der Börsenspekulation genuin zu sein 8 9

Dieses Verfahren nennt sich »Leverage« (Hebel-Wirkung), wie ein Flugblatt und die Spielleiter erklären. Jan Oberländer hält fest: »Vor allem aber wird nicht klar, was der Abend eigentlich will. Die amerikanische Hypothekenkrise erklärt er jedenfalls nicht, auch wenn er es versucht.« Oberländer wünscht sich eine »sauber didaktische Powerpoint-Präsentation«, die jedoch nicht halb so unterhaltsam gewesen wäre (Oberländer 2008). 100

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scheint, wird zum Unterhaltungsprinzip des Theaters und damit der kritische Anspruch in gewissem Sinne konterkariert. Oder anders formuliert: Kritik beschwört notgedrungen auch die Faszination ihres Gegenstands. Auch die Performance Loan Sharks schreibt die traditionsreiche Abwertung der Börse fort, die insbesondere um 1900 als »Raub am Volkseigentum« (so Karl Lueger; vgl. dazu Baltzarek 1973: 103) und skrupelloses Spiel stigmatisiert wird, weil sie scheinbar aus Nichts Geld schöpft – ganz ähnlich formuliert es ein Sprecher in Loan Sharks. Die verbreitete und auch hier propagierte Auffassung, die Börse sei einzig und allein ein kontingentes Spiel, potenziert die Nähe zwischen Wirtschaftspraxis und Theater, denn beides scheint auf Spannung und Unterhaltung zu setzen. Gleichwohl macht Loan Sharks auch die Differenz der Institutionen erfahrbar, denn der Versuch, das Publikum mit kritischer Kompetenz auszustatten, vermittelt den nachhaltigen Eindruck, dass es sich bei Finanzoperationen um hoch intrikate Prozeduren handelt, um ein ganz eigenes Sprachspiel, das für Laien kaum durchschaubar ist. Der Börsianer bedarf des Fachwissens, der Kompetenz und der Erfahrung, um in seinem Geschäft erfolgreich zu sein, und dieses Know-how erschließt sich dem Publikum trotz pädagogischer Hilfeleistung nicht. Loan Sharks erzählt also mittelbar von einer komplexen Wirtschaftspraxis, die sich kaum popularisieren lässt.

Die Imagination des Kunden und des Zuschauers Die Gruppe Far a Day Cage aus Zürich, die die Performance NothingCompany10 präsentiert, führt die Aporien eines politischen Theaters vor, das sich unweigerlich ökonomischen Gesetzen ausgeliefert sieht, weil es sein Engagement als Kapital und Reklame nutzen muss. Selbst die Ansprüche auf Authentizität, die das Theater erhebt, sind – so verdeutlichen die intermedial präsentierten Reflexionen – immer schon von der Werbung eingeholt. Das politische Engagement hat sich längst zur Werbesprache transformiert und erweist sich entsprechend als taugliche Strategie, um für die Finanzierung von Projekten zu werben. Die Performance Nothing-Company überlagert die Institutionen Firma und Theater, um beispielsweise im Bereich sozialer Interaktionen parallele Strukturen kenntlich zu machen. Scheint es zunächst um die 10 Regie: Thomas Schweigen. Bühne: Stephan Weber. Musik: Thomas Luz. Audiokommentar: Laura de Weck. Web- und Mediendesign: Ger Ger. Mit: Philippe Graff, Vera von Gunten, Silvester von Hösslin, Jesse Inman, Andrea Schmid, Stephan Weber. 101

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Simulation von Firmenpraktiken zu gehen – nachgespielt werden Pressekonferenzen, die Begrüßung neuer Mitarbeiter et cetera –, so codiert der sich permanent einschaltende Audiokommentar die Figuren und Ereignisse als Theater, das als gruppendynamischer Prozess ähnlichen Prinzipien folgt wie wirtschaftliche Betriebsformen. Bereits das Bühnenbild – aus schwächlichen Cartonagen bestehend – deutet die Firma als ephemeres, flexibilisiertes Produkt an, als (spekulatives) Luftschloss, das ›tatsächlich‹ allein in seinen Internet-Auftritten existiert. Die (virtuelle) Firma entsteht performativ durch ihre Werbetrailer, die im Internet hochgeladen werden können und die globale Reichweite gegenwärtiger Werbestrategien simulieren. Entsprechend ist in dieser Etüde über Imagination und das phantasmatische Moment von Verkaufspraktiken das Unternehmen darauf spezialisiert – so führt der Spielleiter aus –, Nichts zu verkaufen, das heißt genauer: diejenigen Träume und Sehnsüchte, die Waren gemeinhin aufrufen. »Diese Firma [...] ist ein Platzhalter, ein Kommentar auch darauf, wie immer weniger auf konkrete Produkteigenschaften und immer mehr auf die Aura eines Produkts, auf das durch es vermittelte Lebensgefühl gesetzt wird.« (Oberländer 2008) Diese phantasmatische Dimension von Waren, die bekanntlich allem voran Lebensstile verheißen, produzieren unter anderem die Verpackungen, auf die sich die imaginäre Firma zunächst spezialisiert hatte – diese Werbestrategie entdeckt die Reklame im ausgehenden 19. Jahrhundert: »Je netter, je hübscher, je ansprechender die Verpackung, desto mehr empfiehlt sich die Waare«. Oder: »Wie die Leute nach den Kleidern, so werden die Waren häufig nach ihrer Emballage beurteilt; man schließt von der Äußerlichkeit auf den inneren Wert«, so heißt es in nationalökonomischen Schriften der Zeit (Lamberty 2000: 48). Der Sprecher von Nothing-Company hält jedoch fest, dass man selbst auf die Verpackungen verzichten wolle und zum reinen Nichts übergehe, das letztlich die Firma überflüssig mache. Dieses völlige Verschwinden, auf das die Performance auch auf ihrer Darstellungsebene zuläuft, verweist in ironischer Manier auf das unhintergehbare imaginative Moment, das dem Tauschwert inhärent ist. Werbung setzt auf die Phantasie der Käufer, beschwört artifizielle Paradiese und scheint dem dialektischen Gesetz zu folgen, dass je minorer das materielle Produkt ist, desto umfassender die Phantasiearbeit. Soziologische Studien haben entsprechend nachgewiesen, dass sich Luxusgüter nicht durch ihre materielle Qualität auszeichnen, sondern dass allein ein (binär organisierter) Luxusdiskurs den Geschmack von Objekten herstellt und Wunschwelten generiert (Diaz-Bone/Hahn 2008). Um diese Bedeutung der Imagination für den Erwerb und Genuss von Waren wusste im Übrigen bereits Goethe, der in seinem Altersdrama Faust II die phantasmatischen Kräfte des gierigen

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Publikums und der potenziellen Käufer ausstellt.11 Verkauft die NothingCompany ihrem negatorischen Namen gemäß also Nichts, so legt sie die imaginativen Operationen frei, die dem Geschäft mit Sehnsüchten und in gewissem Sinne auch dem Theater zugrunde liegen. Denn auch der Zuschauer einer Theaterveranstaltung ist ein phantasierender, der die Simulation der Wirklichkeit – so jedenfalls die Konvention der Illusionsbühne – für Wirklichkeit hält, die Zeichen aus Pappmaschee für reale Objekte. Das Bühnenbild von Nothing-Company allerdings stellt die flüchtige Materialität der Szene aus und unterläuft auf diese Weise den imaginativen Ergänzungsakt der Zuschauer als Bedingung von Illusion. Käufer wie Theaterbesucher (die ebenfalls Käufer sind) agieren in der modernen Kunst- und Konsumwelt als Phantasierende, die diejenigen (codierten) Wunschwelten herstellen, die sie ersehnen und erleben wollen. In Polleschs Stück Sex. Nach Mae West sind es entsprechend die scheinbar individualisierten Wünsche und Begehrlichkeiten, die das Subjekt der Konsumwelt ausliefern. Der Abend läuft konsequent auf das (theatrale) Nichts zu (als strukturelle Bedingung der imaginativen Wunscharbeit): Der episch übermittelten Firmengeschichte nach verwandelt sich die Institution von einer kapitalistischen Ausbeuterfirma zu einer NGO, dann zu einer Keimzelle des terroristisch-revolutionären Umsturzes, der in die völlige Abwesenheit von (theatralen) Repräsentationen einmündet. Das Bühnengeschehen wird zu ›Nichts‹ und kommt nahezu vollständig zum Erliegen. In Dunkel getaucht verharren die stummen Schauspieler zunächst unbeweglich, um sich dann durch die Labyrinthe aus zerstörten Kartons zu quälen – erreicht ist das Ende der Bildwelten im Theater wie in der Ökonomie, das gleichwohl die Imagination der Zuschauer auf besondere Weise herausfordert und die Phantasiearbeit kulminieren lässt. Ausgerechnet der Versuch, die (Schein-)Bilder der schönen Warenwelt und des Theaters zum

11 Der Knabe Lenker zaubert Reichtümer, ähnlich wie Mephistoteles das Papiergeld, aus dem Nichts, greift sie, ein Sprichwort umsetzend, buchstäblich aus der Luft und bedient das Publikum mit falschen Luxusgütern, mit dem ›Nichts‹ ihres Tauschwerts: »Hier seht mich nur ein Schnippchen schlagen, / Schon glänzt’s und glitzert’s um den Wagen. / Da springt eine Perlenschnur hervor (Immerfort umherschnippend) / Nehmt goldne Spange für Hals und Ohr; / Auch Kamm und Krönchen ohne Fehl, / In Ringen köstlichstes Juwel« (Goethe 1888: I, 5582–5587). Doch das Erlangte (der Gebrauchswert) ist nicht das Erwünschte; in der Hand verwandeln sich die gleißenden Güter in garstige Käfer. Die Vorführung lässt offenkundig werden, dass die Warenangebote mit dem Schein locken, den die Phantasie potenziert: »Wie doch der Schelm so viel verheißt, / Und nur verleiht was golden gleißt!« (Goethe 1888: I, 5604–5605). 103

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Verschwinden zu bringen, weil diese unweigerlich Produktions- und Verkaufszusammenhänge bedienen, provoziert die phantasmatische Aktivität des Zuschauers und in besonderem Maße die des Käufers. Insofern vermag auch ein politisch-engagiertes Theater, das sich dem Nichts verschreibt, um der Falle der Vereinnahmung (durch Bilder) zu entgehen, den ökonomischen Kontext und das heißt das verführerische Spiel mit verwertbaren Wunschwelten nicht zu transgredieren.

Das Theater als Kaufhaus und der Einbruch des Anderen Die Performance von Showcase Beat Le Mot – einer Gruppe, die ähnlich wie Rimini Protokoll die Bedingungen des bürgerlichen Repräsentationstheaters durchkreuzt (Dreysse/Malzacher 2007) – stellt in Vote Zombie Andy Beuyz eine buchstäbliche Grenze zwischen zivilisatorisch-industrieller Warenwelt und rituell-tribaler Sphäre her, die als Gespenst, Poltergeist, Zombi und Ereignis in die systematisierte Warenlandschaft einbricht. Die Versuchsanordnung spürt den Möglichkeiten nach, wie Andersheit inmitten eines Korsetts aus Waren wahrnehmbar wird und vermittelt die Erfahrung, dass die (scheinbar) separierten Rollen des Eigenen und Fremden, hier die topologischen Positionen von Innen und Außen austauschbar sind: Das Tribale mischt sich zunehmend mit dem Zivilisatorischen und infiziert die Zuschauer, die sich schließlich selbst in Gespenster, in Bewohner einer anderen Welt verwandeln. Das Publikum nimmt in einem riesigen Käfig, in einem Kasten aus Etageren Platz, die mit geordnetem Warenplunder versehen sind, mit in Reih und Glied stehenden Wägelchen für tägliche Einkäufe, mit Schwimmringen, sorgfältig gestapelten Brotbergen, mit Tujenreihen, die an die Gartenzäune bürgerlicher Wohnparzellen und an Friedhöfe erinnern, sowie mit den obligaten Boxen und Ordnungsvorrichtungen einer hortenden Vernunft. Der Zuschauer befindet sich in einem Raum, der, einem Kaufhaus vergleichbar, das tägliche Leben, allgemeiner gesprochen: die zivilisatorische Ordnung metonymisch repräsentiert und das theatrale Ereignis zu verhindern scheint. Denn die Waren verstellen ostentativ den Blick auf die ›Außenwelt‹, auf das geheimnisvolle Fremde, das nach und nach akustisch in die Warenlandschaft einbricht und doch unsichtbar bleibt – hinter dem Sichtschutz werden Tänze aufgeführt, die das Programmheft als (nicht identifizierbaren) Oriská-Kult ausweist. Allerdings ist der ›Warenkäfig‹ an einigen Stellen durchbrochen: Über einer Herdanlage mit Kochtöpfen befindet sich eine größere Plexiglasscheibe, die die rhythmisch-tänzerischen Bewegungen der Performer auf

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fragmentarische Weise sichtbar werden lässt. Der Sehsinn als Perzeptionsmedium der Distanz, auf den das Theater der Tradition nach festgelegt ist (Leeker 2001), wird also nahezu völlig ausgeschaltet und durch diesen Entzug thematisiert, zudem in einem fingierten Gespräch zwischen ›Andy‹ und ›Beuys‹ diskutiert.12 Das ›Andere‹, das sich vor den Wänden (Europas) und jenseits des Kaufhauses als Symbol der westlichen Welt abspielt, erscheint dem ›Zuschauer‹ signifikanterweise als Gespenst und Tücke des Objekts, die den leblosen Waren Erlebnisqualität verschafft. Die Gegenstände beleben sich und entziehen sich zunehmend als unheimliche der Kontrolle. Es klopft, Kästen fallen, die Pflanzen werden mit Wasser besprüht, sodass dichter Nebel entsteht; die mit Wasser gefüllten Töpfe beginnen zu kochen und Brot fällt den Zuschauern buchstäblich in den Schoß. Ähnlich wie in Steven Spielbergs Horrorfilmen Poltergeist verlebendigen sich die Waren und aktivieren so die Teilnehmer, die sich im Sinne von Joseph Beuys zur sozialen Skulptur formieren, ja zu Performern eines Rituals werden, das im Innenraum der westlich markierten Sphäre stattfindet. Stellt in manchen tribalen Gesellschaften das Nähren von Toten einen wesentlichen Bestandteil des Kultes dar, so bewegen sich die essenden und trinkenden Teilnehmer zum Schluss der Performance im Bereich des Tribalen, das in den Innenraum diffundiert. Die Grenze zwischen Leben und Tod, Innen und Außen verflüchtigt sich, wie auch das rezitierte Gedicht Weltinnenraum von Rainer Maria Rilke nahelegt. Umgekehrt tritt das ›Andere‹ zunehmend in Erscheinung: Die Performer tanzen, farbenprächtig kostümiert, vor dem Sichtfenster und die ekstatische Musik, die den Innenraum umkreist, verwandelt sich in deutsche Volksmusik – auch in akustischer Hinsicht fallen die getrennten Sphären zusammen. Die Teilnehmer, zunächst Repräsentanten der westlichen Waren- und Theaterwelt, werden also zunehmend in den tribalen Raum integriert, das westliche Theater an Riten angeschlossen, wie sie beispielsweise der Ethnograf Victor Turner und der Performer Richard Schechner theatral umzusetzen versuchten. Die Versuchsanordnung von Showcase Beat Le Mot lässt sich entsprechend auf Turners Liminalitätskonzept beziehen: Der Ritus zitiert, deformiert und rearrangiert Elemente der vertrauten Welt, um so die Konstitutionsbedingungen einer Gemeinschaft erfahrbar zu machen (Schößler 2007). Das simulierte Warenhaus aus der Performance Vote Zombie Andy Beuyz verwandelt sich demgemäß in einen li12 Wie sehr das europäische Theater auf den Blick fixiert ist, bestätigt sich, wenn einzelne Teilnehmer die Unsichtbarkeit nicht ertragen und den Außenraum betreten, um das ›Eigentliche‹ zu Gesicht zu bekommen (das damit freilich verschwindet). 105

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minalen Raum und fusioniert das Tribal-Rituelle mit dem Zivilisatorischen. Die westliche Avantgarde-Kunst, für die Andy Warhol und Joseph Beuys stehen, bereitet diese Übergänge vor, denn sie reflektiert die grundsätzliche Artifizialität von Grenzziehungen, auch beispielsweise der Grenze zwischen Waren und Müll: Das eine verwandelt sich notgedrungen in das andere, das Subjekt in das Abject (um mit Kristeva zu sprechen) und umgekehrt. Die Performance lässt also das Ausgrenzende der Warenwelt erfahrbar werden, die hier buchstäblich als Sichtschirm fungiert und so auf eine unausgesprochene Prämisse des westlichen Repräsentationstheaters verweist: auf die Optik. In dieser ›zivilisatorischen‹ Welt erscheinen Fremde als Poltergeister, als Störungen, die den toten Objekten einer hortenden Vernunft ihre sinnliche Erlebnisqualität zurückerstatten und die Zuschauer aus ihrer Passivität in den theatralen Ritus überführen. Das simulierte Kaufhaus ermöglicht damit partizipative, genussreiche Akte (wie Essen und Trinken).

Schauspiel als Prostitution Der Zuschauer erwirbt mit der Theaterkarte den Anspruch auf ein Spektakel, auf ein Erlebnis, wie es auch die Waren im Kaufhaus verheißen. »In dem Moment, in dem ich als Zuschauer eine Karte kaufe, werde ich ein Teil dieses Systems. Ich vollziehe zum einen eine Geste des ökonomischen Tauschs, die besagt: Erfahrungen kann man kaufen. Zum anderen überschreite ich mit dem Ticket die symbolische Grenze zwischen Alltags- und Kunstwelt« (Gronau/Wangemann 2008). Das ökonomische Tauschverhältnis zwischen Publikum und Schauspielern thematisiert die slowenische Gruppe Via.negativa13 in ihrem Zyklus über die sieben Todsünden, genauer: in der Performance Incasso (2004), die von (Geld-)Gier handelt. Der Abend beginnt mit einer Umkehrung des Tauschprozesses, denn der Käufer des Tickets erhält sein Geld zurück, um es den Performern als Spieleinsatz zu übergeben. Das sonst weitgehend dissimulierte Tauschverhältnis – Spiel gegen Geld – wird auf diese Weise sichtbar, zumal die Performer vor ihrer jeweiligen Präsentation Geld aus der Kasse entnehmen, vom Zuschauer also unmittelbar bezahlt werden. Damit rücken ihre körperlichen Aktionen unweigerlich in die Nähe der Prostitution. Incasso reflektiert diesen (verborgenen) Aspekt der Theaterarbeit, der bis weit in das 20. Jahrhundert hinein im Phantasma der erotischen 13 Konzept und Regie: Bojan Jablanovec. Mit: Matel Recer, Kristijan Al Droubi, Petra Govc, Jaka Lah, Sanela Milosecic, Maja Server, Katarina Stegnar, Spela Trost, Grega Zorc. Die Gruppe war mit derselben Produktion 2005 bei der Biennale in Venedig zu sehen. 106

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Schauspielerin kulminiert (Möhrmann 2000), indem die Performer gleich zur Eröffnung strippen und so das erotische Sehverlangen übererfüllen. Eine Performerin thematisiert darüber hinaus die impliziten Erwartungen der Zuschauer, zum Beispiel die unausgesprochene Überzeugung, mit dem Einsatz von Geld einen Anspruch auf authentisches Spiel erworben zu haben, das das Innere nach außen kehrt und das voyeuristische Begehren befriedigt: »Good evening. Let’s look at the staging situation. You bought a ticket. You entered the theatre, you were seated and the show begins, has begun, is beginning from the beginning; I am here and you are there. I’m selling something and you are buying something. I have something you wish to see.«14 Die Performer machen also die dissimulierte erotisch-ökonomi-sche Blickkonstellation im Theater explizit und wenden den Objektstatus des sich ›prostituierenden‹ Spielers auf den beschämt-nachdenklichen Zuschauer zurück. Dieses strukturelle Zusammenspiel von Blick, Eros und Geld wird allem voran dadurch evident, dass die Performer ihren Lohn sichtbar in Empfang nehmen, einen Lohn allerdings, der sich durch die Aktionen permanent verwandelt. Denn das Geld wird ›entwertet‹, beschmutzt, in Körperöffnungen gesteckt, zerrissen und mit Blut beschmiert. Das abstrakte Papiergeld kommt mit dem agierenden, leidenden Körper in Berührung und wird auf diese Weise materialisiert beziehungsweise umgewertet, und zwar sowohl ab- als auch aufgewertet. Das Geld transformiert sich zu bloßem, verhunztem Papier (das den Akteur gleichwohl zum Dienstboten degradiert), durch diese Abwertung jedoch zur Kunst und steigert damit möglicherweise seinen Wert. Die Performer bieten dem Publikum einen Fünf-Euro-Schein, mit dem Blut einer Performerin besprenkelt, in einem kostbaren Schrein deponiert und signiert, für 100 Euro als Kunstwerk an, sodass sich die theatrale Situation einer Auktion annähert und zum Schluss in eine Verkaufssituation übergeht: Die bearbeiteten Geldscheine, die deutliche Spuren der Aktionen tragen und insofern als memoratives Medium fungieren, werden in Folien verpackt, beschriftet, signiert und zusammen mit einem Souvenir, einer Fotografie, die das einmalige Theatererlebnis fixiert, zum Verkauf angeboten. Aus Geld wird Kunst wird Geld, wobei die Performance die unlösbare Frage aufwirft, wieviel ein beschmutzter, befleckter, zerknitterter Geldschein wert ist, der den theatralen Transformationsprozess durchlaufen hat. Ein Zehn-EuroSchein, den der Zuschauer für 20 Euro als Memorialobjekt und Kunstwerk erwirbt, ist der mehr wert als zuvor oder weniger? Der Schein hat sich in ein Kunstwerk verwandelt, dessen Preis nun vom volatilen Markt abhängig ist. Kunst hat also offensichtlich die Fähigkeit, den Wert des Geldes zu verändern, und sie (re-)materialisiert den abstrakten Geldwert, 14 So heißt es im Flyer zur Veranstaltung. 107

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um die Gier der Zuschauer zu testen. Die Performance stellt eine enge Verbindung zwischen Körper und Geld her, also in gewissem Sinne zwischen der Aura, ja der Heiligkeit des abstrakten Mediums (Baecker 2003) und dem Abject, dem Ekel, der das Geld in seiner Materialität erscheinen lässt und zum Maßstab für die Gier des Zuschauers wird: Würde er mit einem schmutzigen, in Urin getauchten Geldschein handeln? Würde er ihn berühren? Incasso lässt mithin die verborgenen Prämissen des Geldes und des Theaters sichtbar werden: Jenes ist trotz seiner Abstraktion materiell und wird im täglichen Verkehr (wie ihn die biografischen Erzählungen der Performance evozieren und die Aktionen realisieren) durch Berührungen, durch Hände und Körper ›infiziert‹, sodass dem sakrosankten Schein unweigerlich Körperliches anhaftet, das nicht nur im künstlerischen Kontext Werte modifizieren kann. Darüber hinaus erscheint das Theater als Tauschgeschäft, das wie das Kaufhaus käufliche Erlebnisse anbietet, und dazu gehört auch die (erotisierte) Blickkonstellation.

Der Zuschauer als Spekulant und der Kredit des Theaters Das Theater kann, insbesondere wenn es zu Unfällen kommt, die Unentscheidbarkeit von Spiel und Realität verhandeln. Der Konvention nach folgt das Präsentierte einem Skript und das scheinbar authentische Erschrecken des Schauspielers über plötzlich eintretende Ereignisse ist eingeübt. Das theatrale Geschehen basiert zumindest im bürgerlichen Repräsentationstheater auf der Prämisse, gespielt und geplant zu sein, und auf diese ästhetische Setzung vertraut der Zuschauer. Das heißt, das Theater verlangt in gewissem Sinne Kredit (Hörisch 1996), hier den Glauben des Publikums an die Artifizialität des Geschehens.15 Eine besondere (reflexive) Rolle spielt der Unfall deshalb, weil er die Grenze zwischen Spiel und Realität in den Blick rückt und die Zuschauer (in metaphorischem Sinne) zu Spekulanten werden lässt, die die drängende Frage umtreibt: Was ist Realität, was ist Fiktion? Diesen Effekt des Unfalls macht sich die Choreografin Cuqui Jerez aus Madrid in ihrer

15 Eine Untersuchung über die Entstehung des Kreditwesens eröffnet mit folgender Definition: Kredit wird als »Oberbegriff für alle Geschäfte verstanden, bei denen im Sinne der lateinischen Bedeutungswurzel (lat.: credere = vertrauen, glauben) im ›Vertrauen‹ auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Person Geld oder ein geldwerter Vorteil für oder an diese Personen verauslagt« (Möller 2001: 1). 108

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Performance The Real Fiction zunutze,16 die die Glaubwürdigkeit der eigenen Botschaft sowie die Gutgläubigkeit der Zuschauer in dem intermedialen Feld zwischen Theater und Film testet. Zwei Schauspielerinnen beginnen auf einer weißen Bühne mit Stellmarkierungen diverse Objekte zu arrangieren, die mithilfe einer Kamera aufgezeichnet, jedoch nicht gleichzeitig sichtbar werden. Die präzise ausgeführten Aktionen wecken die Erwartung, dass Bilder für eine filmische Produktion zusammengestellt werden, die die Differenz zwischen Herstellungsakt und medialem Produkt thematisiert wie in der früheren Performance A Space Odyssey (2002). Plötzlich jedoch ereignet sich ein Unfall: Die Kamera scheint nicht aufgezeichnet zu haben. Es kommt zu flüsternden Gesprächen, zu konspirativen Versammlungen von Regisseurin und Techniker, bis das Publikum informiert wird, man müsse von vorne beginnen. Dieser Unfall produziert beim Zuschauer unweigerlich die Frage, ob es sich um Inszenierung oder Realität handle. Allerdings wiederholt die Performance diese Irritation mehrfach, sodass sie als Plan durchschaubar wird – zentrales ästhetisches Prinzip ist hier die Wiederholung, die auch die Differenz zwischen reproduktiven Medien und Theater sinnfällig macht. Denn nach der Repetition findet genau dasselbe Gespräch zwischen Regisseurin und Publikum noch einmal statt; selbst die gleiche (jetzt unwahrscheinliche) Uhrzeit wird genannt. Die Performance nutzt also paradoxerweise die (theatrale) Simulation reproduktiver Medien und ihrer Möglichkeiten (wie Wiederholung, Umkehr, Zeitlupe), um das Inszenatorische der theatralen Szene, des Unfalls, kenntlich zu machen.17 The Real Fiction reizt sämtliche Möglichkeiten aus, um den Zuschauer in den Zustand des Zweifels und der ›Spekulation‹ zu versetzen. 16 Konzept und Regie: Cuqui Jerez, in Zusammenarbeit mit Maria Jerez, Amaia Urra, Gilles Gentner. Spiel: Maria Jerez, Amaia Urra. Techniker: Gilles Gentner. Produktion: Cuqui Jerez. 17 Die Wiederholungen konterkarieren eine zentrale Erwartung des modernen Zuschauers: seine Sucht nach dem Einzigartigen. Er will den Thrill des Neuen, nicht die Repetition (auf der auch die Probenarbeit basiert) – einige Zuschauer verlassen vermutlich deshalb den Theaterraum. Die Wiederholungen legen zudem einen zentralen Aspekt der Schauspielerarbeit frei: die Auslieferung an die Maschinerie des Theaters, die nicht eben selten zu bizarren Aktionen zwingt. Die Handlungen auf der Bühne entpuppen sich während der Performance zunehmend als arbiträr, als sinnlose Arrangements, die die Performerinnen gleichwohl mit großer Akribie ausführen. Im Verlauf der Performance häufen sich die Tücken der Objekte auf Kosten der leiblichen Gesundheit; die Darstellerinnen werden beschmutzt, fallen, verletzen sich (scheinbar) und sind mechanische Erfüllungsgehilfen einer sinnlosen Szenerie, die einem despotischen Geist (der Regie) entsprungen scheint. 109

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Wiederholt treten ›Extras‹, also Akteure aus dem Publikum auf, die entweder einen augenscheinlich abgesprochenen Text sprechen (und betonen, dass sie keine Statisten seien) oder aber spontan reagieren. Nach und nach entsteht der Eindruck, das gesamte Publikum sei in das Spiel eingeweiht (nur man selbst nicht), so dass die Grenze zwischen Zuschauer und Akteuren verschwimmt. Dieses Spiel mit (geplanter) Kontingenz produziert den permanenten Zweifel, ob man den theatralen Botschaften Glauben schenken kann. Glauben/Zweifel verlangt beispielsweise der Hinweis der Veranstalter, die Performance müsse wegen einer anderen Präsentation abgebrochen werden. Der Schluss von The Real Fiction wird deshalb im Erzählstil gerafft rekapituliert, wobei die angekündigten Aktionen die Grenze der Wahrscheinlichkeit weit überschreiten – es ist von einem Hubschrauber, einem Erdbeben und einem unaufhörlichen Regen die Rede. Um diese ›Verheißungen‹ zu beglaubigen, erscheinen Akteure unter der Bühne, auf dem Schnürboden und vor der Tür; der mündliche Bericht der Regisseurin arbeitet mit Nachweisen, mit bodies of evidence, und fordert mit großer Insistenz (trotz offenkundiger Unwahrscheinlichkeit) den Glauben, den Kredit des Zuschauers ein. Auf diese Weise wird die grundlegende Haltung, auf der ein Theaterabend gemeinhin basiert, erfahrbar: Das Publikum muss die ästhetisch-organisatorischen Prämissen akzeptieren, den dezisionistischen Setzungen der Regie Glauben schenken und wird dann zum Spekulanten, wenn das Theater die Konventionen durchbricht. Ohne über Ökonomie zu sprechen, legt die Performance eine Parallele zwischen Theater und Wirtschaft frei, dass nämlich Geldoperationen und Kunst auf Glauben basieren, wie die Forschung verschiedentlich betont hat: »Die sozialen Funktionen von Geld und poetischen Fiktionen basieren beide auf einem stillschweigenden Konsens über die Realitätsmächtigkeit ihrer Fiktionen. Ohne Glaube kein Geld und keine Dichtung: Beide sind Formen eines sozialen Kontrakts über die Geltung von Repräsentationen« (Lauer 1994: 8; vgl. auch Blaschke 2001). Und Zuschauer ähneln Spekulanten darin, dass das Publikum (in einem irrationalen Akt) auf das angekündigte ultimative (nicht realisierbare) Theaterspektakel vertraut und es zumindest in seiner Phantasie umsetzt. Auch der Spekulant hofft (wider besseren Wissens) auf phantastische Ergebnisse, auf riesige Vermögen und das Gigantische, wie die zahlreichen Romane über Börsianer, die ›lyrischen Geldpoeten‹ der modernen Zeit, verdeutlichen.18 Börsianer, so jedenfalls

18 Auf den Spuren Mephistos, der mit vergrabenen Reichtümern spekuliert und auf die Phantasie der Geldgierigen zählt, erklärt Saccard, die Hauptfigur aus Zolas Börsenroman L’Argent: »Begreifen Sie doch, in solchen Kreditfragen muß man immer auf die Phantasie einwirken. Die geniale 110

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will es die kollektive Phantasie, und Zuschauer sind mit einem unerschöpflichen Möglichkeitssinn ausgestattet, der das Unwahrscheinliche (den Reichtum sowie den theatralen Exzess) zumindest imaginativ wahr werden lässt. Zuschauer wie Theatermacher sind mithin Spekulanten in einem metaphorischen und einem buchstäblichen Sinne: Der eine spekuliert über die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, über die Wahrheit des Geschehens und der Informationen, der andere auf die Gelder für ein geplantes Projekt. Darüber hinaus liefert, so machen die Veranstaltungen des Festivals kenntlich, ein Theaterabend käufliche Erlebnisse ähnlich wie Kaufhäuser und selbst Börsen. Das Theater basiert (auch wenn das subventionierte Stadttheatersystem den pekuniären Aspekt reduziert) auf einem ökonomischen Tauschgeschäft, das den Kontakt zwischen Performern und Zuschauern unweigerlich zu einem erotisch-voyeuristischen transformiert und den Akteur auf der Bühne zum Objekt eines (ökonomisch provozierten) spekularen Begehrens werden lässt. Die Auseinandersetzung mit ökonomischen Sujets auf der Bühne lässt mithin die Ausbeutungs- und Tauschverhältnisse am Theater zumindest in Ansätzen sichtbar werden: Mit der Börse hat das Theater das Prinzip der Spannung und Unterhaltung gemein, mit dem Kaufhaus und dem Bordell die Käuflichkeit von (zuweilen erotischen) Erlebnissen, mit dem Projektemacher das Kalkül mit einer unsicheren Zukunft, also die Zukunftsorientierung, sowie die kurzzeitigen Arbeitskontexte. Die Abende profitieren von dem theatralen Moment, das den ökonomischen Institutionen wie der Börse inhärent ist und markieren die Theatralität der simulierten Wirtschaftstransaktionen. Die Spannung, die Wetten und Geldspiele gemeinhin produzieren – das Festival schreibt die kollektive Einschätzung der Börse als Ort notorischer Spieler fort –, sowie das Spiel mit Zeit, auf dem die Börse aufgrund der Temporalisierung von Werten basiert, werden zum dramaturgischen Prinzip und sorgen für Amüsement. Allerdings profilieren die Performances auch die Grenzen dieser Aneignung, also die Differenz der Felder, wenn der erklärte Anspruch, den Laien zum kompetenten Börsianer zu machen und Elitewissen zu popularisieren, notgedrungen scheitert. Betonen die akademischen Diskussionen auf dem Festival, zumindest der Ankündigung nach, dass sich Theater und Ökonomie über das Misslingen unterscheiden lassen, so unterstreicht jedoch ausgerechnet das Scheitern die Koinzidenz von Theater und spekulativer Ökonomie: All diejenigen, die mit der Zukunft als wertschöpfender Instanz arbeiten, Idee besteht darin, den Leuten aus der Tasche Geld zu nehmen, welches nicht darin ist« (Zola 1995: 157). 111

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sind in hohem Maße mit Kontingenz und Risiko konfrontiert, betreiben also ein Geschäft, das aufgrund des Zeitfaktors per se vom Scheitern bedroht ist (Krajewski 2004), und dazu gehören Börsianer wie Theaterleute.

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ÄSTHETIK ALLES

MUSS

ÖKONOMISCHEN. R A U S ! U N D L I V I N G ROOMS DES

VON

LUNATIKS PRODUKTION

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Dieser Text, der sich mit Auswirkungen ökonomischer Entwicklungen auf die gegenwärtige freie Theaterszene in Deutschland auseinandersetzt, stellt einen methodischen Spagat dar. Ich möchte darin in erster Linie aus wissenschaftlicher Sicht sowohl inhaltliche und formalästhetische als auch organisatorische Konsequenzen aufzeigen, tue dies aber zugleich aus der internen Perspektive eines Mitglieds der freien Theater- und Performancegruppe lunatiks produktion, und zwar anhand zweier unserer Produktionen, die ich in mehrfacher Hinsicht für repräsentativ für dieses Thema halte. Da ich mir als Gegenstand somit Inszenierungen gewählt habe, an deren Entstehung ich selbst direkt beteiligt war, setze ich mich natürlich dem Verdacht der schamlosen Eigenwerbung aus, der vielleicht auch nicht ganz unberechtigt ist und dem ich an dieser Stelle lediglich mit dem vorwegnehmenden Hinweis darauf begegnen kann, dass es in Zeiten der Dominanz wirtschaftlicher Prinzipien für Theatermacher manchmal unerlässlich ist, auch in puncto Marketing neue Wege einzuschlagen. Zunächst möchte ich ein paar Worte zur personellen Zusammensetzung und zur Arbeitsweise von lunatiks produktion vorwegschicken. Bei lunatiks produktion handelt es sich um ein Kollektiv von Berliner Regisseuren, Dramaturgen und Produktionsleitern sowie Bühnenbildnern, bildenden Künstlern, Musikern und Kulturwissenschaftlern, das seit 2002 in unterschiedlichen Team-Formationen Theaterstücke, Performances und Installationen entwickelt und gemeinsam mit wechselnden Koproduktionspartnern realisiert. Zu diesen gehören beispielsweise die Sophiensaele und das Hebbel am Ufer in Berlin, das Staatstheater Stuttgart, das Nationaltheater Mannheim und gegenwärtig das Theater Vorpommern Greifswald und das Junge Theater Bremen. Ebenso wenig wie es eine feste Spielstätte gibt, gibt es ein festes Ensemble. Schauspieler werden, sofern

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ihr Mitwirken an einer Produktion notwendig ist, stets nur projektbezogen engagiert. Bei den performativen Arbeiten von lunatiks produktion handelt es sich grundsätzlich um Stückentwicklungen. Die den Produktionen zugrunde liegenden Texte werden also nicht von einem einzelnen Autor am Schreibtisch entworfen und dann auf die Bühne gebracht, sondern entstehen – ähnlich wie bei anderen zeitgenössischen freien Theatergruppen wie beispielsweise lubricat1 – auf der Grundlage von kollektiv recherchiertem Ausgangsmaterial und in enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Darstellern erst während des Probenprozesses.2 Dabei ähnelt die Vorgehensweise einem wissenschaftlichen Experiment, genauer gesagt: einem Experiment der Angewandten Wissenschaft, an dessen Anfang zunächst nichts als ein grundsätzlich für interessant oder symptomatisch befundener Stoff steht. Das kann ein einzelnes Schlagwort sein, wie der Begriff des ›Restpostens‹ im Fall des Projekts Alles muß raus!, einer der beiden Produktionen, auf die ich gleich ausführlicher zu sprechen kommen werde; es kann ein aktuelles gesellschaftliches Phänomen wie ›Homeshopping‹ oder ›SPAM-Mails‹ sein; es kann sich aber auch um ein historisches Ereignis handeln, wie beispielsweise die Barschel-Affäre oder die Entführung eines DDR-Flugzeugs nach West-Berlin im Jahr 1978.3 Diese Stoffe, man könnte sagen Rohstoffe, werden dann mittels Recherchen und Archivarbeit sowie durch Gespräche mit Beteiligten und/oder Experten auf ihr dramatisches Potenzial hin untersucht, um in einem zweiten Schritt eine geeignete Präsentationsform, die Spielregeln und die Gestalt der Aufführung zu entwickeln. Manchmal wird diese Reihenfolge aber auch umgekehrt, und es steht eine Spielidee oder ein besonderer Aufführungsort am Anfang des Entwicklungsprozesses, während eine thematisch passende Erzählung erst noch gefunden werden muss. Das war bei der Produktion livingROOMS der Fall, bei der zunächst nichts weiter feststand, als dass sie bei eBay versteigert und dann in den Privatwohnungen der Auktionsgewinner zur Aufführung kommen sollte. 1

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Die 1989 gegründete und seit 1992 in Berlin beheimatete Schauspielformation lubricat ist Mitbegründer der Sophiensaele und seit 2003 auch vermehrt im Rahmen internationaler Kooperationsprojekte tätig. Die auf diese Weise zustande kommenden Stücktexte werden seit 2006 vom Verlag Autorenagentur vertreten. Bei den beiden letztgenannten Beispielen handelt es sich um Geschehnisse, die natürlich journalistisch und literarisch bereits zuhauf aufgearbeitet wurden, uns aber trotzdem noch nicht aus allen Perspektiven ausreichend beleuchtet zu sein schienen. 116

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Nicht zwangsläufig führt diese experimentelle Arbeitsweise jedoch dazu, dass auch deren Ergebnisse einen experimentellen Charakter aufweisen. Viele gegenwärtige Gruppen beziehen ihren Reiz und berechtigten Erfolg vor allem aus den formalästhetischen Besonderheiten ihrer Produktionen. Das aus dem Studiengang der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen hervorgegangene Performance-Kollektiv She She Pop ist vor allem für seinen interaktiven und integrativen Umgang mit dem Publikum bekannt. Die Mitglieder der Gruppe Geheimagentur4 verwischen in ihren Projekten regelmäßig die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst und thematisieren, durch ihre Vorliebe für kongressartige Präsentationsformen, zugleich den performativen Charakter akademischer Veranstaltungsformate – ähnlich wie sich auch die Regisseure von Rimini Protokoll durch den Einsatz ihrer »Experten des Alltags« (Dreysse/Malzacher 2007) stets irgendwo auf der Schwelle zwischen Wissensvermittlung und theatralem Event bewegen. Im Vergleich zu Inszenierungen dieser Gruppen sind die Arbeiten von lunatiks produktion, wenngleich sie oftmals durchaus ähnliche Züge tragen, bewusst ergebnisoffener angelegt, und dementsprechend sind auch die beiden Inszenierungen, die ich im Folgenden präsentieren möchte, formal recht unterschiedlich. Bei der Ersten handelt es sich um den von uns so betitelten ›Schauspieler-Schlussverkauf‹ Alles muß raus!, der im Januar 2004 in Berlin Premiere hatte. Den Ausgangspunkt dieser Stückentwicklung hatte ein Gespräch zwischen lunatiks-Regisseur Tobias Rausch und drei Absolventinnen der Bayerischen Theaterakademie München gebildet, in dessen Verlauf die Schauspielerinnen, da es ihnen nicht gelungen war, beim Intendantenvorsprechen ein Engagement in einem festen Ensemble zu ergattern, sich selbst als ›Restposten‹ ihres Jahrgangs bezeichnet hatten. Dieses Schlagwort bildete die Keimzelle für ein gemeinsames Projekt, welches, ausgehend von den Biografien der jungen Frauen,5 das in den Medien zu diesem Zeitpunkt äußerst populäre Thema einer angeblich grassierenden ›Quarterlife Crisis‹ aufgreifen sollte. Darunter wurde die emotionale Situation junger Berufseinsteiger verstanden, die, nachdem sie ihre gesamte Jugend- und Ausbildungszeit wohlbehütet und in luxuriöser Sicherheit verbracht hatten, nun plötzlich mit der harten Realität einer lediglich an Ressourcenausbeutung und Humankapital interessierten Arbeitswelt konfrontiert werden und – sollten sie den Einstieg überhaupt 4 5

Zu der seit 2002 aktiven Gruppe Geheimagentur zählen unter anderem die Kulturwissenschaftler Kai van Eikels und Sybille Peters. Da es im Verlauf der Recherchephase noch einmal zu einer Umbesetzung kam, waren unsere ursprünglichen ›Studienobjekte‹ bei der Premiere dann allerdings nur noch teilweise mit den Darstellerinnen identisch. 117

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schaffen – oftmals an deren Ansprüchen scheitern (vgl. Robbins/Wilner 2003; Adam 2003). Auch der Pop-Literat Florian Illies hatte dieser, vor allem als ›Generation Praktikum‹ bekannt gewordenen Gruppe mit dem Roman Generation Golf zwei (2003), der im Wesentlichen eine komplette Rücknahme seines naiv-optimistischen Vorgängers darstellt, gerade ein Denkmal gesetzt und darin Erfahrungen geschildert, die sich mit denen unserer Schauspielerinnen in der Tat über weite Strecken zu decken schienen. Eine weitere, sich nahezu aufdrängende Referenz für Alles muß raus! stellte die seinerzeit ebenfalls von den Feuilletons forcierte Diskussion um die »Geiz-ist-geil«-Kampagne der Elektrohandelskette Saturn dar, die mit dem Aufkommen des Gegenslogans ihres Konkurrenten Media Markt »Wir können nur billig!« noch verstärkt wurde. Mit eben diesem Motto nämlich können sich gegenwärtig nicht wenige freie Theatergruppen durchaus identifizieren – wenngleich sie vielleicht auch hinzufügen würden: »Wir würden aber auch gerne mal teurer!« – und so wurde beschlossen, die eigene finanzielle Situation in Form eines selbstreferenziellen Theaterabends zu inszenieren, der zugleich als ironischer Kommentar auf die mutmaßliche ›Geiz-Geilheit‹ der Deutschen zu lesen sein sollte.6 Im Ergebnis lief das darauf hinaus, dass Alles muß raus! mit drei verschiedenen Erzählebenen arbeitete. Den Haupterzählstrang bildete eine zugegebenermaßen etwas ›billige‹ Geschichte um drei Schwestern, die – nachdem zwei von ihnen, wie sich nach und nach herausstellt, beim Versuch, außerhalb ihrer Heimatstadt berufliche Karriere zu machen, gescheitert sind – nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters wieder in ihrem Elternhaus zusammentreffen. Dort werden sie mit einem ›psychologischen Restposten‹ ihrer gemeinsamen Vergangenheit konfrontiert, als beim Ausräumen der Schubladen eine verschollen geglaubte Anrufbeantworterkassette wieder auftaucht, von der die Schwestern wissen, dass sie die Information enthält, welche von ihnen nicht die leibliche Tochter des Vaters ist. Diese Erzählung wurde jedoch immer wieder durch sogenannte ›Preisalarm-Szenen‹ unterbrochen, in denen verschiedene ›Restposten des Theaterbetriebs‹ ins Rampenlicht gezerrt wurden. Es tauchten 6

Dafür, dass es sich bei dem Saturn-Slogan weniger um ein Stimmungsbarometer für das gegenwärtig vorherrschende Konsumentenbewusstsein handelt, sondern vielmehr um eine auf eine spezielle Zielgruppe zugeschnittene Werbestrategie, spricht unter anderem, dass parallel auch eine Kampagne unter dem Motto »Die Marke – was anderes kommt mir nicht in die Tüte« ihren Siegeszug antrat, die um eine Konsumentengruppe warb, die sich mittlerweile unter der Bezeichnung ›Lohas‹ (Lifestyle of Health and Sustainability) zu einer regelrechten Gegenbewegung zur ›Geiz-istgeil‹-Mentalität entwickelt hat (vgl. dazu Busse 2006; Kronsbein 2005). 118

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darin Requisiten auf, die in früheren lunatiks-Produktionen keine Verwendung gefunden hatten, teilweise aber auch ganze Dialoge, die in eigenen oder fremden Stücken (angeblich) gestrichen worden waren und die nun, begleitet durch Musik, die ebenfalls ursprünglich für andere Inszenierungen komponiert worden, dann aber doch nicht zum Einsatz gekommen war, von den Darstellerinnen als preiswerte Ladenhüter und notwendige Lückenfüller verkauft wurden. Ein kurzes Zitat aus dem Textbuch: »STELLA: Was haben wir denn jetzt? BARBARA: Zwei Zeilen Shakespeare. Der Sturm. Aus dem BE. ›Fünf Faden tief liegt Vater dein: Sein Gebein wird zu Korallen; …‹ Passt doch, von wegen toter Vater. STELLA: Wie teuer? BARBARA: Siebzehn Euro pro Vers. Also zusammen vierunddreißig Euro. STELLA: Das ist aber günstig für Shakespeare. BARBARA: Hat ja auch Leander Haußmann inszeniert. Wenn’s Peymann gemacht hätte, wär’s teuerer geworden. STELLA: Dazu hätten wir dann dieses Requisit. Das könnten doch die Korallen sein. BARBARA: Woher kommt das denn? STELLA: Das Stück hieß ›MANGA!‹ Also japanische Comics. Und in einer Szene geht’s darum, wie die Hauptfigur beim Duschen entdeckt, dass ihr irgendwas aus dem Bauchnabel wächst. BARBARA: Ein Bonsaibäumchen? STELLA: Naja, das haben wir kostenlos gekriegt.«

Die Übergänge zwischen der Haupthandlung und den ›PreisalarmSzenen‹ bildeten somit die dritte Ebene des Stücks, auf der die Schauspielerinnen, außerhalb ihrer eigentlichen Rollen, scheinbar als sie selbst agierten und beispielsweise in einem wirren Dialog ihre Unkenntnis über die Theorie des Mehrwerts zur Schau stellten, oder aber, wie in der oben zitierten Szene, sozusagen als ›Experten des Theateralltags‹ auftraten und unter Verweis auf die prekäre finanzielle Lage des Gegenwartstheaters jenseits von Starregisseur-Gagen das eigene Inszenierungskonzept rechtfertigten und den Ausverkauf theatraler Restposten inklusive ihrer eigenen Person als pragmatischen Ausweg aus der Misere anpriesen. Zusätzlich gesteigert wurde diese Form der Selbstreferenzialität durch den Aufführungsort. Nachdem zunächst geplant gewesen war, das Stück in einem leeren Supermarkt oder Warenlager zu realisieren, hatte sich schließlich der Berliner Theaterdiscounter7 als Spielstätte angeboten. 7

Der 2003 von einem Zusammenschluss mehrerer Regisseure und Schauspieler gegründete Theaterdiscounter ist eine freie Spiel- und Produktions119

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Denn dessen Konzept besteht unter anderem darin, in direkter Reaktion auf die Zunahme ökonomischer Zwänge innerhalb der freien Theaterproduktion die Spielplangestaltung möglichst flexibel zu handhaben und finanzielle Risiken dadurch zu minimieren, dass dort häufig die Nachfrage darüber entscheidet, wie lange das Angebot besteht. Zum Premierenzeitpunkt liefen hier außerdem gerade die sogenannten ›Rabattwochen‹, während derer der Eintrittspreis sinkt, wenn die Zuschauer bereit sind, gleich für mehrere Produktionen Karten zu erstehen. Dieser institutionelle Rahmen bot uns die Möglichkeit, das anwesende Publikum auch auf seinen persönlichen Geiz anzusprechen und darauf hinzuweisen, dass man zu solchen Schnäppchen-Preisen eben auch kein vollständiges Stück erwarten dürfe. Dass auch die Programmhefte von Alles muß raus! sämtlich aus Restposten vergangener Inszenierungen an diversen Berliner Theatern bestanden, in denen lediglich die Besetzungslisten durch die eigene überklebt worden waren, versteht sich vor dem Hintergrund des bisher Gesagten von selbst. Wurde das Themenfeld ökonomischer Verwertungszusammenhänge bei Alles muß raus! dennoch in erster Linie auf inhaltlicher Ebene verhandelt, so verfolgte die lunatiks-Produktion livingROOMS – Das Zuhausetheater von vornherein ein anderes Ziel, indem sie sich vor allem formal dem zeitgemäßen Konsumverhalten anzupassen suchte. Im Zentrum stand hier das Phänomen ›Homeshopping‹, das sich mit dem ›Geizist-geil‹-Phänomen insofern überschneidet, als dass der beliebteste Internet-Marktplatz für Schnäppchenjäger in der Auktionsplattform eBay besteht. Darüber hinaus kommt hier aber noch eine weitere Dimension des Ökonomischen zum Tragen: das möglichst effektive Zeitmanagement. Dass die Ökonomisierung des modernen Lebens- und Arbeitsalltags mit dessen stetiger Beschleunigung eng einhergeht, und dass dies auch Auswirkungen auf künstlerische Produktionsprozesse einschließlich der entsprechenden kulturellen Institutionen hat, war noch kürzlich das zentrale Thema auf der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft im Hamburger Thalia Theater, die sich diesmal ganz dem Thema ›Zeit‹ verschrieben hatte (vgl. dramaturgie 2008). Speziell während der Abschlussdiskussion wurden hier zahlreiche Klagen darüber laut, wie sehr die Subventionsstreichungen und der damit verbundene massive Stellenabbau der letzten Jahre einerseits sowie der vermehrte Einsatz moderner Kommunikationsmedien andererseits die Arbeitsbedingungen an deutschen Bühnen verändert und zu einem permanenten Beschleunigungsstätte, die sich durch einen hohen Anteil an Eigenproduktionen auszeichnet und sich insbesondere um die Entwicklung neuer Theaterformate verdient gemacht hat. 120

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druck geführt habe, wodurch den Dramaturgen heute kaum noch Zeit zum Lesen neuer Stücktexte oder zum Ausarbeiten neuer Ideen bleibe. Darüber, dass speziell das Internet dem Dramaturgen heutzutage auch die Möglichkeit bietet, jede Menge Zeit einzusparen – indem er beispielsweise für kleinere Recherchen keine langen Wege zu Bibliotheken mehr auf sich nehmen muss, sondern diese in Minutenschnelle am Computer erledigen kann –, wurde indes kein Wort verloren. Ein weiterer großer Teil der in Hamburg geführten Debatten widmete sich der von dem Soziologen Hartmut Rosa (Rosa 2007) aufgestellten These vom Theater als einer »Entschleunigungsoase«8 und damit nicht zuletzt auch der Frage, wie es in Zeiten schrumpfender Zuschauerzahlen sowie in Konkurrenz zum Fernsehen und zum Heimkino gelingen könne, Menschen, die immer weniger Freizeit und Geld zur Verfügung haben, dazu zu bewegen, von eben dieser Oase auch wieder vermehrt Gebrauch zu machen. Der Lösungsvorschlag, den lunatiks produktion mit livingROOMS bereits im Jahr 2004 unterbreitet und mithilfe von eBay experimentell realisiert hatte, bestand darin, den Berg zum Propheten zu bewegen, das Theater also in die Wohnung des Zuschauers zu verlagern – und das, mit etwas Glück: »Drei, Zwei, Eins … Meins«, sogar zu einem erschwinglichen Preis. Die Entwicklung eines ›Zuhausetheaters‹ birgt jedoch einige Unwägbarkeiten in sich. Ein Problem besteht darin, dass man die Spielstätte bis kurz vor der Aufführung nicht kennt, dass man also nicht weiß, wie viele Räume prinzipiell zur Verfügung stehen werden und wo sich diese befinden, geschweige denn wie viele davon der Auktionsgewinner oder die Auktionsgewinnerin als Spielorte freizugeben bereit ist. Bei livingROOMS begegneten wir dieser Schwierigkeit schließlich dadurch, dass das Stück in verschiedene Module eingeteilt wurde, die unterschiedlich miteinander kombiniert werden konnten. Sollte sich beispielsweise herausstellen, dass sich am Spielort Küche und Wohnraum im selben Zimmer befanden, so bestand die Möglichkeit, aus ursprünglich zwei Szenen eine zu machen. Sollte das Gegenteil der Fall sein, so mussten die Zuschauer zunächst von einem Raum in den nächsten bewegt werden. Um das zu bewerkstelligen, musste die Inszenierung wiederum Mechanismen bereitstellen, die es erlaubten, Autorität über das Publikum auszuüben – dessen Größe zuvor natürlich ebenfalls nicht bekannt war – ohne dadurch die Spielillusion zu durchbrechen. Das gelang erneut dadurch, dass li8

Rosa argumentiert hier vor allem mit dem den Zuschauern auferlegten Zwang zum mehrstündigen passivischen ›Monotasking‹, räumt an anderer Stelle jedoch auch ein, dass sich das Aufführungstempo im Theater wie im Konzertsaal seit dem 19. Jahrhundert stetig beschleunigt habe (vgl. Rosa 2005: 75). 121

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vingROOMS auf zwei verschiedenen Ebenen spielte. Zu Beginn des Stücks drang die weibliche Hauptfigur, die Wohnassistentin Elli Kölmel, unter dem Vorwand, dort zum ›Gemütlichkeitsworkshop‹ hinbestellt worden zu sein, zunächst als Fremde in die Wohnung ein und erklärte mithilfe eines mitgebrachten Tonbandgeräts die künftigen Spielregeln: »MÄNNLICHE STIMME: Willkommen bei livingROOMS, der professionellen Gemütlichkeitsberatung. Wir möchten Ihnen dabei helfen, dass Sie sich in Ihrer Wohnung wieder so richtig zuhause fühlen. Sie wurden soeben durch unsere Wohnassistentin vier Gemütlichkeitstypen zugeordnet. Vergewissern Sie sich bitte, dass Ihr Armband gut sitzt und sich nicht bei etwaig eintretenden Turbulenzen lösen kann. Wir von livingROOMS verstehen Wohnen als einen dynamischen Prozess, bei dem Bewohner, Möbel und Räumlichkeiten ständig in einem interaktiven Austauschverhältnis stehen. Gemütlichkeitsentzug tritt häufig auf, wenn dieses Austauschverhältnis gestört oder durch innere oder äußere Faktoren blockiert wurde. Kälte, Rastlosigkeit und eine Entfremdung zwischen Mensch und Wohnung sind die Folge. Diese Blockaden lösen wir auf, indem wir Bewohner und Wohnung in einem schonenden Prozess des Umwohnens wieder einander annähern. Damit unsere Wohnanalyse erfolgreich verläuft, ist es nun sehr wichtig, dass Sie die folgende Anweisung genauestens befolgen. Immer wenn Sie unsere kleine Erkennungsmelodie vernehmen (Jingle wird eingespielt), wird Ihnen meine Kollegin Sandra Instruktionen geben. Wir probieren das gleich einmal aus. (Jingle) WEIBLICHE STIMME: Die rote Gruppe begibt sich bitte zur Wohnungstür. Die rote Gruppe bitte. MÄNNLICHE STIMME: Vielen Dank, Sandra. Die rote Gruppe begibt sich nun also auf dem direkten Weg zur Wohnungstür. Dort wird Sie unsere Wohnassistentin empfangen. Die anderen Wohntypen bitten wir, an ihrem Platz zu bleiben, damit es nicht zu einem Durcheinander kommt.«

Nachdem diese Regel einmal etabliert worden war, war es nun möglich, auf der zweiten Ebene des Stücks denselben Schauplatz auch als Privatwohnung Elli Kölmels bespielen zu können, in der diese sich dann bewegte, als seien überhaupt keine Zuschauer anwesend. Diese Ebene gestattete es nun auch, in der Einkaufstasche der heimkehrenden Wohnberaterin unerlässliche Requisiten in die Wohnung zu schmuggeln, deren Vorhandensein ebenfalls nicht vorausgesetzt werden konnte. Der relative Erfolg von livingROOMS und die recht hohe Medienresonanz auf die Inszenierung basierten allerdings wohl weniger auf deren Inhalt als vielmehr auf ihrer Form. Die Zuschauer und zugleich Veranstalter, die das Stück zu sich nach Hause ersteigert hatten, fanden vor allem an dem ungewöhnlichen Erlebnis Vergnügen, zu Gast in den eigenen vier Wänden zu sein und gemeinsam mit ausgewählten Freunden 122

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oder Verwandten Altbekanntes als Fremdes präsentiert zu bekommen.9 Und auch die Bericht erstattenden Medien interessierte vor allem das Theaterformat und weniger die dadurch getroffene Aussage.10 Wenngleich auch hinter livingROOMS ähnlich wie bei Alles muß raus! die Absicht stand, gegenwärtige sozial-ökonomische Prozesse zu thematisieren und zu kommentieren, so habe ich mich für die Präsentation unseres ›Zuhausetheaters‹ im Rahmen dieses Textes auch aus einem anderen Grund entschieden: Es bietet mir die Gelegenheit, abschließend auf die Notwendigkeit zu sprechen zu kommen, in der gegenwärtigen freien Theaterszene durch ungewöhnliche Produktionen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Denn selbstverständlich war livingROOMS zu keinem Zeitpunkt als ernsthafte Alternative zum traditionellen Theaterbetrieb gedacht. Worauf es uns dagegen ankam war, mit der Produktion eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen und möglichst gute PREffekte zu erzielen.11 Denn aufgrund der Vielzahl aktiver Theatergruppen und der Begrenztheit von Fördermitteln (vgl. Jeschonnek 2007) ist es heutzutage schlichtweg unerlässlich, zumindest zu versuchen, sich in irgendeiner Form von der Masse abzuheben, neue Spielformen zu entwickeln oder – um noch einmal auf ökonomisches Vokabular zurückzugreifen – ›Marktlücken‹ ausfindig zu machen. Neben dem Faktor Geld spielt darüber hinaus auch hier der Faktor Zeit eine wichtige Rolle – womit ich nun doch ein wenig in die Klagen der Kollegen von den Stadt- und Landestheatern einstimmen möchte, deren Sorgen ich im Übrigen durchaus nachvollziehen kann. Die BeschleuDarauf lässt zumindest das eBay-Bewertungsprofil für livingROOMS schließen. Der Auktionsgewinner der dritten Versteigerungsrunde ›atibat 100‹ beschreibt die Inszenierung hier als »eine neue Dimension von Entertainment, Interaktives Theater, sehr gut, danke« und auch Käufer ›znaffer‹ urteilt: »Es war ein unvergessliches Erlebnis. Ein sehr geglücktes Experiment!« Sämtliche Bewertungen unter: http://feedback.ebay.de/ws/eBay ISAPI.dll?ViewFeedback2&userid=livingrooms&ftab=AllFeedback. Stand: 14.08.2008. 10 So schrieb die Stuttgarter Zeitung am 30.05.2006: »Wer hier nun vom wem Besitz ergriffen hat, das ist wirklich die Frage: Der Einzelne vom Theater, indem er es käuflich erwirbt? Oder nicht eher umgekehrt, das Theater von seiner Welt, die es sich einverleibt und umbildet?« Der ZDF Theaterkanal befand auf seiner Internetseite: »Es ist raffiniert, eine vierte Wand mit Durchreiche. Kein Mitmachtheater. Virtuos werden wir bemerkt, mit einbezogen und wieder ignoriert.« Ausführlicher Pressespiegel unter: http:// www.lunatiks.de. 11 Das Verhältnis von Kosten/Aufwand und finanziellem Gewinn wäre bei dieser Produktion hingegen wohl von keinem Wirtschaftsfachmann gutgeheißen worden. 9

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nigung unserer Gesellschaft, die sich auch in der Kurzlebigkeit der für gesellschaftlich relevant erachteten öffentlichen Debatten niederschlägt, hat für Theatermacher zur Folge, dass sie, wollen sie Bezüge zu aktuellen Entwicklungen herstellen, nahezu unmittelbar auf diese reagieren müssen. Ansonsten riskieren sie, dass andere Gruppen schneller sind und dementsprechend auch den Zuschlag zur Projektförderung erhalten. Beide ökonomischen Faktoren bergen so auch ihre jeweils eigenen Gefahren in Bezug auf die Qualität der künstlerischen Produktionen in sich. Der Zwang zur Vermarktung kann schnell zur festen Etablierung eines sich einmal als erfolgreich erwiesenen Stils führen – zur Herausbildung einer ›Theater-Marke‹, wenn man so will –, der stets in Gefahr ist, sich mit der Zeit leerzulaufen und zum reinen Event zu verkommen. Genauso kann der zunächst nicht zwangsläufig negativ zu bewertende Konkurrenz- und Zeitdruck, auf den in der freien Szene derzeit vor allem durch die Arbeitsweise in losen Kollektivstrukturen reagiert wird – wobei kleinere Arbeitsgruppen parallel verschiedene Projekte in unterschiedlichen Entwicklungsstadien vorantreiben –, leicht in Oberflächlichkeit ausarten. Nichtsdestoweniger, so hoffe ich, konnte dieser Text ebenfalls aufzeigen, dass die Auseinandersetzung mit marktwirtschaftlichen Mechanismen auch manchen bühnentauglichen Konflikt zutage fördern kann und darüber hinaus das Potenzial besitzt, aus ihr ungewöhnliche Spielformate und innovative Ästhetiken abzuleiten. Und diese Ressource ist unserer Überzeugung nach auch noch lange nicht ausgeschöpft.

Literatur Adam, Birgit (2003): Quarterlife Crisis. Jung, erfolgreich, orientierungslos. München: Ariston. Busse, Tanja (2006): Die Einkaufsrevolution. Konsumenten entdecken ihre Macht. München: Blessing. dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft 2008, H. 1. Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.) (2007): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin: Alexander. Illies, Florian (2003): Generation Golf zwei. München: Blessing. Jeschonnek, Günter [Fonds Darstellende Künste] (Hg.) (2007): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven. Essen: Klartext. Kronsbein, Joachim (2005): Grünkern und Gucci. In: Spiegel special 5, S. 80–81.

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Robbins, Alexandra/Wilner, Aby (2003): Quarterlife Crisis. Die Sinnkrise der Mittzwanziger. Berlin: Ullstein. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rosa, Hartmut (2007): Entschleunigungsoase und Erfahrungsraum. Die Zeitstrukturen des Theaters. In: dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft, H. 2, S. 37–38.

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»W E N N

WIR DEN

NARZISSMUS

VERSPÜRTEN,

UNENDLICH WERDEN ZU WOLLEN, MÜSSTEN WIR DAS

EIN GESPRÄCH

MEDIUM

MIT

DANIEL WETZEL

W E C H S E L N !«

HELGARD HAUG

VON

UND

RIMINI PROTOKOLL

NA-YOUNG SHIN

Die Weltwirtschaftskrise hängt wie ein Menetekel über unseren Häuptern und jetzt, 2008, erwarten wir konkreter als zuvor, dass die Wirtschaft unseren Alltag verändere. Wer weiß, wie die aktuell schwer überschaubaren Börsenvorgänge, Regulierungsversuche und Staatsdebatten, Modelle und Theorien im Rückblick unsere Biografien beeinflusst haben werden? Zwei Jahre ist es nun her, dass Helgard Haug und Daniel Wetzel das Thema Ökonomie aus der Perspektive biografischer Verflechtungen aufgearbeitet haben und Karl Marx: Das Kapital, Erster Band am 4. November 2006 im Schauspielhaus Düsseldorf auf die Bühne brachten. 2007 erhielten sie dann den Mülheimer Dramatikerpreis. Die umstrittene Entscheidung wurde verteidigt gegen die Kritik, dass der Gegenstand der Auszeichnung kein dramatischer Text sei. Die Stimmen der Jury und des Publikums vereinte das Marx-Stück nicht allein auf sich, weil das Ökonomische zunehmend das Bühneninteresse erobert, sondern weil die Form der Theaterarbeit neue Wege der Ästhetik beschreitet. Helgard Haug und Daniel Wetzel, die mit ihrem Kollegen Stefan Kaegi unter dem Label Rimini Protokoll arbeiten, ›casten‹ statt Schauspieler »Experten des Alltags« (vgl. Dreysse/Malzacher 2007). Um solche Experten zu finden, hat das Regieteam lange recherchiert. »Das Kapital, Erster Band führt die Fäden eines weitschweifenden Castings zusammen, bei dem Menschen aus unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gegenden mit ihren Biografien abweichende Perspektiven auf dieses zu dicke Buch beitragen.« (Rimini Protokoll 2008) Für die Auswahl der Kapital-Experten haben die Theatermacher unter anderem die Chorprobe des Zürcher Eisenbahner-Chors besucht, die Hauptversammlung der Deutschen Bank, eine Düsseldorfer Montagsdemo, eine 127

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Spielautomatenfabrik, eine Beratungsstelle für Prostituierte, wissenschaftliche Verlage, eine Selbsthilfegruppe Spielsüchtiger und das KarlMarx-Haus in Trier. Sollten die Analysen ökonomischer Prozesse dem alltäglichen Blick zu abstrakt und die Marx’sche Theorie zu überindividuell erscheinen, so gelangt durch die unterschiedlichen Anekdoten und Erfahrungen aus dem Leben des Rimini-Personals sozusagen die ›soziale Energie‹ des Kapitals zum Ausdruck. Der ökonomische Einfluss auf das Leben wird fassbar und bekommt ein Gesicht (beziehungsweise mehrere Gesichter), ohne die komplexen Verflechtungen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse in allegorische Figuren zu bannen und diese als Gutsherren, Sklaven oder Fabrikbesitzer in einem klaren Macht- und Figurenschema zu positionieren. Das Arbeiten mit biografischen Zugängen und NichtSchauspielern verändert zugleich die Produktionsbedingungen des Theaters selbst und stellt dessen Selbstverständnis sowie seine Institutionen (zum Beispiel den Mülheimer Dramatikerpreis) infrage. Das Stück, das zwar in Textform wie ein Drama aussieht, funktioniert eigentlich aber wie ein Protokoll und hält lediglich fest, was wer wann zu tun hat. Auch wenn in Mülheim zur Debatte stand, ob das Protokoll der Expertenaufführung mit schauspielerischer Besetzung noch Wirkung entfalten würde, kann die Inszenierung in der Originalbesetzung immer noch der Zeit trotzen. Am 6. September 2008 ist die Inszenierung weiterhin aktuell und gefragt und gastiert im Trierer Theater.1 In einer Pause zwischen Generalprobe und Aufführung steht das Regieteam für ein Gespräch über die ästhetischen Mittel und produktionstechnischen Bedingungen des Theaters zur Verfügung,2 dem zu Beginn auch zwei der Protagonisten der Kapital-Inszenierung beiwohnen: Zugegen ist der blinde Call-Center-Agent und ehemalige Radiomoderator Christian Spremberg, der am Plattenspieler steht und die Musik zum Stück liefert. Mit zielsicheren Griffen wählt er diverse Schlager aus und kommentiert auf der Bühne seine Musikwaren. Dem Betrachter führt er vor Augen, dass unsere Konsum- und Warenwelt durch Marken und Logos und damit durch das Prinzip der Sichtbarkeit geprägt ist. Spremberg unterscheidet die Platten unterschiedlicher Firmen an haptischen Eigenarten ihrer Labels. 1

2

Die Aufführung fand im Rahmen des TUFA-Kultursommerfestivals ArbeitsPlätze im Trierer Theater statt. Das Gastspiel wurde in Kooperation zwischen dem Theater Trier, dem Karl-Marx-Haus und der Tuchfabrik Trier organisiert. Zu Fragen nach gesellschaftspolitischen und kritischen Implikationen einer Auseinandersetzung mit der Marx’schen Tradition vgl. Helgard Haug und Daniel Wetzel im Gespräch mit Henning Fülle (Fülle 2008). 128

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Er tritt zudem als Rezitator auf, der aus den 13 Bänden, die die Blindenschriftausgabe von Band Eins des Kapitals umfassen, vorliest, während man seinen Fingern bei der Lesearbeit zusehen kann. Außerdem zugegen ist Thomas Kuczinsky, Statistiker, Wissenschaftshistoriker und Editor, der von 1988 bis 1991 Direktor der Akademie der Wissenschaften der DDR gewesen ist und in der Besetzung als philologisch patenter ›Marxologe‹ firmiert. SHIN (zu Haug und Wetzel): Wie habt ihr angefangen, mit euren Protagonisten zu arbeiten? Gab es Fragen und Erklärungen dazu, was ihr unter ›Theater‹ versteht? Habt ihr versucht, eine gemeinsame Idee zu formulieren? Oder haben sich alle einfach auf einen offenen Prozess eingelassen? WETZEL/HAUG: Erzählt ihr das doch. Wie war das? SPREMBERG: Was aus dem Stück wird, war bis zuletzt, bis zwei Tage vorher, offen. Ich hatte da einfach Vertrauen in die Regie. Ich weiß ja gar nicht, was auf der Bühne welche Wirkung hat. Das muss dann die Regie übernehmen. Mehr musste ich nicht wissen. KUCZINSKY: Am Anfang hielt ich das Projekt für eine total verrückte Idee und wusste gar nicht, wie und was es werden wird. Aber wir haben das Stück kollektiv erarbeitet. Verschiedene Leute haben ihre eigenen Texte geschrieben. Natürlich haben Helgard und Daniel dann überlegt: Wie passt was zusammen, wo ist die Struktur? Wie wird aus dem Ganzen ein Stück? HAUG: Vorab haben natürlich mehrere Treffen stattgefunden. Man musste sich erstmal füreinander entscheiden, bevor man zusammen arbeitet. Beide Seiten mussten diese Entscheidung treffen, wir als Regieteam und auch diejenigen, die wir angesprochen haben. Einer der ersten, auf den wir in unserer Recherchezeit stießen, war Ralph Warnholz, der spielsüchtig gewesen war und sich heute in einer Selbsthilfegruppe engagiert. Er hat lange gezweifelt und konnte sich nicht recht vorstellen, was wir wollen, was das für ein Stück werden wird. Auf der Suche nach Antworten hat er sich dann erstmal Das Kapital gekauft und angefangen zu lesen. ›Vielleicht steht es ja da drin, was die von mir wollen‹, muss er wohl gedacht haben. Das hat uns imponiert, da wussten wir, den wollen wir unbedingt dabei haben. SHIN: Wie kommt es dann zum Gesamtkonzept? Hattet ihr eine Grundstruktur?

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HAUG: Wir haben natürlich erst mal nach einer Dramaturgie im Text selbst gesucht, also im Kapital, haben es aber dann schließlich verworfen, die Kapitelstruktur des Bandes als dramaturgische Struktur zugrundezulegen. Geeigneter als die Chronologie des Buches schien es uns, die Chronologie der Ereignisse im Leben unserer Protagonisten engzuführen. Das war eine anfangs recht einfache Spielanordnung, die dann im Probenverlauf immer komplexer wurde. Eine Jahreszahl wurde genannt und alle mussten nacheinander sagen, was sie (mit Fokus auf Das Kapital) in diesem Jahr erlebt oder versucht haben. Das war ziemlich erstaunlich, wie weit auseinander die Spieler oft voneinander lagen – wie wenig des einen Highlight für den anderen von Bedeutung oder gar wahrnehmbar war. Erstmal gehört zu unserer Arbeit aber auch, die unterschiedlichen Sprachen der Einzelnen kennen zu lernen und zu verstehen. SHIN: Was heißt es, die »unterschiedliche Sprache des Einzelnen« zu verstehen? Habt ihr versucht, bestimmte Eigenarten hervorzuheben? Habt ihr die jeweilige Körpersprache für die Inszenierung genutzt? Und an die Protagonisten gerichtet: Hattet ihr keine Hemmschwelle, auf der Bühne zu agieren? Wie haben die Regisseure euch ›auf die Bühne‹ geholfen? HAUG: Es gibt ein Minimum an Choreografie, aber eher in dem Sinne, wann geht wer wohin, wer steht wo und so etwas. Wie die Körpersprache wirkt, liegt eher an den Protagonisten selbst. Die Haltungen haben wir nicht inszeniert, eher gebremst, wenn sie zu künstlich wurden. Warnholz hat sich zum Beispiel anfangs unwohl auf der Bühne gefühlt und begann, Posen auszuprobieren. Er hat sich dann auch von seiner Familie beraten lassen: Wie sieht das aus, wenn ich den Arm hierhin halte und das Bein so? Das haben wir ihm dann ausgeredet. KUCZINSKY: Nein, Hemmschwelle hatte ich überhaupt keine. Nein, warum auch, ich war das Sprechen ja von Vorlesungen gewohnt. SPREMBERG: Ich hatte auch kein Problem damit. Vielleicht hat man auch weniger Lampenfieber, wenn man die Leute um sich herum nicht sieht. HAUG: Ich glaube, ihr hattet mehr Probleme damit, das, was ihr erzählt, dann noch mal genau so zu erzählen. Was für euch neu war, war wohl eher Theater als Wiederholung. SHIN: Wie weit dürfen die Protagonisten vom wiederholbaren Text abweichen?

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KUCZINSKY: Dass wir auch mal anderes erzählen, ist ja durchaus gewollt, es muss aber eine bestimmte Verlässlichkeit geben. Bestimmte Stichworte müssen einfach fallen. Es sind Stütz-Worte; sie sind Teil eines Korsetts, das das Ganze zusammenhält. Manchmal stellt man selbst fest, dass die Abweichung nicht funktioniert. SPREMBERG: Aber das Sprechen auf der Bühne selbst war für mich jedenfalls unproblematisch. Öffentliches Sprechen war ich vom Rundfunk gewohnt. Dass ich beim Rundfunk war, wussten Helgard und Daniel. WETZEL: Ja, aber das ist nicht der Grund, weshalb wir dich gecastet haben. SHIN: Nach welchen Kriterien »castet« ihr? Spielen Stimme, Artikulation, Präsenz eine Rolle? WETZEL: Nein. Wir suchen ja keine Schauspieler. SHIN: Aber wenn Spremberg und Kuczinsky sprechen, dann wirken Stimme, Intonation und Präsenz sehr professionell. HAUG: Alle tragen kleine Mikros, was im Theater eigentlich nicht üblich ist. So lässt sich die Stimme natürlich auch unterstützen, sie müssen nicht auf der Bühne stehen und in die Zuschauermenge rufen, es kann sehr privat gesprochen werden oder eben Haltungen eingenommen werden, mit denen die Spieler vertraut – in denen sie geübt – sind. SHIN: Wenn ihr nicht nach klassischen Theaterkriterien castet, geht es dann eher darum, wie interessant die Persönlichkeit auf euch wirkt? Wie man auch im Alltag auf neue Bekanntschaften neugierig ist? KUCZINSKY: Ihr sitzt in der Funktion aber doch da als Theatermacher und nicht als nur privat neugierige Alltagsmenschen! SHIN: »Casting« klingt so, als müsse da irgendein Talent gegeben sein, das man aufspürt. WETZEL: Wir nutzen den Begriff des ›Castings‹, um schnell verstanden zu werden, aber wir ›casten‹ in dem Sinne eigentlich nicht. Vielleicht spielen Stimme und Präsenz bei der Auswahl unbewusst eine Rolle. Das Kriterium ist aber eher das Neue, das Andere, das Unbekannte. Für uns als Theatermacher ist ein Typ uninteressant, wenn wir – sagen wir mal –

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das Gefühl haben, mit so jemandem haben wir schon mal gearbeitet. Wir sehen dann aber einfach, wie derjenige steht, wie er geht, wie er spricht; und sollte das an einer Stelle Probleme auf der Bühne geben, macht es Spaß, Lösungen zu finden, die dem Medium ein Schnippchen schlagen. Es gibt auch keine Vorübungen, typische Theaterspielchen, keine Atmerei und was man so im Amateurtheater macht. SHIN: Damit bewahrt ihr die Protagonisten davor zu dilettieren. Inzwischen hat sich die Rede von »Alltagsexperten« in Bezug auf eure Darsteller ja etabliert. Das scheint mir so gelungen und zugleich ein Paradox, dass eure Arbeit mit Nicht-Schauspielern nichts von Laientheater hat, gerade weil ihr keine Schauspielübungen macht. WETZEL: Manchmal rutscht es uns aber auch heraus, dass wir RegieIdeen haben und uns wünschen, die könnte man jetzt ganz schnell einfach mal sehen. Zum Beispiel wollten wir mal, dass alle zu lachen beginnen und das Ganze in einem homerischen Gelächter kulminiert, bei dem der ganze Saal lacht. Wir haben dann den Schauspieler Rainer Gahlke vom Schauspielhaus eingeladen, uns in einen Kreis gesetzt, und Gahlke sollte uns beibringen, wie man das professionell macht, also wie man richtig und lange lacht, bis es andere ansteckt. Wir haben lange gelacht, technisch, und es steckte auch ein bisschen an. Aber dann fragten einige: Warum sollen wir das überhaupt machen? Es kam ihnen künstlich vor. Und dann dachte ich mir: Genau, warum sollen die das eigentlich machen? So genau konnten wir es zu dem Zeitpunkt auch noch nicht sagen, wir hätten die Idee gern weiter ausprobiert, aber so, ohne Spaß, hätten wir die Peymannkappe aufsetzen müssen und – einfordern. SHIN: Wie entscheidet ihr, was von den Erzählungen der Protagonisten selektiert und zusammengebracht wird? Wenn Spremberg darüber sinniert, dass die Warenwelt mit ihren Logos vor allem nach dem Prinzip der Sichtbarkeit funktioniert, ist das dann für euch auch interessant, weil es eine theoretisch anschlussfähige These ist? Sucht ihr bewusst nach Aussagen über die Warenwelt? WETZEL: Es geht uns eher darum, die Konkretion zu suchen. Das Abstrakte ist ja mit dem Kapital schon da. Aber um Aussagen geht es uns grundsätzlich nicht, sondern um Momente von Erfahrung. Zum Beispiel mit der Verschiedenartigkeit der Perspektiven unserer Protagonisten, an denen sich Kategorien des Textes prismatisch brechen können.

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SHIN: Wo es um Konkretion und individuelle Biografien geht, ist eure Arbeit also weniger von theoretischen Ideen geleitet als vielmehr nach der Art eines wissenschaftlichen Experiments? Das Experimentelle eurer künstlerischen Arbeit scheint mir auch einem wissenschaftlichen Experiment nahe zu stehen. Ihr generiert neue Blickwinkel und Hypothesen. WETZEL: Wenn man vom Experiment im Theater oder in der künstlerischen Arbeit spricht, denkt man meist nur an die Künstler und eine avantgardistische Arbeitsform, ohne die Zuschauer zu berücksichtigen. Die sind aber das Entscheidende am Experiment, sie sind seine Träger und – auch in der Wissenschaftstheorie – vom Ergebnis des Versuchs gar nicht trennbar, weil sie die Perspektiven liefern, nach denen sich alles vor ihnen abspielt. SHIN: Wie erfahrt ihr vom Ausgang des Experiments? Wie holt ihr das Feedback ein? Kritiken und Rezensionen sind selbst ja auch institutionalisiert. HAUG: Man erfährt die Reaktionen vor allem im direkten Austausch. Dadurch, dass wir mit dem Stück viel reisen, merkt man die unterschiedlichen Reaktionen in unterschiedlichen Städten. An welcher Stelle werden alle besonders wach? Wann gibt es Zwischenrufe? Werden die Parolen mitgerufen? WETZEL: Nach der Aufführung in den angegliederten Kneipen ist es natürlich zufällig, was man an Reaktionen erfährt. Aber es gibt speziell bei diesem Stück immer abenteuerliche Tischgesellschaften danach und immer einige Zuschauer, die mehr wissen wollen von den Protagonisten und mit ihnen reden. SHIN: Was als ›experimentell‹ an eurer Arbeit besonders hervorgehoben wird, ist die Inszenierung von Realität und »Authentizität«. Eigentlich ist dieses Prinzip aber ja überall in der medialen Welt gegenwärtig. Wie unterscheidet sich das Prinzip eurer Arbeit von dem einer Mittags-RealityTalkshow? HAUG: Autsch! SHIN: Ich meine der Form nach, natürlich nicht inhaltlich. Mir ist klar, dass… Jetzt reite ich mich da in etwas rein… HAUG: Nein, nein, ich bin da völlig schmerzfrei.

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WETZEL: Ist sie nicht! Ist sie nicht! – Unsere Arbeit ist einfach etwas völlig anderes. Die Shows, die du meinst, suchen die maximale Wirkung für eine Striptease-Situation, die der Stripper aber nicht durchschaut, während sie so tun, als kümmerten sie sich. Bei uns geht es einfach ums Gegenteil von Strip. Wir drängen auch niemanden dazu, irgendetwas preiszugeben. Unsere Arbeit hat nicht das Ziel der maximalen Wirkung. Wir wissen nicht einmal, was aus der gemeinsamen Arbeit werden wird und wir sind interessiert an Momenten, in denen die Klischees, die wir voneinander herumtragen, brüchig werden – und sei es zugunsten einer leisen Unklarheit. SHIN: Was macht aber diesen Reiz aus, das Authentische auszustellen? Das hat das Fernsehen trotz anderer Intentionen ja mit eurer Arbeit gemeinsam. HAUG: Wir stellen nicht aus. Den Inszenierungen liegen ja Proben zugrunde – das heißt eine intensive Phase, in der wir ausloten, wie in dem einzelnen Protagonist eine Stärke entsteht, die trotzdem eine Transparenz behält, wie wir einen Mut mobilisieren, der die Fragilität der Versuchsanordnung nicht übertüncht, wie Risiken eingegangenen können mit einem Bewusstsein dafür. Der Unterschied ist, dass die Protagonisten sehr viel in der Hand haben, bezüglich der Gestaltung des Abends. Wenn ich auf der Theaterbühne stehe, dann vertrete ich mich im ›Hier und Jetzt‹. Kein Schnitt, keine Kameraführung, kein Close-Up, das mich ausstellt. Auf der Bühne bin ich autonom und werde nicht zurechtgeformt, wie die Fernsehmacher es brauchen. SHIN: Dann ist es also in Abgrenzung zum Fernsehen auch die Eigenart des Mediums Theater und dessen Ästhetik, die eine moralische Qualität mit sich bringen und so ein wichtiges Moment eurer Arbeitsweise gewährleisten? HAUG: Theater funktioniert ganz grundsätzlich anders. Wir müssen uns gar nicht bewusst von den ›Shows‹ abgrenzen. Wir nehmen sie als Phänomen wahr – sie spielen aber einfach überhaupt keine Rolle für uns. SHIN: Wie konstitutiv sind das Medium Theater und der institutionelle Zusammenhang des Theaters für euch? Ist es Zufall, dass ihr Theater macht? Man könnte es ja sozusagen als kontingent betrachten, dass ihr anlässlich der Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises genötigt werdet, euch von der Tradition des Dramas abzugrenzen oder euch zu

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rechtfertigen. Setzt euch die Institution Theater Grenzen? Manche eurer Arbeiten bräuchten vielleicht gar nicht das Etikett ›Theater‹. HAUG: Wir machen ja nicht nur Theater, sondern auch Installationen, Hörspiele et cetera. Im Grunde genommen sind wir ins Theater ›zurückgezwungen‹ worden, weil wir eine besondere Chance in der Konstellation von Bühne und Publikum sehen. Wir haben ja vorhin von den direkten Reaktionen des Publikums gesprochen, die fallen zum Beispiel bei dem Hörspiel weg. Das institutionelle Theater ist eine Reibungsfläche für uns – daran entzünden sich die Konzeptionen. Traditionen können auch wichtig und produktiv sein, es geht aber vor allem darum, sich nicht einengen zu lassen von Sparten und Konventionen. Institutionell setzt uns das Theater da auch eigentlich keine wirklichen Grenzen, wir arbeiten als freie Künstler, haben aber eine Basis im HAU und andere Häuser als Partner. Das funktioniert soweit gut. Technisch ist das freie Arbeiten auch ganz anders möglich durch das Internet. Wir reisen viel und sind gar nicht immer konstant an einem Ort. WETZEL: Viele, die heute in den Häusern Dramaturgen sind, haben zeitgleich mit uns studiert. Die teilen gar nicht mehr die Auffassung einer antiquierten Literaturmuseumsstube. Natürlich gibt es diese Vorstellung auch heute noch, auch Spremberg und Kuczinsky hatten die irgendwie in den Köpfen. Aber an den Theatern hat sich einiges gewandelt. Ich sehe deshalb vor allem die Flexibilität des Theaters, seinen Forumscharakter, den Stadtbezug. SHIN: Das Theater wandelt sich. In Anlehnung an den Schluss eurer Marx-Inszenierung: Wo seid ihr 2015? Was bleibt von Rimini Protokoll und eurer Arbeit? WETZEL: Tja, gute Frage, wo bist du dann, Helgard? HAUG (lacht) SHIN: Mal abgesehen von der nicht unwichtigen Frage, wie eure Teamkonstellationen dann zu verwirklichen sind. Was ist mit eurem ›Werk‹? HAUG: Es gibt eine immanente Weiterentwicklung in der Arbeit, die Entstehungsbedingungen der Stücke verändern sich und auch ihre Entstehungsmöglichkeiten.

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SHIN: Das heißt, wenn die Zeit vorbei ist, ist auch das bestimmte Projekt abgeschlossen? Keine Wehmut? Ist es so, als erinnerte man sich an Kindheits- oder Pubertätserlebnisse, diese sind aber für einen abgeschlossen? HAUG: Nicht so, als gäbe es da Progression. Die Entwicklung in unserer Arbeit ist vielmehr eine Suchbewegung. Man kann auch auf etwas zurückgreifen. Es kommt wieder hoch, fließt ein. Es bilden sich immer wieder andere Entstehungsmöglichkeiten für andere Arbeiten. WETZEL: Die meisten Dinge kann man nur akzeptieren, weil sie vorbeigehen. Alle Termine zum Beispiel. Insofern sind Theaterprojekte eine Kette von Terminen mit Kuczynski, Spremberg und Konsorten. Der Termin hier in Trier macht genau jetzt Sinn und ist ein völlig anderer als der demnächst in Chemnitz. Sie finden statt, weil sie viel auslösen können, was wiederum nur möglich ist, weil Termine im Wortsinn schon ein Ende haben müssen. Das Theater der 70er kann man auch nicht wirklich eins zu eins wieder so auf die Bühne bringen. Ich finde es immer befremdlich, alte Aufführungsmitschnitte zu sehen. Man sieht das heute ganz anders, als es früher gewirkt hat. Die Relevanz einzelner Aufführungen und Aktionen nimmt ohnehin in der Mediengesellschaft ab. SHIN: Werden eure Arbeiten dann nur noch Teil einer Aufführungsgeschichte sein? Der Protokoll-Text zu Karl Marx: Das Kapital, Erster Band ist ja lediglich, wie ihr es eingangs voranstellt, »im Ergebnis beispielhaft dafür […], was passiert, wenn man die Ausgangsfrage dieses Theaterstückes ernst nimmt«. Ist eure Inszenierung dann etwas, was nur noch als Zitat in der Kommunikation vorkommt – so wie Beuys’ Aktion mit dem Koyoten? HAUG: Ja, vielleicht so wie die Beuys-Aktion. Auch da muss man den Umständen und Entstehungsbedingungen nachgehen, um die Aktion zu verstehen. Die Interaktion mit dem Publikum, das Publikum selbst war anders. Ich habe neulich im ZKM in Karlsruhe die Rekonstruktion einer alten Installation von 1970 gesehen: Der Magische Spiegel der Gruppe telewissen. Im offenen Kofferraum ihres VW-Busses stand ein Fernsehbildschirm mit einer Videofeedback-Installation, so ein Closed-Circuit. Die Passanten schauen ins Auto, in dem sich eine Kamera befand, und sehen sich im gleichen Augenblick selbst auf dem Bildschirm. Es ist unglaublich, wie fasziniert die Leute sind, sich selbst auf dem Schirm zu sehen. Die sind ganz aus dem Häuschen, zeigen mit dem Finger auf den Fernseher: ›Das bin ich! Guck mal!‹ Nun wird der gleiche Aufbau 2008

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noch mal gemacht. Wir haben offensichtlich eine ganz andere Medienerfahrung. Ich schaue auf mein Abbild auf dem Bildschirm und denke: ›Na, und?!‹ Das lässt mich total kalt. Das ist für mich ein ganz gutes Beispiel dafür, wie sich die Erfahrungswelt der Zuschauer ändert und wir verändern uns mit – Theater ist Kommunikation, und wenn es nicht mehr kommuniziert, muss es sich verändern. SHIN: Ihr hegt also keine großen Ambitionen, eure Arbeiten für die Nachwelt zu konservieren? WETZEL: Wenn wir den Narzissmus verspürten, unendlich werden zu wollen, müssten wir das Medium wechseln.

Literatur Dreysse, Miriam/Malzacher, Florian (Hg.) (2007): Experten des Alltags. Das Theater von Rimini Protokoll. Berlin: Alexander. Fülle, Henning (2008): »Aber das überlegen wir uns nochmal.« Die Inszenierung Karl Marx: Das Kapital, Erster Band von Rimini Protokoll. Helgard Haug und Daniel Wetzel im Gespräch mit Henning Fülle. In: Bouvier, Beatrix u. a. (Hg.): Marx-Engels-Jahrbuch 2007. Berlin: Akademie, S. 119–131. Rimini Protokoll (2008): Karl Marx: Das Kapital, Erster Band (Projektbeschreibung, letzte Aktualisierung: 18.03.2009). Unter: http://www. rimini-protokoll.de/website/de/project_92.html. Stand: 29.04.2009.

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I NSTITUTION

IST THEATERSPIELEN ARBEIT? AXEL HAUNSCHILD

»Spielst du heute?« fragen Schauspieler einander, wenn sie wissen möchten, ob eine Kollegin oder ein Kollege abends auf der Bühne steht. In kaum einem Beruf, mit Ausnahme von professionellen Teamsportlern, wäre eine derartige begriffliche Vermischung von Arbeit und Spiel denkbar. Im Gegenteil, Arbeit ist im üblichen Sprachgebrauch eben Last (siehe auch Baecker 2002) und nicht Spiel. In modernen Gesellschaften sind – auch wenn mikropolitische Organisationsanalysen den (Macht-) Spielcharakter organisationaler Praktiken betonen (Küpper/Ortmann 1992; Crozier/Friedberg 1979; Neuberger 1992) – Erwerbsarbeit, und Spiel in aller Regel räumlich und zeitlich voneinander getrennt. Bereits Kinder werden daran gewöhnt, dass nach ›Freispiel‹ und angeleitetem Spiel im Kindergarten mit Hausarbeiten und Klassenarbeiten in der Schule der Ernst und die Last des Lebens beginnen. Aktuelle Entwicklungstendenzen in der Arbeitswelt, wie zum Beispiel ein zunehmender Kreativitätsimperativ (v. Osten 2003; Deutschmann 2002), das Wachsen einer ›Creative Class‹ (Florida 2002; Brooks 2000) sowie kreative Projektarbeit als Referenzpunkt für Karrieren und Arbeitsverhältnisse allgemein (Boltanski/Chiapello 2003) legen nahe, dass eine Betrachtung der Grenzen zwischen Arbeit als Spiel und Arbeit als Last einen Beitrag zum Diskurs über die Zukunft der Arbeit insgesamt zu leisten vermag. Nicht alle, aber viele professionelle Schauspieler in Deutschland sind Angestellte, die einer Erwerbsarbeit nachgehen. Sie haben einen, wenn auch befristeten, Arbeitsvertrag (Normalvertrag Bühne) und sind sozialversichert. Ist die Bezeichnung ›Theaterspielen‹ ein Euphemismus, der den Erwerbsarbeitscharakter dieses Beschäftigungsverhältnisses verschleiert? Oder ist künstlerische Arbeit anders als nicht-künstlerische Arbeit? Benötigen wir ein grundsätzlich anderes Arbeitsverständnis, um den Besonderheiten künstlerischer Arbeit gerecht zu werden? Macht es einen Unterschied, ob Künstler Profis oder Laien beziehungsweise Amateure sind?

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Dieser Beitrag möchte diesen Fragen am Beispiel Theater auf den Grund gehen. Hierbei soll es weniger um den Versuch gehen, Realdefinitionen von Kunst und Arbeit zu entwickeln. Im Mittelpunkt steht vielmehr das Verhältnis zwischen Erwerbsarbeitsverhältnissen und dem Theaterspiel als künstlerische Tätigkeit. Es sollen die Besonderheiten künstlerischer Arbeitsverhältnisse am Theater herausgearbeitet und das Berufsethos und Selbstverständnis von Theaterkünstlern diskutiert werden. Die Erarbeitung von dokumentarischen Theaterstücken mit TheaterLaien im Rahmen des deutschen Staatstheaterbetriebes, wie sie von der Gruppe Rimini Protokoll erfolgreich entwickelt wurde, stellt hierbei einen aufschlussreichen Kontrastpunkt zum Theaterspielen als Erwerbsarbeit dar (siehe auch Dreysse/Malzacher 2007). Im Folgenden werde ich zunächst einige grundlegende Anmerkungen zur Frage »Kunst als Arbeit oder Spiel?« machen. Insbesondere muss hier zwischen verschiedenen Künsten (›ein Buch schreiben‹, ›ein Bild malen‹, ein ›Theaterstück spielen‹) unterschieden sowie die Veränderung von Produktionsbedingungen durch die Entwicklung sogenannter Kulturindustrien berücksichtigt werden. Im Anschluss werde ich wesentliche Aspekte der Beschäftigungsmerkmale und der Arbeitsorganisation an deutschen Theatern erläutern. Mit Verweis auf aktuelle Forschungsergebnisse zum Beschäftigungssystem Theater von Doris Ruth Eikhof (University of Stirling) und mir wird dann die Bedeutung von Lebensstilen für das Verstehen und Erklären des besonderen Verhältnisses zwischen künstlerischer Tätigkeit und Erwerbsarbeit am Theater diskutiert. Im letzten Abschnitt werde ich zusammenfassend versuchen, die Eingangsfrage »Ist Theaterspielen Arbeit?« wenn nicht eindeutig zu beantworten, so doch zusammenfassend zu diskutieren und Verknüpfungen mit dem Diskurs Creative Industries und Zukunft der Arbeit herzustellen. An verschiedenen Stellen wird hierbei auf Theater-Laien und das Theaterkonzept von Rimini Protokoll Bezug genommen.

Kunst als Arbeit, Kunst als Spiel Die Personenzuschreibung ›Künstler‹ setzt eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, die bestimmte Gruppen vom täglichen Überlebenskampf freistellt, sowie die Vorstellung besonderer, nur begrenzt erlernbarer Fähigkeiten der Verwendung, Gestaltung und Umgestaltung von Medien und Gegenständen voraus. Ähnlich wie der Homo academicus (Bourdieu 1992) ist der Künstler vom alltäglichen Handlungsdruck (idealiter, das heißt mehr oder weniger) befreit und hat damit Raum für die eigensinnige und eigenwillige Interpretation von und Auseinandersetzung mit indi-

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vidueller und sozialer Realität – zum Beispiel durch die Verwendung von Sprache, dem eigenen Körper, Klangerzeugungsinstrumenten oder Farbe und Leinwand. Diese Eigensinnigkeit wird sowohl erwartet (Kreativitätsimperativ) als auch geschützt (Codex der Kunstfreiheit). Der künstlerische Produktionsprozess beziehungsweise die Ausübung künstlerischer Tätigkeiten wird zumindest bei Musikern und Theaterkünstlern mit dem Verb ›spielen‹ in Verbindung gebracht, wogegen zum Beispiel die Tätigkeit von Malern, Bildhauern und Schriftstellern sprachlich nicht als Spiel gefasst wird. Es heißt, ein Maler malt, ein Bildhauer modelliert und ein Schriftsteller schreibt – und nicht spielt. Ist dies ein etymologischer Zufall? Ein Theaterstück kann ja nicht nur gespielt, sondern auch aufgeführt, dargeboten, geprobt und erarbeitet werden. Der Schauspieler schlüpft in und erarbeitet sich eine Rolle, stellt etwas auf der Bühne dar oder spricht für eine Rollenbesetzung vor. Warum aber wird der Spielbegriff auf einige Künste angewendet und auf andere nicht? In Callois’ bekannter Spieltypologie (siehe die Darstellung bei Neuberger 1992) gibt es neben dem Wettkampf (Agon), dem Glück beziehungsweise der Chance (Alea) und dem Rausch (Ilinx) auch die Verkleidung (Mimicry). Letztgenannter Gruppe von Spielen ordnet Callois das Theater und die Schaukünste allgemein zu. Im Unterschied zu kindlichen Nachahmungs- und Illusionsspielen überwiegt hier nicht die Ausgelassenheit (Paida), sondern die Regel und Regelhaftigkeit (Ludus). Die Verwendung des Spielbegriffs für das Theater mag in seinen Ursprüngen in aus dem Spiel entstandenen antiken Maskentänzen (Seidensticker 2001: 77) begründet liegen. Den Kunstformen Musik und Schauspiel ist gemeinsam, dass sie darstellende Künste sind, die (zumindest vor der Entwicklung von Tonträgern, Hörfunk, Film und Television) auf die Interaktion zwischen Künstler und Publikum angewiesen waren. Der Spielbegriff verweist hier zum Beispiel darauf, dass etwas, von Alltagssorgen und Alltagsdruck entkoppelt, vorgespielt wird. Er mag ebenfalls auf das (in der Regel vorhandene) spielerische Miteinander bei der Darstellung verweisen. Sicherlich wäre es interessant, die etymologischen Wurzeln des Wortes ›Spiel‹ im Kontext von Musik und Theater in Abgrenzung zu anderen Künsten weiter zu verfolgen. Hier soll es allerdings genügen, den Begriff ›Theaterspiel‹ als Hinweis auf die Dimension nicht-instrumentellen, von Spaß und Lust anstatt Ernst und Pflicht (siehe auch Neuberger 1992: 77) geleiteten Handelns zu sehen. Und dies gilt nicht nur für den Laien (beziehungsweise Amateur), der Theaterspielen als Hobby betreibt, sondern – wie im übernächsten Abschnitt gezeigt wird – auch für den professionellen, erwerbstätigen Schauspieler, dessen primäre Handlungsmotivation – etwas holzschnittartig – die Kunst um

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der Kunst willen (l’art pour l’art) ist. Genau an dieser Stelle aber stellt sich die Frage, in welcher Beziehung Spiel und Arbeit zueinander stehen. Während verbeamtete oder mit Tenure versehene Hochschullehrer (oft gut) von ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit leben können, gilt dies für viele Künstler nicht. So spricht die Forschung über Künstlerarbeitsmärkte zum Beispiel von ›starving artists‹ (Menger 1999; Throsby 2001), die entweder einen geringen Lebensstandard in Kauf nehmen (und im Falle des klassischen Bohemiens idealisieren) oder auf nicht-künstlerische Erwerbstätigkeiten angewiesen sind. Stärker noch als der Wissenschaftler bleibt der Künstler in unserer Vorstellung ein Künstler, auch wenn er mit seiner Kunst kein Geld verdient. Dem Privatgelehrten, das heißt dem nicht im Wissenschaftssystem etablierten Forscher haftet dagegen in der Regel ein Makel an, der ihn vom ›echten‹ Wissenschaftler unterscheidet. Das Verhältnis zwischen künstlerischer Tätigkeit und Erwerbsarbeit war und ist allerdings vieldeutig und kann in seiner historischen Dimension hier nur angerissen werden. Zumindest seit Entstehung bürgerlicher Gesellschaften sind Künstler für ihre Arbeit bezahlt beziehungsweise entlohnt worden. Typischerweise geschah und geschieht dies bei Malern und Bildhauern in Form von Auftragsarbeiten oder durch den Verkauf ihrer Arbeiten zu Marktpreisen in Galerien, auf Auktionen oder Messen, bei Schriftstellern über Honorare und Tantiemen und bei vielen Musikern und Schauspielern über Honorar- oder Arbeitsverträge (siehe im Überblick Caves 2000). Insbesondere die Entwicklung der Medien- und Filmindustrie hat dazu beigetragen, dass heute die Cultural Industries (im weiteren Sinne die Creative Industries) einen wachsenden Wirtschaftsfaktor darstellen und von Regierungen entsprechend als zukunftsträchtige Industrien mit Modellcharakter herausgestellt, gefördert und beforscht werden (so zum Beispiel insbesondere in Großbritannien unter dem Schlagwort ›Cool Britannia‹). Künstler werden unter diesen Bedingungen zunehmend zu Kulturarbeitern beziehungsweise Culturepreneurs, die Kunst und Erwerbsarbeit miteinander zu verbinden suchen und sich damit vom Idealtypus des noch nicht erfolgreichen, bewusst von der Arbeitswelt entkoppelten Bohemiens unterscheiden. Künstler sind also heute zunehmend auch Erwerbstätige. Aber nicht nur bezüglich der Verwendung des Spielbegriffs, sondern auch bezüglich der Erwerbsformen von Künstlern unterscheiden sich kulturelle Industrien. So kann ein Musiker zum Beispiel ein herumtourender Rockmusiker, ein gut oder schlecht bezahlter Studiomusiker, ein freier oder angestellter Musiklehrer oder ein im öffentlichen Dienst beschäftigter Orchestermusiker sein. All diese Musiker ›spielen‹ ihr Instrument, aber ihre Selbstwahrnehmung als Künstler und das Verhältnis

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zwischen Kunst und Erwerbsarbeit ist offensichtlich sehr unterschiedlich (so spielt zum Beispiel der Orchestermusiker sein Instrument und geht – wenn geprobt oder aufgeführt wird – zum Dienst, während ein freier Jazzmusiker bei Teilnahme an einer Clubsession kaum von Dienst sprechen dürfte). Es ist also zu berücksichtigen, dass kulturelle Industrien bezüglich der Arbeits- und Beschäftigungsformen äußerst heterogen sind und dass auch innerhalb der Kunstformen sehr unterschiedliche Beziehungen zwischen Kunst und Arbeit bestehen. Diese Heterogenität lässt sich noch verstärken, wenn man zusätzlich die Abgrenzung von Professionellen und Amateuren beziehungsweise Laien und Fachleuten in die Diskussion bringt. Berufsmäßige (professionelle) und besoldete Schauspieler gibt es in der westlichen Welt seit der Antike (Waidelich 1991: 19). Ein Profi ist nach diesem Begriffsverständnis also jemand, der seine Kunst als Beruf betreibt. Wie auch im Sport impliziert dieser Status nicht automatisch ein höheres Leistungsoder Qualitätsniveau als beim Amateur. Auch impliziert er, wie oben kurz dargelegt, nicht automatisch, dass der professionelle Künstler (oder Sportler) von diesem Beruf ohne zusätzliche Einnahmequellen leben kann. Im folgenden Abschnitt werde ich im Kurzüberblick die gegenwärtig im deutschsprachigen Beschäftigungssystem ›Theater‹ verbreiteten Beschäftigungsformen erläutern (ausführlich hierzu siehe Haunschild 2004; 2003; 2002). Vor diesem Hintergrund lässt sich eher verstehen, wie zum Beispiel der Ansatz von Rimini Protokoll von bestehenden beziehungsweise üblichen Arbeitsarrangements abweicht.

Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsorganisation am Theater Die deutsche Theaterlandschaft mit ihren derzeit circa 150 öffentlich subventionierten Stadt- und Staatstheatern sowie Landesbühnen ist einmalig. Ihre historischen Wurzeln liegen in der lange Zeit dezentralisierten Struktur des deutschsprachigen Raums, der Parzellierung in Fürstentümer und freie Städte. Während in anderen Ländern (zum Beispiel Frankreich und England) eine zentralistische nationalstaatliche Kulturförderung überwog, entwickelte sich in Deutschland (und Österreich) aus den seit Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Hof-, National- und Stadttheatern eine Vielzahl an mit festen Spielstätten und SchauspielEnsembles ausgestatteten Kulturtheatern. Die öffentlich finanzierten Theater, wie wir sie heute kennen, bestehen ungefähr seit den 1920er Jahren und werden als Repertoiretheater geführt (Waidelich 1991).

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Das Schauspiel als Profession gibt es in Deutschland bereits seit dem 17. Jahrhundert (Waidelich 1991). Verbreitet waren ab Mitte des 17. Jahrhunderts die sogenannten Wanderbühnen, die mit festen Ensembles umherzogen. ›Schauspieler‹ aber ist kein geschützter Beruf in Deutschland, daher wird häufig zur Abgrenzung von ›professionellen‹ Schauspielern gesprochen, die eine (wie auch immer definierte) anerkannte Ausbildung absolviert haben und/oder die Schauspielerei als hauptberufliche Beschäftigung ausüben. Beide Kriterien sind schwierig anzuwenden. Neben den circa 15 deutschen beziehungsweise 19 deutschsprachigen Schauspiel-Studiengängen gibt es eine Vielzahl von privaten Schulen, aber auch Autodidakten üben den Beruf des Schauspielers aus. Das Kriterium der hauptberuflichen Ausübung des Berufes ist aufgrund der verbreiteten unstetigen Beschäftigung (siehe unten) und der hohen Arbeitslosigkeit problematisch. Fasst man Schätzungen des Interessenverbandes Deutscher Schauspieler (IDS e.V.) und der Zentralen Bühnen-, Fernsehund Filmvermittlung des Arbeitsamtes (ZBF) zusammen, gibt es in Deutschland circa 10.000 professionelle und aktive Schauspieler. Für Bühnenkünstler in Deutschland gilt seit dem 1. Januar 2003 der zwischen der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) als Arbeitnehmerverband und dem Deutschen Bühnenverein als Arbeitgeberverband abgeschlossene Normalvertrag Bühne (NV Bühne). Die Ursprünge dieses Quasi-Tarifvertrags reichen bis in das vorletzte Jahrhundert zurück. Dieser Vertrag gilt zum Beispiel für Einzeldarsteller, Spielleiter/Regisseure und Dramaturgen. Er enthält unter anderem Regelungen über die monatliche Mindestgage (zurzeit 1.550Euro brutto), die Festlegung der Spielzeit als typische Vertragsdauer, Bedingungen für eine Nichtverlängerung beziehungsweise Vertragsauflösung, Bedingungen für eine Festanstellung (Unkündbarkeit nach 15 Jahren Beschäftigung an einem Haus), das Anrecht des Bühnenmitglieds auf angemessene Beschäftigung (nach gegenwärtiger Rechtsprechung und Praxis zwei Hauptrollen pro Spielzeit) und zu gewährende Ruhezeiten. Normalverträge mit Berufsanfängern werden für zwei, Verträge mit berufserfahrenen Schauspielern in der Regel für eine, seltener auch für zwei oder drei Spielzeiten abgeschlossen. Der Vertrag verlängert sich automatisch, wenn nicht eine fristgerechte Nichtverlängerungsmitteilung erfolgt. Damit impliziert der NV Bühne für Schauspieler Unsicherheit bezüglich der Vertragsdauer (»Wird mein Vertrag verlängert?«) sowie bezüglich des konkreten Umfangs und der konkrete Lage der Arbeitszeit (»Wie viele und welche Rolle werden ich spielen und wann sind die Proben und Aufführungen?«). Die Summe der für zumindest eine Spielzeit auf Basis des NV Bühne angestellten Schauspieler stellt das Ensemble einer Schauspielbühne dar. Die meisten öffentlichen Theater in Deutschland haben ein ›festes‹ En-

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semble von 12 bis circa 40 Schauspielern. Diese Ensembles werden häufig ergänzt durch Schauspieler, die für eine Teilspielzeit (auf Basis des NV Bühne) oder als Gäste für einzelne Stücke beziehungsweise sogar Abende beschäftigt werden. Während Ensemblemitglieder besetzt werden, ihnen also die Rollen in den Schauspielproduktionen zugewiesen werden, haben Gäste die Wahlmöglichkeit, ob sie einen entsprechenden Dienstvertrag abschließen möchten. Ihre Autonomie ist insofern größer, als sie nur explizit vereinbarte Rollen beziehungsweise Partien übernehmen müssen. Zudem sind Gäste nicht wie Solomitglieder residenzpflichtig; sie müssen der Bühne nur im Rahmen der vertraglich konkret vereinbarten Dienste zur Verfügung stehen. Nach den Statistiken des Deutschen Bühnenvereins ist nur circa ein Viertel der professionellen Schauspieler (circa 2.500) auf Basis des NV Bühne in einem festen Engagement beschäftigt. Die Hälfte der Schauspieler (circa 5.000) sind – zumindest zeitweise – als Gäste an öffentlichen Theatern tätig. Weitere Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben sich in privaten, kommerziellen oder freien Theatern sowie bei Film, Fernsehen oder Rundfunk. Viele der nicht in einem Ensemble beschäftigten Schauspieler sind immer wieder arbeitslos beziehungsweise haben andere Jobs, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Theater kann als Projektorganisation aufgefasst werden; ein Stück wird ausgewählt, geprobt, kommt heraus, es wird gespielt, eventuell in der nächsten Saison noch einmal wieder aufgenommen und dann (als Projekt) abgeschlossen. Die vorfindbaren Beschäftigungsformen erlauben zum einen den flexiblen Einsatz der Theaterkünstler – und zwar bezüglich der Stückbesetzung und der Terminierung von Proben und Aufführungen, aber auch bezüglich der Zusammenstellung des Ensembles durch den Intendanten. Zum anderen erschwert die Mischung aus Ensemblemitgliedern mit Beschäftigungsrechten und begrenztem Arbeitspensum und Gästen mit zum Teil anderen Verpflichtungen die Koordination aller Einzelaktivitäten. Das Personalmanagement am Theater ist geprägt von stark personalisierten Rekrutierungs- und Besetzungsentscheidungen, ausgeprägten Autoritätsbeziehungen zwischen Intendant und Schauspielern beziehungsweise Regisseur und Schauspielern sowie einem großen Maß an Eigenverantwortung der Arbeitskräfte für ihre Beschäftigungsfähigkeit (employability). Schauspieler sind einem beständigen Selbstvermarktungsdruck ausgesetzt, da ihre Verträge befristet sind und ein interner Wettbewerb um gute Rollen besteht. Es lässt sich zeigen, dass sie viele Merkmale des von Voß und Pongratz (1998) entwickelten Idealtypus des Arbeitskraftunternehmers aufweisen, das heißt ihre Tätigkeit verlangt einen hohen Grad an Selbstorganisation, an Selbstökonomisierung und Ver-

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betrieblichung ihrer gesamten Lebensführung (siehe ausführlich Eikhof/ Haunschild 2004). Der Überblick über Beschäftigungsformen und Arbeitsorganisation am Theater verdeutlicht, dass die Gruppe Rimini Protokoll in mehrfacher Hinsicht von gängigen Produktionsmustern abweicht. Sie integrieren Darsteller in ihre Stücke, die weder Professionals noch theaterspielende Laien sind. Trauerredner, Sterbebegleiter, Begräbnismusiker, Opferberater, Steinmetze, Staatsanwälte, Journalisten/Korrespondenten oder, wie im Sondenprojekt, nichts ahnende Passanten, die in der Regel keinerlei Theatererfahrung besitzen, spielen ›sich selbst‹ (ein etwas anderer Ansatz findet sich in Michael Laubs Stück Porträts 360 sek., das 2002 am Hamburger Schauspielhaus Premiere hatte und in dem Schauspieler und nicht-künstlerische Theatermitarbeiter sich in jeweils 360 Sekunden auf ganz unterschiedliche Weise selbst vorstellen). Nichtsdestoweniger handelt es sich um von Profis inszenierte und produzierte Kunst. Rimini Protokoll ist nicht an einem Laienspiel interessiert, sondern arbeitet in seinen Projekten gezielt und bewusst mit dem Lebens- und Erfahrungshintergrund von Nicht-Schauspielern. Anders als beim Schülertheater oder der Laienspielgruppe ergibt sich trotz nicht-professioneller Inputs durch professionelle Dramaturgie und Inszenierung ein in der Art World (Becker 1982) als ›Theater‹ anerkanntes Kunstwerk. Dies ist ein Ansatz, der bewusst bestehende Theaterroutinen aufbricht und Irritationen für den professionellen Theaterbetrieb bedeutet, vor allem für die immer wieder an den Projekten beteiligten professionellen Schauspieler. Er zeigt auch, dass die Professionalität aller an einer Theaterproduktion Beteiligten keine notwendige Bedingung für hohe künstlerische Qualität darstellt. Die von Rimini Protokoll eingesetzten Darsteller haben (beziehungsweise entwickeln) sicherlich – wie professionelle Schauspieler – Spaß am Theaterspiel. Aber das Theaterspielen ist nicht ihr Beruf und ihre Beteiligung an einer Theaterproduktion kann allenfalls als temporäre Nebenbeschäftigung gesehen werden. Sie sind, im Unterschied zu professionellen Schauspielern, keinem Marktdruck ausgesetzt. Weder konkurrieren sie um Rollen noch geht es ihnen um eine Weiterbeschäftigung in neuen Projekten. Im Folgenden möchte ich versuchen aufzuzeigen, wie professionelle Schauspieler den Konflikt zwischen künstlerischem Selbstverständnis und Spaß am Theaterspiel auf der einen und Theater als Erwerbsarbeit mit individuellem Marktdruck auf der anderen Seite bewältigen.

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Spielwut, Spielregeln und Lebensstil Andres Veiels Dokumentarfilm Die Spielwütigen (und ähnlich auch die Spielfilme Kleine Haie oder A Chorus Line) verdeutlichen auf eindrucksvolle Weise den unbändigen Drang angehender Schauspieler, auf der Bühne zu stehen. Auf ebenso eindrucksvolle Weise verdeutlicht Veiels Film die Sozialisation von angehenden Schauspielern in einer Schauspielschule. Die von Veiel über sieben Jahre, von der Entscheidung zum Schauspielberuf bis hin zu ihren ersten Engagements, begleiteten Schauspielschüler werden in einen Arbeitskontext sozialisiert, der extreme zeitliche und räumliche Nähe zu Arbeitskollegen und ein ›Aufgehen‹ in der gewählten Kunstform impliziert. Diese Sozialisation beinhaltet zudem die Internalisierung einer – im Vergleich zu vielen anderen Arbeitskontexten – extremen Autoritätsbeziehung zwischen Regisseur und Schauspieler. Eine Struktur, die zugleich von eingeforderter Individualität und Kreativität sowie von Selbstaufgabe und Unterwerfung geprägt ist und der sich einer der Schauspielschüler (Prodomos) bis hin zur handfesten Auseinandersetzung mit Dozenten und Schulleitung widersetzt. Auch in von Doris Ruth Eikhof und mir durchgeführten Interviews wurde deutlich, dass nahezu alle Schauspieler nie einen anderen Beruf erwogen haben. Auch die Tatsache, dass viele Schauspieler in nicht oder schlecht bezahlten freien Projekten arbeiten und sich mit anderen Jobs über Wasser halten, zeigt, dass der Wunsch, ein Künstler/Schauspieler zu sein, wesentlich stärker ist als der, einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu haben. Man kann sicherlich sagen, dass Schauspieler intrinsisch motiviert sind. Sie betonten uns gegenüber, dass vieles an ihrem Job stressig und nervig sei, aber dass das Spielen vor Publikum und der Applaus für alles entschädige. Sie wollen spielen, sie wollen sich präsentieren, sie wollen in herausfordernden und spannenden Projekten mitarbeiten. Die hohe Ablehnungsquote bei staatlichen Schauspielschulen (zum Teil über 99 %) zeigt, welche Anziehungskraft dieser Beruf ausübt, macht aber auch deutlich, wie viele intrinsisch motivierte angehende Schauspieler es gibt, die nicht zum Zuge kommen. Viele von ihnen beginnen eine Ausbildung in einer der zahlreichen Privatschulen – aber die Aussichten, von dort an eines der angesehenen Häuser zu kommen, sind gering. Diese ausgeprägte intrinsische Motivation (die ja auch ein Tischler, eine Chirurgin, eine Bergführerin, ein Wissenschaftler oder ein Altenpfleger haben können) ist verknüpft mit der Selbstwahrnehmung, ein Künstler zu sein, jemand, der anders ist, weil nicht so spießig, eingefahren und langweilig wie der Rest der Gesellschaft, und der bestimmte Freiheiten bezüglich Kleidung, Sprache, Interaktionsverhalten besitzt beziehungsweise sich diese nimmt. Ebenso findet – wie in allen Art Worlds

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(Becker 1982) – eine kontinuierliche Abgrenzung von Laien oder Amateuren statt. Es ist entscheidend, immer wieder die Trennlinie zwischen Künstlern und Nicht-Künstlern zu ziehen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass dies nicht immer leicht ist, da der Künstlerstatus nicht mit einem Beschäftigungs- oder hierarchischen Status gleichgesetzt werden kann. Noch schwieriger als am Theater ist dies aber bei Film und Fernsehen, wo von der Straße gecastete Serienstars viel Geld mit ihrer Schauspieltätigkeit verdienen. Kaum einer würde diese Darsteller, auch wenn sie vielleicht Talent haben, als Künstler im engeren Sinne bezeichnen. Im Gegenteil, Theaterschauspieler grenzen sich von ihnen mit Nachdruck ab. Dies geht soweit, dass eine Rolle in einer als niveaulos angesehenen TV-Produktion die Reputation und damit die Chancen auf das nächste interessante Projekt verringern können. Es ist vielleicht keine Überraschung, dass sich gerade im deutschen Beschäftigungssystem eine Dominanz staatlicher Schauspielschulen herausgebildet hat. Ein Abschluss an einer dieser Schulen ist ein eindeutiger Indikator dafür, dass es sich bei einem Schauspieler um einen ›echten‹, professionellen Künstler handelt, auch wenn er oder sie zurzeit kein Engagement hat oder bis auf freie Projekte noch nie eines hatte. Der Gaststatus für solche Schauspieler ist also eine Art Ritterschlag, ein Signal, dass man zwar kein festes Engagement anbieten kann, aber an die Professionalität des Künstlers glaubt. Die Arbeitsidentität von Schauspielern ist in erster Linie eine Künstleridentität – selten gesellt sich dazu der Stolz, Ensemblemitglied an einem bestimmten Theater, also zum Beispiel ein Burgschauspieler oder ein Thaliaschauspieler zu sein. Verbunden hiermit ist das Ideal, bewusst keine Trennung zwischen Beruf beziehungsweise Arbeit auf der einen und Leben beziehungsweise Freizeit auf der anderen Seite vorzunehmen. Im Gegenteil, das Leben ist ein Leben für die Kunst. Die oben geschilderte Sozialisation von Theaterkünstlern, die intensive kollektive Arbeitssituation, die von großen Teilen der Gesellschaft abweichenden Arbeitszeiten und die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit beim Lernen von Texten, bei Proben und Aufführungen, bei Diskussionen auf Premierenfeiern und in der Theaterkantine führen zu einem relativ geschlossenen, sich bewusst vom Rest der Gesellschaft abgrenzenden Milieu (Bourdieu 1982; 1999). Dies ist unter anderem mit dem Begriff ›Theaterfamilie‹ gemeint, der auf die umfassende, Arbeit und Leben vereinigende kollektive Struktur der Theaterwelt verweist. Auch wenn die von dieser Familie gespendete Geborgenheit von vielen (insbesondere natürlich von weniger erfolgreichen, marginalisierten oder in Ungnade gefallenen Schauspielern) als Schein(-heilig) bezeichnet wird, so erleichtert diese intensive occupational community (Tolbert 1986) doch zum

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Beispiel den Wechsel zwischen Theatern und das Nomadenleben vieler Gäste, freier Schauspieler und Regisseure. Damit finden sich im Lebensstil von Schauspielern viele Elemente des klassischen Bohemien wieder, wie zum Beispiel die bewusste Abgrenzung vom Bürgertum und von Amateurkünstlern, die Mischung aus individuellem Künstlertum und kollektiver Identifikation sowie die Idealisierung von Veränderung, Mobilität und Provisorien, die ein ›gemütliches‹ Einrichten in stabilen Lebensumständen zu vermeiden hilft (ausführlich hierzu siehe auch Eikhof/Haunschild 2006). Anders als der klassische Bohemien ist das Ensemblemitglied allerdings Teil einer Kulturindustrie und, wie oben dargelegt, eingebunden in einen strikt organisierten und in weiten Teilen fremdbestimmten künstlerischen Produktionsprozess. Auch wenn zum Beispiel Frank Castorf im Hinblick auf – natürlich abzulehnende – ›bürgerliche‹ Schauspieler von Darstellungsbeamten spricht (Kümmel 2006), lässt sich dennoch der Lebensstil vieler Schauspieler als ein an den Idealen des Bohemiens orientierter, ›moderner‹ Bohemien-Lebensstil beschreiben (siehe auch das Titelthema von Theater heute 2007, H. 2). Lebensstil- und Milieukonzepte (siehe zum Beispiel Schulze 1992 und natürlich Bourdieu 1982) stellen individuelle Präferenzen, Einstellungen sowie Wahrnehmungs- und Lebensweisen in einen kollektiven, von sozialer Herkunft geprägten Kontext. Geteilte Lebensstile basieren immer auch auf der Distinktion von anderen Lebensstilen – ein Aspekt, der sich bei Theaterkünstlern sehr deutlich wiederfindet. Für das Beschäftigungssystem Theater besitzt das Lebensstil-Konzept eine besondere Erklärungskraft. Wie sonst nämlich wäre zu verstehen, dass Theaterkünstler zum einen intrinsisch motivierte, für das Theater lebende Künstler sind und zum anderen für die meisten anderen Arbeitnehmer prekäre Beschäftigungsverhältnisse akzeptieren, die mit großen Abhängigkeiten von externen Beurteilungen und Besetzungsentscheidungen verbunden sind und ein ›Privatleben‹ im herkömmlichen Sinne unmöglich machen? Wie ist es zu erklären, dass Schauspieler zugleich ihre künstlerischen Ideale und ein dem Markt beständig ausgesetztes, strategisches und ökonomisches Kalkül voraussetzendes Arbeitskraftunternehmertum leben können? Ein Lebensstil, der Stabilität und Routinen sowie bürgerliche Tugenden weitgehend ablehnt beziehungsweise sich von diesen distanziert, erleichtert es Theaterkünstlern, die existierenden Widersprüche zwischen Kunst und Markt (beziehungsweise zwischen Spiel und Arbeit) zu bewältigen.

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Fazit: Arbeit, Leben und Spiel Die Bedeutung des künstlerischen Lebensstils für die Integration künstlerischer und ökonomischer Handlungslogiken zeigt, dass die für die künstlerische Produktion problematische Dichotomie Arbeit versus Spiel individuell (Künstler) und kollektiv (Kulturindustrie) aufgelöst werden kann (Eikhof/Haunschild 2007). Schauspieler sind zugleich intrinsisch motivierte, Kunst um der Kunst willen produzierende Künstler und am Markt agierende Unternehmer ihrer eigenen, auf Fähigkeiten der Körperbeherrschung und Darstellung basierenden Arbeitskraft. Der (moderne) Bohemien will keine Trennung zwischen Spiel und (Erwerbs-)Arbeit; mit dem Konzept der Work-Life-Balance kann er – da gerade die Einheit von Leben und künstlerischer Arbeit angestrebt wird – kaum etwas anfangen. Theater-Laien können zwar am Theater ›mitspielen‹, sie werden aber dennoch zugleich nicht als Künstler und professioneller Partner ernst genommen. Joseph Beuys’ Diktum »jeder Mensch ein Künstler« kann daher zwar auf das Kreativitätspotenzial eines jeden Menschen und eine gewisse ›Beliebigkeit‹ der Abgrenzung künstlerischer von nicht-künstlerischer Tätigkeit (und Lebensweise) verweisen. Diese Sichtweise jedoch vernachlässigt die Realität künstlerischer, historisch gewachsener und institutionalisierter Distinktionsversuche. Der Blick auf den Lebensstil von Theaterkünstlern macht den Unterschied zwischen Profi und Laie in besonderer Weise deutlich und hilft zu verstehen, warum professionelle Theaterkünstler sich von einem Laien trotz eventueller schauspielerischer Begabung distanzieren. Für die Zuschauer von Rimini Protokoll ist dies nicht sichtbar. Eher geht es hier um ein Spiel mit Irritationen: »Wer auf der Bühne ist jetzt der ›echte‹ Schauspieler?« »Spielt ein Laie gerade sich selbst oder ein professioneller Schauspieler einen Laien, der sich selbst spielt?« Profis und Laien spielen bei Rimini Protokoll zusammen auf der Bühne (oder an anderen Aufführungsstätten); dass dies zu neuen, sehr interessanten künstlerischen Ausdrucksformen am Theater führen kann, hat die Gruppe eindrucksvoll bewiesen. Dieses gemeinsame Spiel auf der Bühne aber lässt für den Zuschauer (auch wenn er bei einigen Stücken über das übliche Maß hinaus an der Aufführung beteiligt wird; vgl. auch Deck/Sieburg 2008) die dahinter liegenden Erwerbsarbeits- und Beschäftigungsformen im Dunkeln – ganz ähnlich übrigens wie im von prekären Beschäftigungsverhältnissen geprägten Dienstleistungssektor, zum Beispiel in der Gastronomie oder auch im Einzelhandel und im Pflege- und Gesundheitsbereich. Theater ist für professionelle Schauspieler von Lust und Begeisterung geprägtes Spiel und von Unsicherheiten und Arbeitsmarktrisiken

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geprägte Erwerbsarbeit zugleich. Zwei gegenläufige Entwicklungen lassen sich derzeit beobachten, die beide darauf verweisen, dass das Verhältnis von Arbeit und Spiel am Theater auf andere Bereiche übertragbar sein könnte. Dies ist zum einen eine Ökonomisierung und Vermarktlichung der Kulturproduktion selbst (das Spiel wird arbeitsbezogener) und zum anderen die Integration künstlerischer (spielerischer, kreativer) Elemente in traditionell nicht-künstlerische Wirtschaftsbereiche (die Arbeit wird spielerischer). Die oben als in der Regel gelungen dargestellte Integration von Kunst und Markt im Sinne eines von Individuen verinnerlichten und nicht als Problem wahrgenommenen Lebensentwurfs gerät unter Druck, wenn Marktkräfte (in Form von gekürzten Budgets, vorgegebenen Einschaltquoten oder Zuschauerzahlen sowie Arbeitsmarktrisiken) an Einfluss auf den künstlerischen Schaffensprozess gewinnen und die Verdrängung beziehungsweise Verschleierung ökonomischer Praktiken hinter dem künstlerischen Vorhang nicht mehr gelingt (Eikhof/Haunschild 2007), wenn also Arbeit und Marktlogik das Spiel verdrängen, wie dies derzeit zum Beispiel auch im Profifußball zu beobachten ist. Aber auch eine gegenläufige Entwicklung ist beobachtbar. Aktuelle Tendenzen der Arbeitswelt, zum Beispiel in sogenannten Szeneunternehmen oder in der New Economy, scheinen auf eine unschärfer werdende Grenze zwischen Arbeit und Spiel hinzudeuten. Tischfußball, Tischtennis, Computerspiele und gemeinsames Pizzaessen in Büros sollen die Atmosphäre auflockern und kommunizieren, dass Arbeit, Spaß und Spiel nicht zwangsläufig unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Lebenssphären zugeordnet sein müssen (siehe zum Beispiel die eindrucksvollen Fotobeispiele von Büros der Firma Google im googleplex blog auf www.hongkiat.com). Auch traditionelle Unternehmen bemühen sich zu betonen, dass – ganz ähnlich wie bei den in diesem Beitrag vorgestellten Theaterkünstlern – eingeforderte Kreativität und Unkonventionalität gepaart mit Selbstorganisation und Selbstvermarktung die Zeichen der Zeit sind. Soziologen erklären diese Entwicklungen unter anderem mit gesellschaftlichen Individualisierungstendenzen (Beck 1986), einer zunehmenden Tertiarisierung verbunden mit immaterieller beziehungsweise affektiver Arbeit (Deutschmann 2002; Negri/Hardt 2000) und Reaktionen des Kapitalismus auf Kritik an Entfremdung durch fremdgesteuerte Arbeit und mangelnde Ausnutzung von Kreativitätspotenzialen (Boltanski/Chiapello 2003; siehe auch Weiskopf/Loacker 2006; Opitz 2004). Andere Ansätze, wie zum Beispiel Richard Floridas (2002) derzeit viel diskutierte Analyse einer wachsenden ›Creative Class‹ in den USA (die bereits Eingang in die allgemeine Wirtschaftspresse gefunden hat; siehe zum Beispiel Wirtschaftswoche 2007, Nr. 8) und David

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Brooks’ (2000) Beschreibung des Lebensstils einer sogenannten bohemian bourgeoisie verweisen auf ein zunehmendes Bedürfnis im weitesten Sinne ›kreativer‹ Arbeitskräfte (neben Künstlern zum Beispiel auch Medienleute, Entwickler, Berater et cetera), kreative Arbeit und kreatives Leben stärker miteinander zu verweben und damit einen Lebensstil zu entwickeln, der sich dem von Künstlern annähert. Diese (zum Teil widersprüchlichen) Entwicklungen zeigen, dass die am Theater vorfindbare Verbindung von Spiel und Arbeit eine Art Modellcharakter aufweist. Ohnehin hat das Bürgertum das Lebensmodell ›Künstler‹ immer zugleich geduldet sowie mit Misstrauen, aber auch mit Neid betrachtet. Liefert das Theater also ein Modell für ›Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen‹ (Bergmann 2004)? In jedem Fall bietet das Beschäftigungssystem Theater Einblicke, wie Spiel und Arbeit miteinander verwoben sein können.

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Prolog Soziologie und Theater – das passt nicht zusammen. Soziologen fassen soziologische Theaterstudien als Bindestrich-Phänomene auf; als ›Theater-Soziologie‹, die sich auf bestimmte Fälle beschränkt, von denen wenig allgemeiner Erkenntnisgewinn zu erwarten ist. Theaterleute finden die Sprache der Soziologie meist zu abstrakt und unverständlich (womit sie nicht ganz unrecht haben). Soziologen haben es immer ein bisschen schwer gegenüber den schönen Künsten und kommen sich langweilig und unbeholfen vor, wenn sie mit ihren staubigen Büchern und komplexen Analysen teilnahmslos vor Vergnügen und Spektakel ihre Beobachtungen betreiben. Max Weber, der die Musik liebte, doch Soziologe wurde, beschrieb dieses Dilemma 1919 mit dramatischen Worten in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf. Dem »glanzvollen Schaffen« der Künstler stünden die Wissenschaftler gegenüber, »die mit ihren dürren Händen Blut und Saft des wirklichen Lebens einzufangen trachten, ohne es doch je zu erhaschen«, so Weber (1947: 10). Aus Neid klauen Soziologen daher manchmal auch von Dramatikern, um ihre in schönen Worten kaum zu beschreibende Profession verständlich zu machen. Zu diesem Zweck klaute Georg Simmel, einer unserer bedeutendsten Soziologen und Kulturphilosophen, zum Beispiel von Goethe. Simmel sah 1894 die Aufgabe der Soziologie darin, »das, was die Gesellschaft im Inneren zusammenhält«, zu verstehen. Die These, über die ich mit Ihnen gemeinsam nachdenken möchte, lautet folgendermaßen: Ich glaube, dass die zeitgenössische Theaterpraxis und insbesondere diejenige, die an der Berliner Volksbühne nach 1990 zu sehen war, zeigt, dass das, was die Gesellschaft im Inneren zusammenhält, nicht nur äußerst komplex und plötzlich grundlegend infrage gestellt sein kann. Das ›postdramatische Theater‹ zeigt auch, dass die 157

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theatrale Verarbeitung dieser sozialen Wirklichkeit eine spezifische Form der Aufbereitung dieser Wirklichkeit darstellt. Ebenso wie die Soziologie sucht sie dafür eine ihr eigene Sprache und ihr eigene Untersuchungsmethoden. Ich teile die Meinung Hans-Thies Lehmanns, nach der das Theater ein Ort sozio-symbolischer Praxis ist. Doch wie steht es angesichts des »Einbruchs des Realen« (Lehmann) in das Theater um den Einbruch des Theaters in die Soziologie? Auch hier hilft ein Blick in unsere Klassiker. Karl Mannheim definierte das Verhältnis von Soziologie zu den Kulturgebilden 1922 mit den Worten: »Die Kulturgebilde steigen aus dem gesellschaftlichen Leben auf und kehren in dieses zurück; sie sind eine der Funktionen der Gesellschaft, zugleich aber ist es eine ihrer Funktionen, vergesellschaftend zu wirken. In dieser letzteren Hinsicht sind sie Gegenstand der Soziologie als Gesellschaftslehre.« (Mannheim 1980: 59) Die Berliner Volksbühne hatte mit der Intendanzübergabe an Frank Castorf ab 1992 eine Bedeutung erlangt, die soziologisch deshalb interessant ist, weil diese künstlerische Institution eben die von Mannheim beschriebene vergesellschaftende Funktion für den frisch vereinigten Berliner Stadtraum hatte. Meine These lautet, dass diese Funktion eng mit dem Ende der staatssozialistischen Utopie zusammenhing. Mein Aufsatz beschäftigt sich also mit der Frage, in welchem gesellschaftlichen Zusammenhang die so erfolgreiche Etablierung nicht eines Theaters steht, sondern einer, wie Helmut Schelsky Institutionen einmal definiert hatte, »sozialen Bedürfnissynthese«. ›Institution‹ und ›Utopie‹ gehören ohnehin zu den Lieblingsthemen der Soziologie. Zusammendenken kann sie diese aber nur mithilfe der Kunst.

Utopistische Kulturproduktion Mit der Verselbstständigung der Felder der Kunstproduktion, die sich in den westeuropäischen Industrienationen des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten, wurde auch die Frage aktuell, was die künstlerische Produktionsweise eigentlich von den sonstigen Berufen unterscheidet. Georg Simmel zufolge stand die Eigengeltung der Kulturproduktion in einem inneren Zusammenhang mit der Sehnsucht nach der Überwindung der Arbeitsteilung – einer Sehnsucht, die, partiell politisch konnotiert, vor allem als utopischer Grundzug gemeinschaftsstiftend wirkte. Ungefähr hundert Jahre später legte Pierre Bourdieu seine kunstsoziologische Studie Les règles de l’art (1992) vor. Er übertrug die von Simmel aufgeworfene Verbindung zwischen Professionsethos und Verhaltensform auf das von ihm entworfene praxistheoretische Konzept des sozialen Feldes, in-

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dem er die Gruppe der Künstler und Schriftsteller als eine Zunft definierte, die sowohl auf ihre Tätigkeit wie auf ihren Lebensstil beharrte. Innerhalb der sozialen Dynamik des Feldes der Kunst, dem er die spezifischen Felder der bildenden Kunst, der Literatur und des Theaters zuordnete, beschrieb Bourdieu das Verhalten der französischen Bohemiens als institutionnalisation de l’anomie. Zunächst fällt die Zweigesichtigkeit des Ausdrucks auf, der ›Ordnung‹ und ›Abweichung‹ miteinander vereint. Wie also soll »Institutionalisierung« in diesem Kontext verstanden werden? In der Folge von Arnold Gehlen wurde man innerhalb der Kulturanthropologie auf dessen semantische Doppelgeltung aufmerksam. Gehlens Schüler und Kritiker Karl-Siegbert Rehberg plädiert heute für einen Institutionenbegriff, der seine Geschichtlichkeit und symbolische Transzendierungsleistung betont (vgl. Rehberg 2001). Auch Bourdieu zielte mit der institutionnalisation de l’anomie offenbar nicht auf die Idee der Ordnung oder des ›starren Gehäuses‹ im Sinne Max Webers, sondern auf den Prozess der Instituierung, also auf die Herausbildung und den Wandel einer spezifischen Sozialfigur – dem Kulturproduzenten der Moderne. Sophie Rois, Volksbühnen-Ensemblemitglied, bringt die damit verbundene professionelle Selbstsicht in einem Interview mit den Worten auf den Punkt: »Einerseits fackeln sich die Schauspieler jeden Abend auf der Bühne ab, andererseits hat es eine große Lässigkeit. Ich bin zum Theater gegangen, weil ich nicht arbeiten möchte.« (Laudenbach 2005) Folgen wir Rois, Rehberg und Bourdieu, so kann festgehalten werden: Das Primat der Abweichung (Anomie) von gesellschaftlich gegebenen Normvorstellungen gehört nicht nur zum beruflichen Selbstverständnis moderner Kulturproduzenten, sondern es strukturiert ein auf Eigengeltung und Autonomie beharrendes soziales Feld. In dieser symbolischen Transzendierungsleistung liegt nicht nur die Anziehungskraft, sondern auch die soziale Wirkmächtigkeit von Kunst und Theater. Woraus aber speist sich dieses Bedürfnis nach Abweichung? Was führt zur Vergesellschaftung dieses Bedürfnisses? Und ist diese Vergesellschaftung als soziale Ordnung, als institutionelle Formation zu verstehen, oder handelt es sich, eben weil sie auf ein anomisches Handlungsinteresse verweist, um eine spezifische Form von Un-Ordnung, die auf der Grundlage utopischer Zielvorstellungen gerade auf der Schwelle zur Institutionalisierung operiert? Die wechselseitige Durchdringung von Institution, Anomie und Utopie lässt ahnen, dass es sich um Grenzphänomene handelt, die gleichwohl handfeste soziale Praktiken, Tatbestände und Artefakte dort unübersehbar machen, wo ihre inneren Triebkräfte auf das Engste an ihre gesellschaftlich bedingten Rahmungen gekoppelt sind. Der historisch bislang einmalige Versuch, die Idee des Kommunismus zu verwirklichen, war auch das Projekt der Institutionalisierung der

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politischen Utopie. Es wundert daher nicht, dass die Verbindung von Kulturproduktion und Utopie in diesem Kontext eine besonders starke symbolische Wirkung gezeitigt hatte – wie die herausragende Stellung der Kunst in den staatssozialistischen Ländern bezeugt. Besonders deutlich wird dies in der Betrachtung der Kämpfe zwischen der Avantgarde und der Partei in der jungen Sowjetunion. Auf sie trifft die Feststellung Mannheims zu, nach der die Utopie eine transformierende Kraft sei, welche die gesellschaftliche Gegenwart sowohl ideativ als auch praktisch zu überwinden beansprucht. Ihre Bedeutung als Mobilisierungsressource für künstlerisches Handeln bildet sich an ihrer instituierenden Wirkung ab, die spezifische Figurationen zusammenführt und ihnen eine dauerhafte symbolische Bedeutung verleiht. Die Utopie wird zu einem »gesellschaftlichen Imaginären«, wie der griechisch-französische Institutionentheoretiker Cornelius Castoriadis es nannte, ein »gesellschaftlich Imaginäres«, das gleich einer anomischen Teilmenge der Gesamtheit gesellschaftlicher Zielvorstellungen deren aktuale Sollgeltungen überschreitet. Wie aber wirken sich diese Tatbestände aus, wenn die Utopie verloren geht; wenn also das, was in der okzidentalen Welt der Kultivierung des Abweichenden als Innovationsquelle gilt, mit einem weltweiten politischen Utopieverlust konfrontiert ist, dessen gleichwohl befreiende Effekte von bislang ungekannter Heterogenität sind? Ist es nicht besonders symptomatisch für diesen Zusammenhang, dass sich die politische Utopie nach dem Ende der institutionalisierten Utopie ausgerechnet in den Künsten einer so stabilen Beliebtheit erfreut? Und spricht es nicht insbesondere für die Wirkmächtigkeit dieses gesellschaftlichen Imaginären, wenn die Verbindung von Abweichung und Utopie ausgerechnet in einem Zweig der Kulturproduktion überragend erfolgreich ist, der am stärksten institutionalisiert ist – dem Feld des Theaters?

Grenzen und Schwellen Es ließe sich trefflich darüber streiten, ob wir es nach dem Mauerfall mit einem Ideologie- oder mit einem Utopieverlust zu tun hatten. Wenn ich das Ende des Staatssozialismus mit dem Ende der politischen Utopien assoziiere, nehme ich das gesellschaftliche Imaginäre zum Ausgangspunkt – hier halte ich es sowohl mit Castoriadis als auch mit Mannheim. 1925 hatte sich Mannheim weitsichtig für eine deutliche Trennung von Utopie und Ideologie entschieden: »Während der Untergang des Ideologischen nur für bestimmte Schichten eine Krise darstellt und die durch Ideologieenthüllung entstehende Sachlichkeit für die Gesamtheit immer eine Selbsterklärung bedeutet, würde das völlige Verschwinden des Uto-

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pischen die Gestalt der gesamten Menschwerdung transformieren.« (Mannheim 1995: 225) Nicht nur entworfenen und imaginierten Utopien, sondern auch ihrem Ende maß Mannheim eine transformierende Wirkung zu. Welcher Art sind aber die Transformationen, die das Ende des Staatssozialismus und die mit ihm verbundene Freisetzung eines Zeitgeistes des ›anything goes‹ auf die kulturelle Gestalt der Menschwerdung auslösen? Die Kulisse, vor der sich die Berliner Volksbühne im Laufe der 1990er Jahre in Szene setzt, zeichnet sich durch den krisenhaften Zustand einer neuen alten Hauptstadt aus, die nicht nur politisch, sondern auch kulturell gespalten war. Über 40 Jahre lang wurde Kunst in Berlin in zwei verschiedenen politischen Systemen betrieben. Der gesellschaftliche Ausnahmezustand der Wende brachte das strukturelle Missverhältnis einer westlichen Gesellschaft zutage, das auf einer arbeitsteiligen Abspaltung der Kulturproduktion und -rezeption beruht. Den ostdeutschen Bürgern wurde diese Eigenschaft auf besonders einschneidende Weise deutlich, denn das kulturelle Netz war im Staatssozialismus, anders als im Westen, aus ideologischen Gründen viel dichter mit dem sozialen Netz und der Arbeitswelt verwoben. Die plötzliche Prädominanz des Ökonomischen führte hier zu einer Erosion des Kulturellen, das seinerseits bereits zuvor anomische Züge trug – doch es trug diese im vollen Bewusstsein seiner utopistischen Rahmung. Aber mit der Ernüchterung, die Anfang der 1990er Jahre nach der Vereinigungseuphorie einsetzte, blieb das Gespenst des Kommunismus nunmehr als kommunikatives Rätsel zurück – als ›Mauer in den Köpfen‹. Mit dem Ende der DDR verschwand – quasi über Nacht – aus Sicht der ostdeutschen Bevölkerung nicht nur ein Staat, den sie endlich abgeschafft sehen wollte, sondern auch ihr mentales Koordinatensystem. Der Eindruck, im vereinten Deutschland Bürger zweiter Klasse zu sein, wurde durch die rigorose ›Abwicklung‹ der DDR und der mit ihr einhergehenden Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland nur verstärkt. Die neue classe normative war von den Idealen und Werten des westlichen Kulturrahmens durchdrungen und ließ wenig Zeit und Spielraum für eine behutsame Revision realsozialistischer Perspektiven. Es handelte sich um ein Szenario, das für eine institutionnalisation de l’anomie kaum prädestinierter hätte sein können: eine Gesellschaft im Umbruch und ein mentales Wechselbad zwischen Euphorie und Utopieverlust, das für viele ehemalige Angehörige der Intelligenzija aus Ost und West selbstreferenzielle Systeme freisetzte, die zu ihrer Institutionalisierung drängten. Das Erleben eines derart tiefen, ebenso befreienden wie brutalen Epochenschnittes nährte das Bedürfnis nach Räumen, in denen jene realsozialistischen Revisionen weitgehend handlungsentlastet buchstäblich ausgelebt werden können.

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Ost-West-Transformationen Die Ostdeutschen als Avantgarde – der Titel von Wolfgang Englers Buch trifft wohl auf kaum ein Phänomen der Nach-Wende-Zeit so sehr zu wie auf die Volksbühne. Denn wo sonst konnten sich jene von Rehberg beschriebenen Transzendierungsleistungen ostdeutscher Provenienz so erfolgreich durchsetzen und sogar zu einem echten Kassenschlager werden? Michail Ryklin hat das Kommunikationsproblem der beiden Kulturen in Ost und West einmal als wechselseitige »Grenznostalgie« diagnostiziert. Vor dem Hintergrund des Mauerfalls erhält eine ästhetische Praxis, in der die Mauer – die Grenze – sich in eine Schwelle verwandelt, zu deren Neudefinition im gemeinsam erlebten Theaterereignis eingeladen wird, eine spezifische Funktion. Auf eben dieser Funktionalität baute der Institutionenbegriff Helmut Schelskys auf. Schelsky bezeichnete Institutionen in Anlehnung an den britischen Ethnologen Bronislaw Malinowksi sinnfällig als »Bedürfnissynthesen«: »Das Individuum, gefasst als Bewusstseinssubjektivität, erhält seinen bestimmenden Bezug zu den Institutionen über die Tatsache, dass das subjektive Bewusstsein Schöpfer und Träger von Ideen ist.« (Schelsky 1970: 17) Schelsky hatte dabei die bereits verstetigte Ordnung von Vergesellschaftungsprozessen im Auge, die er aus der Retrospektive untersuchte. Was Ryklin als »Grenznostalgie« bezeichnet hatte, meinte an der Volksbühne nichts anderes als das Bedürfnis nach einer performativen Redefinierung der politischen Grenze, deren Überschreitung das Ende der staatssozialistischen Utopie besiegelt hatte. Die politische Brisanz einer solchen Ästhetik des Performativen wird deutlich, wenn wir uns Erika Fischer-Lichtes Definition vergegenwärtigen, nach welcher diese auf die »Kunst der Grenzüberschreitung« ziele: »Sie arbeitet unablässig daran, [...] den Begriff der Grenze zu redefinieren. Die Grenze wird zur Schwelle, die nicht voneinander trennt, sondern miteinander verbindet.« (Fischer-Lichte 2004: 356) Die sich am Rosa-Luxemburg-Platz etablierende Montage aus Konzerten, Performances, Lesungen, Theateraufführungen, Tanzabenden und politischen Veranstaltungen wurde rasch zu einem Markenzeichen, das ein Publikum aus Ost und West anzog. Schon wenige Monate nach der Intendanzübernahme durch Frank Castorf war im Berliner Stadtraum klar, dass dieses »Gebäude von schlagender Häßlichkeit«, wie Ivan Nagel die Volksbühne beschrieb, ein bedeutendes kulturelles Kraftzentrum inmitten Berlins hervorbringen würde, das keine gefälligen Antworten auf komplexe gesellschaftliche Fragen zu geben bereit ist. Das war möglich, weil die Künstler, die sich hier dauerhaft niederließen, vor 1989 jeweils sehr spezifische Formen der symbolischen Wirklichkeitsorganisation praktiziert hatten, die sich alle in einer »relativen Autonomie«

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(Marx) gegenüber den jeweiligen offiziellen Sanktionsinstanzen bewegt hatten. Die DDR-Biografien von Frank Castorf und Bert Neumann zeugen von einer permanenten Suche nach produktiven Freiräumen, die zugleich durch ein spezifisch gesellschaftsbezogenes künstlerisches Professionsethos gekennzeichnet war. Sie hatten schon zu DDR-Zeiten inoffizielle Abweichungstechniken instituiert, deren offizielle Anerkennung lange Zeit ungewiss blieb. Ähnliches gilt aber auch für die aus der Bundesrepublik stammenden Volksbühnen-Produzenten Kresnik, Schlingensief und später Pollesch. Sie alle hatten sich zu Spezialisten für den Aufbau ästhetisch-politischer Gegensatzspannungen gemacht, in denen bestimmte Repräsentationsmuster in der jeweiligen eigenen gesellschaftlichen Hemisphäre gegeneinander ausgespielt wurden. Aus dieser spezifischen Verbindung abweichender künstlerischer Praktiken aus den beiden deutschen Feldern der Kulturproduktion etablierte sich in der Volksbühne ein multipolares Spannungsgefüge. Es setzte sich nicht etwa durch eine einheitliche Form des Umgangs mit der staatssozialistischen Vergangenheit um, was es um so schwerer machte, in diesem Theater einfach eine Begegnungsstätte für ›Ostalgiker‹ zu wähnen. Viel zu unterschiedlich sind die Umgangsweisen und damit verbundenen Wirklichkeitsorganisationen, mit denen Castorf und Neumann sich jeweils innerhalb der DDR bewegt hatten. Ähnliches gilt auch für die Profile von Schlingensief und Pollesch. Doch erst die staatlich subventionierte Theater-Institution erlaubte die symbolische Fixierung dieser spezifischen Strategien im Sinne der von Rehberg betonten Transzendierungsleistung von Institutionen. Denn die ›Ontologie der Unbestimmtheit‹, die Castoriadis in Anlehnung an Henri Bergson als Voraussetzung des Schöpferischen bezeichnet hat, bedurfte nach dem politischen Ausnahmezustand der ›Wende‹ einer Selbstvergewisserung besonderer Natur. Dieses Bedürfnis mündete in eine idée directrice, deren innere Heterogenität das Vakuum der politischen Gegensatzspannung zwischen Ost und West zum Ausgangspunkt eines neu zu schaffenden Bedeutungsraumes machte. Die utopistisch motivierten Schwellenbewegungen, die bereits vor dem Mauerfall als organisierte Abweichung auf die beiden deutschen Felder der Kulturproduktion gewirkt hatten, konnten sich in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz geradezu beispielhaft auf Dauer stellen. Utopie und Institution konnten einerseits als Verlust, andererseits als öffentliche Legitimation ehemals abweichender Bedürfnisansprüche verbucht werden, deren zeitgeschichtliche Wurzeln eine passgenaue ästhetische Praxis hervorbracht hatten. Die Volksbühne der 1990er Jahre hatte ihre Kunst an die soziokulturellen Rahmenbedingungen ihrer politischen Geschichte in einer Konsequenz gebunden, dessen Angebot sich zu verpflichten nicht nur die Beklem-

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mungen eines staatlich-pädagogischen Auftrages, sondern ebenso die selbstgenügsame Distinktion hinter sich gelassen hat. Darin liegt die soziologisch bedeutsame Eigengeltung dieses Kulturhauses in der Mitte Berlins.

Epilog Vielleicht ist die Hoffnung, dass wir Soziologen eines Tages dahin kommen, theatrale Methoden der Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit in unsere Studien einzubauen, weniger utopisch als gedacht. Die engere Zusammenarbeit von Künstlern und Soziologen lässt sich nicht erst seit der Documenta 2005 in vielfältigen Tagungen, Zusammenkünften und Diskussionszusammenhängen beobachten. Spätestens seit den 1990er Jahren gibt es in der bildenden Kunst, aber auch im Theater verstärkt die Tendenz, sich dokumentarischer und soziologischer Praktiken anzunehmen. Die Entwicklung der Stoffe, die in den künstlerischen Arbeiten zum Tragen kommen, basieren zunehmend auf Recherchen und Interviews und werden nicht mehr zwingend in den angestammten Institutionen wie Museum, Galerie oder Theater präsentiert, sondern an anderen Orten, die mit den bearbeiteten Themen zusammenhängen, zur Aufführung gebracht. Gleichzeitig aber steht ein Austausch über die angewandten Methoden und den daraus folgenden Ergebnissen zwischen Soziologen und Künstlern nach wie vor kaum auf der Tagesordnung, obwohl Deckungsgleichheiten der bearbeiteten Themen häufig auf der Hand liegen. Damit soll nicht der viel gepriesenen und schon wieder dem Abgesang geopferten Interdisziplinarität das Wort geredet werden. Künstler wie Soziologen befassen sich mit der phänomenologischen Seite von durch Praktiken generierten Strukturen. Ihr gesellschaftlicher und kollektivierender Charakter – sei es als Ereignis, sei es als Auf-Dauer-Stellung – berührt fundamentale Fragestellungen beider Unternehmungen. Auch die Debatten um professionelle und mediale Subjektivierungstechniken, die auf das Engste mit dem künstlerischen Professionsethos verbunden sind, legen es nahe, künstlerische Praktiken nicht mehr als ein Surplus gesellschaftlichen Handelns; soziologische Analyse nicht mehr als wirklichkeits- und schöpfungsferne akademische Selbstgenügsamkeit zu betrachten. Unsere Gegenwart ist längst von der wechselseitigen Durchdringung des Sozialen und Ästhetischen geprägt und unterliegt zum Teil sogar ihrem Diktat. Schon deshalb müssten sich beide Felder mit der Frage konfrontieren, welche erkenntnisstiftenden Konsequenzen aus diesem Tatbestand zu ziehen sind.

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KUNST

ODER

KINSEY?

JÜRGEN BERGER

Seit etwas mehr als zehn Jahren experimentieren Autoren, Regisseure und Dramaturgen im deutschsprachigen Raum zunehmend mit gesellschaftspolitisch relevanten Theaterformen. Man denke an René Polleschs Attacken gegen die Ökonomisierung der intimsten Lebensbereiche, Rimini Protokolls ›Expertentheater‹, Andres Veiels Der Kick, Zaimoglu/ Senkels Schwarze Jungfrauen. In der gleichen Zeit haben allerdings auch die Theater, für die diese neuen Theaterformen entwickelt werden, eine Entwicklung durchlaufen, die sie als gesellschaftspolitisch relevante Institution infrage stellt. Dass ein Kulturland weiterhin einen Buchmarkt braucht und Literatur wichtig für die Gesellschaft ist, steht außer Frage. Das Theater dagegen steht nicht mehr selbstverständlich als Ort der Identitätsbildung im Zentrum des Gemeinwesens. Vor allem im Zuge der grassierenden Sparszenarien, die Länder und Kommunen immer neu auflegen, sehen die Theater sich einem starken Legitimationsdruck ausgesetzt und drohen zu vergessen, sich selbst als souveräne Orte der Kunstproduktion zu behaupten. Anders ausgedrückt: Seit McKinsey die Theater nach Einsparpotenzialen durchforstet, leben Theatermacher in Gefahr, neoliberales Effizienzdenken zu adaptieren. Der Befund ist paradox. Zum einen sind die Theater nicht mehr das, was sie bis Anfang der 1990er Jahre noch waren. Im gleichen Zeitraum allerdings, in dem sie sich neu erfunden haben, sind sie aus dem Zentrum der gesellschaftlichen Wahrnehmung gerückt und werden zeitweise nur noch dann als wichtige kommunale Institution wahrgenommen, wenn es um Spardebatten geht. Das Theater ist kein Elfenbeinturm mehr, das sich der gepflegten Reclamlektüre und dem Textlauschen widmet. Es ist aber auch nicht mehr der Raum, der von sich behauptet, er stelle die Notwendigkeiten der künstlerischen Arbeit über Fragestellungen der Ökonomie. Dass sich da im Selbstverständnis der Theater einiges geändert hat, sieht man immer dann, wenn eines von ihnen durch den Rotstift in seiner Substanz gefährdet wird. In der Regel steht es dann allein mit dem Rücken zur Wand und man hat den Eindruck, die Theater hätten den Glaubenssatz adaptiert, in Gefahr und größter Not verhindere Schweigen den ei167

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genen Tod. Solidarität mit bedrohten Schwesterunternehmen ist derzeit nicht unbedingt eine verbreitete Tugend unter Theatermachern und macht es Stadtkämmerern und Kulturdezernenten leicht, bei anstehenden Intendantenwechseln stromlinienförmige ›Kleinsparer‹ zu berufen. Inzwischen wird das Theater grundsätzlich infrage gestellt. Dass es sich dabei immer mehr in eine Richtung entwickelt, in der KlassikerInszenierungen sich den Spielplan mit allen möglichen Projekten, Romanadaptionen und vor allem einer historisch einmaligen Fülle von Uraufführungen teilen, kann man nur als überaus erstaunlich bezeichnen. Während das Theater von interessierten Kreisen der Kommunalpolitik immer wieder heftig attackiert wird, hat es sich in Städten wie Frankfurt und Freiburg in einen Diskursraum verwandelt, der als Experimentierstätte der kritischen Gegenwartserkundung fungiert, oder spielerischdiskursive Stadtdurchdringungen erprobt. Das ist bemerkenswert und kann als Offensive zur Rückgewinnung von Legitimität gedeutet werden, auch wenn man den Eindruck gewinnt, es gebe hier und dort Probleme in der Feinjustierung – etwa wenn einzelne Theater sich so sehr der Erkundung neuer Formen hingeben, dass sie sich temporär der Neuerkundung von Klassikern verweigern und die »Königsklasse« der textbasierten Theaterarbeit vernachlässigen. Das sind allerdings Begleiterscheinungen der Neuorientierung. Im Kern geht es um die Frage, was die derzeitige Legitimationskrise des Theaters mit den Menschen im Theater selbst macht. Wie die Legitimationskrise den Kurs einzelner Theater beeinflusst und inwiefern die Entwicklung der letzten Jahre dazu geführt hat, dass das bundesrepublikanische Stadttheater sich selbst Prozesse zumutet, die künstlerische Fragestellungen unter das Diktat einer zunehmenden Ökonomisierung stellen. Anders gefragt: Gibt es Entwicklungen, die dazu beitragen, dass es inzwischen um die Frage »Kunst oder Kinsey« geht? In diesem Zusammenhang geht es auch um die Spielpläne und den markantesten Wandel, der sich dort ablesen lässt. Gemeint ist der stetig wachsende Hang zur Uraufführung, der mit einer immensen Menge neuer Stücke einhergeht. Nennt man im Ausland die Zahl von bis zu 150 neuen, uraufgeführten Stücken pro Saison, ist ungläubiges Staunen die Reaktion. Dass es diesen Boom neuer Stücke gibt, die dann auch tatsächlich zur Uraufführung kommen, hat mit neuen Strukturen der Autorenförderung zu tun. Warteten die Theater im deutschsprachigen Raum früher noch darauf, bis die ein oder andere Größe des Schreibgeschäfts mal wieder ein Stück lieferte, um endlich die Uraufführung eines neuen Botho Strauß, Peter Turrini oder Thomas Hürlimann ankündigen zu können, werden inzwischen Stücke am Stück produziert. Möglich wurde das, weil die Theater Anfang der 1990er Jahre das britische Erfolgsmodell der Au-

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torenförderung kopierten. Inzwischen gibt es eine Schwemme von Hausautorenschaften, Stückaufträgen, Lese- oder Werkstattfestivals des neuen Stücks. Gab es Anfang der 1990er Jahre noch hier und dort zarte Schreibpflänzchen, tummelt sich im deutschsprachigen Raum inzwischen ein bunt blühender oder wild wuchernder ›Authors Kindergarden‹. Diese Entwicklung ist zu begrüßen. Junge Autoren werden zum Beispiel direkt ins Theater integriert und lernen interne Abläufe kennen. Alle Förder-, Einbindungs- und Eingemeindungsmodelle junger Autoren haben zusammengenommen zu einer Professionalisierung des Schreibens und dazu geführt, dass das Wort »Handwerk« nicht mehr unbedingt verpönt ist. Zwar dreht der ein oder andere inzwischen nicht mehr ganz so junge Jungautor immer noch Ehrenrunden im Ghetto der postdramatischen Selbstreferenzialität, inzwischen allerdings ist es nicht mehr so leicht möglich, mangelndes Handwerk hinter Textwolken der Unverbindlichkeit zu verbergen. Und es ist zu beobachten, dass gerade junge Autoren um die 25 wie Darja Stocker, Dirk Laucke und Philipp Löhle dafür sorgen, dass es in zeitgenössischen Stücken wieder um heutige Geschichten, Wut, Trauer und radikale Statements auch zu gesellschaftspolitischen Fragen geht. Das ist die eine Seite. Andererseits hat das Förderinstrument ›Stückauftrag‹ aber auch eine Ökonomisierung des Schreibprozesses zur Folge. Unterhält man sich mit jungen Autoren, hört man immer wieder, wie schwer es ihnen fällt, dem Druck von Abgabeterminen standzuhalten und beim Schreiben das rot blinkende Warnlicht zu ignorieren, das gnadenlos darauf hinweist, dass ein Theater endlich die ein oder andere Rolle besetzen möchte, während die entsprechende Figur zur Rolle noch nicht zu Papier gebracht ist. Bedenkt man, wie viele Mittel der Autorenförderung es inzwischen gibt und wie fraglos einzelne Theater den jungen Autor als Ikone ins Zentrum der Spielplan-Gestaltung stellen, ist nicht zu übersehen, dass es Zeichen der Überhitzung gibt. Inzwischen ist das Produkt ›Stück‹ keine Einzelanfertigung mehr, es wird in Serie gefertigt. Man sieht das an den schnell nach oben schießenden neuen Autoren, die mindestens zwei neue Texte pro Jahr liefern sollten und manchmal nicht mehr wissen, was sie noch alles schreiben sollen, während im Theater der Factory-Gedanke um sich greift und Dramaturgen sich während der Betreuung eines Stückauftrags wie vom Effizienzdenken infizierte Textverwalter verhalten, anstatt sich klarzumachen, dass Schreiben kein ökonomischer Vorgang und der Text keine industrielle Ware ist. Wie sich die Institution ›Theater‹ verändert hat, kann man den Spielplänen entnehmen und im ersten Moment genügt häufig ein nur quantifizierender Blick, um festzustellen, dass es in vielen Städten eine wahre

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Explosion der Anzahl von Spielplanpositionen gibt. Frappierend ist das alleine schon deshalb, weil die Theater mit immer weniger Geld immer mehr produzieren. Es zeigt aber auch, dass in den Dramaturgien ein ökonomisches Zielgruppendenken Einzug gehalten hat: Zeige mir eine neue Zielgruppe, sagt der Dramaturg zum Intendanten, dann bin ich dein Produktdesigner und konstruiere dir die entsprechende Spielplanposition. Am Ende dieser Entwicklung steht der ›Spielplan on Demand‹ und ein Theater, das sich als zielgruppenspezifischer Dienstleister versteht. Wo in diesem Zusammenhang die Sollbruchstellen verlaufen, wurde während der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft im Februar 2007 in Heidelberg deutlich. Es ging um das ›Wahre, Gute, Schöne‹. Und es ging um die Bildung auf der Bühne und die Frage, inwieweit sich das Theater auch als Dienstleister in jenem gesellschaftlichen Sektor verstehen soll, in dem laut allgemeiner Gemengelage derzeit sowohl die Elternhäuser als auch die Schulen versagen. Soll das Theater also mit einer immer größeren Flut von Einführungen in den Klassiker, Ausführungen nach dem Klassiker, Hinführungen zum neuen Stück und Führungen hin zum bedeutsamen kommunalen Ort all jenes Bildungsgut nachliefern, das in der gestressten Patchworkfamilie und der überforderten Gesamtschule auf der Strecke bleibt? In dieser Frage ging ein Riss durch die Dramaturgische Gesellschaft. Der damals neue Vorsitzende, Heidelbergs Intendant Peter Spuhler, war Verfechter eines ökonomisch effektiven Zielgruppen- und Bildungstheaters. Andere, wie der Intendant des Hamburger Thalia Theaters, Ulrich Khuon, warnten vor den Gefahren dieses Selbstverständnisses. Nicht zuletzt der Verlauf solcher Diskussionen zeigt, dass das bundesrepublikanische Stadttheater trotz schrumpfender Budgets vehement an einer Ausweitung seiner Spielzone arbeitet, dabei aber Gefahr läuft, zuerst einmal in allen Bereichen alles Mögliche auszuprobieren und einzelne Produktionen wie Häppchen unters Theatervolk zu werfen – Häppchen, die gelegentlich schnell wieder vom Spielplan verschwinden können. Das kann unter anderem daran liegen, dass aus einer Produktion inzwischen schnell ein Produkt wird. Und es kann daran liegen, dass in einzelnen Theatern inzwischen derart viele Produkte in Konkurrenz zueinander treten, dass die Disposition unter Umständen den Überblick verliert und gar nicht bemerkt, dass sie eine eigentlich noch gut laufende Produktion aus dem Spielplan nimmt. Das nächste Produkt drängelt schon und will rein ins TCM-Geschäft des ›Theatre Certified Merchandise‹. Kann es sein, dass das Theater sich im Moment unter Umständen zu viel zumutet? Kann es sein, dass es gelegentlich innehalten und reflektieren sollte, wo es steht und wohin es will? Und kann es sein, dass, ge-

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schieht dies nicht, es vor allem dort prekär wird, wo ein Theater die Mechanismen und den Jargon der Ökonomie adaptiert und wie ein übermotivierter McKinsey-Schüler wirkt? Prekär wird es auf jeden Fall immer dann, wenn einzelne Theater sich widerspruchslos dem Diktat der Fremdmittelwerbung unterwerfen und bei sinkenden Budgets Stellen im künstlerischen Bereich abbauen, gleichzeitig aber die Marketingabteilung aufstocken. Prekär wird es aber vor allem, wenn Intendanten sich als kleine Ackermänner verstehen, dabei aber vergessen, gelegentlich auch mal zu rechnen und zu überprüfen, wie das mit dem ›Haben‹ und ›Soll‹ so ist. Interessant wäre in diesem Zusammenhang eine Antwort auf die Frage, ob das Umwerben möglicher Sponsoren sich tatsächlich rechnet, oder ob die saisonal eingeworbenen Drittmittel, die einzelne Intendanten sich inzwischen als Legitimationspflaster ans Revers heften, am Ende nur die Kosten für neue Stellen im Marketingbereich decken. Sicher ist, dass sich in den letzten Jahren die Personalstruktur der Theater dramatisch verändert hat. Schrumpfende Etats hatten einen Stellenabbau im künstlerischen Bereich zur Folge. Vor allem kleine Theater stemmen ihre Spielpläne inzwischen mit merklich kleineren Ensembles und bestücken sie mit immer mehr jungen Kollegen, gerne auch mit Berufsanfängern. Die kosten am wenigsten. Der Hang zur humanen Frischware ist vor allem im Schauspiel zu beobachten und kann zur Folge haben, dass ein Schauspieler noch vor Vollendung des dreißigsten Lebensjahres als Baumeister Solness auf der Bühne steht, um sich mit dem Gefühlshaushalt eines erfolgreichen Schwerenöters jenseits der sechzig zu beschäftigen. Im gleichen Zeitraum allerdings, in dem die künstlerischen Ensembles schrumpften, wuchsen die Marketingabteilungen und leben nachwachsende Intendanten in Gefahr, sich als Wirtschaftskapitäne im Binnenverkehr zu verstehen und sich nicht mehr unbedingt dem künstlerischen Freiraum verpflichtet zu fühlen, der ihnen durch die Bereitstellung öffentlicher Mittel gewährt wird.

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T HEATERTEXTE

RENÉ

STÖRSIGNALE. P O L L E S C H I M ›P R A T E R ‹ NORBERT OTTO EKE

1. Draußen und Drinnen oder: Die »Ent-Fernung der Entfernung« »Die Kunst lebt von ihrer Differenz zur Welt.« (Khuon 2005: 33.) Mit dieser von Ulrich Khuon ins Gedächtnis zurückgeholten Begründung der Theaterkunst stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Theater und Welt im Grunde genommen nicht mehr. Die Position ist klar: hier das ›Drinnen‹ des Theaters als Ort des szenischen Geschehens und Spielplatz des Anderen, dort das ›Draußen‹, der »Welt« als Referenz- und Fluchtpunkt des Spiels. Gleich von zwei Seiten her wird dem Theater der durch dieses Begründungsmodell angesprochene politische Ort innerhalb der Gesellschaft streitig gemacht. Zum einen haben sich die am Ost-WestKonflikt ausgerichteten ästhetischen Formen politischen Theaters überlebt, seit der Kapitalismus mit den etatistischen Systemen des Staatssozialismus sein Gegenüber verloren hat. Zum anderen ist – und dies ungeachtet der forcierten Sichtbarkeit des Politischen in den Medien – im Rahmen der Globalisierungsprozesse und der sie begleitenden Schrumpfung der Räume durch die Universalisierung des Ökonomischen (Internationalisierung) und die Einschließung des Individuums in ein Netzwerk von marktbezogenen Imperativen und Appellen (Ökonomisierung des Privaten) das Politische selbst zunehmend gesichtslos geworden.1 Zugleich mit der Frage, wie der ›politische‹ Ort des Theaters sich unter den Bedingungen einer solcherart mehrfach gestaffelten »Ent-Fernung der Entfernung« (Safranski 2003: 85) noch bestimmen lässt, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des ›Drinnen‹ und ›Draußen‹ im Theater von anderer Seite neu. Im Spiegelraum von René Polleschs Inszenierungen kommen beide Fragen in eigentümlicher Weise zur Sprache – und dies im ganz wörtli1

Vgl. zum gewandelten Verhältnis von Politik und Kunst im Gegenwartstheater Lehmann 2002. 175

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chen Sinn. Polleschs Theater ist Suchbewegung, die sich produktive Reibungseffekte aus der Kollision von Schauspieler-Performance und Kulturtheorie erhofft, den Banalitäten eines abbildhaften Realismus, der politische Themen in Analogie zur alltäglichen politischen Diskursivität nachstellt, dagegen nur geringe Sympathien entgegenbringt. Als Ort der Begegnung von Theorie und Theater sind Polleschs Inszenierungen Feld subjektiver Verschiebungen und Verformungen von Wirklichkeit und Spielplatz objektiver Dekonstruktionen zugleich: der politischen Rede, die Pollesch in Szene setzt und ironisiert; des politischen Subjekts, das er zugleich auf die Bühne zitiert und in seiner diskursiven Verfasstheit vorführt; der Verabredungen und Konstruktionen von Normalität, die er erspielt und demontiert; nicht zuletzt auch der Einheit von Körper und Seele, die er als Voraussetzung der traditionellen Humanitäts- und Humanisierungskonzepte erinnert und deren zunehmende Referenzlosigkeit in einer Wirklichkeit er vor Augen führt, die das Versprechen einer von den Einschränkungen tayloristischer Organisationskonzepte befreiten Individualität nur in Gestalt neuer Desintegrationsprozesse auszahlt. Dass die »Ent-Fernung der Entfernung« in Polleschs Theater unmittelbar zum Gegenstand wird, verweist in direkter Linie zurück auf den angedeuteten Paradigmenwechsel gesellschaftlicher Formierungstendenzen unter den Bedingungen des postfordischen Kapitalismus, der mit den Prozessen der Vernetzung und der Entwicklung eines flexiblen Raumbewusstseins in augenfälliger Weise ›ortlos‹, also universal geworden ist, wie es gleich zu Beginn von Polleschs Stück Stadt als Beute (UA 2001, Volksbühne Berlin) die Sprecherin A formuliert: »Die Aktivitäten der Unternehmen sind weitgehend ortsungebunden. DAS HIER! DAS HIER IST NICHT MEHR ORTSGEBUNDEN! DIESES SCHEISS-UNTERNEHMEN! Diese SCHEISS-AUSBEUTUNG IST NICHT ORTSGEBUNDEN! Diese terroristischen Konzerne agieren ortsungebunden. Und jetzt such die Scheisse mal!« (Pollesch 2002a: 5.) Damit aber wird die Vorstellung eines ›Draußen‹ als Gegenüber des Theaters fraglich. Die auf binären Codes (›drinnen/draußen‹; ›schön/hässlich‹) aufruhenden Beschreibungsmodelle erscheinen unter den Prämissen des entgrenzten, spekulativen und sozial entpflichteten Kapitalismus als überholt, setzt die Behauptung von Differenz doch allemal die Reflexion auf Grenzen voraus: Nur durch den Bezug auf sich selbst in Abgrenzung von einer Umwelt kann Differenz hergestellt werden. Pollesch selbst hat die Entleerung dieses Differenzmodells in seiner Arbeit Tod eines Praktikanten (UA 2007, Volksbühne Berlin) zeichenhaft ausgestellt: Indem er die Abendgagen seiner Darstellerinnen in der Form von an den Kostümen befestigten ›Preisschildern‹ veröffentlicht hat, hat er in stupender Weise die Produktionsbedingungen des Theater-

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abends auf die Tagesordnung gesetzt und mit der Ausstellung der beteiligten Schauspiel-Künstlerinnen als Dienstleisterinnen/Tagelöhnerinnen die schöne Illusion von der Existenz der Kunst beziehungsweise der Kunstproduktion in einem gleichsam ›dritten Raum‹ jenseits der ökonomischen Regelungs- und Regulierungszusammenhänge demontiert. Kunst geschieht nicht in einem vom Draußen der Ökonomie unberührten Frei-Raum – und sie steht auch (was nicht zuletzt auch für Polleschs eigene Kunstpraxis gilt) in der stetigen Gefahr, als störende Möglichkeitsform gesellschaftlicher Selbstverständigungen vom Markt absorbiert und neutralisiert zu werden. Immer wieder hat Pollesch diese Realitäten des Kunstbetriebs in selbstreflexiven Schleifen unmittelbar in seine Stücke eingebunden, etwa wenn er in Stadt als Beute seine Sprecher am Beispiel einer »Heroin-Oper« Fragen der Repräsentation und der Transzendierung im Rahmen der Theater-Kunst durchdeklinieren lässt: »A: Was gibt es zu hörn? B: HEROIN! Ich halt’s nicht mehr AUS! Ich hab das nicht ausgehalten. P: Ja, gut, du warst in einer Heroinoper. Was hattest du denn erwartet? B: Jedenfalls nicht dreieinhalb Stunden FIXEN! JEDENFALLS NICHT DAS!!! Das ist nicht, was ich SEHN WOLLTE! A: So, was denn? B: Ich dachte, sie singen. Sie sitzen auf bürgerlichen Subjektpositionen und singen. Die Arien. Ich dachte, Arien sitzen auf bürgerlichen Sicherheits- und Ordnungspositionen und -perspektiven und singen von da oben. Ich wollte Musik hörn. Oder Bullen. Ich weiss das nicht mehr SO GENAU! P: Sie haben gefixt. Warum sollten sie dabei singen? B: Ich dachte, es wäre irgendwie übersetzt. Transzendiert. So macht man normalerweise Opern. Bürgerliche Subjektpositionen sitzen auf dicken Opernsängern und singen von sich.« (Pollesch 2002a: 25.)

Das ironische Spiel mit Zuschauererwartungen und Sehgewohnheiten bringt auf der formalen Ebene einen Funktionswandel des Theatertextes zum Ausdruck, den Pollesch selbst als Störung und Bruch mit den Theaterkonventionen anspricht. »Unsere Arbeit«, so Pollesch, »basiert nicht auf einer Vorverabredung, was Theater ist, und da sitzt auch keine Normalitätsschicht, die entweder nur nach oben oder nach unten blicken kann. All diese Dinge, die wir hier im Prater machen, haben nicht mit einer Unterweisung des Publikums zu tun. Im Normalfall kann ja jeder kommen, um unverbindlich und oberflächlich aufzuklären. Aber so etwas findet hier nicht statt.« (Raddatz 2007: 22.)

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2. Der andere Ort des Theaters Am Beispiel der Stückfolge Stadt als Beute, Insourcing des Zuhause: Menschen in Scheiß-Hotels und SEX. Nach Mae West, die Pollesch in der Spielzeit 2001/02 in der Prater genannten Nebenspielstätte der Berliner Volksbühne in Szene gesetzt hat, lassen sich die bislang eher tentativ umkreisten Themen- und Fragestellungen genauer beschreiben. In mittlerweile legendärer Weise hat Pollesch in seinen Prater-Inszenierungen das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Leben und der Orte, an denen dies jeweils stattfindet,2 szenisch verhandelt. Bert Neumann hatte dafür mit einem Wohnraumaufriss aus mehreren Zimmern einen Bühnenraum gestaltet, der in Polleschs Inszenierungen (und den weiteren darum gruppierten Aufführungsprojekten) variabel genutzt – in Polleschs Diktion: angesprochen werden konnte. Die Gleichförmigkeit des Raumsettings selbst hatte Zeichenfunktion: Sie verwies auf die verschwimmenden Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Bereichen und die Vermarktlichung aller Lebensverhältnisse. Polleschs Versuch, den Ort des Theaters von anderer Seite her für das Politische zu öffnen, findet in den Inszenierungsprojekten der PraterReihe Ausdruck auf zwei miteinander kommunizierenden Ebenen. Zum einen auf der materiellen Ebene des Textes, der im Anschluss an kulturtheoretische Debatten zentrale Probleme der globalisierten Gesellschaften aufgreift: die Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche einschließlich der Subjektivität, das Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Ökonomischen und dem Privaten, die Kapitalisierung der Gefühle und damit die Besetzung auch der Enklaven einer widerständigen Authentizität, die heterosexuelle Zwangsnormalität, die Verwandlung der Informalisierung zum Herrschaftssystem et cetera. Polleschs ›politische‹ Kunst realisiert sich zum anderen auf der performativen Ebene des Theaters: als Einfaltung des Politischen in einer Form, deren Ent-Faltung durchaus nicht unproblematisch ist: Einerseits macht die überdrehte zeitgeistige Spirale der Selbstreflexivität Polleschs Theater zu einem Insider-Vergnügen; andererseits droht sich seine Art der Inszenierung von Körpern, Stimmen, Räumen und Diskursen in Routine zu verlaufen, was Pollesch durchaus erkannt und darum auch nach Jahren der restriktiven 2 Zur Bedeutung der Orte in Polleschs Theater vgl.: Verkaufe dein Subjekt! René Pollesch im Gespräch mit Anja Dürrschmidt und Thomas Irmer 2001: 5f.: »Der Ort ist das Problem. Und die Orientierung dort wird zur Aufgabe. Wir wollten darüber nachdenken, was die Orte ausmacht, an denen Menschen nicht mehr wissen, ob sie zu Hause sind oder im Betrieb. […] Dieses Problem der Verortung hat selbst mit dem Thema schon viel zu tun – im Gegensatz zu dem Theater, in dem die Globalisierung immer noch traditionell am Küchentisch abgehandelt wird. Das funktioniert für mich aber nicht.« 178

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Sperrung mittlerweile einige Stücke zur Nach- und Fremdinszenierung freigegeben hat – auch die Revolte bedarf der gelegentlichen Blutauffrischung. Partituren eher vergleichbar als Dramen im traditionellen Verständnis, lassen sich die in vielen Fällen in enger Zusammenarbeit des Autors/ Regisseurs mit ›seinen‹ Schauspielerinnen und Schauspielern entstandenen Stücke Polleschs (so weit sie denn in einer Druckfassung vorliegen) nur unzureichend mit den Kategorien eines »literaturgeprägten Theaterbegriff[s]« (Raddatz 2007: 25) fassen. »Der Text ohne die Arbeit der Schauspieler hat keine Berechtigung«, so Pollesch noch 2000: »Die Zuschauer müssen sich den Text in der Aufführung abholen und nicht vorher.« (Zorn, Einsicht und Verzweiflung 2000: 63.) Auch wenn es Einzelsprecher benennt, ist Polleschs Theater – Ausnahmen bestätigen die Regel – nicht länger mehr um die dramatis persona als zentrale Einheit zentriert. Der Spieltext lässt allemal offen, ob die agierenden Personen (die in der Prater-Trilogie im Personenverzeichnis die Namen der beteiligten Akteure tragen; als Sprecherangabe fungieren deren Initialen) Handlungsträger im engeren Sinne sind oder lediglich »Funktionen«3, das heißt: als Laut-Sprecher sprachlich vorgeformten Sprachmaterials fungieren, das auf die Sprechenden verteilt beziehungsweise von dem/der einen an den/die andere(n) weitergereicht wird. Kulturtheorie liefert dabei zumindest in den Stücken der Prater-Trilogie, wie angedeutet, in Form anschlussfähiger Module das Rohmaterial des durch ›Clips‹ eher unterbrochenen als – im Sinne traditioneller Segmentierungseinheiten – strukturierten Sprech-Texts, der durch Schreien und rituelle Posen der Empörung (»SCHEISSE«) – sie ironisieren das Gefühls- und Einfühlungstheater durch die Verwandlung von Intensität in Hysterie – in irritierender Weise aufgebrochen wird. Diedrich Diederichsen hat in repetitiven Loops (Schleifen) und Permutationen (also Veränderungen der Textanordnung durch das Vertauschen ihrer Elemente) das Organisations- und Anordnungsprinzip dieser Sprech-Texte bestimmt (Diederichsen 2002: 60; siehe auch Bloch 2004), die Theorie in theatrale Praxis, genauer: die Wissenschaftssprache soziologischer Analysen in eine ganz eigene Theatersprache übersetzen, die sich nur schwer noch mit den Konventionen einer an Repräsentation, Spiel und Gegenspiel orientierten Theaterpraxis vermitteln lässt. »Ich glaube weder an Katharsis, noch glaube ich, dass wir das Theater als bessere Menschen verlassen, wenn wir Prozeduren des Asylverfahrens auf 3 Diesen Begriff verwendet John von Düffel im Gespräch mit Franziska Schößler: »Die Figuren sind Funktionen, und die Art, wie er [Pollesch] sie in Szene setzt, gleicht Pegelausschlägen zwischen laut und leise, Schrei und Rede« (von Düffel/Schößler 2004: 45f.) 179

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der Bühne erlebt und uns kritisch damit auseinandergesetzt haben«, so Pollesch zur Begründung dieser Diskursverschiebungen und Diskursversetzungen, mit denen er ästhetisch neue Wege des ›politischen‹ Theaters beschreitet. »Aber ich bin überzeugt, dass wenn man uns zuguckt, wie wir mit Theorie unseren Alltag bearbeiten, erkennt: ›Das lohnt sich.‹ […] So kann ich auch das, was ich sehe, aber was für mich noch unscharf ist, auf der Bühne bearbeiten, indem ich Theorie anwende, die in anderen Zusammenhängen entstanden ist und in anderen Zusammenhängen, also dem wissenschaftlichen Diskurs, funktionieren wollte.« (Raddatz 2007: 24f.) Ästhetische Verfahrensweisen der Einschließung von Milieus und Arbeitsweltmechanismen in Formen eines plot- und fabelorientierten Figurenspiels auf der Bühne verfehlen Polleschs Ansicht nach die Wirklichkeit. »Das ist«, so Pollesch, »die falsche Aufforderung ans Publikum. Zu transzendieren. Bei uns geht es zunächst mal um uns, um die Immanenz, um die SchaupielerInnen und wie die sich mit dem Text über ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse orientieren.« (Verkaufe dein Subjekt 2001: 6.) Orientierung – damit ist das Leitmotiv der spezifischen Ausrichtung von Polleschs Theaterarbeit in der Prater-Reihe (und darüber hinaus) im Hinblick auf die Formatierungsprozesse von ›Realität‹ in der globalisierten Welt benannt: Theater als Ausstülpung subjektiver Desorganisationserfahrungen und Orientierungssuche in einer Wirklichkeit, die ihre Vertrautheit verloren hat: »Mit dieser Art Theater«, so noch einmal Pollesch im Gespräch mit Frank-Michael Raddatz, »versuchen wir unsere Form der Desorientierung zu bearbeiten, oder einen schärferen Blick auf Konstruktionen, die als Normalität ausgegeben werden, zu bekommen. Also wir stellen das Normale in Frage und entlarven es als Konstruktion, indem wir die Herrschaftstechniken zeigen, die darin eingegangen sind. Befehle, die wir für unsere halten, und die in uns installiert sind. […] Für uns ist der Punkt, wie kommt diese Konstruktion zustande, dass wir diese Verabredungen und Konventionen für uns selbst halten, für unseren freien Willen, für das, was wir sind und wollen?« (Raddatz 2007: 22f.)

Die Orientierungssuche wiederum, in der Pollesch die Mitte seines Theaters bestimmt, ist in ganz wesentlicher Weise Begriffsarbeit, mit der die Idee des traditionellen Schauspielertheaters (der Körper des Schauspielers als Zeichenkörper und Repräsentationsmedium) ihre Anschlussfähigkeit verliert. Nur wenn der Mensch in seinem Konstruktcharakter begriffen werde, als Kreuzung von Diskursen im Feld des Körpers, lässt sich der Ansicht Polleschs nach etwas über die Gegenwart erzählen – und zwar jenseits der überholten Vorstellungen vom »Theater als morali-

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sche[r] Anstalt oder als konservierende[r] Rückbesinnung oder als Medium der humanen Werte in der Gesellschaft« (Raddatz 2007: 25).

3. Machttechnologien/Ökonomisierung Bezugspunkt der theatralen Orientierungssuche, in deren Perspektive Pollesch in der Prater-Reihe das Verhältnis von Innen und Außen zum Gegenstand der Kollision von theoretischen Texten und Theater macht,4 Politizität von hier aus in die Form einschreibt, ist das System einer deregulierten Vermarktlichung, an das die Menschen angeschlossen sind und von dem sie beherrscht werden. Gründlich klopft Pollesch, der selbst verschiedentlich theoretische Ausgangspunkte markiert (an anderer Stelle aber auch einen eher künstlerischen als wissenschaftlichen Umgang mit Theorie als Material postuliert [Das Material fragt zurück 2002: 223]), sein Theorie- und Gedankenmaterial ab. Er geht in seinen Regiearbeiten aber bei weitem über die bloße Inszenierung aktueller soziologisch-sozialwissenschaftlicher und philosophischer Diskurse im EchoRaum des Theaters hinaus, indem er – dies war eingangs bereits angedeutet worden – mit der Durchschichtung zweier ›Realitäten‹ (derjenigen der Kunst/des Theaters und derjenigen der kulturtheoretischen Debatten) stets auch zugleich »an den Heterotopien des Theaters« (Primavesi 2004: 374) arbeitet.5 Leitparadigma der Prater-Reihe ist dabei Deleuzes Gas-Modell der sich im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft verflüssigenden Machttechnologien. Hatten die alten Disziplinargesellschaften im Zuge ihrer Selbstorganisation durch Einschließungsmilieus (Familie, Schule, Kaserne, Fabrik, Klinik, Gefängnis) nach den Körpern gegriffen, indem sie den Menschen in einen komplexen Produktionsprozess einpassten (das Modell der Fabrik), so Deleuzes Überlegung in seinem 1990 in L’autre journal erstveröffentlichten Postskriptum über die Kontrollge4 5

Vgl. zu diesem Verfahren der Kollision: Das Material fragt zurück 2002: 226. Eben »weil die Grundhaltung der soziologischen Analysen auf der Szene selbst ironisiert« werde, weil »die Möglichkeit eines individuellen, kritisch beurteilenden Standpunktes in der Hypertrophie seiner abstrakten Sprachformeln radikal aufs Spiel gesetzt« werde (Primavesi 2004: 374), hat Primavesi von hier aus die Markierung von Polleschs Theater als ›Diskurstheater‹ zurückgewiesen. Diederichsen wiederum hat die Ansicht vertreten, Pollesch gebe bei allen offenkundig parodistischen Seitenhieben auf den Leerlauf der Diskursmaschine die Solidarität mit der Logik seines kulturtheoretischen Spielmaterials nicht auf (vgl. dazu Diederichsen 2002: 61). 181

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sellschaften (Deleuze 1993), greifen die Kontrollgesellschaften gegenwärtigen Typs, die sich durch Informationen organisieren, nach den psychischen Dispositionen der Menschen. Zugleich seien in diesen modernen Kontrollgesellschaften die Trennlinien zwischen Befreiungen und Unterwerfungen verschwommen, die Kontrollformen selbst variabel, fließend und unsichtbar – »Gas« eben – geworden. Disziplinar- und Kontrollmechanismen unterscheiden sich so im Hinblick auf ihre Stabilität: »Die Fabrik«, so Deleuze, »war ein Körper, der seine inneren Kräfte an einen Punkt des Gleichgewichts brachte, mit einem möglichst hohen Niveau für die Produktion, einem möglichst tiefen für die Löhne; in einer Kontrollgesellschaft tritt jedoch an die Stelle der Fabrik das Unternehmen, und dieses ist kein Körper, sondern eine Seele, ein Gas.« (Deleuze 1993: 256.) Während in den Disziplinargesellschaften kein grundsätzlicher Widerspruch bestanden habe zwischen dem Individuum (genauer: der Signatur, die das Individuum angibt) und seiner Position in der Masse (»Macht ist gleichzeitig vermassend und individuierend, das heißt konstituiert die, über die sie ausgeübt wird, als Körper und modelt die Individualität jedes Glieds dieses Körpers« [Deleuze 1993: 258]), verschiebe sich diese Relation in den Kontrollgesellschaften grundlegend: »Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.« (Deleuze 1993: 258.) Dies wiederum ist Folge einer »tiefgreifende[n] Mutation des Kapitalismus« (Deleuze 1993: 259), der »nicht mehr für die Produktion da« ist, »sondern für das Produkt, das heißt für Verkauf oder Markt.« (Deleuze 1993: 259f.) Was Deleuze in seinem Postskriptum in den Blick nimmt – und Pollesch folgt ihm darin bis in die Formulierungen hinein (»In ›Stadt als Beute‹ sagen wir, es gibt diese ›Durchsagen in mir‹ – im Unterschied zu den Fabriken und der Kontrollgesellschaft und ihren klaren Hierarchien herrscht heute eine flüssige, allgegenwärtige Machttechnologie. Die Fabrik hat sich in uns verflüssigt, Marketing ist zu unserer zweiten Natur geworden.« [Verkaufe dein Subjekt 2001: 6]6) – ist die Etablierung und 6

Vgl. als Spiel/Sprechtext etwa folgende Stelle aus Insourcing des Zuhause: »N: Dann gibt es also doch soziale Kämpfe in diesem HOTEL! / C: Ich liebe die flüssige Selbsttechnologie da in deinem Mund! ODER IST DAS GAS, WIE JEMAND SAGT! Ist die das GAS IRGENDEINER ENTKÖRPERLICHTEN FABRIK DIE ZUHAUSE PRODUZIERT!? Ich weiss nicht, aber ich kann einfach nicht mehr ATMEN IN DEINER NÄHE! Das ist mir einfach zuviel FABRIK! / T: ICH LIEBE DIE FLÜSSIGE MACHTTECHNOLOGIE DA IN DEINEM MUND! UND DIE WILL ICH IMMER SCHLUCKEN UND SCHLUCKEN! ODER IST DAS GAS, SCHEISSE!« (Pollesch 2002b: 78f.) 182

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Konsolidierung einer neuen Herrschaftsform; worauf er abzielt, die Stimulierung dagegen gerichteter Widerstandsformen. Unterhalb der Ebene dieses Makroparadigmas bestimmt ein komplexes Theoriedesign den Gestus der in der Prater-Reihe in Szene gesetzten Orientierungssuche in einer ›fremd‹ gewordenen Wirklichkeit. Als Ausgangspunkt von Stadt als Beute dient Pollesch in erster Linie Klaus Ronnebergers, Stephan Lanz’ und Walther Jahns Untersuchung Die Stadt als Beute, die sich mit den Umstrukturierungen des Städtebilds, der Aneignung, Verwandlung und Neuerrichtung ganzer Straßenzüge in/zu Konsum- und Bürohaus-Zonen im Zeichen einer Vermarktlichung von Arbeits- und Lebensbeziehungen im globalen und universalen Maßstab beschäftigt (Ronneberger/Lanz/Jahn 1999). Der urbane Raum gerät im Zuge dieser Restrukturierung, so die zentrale These der Autoren, immer mehr unter private Kontrolle – Stadt wird zum Beutegut des Kapitals und der an ihm Partizipierenden; zugleich verliert das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse zunehmend seine Verbindlichkeit für das politische Handeln. In dem Maße, in dem Malls, Einkaufszentren, Erlebnisparks et cetera zu Orten der Repräsentation eines idealen öffentlichen, klinisch reinen Raums werden, entstehe eine neue urbane Identität: der Städtebewohner als Verbraucher und Kunde, während sich die Stadt von einer Institution der Daseinsfürsorge zum Unternehmen entwickele. Auf der Rückseite dieses Transformationsprozesses, dem die Metropolen ausgesetzt sind, finde eine durch Vertreibungs- und Ausgrenzungspolitiken begleitete Ordnung städtischer Territorien nach hierarchischen Mustern statt – sichtbares Zeichen der Ablösung von sozialen Angleichungspolitiken, wie sie der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus als Leitlinie städtischen Handelns ausgegeben hatte, durch ein »Regime der Differenz« (Ronneberger/Lanz/Jahn 1999: 186), mit dem die Trennungen von Reich und Arm vertieft werden: Die Aushöhlung der sozialstaatlichen Ideen und die Fetischisierung individueller Selbstverantwortlichkeit führen zu einer Restituierung der Macht- und Ausbeutungsverhältnisse unter den Vorzeichen einer Grenzverwischung zwischen Privatem und Öffentlichem. In Polleschs Spiel-Text liest sich dies in folgender ›Übersetzung‹: »A: Ich hab keine Ahnung, was das hier ist, diese Beute in der ich lebe. Was ist das denn für eine BEUTE IN DER ICH LEBE! DAS HIER! Da ist diese Stadt und die ist Beute, und Standortmarketing wird plötzlich auf menschliche Organismen übertragen. […] F: Stadt ist Beute. A: Und dein Zuhause ist eine Schnittstelle zu dem Dienstleistungsunternehmen da draussen. 183

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P: Angesichts des Abbaus industrieller Arbeitsplätze sehen sich die Kommunen dazu veranlasst unternehmerische Profile zu entwickeln. SCHEISSE! A: Diese SCHEISS-KOMMUNE HIER ENTWICKELT EIN UNTERNEHMERISCHES PROFIL! Wir liegen hier rum in dieser Kommune auf Standortmarketing oder Stadtentwicklungspolitik. ICH WEISS DAS NICHT MEHR SO GENAU! Und irgendein unternehmerisch geprägtes Gas hat die Körperlichkeit der Fabriken abgelöst. Und alle Forderungen nach Selbstverwirklichung und Autonomie wurden von der Kommune da draussen verwirklicht. Dass deine Subjektivität mobilisiert wird, zielt auf die Verwertung von Kooperation und Kommunikation. Und in dieser Kommune liegen diese Huren rum und unangemeldeten Bordelle. Sowas wie DAS DA! Da liegen plötzlich all diese Dienstleistungsunternehmen in dieser Kommune rum. P: SCHEISSE! DIESE SCHEISS-KOMMUNE HIER ENTWICKELT EIN UNTERNEHMERISCHES PROFIL! Und ihre Managementphilosophie wird auf menschliche Organismen übertragen. DAS HIER! Und du gehst hier nur durch Stadtmanagement spazieren. Und Stadt als einem Unternehmen. Du gehst hier nur DURCH MANAGEMENT SPAZIEREN! Diese Stadt aktiviert ihre überschüssigen Areale als Immobilien. Das da! B: Ja, das TU ICH! SCHEISSE! P: Und ich höre immer diese Durchsagen in mir BEUTE, wie auf einem Flughafen! Und irgendein Gas souffliert mir was Unternehmerisches. Diese Kommune hier oder die Kommune da draussen. Da ist dieses Gas und das sagt dir durch, wie du deinen Standort oder deine Subjektivität vermarkten kannst, und du hörst Kommandos, wie du dich in Richtung Marketing regelst und durch die Architektur bewegst, und das ist dein Spaziergang durch Stadtmanagement, du regulierst deine prekären Partisanenverhältnisse und versuchst dich irgendwie durchzuschlagen, als unangemeldetes Bordell oder sowas. ICH BIN HIER BLOSS EIN UNANGEMELDETES BORDELL! SCHEISSE!« (Pollesch 2002a: 6f.)

Die in Stadt als Beute durch das Motiv des Verschwimmens der Räume und Orte, von ›Drinnen‹ und ›Draußen‹ hindurch verhandelte sprachlichszenische Orientierungssuche wird in Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels ein Stück weit neu justiert durch die Einspeisung zusätzlichen Theorie-Materials. Zum einen ist dies der von Pauline Boudry, Brigitta Kuster und Renate Lorenz herausgegebene Band Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause (1999), dessen Beiträge die in der Regel getrennt betrachteten Bereiche der Sexualität und der Ökonomie aufeinander beziehen und der diskursiven Produktion der Geschlechterrollen und sexuellen Positionen in den gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen (Normalisierung von Heterosexualität am Arbeitsplatz durch Zuschreibungsmodelle entlang der Leitdifferenz ›männlich/weib-

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lich‹) nachgehen, in die sie über den Begriff der »sexuellen Arbeit«7 den scheinbar privaten Bereich des Zuhauses einschließen. Zum anderen bezieht sich Pollesch in diesem Inszenierungsprojekt auf die von Brigitta Kuster und Renate Lorenz in dem Aufsatz Das Insourcing des Zuhause (2000) am Beispiel sogenannter Boarding Houses für Urban Professionals entwickelten Überlegungen zum sich verändernden Verhältnis zwischen ›Arbeit‹, ›Sexualität‹ und ›Zuhause‹ hier insbesondere auf die Beobachtung, dass in solchen neuen Hotel-Arrangements im Hintergrund der »Produktion von Subjektivität« (Kuster/Lorenz 2000: 24) »persönliche Beziehungen hergestellt werden, die echt sind und bezahlt.« (Das Material fragt zurück 2002: 221.) »Nach wie vor«, so Pollesch, »werden Frauen auf dem Arbeitsmarkt von Männern unterschieden, ihnen wird eher der emotionale und soziale Bereich zugeordnet, den Männern in diesem Dualismus eher die Vernunft. Das wird durch kulturell vermittelte Naturbilder legitimiert. Frauen werden auf ihre Natur angesprochen. Bei unseren Abenden mit Frauen geht es um diese Zuschreibungen. Die Frauen in ›Scheiß-Hotels‹ sprechen darüber, dass die Managementebene männlich besetzt ist, während all das, was in einem Hotel ein Zuhause suggerieren soll, vom weiblichen Personal hergestellt wird. Es ging außerdem um eine Versuchsanordnung: Wenn nämlich der Gast weiblich ist, die Managerin also, haben wir möglicherweise den Versuch, Homosexualität zu leben. Aber weil diese Homosexualität Teil des Betriebs wird, wird sie gleich auch wieder hinterfragt.« (Verkaufe dein Subjekt 2001: 7.)

Im Stück ist dies in folgender Weise formuliert (alle Sprecher sind weiblich!): »N: Die Mitarbeiterin am Empfang ist wie eine Ehefrau, und ich kann ihr Faxe geben und sowas, die sie dann losfaxt, die Alte! Die faxt sie dann los und mir kommt es plötzlich so vor in diesem Hotel, ich bin mit einer Frau verheiratet. T: Aber sonst hast du heterosexuelle Beziehungen. N: Ja, gut, aber nicht in diesem Hotel. Da hab ich gleichgeschlechtliche Beziehungen zur Hotelfach-Ehefrau! Hier wird nicht nur Zuhause geinsourct, sondern auch Geschlechterdifferenzen. C: Aber du hast homosexuelle Beziehungen zu der Concierge in diesem Haus, ist das nicht TOLL!? Ein Zuhause abseits VON DIESER HETEROSCHEISSE! N: Ja, gut, danke, das ist toll. Aber ich frage mich, ob Homosexualität, die der Kapitalismus produziert, ob ich das irgendwie leben will. Sexualität, die das KAPITAL PRODUZIERT! Wo doch normalerweise die kapitalistische Produktionsweise auf den Normalzustand einer heterosexuellen Ordnung und ethni-

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Vgl. dazu die programmatische Einführung »I cook for sex« (Boudry/Kuster/Lorenz 1999: 6–35; bes. 9f.). 185

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schen Zugehörigkeit und sozial hochbewerteten Abgeschiedenheit bezogen wird. Hier in dieses Hotel ziehen trotzdem nur Heteronormen ein, auch wenn meine HOTEL-EHEFRAU WEIBLICH IST. Und zwischen Frauen, die hier arbeiten und wohnen in ihren Hotelzimmern und Frauen, die hier arbeiten in Dienstleistungsjobs gibt es diese gleichgeschlechtlichen Verhältnisse und die Produktion von persönlicher Anteilnahme. ALSO LIEBE! SCHEISSE! Ich stand plötzlich in diesem Hotel ohne Foyer herum, und das, was meine Aufmerksamkeit FESSELTE, war das Angebot dieser Unterkunft, die ein Zuhause produziert. Eine Fabrik von Zuhause. Natürlich war ich davon ausgegangen, dass hier wieder Heteronormativität einzieht und ingesourct wird, aber das war am Anfang schon verwirrend mit einer gleichgeschlechtlichen Concierge, die hier meine Ehefrau performt. FRAUEN PERFORMEN HIER PERSÖNLICHES MITGEFÜHL!« (Pollesch 2002b: 61f.)

Die Produktion dieses künstlichen Zuhauses dient dazu, durch heteronormative Stereotypisierungen Normalisierung herzustellen und »gesellschaftliche Geschlechterdifferenzen« zu ›zementieren‹ (Pollesch 2002b: 47). Dass sich das im Umkehrschluss auch auf das Zuhause, den »Ort der Abgeschiedenheit, der Familie, der heterosexuellen Ordnung und der ethnischen Zugehörigkeit« (Pollesch 2002b: 48) als solchen übertragen lässt (»Und das wirft doch ein Licht auf unsere Produktion von Zuhause da zu Hause, so wie es in diesem Hotel produziert wird. Wie hier Gefühle produziert werden, da frag ich mich doch wie das ist mit der PRODUKTION VON GEFÜHLEN ZUHAUSE!« [Pollesch 2002b: 47]), ist der Fluchtpunkt der Spiel-/Diskursanordnung in Insourcing des Zuhause, die in SEX. Nach Mae West noch ein Stück weiter fortgeschrieben wird mit einer Fokussierung des gesprochenen Textes auf das Phänomen der Warenförmigkeit von Gefühlen. Waren Bert Neumanns Bühnenbauten in Stadt als Beute als »mit der Dienstleistungswelt vernetztes Zuhause« und in Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels als »Fabrik, in der gegen Bezahlung ein Zuhause oder echte Gefühle realisiert werden sollen« (Pollesch 2002: 64), ›angesprochen‹ worden, ist das szenische Arrangement in diesem dritten Teil der Prater-Trilogie als Bordell vorzustellen. Das Ökonomische erreicht in dieser Spielanordnung, deren Ausgangspunkt Mae Wests Skandal machendes Broadway-Stück Sex aus dem Jahre 1926 ist, gleichsam die intimste Ebene; die letzte Grenze fällt. Auch die Gefühle sind »markiert, fügen sich keinen falschen Vorstellungen von Natürlichkeit mehr und sind den nicht markierten Zuhause-Inszenierungen in bürgerlichen Ehen und wie in artifiziellen Smarthouses mit ihren auf die Bewohner zugeschnittenen Programmen vorzuziehen.« (Diederichsen 2002: 62.) In dem Maße, in dem das Begehren als durch ökonomische Prozesse über-

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schrieben und strukturiert scheint, hat die Sexualität die ihr einst emphatisch zugeschriebene anarchische Kraft eingebüßt: »S: Mae West holte den Begriff Sex aus dem klinischen Diskurs und überantwortete ihn direkt der Ökonomie. I: Ohne irgendwas dazwischen. Ohne die SCHEISSE DAZWISCHEN! C: Alltag oder so’n SCHEISS! I: Klinischer Diskurs, der sofort in Ökonomie umschlägt. C: Heterosexualität als gesellschaftliche Norm bleibt gewöhnlich unmarkiert. S: Und jetzt ist die Frage: Ist diese Formalisierung der Liebesverhältnisse in einem Bordell, durch einen eindeutigen Vertrag, nicht das, was auch für die formlose Gefühlsproduktion zu Hause notwendig wäre? I: Ich kann mir beim Leben irgendwie nicht so gut zusehn wie beim Einkaufen! C: Und dann kaufe ich doch lieber ein, Gefühle und SOWAS oder Erlebnisse und SOWAS und dann seh ich irgendwie besser, was ich da mache. Wenn ich EINKAUFE! S: Und das ist doch eine revolutionäre Geschäftsidee, Normalität zu markiern, indem du sie verkaufst, und dass die überhaupt mit Ökonomie in Verbindung gebracht werden kann. I: Darum kann es aber doch nicht gehn um die Durchökonomisierung des Lebens! SCHEISSE! Es kann aber auch nicht um die Durchnormalisierung des Lebens gehen! Darum kann es nicht gehen! Oder das WILL ICH NICHT! Durchökonomisiere das Selbstverständliche. C: Ich will über sowas wie Liebe nachdenken und mich in ihren Verhältnissen orientieren mit Ökonomie.« (Pollesch 2002c: 135f.)

SEX stellt sich der Frage nach der Verfasstheit eines authentischen, nicht verwertbaren und damit der Logik des Kapitals entzogenen Rests in der Gefühlskultur. Der Befund ist ernüchternd. Nur noch ein ironischer Schlenker erinnert an die Selbstbefreiungsträume der 68er: »Sex, das hatte doch mal was mit Revolution zu tun, aber das war in den Dingsdas … oder auch nicht. Der Sex da hatte vielleicht gar nichts mit Revolution zu tun, sondern war nur eine Abschiedsorgie oder Drogenexperiment, um fit zu sein für die flexibilisierten Märkte. Um fit zu werden für die Arbeit an mir.« (Pollesch 2002c: 158)

4. Die Spur der Differenz Auch wenn Pollesch so keine Illusionen zulässt über die gesellschaftliche Formungskraft der Kunst, sind die Aufführungen der Prater-Reihe nicht etwa Zeugnis einer bloß melancholischen Kulturkritik. Pollesch setzt durch das Theater seiner Begriffsarbeit vielmehr die Erinnerung an die grand recits der Moderne in Gang – dies allerdings (und gerade) im Wis187

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sen darum, dass die alte Hoffnung, die Verhältnisse durch das Wort zu bannen, trügerisch geworden ist. Lyotard hatte an das Ende seines Berichts Das postmoderne Wissen – nur auf den ersten Blick überraschend – eine Überlegung gestellt, die das Ende der Moderne allen Unkenrufen zum Trotz überlebt hat: »Der Konsens ist ein veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit.« (Lyotard 1986: 190.) Das bezeichnet den Glutkern einer unerlösten Sehnsucht, die in Polleschs Sprechtexte immer wieder als utopisches Wunschmoment nach einem Anderen einschießt: »ICH HALT’S NICHT AUS!« (Stadt als Beute) (Pollesch 2002a: 8 und passim); und: »Aber so will ich nicht sein, wie dieses Hotel will, dass ich ich selbst bin. Ich will nicht SEIN, WIE DIESES HOTEL WILL, DASS ICH BIN! DAS WILL ICH NICHT!« (Insourcing des Zuhause) (Pollesch 2002b: 67). Damit bleibt auch Polleschs Theaterarbeit, was immer selbst er Gegenteiliges sagen mag, im Projekt der gesellschaftlichen Emanzipation verankert, als dessen Bedingung sie freilich die Theoretisierbarkeit der Verhältnisse behauptet: umso geringer die Theoretisierbarkeit der Verhältnisse, umso größer ihre Regierbarkeit, vulgo: Beherrschbarkeit. Hegels Hochschätzung der Theorie als Schlüssel zur Veränderung der Wirklichkeit findet in dieser Theorie›lastigkeit‹ von Polleschs Theater ein Echo quer durch die Zeiten. »Die theoretische Arbeit, überzeuge ich mich täglich mehr«, hatte Hegel am 28. Oktober 1808 an Friedrich Immanuel Niethammer geschrieben, »bringt mehr zustande in der Welt als die praktische; ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.« (Hegel 1952: 253.) Hier findet das Spiel der Diskurse (was immer auch heißt: das Spiel mit Theorie) in Polleschs Theater seine Begründung: als Profanierung im Sinne Agambens, der damit den Vorgang der Rückführung des dem »allgemeinen Gebrauch der Menschen« (Agamben 2005: 70) Entzogenen (Heiligen), des nicht mehr Regulierbaren und Regierbaren in eine Sphäre der Verfügbarkeit und des Gebrauchs bezeichnet. Agamben hat diesen Vorgang der Profanierung in signifikanter Weise mit der Sphäre des Spiels verknüpft, die vom Heiligen herkommt, aber sich auch in gewisser Weise als dessen Umkehrung darstellt: Das Spiel ist Einfallstor für den Gebrauch (vgl. Agamben 2005: 72f.). Das Spiel als »Organ der Profanierung« (Agamben 2005: 74) zurückzugewinnen, ist das Gebot der Stunde, denn die Profanierung »entkräftet die Vorrichtungen der Macht und gibt dem allgemeinen Gebrauch die Räume zurück, welche die Macht konfisziert hatte.« (Agamben 2005: 75.) Pollesch löst mit seiner seriellen Theaterproduktion (vgl. dazu auch Youngman 2008) das politische Denken aus seiner Verzahnung mit Teleologie und bringt es neu als experimentelles Spiel der Orientierungssuche und Selbstverständigungsversuche vor Zeugen (die Rolle des Publi-

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kums) zur Sprache: als Versuch, die Wirklichkeit der durchökonomisierten Gesellschaft auf der Bühne sichtbar und erfahrbar zu machen, als Einspruch zumal gegen die Ideologie des Neoliberalismus als neuem religiösen Phänomen,8 die Pollesch zur ›Schändung‹ (Profanierung) ausruft: Schändet Eure neoliberalen Biographien lautet der in dieser Hinsicht programmatische Titel eines 2005 von Pollesch in München aufgeführten Stücks, das explizit an Agambens Überlegungen anschließt. Den Einspruch, der in Insourcing des Zuhause fast lehrstückmäßig in einem chorisch gesprochenen Appell endet, die Wirklichkeit auseinanderzubrechen (»C: […] Unter den Bedingungen von Liebe als einem unternehmerischen Gas KANN ICH EINFACH NICHT MEHR LEBEN! Oder sowas! Oder das WILL ICH NICHT! Ich will in diesem Hotel, in dem ich lebe kein Zuhause produziern! / ALLE: PRODUZIERE KEIN ZUHAUSE!« [Pollesch 2002b: 80]) – diesen Einspruch trägt ein Wissen darum, was nicht gewollt ist, nicht aber eines, das herausführt aus den Aporien der Wirklichkeit. Eine konkrete Utopie haben seine Inszenierungen, sieht man von der Reformulierung von Politizität als Zeugenschaft (der Zuschauer als Zeuge der Theaterperformance) ab, nicht zu bieten; die Orientierungsprozesse werden zu keinem abschließenden Ergebnis geführt: der Spiegel eines anderen ›Draußen‹ ist dunkel. Und dennoch bleibt dieses andere ›Draußen‹ der »metaphysische Rest« (Primavesi 2004: 369) seines Theaters, die Spur der Differenz, die Kunst in den Augen Khuons erst legitimiert: »Die Kunst« – auch Polleschs Theaterkunst – »lebt von ihrer Differenz zur Welt.« (Khuon 2005: 33.)

Literatur Agamben, Giorgio (2005): Lob der Profanierung. In: Ders.: Profanierungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 70–91. Bloch, Natalie (2004): Popästhetische Verfahren in Theatertexten von René Pollesch und Martin Heckmanns. In: Der Deutschunterricht, H. 2, S. 57–70. Boudry, Pauline/Kuster, Brigitta/Lorenz, Renate (Hg.) (1999): Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause. Berlin: b_books. Das Material fragt zurück. Ein Gespräch zwischen Jochen Becker, Walther Jahn, Brigitta Kuster, Stephan Lanz, Isabell Lorey, Katja Reichard, Bettina Masuch und René Pollesch (2002). In: Masuch, Betti8

Auch dafür findet Pollesch im Lob der Profanierung ein Vorbild in Agambens Bezugnahme auf Walter Benjamins Nachlassfragment Kapitalismus als Religion. Vgl. dazu Agamben 2005: 77–79. 189

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na (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater. Dokumentation der Spielzeit 2001–2002. Berlin: Alexander, S. 221–236. Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 254–262. Diederichsen, Diedrich (2002): Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch. In: Theater heute, H. 3, S. 56–63. Düffel, John von/Schößler, Franziska (2004): Gespräch über das Theater der neunziger Jahre. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Theater fürs 21. Jahrhundert. Hg. zusammen mit Christian Dawidowski. Text + Kritik Sonderband XI. München: Edition Text & Kritik, S. 42–51. [Hegel, Georg Wilhelm Friedrich:] Briefe von und an Hegel (1952). Hg. v. Johannes Hoffmeister. Bd. 1: 1785–1812. Hamburg: Meiner. Khuon, Ulrich (2005): Sind Sie ein nützliches Mitglied der Gesellschaft? Theaterkunst und Behauptungslust. In: Theater heute, H. 8/9, S. 30– 33. Kuster Brigitta/Lorenz, Renate (2000): Das Insourcing des Zuhause. In: Widersprüche 20, H. 78, S. 13–26. Lehmann, Hans-Thies (2002): Wie politisch ist postdramatisches Theater? In: Ders.: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin: Theater der Zeit, S. 11–21. Lyotard, Jean-François (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. Graz/Wien: Böhlau. Pollesch, René (2002): SEX. Nach Mae West [Vorbemerkung]. In: Theater heute, H. 3, S. 64. Pollesch, René (2002a): Stadt als Beute. Nach spacelab. In: Masuch, Bettina (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater. Dokumentation der Spielzeit 2001–2002. Berlin: Alexander, S. 5–41. Pollesch, René (2002b): Insourcing des Zuhause. Menschen in ScheißHotels. In: Masuch, Bettina (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater. Dokumentation der Spielzeit 2001–2002. Berlin: Alexander, S. 43–80. Pollesch, René (2002c): SEX. Nach Mae West. In: Masuch, Bettina (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Volksbühne im Prater. Dokumentation der Spielzeit 2001–2002. Berlin: Alexander, S. 131–159. Primavesi, Patrick (2004): Beute-Stadt, nach Brecht: Heterotopien des Theaters bei René Pollesch. In: The Brecht Yearbook/Das Brecht Jahrbuch 29, S. 367–376. Raddatz, Frank.-M. (2007): Die Probleme der Anderen. René Pollesch im Gespräch über Brecht, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags. In: Theater der Zeit, H. 2, S. 22–26.

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Ronneberger, Klaus/Lanz, Stephan/Jahn, Walther (1999): Die Stadt als Beute. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. Safranski, Rüdiger (2003): Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? München/Wien: Hanser. Verkaufe dein Subjekt! René Pollesch im Gespräch mit Anja Dürrschmidt und Thomas Irmer (2001). In: Theater der Zeit, H. 12, S. 5–7. Youngman, Paul A. (2008): Civilization and its Technological Discontents in René Pollesch’s world wide web-slums. In: German Studies Review 31, H. 1, S. 43–63. Zorn, Einsicht und Verzweiflung. Vier Fragen von Harald Müller an René Pollesch [zum Stückabdruck von Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr] (2000). In: Theater der Zeit, H. 12, S. 63.

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DIE DIALEKTIK DER POSTMODERNE IN THEATERTEXTEN VON RENÉ POLLESCH. ZUR VERSCHRÄNKUNG VON NEOLIBERALISMUS UND GENDER FRANZISKA BERGMANN

»Ich liebe es, zu arbeiten. Im Urlaub nach dem Zeitunglesen ein bisschen mit der Firma telefonieren ist für mich Entspannung pur.« (Johannes B. Kerner)1

René Polleschs Theater zeichnet sich, wie im Folgenden gezeigt wird, durch eine komplexe Bearbeitung zeitgenössischer Kulturtheorien aus, die ansonsten vornehmlich in universitären und links-politischen Kontexten verhandelt werden. Zwei zentrale Aspekte in Polleschs Theater bilden die kritische Auseinandersetzung mit neoliberalen Arbeitswelten sowie der westlichen Geschlechterordnung. Pollesch gelingt es in seinen Stücken, die janusköpfige Verschränkung queerer Geschlechtertheorien mit neoliberalen Idealen aufzuzeigen. Der Verweis auf unverhoffte Koalitionen zwischen dem vermeintlich ›befreienden Gestus‹ von queer auf der einen Seite und dem ›repressiven‹ System des gegenwärtigen Kapitalismus auf der anderen Seite erinnert an Adornos und Horkheimers Kritik am Konzept der Aufklärung. Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr und Sex. Nach Mae West verweisen mit Vehemenz auf die Dialektik der Postmoderne. Um dies zu illustrieren, werden im Folgenden zunächst die Eckpunkte queerer Theoriebildung skizziert und auf das paradoxe Verhältnis von Queer Theory und Neoliberalismus verwiesen. Anschließend erläutere ich René Polleschs Theaterkonzept des ›Diskurstheaters‹, um dann die Texte Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr und Sex. Nach Mae West zu interpretieren.

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Zitiert nach: Die Tageszeitung vom 02.01.2008. 193

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Eckpunkte der Queer Theory Die Queer Studies konnten sich in den 1990er Jahren als wichtige Denkund Forschungsrichtung innerhalb der Gender Studies etablieren. Während Gender Studies, feministische oder lesbisch-schwule Theorien zumeist noch von der Existenz eines ›Subjekts‹ ausgehen, unternehmen die Queer Studies den Versuch, dieses Konzept grundlegend zu hinterfragen. Zu den einflussreichsten Abhandlungen der Queer Theory zählt Judith Butlers Publikation Gender Trouble. Darin entfaltet die US-amerikanische Philosophin die radikale These, dass die scheinbar natürlichen, körperlich bedingten Kategorien ›Frau‹ und ›Mann‹ lediglich Produkte diskursiver, performativer Praktiken seien. Das hegemoniale System der heterosexuellen Matrix erzwinge solche Existenzweisen, bei denen die Kohärenz sowie die Kontinuität zwischen sex, gender und desire gegeben sein müsse. Erst dann seien Körper kulturell intelligibel, das heißt erst dann werde menschlichen Wesen der Status des Subjekts zugesprochen. Intelligibilität werde durch performative, geschlechtlich differenzierende Praktiken erlangt und sei kein einmaliger Akt, sondern bedürfe einer ständigen Wiederholung. Die kontinuierliche Wiederholung geschlechtlich spezifizierter Akte erzeuge sodann den Anschein eines inneren Kerns, einer substanziellen geschlechtlichen ›Wahrheit‹, die als eine auf ›natürlicher Basis‹ beruhenden Identität verstanden werde. Gerade im performativen Charakter der Geschlechtsidentität liege zugleich die Möglichkeit ihrer Subversion. Jene Momente, die diese erzwungene, aber eben nicht auf einer Ontologie beruhende Abfolge vergeschlechtlichter Handlungen unterbrechen, seien als Momente der Transgression aufzufassen. Demnach würden subversive, transgressive Verhaltensweisen die sich scheinbar logisch zueinander verhaltenden Komponenten der heterosexuellen Matrix sex, gender und desire sprengen. In ähnlicher Weise unternimmt die Biologin und Philosophin Donna Haraway das Projekt der fundamentalen Ent-Naturalisierung dualistischer Identitätskonzepte. In ihrem zum Kulttext avancierten Cyborg Manifesto, das bereits vor Butlers Gender Trouble verfasst wurde, führt Haraway scheinbar allgemeingültige, selbstverständliche Binarismen westlicher symbolischer Ordnungen wie Natur/Kultur, Mensch/Maschine, Mensch/Tier et cetera ad absurdum. So entwirft sie die technischmenschliche Hybridfigur Cyborg. Anhand dieser Figur, die im gegenwärtig hochtechnisierten Zeitalter bereits real existiere und keinesfalls nur Science-Fiction-Utopie sei, illustriert Haraway, dass wir alle Cyborgs sind, allein schon wenn wir technisch hergestellte Medikamente schlucken oder Brillen tragen, tagtäglich würde Technik einverleibt. Eine Entweder-oder-Existenz sei dementsprechend obsolet. Das Moment der

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DIE DIALEKTIK DER POSTMODERNE IN THEATERTEXTEN VON RENÉ POLLESCH

Utopie liegt im Cyborg-Manifest in der Hoffnung auf die Auflösung geschlechtlicher Binarismen durch die Figur der Cyborg. Für Haraway verkörpert die Cyborg ein Wesen, das jenseits westlicher Konzepte von intelligibler Subjektivität liegt, sie verweigere sich diesem »Autoritätsgestus […]: Sie hat eine unsaubere, unklare Herkunft und sie weiß nicht, wo sie enden wird.« (Harrasser 2006: 455).

Ein paradoxes Verhältnis: Queer Theory und Neoliberalismus In den letzten Jahren kristallisierte sich in der Queer Theory zunehmend die kritische Beschäftigung mit neoliberalistischen Phänomenen heraus, bildet queeres Denken doch häufig einen Bestandteil linker, antisexistischer politischer Positionierungen. Vielfach wird zu Recht die Diskriminierung nicht heterosexuell-weißer-männlicher Subjekte (WASPS) auf dem Arbeitsmarkt kritisiert. Dazu zählen – um nur einige wenige Aspekte zu nennen – die Auseinandersetzung mit ungleicher Lohnverteilung (vor allem zwischen Frauen und Männern), schlechteren Berufschancen für offen lebende Lesben und Schwule, systematischen Ausgrenzungen Transsexueller oder der unwürdigen Ausbeutung von Migrant/innen in deutschen Privathaushalten et cetera. (vgl. zum Beispiel Englert 2007). Besonders hervorheben möchte ich die Publikation Reproduktionskonten fälschen! von Boudry et al., in der auch René Pollesch als noch unbekannter Dramatiker seine Trilogie Heidi Hoh veröffentlicht hat. In Reproduktionskonten fälschen! wird eine Vielzahl von Aufsätzen versammelt, die sich in kritischer Weise mit heteronormierenden Diskursen, die Arbeitswelten grundlegend strukturieren, auseinandersetzen. So wird unter anderem aufgezeigt, inwiefern die Institution der Ehe die Ausbeutung von Frauen in scheinbar ›privaten‹, also nicht-ökonomischen Kontexten fördere, da Haus- und Reproduktionsarbeit als Liebesdienst betrachtet werde, der keiner finanziellen Entlohnung bedürfe. Gleichzeitig werden jedoch Stimmen laut, die auf unerwartete Koalitionen zwischen Maximen queeren Denkens und neoliberalen Idealen hinweisen. So legen unter anderem David T. Evans und Rosemary Hennessey dar, dass im gegenwärtigen Kapitalismus durchaus Analogisierungen von Marktfreiheit und sexueller Freiheit nachzuweisen seien. Sowohl queere Bewegungen als auch neoliberalistische Bestrebungen verfolgten Leitbilder von Flexibilität, Mobilität und Selbstverwirklichung (vgl. Genschel u. a. 2001: 179). Profitorientierte Unternehmen entdeckten vor allem schwule Männer als finanzstarke Konsumentengruppe. Hennessey führt die gesteigerte mediale Präsenz positiv dargestellter

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homosexueller Existenzweisen auf genau diesen Umstand zurück. Queere Bevölkerungsschichten seien neuerdings attraktiv für den Markt und würden deswegen als intelligible – weil kaufkräftige – Subjekte angerufen und sichtbar gemacht. Hennessey beobachtet auch innerhalb der queeren Theoriebildung, unter anderem bei Butler, dass der Aspekt der Sichtbarkeit eine große Rolle spiele, sie konstatiert: »visiblility [is] fetishized« (Hennessey 2000: 115).

René Polleschs Ästhetik René Polleschs Ästhetik zeichnet sich durch radikale Brüche mit konventionellen Theaterformen aus. Er wendet sich unter anderem dezidiert gegen eine bürgerlich konnotierte Theaterpraxis wie die des ›Repräsentationstheaters‹. Pollesch geht es in Abgrenzung zu diesem Theater nicht darum, dass seine Schauspieler/innen (die ich im Folgenden Performer/innen nennen werde, da der Begriff im Kontext von Polleschs Theater besser passt) auf der Bühne in eine Rolle schlüpfen, also eine fiktionale Figur wie beispielsweise ›Hamlet‹ verkörpern. Theater solle Dinge eben nicht repräsentieren, da dies einer ›affirmativen Reproduktion‹ (vgl. Beck 2006/07: 15) gleichkomme. In Polleschs Stücken stellen die Performer/innen nicht einen ihnen vorgegebenen Text dar, vielmehr bezieht sich ein während des Probenprozesses entwickelter Text direkt auf die Persönlichkeit der Performenden. Genau in diesem Umstand liegt das meines Erachtens enorme politische Potenzial des Pollesch-Theaters. Pollesch arbeitet nicht im Sinne eines traditionellen politischen Theaters, wie es besonders in den 1970er und 1980er Jahren Hochkonjunktur hatte, auch heute noch in vielen Theaterhäusern auffindbar ist und das gezielt einen kritisch-distanzierten Blick auf gesellschaftliche Missstände wie inhumane Asylverfahren, Hartz IV et cetera. wirft – eine Perspektive, die Pollesch zufolge nichts mit den Theaterschaffenden selbst zu tun habe: »Der Regisseur sagt bei solchen Veranstaltungen doch die ganze Zeit unterschwellig: ›Das bin ich nicht.‹« (Raddatz 2007: 197), konstruiere also konsequent ein ›ausgeklammertes Anderes‹. Pollesch hingegen verfolgt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Themen, über die er aus eigener Erfahrung schreiben kann und die sowohl seine jeweiligen Theaterschaffenden als auch sein Publikum unmittelbar und persönlich tangieren. Pollesch geht es darum, das »Nicht-Lesbare […] alltägliche[r] Verrichtungen heraus[zu]schreibe[n] […] und einen Blick auf uns und die Normalität zu werfen.« (Raddatz 2007: 200) Ziel von Polleschs Schaffen ist es, das Geläufige, Alltägliche und Unhinterfragte kritisch zu verhandeln. Zwei Aspekte, die Polleschs Stücke umfangreich thematisieren, sind zum

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einen neoliberale Arbeitsverhältnisse und zum anderen das westliche Geschlechtersystem, das Butler treffend als ›heterosexuelle Matrix‹ betitelt. Pollesch macht darauf aufmerksam, dass diese beiden Teilbereiche eng miteinander verknüpft sind und sich fundamental bedingen. Signifikant für die gegenwärtige Arbeitswelt sei, so betont Pollesch in diversen Interviews, das kollektive Phantasma der ›Selbstverwirklichung‹. Daher adaptierten Unternehmen heute die Arbeitsweisen von Künstler/innen, um ihre ökonomischen Ziele zu erreichen. Das bedeutet konkret, dass inzwischen verstärkt auch in nicht-künstlerischen Berufen die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit aufgegeben wird – Kategorien wie Arbeit versus Freizeit lassen sich nicht mehr klar voneinander unterscheiden. Individualität und Flexibilität sind die Schlagwörter der Stunde. Pollesch illustriert diesen Umstand folgendermaßen: »Das Angebot lautet, sich selbst zu verwirklichen. Die Frage ist dann, wer hat etwas von dieser Selbstverwirklichung, die einen nicht nach acht Stunden nach Hause gehen und von der eigenen Produktion abgespalten erscheinen lässt. Heute wird eine absolute Rechtlosigkeit in dem sich auflösenden Wohlfahrtsstaat als Selbstverwirklichung in der Selbstständigkeit verkauft.« (Pollesch 2001: 6)

Individualität nimmt demgemäß in neoliberalen Kontexten einen zentralen Stellenwert ein. Neue Jobs zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Subjektivität der Arbeiten verwerten. Eng mit dieser Subjektivität ist geschlechtliche Identität verknüpft, darauf weisen die genannten kapitalismuskritischen Arbeiten der letzten Jahre vermehrt hin und auch Pollesch greift diese Debatten auf. Dem Theatermacher gelingt es mittels intertextueller Referenzen auf kultur- und gender-theoretische Fragestellungen, das Geschlechtersystem als diskursive Konstruktion zu entlarven. Er ist damit einer von wenigen progressiven Theatermacher/innen, für die die künstlerische Auseinandersetzung mit queerness und Heteronormativität eine maßgebliche Thematik ist. Diedrich Diederichsen betont zu Recht, dass Pollesch eine außergewöhnliche und lobenswerte Vorreiterrolle in der theatralen Rezeption neuerer poststrukturalistischer und kulturtheoretischer Denkrichtungen einnimmt (wie zum Beispiel des gender-kritischen Feminismus Butlers). Es habe sich eine »(Underground-) Theoriekultur« (Diederichsen 2002: 58) entwickelt, die ansonsten vom deutschsprachigen Feuilleton sowie der Mehrzahl kultureller Institutionen mit Vorliebe ignoriert wurde.2 Trotz der stellenweise sperrigen und

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Auf der Konferenz queer leben (21. und 22.9.2007, Berlin) bin ich in einem Vortrag der Frage nachgegangen, warum die Verhandlung von quee197

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schwer verständlichen Abhandlungen begreift Pollesch intertextuelle Bezüge auf diese Theorien in seinen Theatertexten nicht als hochnäsigen Gestus, der die Theateraufführung zu einer universitären Veranstaltung werden lasse. Vielmehr glaubt er an die »Theoriefähigkeit meines Alltags, daß mit Theorie zu bearbeiten ist. Man muß nur von dem Vorurteil weg, daß es sich um etwas Elitäres handelt, wenn ich mich auf eine Philosophie beziehe, um mein eigenes Handeln zu begreifen. Auf eine Philosophie allerdings, die sehr nah an dem ist, was gerade stattfindet.« (Pollesch in Raddatz 2007: 200)

Im Vergleich zu einer universitären Veranstaltung hat Polleschs Theater den Vorzug, dass die kulturtheoretischen Überlegungen nicht bloß vorgetragen, sondern auf der Bühne bespielt beziehungsweise ausagiert werden können.3 Nicht umsonst bezeichnet Pollesch den Raum des Theaters als einen »gute[n] Spielplatz für die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte […]. [D]as Theater [ist] ein Ort, an dem man, enthoben von allen physikalischen Gesetzen und Gesetzen moralischer Grenzen spielen kann« (Pollesch 2006/07: 21). Folglich konzipiert Pollesch die Bühne als einen heterotopen Ort im Sinne Foucaults.4 Die Lektüre

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ren Themen auf deutschsprachigen Bühnen vielfach vernachlässigt wird. Vgl. Franziska Bergmann (2008). Pollesch nutzt diese Möglichkeit des ›Spielplatzes‹ und stellt in seinen Inszenierungen unter anderem massiv die heterosexuelle Matrix infrage. So lässt er zum Beispiel in Liebe ist kälter als das Kapital einen männlichen Schauspieler sich selbst mehrmals als Frau bezeichnen und in jenen Momenten ist dieser Schauspieler im Rahmen der ›Bühnenrealität‹ eine weibliche Person. Das heißt, Pollesch macht sich hier die Wirkung performativer Sprechakte zunutze und verlagert den von Butler angeführten Sprechakt »It’s a girl!« respektive »It’s a boy!« in den Kontext der Bühnenrealität. Das Beispiel zeigt, dass auf der Bühne, die ein eigenes semiotisches System bildet, die Beziehung zwischen ›signifier‹ und ›signified‹ wesentlich flexibler ist als im Alltag. D.h. dass ein im Alltag als männlich klassifizierter Körper (derjenige des Schauspielers) auf der Bühne allein durch spezifische Handlungen eine weibliche Position einnehmen kann. In seinem 1967 gehaltenen Vortrag Von anderen Räumen bezeichnet Michel Foucault unter anderem die Theaterbühne als einen Raum, der einen ›Un-Ort‹ markiert. ›Un-Orte‹ seien Orte, die zwar real existieren, an denen jedoch komplett andere Regeln herrschten als an gewöhnlichen Orten. Diese ›anderen Orte‹ stellen für Foucault eine Form von »Resträumen innerhalb einer Kultur« dar, in der diese zugleich »repräsentiert, bestritten, suspendiert oder umgekehrt werden« könne (Chlada 2006: 1). Das bedeutet, dass an diesen Orten zum Beispiel gängige Moralvorstellungen außer Kraft 198

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und Bearbeitung der kulturtheoretischen Schriften auf dem Theater fungierten, so Pollesch, als »Sehhilfe« (Pollesch 2006/07: 21), die auf Missstände verwiesen: »Da stimmt was nicht, da wird was für selbstverständlich gehalten, was eigentlich, mit einer Sehhilfe betrachtet, nicht mehr allzu selbstverständlich ist.« (Pollesch 2006/07: 21) Polleschs Theater, das vielfach als ›Diskurstheater‹ (vgl. Diederichsen 2002) bezeichnet wird, soll das Publikum zur Reflexion über eigene Lebenszusammenhänge – also auch die jeweilige geschlechtliche und sexuelle Identität oder die persönliche Jobsituation – anregen. Im Folgenden wird anhand der Stücke Sex. Nach Mae West und Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr exemplarisch ausgeführt, wie Pollesch Kulturtheorien in seinen Stücken verhandelt und dabei auf die janusköpfige Verschränkung von Queer Theory und Neoliberalismus verweist.

»Diese Hure ist ein revolutionäres Unternehmen« — Zum Umgang mit postmodernen Gender-Theorien in Sex. Nach Mae West und Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr Das Stück Sex. Nach Mae West beleuchtet den Zusammenhang von Geschlecht, Begehren und neoliberalen Arbeitsverhältnissen. Der Ort des Geschehens in Sex wird als Bordell markiert, ein Raum also, an dem scheinbar intimste, privateste Handlungen käuflich erworben werden können. Drei Performerinnen, die jeweils unter ihrem realen Namen auftreten, S: Sophie Rois, C: Caroline Peters und I: Inga Busch, beschreiben sich als Huren und erläutern in der typisch Pollesch’schen theorielastigen Sprache die Vor- und Nachteile dieses Berufs. S, C und I erzählen, dass Huren ständig im Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit stünden, zwei Sphären, die sich im Zuge der Postmoderne zunehmend auflösen beziehungsweise ineinander übergehen. Privatheit wird dennoch weithin mit dem Bereich assoziiert, der sich jenseits von Ökonomie befindet: mit einem Ort, an dem noch ›echte‹, ›wahre‹ zwischenmenschliche Gefühle ausgetauscht werden. Arbeit im privaten Kontext, wie Haushalt und Kindererziehung, wird, wie bereits angedeutet, vornehmlich immer noch von Frauen verrichtet, die in einem traditionellen heteronormativen Zusammenhang leben. Diese Arbeit wird als selbstvergesetzt sind – wie beispielsweise in Bordellen – oder normative Zeitkonzeptionen dort keine Gültigkeit besitzen wie in Museen. Diese anderen Räume nennt Foucault Heterotopien.

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ständliche ›Liebesarbeit‹ angesehen und dementsprechend finanziell nicht entlohnt. In Sex wird betont, dass der private Raum ein Ort sei, an dem systematisch Gefühle ausgebeutet würden (vgl. Pollesch 2001/02: 134). Insofern sind liberal-feministische Forderungen nach der Bezahlung von häuslicher Arbeit nur eine konsequente Strategie zur Erlangung geschlechtlicher Gerechtigkeit. Pollesch und seine Schauspielerinnen führen in Sex diesen Ansatz weiter und überlegen, dass der Vorteil sexueller Dienstleistungen sei, dass sie ausdrücklich als ökonomisches Verhältnis definiert sind, »keine falschen Vorstellungen von Natürlichkeit [evozieren, F.B.] und […] den nicht markierten Zuhause-Inszenierungen in bürgerlichen Ehen […] vorzuziehen [sind]« (Diederichsen 2002: 62). Diese Beziehungen, die nicht auf ›Liebe‹, sondern auf finanziellen Abmachungen basieren, bieten den Schauspielerinnen in feministischer Hinsicht einen ungeahnten Halt; dieser kommerzialisierten Form von Bindung wird ein richtungsweisender Impetus verliehen: »I: In diesen formalisierten Liebesbeziehungen kann ich mich orientieren durch Ökonomie. […] Eines der revolutionärsten Geschäftskonzepte von Unternehmen heisst, du bezahlst für etwas, das du früher umsonst bekommen hast. C: Ja, das WILL ICH! I: Unternehmen in der Erlebniswirtschaft. S: Und diese Erlebniswirtschaft besetzt eine feministische Position. C: Ich will Geld für Gefühle, und ich will Geld für Gefühle ausgeben. S: Und wenn ich meine Arbeit zu Hause mit Geld aufrechne, ist das keine Frage der Moral! Oder unmoralisch! Oder unanständig. Sondern der Versuch das als Arbeit überhaupt kenntlich zu machen. Damit ich das irgendwie SEHN KANN!« (Pollesch 2001/02: 134)

Gleichwohl wird in Sex auch die Kehrseite der Medaille in Betracht gezogen. Erstens erfordert Sexarbeit in den meisten Kontexten eine stereotype, überzeichnet-binäre Geschlechtsidentität. Vor allem eine spezifische Form von Weiblichkeit wird – wenn wir an bildliche Repräsentationen von Frauen in der Sexindustrie denken – extrem fetischisiert. Erotisierte Weiblichkeit wird durch die starke Betonung primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale demonstriert, durch spezifische Rollenmodelle wie weibliche Passivität und Unterwürfigkeit et cetera. Frauen fungieren als reines Lustobjekt für Männer, all das haben kritische Abhandlungen zur Mainstream-Pornografie eingehend erörtert. Konventionelle Formen sexueller Dienstleistungen zementieren daher heteronormative Konstrukte:

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»S: Du verkaufst, worauf du angesprochen wirst. Mann oder Frau sein. Und diese Differenzierung auf dem Dienstleistungssektor […] ist an Heterosexualität gekoppelt. […] I: Deine Subjektivität ist weiblich, dann verkauf die doch.« (Pollesch 2001/02: 141)

Zugleich wird anhand der hier entworfenen Beziehung Sexarbeiter/inSexerwerbende/r deutlich, dass diese ›nicht-bürgerliche‹ Form von Bindung im Kontext des Kapitalismus zu denken ist, in dem sämtliche Lebensbereiche ›durchökonomisiert‹ sind. Diese umfassend kapitalistische Durchdringung ist zugleich ein Paradox feministischer und genderkritischer Forderungen nach Bezahlung von Hausarbeit. Liberalisierte Geschlechterverhältnisse und die Auflösung der Bereiche öffentlich/privat gehen ungeahnte, sichtbare Koalitionen mit neoliberalen Interessen ein. Dieses Paradox wird auch in Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr evident.

»Geil, Dualismus aufgehoben.« Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr führt die fast komplette Auflösung vormals feststehender, binarisierter Kategorien im Zuge des Neoliberalismus vor Augen. Dies wird sowohl in Bezug auf die Figuren- als auch auf die Raumkonzeption deutlich. Zunächst zu den Figuren: Heidi Hoh (Rolli), Gong Scheinpfluganova (Anja) und Bambi Sickafossa (Susanne) treten als »Subjekte [meine Hervorhebung, F.B.] der Globalisierung« (Pollesch 2003: 31) – so eine Regieanweisung – in Erscheinung. Allerdings wird der Begriff »Subjekte« – darauf verweist schon die sichtlich paradoxe Verknüpfung mit »Globalisierung« – in dem Stück ad absurdum geführt. Heidi Hoh, Gong Scheinpfluganova und Bambi Sickafossa wechseln im Verlauf des Stückes sprunghaft ihre Persönlichkeit und ihren Beruf, nur bei der Titelfigur Heidi lassen sich, wie Thomas Ernst feststellt, Bruchstücke einer Biografie erkennen (vgl. Ernst 2007: 247). Heidi arbeitet zunächst als Mietwagenhostess in einem Toyota Showroom unter unmenschlichen Bedingungen. Dieser Job war eigentlich »als so eine Art Nebenjob gedacht, mit dem ich mir meinen SONNIGEN LEBENSSTIL FINANZIERE. Aber ich hab überhaupt keinen sonnigen Lebensstil mehr. Ich komme gar nicht mehr an die Sonne. Ja, gut, ich bin an der Sonne auf diesem Parkplatz, aber ich bin nicht an der SONNE! Ich hab nur noch die Arbeit, und zum Surfen komm ich auch nicht mehr. Ich bin eigentlich nur wegen der Wellen nach L.A. gekommen. […]

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ICH WOLLTE, DASS DAS ALLES IRGENDWIE MEIN LEBEN IST! ARBEITEN UND WELLENREITEN, ABER DAS IST ES IRGENDWIE NICHT.« (Pollesch 2003: 38)

Der Wunsch nach Selbstverwirklichung führt bei Heidi zur Selbstauflösung, von ihrem persönlichen Leben jenseits des Jobs ist ihr nichts mehr geblieben. Sie muss rund um die Uhr arbeiten, hat keine Zeit zum Schlafen und nimmt aufgrund dessen regelmäßig Drogen und Medikamente. Sie bemerkt, dass der Entwurf ihres ›wahren‹ Selbst abhanden gekommen ist; sogar ihre körperlichen Grenzen haben sich verflüssigt. Heidi muss in ihrem Job mit einem sogenannten ›Körpercomputer‹ operieren, den sie um die Taille trägt, der mit ihr verschmilzt und ihren CyborgStatus deutlich werden lässt. Pollesch bezieht sich hier auf das CyborgTheorem Haraways, rezipiert dieses in Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr jedoch äußerst kritisch und spricht ihm im Kontext der vorgeführten kapitalistischen Arbeitsverhältnisse jeglichen utopistischen Charakter ab. Zwar hebt Heidis Verschmelzung mit dem Körpercomputer den Dualismus Mensch/Maschine, Natur/Technologie auf, stellt allerdings, wie Thomas Ernst zutreffend erörtert, »nur ein[en] Schritt in neue Formen von Unterdrückung« (Ernst 2007: 248) dar. Gong reflektiert folgendermaßen über diese prekäre Situation: »Ausbeuterjobs brauchen neue Technologie« (Pollesch 2003: 37). Darüber hinaus bedeutet die Dekonstruktion der Mensch/Maschine-Opposition noch keinesfalls die Infragestellung des Gegensatzpaares Frau/Mann, wie Haraway in ihrem Manifest annimmt. Hinsichtlich der Raumkonzeption lässt sich für Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr Ähnliches feststellen wie für Sex. Durch die ebenfalls in Sex thematisierte ›Durchökonomisierung aller Lebensbereiche‹ sind auch in Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr die Sphären öffentlich/privat nicht mehr voneinander zu trennen. Die drei Figuren beklagen den Verlust jeglicher Freizeit, nicht einmal mehr der Raum des Zuhause ist frei von Arbeit, denn aufgrund des Flexibilitätszwanges können die Figuren nur noch in Hotelzimmern wohnen, die von den Arbeitgebern zur Verfügung gestellt werden, ein eigenes ›Zuhause‹ existiert nicht. Gong erzählt verzweifelt, dass die Hotelzimmer keinesfalls einen Raum der Erholung darstellen: »ICH BIN IMMER UNTERWEGS. VON EINEM HOTEL INS NÄCHSTE, UND DA SIND NUR BÜROS. ICH HALTS NICHT AUS!« (Pollesch 2003: 70) Dieser ständige Arbeitszwang wird besonders drastisch vor Augen geführt, wenn die drei Figuren berichten, dass nicht einmal mehr ihre Betten Orte der Erholung sind, sondern vielmehr »Orte […] erhöhter Wachsamkeit« (Pollesch 2003: 47) darstellen, denn »[k]einer kann mehr schlafen. Entweder man arbeitet da und schreibt

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E-Mails, oder man arbeitet da als Nutte […], aber keiner schläft mehr ein in seinem Bett« (Pollesch 2003: 47). Gleichwohl lehnen es Heidi, Gong und Bambi ab, einen konventionellen, bürgerlichen Lebensstil zu führen, bei dem die Bereiche privat/öffentlich getrennt erscheinen. Sie betonen mehrfach den Vorteil des neoliberalen Lebens, dass sie nicht in heterosexistischen Zwangssystemen gefangen sind, in denen sie unbezahlte ›Liebesarbeit‹ zu leisten haben. (»Bürgerliche Lebensstile, aber die will ich nicht leben. Widerliche Dinge. Die will ich nicht leben« [Pollesch 2003: 98]). Doch im postmodernen Neoliberalismus, in dem (Geschlechts-)Identitäten scheinbar flexibilisiert sind, treffen Polleschs Figuren dennoch auf Sexismus. Heidi, Gong und Bambi müssen in ihren Dienstleistungsberufen speziell ihre ›Weiblichkeit‹ zum Einsatz bringen, ihre Jobs sind ausdrücklich geschlechtlich differenziert. Heidi schildert, dass sie »dafür bezahlt [wird], auf eine geschlechtsspezifische Art freundlich zu sein« (Pollesch 2003: 49). Gleichzeitig bedeutet diese Differenzierung eine unfaire Bezahlung, alte Geschlechtermodelle sind keinesfalls gelockert oder gar abgeschafft, sondern haben sich nur weg von den Sphären privat/öffentlich hin zu geschlechtsspezifischen Arbeitsplätzen verschoben. »Frauen [sind, meine Hinzufügung, F.B.] in prekären Arbeitsverhältnissen« zu finden (Pollesch 2003: 97), während Männer ungebrochen erfolgreich sind und »Geschichte schreiben« (Pollesch 2003: 40). Die heterosexuelle Matrix erscheint hier als unhintergehbares, monolithisches Regime, sodass sogar Heidis Versuch scheitert, mittels der von Butler vorgeschlagenen Subversionsstrategien des drag diese Ordnung zu stören. So steht in einer Regieanweisung: »Der Showroom verwandelt sich durch Heidis DragKing-Gehabe in eine Autowerkstatt.« (Pollesch 2003: 49) Drag Kinging lässt sich in vielen queeren Subkulturen finden und wird folgendermaßen definiert: »A Drag King is a performer who makes masculinity into his or her act.« (Halberstam 1999: 36) Es geht bei Drag Kinging vielfach um die performative, häufig ironisch-parodistische Aneignung stereotypisierter Männlichkeit und deren Ausstellung auf der Bühne.5 Wie wir bereits im Abschnitt zu Queer Theory gesehen haben, sieht Judith Butler in einigen Formen geschlechtlicher Transgressionen, insbesondere des drag, die Möglichkeit zur geschlechtlichen Subversion. So schreibt Butler: 5

Einen hervorragenden sowie differenzierten Überblick zu dem Phänomen des Drag Kinging bieten unter anderem folgende Publikationen: Volcano/ Halberstam (1999) und Thilmann u. a. (Hg.) (2007). Besonders empfehlens-wert hinsichtlich dieses Themenkomplexes ist der Dokumentarfilm Venusboyz. Eine filmische Reise durch das Universum weiblicher Männlichkeit (Schweiz 2001, Regie: Gabriel Baur). 203

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»In imitating gender, drag implicitly reveals the imitative structure of gender itself – as well as its contingency [Hervorhebung im Text]. […] In the place of the law of heterosexual coherence, we see sex and gender denaturalized by means of performance which avows their distinctness and dramatizes the cultural mechanism of their fabricated unity. The notion of gender parody defended here does not assume that there is an original which such parodic identities imitate. Indeed, parody is of [Hervorhebung im Text] the very notion of an original; […] so gender parody reveals that the original identity after which gender fashions itself is an imitation without an origin. To be more precise, it is a production which, in effect – that is, in its effect – postures as an imitation« (Butler 1999: 187f.).

Butler geht, wie das Zitat zeigt, davon aus, dass die heterosexuelle Matrix mittels performativer Praktiken destabilisiert werden könne, da die theatrale Imitation von Geschlechtsidentität auf den allgemeinen performativen Charakter von Geschlecht hinweise und dieses folglich entnaturalisieren könne. Im Kontext von Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr könnte die kurze Drag-King-Einlage als Versuch Heidis gedeutet werden, das ihr unerträgliche System der heteronormativen Zwangsmatrix zu unterlaufen. Jedoch sehen wir im weiteren Verlauf des Stückes, dass ihr dieses Unterfangen nicht gelingt; die von Butler angedachte Möglichkeit der Subversion scheitert grundlegend, denn gleich darauf lamentiert Heidi, dass ihr prekärer Job untrennbar mit ihrer weiblichen Geschlechtsidentität verwoben ist. Mit Nachdruck hat Evelyn Annuß in ihrer Kritik an Butler darauf hingewiesen, dass Butlers Subversionskonzept wesentliche Aspekte des Zweigeschlechtersystems außer Acht lasse. Annuß sieht in Butlers Politikverständnis einen »›radikalen‹ Idealismus« (Annuß 1996: 515), der »letztlich ästhetische Formen auf das politisch Feld« (Annuß 1996: 515) übertrage. Die Konsequenz sei, dass soziale Ungleichheiten, hier insbesondere Klassenverhältnisse, keinerlei Beachtung fänden. Im »Zuge [dieser neoliberalen, F.B.] Ästhetisierungserscheinungen [nimmt] die ›Verleugnung des Sozialen‹ (Bourdieu 1982: 31) zu« und Individuen, die im Bourdieu’schen Sinne kein ›soziales Kapital‹ aufweisen könnten, hätten in Bezug auf Butlers Subversionskonzept kaum Chancen (vgl. Annuß 1991: 151). Anhand des von Annuß vorgestellten Ansatzes zur Kritik an Butlers Subversionsgedanken lässt sich erklären, warum Heidis rebellischer Akt als Drag King keinerlei Verbesserungen ihrer Situation mit sich bringt: Zu stark ist Heidi in ihren prekären Arbeitsverhältnissen gefangen, zu sehr ist Butlers Kritik am Geschlechterverhältnis im Kontext neoliberaler Ideale der »Ästhetisierung

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der Selbstverhältnisse und der sozialen Beziehungen« (Annuß 1991: 514) verankert.6

Fazit: Eine optimistischere Perspektive Polleschs Stücke werfen – oberflächlich betrachtet – einen extrem deprimierenden Blick auf gegenwärtige neoliberale Verhältnisse und vermitteln zunächst den Eindruck, dass ein Entrinnen aus diesem System ein unmögliches Unterfangen darstellt: Die kapitalistischen Ordnungen haben sich in allen Lebensbereichen manifestiert, sogar radikalkritische Ansätze der Queer Theory scheinen mit ihnen verklammert zu sein. Es wäre jedoch auf zwei Ansätze zu verweisen, die eine optimistischere Sichtweise neoliberaler Verhältnisse zulassen. Zum einen stellt die Germanistin Natalie Bloch fest, dass in Polleschs Stücken zwar auf textueller Ebene keinerlei Auswege aus dem Kapitalismus und der heterosexuellen Matrix angedeutet würden. In den Inszenierungen sorge allerdings die enorme Präsenz der Schauspielerinnen und ihr ständiges Anschreien gegen die unerträglichen Verhältnisse dafür, dass die Fehlbarkeit des Körpers vor Augen geführt wird; der Körper verweise in Polleschs Inszenierungen deutlich auf die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, folglich schienen Reste einer sich gegen inhumane Anforderungen auflehnenden Subjektivität auf. Nicht umsonst spricht Bloch in diesem Kontext vom »Widerstand des Restsubjekts« (Bloch 2008: 175). Zum anderen plädiert die Queer-Theoretikerin Antke Engel dafür, den Neoliberalismus und die heterosexuelle Zwangsmatrix keinesfalls als geschlossene Systeme zu betrachten. In Anlehnung an Gibson-Grahams The End of Capitalism as We Know it geht es Engel darum, »Widerstände, Grenzen, Brüche und Ungereimtheiten« (Engel 2002: 275) aufzuzeigen, um kritisch zu intervenieren. Das Ökonomische selbst müsse – analog zu scheinbar ontologischen Geschlechtsidentitäten – als »kulturelles Phänomen« (Engel 2002: 288) begriffen werden, das sich in ständiger Abhängigkeit von Zeit, Raum sowie gesellschaftlichen Praktiken befinde und kontinuierlich mit anderen Diskursen verschränkt sei. Im Sinne Fou-

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Es muss hier allerdings darauf hingewiesen werden, dass Butler in ihren jüngeren Publikationen die Kritik an ihrem Ästhetisierungskonzept aufgegriffen hat. Dies lässt sich unter anderem in Undoing Gender nachweisen. Dort arbeitet Butler (2004) mit einem stärkeren Fokus auf konkrete politische Interventionen. 205

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caults sind auf dialektische Weise, so Engel, »Befreiung und Unterwerfung […] unweigerlich miteinander verwoben« (Engel 2002: 275).7

Literatur Annuß, Evelyn (1996): Umbruch und Krise der Geschlechterforschung: Judith Butler als Symptom. In: Das Argument 216, S. 505–524. Beck, Andreas (2006/07): Die Möglichkeit, dass alles auch anders sein könnte. Ein Gespräch mit René Pollesch zu Beginn der Proben. In: Programmheft. Das purpurne Muttermal. Burgtheater/Akademietheater Wien, S. 8–26. Bergmann, Franziska (2008): Das Drama und die Theaterbühne als Heterotopie für die Darstellung queerer Existenzweisen. Ein Blick auf Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik. In: LCavaliero Mann et al.: queer leben? queer labeln? (Wissenschafts-)kritische Kopfmassagen. Freiburg im Breisgau: fwpf, S. 44–55. Bloch, Natalie (2008): »ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN!« Subversive Techniken und ökonomische Strategien in der Theaterpraxis von René Pollesch. In: Ernst, Thomas u. a. (Hg.): SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S. 165–182. Boudry, Pauline/Kuster, Brigitta/Lorenz, Renate (Hg.) (1999): Reproduktionskonten fälschen! Berlin: b_books. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge. Butler, Judith (2004): Undoing Gender. New York/London: Routledge. Chlada, Marvin (2006): In Heterotopia. Unter: http://jungle-world.com/ artikel/2006/02/16708.html. Stand: 20.07.2008. Diederichsen, Diedrich (2002): Denn sie wissen, was sie nicht leben wollen. Das kulturtheoretische Theater des René Pollesch. In: Theater heute, H. 3, S. 56–63. Dürrschmidt, Anja/Irmer, Thomas (2001): Im Gespräch mit René Pollesch. Verkaufe dein Subjekt! In: Theater der Zeit, H. 12, S. 4–7. Engel, Antke (2002): Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt am Main/ New York: Campus.

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Für die kritische Durchsicht und hilfreichen Anmerkungen danke ich Bettina Schreck und Katharina Pewny. 206

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Englert, Kathrin (2007): Globalisierte Hausarbeiterinnen in Deutschland. In: Groß, Melanie/Winkler, Gabriele (Hg.): Queer-/Feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse. Münster: Unrast, S. 79–102. Ernst, Thomas (2007): ›AAAAHHHHH!‹ Von Sprachkörpern, postdramatischem Theater und den Schreiwettbewerben der Restsubjekte in René Polleschs Heidi Hoh arbeitet nicht mehr. In: Würmann, Carsten u. a. (Hg.): Welt. Raum. Körper. Transformationen und Entgrenzungen von Körper und Raum. Bielefeld: transcript, S. 237–254. Evans, David T. (2000): Zwischen »moralischem« Staat und »amoralischem« Markt. Die materiellen Dimensionen und politischen Dilemmata homosexueller BürgerInnenschaft in der Spätmoderne. Übersetzt v. Katja Wiederspahn. In: quaestio (Hg.): Queering Demokratie. Sexuelle Politiken. Berlin: Querverlag, S. 67–82. Foucault, Michel (2006): Von anderen Räumen. Aus dem Französischen übersetzt v. Michel Bischoff. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 317–329. Genschel, Corinna u. a. (2001): Anschlüsse. In: Jagose, Annamarie: Queer Theory. Eine Einführung. Berlin: Querverlag, S. 167–194. Halberstam, Judith ›Jack‹ (1999): What is a Drag King? In: Del LaGrace Volcano/Halberstam, Judith ›Jack‹: The Drag King Book. London: Serpent’s Tail, S. 32–41. Haraway, Donna (1991): A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century. In: Dies.: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature. New York: Routledge, S. 149–181. Harrasser, Karin (2006): Donna Haraway: Natur-Kulturen und die Faktizität der Figuration. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 445–459. Hennessey, Rosemary (2000): Profit and Pleasure. Sexual Identities in Late Capitalism. New York: Routledge. Pollesch, René (2001/02): Sex. Nach Mae West. In: Masuch, Bettina (Hg.): Wohnfront 2001–2002. Berlin: Alexander, S. 131–159. Pollesch, René (2003): Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr. In: Ders.: World Wide Web-Slums. Hg. v. Corinna Brocher. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 29–100. Raddatz, Frank-M. (2007): Penis und Vagina, Penis und Vagina, Penis und Vagina. René Pollesch über Geschlechterzuschreibungen, das Normale als Konstruktion und die Theoriefähigkeit des Alltags. In: Raddatz, Frank M. (Hg.): Brecht frißt Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Berlin: Henschel 2007, S. 195–213.

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Thilmann, Pia u. a. (Hg.) (2007): Drag Kings. Mit Bartkleber gegen das Patriarchat. Berlin: Querverlag. Volcano, Del Lagrace/Halberstam, Judith ›Jack‹ (1999): The Drag King Book. London: The Serpent’s Tail.

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»M C K I N S E Y S K I L L E R K O M M A N D O S . S U B V E N T I O N I E R T E S A B G R U S E L N «. K L E I N E M O R P H O L O G I E (T O O L B O X ) Z U R DARSTELLUNG AKTUELLER WIRTSCHAFTSWEISEN 1 IM THEATER BERND BLASCHKE

Der Titel meines Essays ist aus Zitaten gefügt. Ich habe sie Tom Peuckerts Theatertext Luhmann entnommen. Peuckert lässt in dieser Bielefelder Auftragsarbeit2 aus dem Jahre 2005 neben einem gescheiterten Doktoranden und zwei Clowns auch drei Beobachter auftreten. Einer davon, der sogenannte »feindliche Beobachter«, steigert sich in einen theaterkritischen Redeschwall, den man als Parodie Gerhard Stadelmeier’scher FAZ-Attacken auf das antibürgerliche Gegenwartstheater verstehen könnte. Ich zitiere diese herzhaft böse, doch womöglich auch aufschlussreich gehaltvolle Denunziation etwas ausführlicher – denn sie verdichtet in überpointierter Form ein Unbehagen am apokalyptischen Ton im Wirtschaftsdiskurs des Gegenwartstheaters3: 1 2

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Mein herzlicher Dank für Hinweise auf einschlägige Theatertexte sowie für die Diskussion einiger thematischer Aspekte gilt Christine Bähr. »Es handelte sich also zunächst eher um ein Bedürfnis des Marktes. […] Der Auftrag des Theaters – erste Rate bei Vertragsabschluß – ist also zunächst ein hochwillkommenes Forschungsstipendium«, so Peuckert (2005a: 270). Die Apokalypse sowie ein ihrem Näherkommen mehr oder weniger angemessener apokalyptischer Ton ist bekanntlich ein Phänomen der Zeit. Es ist daher nicht ganz unerheblich, auf die Datierung dieses Essays einzugehen. Die hier behandelten Theatertexte sind von 1996 bis 2006 entstanden: also im Kontext des Aufstiegs und des Niedergangs der sogenannten New Economy. Mein Text wurde als Vortrag im Mai 2008 geschrieben und gehalten, mithin schon im Kontext der anschwellenden Subprime-, Banken- und Finanzkrise. Überarbeitet und in die vorliegende Druckfassung gebracht wurde der Text im Dezember 2008, inmitten eines allgemeinen Lamentos, 209

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»Reden wir doch mal vom Theater! Die sogenannte dramatische Kunst. Was der theaterschaffende Zeitgenosse uns so mitzuteilen hat. Kriege ich Ekelpickel von. Bin ich total allergisch. Gegen die ganze Hysterie. Das apokalyptische Brunstgeschrei. Die Gockelrufe von der Panikfront. Was sehen denn die Freunde des Weltuntergangs? Zu viel schlechte Videos sehen die! Privat bestens gelaunt. Oder sagen wir besser: überschaubare Problemlagen. Ausgedehnter Pubertätskonflikt. [...] Aber das würde ja nicht reichen. Da fehlt ja das Fieber der globalen Tragödie. Der metaphysische Big Bang. Wenn der Lappen hochgeht, hat der Künstler auf den Achttausendern der Paranoia rumzukrabbeln. // Zum Beispiel wollen sie neuerdings den Business-Typen immer die totale Weltvernichtung anhängen. Die Global Players aus der Wirtschaft müssen jetzt unbedingt mal zur Sau gemacht werden. Die SS in Nadelstreifen. Der Satan aus dem Bankenturm. McKinseys-Killerkommandos. Das liebste Feindbild unserer sogenannten Theaterschaffenden. Die neuen Macher werden auf dem Theater genauso empfangen wie die alten: Ihr Schweine! Wir zerren eure rostigen Seelen ans Licht! Wir machen euch nackig! // Halloween im Staatstheater. Subventioniertes Abgruseln. // Wenn die aufgekratzten Jungschauspieler an der Theaterbar einfliegen, weiß man wieder, worum es eigentlich geht. Wer sind die wirklichen toughen Guys? Wer ist Alpha? Wer ist vorne? […] Den Caipi mit der AmEx bezahlt oder locker das Scheinchen aus der Brusttasche geknüllt?« (Peukert 2005b: 162)

Man könnte nun aufdröseln, welche Stücke oder welche Personen Peuckerts Figur in ihrer sprachmächtigen Denunziation der zeitgenössischen theatralen Wirtschaftskritik gemeint haben könnte. Auf Falk Richter (näherhin: auf sein Unternehmensberater-Stück Unter Eis) deutet das später im Text folgende Stichwort der »Weltvereisung« im Menschheitskoma, in der »Seelenertaubung« (vgl. Richter 2004). Doch blieben derartige Aufweise von potenziellen Intertexten und Referenzen dieser theatralischen Theaterkritik spekulativ. Bemerkenswert ist an dieser metatheatralen Kritik im Modus der Rollenrede die (vielleicht ironische) Kollegenschelte. Formal stellt diese Attacke des »feindlichen Beobachters« eine komische Parekbase dar, indem sie auf dem Theater das Theater, seine das sich um den Kollaps der Investmentbanken, massive staatliche Rettungsprogramme und den Niedergang des Wall-Street-Kapitalismus dreht. Wenn man will, könnte man in den theatralischen Apokalypse-Szenarien ein prophetisches Vorläufertum der Theaterautoren erkennen. Deren schwarzer Blick auf aktuelle Wirtschaftsweisen scheint im Herbst 2008 plötzlich von einer kritischen Minderheitsposition zum Mainstream der Finanz-Wirtschaftsbeobachtungen zu werden; nun verkündet schon die FAZ das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kannten. Allerdings ist die Geschichte eben noch nicht zu Ende – der Kapitalismus hat sich bislang bekanntlich als erstaunlich widerstands- und anpassungsfähiges Wirtschaftssystem erwiesen und sich recht stetig behaupten können. 210

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Akteure und Institutionen thematisiert. Sie weist zugleich auch einen postdramatischen Zug auf: eine selbstreflexive Rückwendung der Ökonomie-Thematik auf den Betrieb des Theaters. Die Einbeziehung der Theaterökonomie vollbringt der Text durch seine Erwähnung schauspielerischer Konkurrenzkämpfe und Zahlungsmittel; ferner durch Benennung der Subventionen, die den Betrieb am Laufen halten. Diese ökonomischen Bedingungen der Möglichkeit der theatralen Kunst, die öffentliche Alimentierung des Staats- und Stadttheater-Betriebs, markieren in allen anderen Stücken der deutschsprachigen Wirtschaftsdramatik eine Art blinden Fleck in den ansonsten doch überaus wirtschaftskritischen Augen der Beobachter. Der Untertitel meines Beitrags verspricht eine Morphologie der Darstellung zeitgenössischer Wirtschaftsweisen. Im Folgenden sollen also typische thematische sowie formalästhetische Bausteine der theatralen Wirtschaftsbeobachtung aus einigen Stücktexten gewonnen werden. Die Perspektive meiner Beobachtungen ist vorrangig die eines an wirtschaftlichen Themen und Semantiken und deren ästhetischer Inszenierung interessierten Literaturwissenschaftlers. In Anlehnung an die Tool-BoxSchemata von Unternehmensberatern modelliere ich einen diskursanalytisch gewonnenen Bastelbogen für das zeitgenössische Wirtschaftstheater. Die Thematisierung ökonomischer Zusammenhänge im deutschsprachigen Gegenwartstheater zeigt sich dabei – was Personal und Plots betrifft – vor allem als ein Manager- und Arbeitslosen-Theater. Der gebotenen Kürze geschuldet werde ich aus einem möglichst repräsentativ zusammengestellten Corpus4 zeitgenössischer Wirtschaftsdramatik einige inhaltliche Stichworte sowie strukturbildende Oppositionen extrahieren. Die einzelnen Stücke werden damit gewiss nicht erschöpfend in den Blick kommen. Doch sieht man aus dieser Vogelperspektive auf eine Gruppe von Theatertexten eben anderes: etwa ein Diskursrelief zeitgenössischer Ökonomiekritik; vielleicht auch Lücken und blinde Flecken der theatralischen Wirtschaftsbeobachtungen. So gelangt man – hoffentlich – zu thematischen Fixierungen und formalen Konturen der Wirtschaftsdramatik. Das dadurch skizzierte Bild wird der vorangestellten Attacke aus Peuckerts Luhmann nicht ganz unähnlich sehen. Doch ist es an konkreten Texten gewonnen und bietet ein breiteres und differenzierteres Wirtschaftspanorama als es die theatralische Kreditaufkündigung 4

Ich habe versucht, die für die Wirtschaftsthematik aufschlussreichsten Stücke auszuwählen. Die gewählten Theatertexte liegen weitgehend gedruckt vor und gehören, wie Urs Widmers Top Dogs (Widmer 1997), das man wohl als die Blaupause aller neueren deutschsprachigen Wirtschaftsdramatik betrachten darf, oder wie Moritz Rinkes Republik Vineta zu den meistgespielten neuen Stücken der letzten Dekade. 211

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vermag, die Peuckerts feindlicher Beobachter in seiner Pauschalpolemik dem Wirtschaftstheater ausfertigt.

1. Einige geläufige thematische Oppositionen In mehreren Stücken lässt sich als eine strukturbildende Opposition die Entgegensetzung von ›kalten‹ Kalkülen und heißen Eruptionen von Exzess und Gewalt konstatieren. Dieses bipolare Schema, das analytisch rechenhafte, zahlenbezogene Managertätigkeit mit den Gefühlswelten aus Liebe und Ängsten sowie den Triebwelten der Sexualität konfrontiert, kennzeichnet etwa Albert Ostermaiers Monolog eines Börsenbrokers Erreger (Ostermaier 2002) und Roland Schimmelpfennigs Drama Push Up 1–3, das von firmeninterner Karriere-Konkurrenz handelt (Schimmelpfennig 2001). Für Falk Richter scheint diese grundlegende Opposition von mit Bildern der Kälte belegten Zwängen und Operationsweisen der Wirtschaftswelt und ihren heißen, exzessiven Unterseiten die generative Matrix für mehrere Theatertexte zu bieten, insbesondere für Electronic City (Richter 2003), für das von Peuckert angespielte Stück Unter Eis sowie für seine jüngere Arbeit Im Ausnahmezustand (Richter 2007). Gewaltausbrüche als scheinbar notwendige Eskalation der ManagerPsychen und der Konkurrenzkämpfe ereignen sich auch und sogar bei dem ›Romantiker‹ Moritz Rinke in seiner schwarzen Komödie Republik Vineta, in der sich die arbeitssüchtigen Manager-Figuren mit Waffengewalt bedrohen und beschießen – oder sich schließlich am Deckenventilator erhängen (Rinke 2002). Während das Feld des Wirtschaftens und insbesondere die Tätigkeit der analytisch sezierenden, rechnenden und controllenden Manager mittels eines solch explosiven Umschlagens von kalten Kalkülen in heiße Gewaltexzesse imaginiert wird, findet sich eine zweite wiederkehrende Opposition in der Entgegensetzung (aber dann auch in der bedrohlichen Verschlingung) von Ökonomie und Familie respektive privater Partnerschaft. In Rinkes Phantasie einer beschäftigungstherapeutischen aktionistischen Parallelwelt für abgehalfterte Manager in Republik Vineta ist die besorgte Kapitänsgattin entsetzt angesichts ihres abdrehenden Gatten, der immer mehr Arbeit und Distanz statt familiäre Nähe sucht und der das Beschäftigungstherapie-Spiel im Gegensatz zur klarsichtigeren Frau nicht als Fake und Fiktion durchschaut. Auch in Rinkes Arbeitslosendrama Café Umberto ist die Ausgangssituation vom Gegensatz zwischen trister Jobsuche und privater Geborgenheit geprägt, doch gerät die private Schutzzone zunehmend in die destabilisierenden Strudel der beruflichen Malaise (Rinke 2005). Falk Richters Figuren erinnern sich, wie

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auch Albert Ostermaiers Broker, verfangen in ihren entfremdeten Jobs, sentimentalisch an Eltern, Ehefrauen und Kinder als Gegenpol zur Maximierungsökonomie. In Roland Schimmelpfennigs Push Up 1–3 liefert der unversöhnliche Gegensatz von Karriere und Gefühl, von Konkurrenz und Liebessehnsucht, von Arbeitsleben und Seelenleben in allen drei Teilen die Grundstruktur. Allerdings wird in Schimmelpfennigs Managerdrama der ökonomische Stress und Kampf in die intimen Beziehungen getragen. Paarbeziehung und Liebe sind nun nicht mehr utopische, kompensatorische Orte des Außen oder des geschützten Rückzugs aus den Kampfarenen der Konkurrenzwirtschaft. Vielmehr sind diese ›privaten‹ Beziehungen von den konkurrenz- und gewaltförmigen Dynamiken des wirtschaftlichen Denkens und Handelns kontaminiert oder gar gänzlich von den egozentrischen Logiken des Profits und der Destruktion der Konkurrenten geprägt. In einigen Stücken, vor allem von der diesbezüglich als Spezialistin zu betrachtenden Elfriede Jelinek, wird die sexuelle Marktwirtschaft, mithin die geschlechterspezifische Tausch- und Paarungs-Ökonomie einer körperfixierten, fetischistischen Gesellschaft inszeniert. Die kommodifizierten Tausch- und Begehrensverhältnisse auf dem Geschlechtermarkt werden direkt adressiert von Elfriede Jelinek in ihrem 2007 uraufgeführten (noch ungedruckten) Stück Über Tiere und kursorisch auch in zahlreichen weiteren Texten der Nobelpreisträgerin. Andere Stücke demonstrieren, wie sich Sprache und Logik des Marktes in Beziehungen, Selbstverhältnisse, Gefühle und vor allem in das Sprechen der Figuren einnistet. So etwa Gesine Danckwarts Täglich Brot (Danckwart 2004) oder Martin Heckmanns Das wundervolle Zwischending. Bei Heckmanns beklagt sich etwa die Frau über die schmerzliche Vermischung ökonomischer und privater Kategorien und Verhaltensweisen: »Dass du mich wieder wie einen Besitz behandelst. Dass die Zeit mit mir eine verschenkte war. Dass du von Gefühlsinvestitionen sprichst, von deinem emotionalen Haushalt, kannst du das abstellen?« (Heckmanns 2005: 45) Die Arbeitslosenstücke von Rinke (Café Umberto) oder Rögglas Überschuldungsdrama draußen tobt die dunkelziffer (Röggla 2006) zeigen, ebenso wie Schimmelpfennigs Karrieristenstück Push Up 1–3 die Bedrohung und Belastung von Liebes- und Familienbanden durch das Einwandern ökonomischer Kategorien in intime Beziehungen. Ein weiteres Oppositionsschema konfrontiert in einigen Theatertexten die Wachstums- und Vergrößerungszwänge des Ökonomiediskurses mit inversen Dynamiken von Körpern, die durch Krankheit und Erschöpfung eher schwinden, schwächeln und zerbrechen, statt zu wachsen und anzuschwellen. Die zwanghaft nach oben gerichteten Kurven der Wirtschaft und ihrer Bilanzen werden durchkreuzt von den Abwärtsbewe-

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gungen, den Entropien der kreatürlichen Endlichkeit. Ostermaiers Börsenhändler in Erreger spuckt Blut. Bei Falk Richter ist der Gegensatz von ökonomischer Wachstums- und Überschuss-Logik und körperlichseelischer Erschöpfung und Diminution in mehreren Texten leitend. Kathrin Rögglas zu einer Bühnenfassung umgearbeiteter InterviewCollage-Roman von einer Unternehmensmesse aus dem Start-up-Milieu der New Economy indiziert schon im Titel wir schlafen nicht (und zudem in einigen der thematisch geordneten Kapitel) die Spannung von Vitalitäts- und Produktivitätsdiktaten der Arbeitswelt, die mit den biologischen und medizinischen Beschränktheiten der Körper in Konflikt geraten.5 Markante Konturen gewinnt die thematisch-motivische Sichtung der zeitgenössischen Wirtschaftsdramatik, wenn man nach dem auftretenden Figuren-Personal fragt. Welche Berufe, welche sozialen Schichten und Milieus kommen in diesen theatralischen Beobachtungen der Arbeitswelt auf die Bühne? Es sind vor allem Manager und Arbeitslose. Es ist das markante Gegensatzpaar von oben und unten, von zu viel Arbeit und keine Arbeit. Es fehlen im Bühnen-Kapitalismus hingegen weitestgehend einige durchaus wichtige Agenten des real existierenden Kapitalismus. Eigentümer, respektive Kapitalgeber als treibende Kräfte hinter den angestellten Managern tauchen ebenso selten auf wie andererseits die einfachen Angestellten beziehungsweise Arbeiter oder Arbeiterinnen, die die Helden der klassischen engagierten Literatur der Arbeitswelt waren. Eine diesbezüglich durchaus lobenswerte Ausnahme von der Verengung des Blicks auf Manager und Arbeitslose (wie sie besonders bei Falk Richter, Moritz Rinke und Roland Schimmelpfennig auszumachen ist) bietet Rolf Hochhuths skandalumwobenes Stück McKinsey kommt (Hochhuth 2003). Der Altmeister des dokumentarischen, engagierten Thesentheaters präsentiert hier Stellvertreter fast aller am Wirtschaftsprozess Beteiligten: Manager und Kapitalgeber, Angestellte und Arbeiter, Richter und Demonstranten. Auch Kathrin Röggla hat einen soziologisch ähnlich weiten Blick und bemüht sich in ihren collagierten Milieuerkundungen in wir schlafen nicht um einen diskursiven Querschnitt vom Senior Consulter bis zur prekären Praktikantin. Röggla fächert auch in ihrem (aus Sicht der aktuellen Weltfinanzkrise in manchem durchaus sehr hellsichtigen) Theatertext draußen tobt die dunkelziffer, der um die Überschuldungsproblematik privater Haushalte kreist, eine Vielfalt von Perspektiven und Akteuren des Kreditgeschäfts auf. Moritz Rinkes Café Umberto und Gesine Danckwarts Täglich Brot fokussieren hingegen fast 5

Vgl. in der Romanfassung die Kapitel »schmerzvermeidung«, »rauskommen«, »auszeit nehmen!«, »wir schlafen nicht!«, »schock« und »koma« (Röggla 2006: 149–180). 214

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ausschließlich Arbeitslose. Dagegen stehen die gehetzten Manager, als deren Spezialist Falk Richter gelten darf, etwa mit seinen Theatertexten Electronic City, Unter Eis und Im Ausnahmezustand. Die pointierte Verdichtung der beiden meistbeachteten Pole des effizienz- und kostenfixierten Controller-Kapitalismus liefert der Zusammenfall von Arbeitssüchtigen und Arbeitlosen in ein und derselben Person. Mustergültig hat diese Thematik des aus Kostengründen entlassenen Managers (der häufig selbst zuvor als Kostenhüter und Jobkiller aktiv war) Urs Widmer in seinem Erfolgsstück Top Dogs inszeniert. Fortgeführt wurde die in ihren Kontrasten und paradoxen Situationen durchaus auch komische Transformation von arbeitssüchtigen Managern, die ihren eigenen Maximen zum Opfer fallen und mithin arbeitslos sind, ohne es begreifen zu wollen/können, in Rinkes Republik Vineta und ansatzweise auch in Falk Richters Unter Eis sowie Im Ausnahmezustand. Die klassische ökonomische oder soziologische Opposition (marxistischer Provenienz) von Kapital versus Arbeit scheint im Gegenwartstheater, trotz seiner überaus wirtschaftskritischen Stoßrichtung, weitgehend verabschiedet. Die Besitzverhältnisse treten hier vielmehr zurück hinter eine abstrakt und anonym gewordene, quasi dezentral verinnerlichte Maximierungs-, Controlling- und Konsumlogik. Die Widersprüche der dynamischen, konkurrenzförmigen, kapitalistischen Wirtschaftsweise werden in den Theatertexten nunmehr kaum zwischen Gruppen, Schichten oder Klassen ausgetragen, sondern sind in die Psychen der Figuren eingedrungen. Typisch dafür sind die von der Logik ihres eigenen Tuns zerrissenen und gequälten Managerfiguren bei Widmer und Rinke, bei Schimmelpfennig und Richter. Ausnahmen hiervon sind wiederum Hochhuths McKinsey kommt und die beiden wirtschaftsbezogenen Theatertexte Rögglas, in denen durch das Spektrum der zur Sprache kommenden Berufsträger, respektive Arbeitslosen und Klienten unterschiedliche Interessenlagen, Machtgefüge und Täter- respektive Opferrollen im Wirtschaftsprozess nicht nur sichtbar werden, sondern jeweils auch eine eigene Sprache und Stimme erhalten. Einige der Stücke (wie ich finde: einige der gelungensten) thematisieren und zeigen die spezifische Theatralität des zeitgenössischen Wirtschaftens. Es geht dabei um berufliche Rollenangebote, Rollenzwänge oder Rollenspiele mit ihrem Potenzial zwischen Freiheit und Entfremdung, das Diedrich Diederichsen in einem kühnen soziologisch-ästhetischen Essay über René Pollesch scharfsinnig analysiert hat (Diederichsen 2005). Diese auf Aspekte des Wirtschaftsschauspiels abhebenden Theatertexte zeigen als Stück im Stück den Einsatz von Psychodrama als eine eher ökonomische denn medizinisch-therapeutische Coaching-Maßnahme – als Umschulung für abgehalfterte Manager. Das war die fulminant

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theatralische Pointe in Top Dogs von Widmer und dieses theatralische Erfolgsrezept wurde aufgenommen in Rinkes Republik Vineta. Diese selbstreflexive und gelegentlich situationskomische Thematisierung von Rollenspielen im Kontext der Wirtschaft (näherhin: ihrer personalpolitischen Warteräume der Umschulung oder einer tröstenden Spieltherapie) kennzeichnet also die zwei (meines Wissens) meist gespielten Stücke aus der Managerwelt. Die A-Theatralität, Handlungsarmut, Ereignislosigkeit und AntiDramatik von Arbeitslosigkeit, scheiternder Arbeitssuche und daraus resultierender Lähmung zu inszenieren ist gewiss eine Herausforderung für das Theater. Statt der ›flexiblen Menschen‹ (Richard Sennett), die der globalisierte Kapitalismus erfordert, suchen einige Stücke die Orte und Lebensweisen der Ausgeschlossenen auf. Gesine Danckwarts Täglich Brot, Roland Schimmelpfennigs Angebot und Nachfrage (Schimmelpfennig 2003) und Rinkes Café Umberto wagen sich an die Beobachtung der Arbeitslosigkeit und ihrer Auswirkungen auf das Alltags-, Sozialund Beziehungsleben der Betroffenen. Wie aber halten es die ökonomiekritischen Theatertexte der zeitgenössischen Wirtschaftsdramatik mit dem reflexiven Blick auf das eigene Arbeitsfeld? Wer analysiert und inszeniert die Ökonomie des Theaters? Die gewissenhafte Selbstreflexion der spezifischen Ökonomie des Theaterbetriebs und seiner Verortung im allgemeinen Wirtschaftsprozess findet sich, soweit ich sehe, vor allem, oder gar ausschließlich, bei René Pollesch. Der ist mit seinen vielen Theatertexten von der Prater-Trilogie6 bis zu den neueren Produktionen Tod eines Praktikanten und besonders auch Cappuccetto rosso zum Spezialisten der theatralen Selbstbeobachtung und permanenten Selbstkritik des Theatergeschäfts geworden. Eine genauere Darstellung der, soweit ich sehe, tatsächlich alle Theaterarbeiten Polleschs begleitenden oder gar dominierenden Diskurse über die Ambivalenzen und Paradoxien der theatralen Repräsentation, der Distanzierungs- und Verstrickungsmechanismen von Schauspielern, Regisseuren und Institutionen in die sie umgebenden Wirtschaftsweisen aus Tausch, Spekulation und gelegentlichen Gaben/Verausgabungen wäre freilich Thema eines weiteren Aufsatzes. Falk Richter in Gott ist ein DJ oder auch in einer Passage aus Electronic City (Richter 2003) sowie Martin Heckmanns in Das wundervolle Zwischending delegieren hingegen die angesagte Reflexion der Medien, indem sie ihre Beteiligten als verfangen in Big-Brother-Fernsehen, in Doku-Soaps, Promotion-Filmen oder in Video-Drehs zeigen und mithin Konkurrenzmedien der Bühne ins Visier nehmen. Das Theater selbst 6

Die Stücktexte sind nebst begleitenden Essays abgedruckt in Pollesch 2002. 216

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scheint ihnen ein nicht-reflektierter Ort des Außen zu sein, eine anökonomische Enklave, ein Kritikmedium, dessen Medialität, Institution und Ökonomie nicht in den Blick und nicht auf die Bühne geraten. Die scharfsinnige und weitgehend tabulose Selbstbefragung der theatralen Schau-, Spiel- und Repräsentationsökonomie hat René Pollesch offenbar weitgehend im Alleingang vorangetrieben – auch wenn sein Erfolg der letzten Jahre einige ähnlich arbeitende und vergleichbar argumentierende Nachahmer inspiriert haben dürfte. Heuristisch fruchtbar für eine überblickshafte Sichtung und Konturierung von Wirtschaftsweisen und Wirtschaftsbewertungen im Gegenwartstheater scheinen darüber hinaus eine Skalierung von Komik oder Tragik der ökonomischen Handlungen sowie eine Analyse der jeweiligen Schlussszenarien. Herrscht hier, wie in den älteren Komödien als theatraler Leitgattung der Wirtschaftsbeobachtung seit der Antike, eine unsichtbare Hand, die alles zum Besten wendet und daher strukturell marktoptimistisch ist?7 Oder endet es, apokalyptisch-desaströs, in Desintegration? Man könnte Bilanzen aufstellen zu Opfern und Gewinnern im Wirtschaftstheater. Ökonomie wird übrigens von bildenden Künstlern8 und auch im Roman oder in Filmkomödien durchaus heiterer, gelassener, komischer dargestellt, etwa in High Speed Money – Die Nick Leeson Story (Originaltitel: Rogue Trader), die als Faction-Thriller-Komödie von dem Spekulanten handelt, der die ehrwürdige Barings Bank ruinierte. Die interne Verlaufslogik und Plotdynamik der Theaterstücke reicht von Gewalt und Eskalation bei Rinke bis zum finalen maschinenhaften, aber eventuell auch latent optimistischen Weitermachen in Widmers Top Dogs. Ein groteskes Warn-Märchen steht am Ende von Rögglas Schuldendrama draußen tobt die dunkelziffer. Dort draußen, in der rauhen Welt des realexistierenden Kapitalismus tobt ›die wilde Jagd‹ – und wenn das von diversen Verführungen bedrohte Kreditkartenkind nicht aufpasst, findet diese blutrünstige Jagd den Weg zu ihm und nimmt es mit.

7

8

Zur Komödie als besonders wirtschaftsaffiner Theatergattung und zu den Plot- und Schlusslogiken der Komödien nach dem Modell einer harmonisierenden, sozialintegrativen unsichtbaren Hand vgl. Daniel Fuldas Habilitationsschrift Schauspiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing (Fulda 2005: bes. 451– 464) sowie meine Rezension dazu unter der URL: http://www.theaterfor schung.de/rezension.php4?ID=179. Vgl. dazu für einen ersten Überblick den Themenband Das Schicksal des Geldes. Kunst und Geld – eine Bilanz zum Jahrtausendwechsel. Kunstforum International 149 (2000). 217

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2. Wiederkehrende formale Elemente der Wirtschaftsdramatik Neben den schon aufgezeigten semantischen Oppositionsschemata, die zugleich strukturprägende Formen sind, lassen sich einige weitere sprachliche und darstellerische Verfahren benennen, die bei der Inszenierung des Wirtschaftens auf dem Theater zum Einsatz kommen. Deformierung, Verbiegung und Verstümmelung sind thematisch wie ästhetisch ein Leitmotiv der theatralen Wirtschaftsbeobachtung: Die Entfremdung der Geldarbeiter von ihren Mitmenschen, aber auch von eigenen Bedürfnissen und Wünschen ist regelmäßig Gegenstand der Texte. Die Verfremdung oder Groteske ist zudem das zur Veranschaulichung und Kritik dieser Entfremdung häufig eingesetzte Theatermittel. Und diese Reaktion auf Entfremdung mit Verfremdung ist durchaus nicht unproblematisch – vielleicht sind die Kritiker in der Wahl ihrer Mittel dem Kritisierten näher, als ihnen lieb ist. So finden sich bei Falk Richter surreale, groteske Kataloge von Extremsport und Extremarbeitsprogrammen; oder Autos, die ohne ihren stolzen Besitzer einkaufen fahren (Unter Eis); oder Manager, die, vom hektischen Reisen und ortlos abstrakten Wirtschaften komplett desorientiert, nicht mehr wissen, in welcher Stadt und in welchem Hotelzimmer sie gerade residieren (Electronic City). Karikaturistisch Zugespitztes und grotesk Übersteigertes begegnet auch bei Röggla. Humoresk und mithin versöhnlicher verwendet wird diese Darstellungstechnik hyperbolischer Verfremdung bei Rinke. Das stets präsente ästhetische wie epistemische Risiko beim Einsatz dieser verzerrenden Darstellungsmittel, die Aspekte der Arbeitswelt oder der abstrakten Wirtschaftsweisen zur Kenntlichkeit entstellen sollen, ist freilich, dass diese auf Deformierungen, Reduktionismen und Übertreibungen im Wirtschaftsprozess reagierenden formalen Verfahren selbst wiederum Reduktionismen und schlimmstenfalls platte Stereotype und Karikaturen produzieren. Besonders Falk Richters wiederkehrende Manager am Rande des Nervenzusammenbruchs scheinen mir diese Gefahr zu laufen; doch findet Richter in seinen stärksten Momenten auch durchaus erhellende oder komisch groteske (statt apokalyptisch raunende) Bilder für die Zumutungen und systemischen Übertreibungszustände des Managerdaseins. Neben den grotesken Übertreibungs- und Verzerrungskünsten bildet das kritisch gemeinte Ausstellen des spezifischen Wirtschaftsjargons einen weiteren elementaren Baustein zahlreicher einschlägiger Theatertexte. Besonders verdichtet wird die denunziatorische Zurschaustellung dieser Spezialsprache in Schlagwortcollagen oder einem Reizwortstakkato aus der Maximierungssprache der Ökonomie. Modellbildend wirkte wohl wiederum Urs Widmers Suada von Firmennamen und Wirtschafts-

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schlagworten in der als »Schlacht der Wörter« überschriebenen dritten Szene von Top Dogs (ferner auch im selben Stück die Nr. 11.1 »Die große Klage«), in der die verschiedenen per Umschulung therapierten Manager das Businessvokabular stammeln: »[…] Effizienzsteigerung. / Total Quality Management. / Business Reengeneering. / Lean Management. / Review-Kultur. / Emotionsorientierte Führung. / Kostenoptimierung. / All-you-can-afford-Methode. / Cash-cow. / Cross-Cultural-Management. / Humankapital. / Just-in-time-delivery. / Reframing. / Spillover-effect. / Leveraged-buyout. / Management by delegation. / Management by love. / Optimum workforce mix. / Top-down-Management. / Zero base budgeting. / Social information processing approach. [...]« (Widmer 1997: 224f.)

Und so geht es hier noch einige Dutzend ökonomische Schlagworte weiter. In Richters Unter Eis findet sich wie schon in seinem Vorgänger Electronic City die decouvrierend verdichtete Ausstellung dieses auf Effizienz und (Pseudo-)Kommunikation abhebenden Berater-Sprechs: »– connecten zusammenbringen hinhalten // – flexible workforce flexibilisieren reengineeren restructeren reeducaten reinforcen reducen remeasuren // Alle: reassuren redirecten reformieren reconfirmen // – downsizen downloaden // – outsourcen outtasken // – downed by downers // – upped by uppers // Alle: very very flexible« (Richter 2003: 336).

Röggla und Rinke führen ganz ähnliche Trouvaillen-Sammlungen aus dem Business-Lexikon vor. Gesine Danckwarts Figuren definieren sich über Konsumprodukte und Markennamen. Doch scheint mir Danckwarts fragmentierende Arbeit mit Phrasen-Collagen offener, überdeterminierter als die evident denunziatorischen Reizwortzitate von Richter, Rinke und Röggla.

3. Zeitgenössisches Wirtschaften zwischen Dramatik und Postdramatik Die (post-)dramatische Gretchen-Frage nach Beibehaltung oder Auflösung von Personen-Identitäten und strukturierten teleologischen Handlungsbögen auf dem Theater betrifft das Thema Wirtschaft auch in der Sache. Wirtschaft kann man nämlich entweder, ausgehend von HomoOeconomicus-Annahmen, handlungstheoretisch und anthropologisch fundiert begreifen. Oder eben, aus einer anderen Beobachtungsperspektive, als hoch aggregierte Prozesse, in deren Zahlen und Kurven Individu-

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en längst aufgelöst sind in Statistiken. Dabei hängt im bürgerlichen Recht, im Vertragsrecht oder bei Kreditvergaben ein beträchtlicher Teil der Grundlagen des Wirtschaftens an den Kategorien von personaler Zurechenbarkeit, Verantwortung und mithin: an der Person als handelndes Rechtssubjekt. Es ist gewiss eine ebenso vertrackte wie weitreichende Frage, ob es so etwas wie postdramatische Wirtschaft geben kann. Dirk Baecker hat verwandte Fragen nach handlungstheoretischen und organisationslogischen Grundlagen des Wirtschaftens schon Anfang der 1990er in seinen Kolumnen über Postheroisches Management reflektiert.9 Dabei ging es ihm um »die Fähigkeit, mit Ungewißheit auf eine Art und Weise umzugehen, die diese bearbeitbar macht, ohne das Ergebnis mit Gewißheit zu verwechseln; also ohne Wegarbeiten des Zweifels« (Baecker 1994: 9). Der weitgehende Abschied von der Repräsentation (von Waren und Werten) und eine Umstellung auf Autopoiesis und Performanz kennzeichnen die Finanz- und Derivatenmärkte – und es ist wohl zuallererst diese zunehmende Entfernung von realen Werten, Dingen und Hypotheken, die die aktuelle systembedrohliche Finanzkrise ausgelöst hat: Die immer weitere Umverpackung, Verbriefung und Weiterverteilung von Schulden im Verbund mit deren leichtfertiger Bewertung durch Rating-Agenturen und Bankiers, die den Überblick über ihre Risikopositionen verloren haben, scheinen im Zentrum der massiven Schieflagen und Bankrotte der jüngsten Krise zu stehen. Doch wurden die Finanzmärkte selbst, die doch die Schaltzentralen des modernen Kapitalismus sein dürften (also gewissermaßen das Hirn des Systems oder böser: das Herz der Bestie ausmachen) im Gegenwartstheater, soweit ich sehe, bisher kaum zum Gegenstand; abgesehen von Albert Ostermaiers Broker-Monolog Erreger, der jedoch als Monolog auch wieder eine spezifisch undramatische, untheatrale, eher lyrische Form des Wirtschaftstheaters darstellt. Dieser blinde Fleck in der theatralen Wirtschaftsbeobachtung, das Fehlen der Finanzmärkte, der Börsensäle, der Investmentbanker, Hedge Fonds und Zentralbanker mag zu tun haben mit der Immaterialität der meisten Finanzmarktprozesse, die nahezu ohne menschliches Agieren abgewickelt werden in elektronischen Handelssystemen. Diese erweisen sich in ihrer Unsichtbarkeit als sperrig oder gar resistent gegenüber der Körper- und Sichtbarkeitslogik des Theaters – und wohl a fortiori des postdramatischen Theaters, das bekanntlich eifrig die körperliche und situative Präsenz des Bühnengeschehens thematisiert und problematisiert. Die Repräsentation von Chartkurven und Datenlaufbändern in den televisionären Wirtschaftskanälen etwa von CNBC oder n-tv ist für die zahlenförmige Finanzmarktwelt womöglich 9

Gesammelt liegen diese Kolumnen vor in Baecker 1994. 220

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die adäquate Darstellungsweise; auch wenn diese TV-Wirtschaftskommunikation natürlich noch keine Analyse der Performativität dieser Finanzmarktabläufe bietet. Dies bliebe eine Aufgabe, ein Desiderat für die zeitgenössische Wirtschaftsdramatik. Die meisten Wirtschaftstheatertexte, von Rinke10 über Schimmelpfennig bis Richter, bleiben an Personen als individualisierten, psychologisierten Figuren und Handlungsträgern orientiert. Auch und gerade wenn sie, wie schon Widmers Top Dogs, die funktionale, betriebliche Austauschbarkeit der Personen und ihre Folgen für die (durch Entlassung oder Ersetzung) betroffenen Individuen demonstrieren. Kathrin Röggla entfernt sich im Kanon der Wirtschaftsdramatiker in ihren Texten am weitesten von Figuren und Psychen, wiewohl ihre überpersonal ausgebreiteten Diskurse natürlich oft Psychen thematisieren, indem sie von diesen sprechen. In draußen tobt die dunkelziffer werden ihrem abstrakten Bühnen-Personal (»ein regulierer / einige berater / einige angehörige – vorstellbar als: arbeitslose baugewerbemenschen, kreditunfälle etc. [… bis zu] spitzenverdiener, weltmarktführer etc.«) die einzelnen Textpassagen nicht mehr personal zugeordnet. Ein markanter Handlungsbogen wird hier in den 70 Textblöcken, die wohl weitgehend als O-Ton-Sampling gelten dürfen, ebenso wenig deutlich, wie ein Schluss oder Zielpunkt der Handlungen. Diese tendenzielle Verweigerung einer Closure gilt trotz Rögglas Schlussbild, der märchenhaft apokalyptischen Nr. 70, die als »die wilde jagd« überschrieben ist. In Rögglas Vorbemerkung wird die Abstinenz von Linearität, Finalität, Zurechenbarkeit und Moral (die das dargestellte Schulden-Karussell des kreditbasierten Kapitalismus kennzeichnen sollen – und hier zugleich zum ästhetischen Verfahren seiner theatralen Darstellung werden) zudem explizit verkündet: »das stück funktioniert wie ein außer rand und band geratener wunderwürfel. Die szenen stehen in einem zusammenhang. Das ganze darf aber durchaus zerlegt, auseinandergenommen und neu zusammengesetzt werden […] solange nicht versucht wird, eine exemplarische erzählung herzustellen, eine metaerzählung, die alles hübsch in einem pädagogisch-moralischen sinn ordnet.« (Röggla 2006: 244)

Das Produzieren von Schulden und Überschuldung wird somit als die endlos sich perpetuierende Logik des Kapitalismus vorgeführt – und kritisiert. Denn es kommt in Rögglas böse defaitistischem Text ja fast nur die Seite des Scheiterns in den Blick, nicht jedoch die – zumindest bis 10 Rinke wird von Nikolaus Frei in Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994–2001) (Frei 2007) als einer der Protagonisten der post-postdramatischen ›Wiederkehr‹ des Helden angesehen. 221

BERND BLASCHKE

zur letzten Krise (oder bis zur nächsten) vermutlich auch zu beobachtende – bemerkenswerte Produktivität der modernen Kreditwirtschaft. Sogar beim vermeintlich so altbackenen Dokumentartheatermacher Rolf Hochhuth finden sich im Personenverzeichnis von McKinsey kommt durch die Doppelbesetzungen von Schauspielern für zwei Rollen (die übrigens vermutlich auch theaterökonomisch begründet sind: so wird das Stück mit kleinerem Schauspielerensemble aufführbar) Ansätze einer Figurenauflösung. Der kapitalismuskritische Großvater-Schauspieler ist später als Vorsitzender besetzt, die Richterin als die entlassene Angestellte Herta und so weiter. René Pollesch geht in Sachen subversiver Rollen-Dekonstruktion fraglos viel weiter oder eben auch in eine andere Richtung, etwa wenn er mit einiger Konsequenz immer wieder Männerrollen durch Schauspielerinnen besetzt und auch sonst eifrig eine antinaturalistische Rollenzuteilung gegen den Strich praktiziert. Mehr noch tendiert jedoch Hochhuths Verwendung von Zeitungsausschnitten und Epilogtexten zur Sprengung der dramatischen Einheit und bewegt seine Theatertexte – zumindest an den paratextuellen epilogischen Rändern seiner Stücke – in die Richtung einer postdramatischen Figurenauflösung zugunsten der anonymen Textpräsentation.11 Die konsequente, postdramatische Selbstthematisierung der theatereigenen Ökonomie im Modus von Komik und Kritik leistet René Pollesch, etwa wenn auf den Kostümen der Darstellerinnen in Tod eines Praktikanten die Abendgagen der Schauspielerinnen und auf Bühnenrequisiten die Kosten der Garderobe aufgedruckt sind. Und wenn in Polleschs Diskurstheater obsessiv die Frage nach der Tausch- und Täuschungslogik und der Ökonomik der Repräsentation als Grundoperation des Theaters verhandelt wird. Freilich fragt sich, wie weit in einer solchen postdramatischen Selbstreflexion der Theaterarbeit und der Kunstökonomie das Drama der Realwirtschaft (statt nur das der subventionierten Kulturwirtschaft, der Schauspielerinnen oder anderer prekär in der Film- und Theaterwelt Beschäftigter) überhaupt noch in den Blick und auf die Bühne kommt. Am nächsten kommt wohl Pollesch einer solchen Befragung und Reflexion prekärer Berufswelten im Zeitalter der Globalisierung in seiner Heidi-Hoh-Trilogie (Pollesch 2003). Könnte man sich ein Stück Polleschs über Opel oder über die Deutsche Bank vorstellen? Sollten wir uns ein solches Stück wünschen? Wobei die Frage, wo denn eigentlich die Realwirtschaft stattfindet, und was und wie dort produziert, distribuiert und konsumiert wird, gar nicht mehr so einfach zu beantworten ist. Es ginge wohl um das diffizile asymmetrische, rückgekoppelte Zusammenspiel von Finanzmärkten, 11 Vgl. Hochhuths flexible Anweisung zu möglichen Sprecherfiguren und Situierungen der Epilogtexte in Hochhuth 2003: 9. 222

»MCKINSEYS KILLERKOMMANDOS. SUBVENTIONIERTES ABGRUSELN«

Konsumenten, Managern, Angestellten, Arbeitern, Arbeitslosen, und all das im Rahmen internationaler Arbeitsteilung. Gar nicht einfach, das Ganze, kaum vorstellbar und fraglos äußerst schwierig darstellbar oder personalisierbar. Gut informiert und mit Mut zu den Zusammenhängen hat sich dieser weiten Welt der unbeirrt zornige Zeitungsleser und kühne Dokumentarcollagist Rolf Hochhuth gestellt mit seinem Versuch einer polemischen Zusammenschau wirtschaftlicher Prozesse und ihrer Wirkungsketten zwischen vielen Beteiligten. Und eben René Pollesch im ihm eigenen Modus unablässigen spielerischen Fragens nach Zusammenhängen und eigenen Verstrickungen im globalen Netz heutiger Wirtschaftsweisen.

Literatur Baecker, Dirk (1994): Postheroisches Management. Ein Vademecum. Berlin: Merve. Frei, Nikolaus (2007): Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994–2001). Tübingen: Narr (Forum Modernes Theater, 35). Danckwart, Gesine (2004): Täglich Brot. In: Theater Theater. Aktuelle Stücke 14. Hg. v. Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven. Frankfurt am Main: Fischer, S. 227–251. Das Schicksal des Geldes. Kunst und Geld – eine Bilanz zum Jahrtausendwechsel. Kunstforum International 149 (2000). Diederichsen, Diedrich (2005): Maggies Agentur. In: René Pollesch: Prater-Saga. Hg. v. Aenne Quiñones. Berlin: Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz/Alexander, S. 1–19. Fulda, Daniel (2005): Schauspiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen: Niemeyer. Heckmanns, Martin (2005): Das wundervolle Zwischending. In: Spectaculum 76. Sechs Moderne Theaterstücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 43–76. Hochhuth, Rolf (2003): McKinsey kommt. Molières Tartuffe. Zwei Theaterstücke. Mit einem Essay v. Gert Ueding. München: dtv. Ostermaier, Albert (2002): Erreger. In: Albert Ostermaier: Erreger. Es ist Zeit. Abriß. Stücke und Materialien. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–44. Peuckert, Tom (2005a): Luhmann. Eine Vorgeschichte. In: Spectaculum 76. Sechs Moderne Theaterstücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 270–271.

223

BERND BLASCHKE

Peuckert, Tom (2005b): Luhmann. In: Spectaculum 76. Sechs Moderne Theaterstücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 147–175. Pollesch, René (2002): Wohnfront 2001–2002. Hg. v. Bettina Masuch. Berlin: Rosa-Luxemburg-Platz/Alexander. Pollesch, René (2003): www-slums. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Richter, Falk (2003): Electronic City/Sieben Sekunden. In: Theater Theater. Aktuelle Stücke 13. Hg. v. Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven. Frankfurt am Main: Fischer, S. 329–386. Richter, Falk (2004): Unter Eis. In: Theater Theater. Aktuelle Stücke 14. Hg. v. Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven. Frankfurt am Main: Fischer, S. 321–364. Richter, Falk (2007): Im Ausnahmezustand. In: Theater Theater. Aktuelle Stücke 17. Hg. v. Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven. Frankfurt am Main: Fischer. Rinke, Moritz (2002): Republik Vineta. In: Ders.: Trilogie der Verlorenen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 157–235. Rinke, Moritz (2005): Café Umberto. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Röggla, Kathrin (2006): draußen tobt die dunkelziffer. In: Theater Theater. Aktuelle Stücke 16. Hg. v. Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven. Frankfurt am Main: Fischer, S. 343–409. Röggla, Kathrin (2006): wir schlafen nicht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Schimmelpfennig, Roland (2003): Angebot und Nachfrage. In: Theater Theater. Aktuelle Stücke 13. Hg. v. Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven. Frankfurt am Main: Fischer, S. 435–479. Schimmelpfennig, Roland (2001): Push Up 1–3. In: Theater Theater. Aktuelle Stücke 11. Hg. v. Uwe B. Carstensen u. Stefanie von Lieven. Frankfurt am Main: Fischer, S. 289–340. Widmer, Urs (1997): Top Dogs. In: Spectaculum 64. Moderne Theaterstücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 213–257.

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ARBEIT

UND

ATEMLOS. ZEIT IN KATHRIN RÖGGLAS

WIR SCHLAFEN NICHT

CHRISTINE BÄHR

Von Arbeit zu sprechen, heißt von ihrer Gegenwart im Lebensalltag des Einzelnen zu sprechen. – Wenn sich Theatertexte der Jahrtausendwende dem Feld der Ökonomie zuwenden, so scheint diese Schlussfolgerung einen der zentralen Ausgangspunkte ihrer dramaturgischen und theatralen Entwürfe zu bilden. Der zeitgenössischen Arbeitskultur auf der Spur orientieren sich diese Stücke am Alltag des »flexiblen Menschen« (Sennett 2000), in dem sich dauerhafte, kontinuierliche und routinierte Beziehungen und Abläufe zunehmend zugunsten von kurzfristigen Bindungen und Prozessen in Netzwerken, Projekten und tendenziell unbürokratischen Organisationsstrukturen entweder auflösen oder aber als Gegenentwurf aufrecht erhalten werden. In ihrer Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt problematisieren Theatertexte wie Kathrin Rögglas wir schlafen nicht (UA 2004), Falk Richters Unter Eis (2004), John von Düffels Elite I.1 (UA 2002) oder Gesine Danckwarts Täglich Brot (UA 2001) die These von einem »neue[n] Regime der kurzfristigen Zeit« (Sennett 2000: 26) ebenso wie auch die Beobachtung, dass das »Gefühl der permanenten Beschleunigung […] in unserer Gesellschaft nahezu allgegenwärtig« ist (Rosa 2004: 20). Bemerkenswert häufig schenken die Theatertexte der Frage nach Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen, die sowohl ökonomische Prozesse als auch soziale Praktiken kennzeichnen, besondere Beachtung. Was bedeutet und welche Folgen hat es, Arbeitsformen und -vorgänge an den für den sogenannten »neuen Kapitalismus« (Sennett 2005) geltenden Prinzipien von Flexibilität und Kurzfristigkeit auszurichten? Wie schlägt sich dies im Tageslauf oder auch im Lebenslauf nieder? Wie macht sich ein gesteigertes Lebenstempo in sozialen Beziehungen, aber auch im Bereich der sinnlichen Wahrnehmungen bemerkbar? Die zeitgenössische

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CHRISTINE BÄHR

Dramatik, die sich dem Thema Arbeit widmet,1 greift wiedererkennbar auf zeitdiagnostische Topoi zurück, nicht zuletzt indem sie sich, bisweilen in dokumentarischem2 Stil, der Semantik und des Fachvokabulars der Wirtschaftssprache, allem voran des Fachjargons der Unternehmensbranche, bedient. Dabei liefert die wahlweise partielle oder konstitutive Fokussierung der Texte auf die Wahrnehmung und Erfahrung von Zeit einen Beitrag zu den Verhandlungen von Phänomenen der Kurzfristigkeit, Simultaneität und Beschleunigung im Gegenwartstheater. Für dessen postdramatische Varianten resümiert Hans-Thies Lehmann, dass »Techniken des Stillstands, des Einfrierens von Zeit durch Statik und Repetition gegenüber Versuchen zur Adaption der Beschleunigung bei weitem überwiegen« und dass diese einen »Widerstand« markieren, »der nicht naiv das untergehende Dispositiv kontinuierlicher Raumzeit auszuspielen versucht gegen Nullzeit, telematische Informationen und scheinhafte Allpräsenz, sondern die Veränderungen unserer Wahrnehmung mit den Mitteln des Theaters reflektiert« (Lehmann 1997: 42). Welche Muster und Strategien im Theatertext in Bezug auf das Verhältnis von Zeit und Arbeit inhaltlich aktualisiert und ästhetisch gestaltet werden, soll am Beispiel von Kathrin Rögglas Stück wir schlafen nicht untersucht werden, das diesen Zusammenhang prominent verhandelt. Zu Beginn der Ausführungen soll knapp auf die für die Textlektüre zentralen zeitdiagnostischen Termini und Thesen eingegangen werden.

Signaturen des Arbeitsalltags Um die Jahrtausendwende ist das Verhältnis von Arbeit und Zeit, unter dem Eindruck der als ›Globalisierung‹ beschriebenen Entwicklungen und Prozesse, zunehmend durch deregulierende und subjektivierende Strate1

2

Vgl. zu Texten von Oliver Bukowski, Urs Widmer, Rolf Hochhuth, Albert Ostermaier und Gesine Danckwart Schößler 2004: 288–309. Vgl. zum Spektrum der zeitgenössischen Wirtschaftsdramatik auch den Beitrag von Bernd Blaschke in diesem Band. Das Dokumentartheater der 1960er schreibt Rolf Hochhuths Beraterstück McKinsey kommt (UA 2004) fort. Innovativer mit Mitteln des Dokumentarischen arbeitet dagegen Kathrin Röggla in ihren arbeitsbezogenen Stücken junk space (UA 2004), wir schlafen nicht (UA 2004) oder draußen tobt die dunkelziffer (UA 2005). Die Verbindung von Arbeits- und Wirtschaftsthematik mit Elementen des Dokumentarischen findet sich auch in Urs Widmers Top Dogs (UA 1996) und Falk Richters Unter Eis (UA 2004). Vgl. zum Dokumentarischen in McKinsey kommt, Unter Eis und wir schlafen nicht Kemser 2007. 226

ATEMLOS

gien bestimmt. An prominenter Stelle im Arbeitsdiskurs der jüngeren und jüngsten Vergangenheit stehen die Diskussionen um die spätkapitalistische »Entgrenzung« von Arbeit und (Privat-)Leben (vgl. Minssen 2000; Hochschild 2002) sowie um eine zunehmende »Subjektivierung von Arbeit« (vgl. Moldaschl/Voß 2003). Wo Arbeitszeiten ›gleiten‹ und zu Hause, etwa in Form der Telearbeit, Arbeitsplätze entstehen, wo Unternehmen im Sinne der Work-Life-Balance mit Regenerationsprogrammen für ihre Mitarbeiter werben oder wo Arbeit, etwa im Kontext der New Economy, fließend in die After-Work-Party übergeht und sich als ganzheitlich angelegter »Lebensstil« (vgl. Meschnig/Stuhr 2003) präsentiert, scheint eine auf Normalisierung zielende zeiträumliche Differenzierung gemäß der konventionellen Gegenüberstellung von Arbeitsund Privatleben an Bedeutung zu verlieren oder besser: eine neue Qualität zu gewinnen. Die zeiträumliche Deregulierung von Interaktionsbeziehungen fordert vom Einzelnen eine gesteigerte Koordinationsleistung, die nicht allein seine räumliche Mobilität und zeitliche Flexibilität einschließt, sondern auch sein Verhältnis zu sich selbst und zu anderen mitbestimmt. Wie im Tagesablauf Zeiten und Orte etwa der Arbeit, der Kinderbetreuung, des Einkaufs oder der Freizeitgestaltung aufeinander abzustimmen sind, so gilt es im Lebenslauf Wohnort und Arbeitsplatz, Karriere und Familien- beziehungsweise Partnerschaftsplanung miteinander zu vermitteln. Das Zauberwort der Stunde lautet dementsprechend ›Zeitmanagement‹, wobei dies, wie der Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geißler betont, »nichts anderes als Selbstmanagement« (Geißler 2001) meint. Die Anforderungen einer auf Dynamisierung und Beweglichkeit abgestellten Arbeitskultur kulminieren, so nimmt es aus zeitdiagnostischer Perspektive den Anschein, in dem alle Lebensbereiche durchdringenden Appell3, sich selbst als Unternehmer der eigenen Arbeitskraft4 und weiter noch des eigenen Lebens zu begreifen. ›Sei innovativ!‹, ›Sei kreativ!‹ und ›Sei unverwechselbar!‹ lauten die zu Maximen geronnenen Fremderwartungen, zu denen sich derjenige verhalten muss, der danach strebt,

3

4

»Der Appell, zum Unternehmer beziehungsweise zur Unternehmerin des eigenen Lebens zu werden, findet sich in veränderten Formen der Betriebsorganisation ebenso wie in neuen Steuerungsmodellen der öffentlichen Verwaltung, in zeitgenössischen politischen Leitbildern, Fördermaßnahmen für Arbeitslose, ›humanistischen‹ Psychotechniken oder den Curricula von Schulen und Universitäten« (Bröckling 2006: 272). Das Konzept des »Arbeitskraftunternehmers« entwickeln Günter G. Voß und Hans J. Pongratz (vgl. etwa Voß/Pongratz 1998). 227

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auf dem Markt der Arbeit zu bestehen und erfolgreich zu sein.5 Dabei sind Innovativität, Kreativität und Unverwechselbarkeit Eigenschaften, die sich das »unternehmerische Selbst« allein im vergleichenden Wettbewerb aneignen kann (vgl. Bröckling 2002) und die es immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen muss. Diese Bedingungen lassen, insbesondere unter dem Eindruck ihrer Permanenz, die Anforderungen an das unternehmerisch-kreative Subjekt tendenziell zur Überforderung werden: »Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt der Einzelne stets hinter ihnen zurück, weil der kategorische Komparativ des Marktes einen permanenten Ausscheidungswettkampf in Gang setzt, läuft er fortwährend Gefahr, ausgesondert zu werden« (Bröckling 2007: 289). Erfolg ist vor diesem Hintergrund, der die Allgegenwart des Scheiterns skizziert, nicht nur ein äußerst relatives, sondern vor allem auch ein temporäres Phänomen. Das Muss des Erfolgs fällt damit in eins mit einem Zeitdruck, unter dem Pausen selten und Erschöpfungszustände normal werden. Der dem Wettbewerb impliziten Maxime einer unablässigen Selbstoptimierung korrespondiert ein nicht nur physisch, sondern gerade auch zeitlich dimensioniertes Moment der Selbstverausgabung. Dieses findet in der unausgesetzten Anstrengung des Workaholic ebenso seinen Ausdruck wie in der Ermüdung des vom Burn-out Betroffenen. Es sind Erscheinungen eines Arbeitszeit-Szenarios, das sich nicht mehr vorrangig an Normalarbeitszeiten ausrichtet, sondern das auf die »›Eigenzeiten‹, die individuellen Rhythmen und die raum-zeitlichen Bedürfnisse der Subjekte« (Rosa 2006: 276–277) setzt. Das Ideal projektförmigen, kreativen und unternehmerischen Arbeitens forciert auch in diesem zeitbezogenen Sinne die Selbstverantwortlichkeit und Selbstbezüglichkeit des Arbeitssubjekts, die das favorisierte Arbeiten im Team oder im Netzwerk grundieren und zugleich gefährden. Das unternehmerische Arbeitssubjekt tritt zugleich als Teamplayer und als Einzelkämpfer auf. Die Übergänge und das Ineinandergreifen von Vereinzelung und Vernetzung, Anforderungen des Marktes und eigenen Bedürfnissen sowie von Arbeits- und Privatleben beleuchten die Theatertexte der Jahrtausendwende mit unterschiedlichen Akzentsetzungen, deren eine in der hier fokussierten Frage nach der Bedeutung von Zeitmustern und Zeiterfahrungen zu sehen ist. Diese gibt im Folgenden den Blickwinkel auf Kathrin Rögglas Theatertext wir schlafen nicht vor.

5

Vgl. auch Reckwitz 2006: 500–630, der die neukapitalistische Arbeitskultur mit Blick auf die korrelierende »postmoderne« Subjektkultur und unter besonderer Berücksichtigung der Verknüpfung von Ökonomie und Ästhetik diskutiert. 228

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Ununterbrochene Präsenz Der Theatertext wir schlafen nicht, dessen theatrale Ästhetik sich durch einen kunstvoll gestalteten sprachkritischen Umgang mit dokumentarischem Ausgangsmaterial auszeichnet, thematisiert die zeitgenössische Arbeitswelt unter Rückgriff auf die Branche der Unternehmensberatung. Zu Wort kommen sechs Repräsentantinnen und Repräsentanten aus den Bereichen des Managements, der Öffentlichkeitsarbeit und der Informationstechnik, die gleichermaßen mit Blick auf ihre Jobkarriere wie in Anbetracht ihres Arbeitsalltags mit der Frage nach dem angemessenen Zeitmanagement konfrontiert werden. ›Angemessen‹ meint im dargestellten Zusammenhang, dies legen die Dialoge rasch offen, die Konformität mit den Maximen eines neoliberalen Wirtschaftsdenkens und dem Selbstverständnis des Arbeitssubjekts als Unternehmer seiner selbst. Bezieht sich die Aussage des Titels, »wir schlafen nicht«, semantisch auf das Diktum des wettbewerbsorientierten ununterbrochenen Engagements, so changiert sie rhetorisch unentscheidbar zwischen der Paraphrase eines ideologischen Anspruchs und der Redefigur einer ironisierenden Hyperbel. Der Titel stellt die Forderung nach dauernder physischer Präsenz und mentaler Handlungsbereitschaft auf, an denen sich die im Theatertext versammelten Experten in ihrem beruflichen Alltag kontinuierlich abarbeiten und auch scheitern. Mittels der innerszenischen Verortung des Geschehens auf einer Messe sowie der Andeutung einer Interviewsituation gewinnt das Gebot zur Selbstdisziplinierung an dramaturgischer Virulenz. Denn die Messe ist ein Ort der Präsentation, der »selbstdarstellung« wie sie explizit in der ersten Bildüberschrift angekündigt wird (Röggla 2004: 59). Zur Selbstinszenierung zählen ständige Aufmerksamkeit und Ansprechbarkeit, die in einer entsprechenden körperlichen Performanz zum Ausdruck gelangen. Hierauf weist »der partner« gegenüber der Messestandbesetzung nachdrücklich hin: »als er an diesen stand gekommen sei, habe er nur rücken gesehen, man müsse sich vorstellen. nur rücken. das sei ja das schlimmste, was man auf einer messe sehen könne: rücken!« (Röggla 2004: 62) Der körperlichen Disziplin korrespondieren, der Erwartung gemäß, rationales Handeln und emotional zurückgenommenes Verhalten – »schließlich sind hier auch immer die medien anwesend«, kommentiert die Online-Redakteurin, genannt »die online«, »und dann noch die kunden, ›da kannst du deinen emotionen nicht freien lauf lassen. nur keine medienanstalten machen‹, sage sie sich, ›ja nur keine medienanstalten machen!‹« (Röggla 2004: 63) Die Messesituation etabliert den fiktiona-

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len Ort mithin als Ort der Inszenierung6 – als Ort des theatralen Hierund-Jetzt, das über die Wirk- und Überzeugungskraft ebenso der professionellen Unternehmenspräsentation wie der individuellen Selbstdarstellung der Branchenvertreter entscheidet. Im Duktus einer impliziten Regieanweisung und lesbar als reflexives Sprachspiel mit der Theatersituation lautet dementsprechend der vollständige erste Bildtitel: »das spiel beginnt: die selbstdarstellung« (Röggla 2004: 59). Die Selbstdarstellung der am Messestand versammelten Personen konzentriert sich auf deren Selbstverständnis, das sie aus ihrem Beruf und ihrer täglichen Arbeit ableiten. Dabei bildet die Erfahrung von Zeit einen wichtigen Parameter der Selbst- und Fremdwahrnehmung, worauf zum einen die Themen der in hohem Grade reflektierten Äußerungen und zum anderen die markante Redeperformanz der Figuren hindeuten. Die Selbstpräsentationen kreisen um arbeitsbiografische Details, also Arbeitserfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart, um das Verhältnis von Arbeits- und Freizeit oder auch, denkbar basal, um Uhrzeiten und Tagesabläufe. In den Aussagen und Kommentaren der Berater zu ihrer individuellen Arbeitsökonomie wird Zeit als gestaltende wie auch zu gestaltende Größe greifbar.

Halbwertzeit des Expertenwissens Im dritten der insgesamt fünf Bilder, die durch einen »prolog« und einen »epilog« (Röggla 2004: 59; 67) ergänzt werden, hält »die praktikantin« eine Art Abschiedsrede; sie kommt dann nur noch im Epilog zu Wort. Ihr Thema ist das Ineinandergreifen von privaten und beruflichen Beziehungen im Dienste ökonomischen Nutzens. Rhetorisch eindringlich und komprimiert wird dem Glauben an globale Zusammenhänge bis hin zu privaten sozialen Beziehungen eine Absage erteilt: »und sie höre sich auch sicher nicht mehr an, wie sie einem dauernd sagten, was einem juristen nicht fremd sei, und was einem kaufmann nicht fern stehe und einem wirtschaftsprüfer nicht unvertraut. eben wie diese ganzen verwandtschaften und unverwandtschaften ausgesprochen würden. sie sehe sich nicht mehr an, wie ein verwandtschaftsgrad in den dingen schlummere und plötzlich ausbreche und alles überziehe. ja, verwandtschaften würden ausgesprochen, zu denen sie keinen zutritt habe, und verwandtschaftsgeschichten würden immer dazugepackt, kleine anekdoten, ziel-anekdoten, würde sie sagen, deren einziger

6

Eva Kormann hält in ihrer Lektüre von wir schlafen nicht fest: »Inszenierung ist die Botschaft eines Messeauftritts« (Kormann 2006: 230). 230

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sinn und zweck sei zu beweisen, wie sehr man schon in dieser verwandtschaft parke.« (Röggla 2004: 63)

Die Rede »der praktikantin« problematisiert Inklusions- und Exklusionsmechanismen einer am flexiblen Kapitalismus ausgerichteten Arbeitsorganisation, indem Zugehörigkeit wie Nicht-Zugehörigkeit und damit auch Insiderwissen als Resultate narrativer Strategien ausgewiesen werden. Der Theatertext diskutiert, wie Arbeit jenseits des »testmodus« (Röggla 2004: 63) auf einem Wissen von Sprachregelungen, -codes und -formeln und dessen ritualähnlicher Aktualisierung basiert. Das Reden zu beherrschen ist nach Aussage »der online« unerlässlich, um sich in der Branche zu etablieren. Dabei besteht die als eine Art Berufsrisiko einzustufende Gefahr, dass, wie »der senior« festhält, er manchmal »gar nicht mehr [merke], in welchem fachjargon er wieder einmal rede und was für vokabular er wieder rauslasse« (Röggla 2004: 59). Wie im und durch das Sprechen »unprofessionalität« verdeckt (Röggla 2004: 59) oder gerade umgekehrt Professionalität ausgewiesen wird, entpuppt sich als diejenige Frage, an der die sprachliche Performanz jedes Repräsentanten der Beraterbranche bemessen wird. Als Parameter der Professionalität fungiert hierbei das Verhältnis von (individueller) Erfahrung und (kollektiver) Erwartung, aus denen sich die Gespräche über den Arbeitsalltag speisen und über die mithin soziale wie ökonomische Vernetzung möglich wird. Zwar werden Machtpositionen innerhalb von Arbeitsbeziehungen und darüber hinaus über ein spezifisches Fachvokabular und Spezialistenwissen etabliert und gesichert, doch wirkt dies, so der assoziative Gedankengang in der »gruppenszene«, beispielsweise im Fall von Unternehmenspleiten und Bankenskandalen geradezu »oberabsurd«, wenn »sie ausgerechnet die typen wieder ran[holen], die es vorher verbockt haben, weil sich sonst niemand auskennen würde mit den verträgen« (Röggla 2004: 60). Zudem stellen die Experten die Bedeutung von Fachwissen dadurch infrage, dass es seiner Zeitlichkeit überführt wird. Dies geschieht ironischerweise durch »den partner«, der auf die anhaltende Notwendigkeit eines spezialisierten Grundwissens insistiert: »ach so ein grundkurs in bwl muß immer wieder absolviert werden. der verliert sonst seine gültigkeit« (Röggla 2004: 61). Inwieweit geschultes Wissen außerdem durch Erfahrung relativiert wird, stellt »der senior« in seiner Sicht auf die Branchen-Konkurrenz McKinsey heraus: »hochausgebildete idioten mit dauerdiplom in der tasche und null lebenserfahrung und null erfahrung mit realen betrieblichen strukturen, die nur mit einem zusammenarbeiten, um ideen abzuziehen.« (Röggla 2004: 61) Dabei spiegelt die rhetorische Demontage des Konkurrenten, die als Beitrag zum Distinktionskampf auf dem Feld der Unternehmensberatung zu verstehen ist,

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die Reichweite der eigenen »oberste[n] beraterweisheit«, wie sie »der senior« proklamiert. Mit ironisierendem Gestus kommentiert »die key«: »›brrrt, der mckinsey-king geht wieder einmal über die flure, brrt‹, da schüttele es sie, ›das spüre man doch gleich, der macht aus allen fluren gleich mckinseyflure, schneller, als man schauen kann‹, seien sie alle in dem mckinsey-ding drin. alle stünden sie da und schüttelten sich bis sie an der reihe wären, man könnte direkt vermuten, sie stellten sich darum an. kaninchen vor der schlange, sage sie mal, heute wieder ein beliebtes modell.« (Röggla 2004: 61)

Und wenngleich es »heute wieder ein beliebtes modell« ist, so ist die Zeit, wie »die key« bemerkt, in der vom »mckinsey-king« die Rede war, doch abgelaufen (Röggla 2004: 61). Nicht nur der Inhalt des Fachwissens per se erweist sich als vergänglich, sondern auch seine Qualität, als Alleinstellungsmerkmal und damit als Machtgarant zu fungieren, besitzt eine Halbwertzeit.

Zeit der Erfahrung und Zeit des Netzwerks In Erweiterung und durchaus mit kontrapunktischer Funktion zu den individuellen Berichten über das persönlich praktizierte oder in der Branche typische beziehungsweise erwartete Zeitmanagement enthalten die Selbstdarstellungen Exkurse zu einzelnen wirtschaftshistorischen Ereignissen der Jahrtausendwende. Bezug genommen wird etwa auf die »kirchpleite« (2002), die »holzmann«-Affäre (2002) oder den Wirtschaftsskandal von »enron« (2001) (Röggla 2004: 60), auf Ereignisse mithin, deren prägende Präsenz im kollektiven Gedächtnis der Text durch kumulative rhetorische Mittel, die Wiederholung und den Parallelismus, ausstellt: »DIE ONLINE nach einer weile wieder: auch sie erinnere das an die kirchpleite, ja, ja. DER IT wer denkt nicht an die kirchpleite? DIE ONLINE wer denkt nicht an die kirchpleite? DER IT wer denkt nicht an die kirchpleite? DIE ONLINE das deutsche enron – DIE KEY oder landesbank berlin DER IT ach du meine güte, der bankenskandal! DIE ONLINE oder holzmann. nee, also wirklich nicht! DER IT nach einer weile wieder: ›es ergibt sich einfach immer dasselbe bild!‹« (Röggla 2004: 60)

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Die Verweise auf die Wirtschaftsereignisse der jüngeren Vergangenheit erlauben es, den dokumentarischen Gestus des Textes in Rechnung stellend, die Gegenwart der fiktiven Gespräche mit der Entstehungszeit des Theatertextes 2004 zu identifizieren. Dem Text ist demnach daran gelegen, sich explizit in und zu der Chronik des zeitgenössischen Kapitalismus zu positionieren. Entsprechend zeigen sich auch binnenfiktional die Figuren um eine solche Standortbestimmung bemüht, wenn »der senior«, ein um die dreißig Jahre alter Berater, in Bezug auf seine Arbeitshaltung erläutert: »die devise ›schlafen kann ich, wenn ich tot bin‹, würde er jetzt nicht so direkt adaptieren, das habe man ja eher früher gesagt, ›so mitte der neunziger war das die devise schlechthin‹, zumindest in seiner generation. das müsse man sich mal vorstellen, was da in kürzester zeit an wissen akkumuliert worden sei und an erfahrung. ja, was mittzwanziger sich da schon reingezogen hätten an erfahrungswerten. die seien jetzt natürlich angeschlagen, aber wenn die sich erst einmal wieder erholt hätten, dann könnten die auf ganz anderem niveau loslegen.« (Röggla 2004: 60)

»der senior« knüpft an seine Identifikation mit einer Generation, der Generation der New Economy, an und stellt hierbei insbesondere die »in kürzester zeit« angesammelten Erfahrungen heraus, die sich, so die Stoßrichtung seiner Analyse, im Sinne einer Wertsteigerung für die Arbeitskraft im Einzelnen wie auch für den Markt im Gesamten veranschlagen ließen. Einer dem kapitalistischen Credo der Kurzfristigkeit verschriebenen Gegenwart wird damit der ökonomische Stellenwert der Erfahrung, die eine langfristige Dimension eröffnet, entgegengehalten. Der Theatertext wir schlafen nicht lässt sich somit als ein Beitrag zur Diskussion um den Stellenwert von Erfahrungen in einer flexibilisierten Arbeitswelt lesen, zu der Sennett 2001 pointiert die These formulierte: »Eine mögliche Zusammenfassung des Konflikts zwischen Kurzfristigkeit und deregulierter Zeit einerseits und dem Lebenslauf der Menschen andererseits könnte lauten: Mit dem Anwachsen der Erfahrung im Beruf nimmt ihr ökonomischer Wert ab.« (Sennett 2001: 13–14) Dieser Einschätzung widerspricht »der senior« mit seiner These explizit. Weniger an der Entwicklung von ökonomisch relevanten Werten im Allgemeinen, als vielmehr an der Wertsteigerung des persönlichen Lebenslaufs interessiert, zeigt sich die Perspektive »der praktikantin«. Im Fortlauf der Gespräche konstatiert sie wiederholt, dass für den Berufseinstieg und für die Karriere Erfahrungen unerlässlich seien. Die Berufsanfängerin, die nach Auskunft des Personenverzeichnisses Anfang Zwanzig ist und die »noch gar nicht drinnen« ist (Röggla 2004: 63) in einem Unternehmen, in dem Sinne, dass sie für ihre Leistungen materiell entlohnt 233

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wird, sucht – so nimmt es zunächst den Anschein – nach einer Kontinuität in ihrem Lebenslauf, die kalkulierbar auf einen Arbeitsplatz zuläuft. Sie spielt damit auf eine Vorstellung von einem »Arbeitsleben im Sinne einer Karriere« an, das, wiederum nach Sennett, mit den Maximen der Kurzfristigkeit und Flexibilität nicht vereinbar scheint (Sennett 2000: 165). »sie wäre expotauglich, habe man ihr vor drei jahren gesagt, sie solle auf die expo gehen. sie sei aber nicht auf die expo gegangen, sie sei ja nach amerika, was vielleicht ein fehler gewesen sei. denn jetzt renne sie die ganze zeit mit ihrer amerikavergangenheit herum, wo sie die doch nicht brauchen könne, weil praktikumsstellen würden für eine amerikavergangenheit nicht ausgeschrieben, ja, jetzt würde nur eine agenturvergangenheit was zählen oder zumindest eine unspezifische medienvergangenheit, d.h. eine unspezifische medienvergangenheit wäre auch zu wenig, denn heute brauche man schon spezielle skills, nicht nur sogenannte ›soft skills‹, nein, spezifische und dazu konkrete erfahrungswerte.« (Röggla 2004: 59)

Suggeriert diese Stellungnahme auf den ersten Blick eine anachronistische Erwartungshaltung des jüngsten Messeteammitglieds, so bildet sie im Kontext der nachfolgenden Äußerungen »der praktikantin« einen kohärenten Bestandteil eines Selbstentwurfs als zeitgemäßes flexibles Arbeitssubjekt. Denn der Blick auf die Vergangenheit lässt sich auch als Einsicht in die notwendig am ökonomischen Wert der Effizienz orientierte Lebensplanung lesen. Zudem wird die anklingende Überzeugung, dass es eine Logik der ›richtigen‹ Vergangenheit für einen beruflichen Einund Aufstieg zu verfolgen gelte, die allein in der Entscheidungsmacht des Einzelnen liege, infrage gestellt. Das Arbeitsethos, nach dem Karriere von der individuellen Arbeitsleistung abhängt, wird in der Perspektive »der praktikantin« selbst relativiert, indem sie auf die Familie und also die Sozialisation als Voraussetzungen für Erfolgschancen auf dem Arbeitsmarkt hinweist. So habe sie, »die praktikantin«, »eben keine eltern. zumindest in dem sinn, also keine steuerberater-, keine wirtschaftsprüfer- und unternehmensberatereltern. oder gar zahnarzteltern. kleinbürgereltern, das ja, das könne man schon sagen, also praktisch nicht existierende, zumindest, was ihre berufliche situation betreffe.« (Röggla 2004: 62)

Die sprachkünstlerisch ins Groteske gesteigerte Frage nach den Eltern spielt nicht auf eine Nutzen bringende Tradition von Erfahrungen und Kenntnissen an, die durch eine familiäre Generationenfolge verbürgt sind, und ebenso wenig auf die Orientierung gebenden Identifikationspotenziale der Familie. Vielmehr zielt die zwischen Resignation und Trotz

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oszillierende Feststellung »der praktikantin« auf den Aspekt der Vernetzung, der die Bedeutung persönlicher Kontakte für ein berufliches Weiterkommen erfasst. Mit dem Thema des sozialen Netzwerks, das »die praktikantin« in ihrer Selbstdarstellung anspricht, greift sie ein zentrales Moment der projektbasierten Arbeitsorganisation7 auf, das sich unter den Vorzeichen des neuen Kapitalismus im Schlagwort der ›Teamfähigkeit‹ verdichtet. Die Bedeutung des Zusammenhangs von sozialer Vernetzung und Erfolgschancen im Arbeitsleben demonstriert auch der Schlagabtausch zwischen »der online« und der »key account managerin«, kurz: »der key«. Persönliche Kontakte werden zwischen den beiden Konkurrentinnen als Ausweis von Prestige und Professionalität verhandelt: »DIE ONLINE […] aber jetzt mal im ernst: ›das ist doch nicht wahr, daß die so superprofessionell ist, wie sie immer tut, so als quereinsteigerin? wo sie doch rausgeflogen ist aus ihrem früheren job‹ – DIE KEY woher sie das habe? ja, auch sie habe ihre beziehungen – beziehungen zu roland berger beispielsweise oder beziehungen auch zu ihrem verein. DIE ONLINE ja, so was kriegt man über beziehungen mit. DIE KEY ja, wer hat nicht einen freund beim handelsblatt – DIE ONLINE also ich habe eigentlich überall freunde sitzen DIE KEY man kennt sich doch quer durch die branche – (sie unterbricht sich)« (Röggla 2004: 63).

Während die Arbeit in Netzwerken, wie sie für flexibilisierte Arbeitsstrukturen kennzeichnend ist, mit hohem symbolischen Kapital belegt ist, besitzt die den Flexibilitätsansprüchen geschuldete Arbeitsbiografie, die Quereinstiege fördert, einen weniger guten Ruf. Hier zeigen sich Brüche in der Akzeptanz neokapitalistischen Ökonomiedenkens, die das einzelne Arbeitssubjekt in seiner Selbstperformanz zu vermitteln hat. Das Risiko daran zu scheitern, ist in den Gesprächen allgegenwärtig und teilt sich, wie hier, immer wieder als ein Sich-selbst-Unterbrechen mit. Die in wir schlafen nicht versammelten Experten der Consulting Industry betonen in den Berichten zu ihrem Arbeitsalltag den Stellenwert von Erfahrungen mindestens in dem Punkt, dass sie die aktuelle Situation – sei es die ihrer beruflichen Tätigkeit oder die der wirtschaftlichen Verhältnisse im Rahmen der Gesamtgesellschaft – in Relation zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten, von Traditionen und Innovationen setzen: »am

7

Im Anschluss an Luc Boltanskis und Ève Chiapellos These von der »projektbasierten Polis« ist die Teilhabe an Netzwerken als Gradmesser dafür heranziehen, wie aktiv und damit auch wie erfolgreich der Einzelne im Feld der Arbeit und generell in seinem Leben agiert (vgl. Boltanski/Chiapello 2003: bes. 147–210). 235

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anfang habe sie den eindruck gehabt, sie werde nie ihre schüchternheit überwinden«, meint »die key« (Röggla 2004: 59) und »der senior« offenbart: »anfangs sei er da ja mehr rangegangen mit der haltung – ›sozusagen‹ – das sei ja nicht er, der den job mache. er spiele vielmehr eine rolle, er spiele vielmehr mit und schaue sich das sozusagen an« (Röggla 2004: 59). Neben den Anzeichen der Distanzierung, die der im gesamten Stücktext gebrauchte Konjunktiv setzt, reflektieren die Figuren mithin expressis verbis die Identifikation mit ihrer beruflichen Tätigkeit und hinterfragen deren Bedingungen und Folgen. In der Wiederholung einzelner Erfahrungen und Geschichten, beispielsweise der bereits allen bekannten »pornohotelgeschichte« »der key« – auch »er könne die schon auswendig erzählen«, bekundet »der it« (Röggla 2004: 64) – werden Momente der Arbeitsbiografie fixiert, die als Gegenpole zu einer Gefahr des »Driftens« (Richard Sennett) zu lesen sind. Allerdings bilden die Selbstäußerungen eher Themenblöcke als Erzählstränge heraus, die unter Schlagworten in den Bild- und Szenenüberschriften gruppiert werden – »der betrieb« (1.2, Röggla 2004: 59), »privatleben« (2.2, Röggla 2004: 61), »runterkommen« (3.3, Röggla 2004: 63) und weitere. Das dialogische Arrangement der Figurenstimmen gleicht einem von Assoziationen vorangetriebenen Redefluss, der durch wiederkehrende Unterbrechungen und Einmischungen, »kurze pausen« und »peinliche stillen« rhythmisiert wird. Dabei zeigt sich eine Tendenz zum monologischen Sprechen, das sich aus dramaturgischer Sicht insbesondere in der episch-distanzierenden Form der Rede ad spectatores manifestiert. Die Selbstdarstellung gewinnt damit deutliche Züge der Selbstbehauptung im Wettbewerb um Präsenz und Aufmerksamkeit. Das wiederkehrende Ins-Wort-Fallen wie auch die ständigen Abtritte von der Bühne verweisen auf Distinktionskämpfe zwischen den Figuren, ohne dass diese mit Blick auf deren spezialisierte Tätigkeiten und hierarchischen Positionen unmittelbar plausibel wären. Sinnfällig werden sie jedoch als Kampf ums Rederecht und damit um die performative Präsenz, die Möglichkeit des Wahrgenommenwerdens. Es ist das Spiel um Anund Abwesenheit, das der Titel wir schlafen nicht indiziert. Zum Ausdruck gelangt es im Sprechen und dessen Komplementen – dem Schweigen, der Stille – sowie in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper.

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Alltagsrhythmus und Arbeitssucht Kennzeichnend für das Sprechen der Figuren ist von Beginn an eine »hektische Atemlosigkeit«8. Die wiederkehrenden Unterbrechungen machen für das Sprechtempo sensibel, das sich darüber hinaus auch in den die mündliche Rede charakterisierenden Füllwörtern und Interjektionen, in einem elliptischen Sprechen, in einem Wechsel von monologischen und polylogischen Passagen sowie in der Bildung und kumulativen Variation von Komposita vermittelt. Die Hektik des Sprechens kontrastiert mit einem Fehlen von »messestreß« (Röggla 2004: 62) und mit einer Situation des Wartens, die aus Sicht »der key« »ein wenig lang« andauert (Röggla 2004: 63) – wobei für den Rezipienten zu keinem Zeitpunkt transparent wird, worauf das Warten eigentlich gerichtet ist, außer vielleicht, so wäre zu vermuten, auf Kunden und Kollegen. Die Wahrnehmung des Stillstands als Fremdheit, Bedrohung und Unerträglichkeit, der es sich offenkundig mittels des Sprechens zu erwehren gilt, kommt in den als Regieanweisung notierten »stillen«, die als »peinliche stille« (Röggla 2004: 59 und andere) bezeichnet werden, zum Ausdruck. Stillstand wird in einer Alltagswelt, in der die Arbeit den Lebensstil auf »short-sleeping« und »quick-eating«, auf »hotelgeschlafe«, »businessclass-gefliege« und »first-class-gewohne« hin trimmt (Röggla 2004: 67), gleichbedeutend mit einem Eingeständnis in das eigene Scheitern. Die Zustimmung zur Atempause kommt einer Bestätigung gleich, für das Unternehmen überflüssig zu sein. So gesteht »der partner«, nicht ohne Stolz, dass er »tatsächlich nicht nach hause gehe. warum? weil er zuhause nichts verloren habe, sondern da, auf seinem arbeitsplatz«, von dem er sich auch nicht »langsam aufs altenteil hieven« lasse (Röggla 2004: 64). Die Führungskraft insistiert auf einen selbstbestimmten Arbeits- und Lebensrhythmus: »also bitte, er wolle noch selber entscheiden dürfen, wann er hier pause mache und wann nicht. er wolle selber entscheiden dürfen, wann er hier gehe oder nicht, ›wann schluß ist‹, oder?« (Röggla 2004: 65). Und auch »der senior« trotzt fremden Einsagungen: »ja, runterkommen runterkommen, das sagen sie alle andauernd. andauernd werde einem gesagt, daß man runterkommen soll. er komme aber gar nicht runter, er denke gar nicht dran« (Röggla 2004: 63). Das Thema der Eigenmächtigkeit und Verfügbarkeit des Arbeitssubjekts, wie es in diesen Statements anklingt, verhandeln die Gespräche ausführlich unter dem Stichwort der »arbeitssucht« (Röggla 2004: 63). Dabei kommen zum einen die Phänomene, die auf eine ›Sucht‹ schließen lassen, und zum anderen die Implikationen, die einer Adressierung als 8

Kormann 2006: 237. Eva Kormann formuliert diese Beobachtung mit Blick auf Rögglas gleichnamigen Roman wir schlafen nicht. 237

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Süchtiger eigen sein können, in den Blick: »warum nennen sie einen arbeitssüchtig und wann tun sie das?« (Röggla 2004: 63). Die Unmöglichkeit »runter[zu]kommen« zeigt sich bei den Figuren auf sehr unterschiedliche Weise: »die key« muss »literweise wasser« trinken, »als wäre ihr körper völlig dehydriert« (Röggla 2004: 63), »die online« muss »dann dauernd mit freunden reden, sie stünde dann einfach unter redezwang« (Röggla 2004: 63) und »der senior« fährt »einmal im monat […] mit sicherheit sein auto kaputt«, denn: »das sei ähnlich wie bei einem alkoholiker. er brauche wahrscheinlich einen bestimmten pegel. er brauche eben ständig etwas adrenalin im blut. er meine, ›wer ist schon nicht auf adrenalin heutzutage?‹ alle, alle seien sie auf adrenalin. man müsse sich diese runde mal ansehen. ob man da jemanden sehen könne, der nicht auf adrenalin sei?« (Röggla 2004: 63)

Die Figuren beschreiben Erfahrungen und Routinen aus ihrem Alltag, die sie zum einen selbstreflexiv mit Suchtprofilen beispielsweise des Alkoholismus in Verbindung bringen, zum anderen jedoch nicht als Symptome einer Sucht anerkennen. »der senior« setzt sich gegen dergleichen Diagnosen seiner Arbeitsexistenz zur Wehr, da sie mit dem Stigma des Kranken belegt sind: »und dann werde arbeitssucht behauptet, da nennten sie einen einfach krank, dabei stimmte das ja gar nicht. er würde zumindest keine arbeitssucht bei sich feststellen können, bzw. sei er ja kein junkie, zumindest nicht im herkömmlichen sinn. er litte nicht unter entzugserscheinungen, würde er keine arbeit haben. das nehme er zumindest an, denn, wenn er es so recht überlege, sei immer arbeit da.« (Röggla 2004: 63)

Die Arbeitssituation mit ihren Leistungsanforderungen als Dauerzustand prägt das Leben der Figuren nachhaltig, insofern sie ihren Sichtweisen und Wahrnehmungen einen bestimmten, am ökonomischen Denken orientierten Begriff der Normalität zugrunde legen. »arbeitssucht« entlarven die Figuren als ausgrenzende Zuschreibung: »arbeitssüchtig nennt man nur den, bei dem etwas schiefläuft, bei dem die projekte nicht klappen« (Röggla 2004: 63). Gemessen werden Menschen dagegen unhinterfragt an ihrer Fähigkeit zur Selbstüberwindung (vgl. Röggla 2004: 63) und an ihrer Bereitschaft zu »spitzenleistungen« (Röggla 2004: 60). Der Theatertext verhandelt mithin das Changieren zwischen Pathologisierung und Ideologisierung, denen sich die Existenzweisen und Persönlichkeiten der Arbeitssubjekte im Wirtschaftsdiskurs ausgesetzt sehen können. Die Vorstellung von einer konsequenten Trennung von Arbeits- und Freizeit beurteilt »der partner« als »seltsam« und »so ziemlich absurd«

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(Röggla 2004: 63) und schließt sich also der vielfach formulierten These einer »räumliche[n] und zeitliche[n] Ent-Differenzierung von Arbeit und ›Leben‹ bzw. Freizeit« (Rosa 2005: 269) in der postindustriellen Gegenwartsgesellschaft an. Eine Begrenzung der Arbeit findet sich, wie die Darstellungen der »adrenalinjunkies« vielfach belegen, gerade in zeitlicher Hinsicht nicht. Uhrzeiten als Reglementierungen von Arbeitsrhythmen oder Maßeinheit von Arbeitsleistung gelten als obsolet, das zeigt der ins Leere laufende Hinweis »der key«: »›es ist 16.30‹ das werde man noch aussprechen dürfen – nein? dürfe man nicht?« (Röggla 2004: 59) Mit der geforderten Bereitschaft zur größtmöglichen Mobilität, die notwendig für eine »fernbeziehung« und gegen ein »normales familienleben« spreche, wie »der senior« feststellt, oder zumindest erforderlich macht, dass einem, wie im Fall des »partners«, »die frau […] den rücken frei[hält]« (Röggla 2004: 61), geht die Erwartung zeitlicher Flexibilität einher. Tagesarbeitszeiten von »locker 14 stunden, wenn nicht gar 16 und mehr« (Röggla 2004: 60), der Verzicht auf das Wochenende als Regenerationsphase (Röggla 2004: 60) oder die Kurzfristigkeit von Arbeitsaufenthalten an verschiedenen Orten (Röggla 2004: 60) skizzieren den Erwartungshorizont, vor dem sich die individuelle Arbeitsleistung und -haltung der Figuren abzeichnet. Während für »den it« am Wochenende »erstmal akku-löschen angesagt« ist (Röggla 2004: 61), würde »die praktikantin« durchaus ihr »privatleben« gegen »ein ordentliches berufsleben« eintauschen (Röggla 2004: 61). Zur Diskussion gestellt werden demnach die Wertigkeit von Zeit und die daran gebundene Diskrepanz zwischen Einsichten und Handhabungen, ohne dass sich jedoch die verschiedenen Auffassungen der Figuren zu einem dramatischen Konflikt verdichten würden.

Entschleunigung »müsse er zugeben: ein wenig geistesgestört seien die arbeitszeiten schon, das sei ihm klar, wenn einem die arbeit nicht über alles gehe, dann könne man das auch nicht machen. das verstünde sich von selbst. […] diese letzte stunde freizeit, die sie einem wegnähmen, die sei einfach die teuerste. müsse er zugeben: die wenigsten könnten so was auf dauer aushalten. […] das wundere ihn nicht: daß er mehrere tage durcharbeiten könne, das sei nicht interessant.« (Röggla 2004: 60)

Die Ökonomisierung von Zeit, wie sie hier in der Aussage »des senior« thematisiert wird, findet ihre Grenzen im Körperlich-Machbaren. Diese Erkenntnis konzentriert sich im titelgebenden Bild vom Schlaf, der als ein menschliches Grundbedürfnis um keinen Preis zu ersetzen oder zu 239

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manipulieren ist und der für die im Text vorgestellten Arbeitsjunkies daher eine Art »genetische[n] defekt« darstellt (Röggla 2004: 59). Die Aussage des Titels, »wir schlafen nicht«, wird ihrer Absurdität überführt, wenn von Beginn der Gespräche an die Einsicht im Raum steht, dass »der körper […] schlaf nicht [speichere], er speichere alles mögliche, aber schlaf, das schaffe er nicht« (Röggla 2004: 59). Um die zeitliche Investition in die unumgängliche Regeneration möglichst gering und möglichst unerkannt zu halten, schlafen die Arbeitsjunkies »in geparkten autos«, »in tiefgaragen, in parkhäusern« und am »bürotisch« oder holen sich »beim fliegen eine stunde killerschlaf« (Röggla 2004: 59). Der Wunsch nach Eliminierung des Schlafes kulminiert denn auch in der folgenden Phantasie »des it«: »[…] wenn man das entwickeln könnte, die fähigkeit, schlaf zu speichern. da wären die meisten doch nicht mehr zu halten. ganze kindheiten würden da investiert, nur, um genügend schlaf für später zusammenzukratzen. oder wenn man schlaf übertragen könnte: so von einem menschen zum anderen, das wäre es doch, ganze schlafbanken würden da angelegt.« (Röggla 2004: 59)

In dieser zugespitzten Projektion, die Schlaf als mit biografischer Lebenszeit aufzuwiegendes Kapital und als Handelsgut imaginiert, gewinnt die Anpassungsbereitschaft an die Maximen einer allumfassenden Ökonomisierung des Lebens, die, wie der Text wir schlafen nicht vorführt, in abgeschwächtem Maße bereits Alltagspraxis ist, Züge des Grotesken. Dabei begründet die Vorstellung einer Selbstoptimierung im Dienste von Arbeitsleistung und Selbstperformance insbesondere Eingriffe in den Körper. Mit dem Einsatz von Aufputschmitteln aller Art, von »amphetamine[n]« über »alkohol«, »kaffee« und »red bull« bis hin zu »gesicht waschen« und »frischluft«, suchen die Workaholics einem etwaigen »›kreislaufzusammenbruch‹« oder »›nervenzusammenbruch‹« vorzubeugen (Röggla 2004: 65). Allerdings werden sich die Figuren der Anpassungsfähigkeit durchaus als einer zwiespältigen Fähigkeit gewahr: An ihrem Körper stellen sie fest, dass dieser »völlig auf messebetrieb umgeschaltet« hat, und in Anbetracht der Messesituation stellen sie die Vermutung an, dass »man nicht mehr von psychisch ungestörten menschen ausgehen« könne (Röggla 2004: 64). Das Moment der Störung und der Irritation buchstabiert der Theatertext wir schlafen nicht nicht allein in der selbstreflexiven Haltung der Figuren aus, sondern nutzt es als dramaturgisches Mittel. Anhand des Titelmotivs der Schlaflosigkeit, zu dem sich die am Beispiel der Beraterbranche ausgestalteten Facetten des Arbeitsalltags – nämlich Selbstinszenierung, Allgegenwart der Arbeit, Leistungs- und Zeitdruck – verdichten, wird ein Zugang zum Bereich des Irrealen gelegt, der die Figuren 240

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sukzessive als »unheimlichkeit« (Röggla 2004: 64) einholt. Die alltäglich gewordenen Wahrnehmungsirritationen, die zunächst vor allem auf die Wahrnehmung von Zeit bezogen waren, wenn für »die online« beispielsweise »tageszeiten verschwinden« (Röggla 2004: 60), verschieben sich nach und nach auf die Figuren selbst. Während sich das realistische Szenario der Messesituation in einen Ausnahmezustand verwandelt, in dem es aus nicht bekannt werdenden Gründen zur Räumung der Halle kommt, beobachten die Figuren im wörtlichen Sinne gespenstische Veränderungen an sich. So entdeckt »die key« »ängstlich« den Verlust ihrer Stimme und stellt fest: »[…] diese tonlage habe sie von sich nicht gekannt, das sei ja ein fremder gewesen, der sich durch sie durchgesprochen habe.« (Röggla 2004: 65)9 Was von den Figuren Besitz ergreift, ist ein Bewusstsein von den Grenzen ihres temporeichen Lebensstils, eine Einsicht, »daß immer nur ›power-power-power!‹ auch nicht zum erfolg führen wird« (Röggla 2004: 66). In einen dem Burn-out nicht unähnlichen Zustand der Entschleunigung versetzt, der für die eigene »unlebendigkeit«, für »das gespenst in einem« feinsinnig macht, kommen »gedächtnis und erinnerung« (5.2, Röggla 2004: 66) auf. Gegen den anfänglichen Widerstand geben sich die Figuren nach und nach der Heimsuchung durch die Vergangenheit hin, die insbesondere mit einer Differenzierung und Konzentration der sinnlichen Wahrnehmungen einhergeht. Durch die Hektik des Arbeitsalltags diffundieren Details der Umgebung, die in synästhetischer Raffung und zeitlupenartiger Dehnung Gegenstand der Wahrnehmung werden.10 »und während der anrufbeantworter so am laufen war, hatte auch die fliege am fenster begonnen, sich zu bewegen, sie hatte sich sozusagen in gang gesetzt. ja, er erinnert sich an die fliege am fenster und an deren zahlreiche wege, die sie genommen hat. eine vielzahl hektischer schlingen, eine vielzahl abrupter richtungswechsel, das verwirrende muster eines labyrinths, das nicht zu sehen und dessen ausgang nicht zu verstehen war. und dann hat es plötzlich in dem leeren büroraum zu riechen begonnen, ja, er erinnert sich, wie es in diesem beinahe 9

Das Motiv der fremden Stimme, die Besitz von den Workaholics ergreift, findet sich auch in John von Düffels Theatertext Balkonszenen (UA 2000) – ebenfalls mit der Assoziation zum Totenreich: Hier ist es die Stimme einer toten Ehefrau, die am Ende des Stückes zwischen den Geschäftsleuten und Politikern »wild von einem zum anderen« springt (Düffel 2001: 79). Weiter ist von »etwas, das meine Stimmbänder angreift«, bei den Arbeitssuchenden in Gesine Danckwarts Täglich Brot (UA 2001) Gesprächsthema (Danckwart 2001: 57). 10 Rögglas Prosatext wir schlafen nicht formuliert die Gespenstergeschichte insgesamt mit verschiedenen anderen Details ausformuliert (Kormann 2006: 237–239). 241

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leeren bürozimmer plötzlich nach kunststoffteppichen gerochen hat und nach den geräten, so wie es in diesen neuen bürozimmern eben immer riecht. nach dem drucker, dem bildschirm, der ablage und all dem büromöbelholz, nur diesmal ist es deutlicher gewesen, um nicht zu sagen lauter. ja selbst das büromöbelholz schien geräusche zu fabrizieren, die vorher nicht zu vernehmen gewesen waren.« (Röggla 2004: 66–67)

In dem Wechsel der Perspektive von der Gegenwart auf die Vergangenheit kommt eine Widerständigkeit zum Ausdruck, die sich gegen den suchtgleichen Rausch und die Hektik des Arbeitsalltags richtet. Mit dem Memoria-Diskurs, der die letzten Szenen durchzieht, korreliert das Postulat einer Humanität, die sich in einer auf das Lebendige zielenden Sinnlichkeit (vgl. Röggla 2004: 66–67) und einem Besinnen auf die eigene Vergänglichkeit, im Vanitas-Gedanken (vgl. Röggla 2004: 66), zeigt. Ist es nach Richard Sennett das im neuen Kapitalismus verbreitete Schlagwort der Flexibilität, das als »Gegenbegriff zu Starre und Leblosigkeit« (Sennett 2000: 58) fungiert, so formuliert der Theatertext wir schlafen nicht einen demgegenüber verschiedenen Konnotationszusammenhang: Die Lebendigkeit des flexiblen Menschen, die über das Jetzt und Hier eines an Effizienz und Kurzfristigkeit ausgerichteten Arbeitsalltags hinausreicht, ist nur gespenstischer11 Schein.

Literatur Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Bröckling, Ulrich (2002): Diktat des Komparativs. Zur Anthropologie des »unternehmerischen Selbst«. In: Ders./Horn, Eva (Hg.): Anthropologie der Arbeit. Tübingen: Narr (Literatur und Anthropologie, 15), S. 157–173. Bröckling, Ulrich (2006): Unternehmer. In: Ders./Krasmann, Susanne/ Lemke, Thomas (Hg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 271–276. Danckwart, Gesine (2001): Täglich Brot. In: Theater heute, H. 6, S. 56– 60. Derrida, Jacques (2004): Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 11 Gibt der Theatertext dem Widersacher des neuen Kapitalismus die Gestalt eines Gespenstes, so klingt hier als Intertext Jacques Derridas Versuch über den Kommunismus, Marx’ Gespenster (Derrida 2004), an. 242

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Düffel, John von (2001): Balkonszenen. In: Theater der Zeit, H. 1, S. 65– 79 Geißler, Karlheinz (2001): Zeit lässt sich nicht managen. Interview vom 10.07.2001. Unter: http://www.faz.net/s/RubCD175863466D41BB9 A6A93D460B81174/Doc~E96462BDD6E054A80AE6B7E761CCA 0655~ATpl~Ecommon~Scontent.html. Stand: 10.05.2009. Hochschild, Arlie Russel (2002): Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet. Opladen: Leske + Budrich (Geschlecht und Gesellschaft, 29). Kormann, Eva (2006): Jelineks Tochter und das Medienspiel. Zu Kathrin Rögglas wir schlafen nicht. In: Nagelschmidt, Ilse/Müller-Dannhausen, Lea/Feldbacher, Sandy (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin: Frank und Timme, S. 229–245. Kemser, Dag (2007): Neues Interesse an dokumentarischen Formen. Unter Eis von Falk Richter und wir schlafen nicht von Kathrin Röggla. In: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas. Hg. in Verbindung mit Maágorzata Leyko u. Evelyn Deutsch-Schreiner. Tübingen: Niemeyer (Theatron, 52), S. 95–102. Lehmann, Hans-Thies (1997): Zeitstrukturen/Zeitskulpturen. Zu einigen Theaterformen am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Theaterschrift, Nr. 12: Zeit/Temps/Tijd/Time, S. 28–47. Meschnig, Alexander/Stuhr, Mathias (Hg.) (2003): Arbeit als Lebensstil. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Minssen, Heiner (Hg.) (2000): Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit. Berlin: Edition Sigma. Moldaschl, Manfred/Voß, Günter G. (Hg.) (2003): Subjektivierung von Arbeit. 2. Aufl. München/Mering: Hampp (Arbeit, Innovation und Nachhaltigkeit, 2). Reckwitz, Andreas (2006): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Röggla, Kathrin (2004): wir schlafen nicht. In: Theater heute, H. 3, S. 59–67. Rosa, Hartmut (2004): Zeitraffer und Fernsehparadoxon oder: Von der Schwierigkeit, Zeitgewinne zu realisieren. In: Ders. (Hg.): fast forward – Essays zu Zeit und Beschleunigung. Standpunkte junger Forschung. Hg. in Kooperation mit Julia Clemens u. Matthias Mayer. Hamburg: edition Körber-Stiftung, S. 19–28. Rosa, Hartmut (2006): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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CHRISTINE BÄHR

Schößler, Franziska (2004): Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen: Narr (Forum modernes Theater, 33). Sennett, Richard (2000): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 7. Aufl. Berlin: Siedler. Sennett, Richard (2001): Die Arbeit und ihre Erzählung. In: Daniel Libeskind u. a.: Alles Kunst? Wie arbeitet der Mensch im neuen Jahrtausend? Hg. v. Stefanie Carp. Reinbek bei Hamburg, S. 11–36. Sennett, Richard (2005): Die Kultur des neuen Kapitalismus. 2. Aufl. Berlin: Berlin Verlag. Voß, Gerd-Günter/Pongratz, Hans J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50, H.1, S. 131–158.

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VERFAHREN

UND

STRATEGIEN

GEGENWARTSTHEATERS (AM BEISPIEL VON VEIELS DER KICK UND RIMINI PROTOKOLLS WALLENSTEIN)

DES POLITISCHEN

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Die politischen Künste des Gegenwartstheaters werden heute – so der erste Augenschein – vor allem auf den Medienbühnen der Politik wirksam. Deren Theatralisierung steht allabendlich auf dem Fernsehprogramm. Politisches Handeln wird hier durch Bilder symbolisiert und kommentiert, durch Inszenierungen ersetzt oder in Gang gebracht. Auf spektakuläre Weise wurde zum Beispiel die erste Phase des Irakkriegs visuell beendet. Präsident G.W. Bush landete am 1. Mai 2003 auf dem Flugzeugträger Abraham Lincoln im Persischen Golf: der amerikanische Präsident im Overall eines Kampfflugzeuges »federnden Schritts«, den Helm unter dem Arm inmitten seiner Truppe. Ein Bild, das »von Stärke spricht, von Unbesiegbarkeit«, ein Stück Kriegspropaganda im »visuellen Referenzsystem« Hollywoods zwischen Top Gun, Independence Day und Star-Wars-Episode (Lueken 2003). Politikerwille, Politikentscheidung und mediale Veranschaulichung sind oder scheinen in diesem Bild eine wirkungsmächtige Einheit. Politik finde »zunehmend als Event, als Show statt«, resümiert die Theaterwissenschaft (Fischer-Lichte 2005: 245). Von »Politainment« ist bei den Medienwissenschaftlern die Rede (Dörner 2001: 31). Und die Politikwissenschaft hat sogleich die strukturellen Kategorien zur Hand: »Darstellungspolitik oder Entscheidungspolitik« seien die alternativen heute geltenden Politikstile (Korte/Hirscher 2003). Die politischen Künste des Kunsttheaters folgen der Benjamin’schen Formel aus den 1930er Jahren, dass auf die Ästhetisierung der Politik mit einer Politisierung der Ästhetik geantwortet werde. Als erste Orientierung mag diese Wegmarke hilfreich sein. Ist sie aber ausreichend, um der Vielfalt und den daraus erwachsenden Theoretisierungen politischen Gegenwartstheaters gerecht zu werden? Offenkundig ist: Das politische 245

HAJO KURZENBERGER

Theater der Gegenwart hat viele Namen, divergente Ansätze und eine Streubreite, die es zuweilen diffus und richtungslos erscheinen lässt. Vorbei sind die Zeiten und eine Öffentlichkeit, in denen politisches Theater als Waffe, als Kompaktpaket von politischer Positionsbestimmung und Zielgerichtetheit aufzutreten imstande war. Etwa damals, als Erwin Piscator, Friedrich Wolf oder Bert Brecht dieses Genre neu und jeweils speziell erfanden. Auch kommt es nicht mehr wie im dokumentarischen Theater der 1960er Jahre als geschlossene aufklärerisch-ästhetische Formation daher. Die Gründe dafür sind zumindest markiert: der Zusammenbruch des Marxismus als Ideologie und kritische Methode, der Bankrott des real existierenden Sozialismus; im Gegenzug der Strukturwandel der kapitalistischen Öffentlichkeit, die Botho Strauß Anfang der 1990er Jahre im Anschwellenden Bocksgesang vernichtend so charakterisiert: »Die Öffentlichkeit faßt zusammen, sie moduliert die einander widrigsten Frequenzen zu einem Verstehensgeräusch« (Strauß 1999: 69). Konsequenz und Resultat für die Theaterkunst: Das, was als »Theater der Vergleichgültigung« bezeichnet wurde, ein Theater, das ohne »antikapitalistische Reserven« auskommen muss, das sich auflöst in »unzählige Versuche«, sich in diesem »Mainstream der Minderheiten [...] ein eigenes Wohnzimmer einzurichten« (Oberender 1998: 86f.). Das theatrale politische Wohnzimmer kann ein Schlingensief’scher Container sein, aus dem Asylbewerber abgewählt und – fiktiv oder real – über die Grenze abgeschoben werden (AUSLÄNDER RAUS), oder eine Bahnhofsmission, aus der sieben Tage »Notruf für Deutschland« durchs Megaphon tönt. Es kann als Polleschs Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels bezogen werden, ausgestattet mit »BoulevardCouch, Soap-Sound und investigativem Mitteilungsdrang« (Wille 2002: 16). In solchem Ambiente macht sich eine »affirmative Ästhetik« breit, die den »ironischen Gestus einer verfremdeten Mimesis der Medienwelt« bevorzugt, um Deformationen des postmodernen Subjekts zur Anschauung und Strecke zu bringen (Geisenhanslüke 2006: 254). Von vergleichbar bejahender Subversion ist Christoph Schlingensiefs »unsichtbare[s] Theater« (Schößler 2006: 281), das die Räume der Kunst verlässt, um sich als »postcaritatives Theater« angeblich mitten im Leben zu platzieren, eben dort, wo man sich den sozialen Realitäten angleicht, um sie umzuinszenieren (Hegemann 1998: 159). Das theatrale Wohnzimmer kann aber auch als ein fiktives Zürcher »Outplacement«-Büro mitten im ehemals autonomen Terrain der Bühne etabliert werden, das hochkarätige Arbeitslose der sozial oberen Etagen durch Trainings- und Rollenspiele zurück ins Berufsleben bringen will, wie bei Hesses und Widmers Welterfolg Top Dogs.

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VERFAHREN UND STRATEGIEN DES POLITISCHEN GEGENWARTSTHEATERS

Vieles also ist den politischen Künsten des Gegenwartstheaters möglich. Das heißt bei den hier zitierten Beispielen allerdings nicht, alles sei gleichgültig. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Die jeweilige Besonderheit der szenisch in Angriff genommenen Wirklichkeitssegmente signalisiert die Absenz von politischer Verallgemeinerung und Rezeptwissen, sie scheint kein Nährboden für gut gemeinte Überzeugungsgesinnung. Die Vielfalt der theatralen Verfahren zeigt den Entdeckungsund Erfindungsreichtum der Macher, deren Kunstgriffe die vorhandenen, vor allem medialen Wirklichkeiten aufmischen, den Zuschauer oft listenreich vom Gewohnten und Automatisierten in die Orientierungslosigkeit führen, was nicht immer, aber häufig ein produktiver Vorgang ist.

Ästhetik der Funktion: Gesichter der Gewalt (Der Kick) Am Beispiel von Andres Veiels und Gesine Schmidts Der Kick lässt sich beobachten, wie genau und diskret, wie reflektiert und beteiligt politische Theatermacher heute sein müssen, wollen sie angemessen, das heißt mit theatralem Gefühls- und Erkenntnismehrwert, auf das sozial und politisch Ungeheure reagieren. Thema von Der Kick ist der Mord von Potzlow, eine bestialische Tat unter rechtsradikalen Jugendlichen. Sie ist einmalig und zugleich eine Kopie: »In der Nacht zum 13. Juli 2002 misshandeln das Brüderpaar Marco (23 Jahre) und Marcel (17 Jahre) sowie ihr Kumpel Sebastian (17 Jahre) den mit Marcel befreundeten 16-jährigen Marinus. Die kahl rasierten Täter schlagen auf ihr schwächeres, zum Stottern neigendes Opfer aus der Hiphopper-Szene über Stunden hinweg ein. Es gibt erwachsene Zeugen, die nicht eingreifen. Täter und Opfer kennen sich. Sie kommen alle aus Potzlow, einem Dorf in der Uckermark. In einem Schweinestall muss Marinus in einen Schweinetrog beißen. Er wird nach dem Vorbild des Bordsteinkicks aus dem Film American History X hingerichtet: Marcel springt auf den Hinterkopf seines Opfers« (Veiel 2005a: 4).

Die Etiketten für dieses Geschehen waren schnell verteilt: Rechtsradikalismus in Deutschland, Arbeitslosigkeit und Alkoholismus der Jugendlichen, soziale Verwahrlosung. Und die Machenschaften einiger in die Uckermark angereisten Fernsehsender waren kaum weniger obszön als die Tat. Man bot Jugendlichen Geld, um sie vor laufender Kamera zu veranlassen, »so zu tun, als ob sie Überreste des Marinus gefunden haben« (Veiel 2005b). Presse- und Schlagzeilenrummel stigmatisierten ein ganzes Dorf, das dadurch rasch in seiner Ablehnung der Medien und ih247

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rer sogenannten Aufklärung geeint war. Aggressionen und eine Mauer des Schweigens begegneten dem Filmemacher Veiel und seiner Dramaturgin Schmidt, als sie zu ihrer Recherche ansetzten. Beiden waren die schnellen Erklärungen des Falles zu stereotyp. Ihr erklärtes Ziel: »Den Tätern eine Biographie zu geben, ohne dabei die obszöne Grausamkeit der Tat wegzuerklären« (Veiel 2006). Ihre politische Ausgangsfrage war: »Wie weit reicht diese Tat in die Mitte des Dorfes und damit auch in die Mitte der Gesellschaft hinein?« (Veiel 2005c). Deren Beantwortung ging nur über einen langen mühsamen Annäherungsprozess an die Menschen und die Tat, der ein halbes Jahr und über 1.500 Seiten Gesprächsprotokolle umfasste. Davon übrig geblieben oder herauskondensiert sind 40 Seiten einer Theaterfassung, deren Realisierung jede falsche Theatralisierung meidet. Er habe »kein Kroetz-Stück machen [wollen] im Sinne einer naturalistischen Bühnendarstellung«, war eine der ästhetisch-dramaturgischen Positionsbestimmungen Veiels (Veiel 2005c). Er konnte wohl, so ist zu vermuten, keinen Film machen, zu groß war die örtliche Aversion gegen die Bildmedien. Veiel und Schmidt ziehen daraus formale Konsequenzen. Es sind vor allem Strategien der Vermeidung. Man gibt sich ein »totales Bildverbot« (Veiel 2005c), vertraut darauf, dass die Bilder mithilfe des Textes im Kopf der Rezipienten entstehen. Man weiß, dass es kein Nachspielen des Geschehens sein kann und auch kein aufklärerisches Rollenspiel. Veiel und Schmidt setzen auf Reduktion, vor allem auf die des Textes, also auf dessen Selektion und Arrangement. So wird ein Ensemble von Stimmen versammelt und hörbar, die in den Fall verwickelt sind oder mit ihm von Berufs wegen zu tun haben, vom Staatsanwalt bis zu den Angeklagten, vom Pfarrer des Ortes bis zu den Eltern von Tätern und Opfern. Die Macher sehen genau die Gefahr hörspielspezifischer Betroffenheitsästhetik, begegnen ihr durch schnelle Rollenwechsel, das heißt harte Textschnitte, durch die Gegenläufigkeit von Aussagen der Figuren, 16 an der Zahl. Und die Schauspieler markieren mit ihrer Darstellung eher Haltungen, sind mehr Rezitatoren als Figurendarsteller. Aber immer wieder verbinden sie sich auch in minimalen Körpergesten mit den sprechenden Personen, freilich eher typisierend und die entsprechende Haltung so erhellend. In diesem »Spiel der moralischen Minimalisten« gibt es aber auch durchaus ambige Wirkungen. Susanne Wrages »Einfühlungsvermögen wird manchmal auf gespenstische Weise unwiderstehlich«, gerade in »den dunkelsten Passagen« (Schaper 2005). Genau das erfüllt Veiels Absicht und Credo: Das Theater nicht zur moralischen Anstalt zu machen, sondern zu einem »Ort der konstruktiven Verwirrung, der emotionalen Gefangennahme« mit erinnerungsstarker Langzeitwirkung (Veiel 2005d). Dabei erweist sich der gelernte Psychologe als derjenige, der er nach eigenem Selbstverständnis

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ist, als »Diagnostiker« (Veiel 2005e). Allerdings, je mehr Information der Zuschauer bekommt, je mehr Einsichten in das Geschehen Der Kick präsentiert, je mehr Erklärungen er nahelegt, »desto unverständlicher wird das Ganze« (Rühle 2005). Die »Ursachenschnipsel« (Behrendt 2005: 47) führen ins »Ursachengestrüpp«. Der Fall bleibt »trotz vieler Gründe unerklärlich« (Marcus 2005). Auf eine Klärung des Falles, gar auf ein Urteil muss also verzichtet werden. Im Gegenlauf zur zunehmenden Verdunkelung des Geschehens ergibt sich aber, zumindest für den normalen, sozialpsychologisch ungeschulten Zuschauer, eine Fülle von Erkenntnissen, Irritationen und Betroffenheiten: die »Gewaltanfälligkeit« im geschlossenen Raum und Personenkreis eines Dorfes, die »Mechanismen der sozialen Desintegration« bei Menschen, die vor Ort keine Chance haben oder hatten, zu arbeiten, sich zu bilden, an Formen der Kultur und des öffentlichen Lebens teilzunehmen (Heitmeyer 2005). Erkenn- und erlebbar wird, wie die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen Gewalt attraktiv macht: als Selbsterhöhung, als Rausch, als momentane Erfahrung und Demonstration von Macht. Wie und weshalb die Tötungshemmung bei zwei von ihnen aussetzt, ist damit nicht erklärt oder nachvollziehbar. Aber was dazu hinführt, wird sichtbar: die Alkoholisierung aller Beteiligten, die Erniedrigung des Opfers im Rollenspiel (immer wieder muss Marinus zugeben, dass er ein Jude sei, obwohl er es nicht ist), schließlich das mediale Vorbild und dessen Ästhetisierung einer Mordtat an einem Farbigen. Wo die Menschen »Desintegrations-Ängste« haben, seien die Abwertungen von Juden, Ausländern, Homosexuellen am höchsten, sagen die Gewaltforscher (Heitmeyer 2005). Wo Menschen im Abseits der Gesellschaft leben müssen, ist die Gefahr, gewalttätig zu werden, groß, weil Gewalt als Lustgewinn erfahren werden kann. Sich als ›starken Typen‹, sich im Machtrausch erleben zu können, macht scheinbar und punktuell die Defizite des Alltags wett. Sichtbar machen Veiel und Schmidt auch die historische Dimension, die »Erfahrung von Gewalt [...] über Generationen« an diesem Ort (Veiel 2005f). Hier leben Kriegsverlierer, Wendeverlierer, Verlorene der Gegenwart. »Vor den Augen der Potzlower sind polnische Zwangsarbeiter misshandelt worden, die Urgroßeltern von Marco und Marcel S. wurden auf ihrem Hof von Russen erhängt, der Großvater – damals noch ein Kind – musste zusehen« (Meffert 2005). Der »Fluss der Gewalt« zieht durch die Täter- und Opferbiografien. »Sowohl die Familie der Täter als auch die der Opfer sind ›Zugezogene‹, die in der Dorfgemeinschaft nie wirklich ankamen« (Veiel 2005a: 4). Einer der Täter wird im Dorf selbst Opfer von Demütigungen und Gewalt. Täter und Opfer scheinen in vie-

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lem fast identisch, sind austauschbar. Analog auch die Familienverhältnisse, die Rede- und Argumentationsweisen der Familienmitglieder, ihre Hilflosigkeit und Unfähigkeit, das Geschehen zu artikulieren, geschweige denn zu begreifen. Unbegreiflich ist zunächst auch für den Zuschauer die Aussage des einen Täters, er habe eine schöne Kindheit gehabt, ebenso wie die der Mutter, »Marco sei ein Schmusekind gewesen«. An die Stelle des Klischees der Verwahrlosung tritt die Irritation durch das nicht Erwartete (Veiel/Schmidt 2005: 16). Zweifellos haben Veiel und Schmidt das Ziel erreicht, den Tätern eine Stimme, ihnen Biografien zu geben, die zwar nicht unverwechselbar, aber signifikant sind. Beider Interessen verbindet sich mit einer Ästhetik der genau kalkulierten Funktion: Welche Darstellung ist diesem Fall und seiner Aufhellung zuträglich? Was schafft Einlassung und Aufklärung? Wie setzen wir uns als (sozial) nicht betroffene Betroffene mit diesem Abgrund auseinander, der sich mitten in unserem Land auftut? Das ist die politische Haltung, die eingeht in eine szenische Form, deren Wirkung widersprüchlich erfahren und beschrieben wird: Von der Einschätzung, es handele sich um »forciertes Nichttheater«, dem dabei das Authentische verloren gehe (Decker 2005) bis zur Etikettierung »DokuDrama«, das »flach und dürftig« und durch die Lektüre der Protokolle zu ersetzen sei (Banzinger 2005), reicht das Negativspektrum, wobei beide Male Peter Weiss’ dokumentarisches Theater als Referenzpunkt genannt wird. Das positive Spektrum attestiert, »Der Kick sei ein großartiger Text«, der aus der Unfähigkeit zu trauern, ja überhaupt zu sprechen, seine besondere Kraft entwickle (Rühle 2005), nicht zuletzt durch eine schauspielerische Darstellung, die »die Worte aus der Tiefe der Scham und des Schweigens« hole (Schaper 2005). Dass das Theater dabei weder seine Mittel verbirgt, noch »dem Zuschauer das nicht nur behagliche Bewusstsein der sozialen Differenz raubt«, entspricht dem letztlich aufklärerischen Gestus dieser Theaterform (Behrendt 2005: 47). Vielleicht deshalb, sicher aber auch wegen der im Programmheft abgedruckten Notizen zum dokumentarischen Theater von Peter Weiss wird Der Kick von einigen als traditionsorientierter Versuch politischen Theaters verstanden. Dass sich das dokumentarische Theater jeder Erfindung enthält und authentisches Material wiedergebe und bearbeite, dass auf der Bühne die Auswahl sich auf ein »soziales oder politisches Thema« konzentriere, mag man als Weiss-analog gelten lassen. Bei der angestrebten »Kritik an der Verschleierung« wird der Vergleich schon problematisch und schnell ahistorisch. Zwar zielt Weiss hier ausdrücklich auf die Massenmedien, aber sie gehorchen seiner marxistischen Einschätzung und Ideologie nach allein »dominierenden Interessengruppen« und ihren

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ökonomischen Vorteilen. Veiels und Schmidts Medienkritik ist ganz anderer Art, wenngleich, wie gesagt, wichtiger Impuls und Ausgangspunkt der eigenen Recherche. Der sensationsgeilen Schlagzeilenverallgemeinerung und Vorurteilsbefestigung stellen sie das Bemühen ihrer genauen Wahrnehmung und Differenzierung des Falls entgegen. Daraus wird kein »Modell«, kein »verwendbares Muster« der Wirklichkeitserklärung, auch kein »Tribunal«. Und auch das »Allgemeingültige«, das hier gewonnen wird, ist keine feststehende Wahrheit, sondern eine Zwischenerkenntnis mit begrenzter Reichweite und Anwendungsmöglichkeit (Weiss 2005). »Es ist unsere Sicht auf die Tat und das Umfeld. Deshalb tue ich mich mit dem Begriff Dokumentartheater schwer«, sagt Veiel im Interview (Veiel 2005b).

»Überschreibungen« des Polit-Klassikers Wallenstein: Die Theatralität des sozialen Alltags (Rimini Protokoll) So kunstfern und so nah an dem, was man heute Lebenswelt nennt, schien keine andere Aufführung des Berliner Theatertreffens 2006 zu sein als Wallenstein. Helgard Haug und Daniel Wetzel, zwei aus der Mannschaft von Rimini Protokoll, nennen ihren an den Nationaltheatern Mannheim und Weimar entstandenen und präsentierten Wallenstein eine »dokumentarische Inszenierung«. Das klingt auf sanfte Weise verstörend, so als wären hier herkömmliche Gattungsnormen und Aufführungstraditionen des Schiller-Dramas infrage gestellt. Wo Rimini Protokoll am Werk ist, so weiß man inzwischen, stehen die gängigen Verabredungen über Theater infrage. Erste Maxime und durchgängiges Ziel der Gruppe: Wie und womit schafft man beim Zuschauer jene produktive Unsicherheit, die die automatisierten Wirklichkeitsverabredungen und Vorstellungen unterminiert? Zuallererst – so das Rimini-Protokoll-Grundrezept – mit einer freundlichen theatralen Übernahme: Eingeschliffene Kommunikationsmuster und bestehende Theatralitätsgefüge der Gesellschaft werden übernommen und zugleich unterwandert, etwa mit einer Stadtführung durch Berlin mittels eines CallCenters in Kalkutta, das live und per Telefonanweisung aus Indien die mitspielenden Zuschauer durch die heimische Hauptstadt lotst. Eine unterminierende Übernahme durch Direktschaltung war auch Deutschland II, das medienspektakulärste Stück politischen Theaters der letzten Jahre. Die Grundidee: eine Berliner Bundestagssitzung der Volksvertreter im alten Bonner Bundestag vom Volk selbst nachspielen, das

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heißt in direkter Telefonkopfhörer-Übertragung von Bürgern dieser Republik nachsprechen zu lassen. Nun geht – so schnell wechseln heutzutage die Konventionen – Rimini Protokoll wieder ins Theater, wie gesagt, sogar ins klassische, mit Friedrich Schiller nach Mannheim und Weimar. Und sie setzen dort »dokumentarisch« unter dem Festivalmotto »Vorsicht Freiheit!« den Klassiker der deutschsprachigen Polit- und Geschichtstragödien in Szene. Wallenstein sei das erste richtige Stück, das Rimini Protokoll inszeniere, frohlockt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (Diez 2005). Freilich sind es ganze 50 Schiller-Zeilen, die hier wörtlich zur Bühnenreife und -sprache kommen. Das Original allerdings haben Haug und Wetzel gründlich gelesen und auf seine für sie brauchbaren politischen Motive abgeklopft. Da interessiert zuallererst das Fundament, auf das der große Feldherr und entscheidungszögerliche Politiker Wallenstein bauen kann: die Soldaten, die treu zu ihrem geliebten Vater und Führer stehen. »Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen«, lautet die zum Klassiker-Zitat verkommene Schiller’sche Begründung, die auf die auch heute noch aktuellen Themen und Motive seines dramatischen Gedichts verweist, auf die Frage nach der Kontrolle der Macht, auf Wallensteins potenziellen Hochverrat, auf die politische Gegenintrige Piccolominis, auf den blutigen Machtkampf, der in Teil II und Teil III bis zu Wallensteins Tod ausgefochten und vorgeführt wird. Die historischen Abläufe sind unberechenbar, sind eine Veranstaltung »tückischer Mächte«. Geschichtliches Geschehen ist weder astrologisch noch kalkulierend in den Griff zu bekommen. Wallensteins Sturz und Tod besiegeln dieses theatrale Fazit. Der Mannheimer Wallenstein hat eine ganz andere Fallhöhe als der historische, den Schiller zum Vorwurf seiner Trilogie macht. Dr. Sven Otto ist Rechtsanwalt und Stadtrat. Er hat Verrat, Sturz und politischen Karriereverlust vor seinem Theaterdebüt als Wallenstein am Nationaltheater seiner Heimatstadt Mannheim schon hinter sich. Auf einer mittleren politischen Provinzbühne hat er Wallensteins Schicksal am eigenen Leib erfahren: »Er war der CDU-Kandidat für das Oberbürgermeisteramt der Stadt Mannheim, unterlag, blieb aber dem Polittheater treu. Trotz eines zweiten, demütigeren Absturzes: Als Otto 2004 zum Kämmerer gewählt werden sollte, versagten ihm mindestens fünf Kollegen seiner eigenen Fraktion in geheimer Abstimmung die Gefolgschaft. Aufstieg und Fall eines Politikers« (Burckhardt 2006: 28).

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Fall und Aufstieg einer Karriere hat auch Ralf Kirsten aus Weimar in seinem biografischen Gepäck, der im Spiel die Gegenfigur zu Dr. Otto darstellt. Er ist stellvertretender Leiter einer Polizeidirektion in Thüringen. Sein berufliches und politisches Schicksal hat die Wende gedreht. Als Kriminalbeamter war er zu DDR-Zeiten wegen der Beziehung zu einer Frau, die der Republikflucht verdächtigt wurde, geschasst worden. Eben dies war dann nach 1989 eine Karrierehilfe. Wiederum also ein Berufs- und Lebenslauf, der sich auf zwei Schiller-Figuren des Wallenstein beziehen lässt: auf den Loyalitätskonflikt des jungen und den Aufstieg des alten Piccolomini. Wallensteins Pappenheimer, die Soldaten, sind gleich in dreifacher biografischer Ausfertigung und Varianz Teil der »dokumentarischen Inszenierung«. Dave Blalock ist Vietnam-Veteran und als solcher Antikriegsaktivist, Robert Helfert, Stadtamtsrat a. D., war ehemaliger Luftwaffenhelfer, Darnell Stephen Summers ist ebenfalls Vietnam-Veteran, außerdem Musiker. Sie wissen einiges über den »Body-Count« im Dschungelkrieg und in der Endphase des Zweiten Weltkriegs zu berichten. Gemäß Wallenstein-Set darf auch eine DAV-geprüfte Astrologin nicht fehlen. Sozial ein wenig nach unten verrutscht ist die ›Rollenbesetzung‹ der kupplerischen Gräfin Terzky mit Rita Mischereit, die mit Erfolg eine Seitensprung-Agentur leitet, wie man aus den Kundengesprächen entnehmen kann, die den Aufführungsablauf regelmäßig und publikumswirksam stören. Nicht werktreue Zutat ist ein Mannheimer Elektromeister, der als Schiller-Fan kritische Lebenslagen mit SchillerVersen meistert. Die ausführliche Vorstellung des Personals dieser Laienbesetzung hat seinen Grund: Der Wallenstein von Rimini Protokoll »bezieht seine Durchschlagskraft vor allem aus seinem Casting« (»Wallenstein Gesucht!« 2005: 7). Das meint, seine Darsteller und Figuren sind gleichsam Readymades des sozialen Alltags, die von den Machern in Szene gesetzt werden. Haug und Wetzel nennen ihr Verfahren »Überschreibungen« des Wallenstein. »Auf der Bühne stehen Menschen aus Mannheim und Weimar, deren Wirkungsstätte nicht das Theater, sondern das Leben ist. Mit ihrer Biographie messen sie sich an Schillers Protagonisten und treten ihnen entgegen«, heißt es in dem vom Nationaltheater Mannheim herausgegebenen Pressetext. Laien als sogenannte Experten der Wirklichkeit auf der Bühne zum Sprechen und Erzählen zu bringen, ist wichtige Voraussetzung des intendierten Rahmenwechsels: der Transfer nämlich von der im Leben gespielten sozialen Rolle in die ästhetische auf der Bühne der Kunst. Theaterfachleute nennen diesen Kunstgriff »PassivRegie« (Ernst 2008), sprechen von »Baumeister[n] sozialer Skulpturen

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im theatralen Raum« (Berger 2005), weil Rimini Protokoll Menschen zusammenführt und ausstellt, sich aneignet und sprechend macht, die ihre Biografie, ihre Lebenserfahrung, ihr Wissen, ihre Physiognomie und ihre Mentalität mitbringen und vorführen. Die Besonderheit in Wallenstein: Soziale Prägungen und Kontexte von Personen werden mit Figuren und Kontexten der Kunst kurzgeschlossen. Es wird keine Fiktion vom Leben hergestellt, kein Als-ob-Theater an den Schauplätzen des historischen und des Schiller’schen Wallenstein gemimt, sondern ›echte‹, soziale und politische Wirklichkeit wird auf die Fiktion projiziert, eben als sogenannte »Überschreibung«. Daraus zieht das Theater als Gegenwartsereignis schlechthin ohne Zweifel neue Kräfte, nicht nur solche der sogenannten Authentizität, sondern auch jene ihrer Reflexion. Denn was heißt in diesem neu hergestellten und dargestellten ästhetischen Zusammenhang ›echt‹? Offenkundig handelt es sich bei Wallenstein nicht um eine Reportage oder um ein wie auch immer definiertes ›Doku-Drama‹. Otto Kirsten und die anderen spielen sich selbst, wobei dieses gespielte Selbst zu großen Teilen eine, nämlich ihre Rolle ist, die des Lokalpolitikers oder des Polizeibeamten. Das macht Wallenstein und dieses Theater zu einer »soziologischen Anstalt« (Diez 2005). Die Kritik feiert sie als »Apotheose des Theaters« (Michalzik 2005), weil in der Tat ein aufklärerischer Impetus theatral wirksam wird, wenn sich die Laiendarsteller in ihrer Selbstdarstellung, in der Überblendung auf den Schiller’schen Wallenstein, der das Wahrnehmungsraster und die Erkenntnisfolie liefert, neu erschaffen und zugleich dekonstruieren. Das führt zu einer theatralen Transparenz, die die Personen »wahrer als in Wirklichkeit« erscheinen lässt (Michalzik 2005). Der von der Aufführung hergestellte Bereich zwischen Realität und Fiktion, jene Mixed-Area zwischen Kunst und Leben, wirkt also katalysatorisch. Die Schäbigkeit und Intriganz politischen Verhaltens wird im Vergleich von lokal- und weltpolitischem Maßstab, von realer Alltäglichkeit und kunstvoll-idealistischer Überhöhung sichtbar. Die Differenz zwischen der Theatralität der Sozialwelt und der Theatralität des Kunsttheaters erweist sich als politisches Erkenntnismedium. Nicht nur Rimini Protokoll hat diese für sich entdeckt und nutzt sie publikumswirksam. Die kalkulierte Wirkung dieses »Theaters der Erfahrung« ist ambig (Wartemann 2002). Von einem »Einfühlungs- und Ausfühlungstheater« ist die Rede, also einem Theater der schnellen und starken Identifikation mit alltagsvertrauten und alltagsnahen Figuren-Personen und der zugleich hergestellten Distanz durch die Komik der doppelten Perspektive (Pressetext des Nationaltheaters Mannheim). Rimini Protokoll lässt sich etwas einfallen, um das Leben zu überlisten, wenn es auf einer seiner

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zahlreichen und jeweils verschiedenen Bühnen zum Hauptakteur gemacht wird. Immer ist Erfindung und Einlassung auf Vorgefundenes zugleich im Spiel, immer geht es um ein trickreich arrangiertes Wechselverhältnis, das Wirklichkeit »mit Mitteln des Theaters zugänglich macht« (Pressetext des Nationaltheaters Mannheim). Freilich sind die RiminiEinfälle oft nahe an gut ausgedachten Schülerstreichen, gleichsam die intellektuelle Variante von »Verstehen Sie Spaß?«. Das macht auch Rimini Protokolls Wallenstein lebendig und widersprüchlich heutig. Etwa wenn »Dr. Otto, CDU-Politiker und abgesägter Anwärter auf das Kämmerer-Amt der Stadt Mannheim« erneut die Scheinwerfer der Öffentlichkeit sucht und der Zuschauer bewusst im Unklaren gelassen wird, ob Otto dies tut, um sich zu rechtfertigen, um seine Gegner zu entlarven oder sich selbst darstellen zu können, ohne »von den eigenen Machtspielchen, vom unbeirrbaren Willen zur Macht, von Großspurigkeiten in Ausschüssen und Gremien« reden zu müssen (Langhals 2005). Blicken wir zurück auf die beiden vorgestellten Inszenierungen, so bestätigt sich der Anfangsverdacht: Politisches Theater heute ist vielfältig in seinen Darstellungsweisen und Sujets, nicht festzulegen auf eine Haltung oder Wirklichkeitssicht oder auf zwingend zu bearbeitende Themen und utopische Perspektiven, auch wenn das Erbe der Aufklärung versteckt oder offen wirksam bleibt. Dabei ist zu erkennen, dass die für das politische Gegenwartstheater festgestellte »Krise der Abbildung« wohl schon hinter uns liegt (von Düffel 2006: 18), so abbildungs- und medienreflexiv (Veiel), so spielerisch entspannt und einlassungsintensiv (Rimini Protokoll) betreiben heutige politische Theatermacher theatrale Wirklichkeitskonstitution. Dass wir bei all diesen Formen der Darstellung auf dem Theater sind und dieses als spezielles Erkenntnismedium mit eigenen Verfahren, Taktiken und Strategien fungiert, ist bei avancierten Produktionen offenbar immer präsent und transparent. Gegenwärtig ist in den theatralen Reaktionen auf die politische Gegenwart auch die Einsicht, dass die Gesellschaft und die Politik »einen Komplexitätsgrad erreicht hat, der sie praktisch und auch theoretisch unbeherrschbar macht.« Die sich an diese Feststellung anschließende Frage des Philosophen Wolfgang Kersting, warum das Theater »die gegenwärtige Theorielosigkeit nicht als Chance« begreife, »wieder Kunst zu betreiben« (Kersting 2006: 25), scheint gemessen an den hier gezeigten Exempeln eher rhetorisch zu sein. Das Gegenwartstheater betreibt Kunst, sucht nach politischen Künsten, die überraschen, analytisch wirksam und zuweilen auch traditionell im Sinne von geschichts- und kulturbewusst sind – siehe Wallenstein.

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Allerdings hat die vielfältig ausgeformte Ästhetik des politischen Gegenwartstheaters einen deutlich erkennbaren Bezugs- und Einheitspunkt. Sie interessiert sich für Menschen, um nicht zu sagen für das Menschliche. Dass es in ihr nicht ›menschelt‹, dass kein Betroffenheitskitsch um sich greift, dafür sorgen beide Inszenierungen. In ihnen ist die Forderung schon eingelöst, dass »das vielgeschmähte Menschliche [...] wieder den Vorrang vor dem Moralischen erhalten« sollte (Kersting 2006: 25). Wo Moralisieren als »Blockade jedes nüchtern politischen Diskurses« erkannt ist (Bolz 1997: 84), das Theater kein öffentliches Forum mehr ist, von dessen Kanzel Wertorientierungen oder prophetische Utopien erwartet werden, sondern eine Kunstform der Minderheit, bestenfalls einer Elite, kann auch wieder sachlich und verantwortungsbewusst, phantasievoll und spielerisch über die Möglichkeiten, die Defizite und Stärken, die Brutalitäten und Leiderfahrungen, die Sehnsüchte und Erwartungen des Menschen szenisch nachgedacht werden.

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FLUCHTFABELN UND LUFTWURZELN. DER BELGISCHE AUTOR TOM LANOYE ÜBER KAPITALISMUS, WISSENSCHAFT UND BIOPOLITIK IN SEINEM STÜCK FESTUNG EUROPA ZWISCHEN

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»Wir sind nicht das Epizentrum, so gerne wir das auch glauben möchten.« (Tom Lanoye, zitiert nach: Heene 2005)1

Noch vor wenigen Jahren schrieb das Frankfurter Satiremagazin Titanic über Belgien, es sei »das Land, das sie [die Deutschen, T.E.] nur vom Durchmarschieren kennen« (Schiffner/Sonneborn 1999: 14). Tatsächlich ist es erstaunlich, wie wenig Allgemeinwissen in Deutschland über das Nachbarland, seinen komplexen Föderalismus und seine Multilingualität existiert. Auch für die Präsenz von Belgien in der deutschsprachigen Literatur stellt Roland Duhamel resigniert fest: »Kein Nachbarland des deutschen Sprachgebiets ist in der deutschen Literatur so wenig präsent wie Belgien.« (Duhamel 1999: 9). Anders wird die Situation jedoch von den Liebhaber/innen der darstellenden Künste wahrgenommen, denn für ein mit seinen zehn Millionen Einwohner/innen kleines Land hat Belgien in den letzten Dekaden ein (Tanz-)Theater mit globaler Bekanntheit hervorgebracht. Seit den 1980er Jahren reüssierten international bekannte Theatermacher/innen wie Anna Teresa de Keersmaeker (*1960), Jan Fabre (*1958), Jan Lauwers (*1957) und seine Needcompany, Alain Platel (*1956), Wim Vandekeybus (*1963) und Luc Perceval (*1956) als ›Vlaamse golf‹ (dt. Flämische Welle). Mit Perceval arbeitet einer von ihnen seit 2005 als Hausregisseur an der Berliner Schaubühne, er wurde vor allem bekannt mit dem Stück Ten Oorlog (1997, dt. Schlachten!), einer Bearbeitung der 1

Im Original heißt es: »We zijn niet het epicentrum, hoe graag wij dat ook willen geloven.« 259

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Königsdramen Shakespears, die er zusammen mit Tom Lanoye (*1958) verfasste. Damit machte sich Tom Lanoye auch im deutschsprachigen Raum erstmals einen Namen als Theaterautor, im niederländischsprachigen Raum wurde er bereits mit nahezu allen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet, was die exemplarische Analyse eines seiner neueren Stücke zusätzlich legitimieren mag. Tom Lanoye hat sich in seinem Theatertext Fort Europa, der 2005 bei den Wiener Festwochen uraufgeführt wurde, intensiv mit Europas Verhältnis zu Politik, Ökonomie, Religion, Wissenschaft, Ethik und Geschichte beschäftigt. In den Niederlanden wurde die Uraufführung als »ein großes Erlebnis« und mit »Bewunderung« (Takken 2005)2 aufgenommen, in Flandern als Lanoyes Durchbruch im deutschsprachigen Raum gefeiert (De Morgen 2005; 2007), wobei die Rezensionen in Deutschland eher gemischt waren.3 Der vorliegende Beitrag möchte herausarbeiten, in welcher Weise Fort Europa von Tom Lanoye Europa als einen Kontinent des Kapitalismus, der Wissenschaft und der Biopolitik reflektiert, ironisiert und problematisiert.4 Zur angemessenen Kontextualisierung des Theatertextes werde ich in einem ersten Schritt den Topos ›Festung Europa‹ und die Besonderheiten der politischen Diskurse in Belgien reflektieren sowie das belgische Gegenwartstheater und Tom Lanoyes herausgehobene Bedeutung darin kurz skizzieren. Anschließend werde ich die dramatische Form und drei inhaltliche Komplexe des Theatertextes Fort Europa analysieren.5 2 3

4

5

Im Original heißt es: »De gewaagde radicaliteit van de voorstelling wekt echter bewondering op, en Fort Europa is hoe dan ook een grote belevenis.« Neben zahlreichen positiven oder gemischten Kritiken finden sich auch sehr kritische Stimmen. Der Tagesspiegel bezeichnet Lanoye als einen »geschwätzigen Dramatiker« (Mühry 2005), die Frankfurter Rundschau beklagt »die aufgeplusterten Geschichten, die so bedeutungsschwanger tun« (Hilpold 2005), Gerhard Stadelmaier kritisiert den Text in der FAZ als ein »Wehweh-Gesäusel von Wohlstandsleuten, die sich ›zersplittert‹ vorkommen und furchtbar weltschmerzig und aktualitätsgeil tun« (Stadelmaier 2005). Die Frage, in welcher Weise Fort Europa spezifische ›belgische, europäische, jüdische oder nomadische Identitäten‹ konstruiert, wird im vorliegenden Beitrag nur randständig thematisiert, weil dieser Aspekt ausführlich in einem Forschungsprojekt zum Thema ›Heimat‹ und Hybridität? Identitätskonzepte in Gegenwartsliteratur aus Luxemburg, Belgien und Deutschland analysiert wird, an dem ich seit 2008 an der Universität Luxemburg arbeite. Ich danke Maarten Soete und dem Vlaams Theater Instituut sowie Inge und Roger Arteel, Marrit Van Coillie und Els Degreyse, ohne deren Unterstützung dieser Text nicht in der vorliegenden Form hätte entstehen können. 260

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1. Die ›Festung Europa‹ und das vielstimmige Belgien. Theoretische und historische Hintergründe 1.1 Die Europäische Union als Handels- und Bio-Macht, zwischen Be- und Entgrenzungen. Zur ›Festung Europa‹ im Globalisierungsprozess Im Jahre 1957 vereinten sich mehrere mitteleuropäische Länder zu einer Wirtschaftsgemeinschaft, aus der 1993 die Europäische Union hervorging, zu der heute 27 europäische Staaten mit 500 Millionen Menschen zählen. Eine entscheidende Aufgabe der Europäischen Union ist es, in ihren Mitgliedsstaaten marktwirtschaftliche Strukturen durchzusetzen und auf diese Weise den Wirtschaftsraum Europa im globalen Vergleich (vor allem mit den USA, Russland und den großen asiatischen Ländern) zu stärken – Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf verstehen die Europäische Union daher primär als eine »globale Handelsmacht« (Altvater/Mahnkopf 2007: 142). Seit dem Schengener Abkommen von 1985 sind die meisten innereuropäischen Grenzen geöffnet worden, zugleich hat die Europäische Union zunehmend – gegen Formen unkontrollierter Zuwanderung – ihre Außengrenzen verstärkt. Von 1988 bis heute, so eine Informationsplattform zum Massensterben an den EU-Außengrenzen, sind »Presseberichten zufolge […] mindestens 13.239 Personen entlang der europäischen Grenzen gestorben«6, weshalb sich die Rede von der ›Festung Europa‹ etabliert hat. Seit den 1990er Jahren haben sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union um eine Harmonisierung ihrer Migrationspolitik bemüht, die sich in den Programmen von Tampere (1999) und Den Haag (2004) niedergeschlagen hat. Dabei ist angesichts des demografischen Wandels die Tendenz weg »von der selbstzerstörerischen ›Blockadepolitik‹ der Nullzuwanderung hin zu einer geregelten, wirtschaftlichen Einwanderung erkennbar«, für die es weniger um humane Aufnahmekriterien wie das Recht auf politisches Asyl gehen wird, sondern vielmehr darum, »geeignete Einwanderer für den EU-Arbeitsmarkt zu rekrutieren« (Jahn u. a. 2006: 40). Klaus J. Bade relativiert daher den Topos ›Festung Europa‹: »Die Rede von der ›Festung Europa‹ ist […] falsch und richtig zugleich: Sie ist falsch, weil Europa offen blieb für viele auf nationalen Ebenen erwünschte oder aufgrund […] universalistischer Prinzipien tolerierte Zuwanderer […]. Sie ist 6

Vgl. http://borderline-europe.de/news/news.php?news_id=60. 12.12.2008. 261

Stand:

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richtig im Blick auf die Zuwanderungsbeschränkungen beziehungsweise auf die Abwehr unerwünschter Zuwanderer, bevor sie über europäische Grenzen in den Geltungsbereich solchen Rechts und solcher Prinzipien kommen, was eine nur schätzbare, aber in jedem Fall unvergleichbar größere Zahl ausschließt.« (Bade 2002: 450).

Die Europäische Union beziehungsweise die ›Festung Europa‹ betreiben somit eine spezifische Bio-Politik, wie Michel Foucault die produktive und regulierende Kontrolle einer Bevölkerung bezeichnet hat. Als BioMacht habe seit dem 18. Jahrhundert der industrialisierte Kapitalismus in den Disziplinierungsapparaten Schule, Internat, Kaserne und Fabrik jene Körper verfertigt, die seine Produktionsapparate benötigten. Während der Souverän zuvor über das Recht verfügte, »sterben zu machen oder leben zu lassen«, so besitzt er seither die »Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.« (Foucault 1995: 165). Dass sich die Bio-Politik in einem Zeitalter der plastischen Chirurgie und der lebenden Cyborgs noch einmal anders beschreiben lässt, wird noch zu zeigen sein.

1.2 Eine vielstimmige Welthaltigkeit mit regionalen Abgründen. Belgien, Brüssel und die belgische Gegenwartsdramatik Der 1830 als parlamentarische Monarchie gegründete Staat Belgien, in dessen Hauptstadt Brüssel heute der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission sitzen, könnte – idealiter – der Europäischen Union als ein Modell für die Einheit in der Vielfalt dienen: Belgien verfügt inzwischen über eine sehr komplexe und bipolare föderalistische Struktur, die sich einerseits an den drei offiziellen Staatssprachen Niederländisch in der Flämischen Gemeinschaft (circa 60 %), Französisch in der Wallonischen Gemeinschaft (circa 40 %) und Deutsch in der Deutschsprachigen Gemeinschaft (weniger als 1 %) orientiert, andererseits am räumlichen Kontext (die Region Flandern umfasst die Flämische Gemeinschaft, die Region Wallonien den Raum der französisch- und der deutschsprachigen Gemeinschaft, daneben steht noch die Region der heute offiziell zweisprachigen Hauptstadt Brüssel). Dieses differenzierte politische System ist ein Ergebnis der widersprüchlichen historischen Entwicklungen in einem Land, das lange Zeit von den wallonischen Industriegebieten und der französischsprachigen Bourgeoisie vorangebracht wurde, während sich das arme agrarische Flandern benachteiligt fühlte; seit den 1960er Jahren – und der zunehmenden Europäisierung Brüssels, der Globalisierung der belgischen Ökonomie und dem schwierigen Strukturwandel der wallonischen Ökonomie – ist Flandern zum 262

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ökonomischen Motor Belgiens arriviert. Die veränderten politischen Gewichte haben seit den 1970er Jahren ihren Niederschlag in zahlreichen Staatsreformen gefunden, die darauf abzielten, die unterschiedlichen politischen Gemeinschaften in eine neue Balance zu bringen, damit ihre Einheit innerhalb der Vielfalt Belgiens bewahrt bleibt. Doch die gegenwärtigen Realitäten entsprechen kaum diesem vielstimmigen Ideal: Die niederländischsprachige und die französischsprachige Gemeinschaft sind bereits in sich in verschiedene politische Debatten verstrickt und blockieren sich zudem gegenseitig auf nationaler Ebene bei politischen Entscheidungs- und Regierungsbildungsprozessen, die sich als immer problematischer erweisen. Insbesondere die flämische Seite drängt aktuell auf eine sechste Staatsreform, die den Föderalismus noch eine Spur weiter treiben soll, weshalb seit wenigen Jahren einzelne Stimmen sogar darüber spekulieren, wann das Nationenkonstrukt Belgien auseinander fallen wird. Der Journalist Marc Reynebeau schließt seine Geschichte Belgiens mit einem Kapitel zum Thema »Schafft Belgien es bis ins Jahr 2084?« (Reynebeau 2003: 416)7 ab. Angesichts dieser Entwicklungen haben 2007 die jungen flämischen Theatermacher und Schriftsteller Geert Buelens, Jan Goossens und David Van Reybrouck (alle *1971) unter dem Titel Waar België voor staat. Een toekomstvisie (dt. Wofür beziehungsweise Wovor Belgien steht. Eine Zukunftsvision) einen Sammelband veröffentlicht, in dessen Vorwort sie darauf beharren, »dass die Zukunft von Flandern und Belgien in zunehmendem Maße städtisch und europäisch sein wird. Das heißt zugleich, dass sie mehrsprachig, interkulturell und abgegrenzt von jedem identitätsfixierten oder nationalistischen Denken sein wird, sei es nun flämisch, wallonisch, an Brüssel orientiert oder belgisch.« (Buelens u. a. 2007: 22).8 Sie vertrauen auf die global beachtete vielstimmige Welthaltigkeit im Theater des kleinen Belgiens, die sich mit der ›Flämischen Welle‹ in den 1980er Jahren etablierte und heute noch immer in verschiedenen belgischen Theaterprojekten präsent ist, trotz aller politischen Anfeindungen. In Kontrast zur politischen Situation haben 90 kulturelle Einrichtungen Belgiens am 23. Februar 2007 eine Zusammenarbeitsvereinbarung über die Sprachgrenzen hinweg unterzeichnet, in Brüssel arbeiten beispielsweise die von Jan Goossens geleitete Koninklijke Vlaamse Schouwburg und das Théâtre National unter Jean-Louis Colinet zusam7 8

Im Original heißt es: »Haalt België 2084?« Im Original heißt es: »Daarnaast moeten wij onder ogen zien dat de toekomst van Vlaanderen en België in toenemende mate stedelijk en Europees zal zijn. Dat wil dus ook zeggen meertalig, intercultureel en haaks staand op gelijk welk eng identitair of nationalistisch denken, of het nu Vlaams, Waals, Brussels of Belgisch is.« 263

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men. Auch das von Frie Leysen seit 1994 etablierte und inzwischen auch international anerkannte Kunstenfestivaldesarts hat sich die Überwindung der Sprachgrenzen auf die Fahnen geschrieben. Die flämischen Stadttheater zeichnen sich durch internationale Kooperationen aus, das Toneelhuis in Antwerpen (Leitung: Guy Cassiers) und das NTGent aus Gent (Johan Simons) sind jüngst ausführlich in Theater heute vorgestellt worden.9 Multilinguale Produktionen wie Dédé le taxi (2004) des Theaters Antigone in Zusammenarbeit mit der Compagnie du Tire-Laine oder Onze Lieve Vrouw van Vlaanderen (2005) von Union Suspecte belegen das (multilinguale) Potenzial der jüngeren belgischen Theaterszene. In diesen Kontexten spielt der flämische Prosaist, Theaterautor, Essayist, Kolumnist, Lyriker und Performer Tom Lanoye eine wichtige Rolle. Mit seinen Theaterstücken Ten oorlog (dt. Schlachten!, 1997), Mamma Medea (2001), Fort Europa (dt. Festung Europa, 2005) und Mefisto for ever (2006) war er auch außerhalb der belgischen Grenzen sehr erfolgreich. Lanoye, der im flämischen Antwerpen und im südafrikanischen Kapstadt lebt, schaltet sich zudem als intellektuelle Autorfigur immer wieder in politische Debatten ein, er gilt sogar als »der literarische Politiker Flanderns« (Lauwaert 2005b).10 So kandidierte er für die frühere grüne Partei Agalev und inszenierte sich als führender Vertreter der Schwulenbewegung, regelmäßig äußert er sich kritisch zum belgischen Migrationsdiskurs, zum flämischen Separatismus und zum Status Belgiens innerhalb Europas. Die Geschichte und Zukunft Europas ist auch das zentrale Thema seines Stückes Fort Europa.

2. Kapitalismus, Wissenschaft und Biopolitik in Fort Europa. Hooglied van de versplintering (2005) von Tom Lanoye Der Theatertext Fort Europa von Tom Lanoye entstand als Auftragsarbeit für die Eindhovener Theatergesellschaft ZT Hollandia und sollte deren letzte Inszenierung von Johan Simons sein, bevor dieser als Leiter zum NTGent wechselte. Das Stück erlebte am 8. Mai 2005 bei den Wiener Festwochen im Wiener Südbahnhof seine Premiere, just eine Woche, nachdem die Niederlande den Vertrag über eine Verfassung für Europa abgelehnt hatten. Später zeigte ZT Hollandia das Stück auch in Utrecht, bei der Ruhr-Triennale und auf dem Festival von Avignon. Im Jahre 2008 hat Johan Simons mit dem NTGent ein Remake seiner Wiener Auf9 Vgl. Klett 2006 und Klett 2007. 10 Im Original heißt es: »Tom Lanoye is gaandeweg uitgegroeid tot de literaire politicus van Vlaanderen.« 264

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führung – allerdings mit einem anderen Ensemble und veränderten Textauszügen – produziert und im Hortasaal des Brüsseler Palastes der Schönen Künste sowie in seinem Theater in Gent aufgeführt. Am 27. April 2008 schließlich erlebte die Inszenierung von Ali Abdullah im DBAusbesserungswerk in Trier ihre Premiere. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die deutsche Übersetzung von Rainer Kersten, der der niederländischsprachigen Vorlage Fort Europa. Hooglied van de versplintering den deutschen Titel Festung Europa. Hohelied der Zersplitterung gegeben hat.

2.1 Fabelhafte Fluchten. Zersplittert-ironische Hohelieder auf Europa Lanoyes ungewöhnlicher Theatertext ist von den Rezensent/innen in sehr unterschiedlicher Weise kategorisiert worden: Er sei »ein philosophisches Traktat« (Lauwaert 2005a), »eine politische Rede« (Lauwaert 2005b), »ein Klagelied der Enttäuschung« (Brink/Piël 2005)11 oder einfach »Erzähltheater vom Feinsten« (Rathmanner 2005). Wie ließe sich dieser Theatertext jedoch differenzierter beschreiben? Das Stück besteht aus einem Prolog und neun ›Kapiteln‹, die jeweils Monologe beziehungsweise Dialoge unterschiedlicher Figuren präsentieren. Zu Beginn werden diese Figuren verortet, wobei Lanoye den Topos von der begehrten ›Festung Europa‹ als Zielort ökonomisch schwacher Migrant/innen aus Osteuropa, Asien oder Afrika umdreht – die Gemeinsamkeit der Figuren in Fort Europa ist, dass sie allesamt aus allerdings sehr verschiedenen Gründen aus dem ›verbrauchten Kontinent‹ fliehen wollen und sich in einem virtuellen Bahnhofssaal der Zukunft treffen: »DIE ARENA ein nicht näher genannter Bahnhof, irgendwo im Inneren des verbrauchten Kontinents, um das Jahr 2020 DIE TEILNEHMER eine nicht näher definierte Zahl namenloser Reisender mit Gepäck, im Erscheinungsbild zwischen abreisefertigen Touristen, Flüchtlingen beim Abschied und Gefangenen vor dem Abtransport. Auf den ersten Blick sind sie von zufälligen Passanten nicht zu unterscheiden.« (Lanoye 2005: 3).

In der Wiener Aufführung inszenierte Simons das gesamte Stück im Wiener Südbahnhof zwischen realen Reisenden, im belgischen Remake 11 Im Original heißt es jeweils: »een filosofisch traktaat«, »een politieke redevoering« und »een klaagzang van teleurstelling.« 265

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saßen die Figuren um einen großen Tisch in einem virtuellen Wartesaal und präsentierten klassisches Texttheater, während diese Ausgangssituation in der Trierer Inszenierung – wenngleich sie in einem Bahn-Ausbesserungswerk stattfand – nicht offensichtlich wurde. Der niederländischsprachige Titel des Stückes, Fort Europa, lässt phonetisch – anders als der deutschsprachige Titel – auch noch den Imperativ ›Voort, Europa!‹ (dt. Weg mit Europa!) oder gar ›Voort uit Europa!‹ (dt. Weg aus Europa!) assoziieren. Geert Sels bewertet diese Grundsituation als »anregend, da man in einen Gedankengang gezwungen wird, der der Realität diametral entgegen steht.« (Sels 2005),12 und zugleich an die Ausgangsszene von Heiner Müllers Hamletmaschine erinnert: »Ich war Hamlet […], im Rücken die Ruinen von Europa.« (Müller 1990: 41). Die in die Zukunft projizierte umgekehrte Fluchtbewegung der Figuren steht in einem diametralen Gegensatz steht zu den aktuellen medialen Diskursen über die ›Flüchtlingsströme‹ nach Europa. Sie ermöglicht es Lanoyes Figuren, verschiedene Topoi über Europa und seinen Kapitalismus, seine Wissenschaften und seine Biopolitik zu problematisieren und zu reflektieren, indem die Flüchtenden erklären, warum sie aus Europa weggehen. Die Monologe eines Belgiers aus dem Ersten Weltkrieg, der beklagt, wie sein Land von den Deutschen überrannt wurde (Kapitel I), eines chassidischen Juden, der den Holocaust überlebte (III), einer Stammzellbiologin, die von ihrer Arbeit am ›Neuen Menschen‹ berichtet (V; Prolog), und eines Unternehmers, der über den Kapitalismus reflektiert und diesen zum Herzen Europas erklärt (VII), werden unterbrochen von den Dialogen unbenannter Europäer über die Fremdheit der Russen und ihrer Oktoberrevolution (VI) sowie dreier Kapitel, die unter dem Titel Was mir fehlen wird das ›europäische Erbe‹ auf übertrieben selbstgewisse Weise anhand dreier konkreter Beispiele lobpreisen: Kathedralen (II), Schopenhauer (IV) und Parmaschinken (VIII). Abschließend treten drei alte Prostituierte als drei Grazien auf, singen erst gemeinsam und präsentieren anschließend in ineinander verschlungenen Monologen die Beweggründe ihrer jeweiligen Flucht nach Asien (IX). 12 Im Original heißt es: »Het is prikkelend om in een gedachtegang gedwongen te worden die tegengesteld is aan de realiteit.« Weiter stellt Sels fest: »Es ist ein abgelebtes Europa, das allen Glanz verloren hat, ein bisschen so, wie Joseph Roth den nahenden Untergang der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie beschrieben hat.« (Sels 2005: »Het is een uitgeleefd Europa, dat alle glans verloren heeft, een beetje zoals Joseph Roth de nakende ondergang van de Oostenrijks-Hongaarse dubbelmonarchie beschreef.«) Bereits 2003 hat Geert Van Istendaele in seinem Roman De zwarte steen eine ähnliche Zukunftsvision eines verfallenden Europas gezeichnet, die bei ihm im Jahr 2092 spielt (vgl. Van Istendaele 2003). 266

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Einerseits handelt es sich somit bei Fort Europa keinesfalls um einen traditionellen Theatertext, in dem die Einheit von Raum und Zeit gewahrt bliebe und eine stringente Fabel erzählt würde, andererseits sind die Figuren und ihre Konflikte in sich so kohärent erzählt und wird der Text als Bedeutungsträger so zentral gesetzt, dass es sich nur schwerlich von einem postdramatischen Theatertext sprechen ließe.13 Die einzelnen Kapitel berichten chronologisch aus der europäischen Geschichte (der Belgier im Ersten Weltkrieg, der Jude im Zweiten Weltkrieg, der Unternehmer im Kalten Krieg, die Stammzellbiologin über die heutige Biopolitik), manche Figuren tauchen wieder auf (die Stammzellbiologin spricht den Großteil des Prologs und das Kapitel V; die Dialogpartner aus Was mir fehlen wird die Kapitel II, IV und VIII), teilweise stehen die monologisierenden Figuren in einem indirekten Dialog miteinander (so reflektiert der ›ewige Jude‹ im zweiten Kapitel über die chassidische Eigentumslosigkeit, während der Unternehmer im siebten Kapitel die Notwendigkeit des Eigentums in der kapitalistischen Welt zu plausibilisieren versucht). Zudem zeichnen sich alle Einzelmonologe durch eine »verräterische Doppelbödigkeit« (Sels 2005)14 aus (der ›ewige Jude‹ gesteht nach seinem Lob der Eigentumslosigkeit, dass er sich während des Zweiten Weltkriegs als Fluchthelfer bereichert habe; bei den anderen Figuren gibt es ähnliche Widersprüche). Wenn Hans-Thies Lehmann am Beispiel von Sarah Kanes 4.48 Psychose oder den Inszenierungen Jan Fabres, René Polleschs und Robert Wilsons »Formen eines postdramatischen Theaters der Stimmen« beschreibt, in denen »der Text in seinem ganzen Umfang als Poesie, Klangbild und Reflexion« (Lehmann 2004: 33) fungiert, so gilt dies nur eingeschränkt für Fort Europa. Die Idee von Europa als einem Hohelied, wie es der Untertitel anzeigt, wird zwar als zersplittert präsentiert, nicht jedoch die jeweilige Fabel der verschiedenen Figuren. Luk Van den Dries hat bereits zu Beginn der 1990er Jahre die Inszenierungen von De Keersmaeker, Fabre, Lauwers und Vandekeybus als ›postmodernes flämisches Theater‹ subsumiert und als deren Merkmale »Heterogenität« (das Verschwinden der Grenzen zwischen den Kunstformen), »ein erhöhtes Bewußtsein für die Körperlichkeit«, »semiotische 13 Dies widerspricht der Selbstinszenierung des Autors Tom Lanoye, der seinen Theatertext den Regisseuren als ›Steinbruch‹ zur Verfügung stellt, aus dem sie nur einzelne Stücke herausschlagen sollten: »Meine Anweisung an den Regisseur lautet: Schneide und collagiere und verschiebe! Es würde mich enttäuschen, wenn er eine formvollendete Version meines Textes präsentieren würde.« (Lanoye, zitiert nach: Plottier 2005: »De aanbeveling aan de regisseur is: knip en plak en schuif maar. Het zou me zeer teleurstellen mocht hij met een keurig afgewerkte lezing van de tekst afkomen.«) 14 Im Original heißt es: »De portretten hebben een verraderlijke dubbelheid.« 267

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Mehrdeutigkeit«, »Eklektizismus« und einen experimentellen Umgang mit szenischen und schauspielerischen Mitteln benannt (Van den Dries 1993: 32–36). Alle diese Merkmale spielen in Lehmanns späterer Bestimmung des ›postdramatischen Theaters‹ eine entscheidende Rolle (vgl. Lehmann 1999). Während Van den Dries für das ›postmoderne flämische Theater der 1980er Jahre‹ feststellt, es habe »den Text als selbstverständliches Zentrum des Theaterschaffens schon lange aufgegeben« (Van den Dries 1993: 35), so bleibt dieser bei Lanoye – auch in seiner Semantik und seiner quantitativen Wucht – zentral, weshalb sich die folgenden Analysen hauptsächlich auf den Text und weniger auf seine Inszenierungen beziehen.

2.2 Der ›ewige Jude‹, selbstgerechte Europäer und der Unternehmer. Über Eigentum(-slosigkeit) und das kapitalistische Europa Durch die Monologe in Fort Europa ziehen sich Reflexionen über den Kapitalismus sowie den Stellenwert von Eigentum und Arbeit, wobei die Figuren zu sehr unterschiedlichen Bewertungen kommen, jedoch allesamt an ihrem eigenen ökonomischen Ideal gescheitert sind oder aber dieses anzweifeln. Der ›ewige Jude‹ lobt die Lehren der Chassidim und ihren Nomadismus, der gepaart ist mit dem Gebot der Besitzlosigkeit: »Was sind Boden und Besitz – außer Selbstbetrug und Raub? Der einzige Boden, den man besitzen kann, ist das Grab. Und selbst den besitzt man nicht. […] Der Besitz eines Landes richtet ein Volk zugrunde.« (Lanoye 2005: 18). Im Laufe seines Monologs entlarvt sich der ›ewige Jude‹ jedoch als ein egoistischer und windiger Geschäftemacher, der im Zweiten Weltkrieg auf betrügerische Weise einen Fluchthelfer spielte und sich einem Prozess unterziehen musste: »Ich – ein Erpresser, versessen auf Geld, Sex und Macht.« (Lanoye 2005: 25). Damit reproduziert Lanoyes Text das antisemitische Klischee des geldgierigen und verbrecherischen Juden, das auch im nationalsozialistischen Propagandafilm Der ewige Jude (1940) zentral steht. Während der Film jedoch schließlich mit Hitlers Worten die ›Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa‹ ankündigt, wird der ›ewige Jude‹ in Lanoyes Text ›nur‹ aus der – hier als ethisch und religiös integer präsentierten – jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen, muss deshalb aus Europa fliehen und erneut auf Wanderschaft gehen. Eine problematische Figur stellt sich auch im Kapitel Der Unternehmer kapituliert vor: Während sich seit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine »inflationäre Rede von Ich-AGs und Intrapreneuren«

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(Bröckling 2004: 272f.) etabliert hat und der Typus des Unternehmers »zum Leitbild zeitgenössischer Subjektivität« geworden ist, konstatiert der Unternehmer in Lanoyes Stück, er sei in Europa »zum Schimpfwort geworden« und werde mit seinem »Koffer voller Aktien und Geld« (Lanoye 2005: 52) ausgerechnet nach Argentinien fliehen, das noch im Jahre 2001 seinen Staatsbankrott erklären musste. Im Angesicht seines vorgeblichen Scheiterns – von dem realhistorisch zum Zeitpunkt der Textveröffentlichung noch keine Rede sein kann – singt der Unternehmer das Loblied auf den westlichen Kapitalismus, indem er dessen Grundsätze rekapituliert, den Untergang des Kommunismus verkündet und bis zur Lächerlichkeit für die heilende Kraft der ökonomischen Globalisierung wirbt: »Handel ist Frieden! […] Handel ist weltumspannende Bruttonationalglückseligkeit!« (Lanoye 2005: 55). Der Kapitalismus wird ihm zur Religion, er selbst stilisiert sich – mit Hilfe intertextueller Bibelbezüge – als Jesusfigur: »Ich bin, der ich bin.« (Lanoye 2005: 55) heißt es, und über seine Gegner: »Ich vergebe ihnen. Sie wissen nicht, was sie sagen.« (Lanoye 2005: 52). Der Kapitalismus und seine Unternehmer inszenieren sich jedoch nicht nur als gottähnliche Kräfte, sie akkumulieren auch erfolgreich die Ideologie ihrer Feinde: »Wir sind die wahren Kommunisten!« (Lanoye 2005: 56). Schließlich entlarvt der Unternehmer noch den enthumanisierenden Charakter seiner kapitalistischen Ideologie: »Ich = Geld.« (Lanoye 2005: 57). An der Figur des ›ewigen Juden‹ zeigt Lanoye – indem er ein antisemitisches Klischee ebenso reproduziert wie dekontextualisiert –, dass es selbst gläubigen Menschen unmöglich ist, sich dem kapitalistischen System von Eigentum und Gewinnmaximierung zu entziehen. Mit dem Typus des kapitalistischen Unternehmers präsentiert er eine hegemoniale Figur der Gegenwart, die sich durch ihre übertriebene pro-kapitalistische Haltung der Lächerlichkeit preisgibt. Auf diese indirekte Weise – die jedoch auf einer widersprüchlichen Konstruktion basiert – bringt Lanoye eine seiner in einem Interview zum Stück geäußerten Haltungen auf die Bühne: »Das größte Manko von Europa ist, dass man es nur als ein Europa der Ökonomie begreift. Gott sei Dank wird Europa immer wichtiger, aber es ist zu wenig ein soziales Europa, ein kulturelles Europa, ein philosophisches Europa und ein wissenschaftliches Europa.« (Lanoye, zitiert nach: Snoekx 2008).15 Doch auch dieses scheinbar gelobte Europa der Wissenschaft und der Aufklärung, dessen Fundamente gegenwärtig

15 Im Original heißt es: »Het belangrijkste manco van Europa is dat men het alleen een Europa van economie laat zijn. Godzijdank, Europa wordt belangrijker en belangrijker, maar het is te weinig een sociaal Europa, een cultureel Europa, een filosofisch Europa en een wetenschappelijk Europa.« 269

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unter dem Primat der Ökonomie ausgehöhlt werden, wird in Fort Europa problematisiert, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

2.3 Vom humanistischen Kanon zur Stammzellbiologie. Wie die Aufklärung in ein neues religiöses Schöpfungsdenken umschlägt Die Entwicklung des aufklärerischen Denkens, eine zentrale europäische Leistung der letzten Jahrhunderte, hat sich in ihren Wirkungen als äußerst ambivalent erwiesen. Hegels kolonialistische Beschreibung eines ›Weltgeistes‹, der die Weltgeschichte vorantreibe und in Europa zu sich selbst finden werde, während beispielsweise der »Neger […] nichts an das Menschliche Anklingende« (Hegel 1986: 122) besitze, ist ein frühes Beispiel für die Konstruktion eines europäischen Superioritätsgefühls gerade durch das aufklärerische Denken, das nur vorgeblich für die Gleichheit aller Menschen eintritt und sich selbst als ›gleicher‹ setzt. Als Resultat der Katastrophen des 20. Jahrhunderts haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Dialektik der Aufklärung beschrieben, die den rationalen Menschen der Moderne in die Position versetzt hat, Barbareien in technisch ungeahnten Ausmaßen anzurichten (vgl. Horkheimer/ Adorno 2003). Im Kapitel Was mir fehlen wird: Schopenhauer rekonstruieren zwei namenlose Europäer eingangs einen Kanon europäischer Bildung (Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard, Erasmus von Rotterdam und Thomas von Aquin) und leiten aus diesem, der europäischen Wissenschaftstradition und den allgemeinen Menschenrechten ein kulturelles Superioritätsgefühl ab, das sie zu ihrer Distinktion von »Bimbos und Schlitzaugen« (Lanoye 2005: 36) nutzen. Sie erscheinen somit als eine Karikatur des »archetypischen Europäers, der komplett von sich ergriffen ist, in Abgrenzung vom Rest der Welt« (Lanoye, zitiert nach: Bozar 2008)16 – und den Lanoye nach eigener Aussage in seinem Text problematisieren möchte. Im weiteren Verlauf stellt sich ihr selbstzufriedener Dialog jedoch infrage, als die beiden Europäer ihre eigene geistige Kultur als verweichlicht und ›weibisch‹ entlarven und ›das Fremde‹ als ›männlich‹ konnotieren: »Aber ’ne AK-47 über der Schulter und ’ne halbe Erektion zwischen den Beinen. Das ist der moderne Neger. Bei manchen war’s auch ’ne ganze Erektion.« (Lanoye 2005: 39). Auf diese Weise wird das 16 Im Original heißt es: »Voor mij is de archetypische Europeaan de compleet van zichzelf vervulde Europeaan die tegen de rest van de wereld, Amerika incluis, verkondigt: ›Luister jongens, wij hebben uitgevonden dat iedereen gelijk is en daarom zijn we superieur.‹« 270

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rassistische Stereotyp vom ›virilen Afrikaner‹ genutzt, um eine Gefahr für den verweichlichten Kontinent Europa zu konstruieren, dessen Bildungskanon nicht mehr ›wie ein Fels in der Brandung steht‹. Die europäische Superiorität wird schließlich von den beiden Dialogpartnern in der Imagination einer analen Penetration Schopenhauers durch afrikanische Geschäftsleute dekonstruiert: Europa wird hier zu einer schwul-weibischen Opferregion. Im Gegensatz zu dieser Relativierung der europäischen Philosophieund Wissenschaftstradition, wie sie sich auch in den Schriften der postkolonialen Theoretiker wie Homi K. Bhabha, Edward W. Said oder Gayatri Chakravorty Spivak sowie in Jean-François Lyotards Proklamation des ›Endes der großen Erzählungen‹ finden lässt, steht die von Lanoye konstruierte Figur der Stammzellbiologin, die an der Entwicklung eines ›Neuen Menschen‹ arbeitet. Diese Figur ist im Kontext des Stückes in doppelter Weise zentral: Erstens bildet ihr Monolog als fünftes von neun Kapiteln das Zentrum im chronologischen Verlauf des Stückes und zweitens besteht auch der Prolog des Stückes zu großen Teilen aus ihrer Ankündigung des ›Neuen Menschen‹. Überraschenderweise konstruiert Lanoye seine globalisierte Stammzellbiologin, die rastlos zwischen Europa und den USA hin- und herreist, deren beste Kollegen in Japan arbeiten und die nun für die freie Forschung nach Dubai gehen muss, als eine ›Nonne der Wissenschaft‹ und relegitimiert somit nach dem ›Ende der großen Erzählungen‹ die Wahrheiten der Wissenschaft durch ihre Adelung zu Glaubenssätzen: »Wenn ich arbeite, ist mein Tagesturnus mein Rosenkranz. Das Los der Laborwissenschaftlerin. Ein Mensch des Mittelalters würde mich Nonne nennen.« (Lanoye 2005: 44). Die Stammzellbiologin nimmt das neutrale Geschlecht ihres Produktes vorweg, indem sie – als Frau – nicht leiblich, sondern durch geistige Tätigkeit gebiert. Auch der ›Neue Mensch‹ soll über eine uneindeutige Geschlechtlichkeit verfügen: »Der Neue Mensch ist gleichzeitig Mutter, Tochter, Gattin, Geliebte, Enkelin und Großmutter, gleichzeitig Vater, Sohn, Gatte, Geliebter, Enkel und Großvater.« (Lanoye 2005: 5), womit ein neuer Schritt in der europäischen Geschichte erreicht würde, denn bislang sei Europa, so die Forscherin, »ein Matriarchat, kolonisiert von drei patriarchalen Religionen.« (Lanoye 2005: 43). Die Diffusion der binären Geschlechtermatrix vollzieht sich jedoch in einem geistigen Akt, der die wissenschaftliche Welt der Forschung mit einem religiösen Schöpfungsmythos zusammen denkt. Tatsächlich hat Lanoye in einem Interview formuliert: »Religion ist für viele Europäer eine bedrohliche Angelegenheit geworden. Warum eigentlich? Die europäische Wissenschaft sagt eigentlich: ›Es gibt keine andere als die europäische Wissenschaft, wir sind die Wissenschaft.‹ So

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ist die Wissenschaft eine Religion geworden, ein Kult, der im Namen der Skepsis die Skepsis ausschließt.« (Lanoye, zitiert nach: Bozar 2008).17 Unklar bleibt jedoch, in welche Richtung die Konstruktion einer ›Verweiblichung‹ des europäischen Denkens (die man hier als Problematisierung seines delegitimierten humanistischen Kanons verstehen kann) sowie einer geschlechtsneutralen und religiösen Forscherfigur, deren Ziel die Reproduktion eines idealen europäischen Denkens bleibt (»Der Neue Mensch ist Europa in Höchstform.« [Lanoye 2005: 47]), dann noch weisen soll.

2.4 Das Europa der abgetakelten Huren. Drei Grazien und ihre biopolitischen Visionen Im letzten Kapitel treten drei Grazien als abgetakelte Prostituierte auf, die zunächst gemeinsam die Unterschiede von Mann und Frau besingen und anschließend in einem Mosaik ihrer miteinander gekreuzten Monologe ihre unterschiedlichen Beweggründe für ihre Flucht von Europa nach Asien erläutern. Das Motiv der ›alten Huren‹ hat dabei eine mehrfache Funktion: ›ouwehoeren‹ (dt. altehuren) ist erstens ein niederländischsprachiger Ausdruck für ›tratschen‹ und somit ein angemessener Verweis auf die Geschwätzigkeit der Frauen; zweitens bestärkt ihr Auftritt an prominenter Stelle, zum Finale des Textes, noch einmal die Konstruktion eines ›verweichlichten, weibischen‹ Europas der Gegenwart; drittens unterstützt auch dieses Kapitel die Verfallsgeschichte eines humanistischen europäischen Kanons: Die drei Grazien der Antike sind in der Gegenwart nur noch in ihrer Karikatur als abgetakelte Huren auf die Bühne zu bringen. Alle drei Grazien sind inzwischen körperlich verfallen, sie liefern zahlreiche Beispiele für ihre Erfahrungen mit brutaler männlicher Gewalt, die ihre Körper zerstört hat: »Ein Kunde hat mir mal den Kiefer gebrochen, ich musst [sic!] ihm hinterher noch einen blasen.« (Lanoye 2005: 65). Alle drei präsentieren auf unterschiedliche Weise den europäischen Widerspruch zwischen einem wirkungsmächtigen Kapitalismus, der ihnen die ›freiwillige‹ gewinnträchtige Bereitstellung ihrer Körper als Objekte sexueller Handlungen abverlangt, sowie ethischen und rechtlichen Prinzipien, die ihnen die freie Verfügung über ihre Körper – als 17 Im Original heißt es: »Godsdienst blijkt voor veel Europeanen heel bedreigend. Waarom eigenlijk? De Europese wetenschap zegt eigenlijk: ›er is geen andere dàn de Europese wetenschap, wij zijn dé wetenschap.‹ Zo is die wetenschap wel verworden tot een religie, een eredienst die in naam van de scepsis heel wat scepsis uitsluit.« 272

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wissenschaftliches Versuchsobjekt oder im Suizid – verbieten. Die drei Prostituierten möchten nun die Verfügungsgewalt über ihren Körper (jenseits ihrer beruflichen Tätigkeiten) wiedergewinnen, haben dabei jedoch unterschiedliche Ziele. Das »wiederherzustellende Mädchen« hat sich bei einem Freier mit AIDS infiziert und möchte nun seinen Körper in Asien erneuern lassen, um sich dann in Europa für die Krankheit zu rächen: »Rache! Süße Rache! Blinde Rache! Zur Vergeltung braucht man Leiber!« (Lanoye 2005: 71). In Europa jedoch werden die chirurgischen Operationen, die ihr – trotz ihrer Infizierung – einen jungen Körper und also eine angemessene Rache ermöglichen würden, nicht erlaubt: »Hier darf man gar nichts mehr. Alles ist reglementiert. Warum darf ich nicht die wieder werden, die ich mal war? Was ist da unmoralisch dran?« (Lanoye 2005a: 66). Die »Sterbenskünstlerin« will ihr Leben beenden und reist nach Asien, um an einem Euthanasieprogramm teilzunehmen, das in Europa nicht erlaubt ist: »Ich will gehen. Will endlich gehen dürfen. Sterben. […] Zehntausende haben mit mir gemacht, was sie wollten. Zehntausende von Männern mit einer Erektion. […] Und jetzt darf ich mit meinem Körper nicht machen, was ich will.« (Lanoye 2005: 67). In dieser Figur wird der Widerspruch zwischen dem ökonomisch-kapitalistischen und dem ethisch-juridischen Diskurs in Europa in besonders prägnanter Weise zusammengeführt: Der Prostituierten, die sich im ›normalen Leben‹ als Objekt sexueller Befriedigung anbieten darf, wird zugleich die Entscheidung verboten, ihr physisches Leben aus freiem Willen zu beenden, weshalb sie – zynischerweise – als ausbeutbares Objekt patriarchalischer Gewalt gesellschaftlich verfügbar bleiben muss. Die »verhinderte Mutter« will mit 68 Jahren noch ein Kind bekommen und muss deshalb nach Asien gehen, um sich dort den entsprechenden Eingriffen zu unterziehen, weil auch diese in Europa unmöglich beziehungsweise verboten sind. Sie macht die materiellen Grenzen körperlicher Potenziale sichtbar, postuliert allerdings deren wissenschaftlich-technische Überwindung: »Ich bin erst achtundsechzig. Die Grenzen – alle Grenzen – sind Gott sei Dank nicht mehr, was sie mal waren: Grenzen.« (Lanoye 2005: 69). Zudem träumt sie folgerichtig von der Überwindung kultureller Begrenzungen wie dem Inzesttabu: »›Mutterficker‹ – ach, warum nicht? Wenn es mit Liebe geschieht? Ich hätte nichts dagegen, wenn mein Junge das will.« (Lanoye 2005: 73). Die Hoffnungen der pensionierten Prostituierten auf ihre revitalisierte Reproduktionsfähigkeit schlagen jedoch in übertriebene und biologistische Mutterschaftsphantasien um. Sie erhofft sich »ein ganzes Dutzend« Söhne und imaginiert sich als Ur-Wölfin mit »zwölf Zitzen« (Lanoye 2005: 75), die

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dann nur mehr »ein Glied in der Kette der Natur« (Lanoye 2005: 76) darstellen wird. Diese drei miteinander verschränkten Monologe machen auf je verschiedene Weise die von Michel Foucault beschriebene Bio-Macht sichtbar, mit deren Hilfe kapitalistische Systeme Bevölkerungen produziert sowie individuelle Körper ausbeutbar gemacht und zugleich mit Verboten diszipliniert haben. Der Kapitalismus, so schreibt Foucault, wäre nicht möglich gewesen »ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse« (Foucault 1995: 168). Lanoye zeigt an den drei alten Prostituierten, dass die Beschränkung des freien Willens, der wissenschaftlichen Umgestaltung und der freiwilligen Selbstliquidation von Körpern im kapitalistischen Europa zugleich deren ökonomische, sexistische und physische Ausbeutung durch andere ermöglicht. Wenn Wilfred Takken jedoch in den Monologen der drei Grazien ein »feministisch gefärbtes Manifest« (Takken 2005)18 entdeckt, so ist dies eine euphemistische Bewertung: Während beispielsweise Donna Haraway in ihrer Cyborg-Theorie den Überschreitungen von Körperbegrenzungen einen utopischen Charakter zur Überwindung der binären Geschlechtmatrix verleiht (vgl. Haraway 1995), zielen die drei Grazien in Lanoyes Stück auf Körperveränderungen oder -modifikationen (Schönheitsoperation, Schwangerschaft einer alten Frau, Euthanasie) ab, die komplett oder in eingeschränktem Maße heute bereits möglich sind und die die binäre Geschlechtermatrix eher reproduzieren als problematisieren. Tatsächlich interpretiert Lanoye das finale Stück seines Textes als Beleg, dass jenseits aller Auflösungen geografischer oder politischer Grenzen die körperlichen bestehen bleiben: »Es gibt keine Grenzen, außer jenen des Alters, des Leibes, des Verfalls und des Blutes.« (Lanoye, zitiert nach: Snoekx 2008).19

3. Europa, Belgien und Fort Europa als Projekte mit Luftwurzeln. Ein Fazit Tom Lanoyes Stück Fort Europa kehrt den Topos von der ›Festung Europa‹, die sich gegen Migranten abschottet, um: Europas Humanismus und seine Aufklärung sind von einem aggressiven Kapitalismus und dem ebenso biopolitischen wie schöpfungsmythologischen Glauben an die 18 Im Original heißt es: »Dit feministisch getinde manifest«. 19 Im Original heißt es: »er zijn geen grenzen, tenzij die van de leeftijd, van het lijf, van de ouderdom, van de aftakeling, het verval, en het bloed.« 274

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Konstruktion eines ›Neuen Menschen‹ verdrängt worden – nun rettet sich, wer kann, vor diesem ›verbrauchten Kontinent‹. Bemerkenswert ist, dass die Verkehrung dieses Topos zugleich geschlechtlich konnotiert wird: Das heutige Europa sei ›verweichlicht‹ und ›weibisch‹, während die anderen Kontinente eine virile ›Männlichkeit‹ und eine utopische neue ›Stärke‹ versprächen – wobei die Geschlechterzuschreibungen an die Kontinente zwar umgedreht, in ihrer dichotomischen Struktur jedoch fortgeschrieben werden. Der Text entstellt das Superioritätsgefühl selbstgewisser Europäer zu einer Karikatur, die nur noch als ironische Geste zu ertragen ist. Ganz in diesem Sinne bekommen am Ende des Stückes auch die Künstler und Intellektuellen ihre Bedeutungslosigkeit aufgeschrieben, und das ausgerechnet von einer »Sterbenskünstlerin«: »Vertrau nie Künstlern oder Intellektuellen. […] Ich habe sie in mir gehabt, trau keinem von ihnen. Schon gar nicht Künstlern in der Politik. Hütet euch vor Idealisten und Träumern. Ich kann euch die Narben zeigen, allein auf meinem Körper. Sie müssen weg. Alle müssen weg. […] Wir müssen lernen, umherzustreifen – oder lernen zu sterben.« (Lanoye 2005: 78).

Der politische Text des für sein intellektuelles Engagement bekannten Autors Tom Lanoye schließt somit aporetisch, da er in seinem Wahrgenommenwerden für sein Verschwinden plädiert, seine Existenz dient der Begründung seiner Nicht-Existenz. Anders gesprochen: Die reflexiven und ästhetisch komponierten Bezugnahmen auf Kunst, Wissenschaft und Philosophie machen den Theatertext Fort Europa erst zu jenem Ereignis, das die Bedeutungslosigkeit ästhetisch durchkomponierter Kunstwerke und der reflexiven Wissenschaften und Philosophien im durchökonomisierten europäischen Leben sichtbar macht. Es ist kein Zufall, dass Fort Europa als ein gutes Beispiel belgischen und europäischen Gegenwartstheaters gelten kann: Es kann die Fundamente, die es zu seiner Existenz benötigte, nirgendwo mehr finden, stört sich aber nicht daran und existiert einfach weiter. Wohl dem, der Luftwurzeln schlagen kann!

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DOPPELTE BUCHHALTUNG I N D E R F A M I L I E N -F I R M A . THOMAS MANNS BUDDENBROOKS IN DER BÜHNENFASSUNG JOHN VON DÜFFELS MIT EINEM BLICK AUF HEINRICH BRELOERS VERFILMUNG ORTRUD GUTJAHR

Thomas Manns Buddenbrooks ist ein Jahrhundertroman, der im Prisma des Generationenvertrags einer norddeutschen Kaufmannsfamilie von den Veränderungen in der patrizischen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts erzählt. Der Roman thematisiert über vier Generationen hinweg den Verlust einer genealogischen Ordnung, vermittels derer nach Familientradition der Weg für die Nachkommen gebahnt werden konnte. Buddenbrooks ist mithin auch ein Roman über ein durch kaufmännisches Arbeitsethos abgesichertes, Privilegien verbürgendes Familienleben, das Thomas Mann selbst mit dem Tod seines Vaters und der Auflösung von dessen Handelsfirma im Jahre 1891 verloren hatte (vgl. Mann 1926). Nach Beendigung der Schule und dem Umzug von Lübeck nach München begann er auf Ermutigung von Samuel Fischer Ende Oktober 1897 mit der Niederschrift seines ersten Romans, den er im Juli 1900 beendete.1 Der 25-jährige Autor, der auf dem Buchmarkt noch keinesfalls reüssiert hatte, verweigerte sich mit Verve der Forderung seines erfahrenen Verlegers, den zum Druck eingereichten Erstlingsroman um die Hälfte 1

Zu einer Zeit, als sich Mann erst noch als Schriftsteller versuchte, erklärte sich Samuel Fischer nicht nur bereit, einen Band mit Novellen von ihm zu veröffentlichen, sondern schlug ihm in einem Brief vom 29. Mai 1897 auch vor, »ein größeres Prosawerk« von ihm zu veröffentlichen, »vielleicht einen Roman, wenn er auch nicht so lang ist.« (Zitiert nach: Scherrer 1958: 258f.) Obwohl Thomas Mann nicht glaubte, dass er »jemals die Courage zu einem solchen Unternehmen finden würde«, machte er sich umgehend an die Vorarbeiten zu seinem Roman, der ursprünglich Abwärts heißen sollte (Mann 1975: 101). Ende Oktober 1897, im Alter von 22 Jahren, begann Thomas Mann in Rom mit der Niederschrift. 279

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zu kürzen, und erklärte mit selbstbewusster Bestimmtheit unumwunden, »daß der große Umfang eine wesentliche Eigenschaft des Buches sei und daß man es verpfusche, wenn man damit nach seinem Willen umgehe« (Mann 1975: 34). Der Roman erschien Anfang Oktober 1901 mit einem Umfang von 1.100 Seiten in zwei Bänden und wurde 1903 in einer einbändigen Ausgabe aufgelegt. Buddenbrooks wurde zu einem Erfolgsroman, für den Mann im Dezember 1929 in Stockholm den Nobelpreis für Literatur erhielt, und zählt zu den bekanntesten und meistgelesenen Romanen der deutschen Literatur. Über diesen Roman fand Mann einen Weg, sich der Person und Lebensauffassung seines Vaters anzunähern und damit auch seinen eigenen Übergang von der Kaufmannswelt in die Welt der künstlerischen Moderne zu reflektieren. So hat er sich denn auch freimütig zum autobiografischen Gehalt der Buddenbrooks bekannt. Bei der Niederschrift nutzte er die Firmenbücher wie auch die Chronik seiner eigenen Familie als Ideenfundus (zur Entstehung vgl. Moulden/ Wilpert 1988: 1–61). Zugleich aber transformierte er das Familienbuch zu einem erzählerischen Leitmotiv, das es ihm erlaubte, durch Datumsangaben und die knappe Skizzierung von dazugehörigen Ereignissen den Verlauf der Zeit zu strukturieren wie auch den allmählichen Untergang des Handelshauses zu verdeutlichen. Durch diese chronikartigen Einschübe erübrigten sich langwierige Rückblenden, da Erfahrungen früherer Generationen nicht eigens als Erinnerung einer der Figuren szenisch vergegenwärtigt werden mussten, sondern knapper Bericht bleiben konnten. Somit erlaubte der Schreibgestus ›Eintragung in die Familienchronik‹ in buchhalterischer Manier, der epischen Breite des Romans extreme Zeitraffungen entgegenzusetzen. Dieses Verfahren der Zeitraffung und Ereignisverdichtung zu einer Art Familien-Buchhaltung wurde für John von Düffels Bühnenfassung der Buddenbrooks zum leitenden Prinzip.

Abschreibung und Verdichtung: Vom Roman zur Bühnenfassung John von Düffel – Dramaturg am Thalia Theater Hamburg und selbst Autor von Familienromanen wie Vom Wasser (1998) und Houwelandt (2004) – hat mit seiner Bühnenfassung der Buddenbrooks ein episches Kontinuum von rund 1.000 Seiten, dessen erzählte Zeit mehr als vier Jahrzehnte umfasst und eine Folge von vier Generationen integriert, für die Anforderungen der Bühne in Dialoge zerschlagen, auf eine überschaubare Zahl an Figuren reduziert und auf einen dramaturgisch vertretbaren Zeitrahmen zusammengekürzt. Die Bühnenfassung zeigt ein auf

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die Geschwister Thomas, Tony und Christian Buddenbrook konzentriertes szenisches Spiel, bei dem das kaufmännische Diktat der Gewinnmaximierung als sämtliche Beziehungen erfassender psychischer Zwangsmechanismus erkennbar wird. Aus der Fülle von Erzählsträngen in Manns Roman wurden sowohl monetäre als auch emotionale Ökonomisierungsprozesse als Movens der dramatischen Handlung herausgefiltert. Gerade in dieser thematischen Fokussierung konnte das Stück zu einem profitablen Erfolg auf dem Theater werden. Düffels Bühnenfassung, die in der Inszenierung von Stephan Kimmig am 13. Dezember 2005 am Thalia Theater Hamburg ihre Uraufführung erlebte, wurde auch an zahlreichen anderen deutschsprachigen Theatern in den Spielplan aufgenommen.2 Das weitläufige Personeninventar des Romans wurde von Düffel auf Kammerspielgröße gekürzt. Im Zentrum stehen die drei Geschwister Thomas, Christian und Tony, die Großeltern fehlen, die Eltern wie auch Hanno als Vertreter der nächsten Generation spielen Nebenrollen. Die Zeit der Handlung umfasst hier die Zeit vor Tonys erster Heirat bis zum nahen Tod von Thomas. Im Hinblick auf die Gesamtproportion nehmen die Szenen um den Bankrotteur Bendix Grünlich und den Bankier Kesselmeyer breiten Raum ein wie auch die Reaktion von Thomas auf seine verwitwete Mutter, als diese der Kirche eine hohe Geldsumme vermacht. Manns Familienroman mit seinen detailgenauen Charakterzeichnungen, Situationsbeschreibungen und Stimmungsschilderungen ist in John von Düffels Bühnenfassung zu einem Trauerspiel der (Groß-)Bürgerlichkeit geworden, das seinen Grundkonflikt im Versuch der drei Protagonisten findet, ihre Lebensplanung am Firmenimperativ der Vermögensoptimierung zu orientieren. Das Schauspiel macht im straff skizzierten Entwicklungsgang der Geschwister ein dreifaches Scheitern an dieser Vorgabe zum Thema. Die Kapitalbilanzen stehen so sehr im Brennpunkt, dass im Sog des abfließenden Geldes Firma und Familie zu Synonymen unabwendbaren Untergangs werden. So wird statt eines Vorhangs gleich zu

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Das Stück wurde unter anderem 2006 in Bern (Regie: Barbara-David Brüesch) und am Schauspielhaus Düsseldorf (Regie: Michael Talke) aufgeführt, 2007 an den Theatern in Dortmund (Regie: Hermann Schmidt-Rahmer) und Lübeck (Regie: Pit Holzwarth) sowie am Schleswig-Holsteinischen Landestheater (Regie: Franziska Steiof) und im Theater Magdeburg (Regie: Wulf Twiehaus), 2008 am Saarländischen Staatstheater (Regie: Stephan Suschke) und am Staatsschauspiel Dresden (Regie: Hermann Schein), 2009 in Kooperation mit den Bregenzer Festspielen am Theater in der Josefstadt in Wien (Regie: Herbert Föttinger) und im Schauspiel Frankfurt am Main (Regie: Cilli Drexel). 281

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Beginn des Stückes durch Konsul Jean Buddenbrook eine Rechnung aufgemacht: »Vaters Guthaben vor der Heirat meiner Schwester 900.000, zuzüglich Grundbesitz und Wert der Firma. 80.000 als Mitgift nach Frankfurt, 100.000 an Gotthold zu seiner Etablierung, macht 720.000. Dann der Kauf dieses Hauses mit Renovierungen und Neuanschaffungen, 100.000, macht 62.000. Nach Frankfurt als Entschädigungssumme gezahlt 25.000, macht 595.000. Verdienst bis zu Vaters Tod 200.000. Gesamtvermögen bei Testamentseröffnung 795.000. 100.000 an Gotthold. 267.000 nach Frankfurt. Weiterhin ein paar Tausend kleinere Vermächtnisse an das Heilige-Geist-Hospital, die Kaufleute-Witwen-Kasse u.s.w. Bleiben 420.000. Wir sind nicht so ungemein reich, wir sind nicht so ungemein reich! Und bei alldem muß man bedenken, daß das Geschäft zwar kleiner geworden ist, die Kosten aber dieselben geblieben sind.« (Düffel 2005: 4)

So verständigt sich der Konsul bald darauf in einem knappen Geschäftsgespräch mit seinem ältesten Sohn Thomas über einen viel versprechenden Gewinn, um unmittelbar daran anschließend erneut mit den Worten »wir sind nicht so ungemein reich!« (Düffel 2005: 4) dem Wunsch seiner Frau nach einem weiteren Bedienten für das Haus entgegenzutreten. Um das Kapital der ›Familienfirma‹ zu erhöhen, muss er in seiner Funktion als Firmeninhaber danach trachten, Gewinn zu erwirtschaften, und als Familienoberhaupt peinlich darauf bedacht sein, die privaten Ausgaben so gering wie möglich zu halten. Die Beziehung zwischen den Geschwistern und ihre Stellung innerhalb der Familie werden durch signifikante Selbstbeschreibungen verdeutlicht. Tony wird durch das Haus der Familie bestimmt, das für sie »irrsinnig groß« (Düffel 2005: 3) ist und ihre Zugehörigkeit zur patrizischen Schicht repräsentiert. Dass damit eine fest verbürgte privilegierte Stellung verbunden ist, wird deutlich, als sie von der Mutter wegen ihrer unangemessenen Haltung getadelt und daraufhin von ihrem älteren Bruder Thomas verteidigt wird: »Sie kann sich halten wie sie will, sie bleibt immer Tony Buddenbrook.« (Düffel 2005: 4) Während Tony in ihrer gesicherten Tochterposition und Thomas als Erbe der Familienfirma durch kurze Aussagesätze in ihrer Stellung eindeutig fixiert werden, kommt Christian eine unbestimmte Position zu. Er spricht von sich selbst mit Nachdruck in der Wunschform: »Ich wollte, ich wäre auch Kaufmann!«, doch umgehend weist Thomas seinen jüngeren Bruder tadelnd zurecht: »Du willst jeden Tag etwas anderes.« (Düffel 2005: 4). In wenigen knappen Dialogen stellt John von Düffel in seiner Bühnenfassung die Familie Buddenbrook auf: Vater und ältester Sohn stehen für die Firma, Mutter und Tochter für das Haus, der jüngere, ausdrücklich »zweite[ ] Sohn« (Düffel 2005: 4), sucht seinen Platz. Thomas ist

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unangefochtener Mittelpunkt dieser Familienaufstellung. Er ist ebenbürtiger Gesprächspartner des Vaters, der sich gegenüber Mutter, Schwester und Bruder patriarchal-autoritär positioniert. Diese Exposition legt die Bühnenhandlung, die sich eng am Roman und dessen wörtlicher Figurenrede orientiert, fest. Thomas steht in der Pflicht, die Rolle des ›Herrn im Hause‹ Buddenbrook einzunehmen, er sucht dem väterlichen Willen nach Gewinnmaximierung nachzukommen und übernimmt die Aufgabe des Firmenleiters und Familienoberhauptes. Er wird die Geldausgaben der Familie streng kontrollieren, die Erbschaftsangelegenheiten regeln und sich selbst einem unbedingten Leistungsethos unterstellen. Er wird Tony in allen Lebenslagen beraten, Christian Verhaltensanweisungen geben, die Tochter eines vermögenden Geschäftspartners heiraten und seinen eigenen Sohn nach Prinzipien zu erziehen suchen, an denen er selbst zerbrechen wird. Die psycho-kapitalistische Signatur der Figuren wird in grellem Licht gezeichnet. Tony bleibt tatsächlich Tony Buddenbrook, auch wenn sie im Verlauf des Bühnengeschehens zu einer geschiedenen Frau Grünlich und einer geschiedenen Frau Permaneder wird. Sie ist und bleibt die innig geliebte Tochter des Vaters, die sich in ihrer Partnerwahl nach seinem Wunsch ausrichtet. Auch nach der Rückkehr in das Elternhaus und dem Tod des Vaters wird sie sich an den familiären Werten orientieren und sich eng an Thomas anschließen – selbst als dieser längst verheiratet ist. Christian wird hingegen derjenige bleiben, der auf der Suche nach Zuwendung mit der Familie über Krankheitssymptome kommuniziert. Er wird derjenige sein, der sich am wenigsten mit den Werten seiner Familie identifizieren kann, sich räumlich am weitesten vom Elternhaus entfernt und bis zum Ende in einer suchenden Familienposition verfangen bleibt. Während Thomas und Tony sich als Vater-Kinder bestätigen, die an den Familienprinzipien festhalten, wird sich Christian auch nach seiner Rückkehr als ›verlorener Sohn‹ erweisen, der es erst nach dem Tod der Mutter wagt, eine unstandesgemäße Ehe einzugehen.

Ökonomisierungsprozesse und Verlustrechnungen in der Bühnenhandlung In knappen Szenen und jeweils nur wenigen Worten – Zeit ist Geld – wird die parallel verlaufende und doch so unterschiedliche Entwicklung der Geschwister als Verlustrechnung der Firma akzentuiert. Thomas wird zum Prokuristen, der bei jedem wichtigen Familienereignis zwanghaft bilanzieren muss, dass die Firmenentwicklung hinter den Erwartungen zurückbleibt. Selbst die Wahl seiner Ehefrau unterstellt er dem Gebot der

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Gewinnmaximierung. Dass Thomas durch die Heirat mit der reichen Gerda ein Geschäft macht, um das man ihn beneidet, wird durch zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Monologe deutlich. Während er zunächst seiner Furcht vor Erniedrigung durch den Konkurrenten Hagenström, der ihn »einfach zu Boden geredet« (Düffel 2005: 34) habe, Ausdruck gibt, stellt er im darauf folgenden Brief-Monolog klar, dass seine Heirat mit einem »bedeutenden Kapitalzufluß« (Düffel 2005: 35) für die Firma verbunden ist. »300.000 Mitgift! Das hast du gut gemacht, Thomas!« (Düffel 2005: 37) – so lobt Tony ihren Bruder, der ihrer ruinösen seine vorteilhafte Heiratspolitik entgegenstellt. Die doppelte Buchführung, mit der in der kaufmännischen Finanzbuchhaltung grundsätzlich immer Soll und Haben verbucht werden, um dadurch den Erfolg einer Firma durch den jährlichen Vergleich des Eigenkapitals wie auch Aufwendungen in Bezug auf die Erträge eines Jahres ermitteln zu können,3 gewinnt in der Bühnenfassung eine psychoökonomische Bedeutung. Denn die Gewinn- und Verlustrechnungen, die hier aufgemacht werden, beziehen sich immer auch auf die Gestehungskosten, die den drei Geschwistern auf je unterschiedliche Weise in Form von Anpassungs- und Leistungserwartungen abverlangt werden. Wie sehr das ökonomische Denken zunehmend Steuerungsfunktion für die emotionalen Beziehungen der Familienmitglieder übernimmt, wird angesichts Thomas’ Rage deutlich, als seine Mutter »Hundert-sieben-und-zwanzigtausend-fünf-hundert!« an die Kirche verschenkt und er ihr unmissverständlich zu verstehen gibt, dass seine »Eigenschaft als Sohn zu Null« werden müsse, sobald er ihr »in Sachen der Firma und als männliches Oberhaupt der Familie« (Düffel 2005: 51) gegenüberstehe. Die Optimierung der Kapitalbilanz als brutaler psychischer Zwangsmechanismus wird auch an Tony deutlich, als sich im Hause Buddenbrook in Gestalt Bendix Grünlichs »vollkommen das, was man eine gute Partie nennt« (Düffel 2005: 8), einstellt. Er ist als »Geschäftsfreund« (Düffel 2005: 12) des Vaters ein »gut empfohlener Mann« (Düffel 2005: 4) und zugleich ein Eindringling, der sich mit seiner exaltierten Rhetorik scharf von der knappen Verständigung im Hause Buddenbrook absetzt. Weil er aber vermeintlich mit seinen Geschäften einen »hübschen Schnitt« (Düffel 2005: 10) macht, überwindet Tony ihre intuitive Abneigung gegenüber dem Bewerber. Tonys spätere Begegnung mit Morten Schwarzkopf in der Sommerfrische am Meer führt zwar zu der Erkenntnis, »daß Reichtum allein nicht glücklich macht«, aber auch zu der Einsicht, dass es in 3

In Europa ist diese unter anderem von den Medici eingesetzte doppelte Buchführung spätestens seit dem Erscheinen der Abhandlung Summa de Arithmetica, Geometria, Proportioni et Proportionalità (1494) des italienischen Franziskanerpaters und Mathematikers Luca Pacioli bekannt. 284

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ihrer Familie »Sitte ist, einen Kaufmann zu heiraten« (Düffel 2005: 14). Tony unterstellt sich dem seitens der Eltern vorgelebten Diktat bürgerlich-kaufmännischen Gewinnstrebens, doch gerade diese »Sitte« der Familie führt nicht nur emotional, sondern auch pekuniär in die Verlustzone: Die Zahlen sind manipuliert und die Rechnung geht nicht auf, wie dies in der vom Hohngelächter des Bankiers sekundierten Enthüllungsszene evident wird, in der ein »Bankrott, ein höchst spaßhaftes Bankröttchen« (Düffel 2005: 26) unmittelbar bevorsteht. Selbst als Tony nach dem Tod des Vaters ein zweites Mal heiratet, weiß sie, dass Alois Permaneder gegen die Gepflogenheiten im Norden – »wo alle strenger sind, ehrgeiziger« (Düffel 2005: 43) – verstößt, aber sie hält es für ihre Pflicht, die erste Ehe gesellschaftlich wieder wettzumachen. Als auch das nicht gelingt und Tony von sich selbst glaubt, endgültig »abgewirtschaftet« zu haben, setzt sie auf die hohe Mitgift, die Gerda in die Familie einbringt, da sie meint, dass ihr eigenes Versagen damit »ausgewetzt« (Düffel 2005: 37) werden könne. Christian kann sich dem familiären Druck, bessere Leistungsbilanzen aufzuweisen, durch Aufenthalte in London und Valparaiso zunächst für einige Jahre entziehen, aber nach dem Tod des Vaters wird er in die Familienfirma zurückbeordert und wechselt von der Position »zweiter Sohn« zur Stellung »Bruder des Chefs« (Düffel 2005: 33). Er sucht weiterhin den Narren zu geben und durchbricht mit seiner Äußerung, dass »jeder Geschäftsmann ein Gauner« (Düffel 2005: 40) sei, eine empfindliche Tabugrenze innerhalb des Kaufmannsstandes. In den Augen von Thomas kompromittiert Christian die Familie darüber hinaus durch seine Liebschaften, seinen Hang zum Theater sowie dubiose Nervenkrankheiten und wird deshalb aus der Firma eskamotiert. Angesichts des familiären Leistungsdrucks verliert er die Nerven und verabschiedet sich von den Wertvorstellungen des patrizischen Bürgertums. Mit einem Teil des väterlichen Erbes abgefunden, wird er schließlich wegen fortwährender Schulden von seinem älteren Bruder und Vermögensverwalter in Personalunion sogar entmündigt.

Kapitalzwänge und luxurierender Lebensstil John von Düffel hat mit Manns Roman über eine großbürgerliche Kaufmannsfamilie, die tief im 19. Jahrhundert verwurzelt ist, gründlich ›abgerechnet‹. Er hält sich so eng an die Vorlage, dass jede einzelne Szene des Familienlebens wiedererkennbar ist. Und doch wirken die auf das Spiel der Figuren reduzierten Szenen wie zur Kenntlichkeit entstellt: Der großbürgerliche rote Samtvorhang, der bei Thomas Mann unabdingbar zur

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Selbstinszenierung dieser Familie gehört, ist hier gefallen. Welche ökonomischen Erwägungen haben die Transformation der epischen Breite des Romas in die Bühnenfassung geleitet? Erreicht wurde nicht nur eine Verkürzung, sondern auch eine Verknappung. Denn was in der Bühnenfassung fehlt, sind der Überfluss, der luxurierende Lebensstil, der im Hause Buddenbrooks gepflegt wird, und vor allem die Privilegien, um derentwillen das Arbeitsethos unabdingbar hochgehalten werden muss. In der Hamburger Uraufführung gab es keine patrizische Fülle zu sehen, sondern einen in kühles Licht getauchten leeren Raum, der lediglich durch eine weiße, bis zur Decke verzogene Rückwand in modernem Industriedesign nach hinten begrenzt war. Es gab keine Erkennungsstücke aus dem bürgerlichen Interieur des 19. Jahrhunderts. Die Bühne bot keine Anhaltspunkte für die erzählte Welt des Romans und kannte auch für die Schauspieler keine Requisiten, an denen sich ihr Spiel festhalten konnte. Über dem eigentlichen Bühnenboden befand sich ein an Seilen aufgehängter Spielboden, ein schwankender Grund für jeden, der ihn betreten sollte. Knöchelhohe Metallleisten formierten sich zu kleinräumigen Absperrungen, mit denen Räume und Wege angedeutet waren. Die Schauspieler waren gezwungen, sich innerhalb der Begrenzungen zu bewegen, oder mussten über sie hinwegspringen. Die Reduktion auf das Spiel in einem von allen Requisiten der Bürgerlichkeit entkleideten Raum zeigte Figuren, die vom abfließenden Kapital gleich ihrem unabwendbaren Schicksal mitgerissen werden. Die Inszenierung fokussierte in ihrer Engführung der Buchhaltung des Firmenkapitals mit familiären Konstellationen, dass Beziehungen nur in Verbindung mit finanziellem Mehrwert als gewinnbringend gelten können. Buddenbrooks nach Thomas Mann ist in John von Düffels Bühnenfassung ein bürgerliches Geschwisterdrama, bei dem die Familie persönliches Kapital und Bürde zugleich ist. Denn der Firmenimperativ, das Vermögen mehren zu müssen, liegt hier über Denken und Handeln der Geschwister, doch je mehr sie ihm Folge leisten desto mehr verfehlen sie ihn. Die Inszenierung nimmt durch ihre Kargheit in Bühnenbild, Ausstattung, Szenenfolge und sprachlichem Gestus das Publikum in eine Verfallsgeschichte mit steiler Vorlage hinein. Die Bühnenfassung stützt sich unzweifelhaft in prokuristischer Manier auf die Bilanzen der Firmenbücher, die im Roman immer wieder angeführt werden – und leuchtet damit ein: Denn natürlich hat auch Thomas Mann davon erzählt, dass Geld zum Ersatz für libidinöse Objektbesetzungen, zum Fetisch der bürgerlichen Gesellschaft geworden ist (vgl. Eickhölter 2003; Schößler 2008). Während aber in der Bühnenfassung allein das ›Soll‹ einer solchen Bilanzierung ausgestellt wird, hat Thomas Mann in die epische Breite seines Romans auch ein ›Haben‹ eingeschrieben, das uns verdeutlicht, weshalb

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eine Bürgerlichkeit à la Buddenbrook über Generationen hochgehalten und von den Erben nur allzu gerne fortgesetzt wurde.

Aus gutem Hause sein Thomas Manns Buddenbrooks – ein nach Worten des Autors »als Familien-Saga verkleideter Gesellschaftsroman« (Mann 1984: 10), der vielfach als Protokoll der inneren Zersetzung des Bürgertums im 19. Jahrhundert gelesen wird – ist entschieden auf das ›bürgerliche Haus‹ zentriert, dem die Geschwister nicht nur entstammen, sondern das für sie auch Lebensmittelpunkt bleibt. Gleich im ersten Kapitel wird mit detailverliebter Sorgfalt und epischer Breite mit den Privilegien des kapitalgesättigten Bürgertums vertraut gemacht. Nicht umsonst beginnt der umfängliche Roman unmittelbar vor dem Einweihungsfest des von der Familie neu gekauften Hauses in der Mengstraße mit einer Familienszene. Wie auf einem biedermeierlichen Familienportrait sind die Mitglieder aus drei Generationen versammelt. Im Zentrum dieses erzählten Bildes befindet sich mit in den Raum gerichtetem Blick die achtjährige Tony Buddenbrook auf den Knien ihres Großvaters, der in einem Armsessel sitzt. Auf einem »weißlackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa« (Mann 1981: 7) hat sich die Großmutter neben der Mutter niedergelassen, die ihren Blick auf den in einem Sessel neben sich sitzenden Vater richtet. Dieses Eingangsbild ist im »Landschaftszimmer« des neu erworbenen Hauses situiert, wo nicht nur eine »Idylle im Geschmack des achtzehnten Jahrhunderts« (Mann 1981: 10) die Tapete ziert, sondern direkt davor eine ebensolche figuriert wird. Angezeigt ist damit, dass das, was in diesem Hause geschieht, (auch ästhetisch) immer schon alte Tradition ist. Die Familienidylle wird als generationenübergreifende, augenzwinkernde Verständigungssituation über gemeinsame Werte vorgestellt, als intimer Raum, dem zugleich repräsentative Funktion zukommt. Hier nimmt man immer Haltung ein, denn das großbürgerliche Haus ist Repräsentationsraum für den gesellschaftlichen Status der Familienmitglieder und somit auch im Innern genuin Fassade. Dies wird durch das Einweihungsfest verdeutlicht, an dem nicht nur die eben aus der Schule zurückgekehrten Söhne der jüngeren Generation, der neunjährige Thomas und der siebenjährige Christian, teilnehmen, sondern auch sorgsam ausgewählte Gäste, mit denen »die Kette der Verwandten durch Hausfreunde unterbrochen« (Mann 1981: 21) wird. Diese Hausfreunde repräsentieren in ihrer Stellung als Senator, Makler, Händler, Pastor und Dichter die gesellschaftlichen Bereiche Politik, Handel, Kirche, Kunst und bringen eine Form der ausgewählten Öffentlichkeit in

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den Familienkreis, die es erlaubt, das Haus als selbst gestalteten gesellschaftlichen Kosmos in nuce zu verstehen. Gleich im ersten Kapitel seines Romans macht Thomas Mann mit detailverliebter Sorgfalt und epischer Breite mit den ›Wonnen der Bürgerlichkeit‹ im 19. Jahrhundert vertraut (vgl. Gutjahr 2006). Mit (selbst-) ironischem Gestus wird aus der Perspektive des patrizischen Insiders erzählt, wie es bei den Buddenbrooks zugeht und welche Gepflogenheiten hier vorherrschen. Im Hause Buddenbrook zum Essen geladen zu sein, heißt, in einem von silbernen Armleuchtern und vergoldeten Kandelabern erhellten Speisesaal zu dinieren, in dem die Fenster von »schweren roten« Vorhängen bedeckt sind und auf dessen Tapete »zwischen schlanken Säulen weiße Götterbilder fast plastisch« (Mann 1981: 20) hervortreten. Hier wird an einer langen Tafel, auf der verschiedenartige Salzfässchen zur Schau gestellt sind und der Pfropfen der Weinflasche von einem kleinen silbernen Hirsch gekrönt wird, mit »schweren silbernen Löffeln« von »Meißener Teller[n] mit Goldrand« (Mann 1981: 23) gegessen, die selbstverständlich zwischen den Gängen von aufmerksamen Bedienten immer gewechselt werden. Denn wenn im Hause Buddenbrook »auf ein ganz einfaches Mittagsbrot gebeten wird« (Mann 1981: 11), dann kommen von der Mamsell und dem Folgemädchen aufgetragene Speisen wie Fisch und ein »kolossaler, ziegelroter, panierter Schinken« und »Mengen von Gemüsen, daß alle aus einer einzigen Schüssel sich hätten sättigen können«, auf den Tisch sowie »ein prickelnd und spirituös schmeckendes Gemisch konservierter Früchte« (Mann 1981: 27) und anschließend Plettenpudding in großen Kristallschüsseln, worauf Früchte und Käse folgen. Und weil das alles nicht umsonst zu haben ist, müssen die Männer sich zwischen den üppigen Gängen verdeckt ein wenig über die Preise auf dem Markt verständigen und die Frauen ein wachsames Auge auf das Personal und den wertvollen Hausrat werfen. Nach dem Essen mit gediegen-humorigen Tischgesprächen verlustiert man sich wahlweise mit Zigarren beim Billardspiel, beim Gespräch über Kochrezepte oder bei etwas Hausmusik mit Flöte und Klavier. Man versteht sich in der Konversation und in den Sitten, und so ist man nicht nur heimatverbunden und spricht ein wenig Platt, sondern gibt sich auch weltläufig und wirft französische Versatzstücke in die Konversation. Man ist mit den ersten Kreisen der Stadt bekannt, genießt hohes Ansehen, hat mehr Geld, als man zeigt, und klagt, dass es zu wenig ist. Eine solche Bilanz verpflichtet natürlich auch, und so ist man mildtätig und nimmt eine arme Waise auf, allerdings nicht ohne deren enormen Appetit zu bemerken. Die legitimen Kinder des Hauses Buddenbrook aber dürfen sich nicht nur an dem extra für sie zubereiteten brennenden Plumpudding erfreuen, sondern werden auch in Stil und Verhaltenserwartungen des

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patrizischen Bürgertums eingeführt. Denn ›aus gutem Hause‹ zu sein, bedeutet weit mehr als in einem weitläufigen, von Bediensteten besorgten und mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten versehenen Haus wohnen zu können. Es heißt, mit einer Art Geburtsadel ausgestattet zu sein und auf ererbte Wertschätzung bauen zu können, Mitglied einer gut beleumundeten Familie zu sein, einen kreditwürdigen Namen zu tragen und ein mit Privilegien ausgepolstertes Leben führen zu können. Wenn man also in einem solchen Hause groß wird, so bedeutet dies für einen ältesten Sohn wie Thomas: ein umsorgtes Leben führen zu können und sich keine ernsthaften Sorgen um Schulnoten, eine geeignete Ausbildung und einen passenden Beruf machen zu müssen, weil große Stücke auf einen gesetzt werden. Stammhalter der Buddenbrooks zu sein, bringt es mit sich, dass man wie ein Kronprinz behandelt wird und dank der guten Verbindungen des Hauses nach ein wenig Geschäftserfahrungen im Ausland bereits in jungen Jahren zum Firmeninhaber, Konsul und gar Senator avanciert. Man kann sich selbstredend eine Liaison mit einer Blumenverkäuferin leisten, weil man zum passenden Zeitpunkt ohnehin eine Partie mit einer Millionärstochter aus den ersten Kreisen machen wird. Mit dieser so eleganten wie kapriziösen und musisch begabten Frau kann man dann wiederum ein großes Haus führen und einen Stammhalter heranziehen, dem all das schöne Geld und die Besitztümer weitergegeben werden sollen, damit dieses Erbe von Generation zu Generation wie ein unsterbliches Lebenspfand innerhalb der Familie weiter wachsen kann. Wenn man in einem solchen Hause wie dem der Buddenbrooks erzogen wird, dann bedeutet dies für eine Lieblingstochter des Vaters wie Tony: als kecke Prinzessin in schönen Kleidern durch die Stadt gehen zu können und zuerst gegrüßt zu werden. Es heißt, mit den Töchtern anderer reicher Familien zu verkehren und ein wenig neidisch auf sie zu sein; der Einfachheit halber ins Mädchenpensionat gesteckt zu werden, wenn man beginnt, schlechte Liebesromane zu lesen; sich über den aufgeblasenen Geschäftsmann aus Hamburg, der um die Hand anhält, lustig zu machen; sich in der Sommerfrische am Meer unsterblich zu verlieben, um dann doch in die halbwegs arrangierte Ehe einzuwilligen, weil man dem Papa gefallen und auch weiterhin in einem großen Haus mit Personal und im Luxus leben will. Und wenn die Sache dann schief geht, ist eine Rückkehr in den Schoß der Familie jederzeit möglich. Denn weil von Haus aus noch einmal eine Mitgift gestellt wird, ist man auch als geschiedene Frau mit Kind noch eine gute Partie für eine zweite Ehe, nach deren Scheitern ein erneutes Zurückschiffen in den sicheren Hafen der Familie wiederum angesagt ist, weil man schließlich eine geborene Buddenbrook und allein der Name allemal mehr wert ist als jede noch so hohe Mitgift.

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Wenn man allerdings wie Christian ein in jeder Hinsicht ›zweiter Sohn‹ einer Familie Buddenbrook ist, dann heißt es, sich anderweitig nach der Decke strecken, um von den Annehmlichkeiten auch noch seinen Teil am luxurierenden Familienleben abschöpfen zu können. Da muss man spitzfindig werden und auch bei Desinteresse am Kaufmannsberuf weit weg in London und so schön klingenden Orten wie Valparaiso ein wenig den Sohn aus gutem Hause geben und so nebenbei den Geschäftsmann spielen, um dabei ungeniert den eigenen Vergnügungen und Liebhabereien nachgehen zu können. Wenn man aus dem Hause Buddenbrook kommt, dann weiß man, dass die Aufmerksamkeit der Familie nicht nur durch dubiose Geschäfts-, sondern auch ebensolche Krankheitsberichte erregt werden kann. Und wenn das Erbe verspielt ist, dann lässt sich immer noch in kleinen Raten Geld abheben von der ›FamilienBank‹, die einen so guten Namen hat wie Buddenbrook. Denn aus dem Hause Buddenbrook zu sein, das bedeutet für alle drei Geschwister, mit ererbtem Geld groß geworden zu sein, als sei es in den Genen mitgegeben, und die eigene Lebensplanung auf diesem Familienkapital aufbauen zu können. Die Familie erscheint unter dieser vitalistischen wie kapitalistischen Sichtweise als wohlgenährter Körper mit planendem Oberhaupt, der sich – die Grenzen der Sterblichkeit wundersam überwindend – kraftvoll über die Generationen hinweg am Leben erhält. Wen mag es da wundern, dass ein solcher Körper nicht nur von allen Mitgliedern gehegt und erhalten werden möchte, sondern auch Begehrlichkeiten weckt. Aber hier droht Gefahr: Denn es sind so parasitäre Subjekte wie Mitgiftjäger, Erbschleicher, Geldverschwender und Konkurrenten auf dem Markt, die dem gesunden Körper das Kapital aus den Adern saugen und seinen Tod mehr als billigend in Kauf nehmen. Thomas Mann hat seinen Roman, dessen erzählte Zeit vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit nach der deutschen Reichsgründung reicht, als den »für Deutschland […] vielleicht erste[n] und einzige[n] naturalistische[n] Roman« (Mann 1983: 88) bezeichnet. In ihm wird die Beziehung zwischen wirtschaftlicher Wohlfahrt des Handelshauses und persönlichem Schicksal der einzelnen Familienmitglieder thematisiert. Das Haus, in dem die Geschwister aufwuchsen, steht aber auch für das Ende einer Lebenswelt und den Umbruch zu einer neuen Epoche: Wie die Buddenbrooks ihr Haus von einer »ehemals so glänzenden Familie« erworben haben, die dann »verarmt, heruntergekommen davongezogen war …« (Mann 1981: 22), so übernimmt am Ende der Parvenü Hagenström das Haus wiederum von der abgestiegenen Familie Buddenbrook. Manns Roman wird bevorzugt als Dekadenzroman gelesen, bei dem nicht nur die körperlichen Krankheitszeichen und Todesarten der Famili-

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enmitglieder oder die Entfremdung zwischen den Ehepartnern, sondern auch die Firmenverluste als Zeichen des Niedergangs zu verstehen sind. Im Gegensatz zu dieser Lesart wird in John von Düffels Bühnenfassung eine Revision der doppelten Buchhaltung in der Familienfirma betrieben. Hier ist von Anfang an ein Verlust von über 90 Prozent zu verbuchen, denn die nahezu 1.000 Buchseiten wurden auf ein im Flattersatz niedergelegtes, 60-seitiges Bühnenskript gekürzt. Schwerer wiegt aber, dass die moderne Bühne in der Kargheit ihrer Mittel kaum etwas von dem Luxus ahnen lässt, der ein Leben à la Buddenbrook auszeichnet. Demgegenüber verfügt der Film, wie immer er auch die Handlung kürzt und Monologe verknappt, über die technischen Möglichkeiten, jenseits des gesprochenen Wortes die Fülle einer Situation in aller Konkretion zur Anschauung zu bringen und vermag in dieser Ausführlichkeit den notwendigerweise nur in Andeutungen beschreibenden Roman an sinnlicher Opulenz noch bei weitem zu überbieten. Nachdem Buddenbrooks bereits dreimal verfilmt und schon zweimal in Dialogform gebracht wurde,4 hat Heinrich Breloer mit der nun vierten Verfilmung, die im Dezember 2008 in die Kinos kam, Überfluss und Üppigkeit dieser Lebenswelt deutlich herausgestellt. Das zugleich erschienene, aufwändig gestaltete Filmbuch kann schon von seiner bibliophilen Gestaltung her und in der Auswahl ästhetisch ausgefeilter Bildarrangements als Kommentar zum Film verstanden werden.

Im Überfluss: Ein Blick auf Heinrich Breloers Verfilmung Nach einem kurzen filmischen Prolog, in dem die Geschwister Buddenbrooks mit den Kindern der Hagenströms in einer abschüssigen Gasse der Hansestadt Lübeck ein kleines Wagenrennen veranstalten, beginnt Breloers Film nicht wie Manns Roman mit einem biedermeierlichen Familienbild, sondern mit einer Szenenfolge, die den an adeligen Gepflogenheiten orientierten Lebensstil des Patriziertums unmittelbar augenfällig verdeutlicht: mit einem glanzvollen Ball. In eleganter Toilette vergewissern sich Konsul Jean Buddenbrook, seine Frau Bethsy und deren adoleszente Kinder Thomas, Tony und Christian in den großen Spiegeln des Saals wie auch in den bewundernd-neidischen Blicken der vornehmen Ballgesellschaft ihrer Aufmerksamkeit erregenden Wirkung. Tony, im schulterfreien weißen Ballkleid und weißen Häkelhandschuhen, 4

Bei den drei Filmen handelt es sich um den Stummfilm von Gerhard Lamprecht aus dem Jahr 1923, Alfred Weidenmanns Kinofilm von 1959 und die Fernsehproduktion von Franz Peter Wirth (1979). 291

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zieht als ›Prinzessin‹ der Familie die besondere Aufmerksamkeit auf sich. Sie wird umschwärmt und tanzt mit dem jungen Kaufmann Hermann Hagenström, nicht ohne dessen Ellenbogenhaltung süffisant zu kommentieren. Jean Buddenbrook sieht bereits hier in den Hagenströms »die Heraufkommenden« und in Bezug auf Huneus’ Tochter, mit der Hermann vermehrt tanzt, kommentiert er auf den Einwurf seiner Frau »Geld heiratet Geld« prompt: »Wollen wir das nicht alle?« (Breloer 2008: 37) Dass jemand Geld heiraten will, der sein eigenes verspekuliert hat, wird durch Bendix Grünlich ins Bild gerückt, der die gute Partie aus dem Hause Buddenbrook bereits verstohlen in Augenschein nimmt. Auch Anna, die heimliche Liebschaft von Thomas, ist in die Ballszene in ihrer Funktion als Blumenverkäuferin integriert und erhält zweideutige Angebote von den anwesenden jungen Männern. Breloer lässt seinen Film mit einem Höhepunkt im gesellschaftlichen Ansehen der Familie beginnen und markiert mit wenigen Dialogen die pekuniären Begehrlichkeiten und ständischen Regeln, in welche die Figuren eingebunden sind. Auch die Szene im Landschaftszimmer, in das Grünlich als ›Eindringling‹ eingeführt wird, zeugt von der noblen Gediegenheit des Hauses Buddenbrook. Der mit Biedermeier-Möbeln, Samtvorhängen, Kandelabern und Teppichen ausgestattete Raum, in dem sich die Familienmitglieder in vornehmen Roben um einen mit wertvollem Porzellan, edlen Konfiserien und erlesenem Blumenschmuck gedeckten Tisch gruppieren, verweist unmittelbar auf die hier gepflegte Imitation adeliger Lebensführung. Dass die Tochter aus einem solchen Hause sich laut Ermahnungen des Vaters als »Glied einer Kette« erkenntlich zeigen muss und in die ihr seitens der Eltern nach gleichsam dynastischen Prinzipien anempfohlenen Ehe einzuwilligen hat, versteht sich von selbst. Breloer hat in seiner Adaption der Buddenbrooks die signifikanten Ereignisse des Romans in die filmische Narration aufgenommen. Er hat sogar Szenen hinzuerfunden, wie das Wagenrennen der Kinder zu Beginn oder eine Liebesszene zwischen Thomas und Anna. Die Senatorin Möllendorf wird als Beobachterfigur stark gemacht, die in ihrem Kontrollbedürfnis zwar den Klatsch der Hansestadt organisiert, aber an der geheimen Fresssucht ihres Mannes scheitert. Der Film lässt mit der Hochzeit von Thomas und Gerda, der Taufe von Hanno, der Wahl von Thomas zum Senator und dem 100-jährigen Firmenjubiläum die von Abstiegsahnungen umflorten Höhepunkte im Hause Buddenbrook deutlich werden. Fern der technisch beschränkten Möglichkeiten der Theaterbühne hat Breloer die unterschiedlichen Schauplätze der Handlung detailgenau ausgestattet ins Bild gesetzt. So werden vielfältige Einblicke in das Haus

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der Buddenbrooks geboten, von den Geschäftsräumen mit den Angestellten und der Küche mit dem Hauspersonal im Erdgeschoss über die Gesellschaftsräume in der Beletage bis hin zu den privaten Gemächern wie dem Schlafzimmer von Thomas und Gerda oder den Mansarderäumen, die Tony nach ihrer Scheidung bewohnt. Die Hansestadt Lübeck wird immer wieder mit einem Marktplatz vor dem Holstentor, Gassen, Wohnund Geschäftshäusern, Lagerplätzen, Speichern und dem Hafen an der Trave ins Bild gesetzt. Während Bethsy Buddenbrook hauptsächlich in ihrem häuslichen Wirkungskreis gezeigt wird, folgt der Film Jean Buddenbook in Grünlichs Haus nach Hamburg, wo er erkennen muss, dass er seine Tochter an einen Schwindler verschachert hat, wie auch in sein Kontor, ins Rathaus und auf die Börse, wodurch Einblicke in das Geschäftsgebaren gegeben werden, bei dem sich konkurrierende Anbieter und Käufer nach genau festgelegten Regeln verständigen. Auch die politischen Ereignisse während der Revolution von 1848 werden durch Jeans Reaktion vergegenwärtigt. Während seine Frau im Inneren des Hauses die aufmüpfigen Reden der Küchenmagd Trine über »ne annere Ordnung« (Breloer 2008: 118) nur mit einer fristlosen Kündigung zu parieren vermag, gelingt es Jean Buddenbrook, die ihm bestens bekannten Aufrührer auf Platt zu besänftigen. Der Tod von Jean Buddenbrook wird zum Anlass, das Repräsentationsbedürfnis der Familie auch über den Tod hinaus durch einen alle anderen Grabstätten überragenden Aufbau über der Familiengruft zu verdeutlichen. Der Film folgt auch Thomas an die Stätten seines Wirkens, wie in die Grachtenstadt Amsterdam, wo er der ebenso schönen wie erlesen gekleideten Gerda begegnet, die »runde dreihunderttausend Courantmark wert« (Breloer 2008: 18) ist, wie an den Hafen von Lübeck, wo er sich für eine Begradigung der Trave einsetzt, um mit der durch die Dampfschifffahrt gestiegenen Konkurrenz aus Kiel und Hamburg mithalten zu können. In Reminiszenz an die Prologsequenz der Wettfahrt in der Kinderzeit fährt Thomas in Konkurrenz zu Hermann Hagenström auf die Felder, um die Pöppenrader Ernte zu besichtigen. Auch Tony wird an unterschiedlichen Schauplätzen im Haus und in der Stadt gezeigt, wie auch in der Sommerfrische an der Ostsee, im luxuriös ausgestatteten Haus in Hamburg, bei einer Floßfahrt mit Alois Permaneder und in dessen Haus in München. Christian wird hingegen außerhalb des Familienkreises im Theater, in der Garderobe von Aline Puvogel, im Club, im Kontor und schließlich in der Nervenheilanstalt gezeigt. Breloer hat seine filmische Narration an den Ereignissen ausgerichtet, wie sie im Roman erzählt werden, und diese sinnlich opulent ausgestattet. Mit dieser Form des Erzählens setzt ein starker Wiedererkennungseffekt ein; die filmischen Szenen erweisen sich über weite Strecken

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als Bebilderung des durch die Romanlektüre Bekannten. Aber was für eine Geschichte erzählt der Film damit? Auffällig ist, dass bei dieser Adaption nicht nur im Inneren des Hauses Buddenbrook Gediegenheit bis ins letzte Detail vorherrscht, sondern diese auch bei den Außenaufnahmen dominiert. Die Wirklichkeit außerhalb der patrizischen Lebenswelt erscheint als dekorative Landschafts- oder Stadtkulisse der reichen Kaufmannsfamilie. Der Kamerablick bleibt immer in einer Art Landschaftszimmer der Familie und findet keine neuen Perspektiven, die es erlauben würden, die Geschlossenheit und Einsinnigkeit des Erzählten aufzubrechen. Zumindest Hinweise auf zeitgeschichtlich geprägte, sozial inhomogene Wirklichkeiten, in denen sich das Leben der Buddenbrooks auf ganz existenzielle Weise zu verorten hat, kommen kaum zum Tragen. Selbst die Aufständischen der Unruhen von 1848 erscheinen in ihren operettenhaften, farblich wohlabgestimmten Kostümen nur als liebenswürdige Statisten, die aus Unbedarftheit den patrizischen Lebenskosmos zeitweilig stören. Multiple Ausleuchtungen wie auch der wiederholte Einsatz von Kunstnebel verdichten die Szenen zu in sich geschlossenen Bildern. Ein verklärendes Licht liegt nicht nur über einzelnen Szenen, sondern über dem gesamten Film. Entgegen den Wetterverhältnissen im Norden kommt Regen nur bei melancholischer Stimmung oder drohendem Unheil auf, oder er dient während der Sommerfrische am Meer der Ermöglichung eines engeren Kontaktes zwischen Morten Schwarzkopf und Tony, die sich dank eines plötzlich hereinbrechenden Unwetters schutzsuchend in ein gestrandetes Schiffswrack flüchten dürfen. Was dieser Film in Szene setzt, wird immer schon durch vorhergehende Bilder erklärt, wie etwa Hannos Typhuserkrankung durch einen Sturz in das trübe Wasser der Trave. Am Ende sitzen Tony, Gerda und Ida schwarz gekleidet im Landschaftszimmer des bereits leergeräumten Hauses, als Hermann Hagenström in Gestalt des neuen Hausbesitzers auftaucht. Auch wenn gegenüber der Romanvorlage nur wenige Veränderungen vorgenommen wurden, leistet der Film mit der Inszenierung dieser letzten Begegnung Tonys mit ihrem früheren Verehrer der Idee Vorschub, dass dieses Ende vermeidbar gewesen wäre, wenn sie ihn geheiratet hätte. Aber gerade das widerspricht der zentralen Idee von Manns Roman. Denn es geht nicht um den Niedergang des Handelshauses Buddenbrook, der durch geschickteres kaufmännisches Handeln oder eine überlegtere Heiratspolitik hätte aufgehalten werden können. Vielmehr markiert der Verlust der Familienfirma den unabdingbaren Übergang zur künstlerischen Moderne, wie er in der Figur des ›Spätlings‹ und ›Verfallsprinzen‹ Hanno angelegt ist. Luxus, Erlesenheit und Privilegien der Buddenbrooks werden in Breloers Verfilmung als festlicher Augenschmaus in Szene gesetzt. Neue

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Blicke auf Manns Jahrhundertroman wagt die um Folgerichtigkeit bemühte, das Geschehen erklärende, ästhetisch ausgefeilte filmische Narration jedoch nicht. Demgegenüber kommen Bühnenfassungen von Romanen, wie sie seit den 1970er Jahren mehr und mehr auf dem Theater gespielt werden, gar nicht umhin, von einer Idee und deren Verdeutlichung in Hinblick auf die Fragen der Gegenwart auszugehen.5 Wie bei John von Düffels Bühnenfassung der Buddenbooks geht es nicht primär um die Übersetzung eines Romans für die Anforderungen der Bühne, sondern um die Frage, welche Wirklichkeiten damit verhandelt werden können. So kann das moderne Regietheater gerade bei Romanvorlagen dem Ruf nach Werktreue in besonderer Weise entgegentreten, insofern es notwendigerweise um die Neufassung eines Stückes geht. Entgegen der stringenten Erzählung, die auf Wiedererkennung angelegt ist und zur Identifikation einlädt, geht es um komplexe Verfahren des In-Szene-Setzens von sich überlagernden, sich konterkarierenden und sich wechselweise infrage stellenden Bedeutungsebenen. Mit den Romanadaptionen hat sich verstärkt eine veränderte theatrale Narration durchgesetzt, denn jenseits der Zuordnung von Textelementen zu einer Figur bietet sich die Möglichkeit, Erzählzusammenhänge auf unterschiedliche Stimmen zu verteilen oder sie im chorischen Sprechen und durch Wechselrede auf unterschiedliche Bedeutungsebenen hin zu befragen. Dieses ›neue epische Theater‹, das bei Bühnenadaptionen in besonderer Weise auf der Suche nach dem Unerledigten und Unabgegoltenen von Werken ist, zielt mit seinen Mitteln wie Videoinstallationen, Fremdtexten, dem Einsatz von Musik, der Thematisierung gesellschafspolitischer Ereignisse und medialer Phänomene auf eine Wirklichkeitserfahrung, die nicht durch konsistente Bedin5

Allein im Jahre 2008 wurden zahlreiche große Romane für die Bühne bearbeitet, etwa Albert Camus: Der Fremde, Schauspiel Franfurt am Main 2008, Regie: Sebastian Baumgarten – Fjodor Dostojewski: Der Idiot, Schauspielhaus Zürich 2008, Regie: Alvis Hermanis – Fjodor Dostojewski: Schuld und Sühne, Landestheater Salzburg und Schauspielhaus Zürich 2008, Regie: Dimitre Dinev – Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, Staatstheater Mainz 2008, Regie: Hannes Rudolph – Nikolai Gogol: Tagebuch eines Wahnsinnigen, Deutsches Theater Berlin 2008, Regie: Hanna Rudolph – Franz Kafka: Das Schloss, Schauspiel Frankfurt am Main 2008, Regie: Tomas Schweigen – Franz Kafka: Der Prozess, Ludwigsburger Theatersommer 2008, Regie: Peter Kratz – Heinrich Mann: Professor Unrat, Würzburg 2008, Bearbeitung von John von Düffel, Regie: Franziska Theresa Schütz – Thomas Mann: Doktor Faustus, Burgtheater Wien 2008, Regie: Friederike Heller – Orhan Pamuk: Schnee, Münchner Kammerspiele 2008, Regie: Lars-Ole Walburg – Leo Tolstoi: Anna Karenina, Maxim Gorki Theater Berlin 2008, Regie: Jan Bosse. 295

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gungszusammenhänge oder schlüssige Erklärungsmuster zur Darstellung gebracht werden kann. Vielmehr werden erst durch multiple Perspektiven sowie kunstvoll inszenierte Lücken und Brüche Spielräume für Assoziationen, Irritationen, Fragen und Reflexionen eröffnet. Das ›Haben‹ eines solchen Kunstwerks – sei es in Form eines Films oder eines Theaterstücks – erlaubt den Zuschauern eine doppelte Buchführung, bei der das ›Soll‹ eigener Phantasietätigkeit unabdingbar mit eingetragen wird.

Literatur Breloer, Heinrich (2008): Thomas Manns Buddenbrooks. Ein Filmbuch. Frankfurt am Main: Fischer. Düffel, John von (2005): Buddenbrooks nach Thomas Mann. Bühnenfassung. Stand: 27.09.2005. Eickhölter, Manfred (2003): Das Geld in Thomas Manns Buddenbrooks. Lübeck: Schmidt-Römhild. Gutjahr, Ortrud (2006): Die Wonnen der Bürgerlichkeit? Eine Einführung in Thomas Manns Buddenbrooks und John von Düffels Bühnenfassung. In: Dies. (Hg.): Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John von Düffels Bühnenfassung und in der Inszenierung von Stephan Kimmig am Thalia Theater Hamburg. Würzburg: Königshausen & Neumann (Reihe Theater und Universität im Gespräch, 4), S. 21–46. Mann, Thomas (1926): Lübeck als geistige Lebensform. Die Entstehung der Buddenbrooks. Lübeck: Quitzow. Mann, Thomas (1975): Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida BoyEd 1903–1928. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt am Main: Fischer, S. 98–101. Mann, Thomas (1981): Buddenbrooks. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Bd. 1: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt am Main: Fischer. Mann, Thomas (1983): Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Bd. 20: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt am Main: Fischer. Mann, Thomas (1984): Über eigene Werke. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Bd. 15: Rede und Antwort. Frankfurt am Main: Fischer, S. 6–334. Moulden, Ken/Wilpert, Gero von (1988): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart: Kröner.

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Scherrer, Paul (1958): Bruchstücke der Buddenbrooks – Urhandschrift und Zeugnisse zu ihrer Entstehung: 1897–1901. In: Neue Rundschau 69, S. 258–291. Schößler, Franziska (2008): Glauben, Schreiben und Verdienen: Kreditwesen und Poetik in Thomas Manns Romanen Buddenbrooks und Königliche Hoheit. In: Börnchen, Stefan/Liebrand, Claudia (Hg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. München: Fink, S. 117–138.

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DIE KOLLATERALSCHÄDEN DER GEWINNMAXIMIERUNG. DAS DRAMA DER BUDDENBROOKS ANNA KINDER

›Das Leben ist zu kurz für lange Literatur‹ – mit diesem zeitökonomischen Diktum Alfred Polgars kann man, etwas überspitzt, John von Düffels Übertragung von Thomas Manns Roman Buddenbrooks in die aktuelle Bühnenfassung auf den Punkt bringen. Gelingt es dieser doch, die zentrale, heute hochaktuelle Botschaft des 800 Seiten starken Romans in weniger als drei Stunden Spielzeit auf die Bühne zu bringen. Und dies mit ziemlichem Erfolg. Denn seit der Premiere am Hamburger Thalia Theater im Dezember 2005 schreiben die Buddenbrooks Erfolgsgeschichte auf den deutschsprachigen Bühnen. In der Spielzeit 2008/09 wird das Stück allein in sieben Städten aufgeführt und setzt damit den langen und vor allem auch ökonomischen Siegeszug von Thomas Manns Romanerstling von 1901 fort; zählt dieser doch zu den meistverkauften deutschen Büchern überhaupt und verschaffte seinem Autor, nicht zuletzt durch den Nobelpreis 1929, schon zu Lebzeiten ein Vermögen. Angesichts solcher Zahlen kommt die Frage auf, warum die Buddenbrooks auf der Bühne gerade jetzt einen solchen Erfolg haben? Wie in den folgenden Ausführungen gezeigt werden soll, lässt sich dies mit einem genauen Blick auf Romanvorlage und Bühnenfassung1 erklären. Denn John von Düffel bringt mit der Komprimierung und Konzentrierung des Geschehens auf die Generation der Geschwister Thomas, Tony und Christian genau den Teil des Romans auf die Bühne, der bis heute nichts an Aktualität und Virulenz eingebüßt hat. Im Mittelpunkt der Bühnenfassung steht gerade die zentrale Problematik des Romans – und zwar: die Analyse des modernen Menschen im Arbeits- und Berufsalltag; die Frage danach, wie Manfred Dierks es in seiner Untersuchung zu 1

Zitiert wird hier nach dem Manuskript, das über den Deutschen Theaterverlag erhältlich ist und hier mit dem Erstaufführungsjahr 2005 datiert wird (Düffel 2005). 299

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Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne formuliert, wie es dem »westlichen Selbst in dieser Zeit der Moderne ergeht und warum« (Dierks 2008: 112). Im Zentrum stehen die Auswirkungen der kapitalistischen Moderne auf die menschliche Psyche, auf die menschliche Seele. Es geht somit um die Persönlichkeitsstruktur des Menschen im Kapitalismus (vgl. Dierks 2008: 117). Thomas Mann selbst hat in den Betrachtungen eines Unpolitischen, die erstmals 1918 erschienen sind, seinen Fokus auf das Innenleben der Protagonisten betont, wenn er ausführt, dass das »Problem«, das ihm bei der Arbeit an den Buddenbrooks »auf den Nägeln brannte« und ihn »produktiv machte«, »kein politisches, sondern ein biologisches, psychologisches« (Mann 1983: 139) war; und weiter heißt es: »das Seelisch-Menschliche ging mich an« (Mann 1983: 139). Bevor das Potenzial für den Erfolg der Inszenierung auf inhaltlichthematischer Ebene näher identifiziert wird, soll zunächst ein kurzer Blick in erzähltechnischer Hinsicht auf den Roman geworfen werden. Denn es zeigt sich, dass dieser unter formalem Vorzeichen eine sehr geeignete Vorlage für eine Bühnenfassung darstellt, ja, sich geradezu dafür anbietet. Diese theatralische Qualität des Romans kann an drei Punkten festgemacht werden, und zwar an der Dialogstruktur, der Raumsemantik und den, wie sie behelfsmäßig bezeichnet werden sollen, ›Botenberichten‹ des Romans. Zunächst zur Dialogstruktur des Romans: Auf den fast 800 Romanseiten wimmelt es nur so von bühnenreifen Dialogen, die John von Düffel direkt in die Bühnenfassung übernehmen konnte. Vor allem die zentralen Konflikte der Protagonisten äußern sich in dialogischen Streitszenen, die bereits im Roman von bühnentauglichem Format sind. Man denke nur an den Streit der beiden Brüder Christian und Thomas über den Beruf des Kaufmanns und die Größe ›Arbeit‹ (vgl. Mann 2002: 347– 354) oder an die Auseinandersetzung zwischen Tony und ihren Eltern am Frühstückstisch. In dieser Episode, in der die Tochter von den Vorteilen einer ehelichen Verbindung mit dem von ihr verabscheuten Kaufmann Bendix Grünlich überzeugt werden soll, wird die szenische Erzählweise, die weite Strecken des Romans dominiert, besonders deutlich. Die Szene wird im Roman explizit als solche angekündigt, heißt es dort doch: »Acht Tage später ereignete sich jene Scene im Frühstückszimmer…« (Mann 2002: 111). Im Anschluss daran entfaltet sich dann die Wechselrede zwischen Tony und ihren Eltern (vor allem ihrem Vater), die man – mit leichten Kürzungen und Wortschatzanpassungen wohl dem zeitgenössischen Publikum zuliebe – auch auf der Bühne zu sehen und zu hören bekommt. Interessant ist, dass sich die Schilderungen des Erzählers

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zwischen den einzelnen Wortbeiträgen fast wie Regieanweisungen lesen lassen und an sich nichts darstellen, was man nicht auch auf die Bühne bringen könnte. Der Bühnenfassung kommt hier also das zugute, was man in der Erzähltheorie als showing, als Darstellung von Ereignissen im dramatischen Modus, bezeichnet, und was, wie Fotis Jannidis jüngst aufgezeigt hat (Jannidis 2008: 63), zu den charakteristischen Merkmalen der Erzählweise des Romans gehört. Hierzu zählt unter anderem auch das weitgehende Fehlen von wertenden Erzählerkommentaren im Roman, was von Rezipientenseite oft als Ausdruck von Objektivität gewertet wurde (vgl. Jannidis 2008: 66) und einer Bühnenadaption den Weg ebnet. Des Weiteren bietet sich, wie erwähnt, die Raumsemantik des Romans für eine Bühnenfassung geradezu an, stellt der Roman doch beinahe eine Einheit des Ortes zur Verfügung. Denn bis auf wenige Ausnahmen, wie einige Stadtszenen in Lübeck, Tonys Aufenthalte in Travemünde und Hamburg und Hannos Tag in der Schule, ist der Schauplatz des Romans das Haus der Familie Buddenbrook, das nicht verlassen wird. Vielmehr, und damit sind wir beim dritten Punkt, werden bereits im Roman die Reisen der Protagonisten in der Manier von Botenberichten eingeführt: So erfährt man über Thomas’ Aufenthalt in Amsterdam und Tonys München-Urlaub lediglich aus Briefen, die nach Hause geschrieben werden. Und auch Tonys bayerisches Ehedesaster wird dem Lesenden nur durch Briefe und den nachträglichen Bericht der Zurückgekehrten vermittelt. In der Bühnenfassung werden diese Textpassagen von den jeweiligen Figuren wiedergegeben und zählen damit zu den stark episierenden Elementen des Stückes. Nach diesem kurzen formalen Exkurs kehren wir nun aber zurück zur inhaltlich-thematischen Ebene. Wie bereits gesagt, konzentriert sich das Bühnengeschehen auf die drei Geschwister Thomas, Christian und Tony, die auch im Roman die Generation bilden, der die meisten Seiten gewidmet sind. Das Handlungsfeld, in dem sie sich bewegen, zeichnet sich primär dadurch aus, dass es vom Geist des Kapitalismus durchdrungen und ganz dem Diktat des Geldes unterworfen ist. Die ökonomischen Koordinaten der Geldvermehrung und -bewahrung bestimmen ihr Handeln, und sämtliche Beziehungen unterliegen einem ökonomischen Imperativ. Arbeit kann als höchstes Gut identifiziert werden. Für die Mitglieder der Familie Buddenbrook bedeutet dies konkret, dass das Firmen- und Familienvermögen zu jedem Zeitpunkt im Vordergrund steht und der Einzelne sein Leben in den Dienst von Firma und Familie zu stellen hat; sein Beruf besteht darin, sich mit der ganzen Person zur Verfügung zu halten. Der Einzelne unterliegt, wie Ortrud Gutjahr es formuliert, dem »Firmen-

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imperativ der Vermögensoptimierung« (Gutjahr 2006a: 27). Besonders deutlich zeigt sich dies an der Figur der Tony, die in der Bühnenfassung auch im ersten Teil im Vordergrund steht und von ihrem Vater erfahren muss: »Wir sind, meine liebe Tochter, nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette« (Düffel 2005: 24). Vorstellungen von autonomer, selbstbestimmter Glücksfindung wird also schnell ein Riegel vorgeschoben. Als Mitglied der Familie Buddenbrook hat Tony die Aufgabe, auf ihre Art zum Familiensaldo beizutragen, indem sie das macht, »was Pflicht und Bestimmung ihr vorschreiben«, und »eine gute Partie« (Düffel 2005: 14) eingeht. Dass sie dabei an ein Ekel namens Bendix Grünlich gerät, ist solange nicht von Belang, wie dessen Firmenbücher zu stimmen scheinen. Ihre Eheschließung gestaltet sich als geschäftliche Transaktion, als letztlich unsicheres Kredit- und Spekulationsgeschäft zwischen ihrem Vater und Grünlich. Tony selbst steht lediglich als »Besitz« (Düffel 2005: 46), als Verhandlungsgegenstand zur Disposition. Im Vordergrund steht die Frage nach einer sinnvollen Investition der Mitgift, ebenso wie es dann im weiteren Verlauf bei Thomas darum geht, mit seiner Braut Gerda der Firma einen »bedeutenden Kapitalzufluß« (Düffel 2005: 60) zu erobern. Die Heiratspraxis der Buddenbrooks zeigt deutlich, dass sämtliche Familienverhältnisse primär ›Geldverhältnisse‹ sind. Alle familiären Entscheidungen werden von einem ökonomischen Diskurs überlagert, was sich auch im kaufmännischen Fachjargon äußert, in dem familiäre Transaktionen verhandelt werden. Die Besprechung eigentlich privater Angelegenheiten zeichnet sich in hohem Maße durch die Verwendung von Wirtschaftsvokabular aus. Der familiäre Bereich wird von ökonomischem Sprachgebrauch dominiert. So bedient sich Jean bei der Bewertung seines zukünftigen Schwiegersohnes Grünlich einer »kaufmännische(n) Phrase« und redet »wieder kaufmännisch«, wenn er äußert, dass man »am Ende nicht fünf Beine auf ein Schaf verlangen« (Düffel 2005: 17) könne. Die Eheschließung wird als Geschäft betrachtet, das es unter Abwägung des »Risikos« (Düffel 2005: 17) und zähen Verhandlungen über die Mitgift zwischen Geschäftsmännern – Vater und Ehemann – zu schließen gilt. Und auch Tonys Ehe-Marathon gestaltet sich dem Vokabular nach wie eine nicht geglückte berufliche Karriere. Grünlichs Antrag wird als Stellenangebot verhandelt, als »Lebensstellung«, die man ihr »anbietet« (Düffel 2005: 13) und als Chance »mitzuarbeiten« (Düffel 2005: 27). Nach der zweiten gescheiterten Ehe gibt Tony dann ihren Rückzug aus dem Berufsleben bekannt und verabschiedet sich, mit dem Hinweis darauf, nun »abgewirtschaftet« (Düffel 2005: 83) zu haben, quasi in den Ruhestand. Besonders

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prägnant bringt Thomas das Primat des Ökonomischen auf den Punkt, wenn er in einem Streit über das Geld der Firma seiner Mutter erklärt: »Und ich entgegne Dir, Mutter, […] daß aber meine Eigenschaft als Sohn zu Null wird, sobald ich Dir in Sachen der Firma und als männliches Oberhaupt der Familie gegenüberstehe!« (Düffel 2005: 84). Der in den Buddenbrooks vorherrschende Geist entspricht ganz dem von Max Weber in seiner bekannten Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus identifizierten Geist des modernen Kapitalismus, der den Gelderwerb zum Daseinszweck schlechthin stilisiert. Im Zentrum steht eine Ethik, ein Modus der Lebensführung, der sich zentral um die Gewinnmaximierung dreht und alle Lebensführungsimperative von diesem höheren Ziel ableitet. Als Ideal wird eine streng organisierte und rationalisierte Lebensführung proklamiert, die mit dem Begriff der innerweltlichen Askese zusammengefasst werden kann. Als zentrale Tugenden gelten hierbei Fleiß, Tüchtigkeit, Arbeitswille und Sparsamkeit; verachtet werden hingegen Faulheit, Untätigkeit und Geldverschwendung. Als Prototyp des Leistungsethikers im Sinne Max Webers kann Thomas Buddenbrook betrachtet werden. Er entspricht ganz Webers Typus des modernen, kapitalistischen Berufsmenschen, der sein Leben nach den Werten der protestantischen Leistungsethik führt. (Vgl. Weiller 1994: 263.) Er ordnet seine persönlichen Belange bereitwillig dem Interesse von Firma und Familie unter und richtet seine Lebensführung an den Idealen von Arbeit und Gewinnmaximierung aus. Dies zeigt auch die Bühnenfassung in aller Deutlichkeit. Im Mittelpunkt steht bei Thomas dabei der Begriff der Leistung, in der er das Mittel schlechthin sieht, um Erfolg und Reichtum zu erlangen. Durch Anstrengung und persönlichen Einsatz glaubt er geschäftlich voranzukommen. Dieser Haltung verleiht er Tony gegenüber Ausdruck, wenn er feststellt: »Ach, wir sollen uns hinsetzen, zum Teufel, und etwas leisten, wie unsere Vorfahren etwas geleistet haben.« (Düffel 2005: 54.) Und auch seinen Bruder Christian fordert er wiederholt dazu auf, sich aktiv einzusetzen und es ihm gleichzutun. Paradigmatisch äußert sich das, wenn er seinem Bruder in einem Streit zuruft: »Arbeite!« (Düffel 2005: 98). Denn als erfolgsorientierter Nachfolger steht Thomas seinem Bruder antagonistisch gegenüber. Christian ist arbeitsunfähig und hypochondrisch und vertritt einen Wertekanon ganz anderer Art. Anstatt die Zeit an seinem Schreibtisch im Comptoir zu verbringen, versucht er, das Leben zu genießen, und verbringt seine Zeit lieber in Herrenklubs und – für unseren Kontext zu beachten – im Theater als in der Firma. Sehr zum Zorn seines Bruders spricht er verächtlich von der Arbeit des Kaufmannes und ist zudem be-

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reit, eine nicht standesgemäße Verbindung einzugehen – und damit, wie Thomas es sieht, die Geldströme der Familie Buddenbrook zu verunreinigen. Mit den beiden Brüdern werden uns somit zwei gegensätzliche Umgangsweisen mit dem Gewinnmaximierungsgebot vor Augen geführt, die in der Auseinandersetzung um die Größe ›Arbeit‹ kulminieren. Mit Blick auf die drei Geschwister bieten Roman und Bühnenfassung die Analyse des kapitalistischen Lebens- und Leidensalltags mit seinem spezifischen Leistungsethos, das alle drei Geschwister in ihrer Lebensplanung und -führung prägt. Während Tony und Thomas als Erfüllungsgehilfen ihr Bestes geben, entzieht sich Christian dem Leistungsdruck durch Flucht in seine hypochondrischen Zustände. Soweit folgt die Bühnenfassung dem Roman. Dieser stellt darüber hinaus das Leistungsethos als das Ergebnis eines Verfallsprozesses dar – erzählt der Roman ja vom Verfall einer Familie. Mit dem Fokus auf die Folge der männlichen Firmenchefs wird auch von den Vorfahren der drei Geschwister berichtet. Gerade im Gegensatz zu Thomas waren diese mit Freude und Leichtigkeit oder einer religiösen Unterfütterung ihrer Anstrengungen bei der Arbeit. So sind Arbeit, Gewinnmaximierung und Leistung bei Jean Buddenbrook, dem Vater der drei Geschwister, noch Größen, die an einen höheren, religiös untermauerten Sinn gekoppelt werden. Bei seinem Sohn Thomas – und damit sind wir auch wieder auf der Ebene der Bühnenfassung – finden wir hingegen den Typus des säkularisierten Leistungsethikers, der Geld allein um seiner selbst Willen anscheffelt und vermehrt. Geld stellt den höchsten und auch einzigen auszumachenden Wert dar. Als transzendental obdachloses, etwas positiver vielleicht: als autonom zu bezeichnendes Subjekt kann Thomas sich nicht auf eine irgendwie geartete Metainstanz beziehen, sondern muss seine Leistungsmotivation aus sich selbst schöpfen und sich seinen Erfolg hart erkämpfen. So stellt er selbst fest: »Ich werde gänzlich auf mich selbst gestellt sein. Wenn ich leben will, gut leben, werde ich arbeiten müssen, schwer, hart, härter noch als alle anderen. Ich muß mir Härte zufügen, Härte erleiden und es nicht als Härte empfinden, sondern als etwas Selbstverständliches.« (Düffel 2005: 11f.) Das von ihm bereitwillig verfochtene Leistungsprinzip geht ihm also nicht locker von der Hand, sondern ist mit enormem Kraftaufwand und anstrengender Selbstdisziplinierung verbunden. Thomas begegnet uns als Schauspieler, der eine vorgelebte und kräftezehrende Rolle spielt und der mit zunehmendem Alter feststellen muss, dass ihn diese letztlich leider nicht erfüllt:

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»Ich bin ein Schauspieler. Wirklich! Mein Dasein ist das eines Schauspielers! Mein Leben ist bis auf die geringste, alltäglichste Kleinigkeit zu einer einzigen Produktion geworden, die alle Kräfte in Anspruch nimmt und verzehrt … der Mangel eines aufrichtigen Interesses, die Verarmung und Verödung des Innern, bei gleichzeitiger unablässiger Anstrengung, nach außen hin um jeden Preis würdig zu erscheinen, die eigene Hinfälligkeit mit allen Mitteln zu verstecken und die Contenance zu wahren. Alles, was ich tue, ist künstlich, bewusst, gezwungen, jedes Wort, jede Bewegung, jede Aktion unter Menschen ist zu einer unnatürlichen, aufreibenden Schauspielerei geworden! Ich bin krank! […]« (Düffel 2005: 88).

Erschöpft und am Ende seiner Kräfte muss sich Thomas eingestehen, dass das Leistungsprinzip der Gewinnmaximierung keinen erfüllenden Lebenssinn bietet, sondern bei ihm eine innere Leere hinterlässt (vgl. Düffel 2005: 87). Thomas verzweifelt also letztlich an seinem Beruf, eben daran, sein Dasein in den Dienst von Firma und Familie zu stellen – und hält dennoch bis zum Ende an dieser Lebensform fest. Einzige, jedoch eben gerade keine Erfüllung bietende Sinnstiftungsmöglichkeit ist und bleibt bei ihm die Arbeit. Ähnlich negative Bilanz müssen am Ende auch Thomas’ Geschwister ziehen. Tony scheitert bis zuletzt mit dem Versuch, sich profitbringend auf dem Heiratsmarkt zu etablieren, und Christian, der sich von Anfang bis Ende dem Leistungsdruck zu entziehen versucht hat, landet »in einer Zelle der Psychiatrie« (Düffel 2005: 106). Das Stück macht uns also, wie Gutjahr es treffend diagnostiziert, zu »Zeugen eines dreifachen Scheiterns« (Gutjahr 2006a: 27) an einem Lebenskonzept, das das Prinzip der Vermögensmaximierung in den Mittelpunkt stellt. Arbeit als Selbstzweck stellt sich als völlig sinnentleert dar und kann dem Einzelnen keinen legitimen Existenzinhalt stiften. Die Protagonisten werden zu den zweifelhaften und verzweifelten Helden einer Gesellschaft, deren einziger Wert im Geld besteht. Wir bekommen ein Handlungsfeld zu sehen, das durch die Gewinnmaximierung als ökonomischer und alleiniger Handlungsimperativ bestimmt wird. In diesem Rahmen bewegen sich die einzelnen Figuren und zeigen, dass dieser Imperativ alleine eben nicht ausreicht, um ein sinnerfülltes Leben zu führen. Vielmehr bleibt der Mensch im Kampf um Gewinnmaximierung auf der Strecke. Präsentiert werden eine sinnentleerte Welt, deren einziger Wert im Mehrwert besteht, und moderne Menschen, die sich im Strudel von Arbeit und wirtschaftsliberaler Selbstbestimmung verlieren. Und genau damit trifft das Extrakt der Bühnenfassung den Nerv der Zeit. Die Probleme, mit denen sich Thomas Buddenbrook und seine Zeitgenossen konfrontiert sehen, sind auch im 21. Jahrhundert noch aktuell. ›Arbeit‹ stellt immer noch die Größe dar, nach der Menschen beurteilt 305

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und kategorisiert werden, und dass individuelle Lebensentwürfe der Gewinnmaximierung geopfert werden müssen – man denke an die Beschäftigungspolitik von Großkonzernen – ist an der Tagesordnung. Dass wir uns mit den Problemen, mit denen sich die Buddenbrooks als »Invaliden der aufgerüsteten Moderne« (Dierks 2008: 124) herumschlagen, ganz gut auskennen, legt auch Dierks in seiner Untersuchung dar. Er identifiziert gewisse Konstitutionsmuster der kapitalistischen Moderne, die unerschütterlich immer wieder ihre Wirkung entfalten. Während die Buddenbrooks noch mit den Auswirkungen einer ersten Beschleunigungswelle kämpfen, haben die Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts mit einem erneuten Modernisierungsschub zu ringen, der sich in den Bereichen von »Arbeit und Selbstverantwortung« (Dierks 2008: 116) aber vergleichbar bemerkbar mache.2 Während jene die Folgen der Industrialisierung zu spüren bekommen, sehen wir uns heute mit den Auswirkungen einer Globalisierung konfrontiert. Wie um diese Aktualität zu gewährleisten und das Geschehen zu vergegenwärtigen, sind in der Bühnenversion sämtliche Hinweise auf den zeitgeschichtlichen Kontext der Romanhandlung eliminiert. Kriege, die Revolution von 1848, der Zollverein und andere Tendenzen der Zeit, die im Roman als Kulisse fungieren, vor der sich der geschäftliche Verfall der Firma Buddenbrook profiliert, kommen im Stück nicht vor. Auch die Summen und Beträge, die im Roman historisch korrekt in Mark Kurant angegeben werden, sind in der Bühnenfassung um ihre Währung gebracht. Lohnend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Darstellung von Kredit- und Spekulationsgeschäften, die von den Mitgliedern der Familie Buddenbrook als zu risikolastig gemieden werden, handeln diese doch nach dem überlieferten Grundsatz: »Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey Nacht ruhig schlafen können!« (Düffel 2005: 29.) Im Roman kommt hier, dem Diskurs der Zeit entsprechend, eine antisemitische Komponente hinzu. 2

Dierks bezieht sich hierbei unter anderem auf die Arbeit des Soziologen Hartmut Rosa, der in seiner Untersuchung zur Moderne die Kategorie der Beschleunigung als zentrales Merkmal der Modernisierung ausmacht. Rosa sieht die Dynamisierung und »Beschleunigung von Prozessen« als »ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft« an (Rosa 2005: 15). Diese Dynamisierung, die sich im Zuge der Industrialisierung in allen Lebensbereichen manifestierte, spiegeln die Buddenbrooks, und hierin ist der Roman der Bühnenfassung weit überlegen, deutlich wider. Exemplarisch sei hier darauf verwiesen, dass im Roman eine Wirtschaftsweise stets dann erfolgreich ist, wenn sie dem Gebot der Geschwindigkeit gehorcht. Wer in der beschleunigten Zeit der Buddenbrooks geschäftlich bestehen will, muss Gas geben, sonst wird er überholt. 306

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Wenn Thomas sich zunächst gegen Tonys Vorschlag verwehrt, eine Ernte auf dem Halm zu kaufen – also bevor die Ernte tatsächlich existiert – und somit Profit aus der Misslage eines anderen zu ziehen, geschieht dies unter dem Hinweis, dass dies eine Geschäftsmethode von »Juden« und »Halsabschneidern« (Mann 2002: 462f.) sei. Ebenso fallen in der Bühnenfassung die antisemitischen Züge weg, die im Roman die Schilderungen der emporblühenden Familie Hagenström prägen.3 Entkoppelt von diesem ›Ballast‹ ist ein abschließender Blick auf die Thematisierung der Größe ›Kredit‹ hoch brisant, werden hier doch Grundeinsichten offenbart, die momentan aktueller nicht sein könnten. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die GrünlichEpisode, die, kaum gekürzt, in die Bühnenfassung übernommen wurde. Denn die Episode legt das Grundproblem offen, das jeglichem KreditWirtschaften inhärent ist, sie legt das Kernproblem des Kredits bloß: seine Deckung. Denn das große Dilemma des Kredits ist – wie der Name schon verrät –, dass er auf einer Größe beruht, die stets hintergehbar ist, nämlich dem Glauben, dem Glauben daran, dass ein Kredit gedeckt ist.4 Als Gläubiger glaubt man daran, dass man sein investiertes Kapital mit Profit wieder zu Gesicht bekommen wird. Was passiert, wenn dies nicht (mehr) der Fall ist, verraten ein Blick in die aktuellen Wirtschaftsmeldungen, die sich mit der US-Immobilien- und Bankenkrise beschäftigen, oder aber die Buddenbrooks. Betrachtet man hier die Episode um den betrügerischen Grünlich, so muss man von einem doppelten Kredit-Desaster sprechen, da sowohl Bendix Grünlich als auch die Familie Buddenbrook, allen voran der Konsul, mit der Deckung ihrer Kredite Probleme haben. Bei Grünlichs Bankrott kann man mustergültig nachvollziehen, wie das schwindende Vertrauen in seine Zahlungsfähigkeit seine Gläubiger zu Kreditrückforderungen treibt. Denn Grünlichs Kredite hingen, wie sich herausstellt, allein von der Liquidität und dem guten Ruf der Firma seines Schwiegervaters ab. Da die Firma Buddenbrook nun einen erheblichen Verlust bei einem Geschäft in Bremen erlitten hat, schwindet das Vertrauen in »die bewusste Firma« (Düffel 2005: 34) und damit auch das 3 4

Vgl. dazu zum Beispiel die Studie von Yahya Elsaghe (Elsaghe 2003). Der Glaube stellt die Grundvoraussetzung für jede funktionierende Geldwirtschaft dar; ihre Basis ist die gesamtgesellschaftliche Akkreditierung des Geldes, das Vertrauen in das allgemeine Versprechen, dass Geld seine Gültigkeit und seinen Wert behält und jederzeit wieder eingesetzt und eingetauscht werden kann. Darauf weist auch Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes hin, wenn er »Vertrauen« und »Glauben« als Grundlage des Geldverkehrs angibt (Simmel 1989: 215). Erst der Glaube verschafft der Münze das, worauf es ankommt, ohne ihn »würde der Geldverkehr zusammenbrechen« (Simmel 1989: 215). 307

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in Grünlich. In dem Moment, in dem die Firma Johann Buddenbrook nicht mehr »zweifellos gut ist« (Düffel 2005: 35), verlangen die Gläubiger, darunter auch eine Kreditbank, die »tobt« (Düffel 2005: 35), von Grünlich ihr Geld zurück. Und dieser, nicht länger durch seinen Schwiegervater gedeckt, macht Bankrott. Doch nicht nur Grünlich hat sich hier verspekuliert, auch der Konsul hat das Risiko des Heiratsgeschäfts falsch eingeschätzt und die »80.000 für die Mitgift« seiner Tochter ganz und gar nicht »gut angelegt« (Düffel 2005: 18). Denn trotz des Versuchs, sich abzusichern, ist der Konsul den gefälschten Büchern Grünlichs aufgesessen, stimmten diese doch »mit der rauhen Wirklichkeit nicht überein« (Düffel 2005: 45). Der Konsul wird von dieser eingeholt und muss feststellen, dass auch die Auskünfte, die er über seinen Schwiegersohn in spe eingeholt hat, sich als Lügen entpuppen, denen er besser nicht vertraut hätte. Der Fehler, den der Konsul hier gemacht hat, ist, dass er geglaubt hat und dass er Kredit gegeben hat. Auch er, ein Mann der Tatsachen und gewissenhaften Buchführung, kann gewisse fundamentale Kreditrisiken letztlich nicht ausschließen. Wie gefährlich es werden kann, wenn die Deckung nicht stimmt, zeigen die Folgen. Denn was von Tonys ›Börsengang‹ – immerhin wurde die Verlobung an der Börse ausgerufen – übrig bleibt, sind ein bankrotter Grünlich, eine um 80.000 geprellte Firma Buddenbrook und eine Tony, die – zumindest im Roman – nur mehr in ihr mit dem Monogramm AG5 besticktes Batisttüchlein schniefen kann.

Literatur Dierks, Manfred (2008): Buddenbrooks und die kapitalistische Moderne. In: Sprecher, Thomas (Hg.): »Was war das Leben? Man wusste es nicht!« Thomas Mann und die Wissenschaften vom Menschen. Die Davoser Literaturtage 2006. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann (Thomas-Mann-Studien, 39), S. 111–126. Düffel, John von (2005): Buddenbrooks. Nach dem Roman von Thomas Mann. Weinheim: Deutscher Theaterverlag. Elsaghe, Yahya (2003): Die »Judennase« in Thomas Manns Erzählwerk. In: Journal of English and Germanic Philology 102.1, S. 88–104. Gutjahr, Ortrud (Hg.) (2006): Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John von Düffels Bühnenfassung und Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia-Theater Hamburg. Würz5

Auf die Übereinstimmung zwischen den Initialen von Antonie Grünlich und der Abkürzung für Aktiengesellschaft weist schon Jochen Hörisch hin (1998: 328). 308

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burg: Königshausen und Neumann (Theater und Universität im Gespräch, 4). Gutjahr, Ortrud (2006a): Die Wonnen der Bürgerlichkeit? Eine Einführung in Thomas Manns Buddenbrooks und John von Düffels Bühnenfassung. In: Dies. (Hg.): Buddenbrooks von und nach Thomas Mann. Generation und Geld in John von Düffels Bühnenfassung und Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia-Theater Hamburg. Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 21–44 (Theater und Universität im Gespräch, 4). Hörisch, Jochen (1998): Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jannidis, Fotis (2008): »Unser moderner Dichter» – Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901). In: Luserke-Jaqui, Matthias (Hg.): Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Berlin: de Gruyter, S. 47–72. Mann, Thomas (2002): Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Hg. u. textkritisch durchgesehen v. Eckardt Heftrich unter Mitarbeit v. Stephan Stachorski. Frankfurt am Main: Fischer (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, 1). Mann, Thomas (1983): Betrachtungen eines Unpolitischen. Mit einem Nachwort v. Hanno Helbling. Frankfurt am Main: Fischer (Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurter Ausgabe). Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Simmel, Georg (1989): Philosophie des Geldes. Hg. v. David P. Frisby u. Klaus Christian Köhnke. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Georg Simmel Gesamtausgabe, 6). Weber, Max (2000): Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus. Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 hg. u. eingeleitet v. Klaus Lichtblau u. Johannes Weiß. Weinheim: Beltz Athenäum (Neue Wissenschaftliche Bibliothek). Weiller, Edith (1994): Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler.

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Ä STHETISCHE Ö KONOMIE

BÜHNENDINGE. ELFRIEDE JELINEKS REQUISITEN KONSTANZE FLIEDL

1. Spielzeug Wenn Dinge erforderlich sind, heißen sie Requisiten. Und zwar buchstäblich: Das Requisit ist eine »erforderliche Sache«. »Requirere« heißt »suchen«, »verlangen«, »in Anspruch nehmen«; »requirieren«, als Fremdwort der Heeressprache, »beschlagnahmen« oder »beschaffen«. »Requisitum« ist das Objekt des Bedarfs und das Objekt des Begehrens, das Ding, das, an sich gebracht, Notwendigkeit stillt und Bedürfnis befriedigt. Das Requisit ist kein Ding an sich: Gerade, dass es auf Konkretes antwortet, bestätigt es in seiner Realität und Materialität. Auf dem Theater antworten die Requisiten allerdings auf imaginäres Begehren. Je virtueller der Trieb, der sich auf sie richtet, desto höher ihr Bedeutungsgrad. Schon auf dem antiken Theater spielen Dinge mit, nicht viele, aber umso vielsagendere. Auf der Bühne ist das Requisit ein Code. Weil es beispielsweise als Schmuck nicht nur schmückt, sondern Schmuck bedeutet, kann es auch symbolisieren: Als zerbrochenes und wieder zusammengesetztes Schmuckstück ist es »sym-bolon«, Zusammengeworfenes oder Zusammengefügtes, Zeichen der Wiedererkennung, Träger der Anagnorisis und damit geradezu das Konzentrat eines Sinns, der sich nach Trennung, Reise, Verlust als wiedergefundener, zur Gestalt versammelter, zu Ende gebrachter ein- oder überhaupt erst herstellt. Trotzdem sind Requisiten auf erstaunliche Weise Stiefkinder der Theorie. Dass sie in den Katalogen dramatischer beziehungsweise dramaturgischer Codes eine so unbedeutende Rolle spielen,1 hat zu tun mit 1

Manfred Pfister beispielsweise widmet dem Requisit, dem er eine »Mittelposition« zwischen Figur und Bühnenbild zuweist, gerade einmal vier Seiten (Pfister 1977: 355). – Erika Fischer-Lichte behandelt die »problematische Gruppe« der Requisiten auf fünf Seiten (Fischer-Lichte 2007, Bd.1: 151). – Elaine Aston und George Savona erwähnen »Objects« im Zusammenhang mit der Diskussion von Becketts Krapps Last Tape auf weniger 313

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dem Umstand, dass Bedeutung und Funktion kontextuell und außerdem inszenierungsabhängig sind: Sie verdanken sich den Regieanweisungen des Autors ebenso wie den Regieeinfällen des Spielleiters. Und der Regisseur kann sich wiederum selbst dadurch definieren, welche Requisiten er vorzieht. So hatte Claus Peymann ein interessantes Verhältnis zum Feuer: Immerfort gloste, flammte und flackerte es auf seinen Bühnen, während Martin Kušej dem Element des Wassers den Vorzug gab und Sumpf, See und Regen mitspielen ließ. Deshalb lässt sich für die Requisite keine endgültige Regel erstellen: Ihr Elementares ist ein Code, entzieht sich aber der Codifizierung. Immerhin lässt sich sagen, dass die Bühnendinge derselben Spaltung unterliegen wie die Darsteller: A  R, das heißt: Der Aktor, der Darsteller, ist nicht dasselbe wie seine Rolle. Ein Stuhl auf der Bühne also ist nicht bloß Stuhl, sondern er spielt einen Stuhl. Ein Requisit ist nicht nur ein Zeichen, sondern auch das Zeichen eines Zeichens (vgl. FischerLichte 2007, Bd. 1: 152), insofern, als der Stuhl auch ein Pferd oder möglicherweise einen Turm spielen kann. In der Inszenierung von Shakespeares Sturm mag ein Wassergraben das Meer um Prosperos Insel herum darstellen. Aus dieser Rolle kann der Graben aber auch fallen: Wenn der Schauspieler Fritz Schediwy als Stefano hineinstolpert und sich den Knöchel bricht – so geschehen in Claus Peymanns Wiener Burgtheater-Inszenierung von 1988 –, dann verwandelt sich nicht nur Shakespeares Stefano in den Schauspieler und dann in die leidgeprüfte bürgerliche Person Schediwy zurück, sondern auch das Meer in den Graben und dieser in das hinterlistige Objekt, in die Unfallursache. Das dämonische Eigenleben der Dinge lauert also immer noch hinter ihrer dramaturgischen Semantisierung, als eine – möglicherweise unheilvolle – Materialität, eine Realität, die im wahrsten Sinn des Wortes anstößig werden kann. Dinge auf der Bühne sind also materiell im doppelten Sinn: stofflich und körperlich in ihrer Gegenständlichkeit – und ökonomisch im Sinne eines Interesses an einer Realität, die sich zum Eigentümlichen, zum »Eigentum« verdichten kann. Die englische Etymologie belegt das sehr treffend: Hier heißt das Requisit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts »prop«, also: »property«, was nicht nur meint, dass das betreffende Ding dem Aktor ›eigentümlich‹ ist, ihn bezeichnet, sondern eben auch, dass es sein Besitz ist, paradoxerweise geradezu eine Immobilie, ein ›Grund und Boden‹ seiner Interessen. Der Requisiteur heißt »prop manager« oder »prop master« beziehungsweise »prop mistress« und ist also quasi als zwei Seiten (Aston/Savona 1991: 164f.). – In einem neueren Band zur Dramen- und Theaterdidaktik sind dem Requisit vier Seiten gewidmet (Denk/Möbius 2008: 110–113) und so weiter. 314

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der Makler dieses dramaturgischen Vermögensbestands. Der französische Sprachgebrauch hingegen verhält sich hier dekorativ und nennt das Requisit bescheiden eine Beigabe, ein »accessoire«, den Requisiteur »accessoiriste«. Vom mittellateinischen »accedere«, »hinzukommen«, abgeleitet, drückt dieser Terminus wiederum die Arbitrarität des Zeichens »Requisit« aus. Scheint es also etymologisch so, als ob das Requisit Proprium und Accessoire, Substanz und Akzidens, das Eigentliche und das Hinzugegebene gleichzeitig sei, so fällt in seiner Materialität tatsächlich das Wesentliche und das Dazugekommene zusammen: Das Accessoire ist Zeichen des Eigentümlichen, das Proprium drückt sich nicht anders als akzidenziell aus. Als Materielles setzt sich das Ding auf der Bühne letzten Endes über alle philosophischen Differenzierungen hinweg: Als Angehöriger der Dingwelt ist es per se Materialist, es steht tendenziell immer für eine krude Stofflichkeit, ein Kontrast zur hehren spirituellen Auseinandersetzung. Vor allem im Volkstheater gewinnen die Dinge auf der Bühne ein auffallendes Eigenleben. Volker Klotz hat die Gegenstände auf dem Theater kurzerhand »Gegenspieler« genannt (Klotz 2000)2: Sie sind nicht nur Mitspieler, selbstständige Akteure, sondern auch Gegner der Protagonisten; die Sache wird zum Widersacher. Das hilfreiche Requisit verwandelt sich in ein dämonisch widerspenstiges Zeug, ein tückisches Objekt, nicht nur dann, wenn es aus der Rolle fällt, sondern gerade, wenn es in ihr verbleibt: wenn es, als Taschentuch, Othello an der Nase herumführt oder, als Hose, Frau Maske ein Bein stellt. In der respektlosen Komödie findet man den durch die Dinge übertölpelten, hilflosen Menschen gewöhnlich häufiger: Im Gegensatz zur hohen Tragödie präsentierten sich die Dinge als materielle Antagonisten zum ideellen Agon, zum Ideenkonflikt. Und gerade die Anthropomorphisierung der Dinge weist umgekehrt auf die Verdinglichung des Menschen unter den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen: Der Materialismus der Requisiten, die menschlich sind, insofern sie andere hereinlegen, deutet nicht nur auf das moralisch relativ defekte Humane, sondern auch seine sozialen Entstellungen. Beides zeigt der koboldhafte Gegenstand an, insofern ist er Parodist und Kritiker der Verhältnisse. Das Requisit ist also nicht nur ein Ma-

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Sehr einleuchtend hatte schon Hans Hoppe die Autonomisierung der »Gegenstände« im modernen Theater beschrieben und sie der »traditionellen Form« szenischer Aktion, die noch vom menschlichen Subjekt dirigiert sei, gegenübergestellt; der Autonomieverlust des Subjekts und die Überhandnahme des Objekts auf dem Theater erscheinen so als gegenläufige Konsequenzen der »gesellschaftlich produzierten Verdinglichung des Menschen« (Hoppe 1971: 93). 315

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terialist; es ist in diesem Sinn auch ein Marxist – sein Sein bestimmt das Bewusstsein von Spieler und Publikum. In manchen, besonders raffinierten Fällen reflektieren die Dinge aber noch die eigene Theatralität oder aber Skripturalität. Ein Meister dieser poetologischen Requisite war Johann Nestroy. Ein aufschlussreiches Beispiel ist sein Talisman (1840): Der rothaarige Außenseiter Titus wird mithilfe dreier Perücken, einer schwarzen, einer blonden und einer grauen, zum Frauenliebling und zum stufenweisen gesellschaftlichen Aufsteiger. Gerade der Perückenwechsel aber thematisiert das Verkleidungsaccessoire; dass Titus Schauspieler der jeweiligen sozialen Position ist, macht wiederum den Rollencharakter des sozialen Status deutlich. Die poetologische Selbstbezüglichkeit des Requisits steigert also zugleich seine sozialkritische Funktion. Nestroys häufigstes Requisit aber ist der Brief, eines der brisantesten Dinge der Theatergeschichte, Mittel und Mitteilung, Medium und Message, Narrator und Akteur der Intrige, insofern er nicht nur zugestellt, sondern heimlich gelesen, unterschlagen, gefälscht, vertauscht oder verloren werden kann. Ein ›Fremdkörper‹ auf der Szene des gesprochenen Wortes, deutet der Brief zurück auf das Schriftliche, Textliche des Dramas: Wenn für das Drama gilt, dass »die Personen auf der Bühne die Vor-Schrift löschen, nach der sie existieren, indem sie eben diese Vor-Schrift entziffern« (Klotz 2000: 94), so bildet der Brief als materielles Schrift-Substrat immer ein handfestes Erinnerungsstück von Schriftlichkeit; als ›letter‹ ist er buchstäbliches Memento von Literarizität, gewissermaßen ein poetologisches Faustpfand. Die interessantesten Theaterdinge sind also auch Materialisierungen des Spiels im Spiel oder des Buchs im Buch. Dramaturgische Symbolkraft hingegen hat ein anderes Requisit gewonnen, die notorische ýechov-Pistole, welche, hängt sie im ersten Akt an der Wand, im letzten auch losgehen muss. Da das Axiom als briefliche3 und mündliche Äußerung ýechovs mehrfach tradiert ist, taucht das ominöse Ding auch in den Varianten von Büchse, Flinte, Gewehr oder Revolver auf. Das Diktum zielt nicht nur auf die kompositorische Funktion eines Requisits, sondern darüber hinaus auf das klassische Prinzip der Finalität; es suggeriert auch noch das schicksalsdramatische Verhängnis, indem der finale Effekt hier ja auch anzunehmenderweise ein letaler ist. Allerdings verweist der materielle, der quasi-ökonomische Status des Requisits hier zuletzt auch noch auf die Ökonomie des bürgerlichen Theaters in seiner klassischen Form, die jedes Bühnenelement funktionalisiert und keine dramaturgischen Überschüsse duldet. Die Prä3

Brief an A. S. Lazarev-Gruzinskij, 1.11.1889: »Man kann nicht ein geladenes Gewehr auf die Bühne stellen, wenn niemand die Absicht hat, einen Schuß daraus abzugeben« (ýechov 1998: 73). 316

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senz der Gegenstände legitimiert sich überhaupt nur durch ihre Funktion: Was nicht arbeitet, darf auch nicht mitspielen. Dieser protestantischkapitalistische Einsatz der Mittel, der keinen Überfluss und keinen Müßiggang kennt, der jede Ressource bewirtschaftet und Unnützes ausschließt, ist die Basis einer Ästhetik, die ihre Requisiten, das Erforderliche, verzweckt. Von der Sprengkraft des Requisits, das schon gegen die Figuren aufmuckt, war aber theatergeschichtlich zu erwarten, dass es einmal auch gegen diese Form seiner Bewirtschaftung auftritt. Der Schuss aus ýechovs Pistole kann gleichsam nach hinten losgehen und gerade die Finalität und Funktionalität als dramaturgische Prinzipien treffen. ýechovs Pistole erzeugt gewissermaßen auch einen Schuss ins Knie der eigenen Poetik: Zu Boden gestreckt wird im Finale das Finale, der dramatische Telos. Mit dem postmodernen Theater ist dieser Knalleffekt bekanntlich eingetreten. Die sparsame Bewirtschaftung der Bühne hat es zugunsten einer spielerischen Verschwendung gebrochen und präsentiert mitunter einen Überschuss von Dingen, ein überflüssiges, dysfunktionales, zweckfreies Gerümpel, das allerdings immer noch als Zeichen funktioniert: Es bezeichnet Arbitrarität, wenn es nicht überhaupt poetologisch jenen Berg von Kulturschutt andeuten soll, der die Rampe zur Avantgarde bildet. Solche Ausstattung scheidet aufgrund ihrer Beliebigkeit nun oftmals aus den Regiebemerkungen aus, sinkt vom Nebentext zum Epitext ab, also etwa in das Skript des Requisiteurs. Tatsächlich stellen Gegenwartsdramatiker die Requisite gerne der Inszenierung anheim. Elfriede Jelinek hat diese Reduktion auktorialer Vorschriften natürlich explizit gemacht, etwa zu Beginn des Sportstücks (1998): »Die Autorin gibt nicht viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt. Machen Sie was sie wollen« (Jelinek 1998: 7). Dieses Laissez-faire ist natürlich nicht oder nicht nur eine Kapitulation vor dem Regietheater: Wo Jelineks dramatische Textflächen kein individuelles Subjekt mehr kennen, scheidet freilich auch das ›proprium‹, das Eigene und Individuelle des Gegenstandes aus. Daher kann ein Text wie Ulrike Maria Stuart von Nicolas Stemann in Hamburg geradezu als Potlatsch der Dinge, als quasi katholisch-üppiger Kram, als eine Überfülle von Perücken und Masken, von Farbbeuteln und Pappfiguren inszeniert werden; ýechovs Pistole hat sich vervielfacht und tritt metonymisch und metaphorisch als Maschinengewehr, als Flöte oder Gehhilfe auf. In München wiederum hat Jossi Wieler eine klare, geradezu protestantisch karge Bühnenfassung vorgeführt.4 Mit Zustimmung der Autorin haben die ›prop masters‹ freie Hand. 4

Elfriede Jelinek: Ulrike Maria Stuart, UA: Thalia Theater, Hamburg, 28.10.2006, Regie: Nicolas Stemann (vgl. dazu: Gutjahr 2007); Münchner Kammerspiele, Premiere: 29.03.2007, Regie: Jossi Wieler. 317

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Allerdings gibt es in Jelineks Bühnentexten signifikante Ausnahmen von dieser Regel. Ihre Regieanweisungen, die gerne zur ironischen Anrede des Regisseurs werden, nennen mitunter doch ganz konkrete Dinge, die vorhanden sein und auch bespielt werden sollen. Das will zwar noch immer nicht heißen, dass diese Requisiten das sine qua non einer Aufführung wären. Gerade die rhetorische Literarisierung des Nebentexts bei Jelinek verleiht aber diesen Gegenständen einen eigenen Rang.

2. Bündel Verfolgt man Jelineks Requisite von den ersten Stücken bis zu den letzten Texten, so ist freilich klar, dass sich umgekehrt die genannten Dinge radikal verringern und ein allfälliger Nebentext von der dramaturgisch zunehmend ungeregelten Sprachflut fortgespült wird. Da den Protagonisten »Textflächen« zugeteilt sind, die – oft entstellte und kompromittierte – Sprachfragmente montieren, erübrigt sich signifikanterweise schon einmal das Brief-Requisit: Die Figurenrede stellt die fremden ›VorSchriften‹ ja bereits aus. Gäbe es einen Jelinek-eigenen ›prop master‹, der sich nur um die, wohlgemerkt: im Stücktext angegebenen Requisiten zu kümmern hätte, so hätte der mit Clara S. (1982) und Krankheit oder Moderne Frauen (1987) eine maximale Leistung zu erbringen gehabt, um danach immer untätiger zu werden: Rosamunde, das dritte der Prinzessinnendramen (2002), kommt ganz ohne betreffende Regieanweisungen aus; für Schneewittchen, das erste (1999), braucht man gerade mal eine Flinte, die allerdings auf der vorletzten Seite prompt und höhnisch losgeht, und naturgemäß einen gläsernen Sarg. Die Texte der 1980er Jahre hingegen verlangen geradezu eine Unmenge von Dingen: »Überall überladener Prunk«, befiehlt die erste Anweisung zu Clara S. (Jelinek 1982: 81)5; ferner gebraucht werden neben vielem anderen ein Konzertflügel samt Trainingsgestell, ein Flugzeugmodell, Seidenkissen, Riechfläschchen und Spritzen und vor allem Esswaren, Bäckereien, Süßigkeiten und Früchte, die aber nicht hygienisch verzehrt, sondern unappetitlich vertan und verwüstet werden. Anal »herumgepatzt« wird auch in Burgtheater (1985), wo die Darsteller mit Lebensmitteln aller Art den Prozess der Zivilisation unterbieten: »Wer ißt wie ein Schweindi und tut mit Nahrung urassen [...]?« (Jelinek 1985: 138) Infantile Vergeudungslust be5

Dass Jelineks Requisiten »emblematisch-zeichenhafte Versatzstücke« seien (vgl. Pflüger 1996: 41), trifft auch auf die Texte der 1980er Jahre beziehungsweise deren Regieanweisungen nur teilweise zu. Zu den allegorischen kommen jeweils auch ›überflüssige‹ Dinge, die eben Überfluss signifizieren oder gerade die Durchkreuzung eines emblematischen Sinns. 318

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dient man auch in Krankheit, wo die aus der Mutter herausgeholten Gummitiere – »Schwimmtiere, Enten, Frösche, Schwäne etc.« – an fünf Kinder verteilt werden (Jelinek 1987: 216). Im letzten Bild dieses ironisch selbstreferenziellen Dramas – Wie ein Stück heißt es im Untertitel – vervielfacht sich die ýechov-Pistole: »Bis zum Schluß wird sich die Landschaft mit Waffen anfüllen« (Jelinek 1987: 246). Aber auch sonst nehmen die Dinge immens zu; mit der Üppigkeit einher geht der Verfall, sodass zuletzt die Vermüllung der Bühne in Szene gesetzt wird, in Krankheit ebenso wie in Raststätte (1994).6 Lustvoll, aber zum Schaden der armen Requisite wird der gesellschaftliche Konsumismus, der Produkte in Abfall verwandelt, auf der Bühne nachgestellt. Immerhin könnte Jelineks ›prop master‹ bestimmte Dinge recyceln. Gut sortiert müsste er sein in der Abteilung Spielzeug, vor allem bei Spielzeugtieren, besonders in Plüsch; großer Bedarf besteht auch an Tierkostümen – wiederum häufig in Plüsch –, die Theater auf dem Theater – also: Kostüm über Kostüm – zu spielen haben. Gewiss lassen sich diese Gegenstände als verdinglichte Befunde eines anthropologischen Pessimismus betrachten: Das Humanum wird in der Mediengesellschaft infantilisiert und bestialisiert zugleich. Aber diese Diagnosen werden auf Jelineks Bühne merkwürdig ›gepolstert‹, durch Plüsch eben und »moosigen Samt«, Wolle und Satin, Rüschen und Spitzen, Tanztrikots, Reizund Sportwäsche und so fort. Immer wieder scheint sich da ein weiteres anthropologisches Axiom in Requisiten zu übertragen: Im Textilen ist das Humane verwirkt. »Ich weiß nicht ich weiß nicht«, so beginnt die Vorbemerkung zu Bambiland (2003), um nach solch doppelter Ratlosigkeit mit einer Anweisung fortzufahren, die kleinbürgerliche Familienerinnerung, Ästhetik des Hässlichen und ein opakes Schuldproblem engführt: »Setzen Sie sich so abgebundene Strumpfkalotten auf die Köpfe, wie mein Papa sie immer zu seinen alten Arbeitsmänteln am Bau von unserem Einfamilienhäuschen getragen hat. Etwas Häßlicheres habe ich nie gesehen. Ich weiß nicht, welche Strafe für welche Schuld Sie bekommen sollen, daß Sie so etwas Häßliches aufsetzen müssen. Strumpfabschneiden, oben zubinden, daß so eine Art Bommel übrigbleibt, und dann auf den Kopf setzen. Das ist alles.« (Jelinek 2003: 15)

Kulturgeschichtlich taucht der abgeschnittene Strumpf, der als Kopfbedeckung benützt wird, als Zeichen der Bettler auf. Hier ist aber wohl eher an einen abgeschnittenen Damenstrumpf zu denken, wie er bis heute als 6

Die Müllhalde als Spielfläche etabliert hat allerdings schon Peter Turrinis rozznjogd (1971). 319

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probates Mittel zur Fixierung von Kopfverbänden, Ohrenkompressen und dergleichen empfohlen wird. Als bereits Defektes wechselt das Ding sein Geschlecht und seinen anatomischen Ort. Eine Metonymie der Beschädigung – der Löchrigkeit, des Schnittes – vertritt es die uniforme Militärkappe, die »army cap«, oder den Helm, »combat helmet«, und assoziiert zum folgenden Text über den Dritten Golfkrieg die fälligen Schädelverletzungen. Der abgeschnittene, zusammengebundene Strumpf fungiert als Bein- und Kopfprothese. Dramaturgisch aber ist die Strumpfkalotte eine Talisman-Travestie: das ästhetische Gegenteil jeder schönen Perücke, wie sie als Zeichen für Status, Rang oder Geschlecht fungiert und noch in Stemanns Inszenierung von Ulrike Maria Stuart als Index der Geschlechterdifferenz vorkommen durfte. Im Proömium – oder Proszenium – von Bambiland wird jede schmucke theatrale Verkleidung dementiert und ersetzt durch ein verletztes Gewebe. Besagte Strumpfkalotte ist aber eben nur ein Beispiel aus der größeren Requisiten-Abteilung des textil umwickelten oder umhäkelten Körpers oder Körperteils. Entsprechende Verstrickungen erzeugt schon Jelineks erstes Stück Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte (1979). Dort wird das Strickzeug als Requisit dem Hausmädchen Anne zugeteilt; Nora findet das Stricken unästhetisch, rät zum eleganteren Sticken und durchtrennt ihre Beziehung zum selbstgefertigten Fallstrick weiblicher Freiheit: »Wirft das Strickzeug in die Ecke, Annemarie läuft ihm nach, kniet am Boden und fädelt die heruntergefallenen Maschen behutsam wieder auf.« (Jelinek 1979: 43) Drei Szenen weiter wird Nora Helmers Blumenstrauß genauso »in die Ecke« werfen (Jelinek 1979: 52), ihn selbst aber auf seinen Wunsch in der Rolle einer Domina zum Paket verschnüren, wobei Seidenstrümpfe ihre fetischistische Rolle spielen. Die im Nebentext nachdrücklich vorgeschriebene Fesselung – »NORA fesselt ihn […] Verschnürt ihn. […] Er wird immer mehr verschnürt. […] NORA […] Schnürt« (Jelinek 1979: 53f.) – ist scheinbar sadistische Ersatzhandlung für das hausfrauliche Stricken. Tatsächlich überblendet das Szenario aber Helmers masochistisches Phantasma und das Setting eines erpressten und erfolterten Geheimnisverrats. Wie sich zeigen wird, kann Nora diese Informationen aber keineswegs in Prestige oder Kapital umwandeln, sondern, wegen des Wertverlusts ihres Körpers, höchstens in eine Abfindung. Sie bleibt das Objekt ehelicher Verstrickung. Dieses quod erat demonstrandum wird von Jelinek aber nochmals poetologisch reflektiert. Das Verdikt über das unästhetische Strickzeug findet sich nämlich wortident in Jelineks ›Vorlage‹, Ibsens Drama von 1879: Helmer rät Frau Linde tatsächlich, lieber zu sticken, weil es »viel hübscher« aussehe, während das Stricken »nur unschön« sein könne (Ibsen 1991: 296). Jelineks Nora wirft dieses, also Ibsens,

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Strickzeug in die Ecke. Vor der deutschen Intertextualitätsdebatte – die im Übrigen gelegentlich auf geradezu romantische Weise einen grundsätzlichen Zusammenklang, eine Übereinstimmung von Texten suggeriert – bezieht sich Jelineks Stück höhnisch auf Barthes’ Axiom: »Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur« (Barthes 2000: 190) und lässt mit seiner Nora aus diesem Gewebe die Maschen fallen. Intertextuell besteht Jelineks ›Masche‹ nämlich darin, das Gewebe der mitsprechenden Stimmen, die Verwirkung der Diskurse satirisch aufzutrennen. Die betuliche Verhäkelung der Intertexte wird von ihr so ausgestellt, dass das sadistisch Eingefädelte des öffentlichen Redens sichtbar wird. Um solches vorzuführen, hat sie 1996 das Stück Stecken, Stab und Stangl, im Untertitel Handarbeit genannt, auf die Bühne geschickt. Aus Anlass der Ermordung von vier Roma im burgenländischen Oberwart entstanden, führt es die Wucherung des Requisits bis zur totalen Vermummung vor: »Eine überdimensionale Supermarkttheke in Chrom und Glas. Das meiste, was man sieht, ist mit eiskremfarbenen Häkelüberzügen, meistens rosa, überzogen, für manche Dinge kann man vielleicht auch Filz nehmen, jedenfalls ein weiches, stumpfes Material, das immer an Handarbeiten erinnern soll. Im Verlauf des Textes wird an den Häkelwaren herumgebessert, geflickt etc. Die Schauspieler sollen damit, fast unmerklich beginnend, sukzessive immer stärker beschäftigt sein. Am Ende ist eine Handarbeitslandschaft entstanden. Auch die Schauspieler sind dann mit Hüllen überzogen.« (Jelinek 1996: 17)

Die Regieanweisungen sehen fortan die Aneinanderheftung, also die Verhaftung der Figuren vor. Sie beginnen, einander zu umhäkeln und sich zu vernähen. Das Requisit bemächtigt sich der Anatomie der Figuren, wuchert über die Ausstattungsdetails und steppt Tierisches und Menschliches grotesk aneinander: »Der Fleischer, er ist übrigens in rosa Häkelkleidung mit Häkelschürze und trägt einen gehäkelten Schweinskopf über seinem eigenen, nimmt seinen Platz ein und überzieht ein, zwei faschierte Laibchen mit Häkel und überreicht sie Margit S., die die Laibchen an ihrer Kleidung festnäht.« (Jelinek 1996: 22)

Jelineks lapidarer Nebentext wirkt, als hätte er Giorgio Agambens L’aperto (2002) bereits satirisch antizipiert: Agambens These, bereits die angestrengte Differenz zum Animalischen habe das Menschliche als inhuman erwiesen, wird hohnlächelnd überholt von einer inszenierten Verschnürung von ›gemischtem Faschierten‹, welches hier nicht von Rind und Schwein, sondern von Tier und Mensch stammt: »Der Fleischer

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schneidet sich seine gehäkelten Schweinsohren vom Kopf und legt sie zum Fleisch dazu« (Jelinek 1996: 25). Die Umhäkelung ergreift Humanes und Animalisches, Lebendiges und Totes, Lebendes und Lebensmittel. Umhäkelt sind Fleischer und Kunden, Würste und Fleischteile, Handtasche und Beil, zusammengehäkelt oder geheftet werden die Kunden, die Organe, die Nahrung. Stecken, Stab und Stangl ist eine fortwährende Verschiebung des Fleischlichen, eine metonymische Kaskade des Organischen im prä- oder postmortalen Zustand. Der Umstand, dass das Tier zur menschlichen Nahrung erst geeignet ist, wenn seine Totenstarre durch Fleischreifung gelöst ist, hebt die Opposition von letaler Festigkeit und vitaler Elastizität auf. Die Figuren häkeln sich schließlich zu Menschenschlangen und Wurstformationen zusammen, die aber auch wieder getrennt und zerschnitten werden, Blut rinnt und »Häkelpakete« enthalten abgeschnittene Körperteile. Verhäkelt sind auch Opfer und Täter, Gegenwart und Vergangenheit. In einer typischen paronomastischen Neubildung werden etwa die Haft und das Hafterl – österreichisch für: »Kleiderhäkchen« – auch noch sprachlich verhakt: »Wir leben ja im Jahrhundert des Sippenhafterls« (Jelinek 1996: 57). Tatsächlich ließen sich Jelineks Neologismen metaphorisch auch als Vernähungen oder Verhäkelungen sprachlichen Materials beschreiben. Vor dem Gebrauch von Textilmetaphern für Jelineks Poetik ist aber zu warnen: Von einer Affirmation des ehrwürdigen poetologischen Bilderschatzes vom Handarbeiten, vom Weben, Flechten, Knüpfen und allen weiteren Arten textilen Werkens für die Produktion von ›Text‹, dem Gewebten, sind Jelineks Texturen weit entfernt, wohl auch, weil diese Bildlichkeit die kulturgeschichtliche Trennung von männlicher und weiblicher Produktivität scheinheilig versöhnt. Nicht um die Herstellung eines Strick- oder Häkelwerkes geht es, sondern um dessen gleichzeitige Auftrennung, Zerschneidung, Beschädigung. Das erzeugte Gewebe ist immer auch ein Abfall und ein Verworfenes. Das Gewebe durchdringt auch die Körpergrenzen, es wird einverleibt und wieder von sich gegeben: »EINE KUNDIN […] Würgt, spuckt etwas Gehäkeltes aus […], wirft es dann über die Schulter« (Jelinek 1996: 54f.), heißt es, und: »EIN MANN ein Häkelpaket verschlingend, zwischen den Bissen, atemlos, schlingend, die Worte hervorwürgend« (Jelinek 1996: 58). Beides, Wort und Gewebe, sind etwas Abjektes, Verworfenes, werden also behandelt wie Materialien der abject art, als da sind: »Blut, Schmutz, Exkremente, Sperma, Haare, verdorbene Nahrung, verwesendes Fleisch, Erbrochenes« (Böhmisch 2008: 34). Dass Jelineks Texte zu solcher abject art gehören, gilt inzwischen als ausgemacht; wichtig ist auch der Hinweis, dass Jelinek die Sprache ihrer Figuren oder auch den poetischen Akt selbst ein »Auskotzen« ge-

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nannt hat.7 Dabei geht es natürlich immer darum, den Status des Verworfenen, seine Verbindung mit dem Weiblichen, seine Separation durch das Hygienedenken zu problematisieren. Aber zugleich ist das »Ausgekotzte« auch tatsächlich das Ekelhafte, die rassistische Rede, die Vergangenheitslügen, das Mediengeplapper. Jelineks poetische Radikalität scheint darauf zu beruhen, dass sie ideologische Positionen nicht segregiert, sondern als hybriden Diskurs anlegt, der an keiner Stelle intakt auf das Rechte deuten kann; jedes Wort ist bereits angesteckt, angeschimmelt, toxisch. So auch die Häkel- oder vielmehr Ekelpakete: »DER FLEISCHER […] Er hängt ein zappelndes Häkelpaket an die Decke. […] Er schlägt mit seinem Stab gegen das Paket, das jäh stillhält. […] Schlägt noch einmal, wütender, es beginnt Blut aus dem Paket zu tropfen« (Jelinek 1996: 52f.).8 Das blutende Bündel ist allerdings schon im »allegorischen Zwischenspiel« des Burgtheaters (1985) aufgetreten. Dort begegnet es als eine Art Mumie oder, wie es heißt, eine »Mischung aus Alpenkönig, Menschenfeind und Invalide« (Jelinek 1985: 143). Groteske Gegenfigur zur Schauspielerfamilie, die es sich in der Nazidiktatur gemütlich gemacht hat, steht der »Alpenkönig« für alles Andere, Ausländer, Juden, Widerstandskämpfer. Im Laufe der Szene wird auf ihn eingeschlagen, worauf er beginnt, »Körperteile zu verstreuen […]. Ein Arm löst sich jetzt. Teile seines Gesichts ebenfalls.« An dieser Stelle erinnert der Nebentext geradezu vorsichtig an die Bühnenfiktion: »(Maske!)« (Jelinek 1985: 147). Unter dieser Kautele fällt der Alpenkönig in blutige Binden und Bandagen auseinander. Er wird zu einem Paket verpackt, zuletzt heißt es: »Resi zerrt das Paket Alpenkönig an den Schnüren hinaus, eine Blutspur zurücklassend« (Jelinek 1985: 150). Seinen Wiederauftritt hat dieses Bündel im Sportstück (1998): »Eine Frau, etwa Mitte Vierzig, und ein junger Sportler kommen herein und treten mit ihren Füßen ein Bündel auf dem Boden herum, sie werfen es einander zu, schlagen es auch mit Schlägern. – Das Bündel wird blutig. In der Folge führt es aber, während es herumgeschleudert wird, normale Tätigkeiten aus, d. h. Fetzen davon, so lange man es läßt, es räumt auf, richtet etwas, liest, alltägliche Dinge eben, das Bündel versucht auch fernzusehen etc. Es darf sich nur vorübergehend irritieren lassen, das Menschenbündel, immer wieder dazwischen muß es ganz normal agieren.« (Jelinek 1998: 16)

7 8

Z. B. Jelinek/Becker 1992: 2; vgl. dazu Bühler-Dietrich 2003: 192–194. Zur Durchdringung von ›Realität‹ und Medienillusion in Stecken, Stab und Stangl vgl. Johanning 2004: 219–221. 323

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Bislang letztmals erschien das Bündel in Der Tod und das Mädchen V (Die Wand) von 2003: als vollständig mit Binden umwickeltes Wesen wird ihm eine »Blut-Kinderjause« serviert (Jelinek 2003: 139f.). In allen Transformationen, als Strumpfkalotte, Strick- oder Häkelzeug, als Schnur und Fessel, Binde und Bandage, Verband oder Wischlappen, ist es beschädigt, zerschnitten oder blutig und umwickelt tierische oder menschliche Körperteile, lebendig, verletzt oder tot, roh oder verarbeitet. Es ist in Jelineks Theater, wenn nicht das häufigste, so doch das signifikanteste Requisit.

3. Bambinisierung »Wie Sie das machen, Herr Vorsitzender, ist mir egal. Aber machen Sie es« (Jelinek 1987: 197), so lautete bereits eine der Regieanweisungen in Krankheit oder Moderne Frauen (1987). Wie bringt man also das abjekte Requisit auf die Bühne? Elfriede Jelinek macht ihren dramatischen Nebentext zur Anweisung für splatter und snuff, von dem zugleich ironisch klar ist, dass er nicht realisiert werden kann. Während das snuff movie den fiktiven Filmtod tatsächlich exekutiert, also die virtuelle Gewalt zu einer realen macht, schreiben ihre Regieanweisungen reale Attacken vor, die sich, so der Pakt zwischen Autorin, Publikum und freilich auch den Darstellern, nur als virtuelle inszenieren lassen.9 Das schafft den Requisiten aber wiederum einen eigenen Status: Während ein Stuhl, der einen Turm spielt, in der Differenz zu seiner Rolle zu sehen ist, soll die rote Farbe, die das Blut spielt, ihre Rolle möglichst glaubhaft fingieren. Umgekehrt haben Gewalt- und Tötungsakte auf der Bühne, ebenso wie der Koitus, eine fiktionale Sonderstellung. Im Gegensatz zu klassischen Fiktionalitätsdefinitionen, die vorsehen, dass fiktive Sachlagen mit realen Sachverhalten übereinstimmen können, aber nicht müssen, dürfen diese Handlungen das, was sie darstellen, auf keinen Fall auch sein. Gewalt auf dem Theater ist eine Sonderform des masochistischen Vertrags, den Jelinek in der Prosa häufig als poetologischen Pakt benützt: Alle, auch das Opfer, kommen überein, dass Gewalt dargestellt, aber nicht erlitten wird – während der im SM-Milieu übliche Kontrakt, immer mit Zustimmung 9

In Stemanns Inszenierung von Ulrike Maria Stuart wurde das Publikum der ersten Reihen mit Farbbeuteln ausgerüstet, die auf die Bühne geworfen werden sollten, und zwar auf Pappfiguren von Johannes B. Kerner, Kai Dieckmann, Stefan Aust und Roland Koch. In der Voraufführung warf einer der Zuschauer den Beutel aber auf den Schauspieler Sebastian Rudolph, der über eine solche Verwechslung von fiktiver Darstellung realer Personen und realer Darsteller fiktiver Rollen nicht schlecht staunte. 324

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oder auf Verlangen des Opfers, vorsieht, dass Gewalt in einem fiktiven Szenario dargestellt, aber zugleich auch real erlitten wird. Wenn in Was geschah, als Nora ihren Mann verlassen hatte ›masochistisch‹ agiert wird, dann bedeutet das: Auf der Bühne wird die masochistische Session als Szenario auf der Szene und als Fiktivierung eines realen Verlangens und eines realen Erleidens aufgeführt – bühnenverträglich wird der masochistische Vertrag nur als Fiktion zweiter Ordnung. Insofern ist der Inhalt des Jelinek’schen »Bündels« immer doppelt artifiziell: Mit Wissen und Zustimmung aller Beteiligten sind es künstliche Körperteile, künstliche Leichen. Die Hülle des Bündels ist aber immer, zumindest metonymisch, real: Die Textilien, die auftreten, spielen nichts anderes als sie selbst. Jelineks Requisit muss also selbst hybride sein: Es besteht aus Körpern oder Körperteilen, die um jeden Preis artifiziell, und Geweben, die unter allen Umständen real beziehungsweise ›authentisch‹ zu sein haben, wenn denn das Requisit überhaupt noch Sinn machen soll. Aus diesem Grund treten bei Jelinek Körperteile in der Regel nicht »nackt« auf, sondern immer umwickelt. Was dargestellt sein will, ist die Verstrickung von Artifizialität und Realität im Theater als Medium der Repräsentation. Zugleich durchdringen sich reales Gewebe – fiktiver ›Text‹ – und artifizieller Körper, dieser aber als Metonymie eines realen Opfers. Poetologisch stehen die Textilien für Diskursformationen, welche die Gewaltakte medial ›überziehen‹, und die zugleich durchtränkt sind von dem Blut historisch Gefallener und Geschlachteter. Jelineks Requisite nimmt teil an den Übergängen von tot und lebendig, Körperinnerem und -äußerem, von Tierischem und Menschlichem, von Realem und Künstlichem. Die Materialität des Requisits löst sie auf in einen Vorgang des morphing, die Anthropomorphisierung des Gegenstands wird überboten durch die Tierkostümierung, die Verplüschung der Darsteller. Insofern, als den Darstellern alle Plausibilisierungsstrategien für eine Rolle, eine ›Figur‹ entzogen werden, stehen sie selbst schließlich als Requisiten herum. Im ersten Prinzessinnendrama (1999) heißt es denn auch folgerichtig von den Darstellern – Schneewittchen und Jäger –, sie seien »[z]wei riesige, popanzartige Figuren, die zur Gänze aus Wolle gestrickt und dann ausgestopft sind« (Jelinek 1999: 9). Wenn Jelineks Theater eine Dramaturgie der subjektlosen »Textflächen« verlangt, so wäre seine letzte Konsequenz, die Darstellung überhaupt auf eine subjektlose Requisite zu reduzieren. Das monumentale Spielzeugtier, wie es als riesiges Bambi 2003 auf der Burgtheaterbühne stand, war Christoph Schlingensiefs Variante des totalen Requisits – Denkmal einer infantilen Gesellschaft, die jene Natur,

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auf die sie Jagd macht, nur mehr als kitschigen Fetisch kennt.10 Schlingensief setzte den Topos ›Bambiland‹ mit Hollywood gleich, als Ort einer Unterhaltungsindustrie, die noch den Krieg als »wartainment« verkauft (vgl. Schlingensief 2004: 10). Das ›Disneyland‹ ist, so haben es Jean Baudrillard und Umberto Eco gelehrt, ein Simulacrum zweiter Ordnung, dem gegenüber die Realität völlig inferior zurückbleibt. In der Tat war Schlingensiefs höchst materielles Requisit lediglich ein Nachbild, das Bühnen-Bambi erwies sich als bloß naturfarbenes Duplikat des goldenen Prototyps: Zwei Wochen vor der Wiener Uraufführung war am Hamburger Theater im Hafen die 55. Verleihung von »Deutschlands wichtigstem Medienpreis« in Szene gegangen – gekürt wurden unter anderen Dieter Bohlen, Elke Heidenreich, Heidi Klum und Klaus-Maria Brandauer – und die Bühne schmückte ein überdimensionales Exemplar der in Bronze gegossenen Bambi-Trophäen.11 Schlingensief konnte diese Monstrosität nicht mehr toppen, sondern nur noch imitieren: Die Selbstinszenierung des Bambilands auf der Theaterbühne ließ sich nicht mehr ein-, geschweige denn überholen. Das Wiener Riesen-Bambi reproduzierte nur emblematisch, was man 14 Tage zuvor vollkommen zustimmend aufgeführt hatte, nämlich die gesellschaftliche »Bambinisierung«. Als »bambini-in-azione« bewegten sich Film- und Fernseh-Protagonisten scheinbar kindlich-arglos wie Rehe durch die Medienlandschaft. Schlingensiefs Requisit konnte nur mehr satirisch auf die Infantilisierung der Medienkonsumenten replizieren, gleichsam unter Neil Postmans alter Devise »Amusing Ourselves to Death« (1985), welche im Zusammenhang mit Jelineks Text zum Dritten Golfkrieg freilich noch eine zusätzliche, entmetaphorisierte Bedeutung erhält. »Bambi-ing« heißt, jedenfalls in den Staaten, aber auch Antropomorphisierung im Sinn einer verniedlichenden Tierpsychologie; und nach Disneys Klassiker, der Bambis Mutter dezent und unsichtbar, aber umso ergreifender sterben ließ, nennt man die Taktik, selbst noch traumatische Schocks wie den Verlust eines Elternteils ›kindgerecht‹ in sentimentalen Andeutungen verschwinden zu lassen, den »Bambi-Effekt«. Solches hatten Jelineks Stücke seit jeher satirisch aufs Korn genommen und darauf bestanden, dass die herzigen Kindchenschemata nichts anderes sind als Jagdtarnung: Die Automatik der Rührung angesichts von Menschen- und Tierkindern verdeckt nur die reflexhafte Aggression gegenüber dem wehrlosen Opfer: »ich weinend Kind [....] Ich schüchtern Reh, das jahrelang die Kugel sucht«, dekla-

10 Elfriede Jelinek: Bambiland, UA: Burgtheater, Wien, 12.12.2003, Regie: Christoph Schlingensief. 11 ARD, 27.11.2003. 326

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miert Rosamunde (Jelinek 2002: 47).12 Der Bambiland-Text zitiert nach wie vor die »Bündel«-Requisite und spricht vom »Fangnetz, wo die bunten Bombennester hängen, hoch droben, dessen Strickwerk sie entschlüpfen, autsch, da war schon wieder eine, und dem Kind fehlt jetzt das halbe Gesicht, und das dort ist ganz weg« (Jelinek 2003: 34); ein anderes liegt »blutend und zerfetzt« da (Jelinek 2003: 54). Neben beziehungsweise unterhalb von Schlingensiefs überdimensionalem Bambi erscheinen die Darsteller lediglich als minimierte Erwachsene. Jelineks Sprech-Partitur dagegen sieht immer noch das blutige, textil verpackte tote Menschenkind vor: »Voll Blutgier in den Augen, Blut im Schuh, Blut in den Augen, Blut in den Hosen, tausendarmig, tausendpanzrig jagt ein jedes Volk vorwärts [...], und wenn der einzelne tot ist, noch mehr, dann kommt er zurück im Polsterüberzug, im Kissenüberzug [...], der arme Bub« (Jelinek 2003: 65). Damit geht das Verhältnis von Realität und dramaturgischem Szenario in die nächste Runde: Jelineks Stück inszeniert das Faktum der Medienindustrie, die wiederum als Simulacrum konstruiert, was in einem Anderswo das blutige Reale ist. Denn immer ist Elfriede Jelinek dabei geblieben, dass die Dissoziation von Subjekt und Realität auf einen letzten Widerstand stößt, das gemarterte Objekt. Die perfideste Simulation ist eine, die suggeriert, dass noch das Opfer simuliert. Bambiland arbeitet sich vielmehr an der Aporie ab, dass dessen Authentizität durch die mediale Ansicht des Leids immer schon kompromittiert ist: »Wäre es Ihnen bitte möglich, mir dieses Bild jetzt genauer zu erklären? [...] Ich sehe, daß diese sieben Frauen samt Kindern, ich weiß nicht wie viele von welcher Sorte, jetzt in dem Kleinbus erschossen worden sind. [...] Das Bild erklären? Aber echt? Natürlich sind Bilder nicht allein bestimmend, aber sie sind doch ziemlich wichtig, was wollen Sie denn da erklärt haben?« (Jelinek 2003: 68f.)

Der Text, der nachstellt, wie der tüchtige Quoten-Realismus der Bildproduzenten Virtualität herstellt, die jede ›Echtheit‹ unmöglich macht, ist selbst nur ›echt‹ in dieser Demonstration; noch die Abbildungen, mit denen Bambiland auf Jelineks Homepage illustriert ist, zeigen den Marschflugkörper »Tomahawk Cruise Missile« wie ein Spielzeugflugzeug vor blauem Himmel und die GBU-28-Bombe wie ein Bastelmodell,13 und 12 Gerade diese Stelle erweist sich als Zitat-Montage aus Schuberts Libretto, Helmina von Chézys Drama Rosamunde, Fürstin von Zypern (1823), wie denn das ganze Prinzessinnendrama ein intertextuelles Furioso ist. Vgl. Kallin 2007. 13 http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/. Stand: 10.01.2009. 327

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die ausgesprochene Warnung – »Nein, das ist kein Spielzeug, nicht angreifen! Das ist eine Spielzeugbombe [...]. Du darfst dieses Spielzeug [...] nicht berühren. Sonst fliegen uns hier die Trümmer um die Ohren« (Jelinek 2003: 69) – bestätigt lediglich ihre eigene Rhetorizität. Paradoxerweise könnte gerade dieses »Spielzeug« in der dramaturgischen Inszenierung das aporetische Kreiseln des Textes gewissermaßen durch einen pragmatischen Kurzschluss stillstellen. Denn eine BühnenGBU-28, und sei sie aus Pappmaché, wäre real und materiell und dabei auf jeden Fall keine ýechov-Bombe: Denn anders als die hübsch altmodische Pistole oder Flinte, die immerhin auf einen Protagonisten gerichtet und ›abgefeuert‹ werden kann, könnte die Bühnenbombe die klassischökonomische Erwartung, dass von ihr auch Gebrauch gemacht werde, ja wohl nicht mehr hervorrufen; sie bezeichnete lediglich den lauernden potenziellen Overkill. Insofern wäre sie nicht Teil einer ›postmodernen‹ Bühnen-Überfüllung, sondern die Metonymie des Todes-Überangebots der Rüstungsindustrie. Diese Art der auf der Bühne präsenten Virtualität, der radikale Ausweis der Künstlichkeit, würde sich deshalb nicht in ›postmoderne‹ Beliebigkeit auflösen: ›Gesprengt‹ würde gerade die Scheinauthentizität des Simulacrums. Jelineks Theater erprobt keine einfache Verdinglichung, sondern die komplizierte Verstrickung von Bühnen-Ding, -Tier und -Mensch, von materiellem Requisit und virtueller Medienwelt, von fiktivem masochistischen Pakt und dem Realen des sadistisch gequälten Objekts. Die große poetologische Metapher des Gewebes führt es vor – und zerreißt sie dabei. Indem der Text sich im Textil verwickelt, das er gleichzeitig zertrennt, lässt er die Requisite ein letztes Memento sein und als blutendes Bündel das kaputte Menschending bezeichnen.

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DIE

MORPHING SCHILLER. SZENE DES DIALOGS NACH DEM DIALOG. ANMERKUNGEN ZU JELINEKS ULRIKE MARIA STUART ULRIKE HASS

Morphing, Überblenden, Überschreiben, Übermalen, Überzeichnung, Überlaufen. Morphing ist kein schönes Wort, aber in der Zusammensetzung »gemorphte Figuren«1 ist es noch schlimmer. Mir scheint, dass es ein Wort ist, das sich, ähnlich wie die inzwischen etwas älter gewordene und damit abgelegte Bezeichnung »Sprachflächen«, dazu eignet, durch die Jelinek-Kommentare zu geistern und jenes Halbwissen zu versprühen, das jede weitergehende Auseinandersetzung meidet. Bezeichnungen wie morphing oder »Sprachflächen« dienen dazu, dass der Betrieb sich versteht. Die Theatermacher signalisieren, dass sie ›alles richtig‹ gemacht haben und das Publikum bekundet, ›alles verstanden‹ zu haben. Wir wissen schon, wir kennen das schon: keine Psychologie, keine Charaktere, keine Handlung, keine Figuren, Dekonstruktion und Postdrama. Abseits von derlei Endlosschlaufen des Betriebs interessiert mich im Folgenden ausschließlich die Zusammensetzung von Ulrike und Maria Stuart, zwischen denen das ›und‹ entfällt. Dieses ›und‹ entfällt keineswegs zwischen zwei Figuren, die ineinander überblendet oder miteinander verschmolzen würden – und wenn, wie sollte so etwas gehen? Vielmehr fungiert der für sich genommen zunächst beliebige Vorname Ulrike im vorliegenden Zusammenhang als Signum für eine »Bande« oder einen »Komplex«, den von Stefan Aust so bezeichneten »Baader Meinhof Komplex«, während der Vor- und Nachname Maria Stuart den Titel eines Stücks von Friedrich Schiller vollständig zitiert. Dass diese Betite1

In diesem Sinnzusammenhang taucht das Wort »gemorpht« im Interview auf, das Ortrud Gutjahr mit Nicolas Stemann anlässlich der Uraufführung von Ulrike Maria Stuart führte: Stemann 2007: 139. Der Ausdruck »morphen« zieht sich darüber hinaus jedoch auch durch etliche andere Beiträge in dem Sammelband zu Ulrike Maria Stuart von Ortrud Gutjahr (2007). 331

ULRIKE HASS

lungen – »Bande«, »Komplex«, »Maria Stuart« – sich wiederum auf Personen beziehen, die einstmals gelebt haben, führt zu Fragen, die an den Journalismus der 1970er Jahre, Aust oder Schiller zu richten wären, die mit der Verwendung von historischen Dokumenten für Zeitungsartikel, Bücher oder Dramen jeweils interpretatorisch befasst waren. Im Titel des Stücks von Elfriede Jelinek, Ulrike Maria Stuart, treten indessen Schriften, Interpretationen und Dichtungen miteinander in Kontakt. Anfang des Jahres 2005 äußerte sich Jelinek in Literaturen zur ihrem damaligen Vorhaben: »An den Schiller’schen Dramen interessiert mich am meisten die Sprech-Wut der Personen. Ich will ihnen sofort meine eigene Wut dazulegen, es ist ja, als warteten sie nur darauf, immer noch mehr Wut aufzusaugen. […] Ich möchte mich so gern in Schillers ›Maria Stuart‹ hineindrängen, nicht um sie zu etwas andrem aufzublasen wie einen armen Frosch, der dann platzt, sondern um mein eigenes Sprechen in diese ohnehin schon bis zum Bersten vollen Textkörper der beiden Großen Frauen, dieser Protagonistinnen, auch noch hineinzulegen. Bis man mit vollem Mund spricht, alles davonsprüht, und man endlich weiß, warum man eben nicht mit vollem Mund sprechen sollte. Es ist unpraktisch. […] Ich denke mir, daß zwei Frauen wie sagen wir mal Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin diese Aufgabe für mich übernehmen könnten. Ulrike wäre Maria, Gudrun Elisabeth. […] Es wird nichts als geredet, und die Redenden warten sofort, kaum haben sie ausgesprochen (nicht: sich ausgesprochen), darauf, daß noch mehr Rede ankommt, die sie gleich weitergeben können. Was sollte auch sonst kommen?«2

»Ulrike wäre Maria, Gudrun Elisabeth.« Die Tautologie dieses Satzes ist perfekt. Nur vom Vorurteil geleitet, es handle sich hier um Figuren (und man wüsste, was ›Figuren‹ sind), mag er das Vorhaben einer perfekten Überblendung oder Verschmelzung ankündigen (morphing). Auf der Ebene der Sprache handelt es sich indessen um Namen, die unvereinbar sind. Sie sind durch einen Konjunktiv oder eine Lücke, ein einfaches Leerzeichen, voneinander getrennt beziehungsweise miteinander verbunden. Dieser trennenden Verbindung oder stummen Zäsur entspricht der Brecht’sche Terminus der Geste im genauesten Sinn. Sie gleicht einem blinden Fleck in der Sprache, der sich für das Auge der Darstellung öffnet. Im Falle Jelineks ist das die Sprache, die sie schreibt und von der sie überdies – und zwar wiederum gestisch, indem sie den Text Ulrike Maria Stuart einer eigenen Veröffentlichung entzieht – sagt, dass nicht die Schrift- oder Textgestalt dieser Sprache wesentlich sei, sondern dass sie gesprochen wird.

2

Elfriede Jelinek: »Sprech-Wut«, zitiert nach: Fliedl 2007: 60f. 332

MORPHING SCHILLER

Ich möchte der gestischen Verknüpfung von Ulrike […] Maria Stuart ein wenig nachgehen und tue dies im Folgenden in vier (von vielen möglichen) Schritten: Szenen, Schiller, Dialog beziehungsweise StreitSzene, Jelinek. Abschließend folgen einige Anmerkungen zum veröffentlichten Text Ulrike Maria Stuart.

Szenen In einem Essay zur Genealogie der ›Szene als Bild‹ stellt Günther Heeg zunächst die antike ›Szene als Schauplatz der Darstellung‹ vor. Aus dieser habe die tragédie classique die ›Szene als Bild‹ extrapoliert, aus der wiederum diejenige Szene hervorgegangen ist, die bis heute der geläufigen Vorstellung des ›Dramatischen‹ am nachhaltigsten zugrunde liegt: die ›Szene als Handlung‹ (Heeg 1999). Letztere wird am Beispiel jener Szene beschrieben, die Generationen von Schülern und Studenten als paradigmatisches Muster einer dramatischen Szene analysiert und beschrieben haben: der Begegnung der Königinnen in Schillers Maria Stuart (1801), dritter Akt, vierte Szene. Ich möchte Heegs Genealogie in der gebotenen Kürze auf eigene Weise pointieren. Jede der von Heeg unterschiedenen Szenen beruht auf einer eigenen Konstruktion des ›Zwischen‹. Die antike Szene, die den Namen scene jenem Geschehen vorbehielt, das, durch die Mauern oder Wände des Bühnenhauses den Blicken der Zuschauer entzogen, im Innern des Hauses, des Palasts sich abspielte, gewinnt aus dieser Setzung reichhaltige Sphären des Zwischen: Zwischen ›drinnen‹ und ›draußen‹, vor dem Palast verharrt Elektra, die auf ihren Bruder Orest wartet. Vor dem Palast (proscenium) wird mit Worten berichtet, beklagt, verhandelt, beweint und somit ›sichtbar‹ gemacht, was – in einem manifesten Sinn – nicht zu sehen ist. In der Beziehung zum Abwesenden gründet die antike Theaterszene: Zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen dem Wort, das malt und den Körpern, denen der Tod geschieht, zwischen Inkarnation und Entkörperung, zwischen Stimme und Bild. In der tragédie classique geht das Zwischen, diese paradoxale Doppelstruktur, in die sichtbare Szene der Bühne selbst ein. Es zieht sich als Spaltung durch die auf ihr Agierenden, namentlich zwischen Zeichen (Bild) und Affekt (Stimme). Vor allem bei Racine wird die grundlegende Annahme des Zwischen als szenischem Ort des Theaters radikalisiert und in die formale Anlage des Dramas selbst überführt. Zwischen Palast und Wildnis, zwischen dem ehelichen Gemach und der Pforte des Palasts: Das Drama Racines ereignet sich auf Vorhöfen, auf Fluren, in Durchgangsräumen. Ihre Zeit ist die Zwischenzeit: Kurz vor der Abreise, nach

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gefasstem Entschluss, zu einem letzten Adieu betreten die Protagonisten die Szene und das Drama setzt ein. Das 18. Jahrhundert bricht mit der Auffassung der Szene als ›Schauplatz der Darstellung‹ im Willen und Wunsch nach rückhaltloser Visualisierung. Die Malerei wird als Schwesterkunst begriffen und zum Vorbild für die ›Szene als Bild‹ (Diderot). Vom Bild rührt der Gedanke der Einheit, oder anders herum formuliert: Der Gedanke der Einheit hat eine visuelle Grundlage. Er folgt aus der Einheit des (Bild-)Ausschnitts, der alles Nichtaufgenommene in das Nichts des Undargestellten und damit des Nicht-Wissens verweist. Vom radikalen Ausschlusscharakter des Bildes rühren die bekannten Totalitätsbestimmungen bei Peter Szondi von der Absolutheit des modernen Dramas (contra Außenbezug), von der Selbstdarstellung des Dramas (contra Zitat, contra Variation), von seiner Zeit als absoluter Gegenwartsfolge (contra historischem Spiel oder zeitlicher Zerrissenheit) und vom Sprechen, das aus der Situation erfolgt und in ihr verharrt (contra Autorensprache, contra Sprechen als Akt oder Arbeit, contra Vortrag). Szondi bringt mit diesen Kriterien die Voraussetzungen und Vereinbarungen zur Sprache, auf denen die Szene als Bild beruht: »Die Bühnenform […] die viel geschmähte ›Guckkastenbühne‹ ist der Absolutheit des Dramas als einzige adäquat und zeugt von ihr in jedem ihrer Züge.« (Szondi 1963: 16.) Die Szene als Bild perfektioniert den Gedanken der Einheit, der Abgeschlossenheit, der manifesten und selbstbezüglichen Darstellung nach Maßgabe eines Begriffs vom Bild, der das Bild (tableau) im Sinne einer Errettung der sichtbaren Welt fetischisiert. Aus der Szene des Bildes als Einheit wächst die Szene der Zweiheit, die ›Szene als Handlung‹ (Dialog). Das Zwischenreich des Dialogs teilen keine Figuren, die ›ganze‹ Menschen vorstellen, sondern ausschließlich nur Figuren, die sich mitteilen, die als »Mitmensch« (Szondi) ins Drama eingehen, und dies auch nur für die Dauer ihrer Mitteilung. Die ›Szene als Handlung‹ beziehungsweise als ›Handlungsabschnitt‹ arbeitet demnach mit einer doppelten Szene: Die Szene als Bild (tableau) fungiert als Voraussetzung. In sie wird die Szene des Dialogs implantiert. Der Zwischenraum des Dialogs liegt in der Zeit. Die beiden im Dialog miteinander Verstrickten sind zu Beginn des Dialogs in einer anderen Situation oder Position als am Ende. Ihr Sprechen ist Blicklenkung und lässt das vorausgesetzte Tableau schlagartig vergessen. Es blendet die anderen aus zugunsten des Bildes (image), das die beiden Protagonisten des Dialogs durch wechselseitige Blicklenkung füreinander abgeben.

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Schiller: Maria Stuart III, 4 Auf der Szene sind mehrere Figuren/Darsteller anwesend. Sie werden vom Auge als gleichzeitig erfasst. Körper neben Körpern oder Körper unter Dingen. Ihre Zwischenräume sind als Nähe oder Distanz wahrnehmbar. Während die Protagonistinnen sprechen, schweigen die im Bild Versammelten. Die im Bild gleichzeitig anwesenden, schweigenden Figuren sind Ohren- und Augenzeugen der Rede der Protagonistinnen. Ein Restchor. Nachdem das Gefolge entfernt wurde, sind dies die Grafen Leicester und Shrewsbury sowie die Hüter Marias, der Ritter Paulet und die Amme Hanna Kennedy. Die Fokussierung auf die Protagonistinnen beginnt mit einem minutiös notierten Blickduell, das eine sukzessive Lösung von der Szene als Tableau kalkuliert. Die Szene des dramatischen Dialogs geht von zwei Thesen oder Gipfelpunkten aus, die durch zwei Protagonisten mit jeweilig unvereinbaren Positionen figuriert werden. Zwischen ihnen gibt es in der Art einer gebrochenen Zickzack-Linie nur einen Weg, der durch einen ›Drehpunkt‹ beziehungsweise eine entgegengesetzte Situation führt. Die Szene setzt mit dem ›tiefen‹, sich kaskadenhaft dehnenden Fall Marias ein. Vor Elisabeth liegend beginnt ein Spiel der wechselseitigen Verstellungen, Spiegelfechtereien und Beschwörungen der Ebenbildlichkeiten, die im rhetorischen Versuch Marias münden, jede Zwei, jedes Zwischen, jede Zwietracht zu negieren. »Jetzt ist kein fremder Mund mehr zwischen uns.« (Schiller 2001: V. 2319) Doch die Sprechhandlungen gehen weiter. Als ›Drehpunkt‹ fungiert bei Maria und Elisabeth das auf die Beschwörung der ›Schwestern‹ nach knapp einhundert Versen endlich folgende »Ja, es ist aus, Lady Maria« (Schiller 2001: V. 2407) der Elisabeth. Es leitet ohne Übergang den berühmten Diskurs unterhalb der Gürtellinie ein, der diesen Streit so berühmt gemacht hat und der landläufig als Muster für weibliche Konkurrenz gilt. Elisabeth verhöhnt die erotische Potenz Marias, die ihre Schönheit »gemein« mache »für alle«. Maria hat das letzte Wort, geißelt Elisabeths »wilde Glut verstohlner Lüste« (Schiller 2001: V. 2429), spielt auf deren zweifelhafte Geburt an, nennt den Thron von England »entweiht durch einen Bastard« und endet: »Regierte Recht, so läget Ihr vor mir im Staube jetzt, denn ich bin Euer König.« (Schiller 2001: V. 2451) Was diese Szene antreibt, sind weder Argumente, ideelle Gehalte noch Prinzipien oder Positionen der Macht. Es geht nicht um Inhalte, sondern um einen Mechanismus: Wer am Anfang oben steht, wird fallen.

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Wer am Anfang fällt, wird obsiegen.3 Der Einsatz ist das Leben, das sich immer schon imaginär kalkuliert und um seine Rahmung weiß, die das Gerücht sein kann oder die Literatur oder, heute, das Fernsehen. Der Einsatz spielt mit einem Surplus, wobei er jedoch nicht genau wissen oder sagen kann, worin dieses Surplus besteht. In seinen »Übungsstücken für Schauspieler«, in denen Bertolt Brecht berühmte Szenen klassischer Werke in Parallelszenen übersetzte, um sie in ihrem Gestus lesbar zu machen, findet sich auch eine ›Übermalung‹ der Szene zwischen Elisabeth und Maria (Brecht 1967). Brecht gibt ihr den Titel Der Streit der Fischweiber und Günther Heeg knüpft daran Anmerkungen zum Streit. Heeg betont die Finalität des Streits, seine Besessenheit vom Ausgang, vom ›letzten Wort‹, mit dem sich der Sinn der Streit-Szene okkupieren lässt, mit dem sich gewinnen und Vernichtung austeilen lässt. Im Hinblick auf diesen imaginären Schlusspunkt sticht die »Bedeutungslosigkeit jedes einzelnen Worts« (Heeg 1999: 263) umso mehr ins Auge.

Streit-Szene Die zwei unvereinbaren Positionen, von denen der Streit seinen Ausgang nimmt, werden dialogisch-dialektisch miteinander verzahnt. Die Dialektik meint, sie hätte ehemals lineare Wege der ›Entscheidung‹ dadurch flexibler gestaltet, dass sie aus einer geraden Linie (des Befehls) eine gebrochene Linie der Wechselseitigkeit machte. Doch so oft diese Linie auch gebrochen sein mag, sie bleibt immer innerhalb der ihr eigenen Dimension der Zeit. Der Antagonismus bricht zwischen zwei einzelnen und gleich mächtigen Figuren auf, wobei diese Macht nicht dieselbe sein muss oder kann, sondern sich nur in ihrer Potenz gleicht. Der Antagonismus bricht als ›Konflikt‹ aus, das heißt, er wird öffentlich. Negation, Gegensatz und Überschreitung sind die Formen der dialektischen Brechung eines RedeDuells, das sich in der Dimension der Zeit zwischen den Protagonisten abspielt: Wirkung und Gegenwirkung, Widerspruch, wechselseitige Verursachung, Deduktion oder äquivalente Wirkung. In der Zeit des Streit-Dialogs sind die antagonistischen Figuren durch einen unaufhebbaren Abstand voneinander getrennt. Die Zeit ist an die Rede der Figuren gebunden. Ein Wort gibt das andere so lange, bis der Schlagabtausch der Verhöhnungen verbraucht ist beziehungsweise keine 3

Über die Reue, mit der Maria diese triumphierende Passage später im Stück zurücknimmt, wird sie bei Schiller zu einer Heroine humaner Autonomie stilisiert. 336

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weitere, noch tiefer reichende Beleidigung mehr denkbar ist. Die StreitSzene findet ihr Ende mit der Einnahme des privilegierten Punktes, den anfänglich der nun besiegte Gegner besetzt hatte. Die Figuren sind sich am Ende der Streit-Szene diametral anders gegenübergesetzt als zu ihrem Beginn. Michel Serres bezeichnet das dialogisch-dialektische Modell der Streit-Szene als einen ärmlichen Fall. Sein Paradigma gehöre der »unspezifischen Allgemeinheit des biologischen Lebens« an und gehorche in seiner Logik dem »Muskelspiel eines Kampfes um Leben und Tod« zwischen zwei Gegnern, zwischen Herrscher und Beherrschtem, zwischen Herr und Knecht (Serres 1991: 15). Der Fall ähnele dem »biologischen Kampf auf Leben und Tod« und beruhe auf der »einen und einzigen List der tödlichen Konfrontation« (Serres 1991: 16). Dass die Logik der Streit-Szene nur einen Weg, wie gebrochen auch immer, zwischen den Streitenden kennt, dass ihre Konfrontation nur eine und einzige List kennt und daher tödlich verläuft, kennzeichnet die Streit-Szene als eine, nicht nur nachträglich als lückenlos geschlossen erscheinende Form. Da die Konfrontation auf den Ausschluss des oder der anderen zielt, auf seine oder ihre Nicht-Anerkennung beziehungsweise Vernichtung drängt, besitzt der Streit wesentlich die Gestalt wahnhafter Geschlossenheit. Maria nennt »wahnsinnige Eiferer« als Ursache, die sie und Elisabeth »entzweit« hätten und der »Zwietracht Furien» in ihnen entfesselt hätten. »Ein böser Geist stieg aus dem Abgrund auf«, und »böse Menschen« hätten die Flamme des Hasses in ihnen geschürt. Alles andere sät Zwietracht, nur nicht sie, die in eins fallen, sobald »kein fremder Mund mehr zwischen uns« ist (Schiller 2001: V. 2310–2319). Imaginiert wird hier das Phantasma eines monströsen Doppelwesens, das den Tod der je Einzelnen voraussetzt. In ihrer wahnhaften Geschlossenheit setzt diese Figur jedoch nicht nur den Tod der beteiligten Einzelnen im Sinne der tödlichen Konfrontation Serres voraus, sondern steht in ihrer hermetischen Geschlossenheit auch im Kontakt zum Anderen des Allgemeinen. Dies ist die Ebene des Surplus, das ins Spiel kommt. In Bezug auf dieses Andere ruht die narzisstische Energie der Streitenden in dieser Szene nicht. Ihre Angstlust gilt dem unerreichbaren Anderen. In dieser gemeinsam geteilten Angstlust finden sie ihr Zusammenstimmen, das in je eigenen Umlaufbahnen nicht aufhört zu vibrieren und noch lange nachhallt: zu mythologischen Zeiten im Gerücht, um 1800 in der Literatur und in den 1970er Jahren in der Populärkultur und den Massenmedien. Unter dem Aspekt ihrer wahnhaften Geschlossenheit wird klar, dass die Streit-Szene weder auf einer Begegnung beruht noch eine schildert. Infolgedessen ermöglicht sie auch für das rezipierende Bewusstsein kei-

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ne Begegnung, sondern nur ein ›alles oder nichts‹. Entweder wir verlieren uns fasziniert in der dramatischen Szene des Streits oder sie lässt uns kalt, sie geht uns, wie das allzu aufdringliche Bild eines überflüssig beworbenen Artikels, nichts an. Unter dem Aspekt ihrer wahnhaften Geschlossenheit wird des Weiteren deutlich, dass alle innerhalb der Sprachhandlungen des Streits gewechselten Worte für sich genommen nichts bedeuten. Sie organisieren Zeit und Klang der Stimmen, ihr Sprechen und ihren Atem, ihr atemloses Sprechen. Sie sind nicht ohne Sinn, aber sie beherrschen oder besitzen ihn nicht innerhalb einer Dramaturgie, die sie dem Ende entgegen reißt. Demzufolge handelt es sich in der Streit-Szene um eine eigenartige Alleinherrschaft der Worte, die sich aus ihrem Bezug zur Figur lösen. Worte, die so wenig Anrede und Aussage sind wie die Figuren unter ihnen als einzelne überflüssig werden, während der Textkörper Worte um Worte, Worte wider Worte webt, Hiebe und Stiche austeilt wie ein wahnsinnig gewordener Amokläufer. Zugespitzt ließe sich sagen, die Autonomie der in dieser Szene gewechselten Worte, die sich von ihren Figuren lossagen, verweisen auf ein Schreiben, wie es bei Jelinek konsequent weiter entwickelt wird. Oder anders herum: Die Szene III, 4 ist der Beweis dafür, dass Schiller Jelinek gelesen hat.

Jelinek Es sind meines Erachtens dieses Element der Ablösung der Sprache von den Figuren und die relative Autonomie des Sprachkörpers in dieser paradigmatischen Szene, die Jelinek interessiert haben, wenn sie von der »Sprech-Wut der Personen« in Schillers Dramen spricht, von der Rede, die auf Rede wartet: »Was sollte auch sonst kommen?« Unter dieser Perspektive erscheinen Schiller’sche Dramen viel weniger als Musterbeispiele gelungener Figurenrede, viel weniger als Klassiker einer personalisierten Einheit von Sprache und Figur als gemeinhin angenommen. Im Gegenteil rückt die relative Autonomie der »SprechWut der Personen« in den Blick: Die Sprache Schillers, die sich in prachtvollen Konstruktionen dehnt und ausufert, weil sie eine Leere verkleidet, die einerseits auf der Ebene der modernen Einsamkeit der Körper und andererseits auf der Ebene der fehlenden Referenz für die Gesamtanordnung zu beschreiben wäre. (De Sade und die Französische Revolution waren gleichzeitig.) Da kommt nichts mehr, und so wartet die Rede auf Rede. In diesem Zusammenhang macht Jelinek meines Erachtens auf die Form der auf sich selbst gestellten und auf sich selbst angewiesenen Rede in den Dramen der Klassik als Archetypus aufmerksam. Aus die-

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sem Archetypus gehen auf vielfachen Umwegen, mit vielfachen Verschiebungen und Verrückungen, die sprachkritischen Verfahren der Moderne hervor: ihr Bewusstsein von der Partialität und Marginalität der Sprache, ihre Verfahren der Aneinanderreihung von Augenblickseindrücken oder Augenblicksgedanken, der Montage, des Zitats, der Vielstimmigkeit, des Speicherns, des Kommentars, der Unterbrechung, der Übermalung, der Projektion, der Wiederholung, der Serialität. Die »ohnehin schon bis zum Bersten vollen Textkörper der beiden Großen Frauen« Maria und Elisabeth sollen nun mit der Sprache Jelineks fusionieren sowie mit weiteren Textkörpern, die zur RAF und ihrem Umfeld zählen. Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin wirken dabei, wie Schillers Maria und Elisabeth, als Königinnen einer Streit-Szene mit und gleichzeitig als Avatare der Sprech-Wut Jelineks. Auch was dabei herauskommen wird, teilt Jelinek schon im Voraus mit: eine Überfüllung, etwas Unpraktisches, ein vielfältig platzender, aufplatzender Textkörper, der das Phantasma der Geschlossenheit sprengt, mit der weniger Schiller als seine Rezeption bis zum Erbrechen (der Schullektüren) hausieren ging und es zur Pflicht machte, der Streit-Szene die Absichten und Strategien von Subjekten zu entnehmen. »Die Wütenden hört man nicht gerne an, man schämt sich ihrer immer, sie sind nur noch peinlich, lästig, manchmal eine Qual, wie die sich ranschmeißen, man wird von ihnen förmlich überfallen. Fort mit ihnen, fort! Hinweg! Hinweg die Wütenden von diesem, jedem unglückseligen Ort, hinweg mit ihnen! Denn sie sind außer sich und in sich niemals anzutreffen, es ist völlig sinnlos, wenn Sie klingeln, glauben Sie es mir, die hörn Sie nicht!« (Jelinek 2007: 98.)4

Ulrike Maria Stuart Es fällt auf, dass fast die gesamte bisherige Rezeption von Ulrike Maria Stuart (in der Inszenierung von Nicolas Stemann) das ›Morphing Schiller‹ übergeht, um sich auf die Figuren zu stürzen, so als würde man sie kennen und ebenso das, was sie umtreibt: In ihrem Streit geht es um

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Bis zur Uraufführung (in der Inszenierung von Nicolas Stemann am Thalia Theater Hamburg am 28. Oktober 2006) war dieser Text als unveröffentlicht definiert. Auch weiterhin gilt als Text nur der »Text der jeweiligen Aufführung«. Wird wie oben aus dem Text zitiert, der »den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt« wurde, so ist der Status des Zitats durch dieses Verfahren unsicher. Es handelt sich zwar um ein Zitat von Jelinek aus dem angegebenen Stück, aber es sind daraus keine Rückschlüsse zur Beschreibung des Werks oder einzelner Teile daraus möglich. 339

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Macht (wofür wohl das Bild Angela Merkels in der Inszenierung herhalten soll). Ich habe den Einruck, dass für diese vorschnelle Identifizierung von Figuren (Ulrike, Gudrun) die popkulturelle Ikonisierung der Meinhof und Ensslin ausschlaggebend ist, jene massenmedial verbreiteten Bilder, die man gleich des Kostüms von Jackie O. nicht los wird und über die eine Rechenschaftslegung so schwer fällt, weil diese Bilder für einen Besitz des eigenen Gedächtnisses gehalten werden. Zumindest wird diese Vermutung durch die Inszenierung Stemanns nahegelegt, der sich als Nachgeborener der 1968er und ihrer Folgen in den 1970er Jahren inszeniert und in seiner Aufführung der Phrase (der Prinzen) zu leitmotivischer Wirkung verhilft: »Ach, wie gerne hätten wir die repressiven ideologischen Apparate selber noch erlebt« (Jelinek 2007: 25). Das Wir der Jüngeren wird beschworen, die als gegeben voraussetzen, was die vormalig junge Generation antrieb: der Kampf gegen die repressiven ideologischen Apparate, der Kampf um die Macht in den Sekten der Bewegung. Dieses, den Massenmedien entlehnte Bild wirkt übermächtig in seiner Geschlossenheit. Es ist ohne die Möglichkeit einer Bezugnahme. Es lässt die Frage nicht zu, ob es sich unter der Maske des Kampfes (heller Trenchcoat, Sonnenbrille und schwarze Langhaar-Perücke) nicht um etwas ganz anderes gehandelt habe. Selbst wenn es um Macht ginge (Jelinek spricht indessen stets sehr viel genauer vom »Thron«), dann wäre doch zuerst zu fragen, um welche Macht es sich dabei handelte. So ist zum Beispiel, wie die oben dargestellte Lektüre der Streit-Szene zeigt, völlig unsicher, ob es den Schiller’schen Figuren um Macht ging. Worum geht es Wütenden, die »außer sich und in sich niemals anzutreffen« sind? Wer oder was spricht, wenn sie sprechen? Welche Macht ist gemeint, wenn es heißt: »Die RAF oder der Tod, sonst gibt es nichts mehr.« (Jelinek 2007: 83.) Weil die Inszenierung sich vor der Arbeit des Gedankens verschließt, unternimmt sie auch nicht den Versuch einer Klärung. Sie behilft sich mit Renaissanceroben, um an Schiller zu erinnern und lässt ›die Königinnen‹ ein unsäglich schrilles Blockflötenduett austragen, während Sebastian Rudolph als Kommentator erklärt, dass dies so inszeniert werden müsse, weil die Schauspielerinnen »von sich selbst zurückgerissen werden [sollen], um nicht mit sich selbst ident zu werden« (Jelinek 2007: 2). Es handelt sich um dasselbe Muster: Zitiert wird nicht nur eine gewaltsam als ›Regieanweisung‹ ausgelegte Vorbemerkung der Autorin, sondern vor allem ein zu Tode transportierter Common Sense des Postdramatischen, der sich als Lehrbuch-Topos und geschlossenes Bild geriert, zu denen keinerlei Bezug möglich ist. Übrig bleibt die Show. Spiel und Spaß in einem Übermaß, das als bewusste Eskalation oder Überforderung kalkuliert ist, aber außer Acht lässt, dass nur ein durch Shows geforderter Rezipient sich auch überfor-

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dern lässt. Einem Theaterbesucher, der eher den einsamen Reisenden des letzten Jahrhunderts gleicht, zu unterstellen, er sei ein Verbraucher von Shows, nur weil in seiner Wohnung möglicherweise auch ein Fernseher steht, bewirkt hingegen eine unerträgliche Entdifferenzierung. Das Problem ist das Zitat des Common Sense, der Mythisierung, unter der die realen Konstrukte, Probleme, Fragen usw. unkenntlich und unerreichbar geworden sind. Das Zitat der ideologisch geschlossenen Figur verbraucht nicht die Ideologie. Das Zitat des geschlossenen Bildes lässt niemanden an dessen Konstruktion rühren. Das Zitat der mythisch überhöhten Ikone rührt nicht an deren Produktion. Ulrike Maria Stuart unter dem Aspekt ›Morphing Schiller‹ gelesen führt auf die Spur des berstenden Sprachkörpers, der geeignet ist, Ideologie zu verbrauchen. Die Inszenierungsstrategie der »gemorphten Figuren«, die sich im Mix bekannter Vorurteile und Bilder erschöpft, ohne deren Geschlossenheit zu befragen, verbraucht nicht die Wirkungen der Figur (als Produkt von Ideologie), sondern verhilft ihnen zu einem Nachleben. Weil dies dem Inszenator nicht entgeht, braucht er etwas zur Konterkarierung und greift zum Klamauk, von dem überdies behauptet wird, dass ›wir‹ es sind, dieses den medialen Wirkungen ausgesetzte und mit ihnen kooperierende Wir, die daran gewohnheitsgemäß partizipieren. Ein Übermaß soll ihn ›uns‹ nun vergällen. Doch bei diesem Wir handelt es sich um eine gedankenlose Unterstellung. Die ausgestellte Phrase »Ich weiß nicht, was passieren muß, bis etwas passiert« verdoppelt die Ratlosigkeit einer Inszenierung, die der Ideologie der Geschlossenheit einer Figur oder eines Bildes zum munteren Nachleben verhilft.

Literatur Brecht, Bertolt (1967): Der Streit der Fischweiber (Zu Schillers Maria Stuart, III. Akt). In: Ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 7. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 3007–3013. Fliedl, Konstanze (2007): Terror im Spiel. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Ulrike Maria Stuart. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 55–64. Gutjahr, Gertrud (Hg.) (2007): Ulrike Maria Stuart. Würzburg: Königshausen & Neumann (Theater und Universität im Gespräch, 5). Heeg, Günther (1999): Szenen. In: Bosse, Heinrich/Renner, Ursula (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau: Rombach, S. 251–270. Jelinek, Elfriede (2007): Ulrike Maria Stuart. Königinnendrama. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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Schiller, Friedrich (2001): Maria Stuart. Ein Trauerspiel. Stuttgart: Reclam. Serres, Michel (1991): Hermes I. Kommunikation. Berlin: Merve. Stemann, Nicolas (2007): Das Theater handelt in Notwehr, also ist alles erlaubt. Ein Interview. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Ulrike Maria Stuart. Würzburg: Königshausen & Neumann (Theater und Universität im Gespräch, 5). Szondi, Peter (1963): Das Drama. In: Ders.: Theorie des modernen Dramas (1880–1950). Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 14–19.

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D I E B Ü H N E A L S M E D I A L E R E C H O -R A U M . ZU ELFRIEDE JELINEKS BAMBILAND EVA KORMANN

Ein Keramikreh im Stil der 1950er Jahre steht mit abgebrochenen Beinchen und daher windschief in einer Sanddünenlandschaft mit Modelleisenbahn-Tannen: Dieses Bild wirbt nicht für einen Freizeitpark mit dem Namen »Bambiland« und stammt auch nicht aus einer Anzeige für mehr oder minder gut erhaltene Majolikafiguren der 1950er Jahre. Das Foto einer kleinen ›Installation‹ – oder Bastelarbeit – hat Elfriede Jelinek ihrer Internet-Veröffentlichung des Theaterstücks Bambiland vorangestellt. Inzwischen ziert es auch die Buchausgabe des Stücks. Für neugierige Menschen erklärt die Autorin in Theater heute das Zustandekommen dieses Miniatur-Environments: »Das Rehlein war ein Geschenk meiner Tante zu meinem 6. Geburtstag, die Dünen sind aus Maggi-Suppenwürze (das Grüne darin ist Petersilie), die abgebrochenen Beinchen sind das Ergebnis jahrzehntelanger treuer Putzfrauentätigkeit und nicht eigens für das Stück hergestellt. Die Tannen sind aus dem Spielzeuggeschäft, damit dekoriert man Spielzeugeisenbahnen.« (Jelinek 2003a: 49)

Ähnlich hilft uns die Autorin auch weiter, vielleicht führt sie uns aber auch in die Irre, wenn es um ihre Texte geht, die nicht vorgeben, eigens für die jeweiligen Stücke geschrieben zu sein, sondern sich von Anfang an als Zitatcollagen gerieren: Bei Bambiland, dessen Analyse im Zentrum dieses Beitrags steht, sind die Texte, aus denen sich eine IchErzählerin des Nebentextes – oder ein Ich-Erzähler – bekennend bedient, Die Perser von Aischylos in einer Übersetzung von Oskar Werner, der Text wird da ganz präzise. Dazu kommt, so Jelinek, »eine Prise Nietzsche«. »Der Rest«, sagt dieses erzählende Ich, »ist aber auch nicht von mir. Er ist von schlechten Eltern. Er ist von den Medien.« (Jelinek 2003a: 49.) Es finden sich noch andere intertextuelle Bezüge, und, wie bei Jelinek üblich, ihre Art des Zitierens ist keine bloße Übernahme vorgefertigter Teile. Da werden der Gesamtwirkung wegen einige Beinchen gezielt abgeschlagen, davon wird hier im Folgenden noch die Rede sein. 343

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Mein Beitrag möchte dabei die allgegenwärtige Rede vom »postdramatischen Theater« (Lehmann 2001) oder auch »nicht mehr dramatischen Theatertext« (Poschmann 1997)1 ein wenig in Zweifel ziehen: Bambiland, so meine These, ist nur dann postdramatisch, siedelt also nur dann jenseits des Dramas, wenn man einen engen, letztlich aristotelischen Dramenbegriff voraussetzt. Folgt man Pfisters weiter Gattungsbestimmung, kann Bambiland durchaus ein Drama sein, wenn es dem Publikum eine Geschichte vor Augen zu führen vermag (Pfister 2000). Dass Bambiland bei aller Abstraktheit und bei aller Qualität als veritables Anti-Theater, das immer noch gängige und kaum hintergehbare Erwartungen an ein Theaterstück mit seinem keiner Figur zuschreibbaren Fließtext gnadenlos verletzt, dass dieser Text dennoch eine Geschichte zu Gehör bringt, eine hochabstrakte zwar, aber durchaus eine, die an aktuellem, konkretem Geschehen angreift, soll hier gezeigt werden. Schließlich ist Jelineks Abbildungsverweigerungstheater und -literatur ja immer ganz nah an aktuellem Geschehen und gegenwärtigem Schrecken: Bei Bambiland ist es der Irakkrieg, im Prosatext Im Verlassenen, den sie im Mai 2008 ins Netz gestellt hat, berührt ihre Assoziationskette jenseits boulevardesker Voyeurhaftigkeit konkret, dicht und erschütternd das Inzestverbrechen von Amstetten. Bambiland präsentiert, so lässt sich aus dem Jelinek’schen Sprachteppich heraushören und soll im Folgenden gezeigt werden, eine Geschichte von medial vermittelten Diskursen über den (Irak-)Krieg in einem medialen Echoraum. Damit portraitiert Jelineks Theaterstück im Übrigen haargenau die Bedingungen, nach denen in unserer Medien- und Informationsgesellschaft ›Weltwissen‹ erzeugt wird und ist damit auch Theater über Ökonomisierungsprozesse, nämlich darüber, wie Marktmechanismen inzwischen auch unser Wissen konstruieren: Weltwissen wird immer mehr nach Quantität prämierenden Verfahren hergestellt. Wenn immer mehr Menschen bei der Frage nach der Richtigkeit publizierter Aussagen eher der Kontrolle durch Nutzer dieser Aussagen vertrauen als auf testiertes Expertenwissen – und deshalb ein Klick auf das ausschließlich von Nutzern verfasste und weitgehend ohne redaktionelle Kontrolle bleibende Weblexikon Wikipedia zunehmend das Nachschlagen im Brockhaus oder anderen Lexika mit dezidiert Qualität fordernder Redaktion ersetzt, ist dies ein Musterbeispiel für diesen Vorgang auf dem Markt der Diskurse: Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist nicht mehr Herrschaftswissen, wird längst nicht mehr in einem hierarchischen Ordo festgelegt, 1

Diese ›Zweifel‹ beziehen sich ausschließlich auf die ›dramatisierende‹ Bezeichnung ›post-‹ oder ›nicht mehr dramatisch‹ und nicht auf die dichten Beschreibungen gegenwärtiger Theaterphänomene, die Lehmann und Poschmann in ihren Monographien leisten. 344

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sondern bestimmt sich nach Angebot und Nachfrage, nach dem, was mehrheitlich für glaubwürdig und nicht mehr korrekturbedürftig gehalten wird.2 Lassen sich Marktbeziehungen und Machtkämpfe um Diskurse auf eine Theaterbühne bringen? Gibt es überhaupt ein Narrativ der Ökonomie und wie kann Theater Marktmechanismen, ökonomische Machtbeziehungen und deren Auswirkungen vor Augen stellen und zu Gehör bringen? Diese hinter dem Trierer Festival Maximierung Mensch! stehende Frage spitzt sich im Falle von Bambiland zu: Kann es ein Narrativ einer höchst abstrakten Börse geben, nämlich der Börse der Marktbeziehungen, durch die unser Weltbild entsteht, des Marktes der Medien, der Nachrichten, der Propaganda, des Infotainments? Lässt sich davon eine Geschichte erzählen oder, wie im Fall des Theaters, eine Geschichte vorführen? Oder ist das Drama in einem solchen Fall am Ende und kommt uns nur noch der »nicht-mehr-dramatische Theatertext«, das »postdramatische Theater« bei? Machen wir die Probe aufs Exempel an diesem extremen Fall Bambiland, an einem Theaterstück, dessen Textsubstrat, gleichgültig, ob in Buchform, abgedruckt in Theater heute oder als Hypertext auf Elfriede Jelineks Website, auf den ersten Blick keineswegs den Eindruck macht, das Textsubstrat eines Theaterstücks zu sein. Eine Geschichte braucht, da bleibe ich dramentheoretisch bei Manfred Pfister, drei Elemente: mindestens einen Akteur – menschlich oder anthropomorphisierbar – und sie spielt in Raum und Zeit (Pfister 2000: 265). Im Theater erleben wir diese Geschichten, sie werden vor unseren Augen vorgespielt. Theater ist, von narrativen Ausnahmen wie Exposition, Chor, Botenbericht und Mauerschau abgesehen, reine Performanz (Pfister 2000: 19–24). Das Textsubstrat eines Dramas präsentiert einen Text in geschriebener Form, der aber im Allgemeinen – außer beim Lesedrama – deutlich macht, dass dieser Text nicht gelesen, sondern in plurimedialer Bühnenrealisierung betrachtet werden will. Ich gehe also in meiner Analyse von Bambiland dezidiert davon aus, dass wir Theatertexte nicht ausschließlich in Druckform als Lesevorlage betrachten dürfen, sondern als Textsubstrat, als Partitur für eine Inszenierung auf der Bühne wahrnehmen müssen – und das muss unsere Analyse stets berücksichtigen. Zunächst einige äußere Daten zum Stück: Bambiland steht seit dem 2. April 2003 auf Elfriede Jelineks Homepage. Man kann davon ausge2

Dass im World Wide Web Wissen aufgrund von quantifizierenden Marktmechanismen konstruiert wird, führt – als Nebenwirkung sozusagen – dann gerade zu einem Verlust an ökonomischer Marktmacht bei Verlagen und deren Autor/innen. 345

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hen, dass das Stück am 2. April 2003 nicht in der heutigen Gestalt im Netz stand, denn es ist laut Nachweis auf der Webseite am 5. April 2003 und am 5. Mai 2004 aktualisiert worden, bei diesen Aktualisierungen hat die Autorin zumindest neuere Fotografien in den Theatertext eingebunden. Das Stück wurde in Theater heute Juni 2003 zum ersten Mal gedruckt und ist seit 2004 auch in Buchform erhältlich, ergänzt durch drei Monologe, Babel genannt, die Jelineks vorder- wie hintergründiges Thema in Bambiland, den Irakkrieg, stärker in Beziehung setzen zu den diskursiven Sprengsätzen, die Jelineks Assoziationsketten seit langem auslösen: sexuelle Gewalt, Pornografie, innerfamiliäre Machtbeziehungen, Geschlechterverhältnisse, Religiosität, Sport, Faschismus. Franziska Schößler (2006) hat bemerkt, dass sich bei Jelinek die Inhalte, die Reibungsflächen verschoben haben: Waren es in den frühen Stücken vor allem die hierarchischen Geschlechterverhältnisse, so werden die Jelinek’schen Assoziationsketten seit 1989 verstärkt vom Umgang mit dem Anderen herausgefordert – in Babel verbinden sich die beiden Themenkomplexe, erweist sich ihre Verschränkung. Die Uraufführung von Bambiland in der Regie von Christoph Schlingensief fand am 12. Dezember 2003 an der Wiener Burg statt. Meine Analyse bezieht sich auf den in Theater heute abgedruckten Text. ›Bambiland‹ kann für ›Babylon‹ stehen: Bam-bi-land – Ba-by-lon, beide Namen haben die gleiche Silbenzahl und lassen sich gleicher Metrik unterwerfen. »Babyloniervolk« (Jelinek 2003a: 49) ist nach Stadt und Wüste die erste geografisch verwertbare Information, die man aus dem Sprechtext ziehen kann. ›Babylon‹ meint den heutigen Irak – nicht ganz zu Unrecht wird Jelineks Text in Theater heute und anderswo als »Stück zum Irak-Krieg« verkauft.3 Ganz bewusst verknüpft und kontrastiert dessen Sprachteppich – und das Layout des Hypertextes, das Fotografien babylonischer Kunst einfügt – massenmedial geprägte Vorstellungen vom Wüstenstaat Irak mit Bildungsbürger-Wissen über die frühe babylonische Hochkultur. ›Babylon‹ steht aber immer auch als Metapher für Hybris und Sprachverwirrung. Und Elfriede Jelinek bezieht ›Babylon‹ auch auf ihre eigene Schreibweise beziehungsweise ihre eigene Art des Zitierens: »Ich will natürlich zu mehreren und größer sein als ich bin; so kommen sie daher, so kommen sie mir gerade recht, die Nachbarskinder Fichte, Hegel, Hölderlin, und bilden eine babylonische Mauer mit mir«, schreibt Jelinek in ihrem Essay Sinn egal. Körper zwecklos (1997: 9). Das ›Bambi‹ und der Name ›Bambiland‹ sind auch ironisches Signet für Betulichkeit und eine beharrliche Neigung zum Gemütlichen, sie lassen außerdem 3

Theater heute 44 (2003), H. 6, kündigt schon auf dem Titelblatt Jelineks »Stück zum Irak-Krieg« an. 346

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massenmedialen Großauftrieb assoziieren, evozieren den Gedanken an Walt Disneys erfolgreichen Trickfilm Bambi und an die deutschen Bambiverleihungen. Christoph Schlingensief (2004: 10) und Bärbel Lücke (2004: 242) betonen Verwandtschaften zwischen ›Bambiland‹ und Hollywood beziehungsweise Disneyland. ›Bambiland‹ steht somit als Bezeichnung für den vielstimmigen Nachhall der westlichen Medienstimmen zum IrakKrieg, für ein zum medialen Echo-Raum erweitertes und dennoch Bambifiguren- und Spielzeugeisenbahn-Gemütlichkeit kultivierendes Wohnund das heißt immer mehr: Fernsehzimmer. Schlingensief spricht mit seinem Sinn für treffend Provozierendes von uns allen in Bezug auf das irakische Kriegsgeschehen als »[e]mbedded Couch-Potatoes« (Schlingensief 2004: 10). Bambiland gilt, wie schon erläutert, als »Stück zum Irak-Krieg« – und im Webtext macht eine implizite Autorin dies in drastischer Weise klar durch die in den Text eingefügten Fotografien, etwa die allgemein bekannten Folterbilder von Abu Ghreib, und durch den hinter jedem Bild liegenden Link auf eine Seite, die die externe Website http://www.iraq bodycount.net/names.htm einbaut, die an die zivilen Opfer dieses Kriegs erinnert und sie namentlich aufführt. Elfriede Jelinek hat auf den Krieg und auf die Medienberichterstattung über ihn äußerst schnell reagiert. Am frühen Morgen des 20. März 2003 griffen Streitkräfte der USA und Großbritanniens den Irak an, seit dem 2. April 2003 steht das Stück im Netz – damit noch bevor am 9. April 2003 amerikanische Truppen Bagdad eroberten und Ende April USPräsident Bush die größeren Kampfhandlungen etwas vorschnell für beendet erklärte. Im Folgenden werde ich das Textsubstrat näher beschreiben: Bambiland hat kaum Nebentext und in jedem Fall keinen, der sich zur szenischen Realisierung äußert. Im zweiten Abschnitt des Stücktextes nennt eine Ich-Erzählerin ihre Quellen, und der erste lautet: »Ich weiß nicht ich weiß nicht. Setzen Sie sich so abgebundene Strumpfkalotten auf die Köpfe, wie mein Papa sie immer zu seinen alten Arbeitsmänteln am Bau von unserem Einfamilienhäuschen getragen hat. Etwas Hässlicheres habe ich nie gesehen. Ich weiß nicht, welche Strafe für welche Schuld Sie bekommen sollen, dass Sie so etwas Hässliches aufsetzen müssen. Strumpf abschneiden, oben zubinden, dass so eine Art Bommel übrigbleibt, und dann auf den Kopf setzen. Das ist alles.« (Jelinek 2003a: 49)4

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Vgl. zu den Strumpfkalotten als Requisit auch Konstanze Fliedl: Bühnendinge. Elfriede Jelineks Requisiten in diesem Band. 347

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Das ist tatsächlich fast alles: Neben der Angabe der Quellen ist die zitierte Stelle zu diesen hässlichen Strumpfkalotten jedenfalls der vollständige Nebentext des gedruckten Textsubstrats. Beide Absätze sind in Theater heute kursiv gesetzter Klammertext, im Buch sind sie durch kursive Lettern und die Seitenaufteilung vom eigentlichen Haupt-Fließtext des Stücks separiert. Nur dadurch zeigen die beiden ersten Textpassagen von Bambiland an, dass sie Nebentext sind, der eine andere Aussagequalität besitzt als der fließende Sprachteppich im Folgenden. Fraglich ist, wer das mit »Sie« angesprochene Gegenüber im zitierten ersten Absatz sein soll: Ob dieser Zusatztext damit den Akteuren eine – anonymisierende, entindividualisierende – Ausstattung mit ›Strumpfkalotten‹ empfiehlt und diese damit zum im Nebentext gewünschten Requisit werden oder ob sich das »Sie« an die Lesenden wendet und jene anonyme Fernsehzuschauermasse meint, deren kollektiven Monolog das Stück über weite Strecken präsentiert, und die entindividualisierende, vor Einflüssen von außen schützende Haube dann zum äußeren Zeichen der Entindividualisierung und Abstumpfung der einzelnen Fernsehzuschauer werden soll, all dies lässt das Textsubstrat offen. Dass der Abschnitt des Nebentextes als Lesetext gedacht ist und nicht darin aufgehen kann, Regieanweisung zu sein, ergibt sich jedenfalls aus der Einführung einer subjektiven Erzählinstanz, die »ich weiß nicht ich weiß nicht« raunt und sich an ihren Vater erinnert. Danach beginnt ein in der Theater-heute-Fassung 21 Spalten langer Text, der schlicht in einzelne Abschnitte gegliedert ist. Die Webpräsentation enthält den gesamten Text des Theaterstücks in einem einzigen Informationsmodul – es ist also ein extrem linearer Hypertext. Der verbale Text ist im Netz unterbrochen durch schematische Darstellungen von Cruise Missiles und anderen amerikanischen Flugwaffen, von Abbildungen babylonischer Kunst und von einigen Folterfotografien aus dem irakischen Gefängnis Abu-Ghreib. Von allen diesen Bildern führt ein Link auf die schon erwähnte Webseite. Ein Figurenverzeichnis oder eine Figurenaufteilung der Rede gibt es in keiner Variante des publizierten Textsubstrats. Bambiland besteht in der Webversion und im Druck ausschließlich aus Sprachflächen, die keiner Figur zugeschoben sind. Anders als bei Wolken.Heim. (1988) verzichtet Jelinek in der Buchform von Bambiland auch auf Zeilenbrüche und auf eine figurengedichtähnliche Gestaltung der Textseiten: Bambiland erscheint im Prosalayout, erweist aber beim lauten Lesen dennoch eine rhythmische Struktur. Ein solcher Anti-›Theater‹-text, der keine Figuren auftreten lässt und das Dauergebrabbel einer nicht konkretisierbaren Sprecherinstanz aufzeichnet, könnte schon deshalb keine Geschichte vorführen, da er keine Akteure, keinen Raum und keine Zeit kennt. Und in Jelineks Theaterstü-

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cken wird zudem häufig die Einheit von Körper und Stimme aufgelöst, in theoretischen Exkursen fragt Jelinek hintergründig-provozierend: »Wie entfernen wir diese Schmutzflecken Schauspieler aus dem Theater?« (Jelinek 1990: 160); das Sprechen und die Figuren werden also dissoziiert. Ich suche zunächst nach möglichen Akteuren: Auch wenn Jelineks Sprachfläche oder auch ihr Wortwurm in Bambiland keine Figurenzuordnung vornimmt und erst recht keine dramatische Wechselrede darstellt, so kennt der Wortwurm dennoch wechselnde Redeinstanzen. Es ist nicht das »kollektive[..] Geraune«, das Evelyn Annuß aus Wolken.Heim. heraushört (2005: 251),5 sondern in Bambiland ändern sich die Redeinstanzen. Das zeigt sich zunächst schon am Wechsel des Personalpronomens, in dem gesprochen wird: Einmal ist es ein ›Wir‹, dann ein ›Ich‹. Wer als ›ich‹ oder ›wir‹ ergänzbar wäre, das wechselt ebenfalls. Meist lässt sich dieses ›Wir‹ deuten als Kollektiv westlicher Fernsehzuschauer, die sich mit den westlichen Truppen im Irak im Allgemeinen identifizieren und die Menschen im Irak als dubioses bis feindliches Gegenüber betrachten: »[S]onst schlagen, nicht mehr benetzt vom Wasser, die Städter der erwählten Schar des Herrn noch die Schädel ein und damit eine ganze Welt der Gefühle, wie nur wir nur wir im Westen sie kennen, und eine Welle des Hasses, wie nur die dort sie kennen.« (Jelinek 2003a: 49)

Oder: »Wir haben einen Begriff von der Zivilisation, und wir haben eine Polizei, die uns regiert, das ist schon richtig, aber was machen diese Sandneger, die so originell sind, daß sie keine Kultur mehr brauchen, weil sie schon eine gehabt haben, lang lang ists her?« (Jelinek 2003a: 52)

Oder: »An unser Haus können Sie den Brand legen, an unsere Götterbilder können Sie auch den Brand legen, aber nicht an unser Öl und nicht an unseren Fernseher, den behalten wir, unsren Altar, der darf nicht spurlos fort, der ist doch die Spur! Der ist unsre Leuchtspurmunition, damit wir im Dunkeln sehen können.« (Jelinek 2003a: 50)

Manchmal ist das ›Wir‹ aber auch eng verknüpft mit Bezügen auf den Referenztext der Perser, dann vertritt das sprechende ›Wir‹ gelegentlich

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Annuß weist aber darauf hin, dass das ›Wir‹ in Wolken.Heim. »heterophon« ist und sich »nicht dingfest machen« lässt (Annuß 2005: 139). 349

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auch die Perspektive der Menschen im Irak: »Das lassen sie uns spüren. Gleich gegenüber vom Festland treffen sie jetzt ein, eilen ordnend, das große Heer, die Tomahawk-Gewaltigen, jeder ein kleiner König, dem Großkönig untertan.« (Jelinek 2003a: 51) Wenn die Textfläche auf ein ›Ich‹ wechselt, scheint es manchmal das ›Ich‹ einer einsamen Fernsehzuschauerin oder eines Fernsehzuschauers zu sein. Es kann aber auch das ›Ich‹ eines Medienkommentars zitieren: »Schauen Sie, ich will es in einfachen Worten erklären warum.« (Jelinek 2003a: 50) Dann wiederum ähnelt das ›Ich‹ einer Erzählerin, Sprecherin, einer getriebenen Sprachlenkerin, einer Spielerin mit Zitaten, rhetorischen Figuren und den berühmten Jelinek’schen Kalauern, ich hätte auch sagen können: einem Erzähler, einem Sprecher und so weiter: »Die Energie, die ein Geschoß enthält, bezieht es aus Geschwindigkeit und Masse. Es kann ja keinen Marsriegel essen, nicht wahr. Es kann ja keinen Müsliriegel essen und keine Kindermilchschnitte, um verbrauchte Energie zurückzugewinnen«. (Jelinek 2003a: 50) Jelineks oben zitierte Quellenangaben zu Aischylos und Nietzsche suggerieren, dass sie fremde Texte aneinanderreiht, sie arrangiert und nicht für das Stück zurechtstutzt, so wie ja auch dem Majolika-Rehkitz die Beinchen nicht eigens fürs Bambiland-Foto abgeschlagen worden sein sollen. Vergleicht man allerdings Oskar Werners Übersetzung der Perser mit Jelineks Text, bemerkt man ein weniger sanftes Verfahren: Jelinek reißt aus dem fremden Text spezifische, wiedererkennbare Wörter und Satzteile heraus und fügt sie in ihren eigenen Wörterstrom ein: Aus den Persern zieht sie etwa »aus der Salzflut Strom« (Jelinek 2003a: 50) oder »dieser Städte Niederwurf« (Jelinek 2003a: 51), diese Teile werden dann in ganz andere Satz- und Sinnzusammenhänge eingebaut. Soweit die Deskription des Textsubstrats, für eine Interpretation – und eben für die Frage nach der Geschichte – ergibt sich daraus Folgendes: ›Bambiland‹ ist der Austragungsort für einen Krieg der von verschiedensten Medien getragenen Diskurse – von den Persern des griechischen Dichters Aischylos bis zu Fernseh-Reportagen über den Irakkrieg. Und das Textsubstrat lässt nicht nur die veröffentlichte Meinung zu Wort kommen. Jelinek treibt die Stimmen und Stimmungen weiter. Peter Kümmel hat in seiner Theaterkritik zur Uraufführungsinszenierung in DIE ZEIT geschrieben, die Autorin habe sich mit »ihrem inneren Stammtisch« vor den Fernseher gesetzt und CNN geschaut. Eine solche Formulierung beschreibt Jelineks Verfahren sehr genau: Passagen des Sprechtextes, die Medienanklänge zeigen, werden mit Passagen verwoben, die den Nachhall der Nachrichten an inneren oder äußeren Stammtischen aufzufangen versuchen. Und in diesen Stammtisch-Nachhall mischen sich neben den Nachrichtentexten noch andere Vorlagen: Jelinek zitiert

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nicht nur Die Perser und aus Nietzsches später Vorrede zur Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1886), sie bedient sich auch bei Werbetexten, wenn sie etwa von der Schokoriegelenergie spricht, und sie schöpft aus der Bibel6 – und damit aus einem Grundlagentext, der die österreichische Mentalität, mit der sich Jelinek immer wieder auseinandersetzt, geprägt hat, der aber auch die Argumentationen der derzeitigen US-amerikanischen Regierung durchzieht. Dieses Ineinanderschieben von Diskursmustern, die eben durch dieses Ineinanderschieben auch immer wieder gestört, verfremdet, infrage gestellt werden, charakterisiert die Autorin in einem Gespräch mit Helga Leiprecht recht anschaulich: »Ich zerstöre die Klischees, indem ich diese vorgefertigten Module kaleidoskopisch übereinander lege und so das Bild in ein Vexierbild aufbreche.« (Leiprecht 1999: 3) Und sie sagt: »Der Text hat seinen Subtext und seinen Hypertext sozusagen im Rucksack und trägt ihn also quasi mit sich herum.« (Leiprecht 1999: 3) Jelineks aktuelle Texte, ihre Theater- wie Romantexte, bilden in dieser übereinander- und ineinander schiebenden Schreibweise die sprunghafte, nichtlineare Rezeption von rhizomatischen, labyrinthischen Hypertexten geradezu mimetisch nach, auch darin sind sie Reflex und Reflexion derzeitiger medialer Kommunikation und medienvermittelter Wirklichkeitskonstruktion. Das Fesselnde, das Spannende an diesem Sprechtext ist also die Art, in der Muster zitiert, karikiert, ineinander und gegeneinander geschoben und gestört werden. Die sprachlichen Versatzstücke erweisen sich in Jelineks Wortwurm buchstäblich als Diskursmuster, schließlich kommt das Wort ›Diskurs‹ vom lateinischen Verb ›discurrere‹ – ›auseinandereilen‹. Die auseinander fallenden und gegeneinander prallenden Diskursmuster, das sind meiner Ansicht nach die ›Akteure‹ in Bambiland, und zwar gleichgültig, ob wir Bambiland als plurimediales Theaterstück, als gedrucktes Textsubstrat oder als digitale oder digitalisierte Literatur betrachten. Das heißt: Bambiland hat durchaus anthropomorphisierbare Akteure. Wenn Jelinek in ihrem poetologischen Essay Sinn egal. Körper zwecklos beschreibt, welche Rolle Schauspieler in ihrem Theater übernehmen, stellt sie fest, die Schauspieler »sind das Sprechen, sie sprechen nicht« (Jelinek 1997: 9). Also: das Sprechen selbst, die verschiedenen Diskurse, die Sprachkonventionen, die konfektionierten Sprach-Waren oder Wort-Kalotten sind die Akteure der Jelinek’schen Bühnengeschichten. Gegen eine solche Sicht auf das Theaterstück ließe sich einwenden, dass diese agierenden Diskurse bloße Konstruktion einer sinnstiftenden 6

In Rhythmus und Wortwahl lehnt sich Bambiland stark an das alttestamentliche Buch der Psalter an. 351

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Lektüre seien. Meiner Ansicht nach spricht allerdings sowohl der Wechsel des Personalpronomens und seiner möglichen Füllungen als auch das Jelinek’sche Verfahren der gezielten Reihung, Verschiebung und Verwirbelung von Alltagsklischees, Medientopoi und Literaturzitaten dafür, die verschiedenen in- und aneinandergeschobenen Diskursversatzstücke als Akteure zu betrachten: Schauspieler und Schauspielerinnen, die Jelineks Texte vortragen, werden so zwangsläufig »das Sprechen« selbst – aus ihnen sprechen die Diskurse, sie stehen als solche da, und sie sprechen nicht länger den Text einer individualisierbaren Rolle, die sie auch nicht länger darstellen können, da solche Individualisierbarkeit – zumindest nach der Logik der Jelinek’schen Textwelt – in einer Mediengesellschaft nicht mehr besteht. Wie sieht es nun mit dem Ort dieser Geschichte aus? Aus der Jelinek’schen Zitat- und Kalauercollage ergeben sich gewisse Ortshinweise auf den Irak, auf die irakische Wüste und irakische Siedlungen als Schauplätze des Krieges. Aber dies ist kein Hinweis auf den Schauplatz, den der Theatertext verlangt, auf den Raum, in dem die Stimmen erklingen, auf den Raum, den die Sprachflächen bilden und auf den eine konkrete Theaterbühne mehr oder minder deutlich verweisen muss. Denn schon im Zentrum von Aischylos’ Tragödie Die Perser steht ein Botenbericht über die vernichtende Schlacht. Beim Botenbericht ist der Schauplatz des Erzählten nicht der Schauplatz des Erzählens. Und Aischylos’ Tragödie ist ja insgesamt auch so etwas wie ein Botenbericht, der Bericht eines Autors, der die in seiner Tragödie zentrale Seeschlacht bei Salamis 480 vor Christus unter den Kämpfern miterlebt oder gar mitgekämpft hat. Aischylos war damit so etwas wie ein Vorläufer der ›embedded journalists‹, ein Vorläufer, der allerdings den Kontrast zu den eingeschlossenen Berichterstattern der Irak-Alliierten deutlich werden lässt. Denn Die Perser des griechischen Dichters zeigen den Krieg empathisch aus der Perspektive der Feinde der Griechen, aus der Sicht der Verlierer, der Perser. Bambiland kennt nun eine sehr spezielle Form des Botenberichts: den Medienbericht. Und das bedeutet, die Ortsangaben zum – berichteten – Geschehen in Bambiland verweisen nicht auf den Schauplatz des Sprechtextes, auf den Schauplatz also, an dem die Diskurse, Jelineks Akteure, aufeinanderprallen. Über diesen Schauplatz erfahren wir nichts Konkretes. Und genau dieses Nichts, das lautstark gefüllt wird, ist, meine ich, die implizite Schauplatzvorgabe: Wir befinden uns mit den Stimmen des Sprechtextes im eigentlich ortlosen Raum einer durch die Botschaften der Massenmedien geprägten Öffentlichkeit. Das ist das, was ich medialen Echo-Raum nenne. Heutige Öffentlichkeit – oder heutige Öffentlichkeiten – sind medial geprägte Öffentlichkeiten, virtuelle Öffentlichkeiten. Wir erleben nicht mehr die konkrete Öffentlichkeit der Agora,

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des Marktplatzes, auch nicht die bürgerliche Öffentlichkeit, die irgendwo zwischen Lesegesellschaft, Wirtshaus, Debattierclub und Parlament konkret verortbar war. Wir erleben das Rauschen der öffentlichen, der veröffentlichten Meinungen in einem eigenartig ortlosen Raum des NachHalls öffentlicher, veröffentlichter Stimmen, in einem Echo-Raum, der weder geortet noch verortet werden kann. Und dieser Echo-Raum ist der Spiel-Raum, ist der Schauplatz von Bambiland. Das ist ganz konkret ›Bambiland‹, die – nicht nur – österreichische Fernsehöffentlichkeit. Durch die Auflösung und Umsetzung des gedruckten Sprechtextes in eine konkrete Theater- und Aufführungssituation werden Teile, wahrscheinlich sogar große Teile des Textes, für das Publikum einer Aufführung nicht in der Weise nachvollziehbar sein, wie sie es bei der analysierenden Lektüre des gedruckten Textes sind. Die Herkunft der Texte und vor allem die destruierenden Veränderungen der Zitate sind für Theaterzuschauer/innen meist nicht ermittelbar. Diese reduzierte Rezipierbarkeit der Sprache ist aber integraler Bestandteil des Textes: Bambiland rauscht an unseren Ohren – und flimmert an unseren Augen – vorbei, wie die immerwährenden CNN-Nachrichtenschleifen, die uns in Krisenzeiten allüberall verfolgen. Nur Bild- und Tonstörungen unterbrechen dieses Flimmern und Rauschen, das Rauschen wird in Bambiland gestört, die Konsumhaltung unterbrochen, wenn die Diskursmuster wechseln, wenn sich Bruchstücke aus den Persern, die den Kampf mit Empathie aus der Perspektive der Unterlegenen schildern, wenn Bruchstücke aus dieser Tragödie sich dem Einblenden, dem Verschmelzen mit dem Jelinek-CNN-schen Dauergebrabbel widersetzen. Dieses Aufrauhen eines einheitlichen, medial vorgeformten Sprachflusses durch sperrige, widerspenstige, widerständige Wörter und Satzteile aus anderen Diskursfeldern ist ein häufiges Verfahren in Jelineks Theatertexten. Stephanie Kratz zum Beispiel hat dies an den Celan-Zitaten in Stecken, Stab und Stangl (1996) anschaulich gemacht, die geradezu einschneiden in das Sich-zu-Häkeln mit beruhigender Rede, das der Theatertext vorführt (1999: 95f.). Auf Jelineks Webseite übernehmen dieses Einschneiden in Bambiland zudem die Bilder und der Link zu einer Website, der die Klickenden aus der Kunstwelt des fiktionalen Theaterstücks herausführt in ein Dokument, das an reales Sterben im Krieg erinnert. Bei einer Theaterinszenierung sind es die Störmanöver der Regie, die ganz nah an der Realisierung des Textsubstrats sind, wenn sie nach der Manier von Schlingensiefs Uraufführungsinszenierung scheinbar willkürliche Bildarrangements schaffen. Auch die Zeit lässt sich aus der Theatralität des Sprechtextes näher bestimmen: Es ist eine Gegenwart, ohne gegenwärtig zu sein: Gesprochen oder auch dauergebrabbelt wird in der gleichen Zeit, in der Krieg

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herrscht, aber nicht vor Ort, nicht in ›Gegenwart‹ des Krieges. Insofern zitiert Jelineks Bambiland nicht nur den Botenbericht einer klassischen Tragödie, sondern auch die Mauerschau: gleichzeitig, aber nicht gegenwärtig; live dabei, aber nicht Auge in Auge mit einem mörderischen Geschehen, sondern distanziert durch ein Instrument, durch ein Medium, das dafür sorgt, erstens dass wir fern-sehen können und zweitens dass wir diese scheinbare Gegenwärtigkeit immer wiederholen können. Denn die scheinbare Gegenwärtigkeit von aufgezeichneten Berichten lässt sich perpetuieren. Der Botenbericht gibt sich den Anschein, Mauerschau zu sein. Ein Theaterstück mit Diskurs-Akteuren, einer virtuellen Medienöffentlichkeit als Schauplatz und einer scheinbaren Gegenwart als ›Zeit‹ ist Reflex auf die sekundäre Wahrnehmung von Welt, die im Medienzeitalter unser Weltbild nahezu ausschließlich bestimmt (vgl. dazu u. a. Meyer 2003; Meyrowitz 1990; Neidhardt 1994), und ist somit Widerhall der, wie es Heimböckel nennt, »Endlosschleife digitaler und multimedialer Informationsvermittlung« (Heimböckel 2005: 48). Was auf der Bühne gezeigt wird, ist das Vermittelte der Geschichten, die wir mitzuerleben glauben. Bambiland reflektiert also nicht nur die Ortlosigkeit zeitgenössischer Öffentlichkeitsbörsen, sondern auch das Überwiegen sekundärer Wahrnehmung in unseren Versuchen, aus dem medialen Überangebot Weltbilder zu synthetisieren. Das Stück – als Theaterereignis, das unsere Wahrnehmung überfordert – reflektiert die Vergeblichkeit solcher Syntheseversuche. Jelineks Theaterstück zitiert mit Botenbericht und Mauerschau narrative Elemente der Dramatik und zeigt so das Vermittelte jedes medialen ›Erlebens‹. Man kann folglich durchaus von einer Geschichte in Bambiland sprechen, nur: Es ist eine sehr abstrakte Geschichte: Es ist die Geschichte unseres Jahrmarkts des medialen Diskurshandels, unserer – vergeblichen – Weltbild- und Weltabbildungsversuche und insofern zeugt Bambiland von der Unmöglichkeit, über unsere Welt eine geschlossene, eine kohärente, eine nachvollzieh- und überprüfbare Geschichte zu erzählen oder vorzuführen. Nur vom Nicht-mehr-Möglichen des Dramatischen – davon zeugt es nicht.

Literatur Aischylos (1940): Die Perser. Übertragen von Oskar Werner. Frankfurt am Main: Diesterweg. Annuß, Evelyn (2005): Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens. München: Fink.

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Heimböckel, Dieter (2005): Subversionen der Erinnerung im postdramatischen Theater. Heiner Müller – Elfriede Jelinek – Rainald Goetz. In: Der Deutschunterricht, H. 6, S. 46–53. Iraq Body Count 2003-2007 (2008). Unter: http://www.iraqbody count.net/names.htm. Stand: 27.08.2008. Jelinek, Elfriede (1990): Ich möchte seicht sein. In: Gürtler, Christa (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt am Main: Neue Kritik, S. 157–161. Jelinek, Elfriede (1997): Sinn egal. Körper zwecklos. In: Dies.: Stecken, Stab und Stangl. Raststätte oder Sie machens alle. Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Mit einem ›Text zum Theater‹ von Elfriede Jelinek. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 7–13. Jelinek, Elfriede (2003a): Bambiland. In: Theater heute, H. 6, S. 49–59. Jelinek, Elfriede (2003b): Bambiland. Unter: http://www.elfriedejelinek. com. Stand: 27.08.2008. Jelinek, Elfriede (2004): Bambiland. Babel. Zwei Theatertexte. Mit einem Vorwort v. Christoph Schlingensief und einem Essay v. Bärbel Lücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kratz, Stephanie (1999): Undichte Dichtungen. Texttheater und Theaterlektüren bei Elfriede Jelinek. Köln (Dissertation). Unter: http:// deposit.d-nb.de/cgibin/dokserv?idn=970033419&dok_var=d1&dok_ ext=pdf&filename=970033419.pdf. Stand: 27.08.2008. Kümmel, Peter (2003): Nicht schuldig! Christoph Schlingensief überrollt Elfriede Jelineks Bambiland an der Wiener Burg. In: Die Zeit vom 17.12.2003. Lehmann, Hans-Thies (2001): Postdramatisches Theater. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Leiprecht, Helga (1999): Die elektronische Schriftstellerin. Zu Besuch bei Elfriede Jelinek. In: Du 700, S. 2–5. Lücke, Bärbel (2004): Zu Bambiland und Babel. In: Jelinek, Elfriede: Bambiland. Babel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 229–271. Meyer, Thomas (2003): Die Theatralität der Politik in der Mediendemokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (53), S. 12–19. Meyrowitz, Joshua (1990): Die Fernsehgesellschaft. 2 Bde. Weinheim/ Basel: Beltz. Neidhardt, Friedhelm (Hg.) (1994): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Opladen: Westdeutscher Verlag (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 34). Pfister, Manfred (2000): Das Drama. 10. Aufl. München: Fink. Poschmann, Gerda (1997): Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen: Niemeyer.

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Schlingensief, Christoph (2004): Unnobles Dynamit – Elfriede Jelinek. In: Jelinek, Elfriede: Bambiland. Babel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 7–12. Schößler, Franziska (2005): »Sinn egal. Körper zwecklos«. Elfriede Jelineks Demontage des (männlichen) Theaterbetriebs. In: Der Deutschunterricht, H. 6, S. 46–55.

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AUTORINNEN

UND

AUTOREN

Evelyn Annuß, Theater-, Literaturwissenschaftlerin und Kuratorin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum; DFG-Forschungsprojekt: Der Chor im Thingspiel. Derzeitige Ausstellung zu Möglichkeitsräumen anderer Gebrauchsweisen von Fotografie im postkolonialen Kontext: Stagings Made in Namibia (Berliner Bethanien und National Art Gallery of Namibia, Windhoek; Katalog dt./engl., b_books 2009). Promotion 2005 zu Prosopopoiia und Postdramatik (Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, 2. Aufl. München 2007). Forschungs- und Lehrtätigkeit unter anderem in Berlin, New York, Wien und Windhoek. Veröffentlichungen zu nichtprotagonistischen Darstellungsweisen und kollektiven Auftrittsformen, Dramentheorie und Formzitat, kulturwissenschaftlicher Geschlechterforschung, Rhetorik und Dekonstruktion. Christine Bähr, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Studium der Germanistik und Europäischen Ethnologie in Freiburg im Breisgau sowie der Buch- und Medienpraxis in Frankfurt am Main. Magisterarbeit zur Dramatik Dea Lohers. 2000, 2002 und 2003 Tätigkeit im Theaterlektorat (Suhrkamp, Verlag der Autoren). 2003 bis 2004 Dramaturgieassistenz an den Städtischen Bühnen Münster. Dissertationsprojekt zum Thema Arbeit und Familie in Theatertexten der Jahrtausendwende. Ausgewählte Publikationen: Überfluss und Überschreitung. Die kulturelle Praxis des Verausgabens (hg. zusammen mit Susanne Bauschmid, Thomas Lenz und Oliver Ruf, Bielefeld 2009, im Druck). Forschungsschwerpunkte: Dramatik und Theater, Literatur und Körper, Literatur und Soziales. Jürgen Berger, Theater- und Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung, Theater heute und Berliner Tageszeitung. 2003 bis 2007 Mitglied im Auswahlgremium des Mülheimer Dramatikerpreises. Seit 2007 in der Jury des Berliner Theatertreffens, Juror des Else-Lasker-Schüler-Stückepreises und Dozent an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim.

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ÖKONOMIE IM THEATER DER GEGENWART

Franziska Bergmann, 2000 bis 2006 Studium der Germanistik, Anglistik und Gender Studies an den Universitäten Freiburg, Basel und Norwich (UK). Derzeit Promotion zu zeitgenössischer deutschsprachiger, britischer und US-amerikanischer Dramatik aus queer-theoretischer Perspektive (Betreuung durch Prof. Dr. Franziska Schößler, Trier und Prof. Dr. Dorothee Kimmich, Tübingen). Die Promotion wird von der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert. Seit April 2009 Koordination der Tübinger Poetik-Dozentur am Deutschen Seminar der Universität Tübingen (Leitung Prof. Dr. Dorothee Kimmich). Lehraufträge an den Universitäten Freiburg und Tübingen. Ausgewählte Publikationen: Einleitung (zusammen mit Jennifer Moos). In: Meike Penkwitt (Hg.): Männer und Geschlecht, Freiburg 2007, S. 21–37; Mitherausgabe des Aufsatzbandes queere (t)ex(t)perimente, (Freiburg 2008); in Vorbereitung: Mitherausgabe des Aufsatzbandes Geschlechterinszenierungen (vorläufiger Titel; Freiburg 2009). Bernd Blaschke, Studium der Romanistik, Philosophie, deutschen sowie vergleichenden Literaturwissenschaft in Hamburg, Clermont-Ferrand, Baltimore (Johns Hopkins University) und Berlin (FU und TU). Magister 1996, Promotion 2001. Stipendien des DAAD und der Studienstiftung des deutschen Volkes. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Peter SzondiInstitut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der FU Berlin und Mitglied im SFB 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Komparatistische Dissertation über den Homo oeconomicus und seinen Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline (München 2004). Habilitationsprojekt über Komödien des Wissens. Theatralische Gelehrtensatiren 1500–1800. Ausgewählte Publikationen: Falschgeld und diskreditierte Erzähler; Zolas Ökonomie des notwendigen Exzess; Hermann Brochs Marketing zwischen Tragödie und Komödie; Was tauscht und womit zahlt der Mensch in Komödien des 18. Jahrhunderts; Marktzeiten und Markträumen in Spekulantenromanen 1900/2000. Zola, Paul Erdman und Don DeLillo; Goethes Poetik der Verschwendung? Forschungsschwerpunkte: Literatur und Ökonomie, Romane der Moderne, Komödien seit 1500, Wissenschaftssatiren, Künste-Vergleich, ästhetische Theorie, Literaturkritik. Tanja Bogusz, Industriemechanikerin, Bildungsreferentin, freie Autorin. Studium der Romanistik, der Linguistik und der Soziologie in Hamburg, Paris und Berlin. Magister 2004 in französischer Philologie an der Freien Universität Berlin über den französischen Surrealismus. Promotion am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften/Soziologie 2006 bei Wolf Lepenies und Erika Fischer-Lichte über Anomie und Erfolg. 2007 bis

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AUTORINNEN UND AUTOREN

2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Lehrstuhl für allgemeine und soziologische Theorie des Instituts für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität Berlin. Forschungsaufenthalte an der EHESS Paris und der New York University. Habilitationsprojekt: Pragmatismus und Praxistheorie – Wissenschaftstheoretische Beobachtungen in Frankreich – Deutschland – USA. Ausgewählte Publikationen: Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne (Bielefeld 2007); Avantgarde und Feldtheorie: André Breton und die surrealistische Bewegung im literarischen Feld nach Bourdieu (Frankfurt am Main u. a. 2005); Soziologie ist die Kunst der Verteidigung. Interview mit Pierre Bourdieu. In: Wochenzeitung Jungle World vom 23.05.2001. Forschungsschwerpunkte: Praxistheorie und Pragmatismus. Norbert Otto Eke, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturtheorie an der Universität Paderborn. Studium der Germanistik und Theologie unter anderem an der FU Berlin. Dissertation über den Dramatiker Heiner Müller (Paderborn, München 1989). Habilitation mit einer Untersuchung über das deutsche Drama zur Französischen Revolution um 1800 (Signaturen der Revolution, München 1997). Bis 2006 Ordinarius für deutsche Literatur an der Universiteit van Amsterdam. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in den USA, in Ungarn und China. Ausgewählte Publikationen: Literaturwissenschaft (München 2004); Einführung in die Literatur des Vormärz (Darmstadt 2005); Shoah in der deutschsprachigen Literatur (Hg., Berlin 2006); Wort/Spiele. Drama – Film – Literatur (Berlin 2007); Neulektüren – New Readings (Hg., Amsterdam/New York 2009). Forschungsschwerpunkte: Drama und Theater, Vormärz, deutsch-jüdische Literatur. Thomas Ernst, Postdoktorand an der Universität Luxemburg. Studium der Germanistik und Philosophie in Duisburg, Bochum, Leuven und Berlin. 2005 Arbeitsaufenthalt an der Columbia University in New York. Dissertation 2008 an der Universität Trier mit einer Arbeit zum Thema Subversive Konzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Ausgewählte Publikationen: SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart (Mhg., Bielefeld 2008); Wissenschaft und Macht (Mhg., Münster 2004); Popliteratur (Hamburg 2001/2005). Aufsätze unter anderem zu Jelinek, Pollesch, Union Suspecte und Zaimoglu. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur und -dramatik, Literaturund Medientheorien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Konzepte ästhetischer Subversion, Netzliteratur und Urheberrecht, kreatives Schreiben.

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ÖKONOMIE IM THEATER DER GEGENWART

Wolf-Dieter Ernst, Akad. Rat am Institut für Theaterwissenschaft der LMU-München. Studium der Theater- und Medienwissenschaft in Bochum, Gießen und Amsterdam. Dissertation über Körperkunst im digitalen Zeitalter (Wien 2003). Habilitation zur Diskursgeschichte der Schauspielschulen 1870–1930. Ausgewählte Publikationen: Netzwerk und Performanz. Prolegomena zu einer Netzwerkperspektive in der Theaterwissenschaft (zusammen mit Meike Wagner, Tübingen 2007; Forum Modernes Theater); »Die hässliche Maske eines alten Greises behaupten.« Zur visuellen Energie im Schauspiel. In: Gottfried Boehm/Gabriele Brandstetter/Achatz von Müller (München 2007); Kartografien des Interface. Zum Widerstand des elektronischen Schreibens bei Duchamp, O.U.L.I.P.O., Jodi und Knowbotic Research. In: Martin Stingelin (München 2006); The Liveness of the Rain. Die Techniken des Betrachtens im zeitgenössischen Theater. In: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Basel 2005). Konstanze Fliedl, Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Studium der Deutschen Philologie, Kunstgeschichte und Theologie. Zahlreiche literaturkritische Arbeiten. Ausgewählte Publikationen: Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung (Wien 1997); Arthur Schnitzler (Stuttgart 2005); Österreichische Erzählerinnen (Hg., München 1995); Das andere Österreich (München 1998); Elfriede Gerstl (mit C. Gürtler, Graz 2001); Geschlechter (mit F. Aspetsberger, Innsbruck 2001); Judentum und Antisemitismus (mit A. Betten, Berlin 2003); Arthur Schnitzler im 20. Jahrhundert (Wien 2003); Andreas Okopenko (mit C. Gürtler, Graz 2004); Kunst im Text (Frankfurt am Main 2005); verschiedene Schnitzler-Editionen; Aufsätze zu Canetti, Bachmann, Haushofer, Jelinek und anderen. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Jahrhundertwende, Literatur und Kunst, Editionstechnik. Ortrud Gutjahr, Professorin für Neuere deutsche Literatur und Interkulturelle Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Zuvor Assistentin und Oberassistentin an der Universität Freiburg und Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Interkulturelle Germanistik an der Universität Karlsruhe. Ausgewählte Publikationen: Einführung in den Bildungsroman (Darmstadt 2007); Heinrich von Kleist (Hg., Würzburg 2008); TABU. Interkulturalität und Gender (Mhg., Paderborn u. a. 2008); Intrakulturelle Fremdheit. Inszenierung deutsch-deutscher Differenzen in Literatur, Film und Theater nach der Wende (Hg., Würzburg 2009); Maskeraden des (Post-)Kolonialismus. Verschattete Repräsentationen ›der Anderen‹ in der deutschsprachigen Literatur und im Film (Mhg., Würzburg). Begründerin und Herausgeberin der Reihe

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Theater und Universität im Gespräch, in der bisher Bände erschienen sind zu: Lulu von Frank Wedekind (2005); Nora und Hedda Gabler von Henrik Ibsen (2005); Penthesilea von Heinrich von Kleist (2006); Buddenbrooks von und nach Thomas Mann (2006); Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek (2007); Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt (2008); Iphigenie von Euripides/Goethe (2008); Hamlet von William Shakespeare (2009); Räuber von Friedrich Schiller (2009) und Reigen von Arthur Schnitzler (2009). Forschungsschwerpunkte: interkulturelle Literatur- und Medienwissenschaft, Literatur und Psychoanalyse, Kulturtheorie und Theaterforschung. Ulrike Haß, seit 1999 Professorin für Theaterwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum. Nach dem Studienabschluss (Germanistik, Politik und Psychologie) an der FU Berlin Arbeit als Verlagslektorin, Autorin, Dramaturgin. 1990 Promotion: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert an der FU Berlin. 1992 bis 1998 Assistentin für Theaterwissenschaft an der FU Berlin. 1999 Abschluss der Habilitationsschrift Bühnenform und Wahrnehmung. Aspekt einer Geschichte des Sehens. Ausgewählte Publikationen: Mitherausgeberin eines Jahrbuchs für das Theater im Ruhrgebiet Theater über Tage (ab 2001), das ab 2007 als Jahrbuch zum Theater im Ruhrgebiet Schauplatz Ruhr verändert fortgesetzt wird; gemeinsam mit Thomas Oberender vom Schauspielhaus Bochum Herausgeberin von Gott gegen Geld. Zur Zukunft des Politischen I (Berlin 2002); Krieg der Propheten. Zur Zukunft des Politischen II (Berlin 2004); Heiner Müller. Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung (Hg., Berlin 2005); Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform (München 2005). In Vorbereitung: Der unbedingte Dialog. Forschungsschwerpunkte: Theatergeschichte als Mediengeschichte, Ästhetik des Gegenwartstheaters, Elfriede Jelinek, Heiner Müller, Einar Schleef, Chortheater, Politik der Darstellung, Kritik des Theaterbetriebs. Axel Haunschild, Professor für Arbeit, Personal und Organisation an der Universität Trier und Gastprofessor am Royal Holloway College der University of London. Promotion und Habilitation im Fach Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. 2004 bis 2007 Senior Lecturer in Human Resource Management am Royal Holloway College der University of London und langjährige Tätigkeit als Lehrbeauftragter und Gastprofessur an der Universität Innsbruck. Ausgewählte Publikationen: Work Less, Live More? Critical Analyses of the Work-Life Relationship (Mhg., Palgrave 2008). Forschungsschwerpunkte: neue Arbeits- und Organisationsformen, Organisationstheorien, komparative Analyse von Be-

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schäftigungssystemen, Arbeit und Personalmanagement in den kreativen Industrien (insbesondere Theater) und Work-Life Boundaries. Anna Kinder, Doktorandin am Germanistischen Seminar Universität Heidelberg. Studium der Germanistik und Politischen Wissenschaft in München und Heidelberg. Magisterarbeit zu Thomas Manns Buddenbrooks und Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Ausgewählte Publikationen: Reflexe der kapitalistischen Moderne: Die Geldströme in den Romanen Thomas Manns. In: literaturkritik.de 5 (2009). Forschungsschwerpunkte: Thomas Mann, Literatur und Ökonomie. Eva Kormann, Privatdozentin an der Universität Karlsruhe. Studium der Germanistik, Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft in Mannheim, Heidelberg und Passau. 1983 Dipl.-Soz. (Universität Mannheim). 1989 Dr. phil. (Universität Passau) mit einer Dissertation zum Theater der Gegenwart. 2002 Habilitation an der Universität Karlsruhe mit einer DFG-geförderten Habilitationsschrift über die Autobiografik des 17. Jahrhunderts. Lehrtätigkeit auch an den Universitäten Mannheim, Salzburg, New Mexico und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Ausgewählte Publikationen: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert (Köln 2004; Selbstzeugnisse der Neuzeit, 13); Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden (Mhg., Amsterdam u. a. 2006); Gelegentlich: Brecht. Jubiläumsschrift für Jan Knopf (Mhg., Heidelberg 2004). Weitere Angaben unter http://fakultaet.geistsoz.uni-karlsruhe.de/litwiss/92.phpPHPSESSID=eaecc344aae9a79a77d1 91b87ad5b0f1. Forschungsschwerpunkte: Theater der Gegenwart, Autobiografik, Literaturkritik, genderorientierte Literaturwissenschaft, das literarische Motiv des künstlichen Menschen. Hajo Kurzenberger, seit 1980 Professor für Theaterwissenschaft und Theaterpraxis an der Universität Hildesheim. 1972 Promotion an der Universität Heidelberg, lehrte an den Universitäten Heidelberg und Trier. Dramaturg und Regisseur an verschiedenen deutschsprachigen Bühnen, unter anderem Basel, Berlin, Hamburg, Mannheim und Zürich. Ausgewählte Publikationen: Theater als kollektiver Prozess (erscheint 2009 bei transcript); Kollektive Kreativität: Herausforderung des Theaters und der praktischen Theaterwissenschaft. In: Stephan Porombka/Wolfgang Schneider/Volker Wortmann (Hg.): Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 2006 (Tübingen 2006); Das Theater der Politik. ›Staats-Athletik‹ auf verschiedenen Bühnen der Berliner Republik. In: Birgit Haas (Hg.): Macht, Performativität, Perfor-

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AUTORINNEN UND AUTOREN

manz und Polittheater seit 1990 (Würzburg 2005); TheorieTheaterPraxis (zusammen mit Annemarie Matzke, Berlin 2004; Theater der Zeit, Recherchen, 17). Forschungsschwerpunkte: Theater im 20. Jahrhundert, Chorisches Theater und Authentizität als Darstellungsform. Christoph Lepschy, Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus. Studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in München und Dublin, arbeitete als Puppenspieler und seit 1989 als Künstlerischer Leiter von internationalen Festivals mit Schwerpunkt Figuren- und Objekttheater. Von 1996 bis 2002 war er als Dramaturg an der Schauburg München, von 2002 bis 2005 am Theater Freiburg tätig. An der Universität Freiburg hat er seit 2004 einen Lehrauftrag für zeitgenössische Dramatik. Katharina Pewny, Theater- und Literaturwissenschaftlerin, Gastwissenschaftlerin an der Universität Hamburg, Elise Richter-Forscherin des österreichischen Wissenschaftsfonds und Lehrende an der Kunstuniversität Graz. Arbeitet an der Habilitationsschrift zu Phänomenen des Prekären in zeitgenössischem Theater, Tanz und Performance. Mitglied der Theaterjury der Hamburger Kulturbehörde. Ausgewählte Publikationen: Performance Politik Gender (hg. mit Margit Niederhuber und Birgit Sauer, Wien 2007). Forschungsschwerpunkte: Theatertheorie, Performance Studies und Tanzwissenschaft, Performancekunst und neue Dramatik, Schnittstellen von Ästhetik mit dem Sozialen und dem Politischen. Heiner Remmert, Kulturwissenschaftler und freier Dramaturg. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft, Kultur- und Religionswissenschaft in Paderborn und Berlin. Seit 2006 assoziierter wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 447 Kulturen des Performativen an der FU Berlin und Arbeit an einer Dissertation zu Ritualen und Ritualisierungen bei Christoph Schlingensief. Seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter im vom BMBF geförderten Forschungsverbund Theater und Fest in Europa. Zur Inszenierung von Identität und Gemeinschaft. Mitglied der freien Theater- und Performancegruppe lunatiks produktion seit 2003. Franziska Schößler, Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn und Freiburg. Studienaufenthalte in Paris, London und Brisbane. Regie-, Kostüm- und Dramaturgieassistentin an den Städtischen Bühnen Freiburg und der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Dissertation über Adalbert Stifter. Habilitation über Goethes Lehr- und Wanderjahre (Tübingen 2002). Ausgewählte Publika-

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ÖKONOMIE IM THEATER DER GEGENWART

tionen: Einführung in das Trauerspiel und das soziale Drama (Darmstadt 2003); Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre (Tübingen 2004; Forum Modernes Theater); Einführung in die Gender Studies (Berlin 2008). Jurorin des Else-Lasker-SchülerStückepreises und des Preises Der Faust (2009). Forschungsschwerpunkte: Drama und Theater, insbesondere Gegenwartsdramatik, Ökonomie und Literatur, kulturwissenschaftliche Literaturtheorien, Gender Studies. Na-Young Shin, Studium der Philosophie und Germanistik in Trier, Magisterarbeit zu Theatertexten Heiner Müllers. Seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Allgemeinen Erziehungswissenschaft an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkt: Theorien der Bildung im Zusammenhang mit ästhetischer Theorie und Kulturtheorie. Andrea Zimmermann, Dozentin für Gender Studies an der Universität Basel. Studium der Katholischen Theologie, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Gender Studies in Freiburg und Edinburgh (Schottland). Seit 2004 Promotion in der Literaturwissenschaft: Zwischen Performativität und Mimesis. Gender-Poetologien zeitgenössischer Theatertexte. Sie arbeitete als wissenschaftliche Angestellte an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg und war 2005 bis 2008 Mitglied des Graduiertenkollegs Gender in Motion an der Universität Basel. Seit 2003 Dramaturgieassistentin am Theater Freiburg, 2006 bis 2008 Dramaturgin am Düsseldorfer Schauspielhaus.

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ABBILDUNGEN Abbildung 1: René Polleschs Tod eines Praktikanten – Foto: © Thomas Aurin Abbildung 2: Rimini Protokolls Karl Marx: Das Kapital, Erster Band am Düsseldorfer Schauspielhaus – Foto: © Sebastian Hoppe Abbildung 3: Thomas Kuczynski in Rimini Protokolls Karl Marx: Das Kapital, Erster Band – Foto: © Sebastian Hoppe Abbildung 4: Screenshot aus der CD-ROM Call Cutta von Rimini Protokoll. Führung und Anweisung des Zuschauers durch den Agenten Abbildung 5: Screenshot aus der CD-ROM Call Cutta von Rimini Protokoll. »Hast Du Dich schon einmal am Telefon verliebt?« Abbildung 6: Janina Sachau als Frotzi in der Uraufführung von zwei brüder drei augen, 20. Juni 2008, Düsseldorfer Schauspielhaus, Regie: Christian Doll – Foto: © Sebastian Hoppe Abbildung 7: Düsseldorfer Schauspielhaus, Der Besuch der alten Dame, Rainer Galke, Hans-Jochen Wagner, Urs Peter Halter, Claudia Hübbecker, Matthias Leja, Katharina Abt, Cathleen Baumann, Christoph Müller – Foto: © Sebastian Hoppe Abbildung 8: Düsseldorfer Schauspielhaus, Der Besuch der alten Dame, Matthias Leja, Christoph Müller, Katharina Abt, Rainer Galke, Cathleen Baumann, Urs Peter Halter, Hans-Jochen Wagner – Foto: © Sebastian Hoppe

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Theater Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Dezember 2009, ca. 434 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 September 2009, ca. 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1223-3

Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität Oktober 2009, ca. 190 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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Theater Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Oktober 2009, ca. 236 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2

Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens März 2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule Ein Handbuch zur kulturellen Bildung Juli 2009, 352 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1072-7

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Theater Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart 2005, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-338-9

Gabi dan Droste (Hg.) Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit Mai 2009, 260 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1180-9

Christine Regus Interkulturelles Theater zu Beginn des 21. Jahrhunderts Ästhetik – Politik – Postkolonialismus 2008, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1055-0

Ulf Schmidt Platons Schauspiel der Ideen Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater 2006, 446 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-461-4

Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater

Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy

2008, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-853-7

2008, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-891-9

Julia Glesner Theater und Internet Zum Verhältnis von Kultur und Technologie im Übergang zum 21. Jahrhundert

Stefan Tigges Von der Weltseele zur Über-Marionette Cechovs Traumtheater als radikale avantgardistische Versuchsanordnung

2005, 386 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-389-1

Nic Leonhardt Piktoral-Dramaturgie Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899) 2007, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-596-3

Julia Pfahl Zwischen den Kulturen – zwischen den Künsten Medial-hybride Theaterinszenierungen in Québec 2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN 978-3-89942-909-1

Dezember 2009, ca. 350 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1138-0

Franziska Weber Dimensionen des Denkens Der raumzeitliche Kollaps des Gegenwärtigen. Geistes- und naturwissenschaftliche Entwürfe – verifiziert an Martin Kusejs »Don Giovanni« 2008, 216 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1010-9

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Karin Harrasser, Helmut Lethen, Elisabeth Timm (Hg.)

Sehnsucht nach Evidenz Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2009 Mai 2009, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1039-0 ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008) und Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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