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German Pages 316 Year 2014
Yvonne Hardt, Martin Stern (Hg.) Choreographie und Institution
TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 24
Yvonne Hardt, Martin Stern (Hg.)
Choreographie und Institution Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung unter Mitarbeit von Susanne Grau
Diese Publikation wurde gefördert aus den Mitteln des
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Susanne Grau, Yvonne Hardt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1923-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Choreographie und Institution: Eine Einleitung
Yvonne Hardt & Martin Stern | 7 Zur Choreographie der Organisation: Zeitgenössische künstlerische Praktiken
Petra Sabisch | 35 On Autodomestication: Zum Verhältnis von Tanz und Institution
Sandra Noeth | 53 Der Kampf um künstlerische Belange. Eine kleine Institutionskunde am Beispiel des Hebbel am Ufer
Pirkko Husemann | 65 Das Festival als (flüchtige) Institution. Perspektiven für den zeitgenössischen Tanz in Deutschland
Jennifer Elfert | 85 Tanzdramaturgie im Spannungsfeld von Kunst und Management
Ein Gespräch mit Thorsten Teubl | 107 Die Kunst ist dazwischen: Konzepte, Programme und Manifeste zur kulturellen Institutionalisierung von Tanz
Nicole Haitzinger | 119 Tanzkritik – eine kritische Institution?
Christina Thurner | 137 Projektanträge und marktgerechte Präsentation. Ein Bericht über einen Workshop zum Projektmanagement
Johanna Kasperowitsch | 151
Tanzwissenschaft in höheren Bildungsinstitutionen: Eine Genealogie der Unterschiede
Jens Richard Giersdorf | 161 TanzLiteracy und Bildungsinstitutionen – anhand internationaler Beispiele
Nana Eger | 185 Tanz als Möglichkeit ästhetischer Bildung in der Schule
Martin Stern | 209 Re/enacting Yvonne Rainers Continuous Project-Altered Daily: Zur Re/konstruktion institutionskritischer Tanzkunst
Yvonne Hardt | 233
Style as Confrontation: Zur Geschichte und Entwicklung des B-Boying
Michael Rappe | 257 Das Lokale vermarkten: The Festival of India und Dance Umbrella
Janet O’Shea | 285 Autorinnen und Autoren | 309
Choreographie und Institution Eine Einleitung Y VONNE H ARDT & M ARTIN S TERN
Tanz und Choreographie finden nicht im luftleeren Raum statt: Es gibt Institutionen, die sie fördern und lehren ebenso wie solche, in denen sie präsentiert, vermarktet und archiviert werden. Institutionen nehmen maßgeblich Einfluss auf die Produktion von Tanz und zugleich bringen Tanzpraktiken (immer wieder aufs Neue) Institutionen erst hervor. Tanz ist Teil eines Kunstmarktes, denn TänzerInnen und ChoreographInnen sind heute auch UnternehmerInnen ihrer selbst: Wer freischaffend arbeitet, kommt nicht umhin, Konzepte und Förderanträge zu schreiben. Die Vermittlung und Vermarktung des eignen tänzerischen Schaffens in Form von Videos, Webseiten oder Werbetexten betreffen den einzelnen auch dann, wenn er sich in seinem Selbstverständnis scheinbar abseits der Institutionen begreift.1 Damit soll jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, dass Tanz von seinen Institutionen umfassend determiniert ist: Zugleich beinhaltet Tanz auch das Potential einer kritischen Praxis, die die ökonomischen Rahmenbedingungen und ästhetischen Codes kritisch befragen und offen legen kann.
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Vgl. Saskia Reiter: Selbstmanagement im Kulturbetrieb. Kulturunternehmer zwischen Unabhängigkeit und Prekariat, in: Verena Lewinski-Reuter/Stefan Lüddenmann (Hg.): Kulturmanagement der Zukunft. Perspektiven aus Theorie und Praxis, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 164-181.
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Obwohl diese Sachverhalte einerseits nicht sonderlich bemerkenswert erscheinen, da Tanz und Choreographie wie alle künstlerischen und sozialen Praktiken nicht frei von sozialen Bezügen oder Regelsystemen sind, so werden institutionelle Fragen anderseits in der Tanzwissenschaft (im Gegensatz zu anderen Kunstwissenschaften) erst langsam einer dezidierteren Betrachtung unterzogen.2 Dies geschieht vor allem inspiriert durch TanzkünstlerInnen, die vermehrt auch in Europa seit Mitte der 1990er Jahre Tanz selbst zu einer institutionskritischen Praxis erklären. Eine übergreifende Publikation zu diesem Thema stellt bisher allerdings ein Desiderat dar. Dieser Sammelband – der mit zahlreichen ergänzenden Beiträgen aus der Tagung „Choreographie und Institution“3 hervorgegangen ist – versteht sich daher als ein Forum, interdisziplinäre, praktische und theoretische Perspektiven zu diesem Thema zusammen zu bringen. Er diskutiert, wie sich choreographische Verfahren, Produktionsweisen und Diskurse im Tanz in Hinblick auf Prozesse der Institutionalisierung reflektieren lassen. Wie wird Tanz in Regelsysteme überführt und welche Rolle spielen dabei Modi der Verschriftlichung? Welche Formen des Arbeitens stellen Alternativen zu den am Markt orientierten Arbeitsweisen dar und was können Tänzer und Tänzerinnen zugleich vom Markt lernen? Wie und warum entstehen neue Formen der Distinktion aufgrund bzw. trotz einer feldimmanent kritischen Praxis: Wird die kritische und auf (Selbst-)Reflexivität angelegte Tanzproduktion selbst zu einem Stilphänomen, das von den Institutionen zunehmend gefordert und erwartet wird? Welche Möglichkeiten, welche Freiräume und selbsttechnologischen Spielräume (Foucault) lassen sich im dichten Gewebe Tanz diskutieren: Wie kann Tanz als kritische Praxis von Formen institutionalisierter ‚Steuerung von Kritik und kritischer Reflexivität‘ emanzipiert gedacht werden? Und schließlich kann danach gefragt
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Beispielhaft ist hierfür Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009. Zur Institutionskritik u.a.: Benjamin Buchloh: Conceptual Art 1962-1969: From the Aesthetics of Adminstration to the Critique of Insitutions, in: October 55, 1990, S. 105-143; Gavin Butt (Hg.): After Criticism. New Responses to Art and Performance, Malden: Blackwell Publishing 2005.
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Die Tagung fand am Zentrum für Zeitgenössischen Tanz der Hochschule für Musik und Tanz Köln vom 7.-8. Mai 2010 statt.
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werden, welche Funktion dabei der Tanzwissenschaft zukommt bzw. wie sich Tanzwissenschaft wiederum in Bezug auf (ihre) Institutionalisierung reflektieren lässt. Der vorliegende Band öffnet mit diesen Fragen ein weites Feld, das mit der Auswahl der Beiträge zugleich eine Fokussierung auf den Zeitgenössischen Tanz vornimmt, dessen Verflechtung mit Institutionen auf den ersten Blick nicht so offensichtlich erscheint wie beispielsweise mit dem klassischen Ballett. In der Beantwortung dieser Fragen bewegen sich die Beiträge an der Schnittstelle von Theorie und Praxis: WissenschaftlerInnen, DramaturgInnen und KuratorInnen diskutieren u.a. das (Spannungs-)Verhältnis ihrer theoretischen Reflexion zu ihrer praktischen Tätigkeit. Denn: Die Auseinandersetzung mit Institutionen in den Bereichen von Tanz und Choreographie ist ein ideales Feld, um die Bedingtheit und das Wechselverhältnis von Theorie und Praxis zu diskutieren. Dabei ist diese Thematik vor allem auch für Fragen der Ausbildung von TänzerInnen im wachsenden Maße relevant: Konnten AbsolventInnen staatlicher Ausbildungseinrichtungen früher leichter damit rechnen, eine Karriere am Stadttheater zu machen, so ist nicht nur aufgrund der abnehmenden Zahl von Tanzstellen, sondern auch aufgrund veränderter Arbeitsund Produktionsformen sowie der steigenden Bedeutung der ‚freien Szene‘ eine neue Form der Tanzausbildung zu diskutieren.4 Während bereits zunehmend Selbstständigkeit und auch choreographische Fähigkeiten in der Ausbildung gefördert werden, so könnte die Vermittlung eines Wissens über die Vielfalt der Berufsfelder des Tanzes ebenso wie die Bedingungen und Voraussetzungen dafür, wie, von wem und wodurch Tanz produziert werden kann, noch mehr Beachtung in den deutschen Curricula finden. Damit rückt auch die Frage in den Fokus, wie die Vermittlung von weiteren institutionellen Kompetenzen in Ausbildungskontexten von TänzerInnen verankert werden kann. Wie sind in Institutionen wie der Hochschule Formate zu entwickeln, die offen für Veränderung bleiben, die zugleich Marktkompetenzen wie auch eine kritische, fragende Haltung gegenüber Institutionen befördern. Erschwert wird diese Vermittlung allerdings auch – so die eigene praktische Erfahrung – weil hierzu bislang keine einschlägigen Publikationen vorliegen: Fragen des Kulturmanagements, der Berufs-
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Vgl. Cornelia Albrecht/Franz Anton Cramer (Hg.): Tanz [Aus] Bildung. Reviewing Bodies of Knowledge, München: e-podium 2006.
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felder am Theater oder auch nach Festivalstrukturen lassen sich zwar für das Theater, aber nur randständig für den Tanz finden.5 Das Zusammenspiel von Choreographie und Institution soll in diesem Band allerdings nicht auf rein kunstaffine Institutionen beschränkt bleiben. Gerade die Bereiche, in denen Tanz in andere institutionelle Kontexte (Schule, Rehabilitation, Tourismus und Freizeitindustrie) integriert wird, werden von der Tanzwissenschaft bisher nur randständig beachtet: Über Thematisierungen einer im engeren Sinne tanzpädagogischen Umsetzung, sozialpädagogischer Zielsetzungen u.a. hinaus wäre es für eine Reflexion und das Verständnis des Zusammenspiels von Tanz und Institutionen ebenso bedeutsam, ästhetische und institutionskritische Diskurse in diesen Bereichen einzubeziehen, die in diesem Band beispielsweise an eine Diskussion zur ästhetischen Bildung gebunden werden. Diese Publikation verfolgt somit ein zweifaches Anliegen: Zum Einen soll hierüber eine theoretische Diskussion über die Dimensionen von Choreographie und Institution angeregt werden und damit zu einer tanzwissenschaftlichen Reflexion beigetragen werden, die dezidierter ökonomische, politische und soziale Rahmenbedingungen und Voraussetzung von Tanz und Choreographie analysiert. Und zum Anderen möchte sie einen Einblick für TänzerInnen, ChoreographInnen und andere KünstlerInnen in Bereiche, Arbeitsprozesse, Möglichkeiten und Anforderungen des Tanzfeldes geben, die über die Analyse körperlicher Bewegung und ästhetischer Gestaltungsprinzipien hinaus gehen. Diese in der Tanzausbildung und im Selbstverständnis von TänzerInnen und ChoreographInnen zentralen Aspekte tänzerischer Arbeit lassen sich nicht von den institutionalisierten Produktionsbedingungen trennen: Ein Grundwissen darum kann sowohl Spielräume eröffnen, Möglichkeiten aufzeigen, Ängste und Barrieren abbauen und ebenso kritische Positionen erschließen. Ziel ist es gerade nicht, in diesem wechselseitigen Verhältnis die Dominanz des einen zu postulieren und etwa den Akteuren des Tanzfeldes ihre Bedeutung abzusprechen. Vielmehr geht
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Vgl. Franziska Schlösser/Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld: transcript 2009; Jennifer Elfert: Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells, Bielefeld: transcript 2009; Fonds Darstellende Künste/Günter Jeschonnek (Hg.): Freies Theater in Deutschland. Förderstrukturen und Perspektiven, Essen: Klartext 2007.
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es darum zu zeigen, wie Institutionen und Prozesse der Institutionalisierung in einem dynamischen Wechselspiel zwischen bereits bestehenden Strukturen und den strukturierenden Einflüssen der Akteure des Feldes verstanden werden können (Bourdieu). Bereits die Biographien der Beitragenden verdeutlichen, dass eine institutionelle Zuordnung von Tanzpraxis und theoretischer Reflexion von/über Tanz nicht trennscharf erfolgen kann. Die unterschiedlichen Textformate dieses Bandes spiegeln ebenso diese Vielfältigkeit der Zugänge und reichen u.a. von theoretischen Positionierungen, historischen Mappings über informative Berichte hin zum Interview.
I NSTITUTIONEN ALS SOZIALE DYNAMISCHE P ROZESSE
G EFÜGE
UND
Institutionen werden hier – wie diese einführenden Worte und Fragen andeuten – nicht als statische Gebilde oder (allein) als ‚etablierte Orte‘ begriffen. Tanz wird in der vorliegenden Perspektivierung von Choreographie und Institution vielmehr als ein ‚multidimensionales Gebilde‘ verstanden, das sowohl eine Vielzahl an klassischen Institutionen umfasst (Schule, Universität, Theater etc.) als auch Momente von ‚Organisation‘ und ‚Assoziationen‘ einschließt, wie sie im vorliegenden Band u.a. mit der Tanzkritik, kulturellen Förderprogrammen und der freischaffenden Kunstszene in den Blick genommen werden. Der Begriff Institution soll hier in Bezug auf Choreographie und Tanz als ein Suchbegriff fungieren, um Strukturen und Regelsysteme, aber auch die Resistenz gegen diese, Rahmungsstrategien und Produktionsweisen von Kunst sowie deren Vermarktung in den Blickpunkt zu rücken. Während Tanz schon lange nicht mehr als ein autonomes Kunstwerk, das frei von Bezügen zur Umwelt ist, gesehen wird – wie es der Gründungsmythos der Moderne vertreten hat –, so konnte man bei KünstlerInnen aber auch bei WissenschaftlerInnen bis vor kurzem eher ein Desinteresse oder gar ein Unbehagen gegenüber Institutionen feststellen. Dieses Unbehagen gegenüber Institutionen ist auf ein spezifisches Verständnis zurückzuführen, das Institution als Hort von Stabilität, Regeln und Hierarchien begreift: Ursprünglich vom lateinischen instituere abstammend, das ‚einsetzen, einrichten‘ bzw. von institutio auch ‚Anleitung‘ bedeutet, verweist der Begriff auf die lokale Gebundenheit, die Einrichtung,
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die Ausstattung sowie regulative und repräsentative Funktionen, die Institutionen inne haben. Demnach stehen Institutionen für die Reproduktion und damit nicht zuletzt für Verlässlichkeit von Ordnung: Sie sind Instanzen der Versicherung, der Stabilität und der Tradierung von Wissen.6 Dies lässt sich auf den ersten Blick nur schwerlich mit einem Verständnis von Tanz verbinden, dass Tanz erstens als ephemere (körperliche) Praxis begreift, die sich einer Festlegung und Festschreibung gerade entzieht und zweitens Tanz als eine Kunst verstehen möchte, die sich gegenüber Regeln als widerständig zeigt, ja diese zum Gegenstand kritischer Reflexion erhebt. Zudem wurde Tanz in historischer Perspektive durch eine postulierte Verbindung mit ‚ursprünglichen‘ Trieben und der menschlichen Ausdruckskraft ein eher subversives Potential gegenüber Institutionen und Normen zugesprochen und mit Sanktionen oder gar Verboten belegt.7 Unterstützt wurde eine solche Sichtweise, die Tanz abseits von sozialen Institutionen begreift, auch durch eine zunehmende Trennung von Kunst und Arbeit seit dem 18. Jahrhundert, die zur Etablierung eines vordergründig autonomen Kunstfeldes geführt hat. Einer dichotomen Auffassung von Spiel und Arbeit oder Spiel und Ernst strukturell ähnlich, wird auch Tanz häufig (implizit) als ein eigenweltliches Handlungsfeld aufgefasst, dass von alltäglichen und somit grundlegend sozialen, kulturellen und nicht zuletzt institutionellen Notwendigkeiten und mithin Zwängen enthoben scheint.8 So wird auch heute noch Kunst häufig als Gegenmodell zu fremdbestimmter Arbeit aufgefasst, obwohl sich bereits seit einigen Jahren ein Trend erkennen lässt, der ein (idealisiertes) Modell künstlerischer Arbeit als exemp-
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Vgl. Klaus Eder: Institution, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie, Weinheim/Basel: Beltz 1997, S. 159-168.
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Vgl. zu einer kritischen Analyse dieser Diskurse Drid Williams: Ten Lectures on Theories of the Dance, London: The Scarecrow Press 1991.
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Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Eigenweltlichkeit von Spiel und Sport bzw. dem Verhältnis von Bewegung, Spiel und Sport zu gesellschaftlichen wie kulturellen Verhältnissen siehe Gunter Gebauer/Martin Stern: Spiel, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.): Enzyklopädie Philosohpie (3 Bände), Hamburg: Meiner Verlag 2010, S. 2546-2550; Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998.
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larisch für die flexible Arbeitsgestaltung im kapitalistischen Mark begreift und ein umfassendes wirtschaftliches Modell geworden ist.9 Damit ist allerdings nur eine Seite der Wahrnehmung von Tanz in Bezug auf Institutionen gefasst: Während die einen bei Tanz an körperliche und künstlerische Freiheit oder exzessive Unterhaltung denken mögen, steht dem ein Bild gegenüber, dass Tanz mit klaren Regelsystemen, Institutionen und Hierarchien, wie sie exemplarisch mit dem Ballett erscheinen, verbindet. Durch die Kodifizierung des Balletts und seine historische Entwicklung an den königlichen Höfen der Renaissance und des Barocks ist diese Tanzform politisch und institutionell von jeher verankert und begründet gewesen.10 Durch die kontinuierliche staatliche Förderung im Rahmen von Opern und Theatern ist es auch weiterhin offensichtlich mit Institutionen verbunden. Moderne Tanzformen, die sich in Ablehnung des Balletts entwickelt haben, sahen sich daher auch immer mit einer Abkehr oder gar einer Ablehnung von Institutionen konfrontiert bzw. strebten an, diese zu verändern. Dieses kritische Erbe gegenüber Konventionen und Institutionen spiegelt sich auch heute noch – wenn auch unter anderen Vorzeichen – in der zeitgenössischen Tanzszene wider.11 Die Komplexität dieses Gebildes Tanz verdeutlicht, dass Institutionen im engeren wie in einem weiteren Verständnis ‚überdeterminierte‘ gesellschaftliche Gebilde darstellen: Sie sind auf der einen Seite unspezifisch und für planende Zu- und Eingriffe nur schwer zugänglich. Zugleich aber zeigen sich Institutionen auf der anderen Seite in den Handlungs- und Beziehungsmustern keineswegs beliebig.12 Um dieses komplexe Handlungs- und Beziehungsnetz im Rahmen von Tanz näher zu thematisieren, soll hier einerseits mit einer thematischen Weite möglichst facettenreich gearbeitet werden und anderseits mit dem Begriff der Choreographie eine übergreifende Perspektivierung des Feldes erfolgen. Dabei wird deutlich, dass Choreographie und Institution bereits immer dynamische Gefüge sind.
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Vgl. Pierre-Michel Menger: Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers, Konstanz: UVK 2006.
10 Vgl. bspw. Dorion Weickmann: Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870), Frankfurt/M.: Campus 2002. 11 Vgl. Husemann: Choreographie als kritische Praxis. 12 Vgl. Walter L. Bühl: Institution, in: Fuchs-Heinritz, Werner/Klimke, Daniela u.a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie, VS Verlag 2011, S. 308.
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C HOREOGRAPHIE
IN
D YNAMISIERUNG
Der Begriff Choreographie versteht sich hier als ein je spezifischer Fokus, der quer zu den institutionellen Kontexten angelegt wird. Er erlaubt es – gewissermaßen auch aus dem Bedeutungsspektrum seiner historischen Entwicklung heraus –, die Dynamik von festschreibenden und traditionsgebundenen Momenten einerseits und performativen und ereignishaftsituativen anderseits, von strukturierten und strukturierenden, von geformten Vorgaben und formgebenden Momenten im Feld zu betrachten. In der sich wandelnden Konzeption von Choreographie lässt sich dieses Spannungsverhältnis nachvollziehen: Einerseits scheint Choreographie – anders als die tänzerische Bewegung – schon immer in Regelsysteme eingebettet. Choreographie als jener ursprüngliche Akt des ‚Notierens‘ von Tänzen überführt die flüchtige Kunst des Tanzes nicht nur in etwas ‚Bleibendes‘, sondern ist von Beginn an eng verbunden mit zentralistischen Bestrebungen des absolutistischen Herrschaftssystems Ludwig XIV. Seine Anweisung, eine Tanznotation zu entwickeln, führte nicht nur zur neuzeitlichen Verwendung des Begriffs in Raoul Auger Feuillets Choreographie ou l’Art de décrire la Danse par Caractères et Figures démonstratifs (1700), sondern war auch dezidiert mit dem Ziel der Normierung und Vereinheitlichung der Tanzkunst verbunden.13 Aber auch in seinem späteren und heute eher gebräuchlichen Verständnis als ‚Bewegungskomposition‘ kann Choreographie eine den Tanz bewahrende Funktion zugeschrieben werden.14 Sie erscheint demnach als die Grundlage für die Archivierung und Tradierung von Tanz und steht in enger Verbindung mit Institution auch und gerade im Sinne von Machtpositionen. Anderseits ist auch das Verständnis von Choreographie dynamisiert worden. In einer zeitgenössischen Tanzszene, die das Prozesshafte künstle-
13 Vgl. auch den Beitrag von Nicole Haitzinger in diesem Band. Für eine ausführliche Diskussion zu Tanznotationen im Wechselverhältnis zu ihren ästhetischen und sozialen Codes siehe Claudia Jeschke: Tanzschriften – ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte Darstellung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Reichenhall: Schubert 1983. 14 Vgl. Gabriele Brandstetter: Choreographie, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 52-55.
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rischen Schaffens, kollektive Arbeitsformen und Fragen nach der Autorschaft aufwirft wie auch Improvisation – das nicht genau Festgelegte – als Teil von Choreographien begreift, verweist der Begriff keinesfalls mehr auf ein künstlerisches Produkt oder eine festgelegte Bewegungskomposition.15 Möchte man angesichts des enorm weiten Bedeutungsspektrums eine Definition wagen, so ließe sich Choreographie als ein Regelsystem verstehen, nach dem sich Bewegungen strukturieren bzw. analysieren lassen. Dies muss keinesfalls im engeren Sinne an tänzerische Bewegungen gebunden sein, sondern kann alltägliche Bewegungen wie jene des Passanten in der Stadt ebenso wie Flugkombinationen von Vögeln beschreiben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich zudem, dass Choreographie immer schon ein Moment der Dynamik inhärent ist. So erlaubte Feuillets Tanznotation und deren baldige Übersetzung in zahlreiche europäische Sprachen eine hegemoniale Einflussnahme auf die europäischen Fürstenhöfe in Form der Verbreitung der französischen Tanzkunst und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Repräsentationscodes.16 Choreographie zeigt sich hier einerseits im Sinne einer Mobilität von Institutionen und anderseits in ihren Voraussetzungen als gebunden an unmittelbar körperlich-sinnliche Gebrauchspraktiken: Das spezifische Verfahren der Notation ist nicht losgelöst von expansiven Bewegungen zu verstehen. Wie Susan Foster aufgezeigt hat, ist Feuillets Notation nur vor dem Hintergrund einer Veränderung in der kartographischen Praxis zu verstehen, die sich Parallel zum Kolonialismus entwickelte. Dabei kommt es zu einer Verschiebung von einer relationalen Anordnung im Verhältnis zum Betrachter hin zu einer genordeten bzw. auf einen Punkt ausgerichteten Karte. Foster pointiert am Beispiel der physischen Praxis des Kartenlesens (die Feuillet detailliert beschreibt) diese neue Einübung kartographischer Weltaneignung und der damit verbundenen veränderten Wahrnehmungsstrukturen.17 Die Voraussetzungen des vor-
15 Vgl. Friederike Lampert (Hg.): Choreographieren reflektieren. ChoreographieTagung an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Münster: Lit 2010; Susan Leigh Foster: Choreographing Empathy: Kinesthesia in Performance, London/New York: Routledge 2011. 16 Vgl. u.a. Silke Leopold: Tanz und Macht im Ancien Régime, in: Gabriele Brandstetter/Christoph Wulf (Hg.): Tanz als Anthropologie, München: Fink 2007, S. 159-168, hier S. 166. 17 Foster: Choreographing Empathy, S. 25f.
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geblich starren Systems der Notation sind gerade nicht unabhängig von einer unmittelbar körperlich-sinnlichen Gebrauchspraxis zu denken: Vielmehr bildet eine Inkorporierung der systemischen Voraussetzungen (Nordung der Karte, Maßstabsrelationen) die Bedingung dafür, mit der „KarteTerritorium-Relation“ umgehen zu können18; ohne eine Verkörperung dieser Grundlagen kann das Feuilletsche Notationssystem weder geschrieben noch gelesen bzw. eigenständig angewandt werden. Die Modalitäten von Choreographie sind mit anderen Worten sozial-historisch hoch voraussetzungsvoll: Sie gründen in ihren jeweiligen institutionellen Ausprägungen immer auch auf systemimmanenten und habitualisierten, d.h. einer körperpraktisch zu verstehenden Matrix des Denkens, Handelns und Wahrnehmens.19 Die körperliche Fähigkeit, mit Notationen umgehen zu können, verweist auf die grundlegende Verbindung von Regelsystem und performativer Praxis und verortet diese hier am Beispiel der Notation historisch und sozial im Kontext hegemonialer Welteroberung. Folgt man dieser Perspektive, so lässt sich die Verschiebung der Bedeutung von Choreographie nicht zwangsläufig auf der Ebene der Mobilität (also hin zu einer Dynamisierung) verstehen, insofern eine Beweglichkeit bereits dem ursprünglichen Verfahren in seinen expansiven, nach außen gerichteten Institutionalisierungsbestrebungen inhärent ist.20 Choreographie wie Institution sind vor diesem Hintergrund bereits immer dynamische Gefüge.
18 Vgl. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 245f. 19 Zum Begriff der Modalitäten von Praxisfeldern: Pierre Bourdieu: Programm für eine Soziologie des Sports, in: ders. (Hg.): Rede und Antwort, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 193-207; zum Begriff der Matrix: Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 101. 20 Auch deutet die Verstrickung des Begriffs der Choreographie mit hegemonialen Bestrebungen auf eine Problematik hin, diesen als eine universelle Kategorie zu behandeln, wie sein omnipräsenter Gebrauch auch in anderen Kontexten (z.B. Film, Straßenverkehr) suggeriert. Vgl. hierzu auch die kritische Diskussion von Jens Giersdorf in diesem Band oder Marta E. Savigliano: Worlding Dance and Dancing Out There in the World, in: Susan L. Foster (Hg.): Worlding Dance, Hampshire: Palgrave Macmillan 2009, S. 163-190.
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I NSTITUTIONALISIERUNG Der Fokus, der hier auf die Dynamiken des Feldes und Prozesse der Institutionalisierung gelegt wird, kann mit einer soziologischen Perspektivierung weiter ausgeführt werden: Um die Entstehung oder Wandlungen bestehender Institutionen beschreiben zu können, lassen sich fruchtbare Anschlüsse in einem figurationssoziologischen Verständnis finden (Norbert Elias).21 Aus einer figurationssoziologischen Perspektive auf Choreographie und Institution treten Institutionen im Feld Tanz, wie sie beispielsweise im Kontext der Hochschulausbildung oder den Theaterhäusern gegeben sind, nicht allein als verdinglichte und beständige oder gar statische Formen und Ordnungen sozialer Beziehungen hervor. Vielmehr geraten so auch die performativen Anteile der (Re-)Produktion in den Blick und ermöglichen es so, die Wandlungsprozesse und „korrespondierenden Prozesse(n) der Internalisierung“ der an ihnen beteiligten Akteure zu thematisieren.22 Um die Komplexität des Feldes und seine vielfältigen Interdependenzen zu erfassen, bedarf es einer dynamischen Modellauffassung von Institution. So wirken tanzwissenschaftliche Analysen und Reflexionen ebenso auf künstlerische, tanzkritische und Praktiken der Ausbildung zurück, wie diese auf erstere Einfluss nehmen. Die Vielfalt dieser Einflussnahme und impliziten wie expliziten Interdependenzen zeigt sich im vorliegenden Band bereits in den „biographischen Reisewegen“ der Autoren.23 Wandlungsprozesse von Institutionen können gerade nicht hinreichend als geplante und der Totalität eines Entwurfs folgende und entsprechend vorab zielgerichtete
21 Norbert Elias: Was ist Soziologie?, Weinheim/München: Juventa 1986. 22 Bühl: Institution, S. 309. 23 Der Begriff der sozialräumlichen Reisewege (trajectoire) wird hier im Sinne der Sozialtheorie Pierre Bourdieus verwendet und beschreibt die (vielfältigen) sozialen Positionen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens einnimmt und die daraus resultierenden Wechselwirkungen von Habitus und Feld. Vgl. Beate Krais: Die moderne Gesellschaft und ihre Klassen – Bourdieus Konstrukt des sozialen Raums, in: Catherine Colliot-Thélène/Etienne Francois/Gunter Gebauer (Hg.): Pierre Bourdieu Deutsch-französische Perspektiven, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 79-105.; s.a. Gunter Gebauer/Thomas Alkemeyer u.a.: Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2004, S. 87-116.
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Veränderungen verstanden werden.24 Vielmehr zeigen Studien zu Spiel, Sport und Tanz eindrücklich, dass der Selbstzweckcharakter sowie die davon abgeleitete vermeintliche Autonomie dieser Felder25 nicht bedeuten, dass die spezifischen Modalitäten ihrer Ausübung losgelöst von gesellschaftlichen Standards (Normen, Konventionen, Idealen) verstanden werden können: Vielmehr können diese in Anlehnung an zahlreiche soziologische und anthropologische Arbeiten26 in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und sozialen Wertmaßstäben, ästhetischen Präferenzen und (massen-)medialen (Vor-)Bildern, Standards der Selbstkontrolle und Technisierung des Körpers, den Modi der Bewertung und Beglaubigung von Leistung und Einmaligkeit begriffen werden.27 Eng mit den sozialen Verweisungszusammenhängen ist auch das Verständnis verbunden, Kunst und Ernst nicht als Gegensätze zu verhandeln: Ähnlich dem Ernst eines Spielgeschehens, so resultiert auch ein Ernstcharakter in der künstlerischen Produktion und Rezeption aus einem „Glauben an das Spiel“, d.h. dem Glauben an spezifische Prinzipien oder Ideale und ihren unhinterfragten Wert, die Tanz- und Alltagswelt gemeinsam sind.28 In diesem Sinne unterliegt auch die Präferenz für eine bestimmte (ästhetische) Ausrichtung im Tanz nicht einer rein individuellen, subjektiven Wahl. Sie
24 Vgl. hierzu den Begriff der „totalen Institution“ bei Ervin Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 15ff. 25 Bezogen auf Spiel und Sport siehe hierzu Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Stuttgart 1960, S. 16; Pierre Bourdieu: Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, in: Gunter Gebauer/Gert Hortleder (Hg.): Sport-Eros-Tod, Frankfurt/M. 1986, S. 91-112, hier S. 95. 26 Vgl. Norbert Elias/Erik Dunning: Sport und Freizeit, in: Wilhelm Hopf (Hg.): Sport im Zivilisationsprozeß. Studien zur Figurationssoziologie, Münster: Lit 1982, S. 133-144; Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983; Bourdieu: Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports. 27 Vgl. Gunter Gebauer: Sport – die dargestellte Gesellschaft, in: Erika FischerLichte/Doris Kolesch (Hg.): Kulturen des Performativen, Berlin: Akademia Verlag 1998, S. 223-240; Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. 28 Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, S. 122ff.
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ist zugleich grundlegend bestimmt durch ein Passungsverhältnis: einem dynamischen Wechselspiel zwischen den kulturell, sozial und geschlechtsspezifisch geprägten Dispositionen der Akteure einerseits und den spezifischen Angeboten und Anforderungen des Feldes Tanz anderseits.29 Treten die je spezifischen Spielräume des Feldes und seiner Angebote sowie die sozial prädisponierten Möglichkeiten einer Person in Resonanz, so werden bestimmte Tanzpraktiken als reizvoll wahrgenommen bzw. mit Vorliebe ‚gewählt‘, ebenso wie andere abgelehnt werden können. Vor diesem Hintergrund den Konstellationen von Choreographie und Institution in sich dynamisch wandelnden Tanzpraktiken nachzuspüren bedeutet immer auch, Momente einer gesellschaftlichen Dynamik, ihrer (institutionalisierten) Erprobung und tanzkritischen Reflexion in den Blick zu nehmen. So deutet auch vieles darauf hin, dass die ehemals der Avantgarde vorbehaltene Kritik an den Institutionen der Kunst respektive des Tanzes zu einer ‚Modalität‘ der Kunstpraxis geworden ist, die zunehmend institutionell gefordert wird: Von den Theater- und Aufführungshäusern über die Tanzkritik bis hin zur Tanzausbildung wird eine Kritik an den Produktionsbedingungen von Tanzkunst zunehmend zum Bestandteil eines ästhetischen Ideals.
I NSTITUTION UND I NDIVIDUALITÄT Institution und Individuum oder gar Individualität, wie sie für die Kunst gefordert wird, stehen sich keinesfalls als prinzipiell gegensätzlich gegenüber. Damit soll nicht geleugnet werden, dass Produktionsbedingungen am Theater den Spielraum von Künstlern einengen können, dass Förderanträge ganz bestimmte formale Kriterien verlangen und dass in Evaluationsverfahren schematisch vereinheitlicht wird. Dennoch lässt sich erkennen, dass Individualität, insbesondere das Herausstellen von künstlerischer Individualität, einem ausgeprägten Regelsystem der Kunst unterworfen ist: Die Produktion von Individualität ist eines der zentralen Produkte und Notwendigkeit, um die künstlerische Identität im Rahmen von zeitgenössischen künstlerischen Institutionen zu entwerfen.
29 Zur Homologie von Habitus und Feld siehe Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, S.188ff.
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Der Modus der Vergemeinschaftung, der in der künstlerischen Szene anzufinden ist und der mitbestimmt, wer als legitimer Künstler oder Künstlerin anerkannt wird, setzt gerade die Profilierung und Aufführung von Individualität voraus. Mitglied einer modernen Institution zu sein schließt somit keinesfalls Prozesse der Individualisierung aus, sondern die ostentative Zurschaustellung „solistische(r) Dominanz“ kann zentral für die Herstellung von Zugehörigkeit und Anerkennung innerhalb von StilGemeinschaften sein.30 Die Ausbildung einer künstlerischen Individualität funktioniert somit nach spezifischen Regeln, Strategien und (ästhetischen) Prinzipien, die ein komplexes Merkmalsbündel u.a. persönlicher, ästhetischer, produktionsbedingter, ökonomischer sowie historischer Dimensionen bildet.
I NSTITUTIONSKRITIK
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T ANZ ?
Wie lässt sich vor solch einem Hintergrund – der die Interdependance von Tanz und künstlerischer Identität mit Regelsystemen herausstellt – ästhetische Invention und künstlerische Kritik verstehen: Ist das künstlerischkritische Individuum im ‚System‘ der Kunst noch von Bedeutung? Künstlerische Individualität ist insofern von Bedeutung, als dass mit dem dynamischen Institutionsverständnis gerade das Handeln (mehr als das ästhetische Produkt) in den Mittelpunkt rückt. Zudem lässt sich auch im Feld des Tanzes eine Verschiebung von einer Ablehnung, Irritation oder Kritik an künstlerischen Konventionen hin zu einer an den Apparaten, Organisationsformen und Produktionsbedingungen erkennen: Eine Verschiebung also von einer kunstimmanenten Kritik zu einer reflexiven Kritik an den Institutionen der Kunst, wie es Hal Foster für die Kunst im Übung von Avantgarde zu Neo-Avantgarde konstatiert hat.31 Pirkko Husemann hat die-
30 Vgl. Martin Stern: Stil-Kulturen. Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken, Bielefeld: tanscript 2010; zum Begriff der „solistischen Dominanz“ im Tanz siehe Sabine Huschka: Moderner Tanz. Konzepte Stile Utopien, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 348. 31 Vgl. Hal Foster: Who is Afraid of the Neo-Avant-Garde?, in: ders.: The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Massachusetts: The MIT Press 1999, S. 1-34.
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se Verschiebung und die Bedeutung von Institutionskritik im Tanz eindrucksvoll in ihrer Studie Choreographie als kritische Praxis anhand der Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes und seines Marktes und bezogen auf Arbeiten von Xavier le Roy und Thomas Lehmen analysiert: „In Zeiten der Globalisierung und Medialisierung, die durch zunehmende Ökonomisierung, Beschleunigung und vermittelte Kommunikation gekennzeichnet sind, werden Körper, Bewegungen und deren Bedeutung als durch die Prozesse der Produktion und Rezeption konstruierte vorgeführt.“32
Dabei geht es keinesfalls lediglich um die Ablehnung von Produktionsapparaten des zeitgenössischen Tanzes, sondern gerade auch um das Abarbeiten an den Grenzen und Konventionen dieser Institutionen.33 Zeitgenössische Projekte stellen somit keine Negation vorangegangener Tanztechniken und -traditionen mehr dar, wie es noch für moderne und postmoderne charakteristisch ist, sondern das zeitgenössische Projekt der so genannten Kontext-Players „findet vielmehr in Auseinandersetzung mit den in Gesellschaft und Kunst dominanten ästhetischen und institutionellen, aber auch diskursiven Normen statt.“34 Husemann hat vier Charakteristika herausgearbeitet, mit denen sowohl le Roy als auch Lehmen die Befragung institutioneller ästhetischer Produktionsbedingungen vornehmen: 1. Verzeitlichung des Werkes, 2. Vervielfältigung der Autorschaft, 3. improvisierte Choreographie und 4. Integration von Akteuren der Tanzszene.35 Es wird also keine Kritik am System, sondern mit dem System und durch das System geübt. Dem liegt ein Verständnis von Kritik zugrunde, dass sich nicht mehr von seinem Objekt distanziert, sondern – so der Gedanke von Irit Rogoff – sich aus der Praxis heraus und im Vollzug der Praxis erst konstituiert.36
32 Vgl. Husemann: Choreographie als kritische Praxis, S. 65. 33 Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Theater außer sich, in Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg): TheorieTheaterPraxis, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 342-352, hier S. 344. 34 Husemann: Choreographie als kritische Praxis, S. 67. 35 Vgl. ebd. S. 72. 36 Zum Begriff der Criticality und praxisimmanenter Vorgehensweisen vgl. Husemann: Choreographie als kritische Praxis, S. 54; 67; Ingrid Rogoff: Looking
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Diese dynamischen Veränderungen des Feldes zeigen damit deutliche Züge institutioneller Wandlungen, die keineswegs unidirektional oder als Produkt eines vorab gefassten Plans verstanden werden können. Vielmehr verdeutlichen sie einen hoch interdependenten und wechselseitig wirkenden Mechanismus der Institutionalisierung, der die Grenzen zwischen künstlerischem Schaffen, Produktion und Reflexion aufhebt. Die praxisimmanente Vorgehensweise ergibt sich auch aus den Veränderungen der (Infra-)Struktur des Tanzfeldes.
P RODUKTION
UND O RGANISATION : T ANZHÄUSER , KURATORISCHE UND DRAMATURGISCHE P RAKTIKEN Die Tanzhäuser – wie sie in Düsseldorf (Tanzhaus nrw), Wien (Tanzquatier Wien), Hamburg (Kampnagel) oder Essen (Pact Zollverein) in Anlehnung an die französischen Vorreiter in den 1990er Jahren etabliert wurden – spielen eine zentrale Rolle für die Veränderung von Produktionsprozessen und die Institutionalisierung der zeitgenössischen Tanzszene.37 Die Tanzhäuser bedienen ein Bedürfnis der ‚freien‘ Tanzszene nach einem anderen Produktions- und Präsentationsumfeld mehr als es die etablierten Tanzkompanien Staats- und Stadttheater bieten können. Zahlreiche kleinere Aufführungsorte für die Tanzszene sind zudem bundesweit entstanden und bleiben für die Außenwirkung dieser Szene(n) und ihre voranschreitende Etablierung nicht folgenlos: Die Vernetzung der ‚neuen‘ Tanzhäuser und Veranstaltungsorte untereinander schuf ein System der Co-Produktionspraxis, das nicht nur eine alternative, sondern mittlerweile dominante Position im Feld einnimmt. Diese Position durchaus selbstkritisch reflektierend, kommt es innerhalb der zeitgenössischen Tanzszene zu einer Thematisierung dieser oft versteckt gehaltenen Strukturen und Fragen nach möglichen Alternativen. Ein Merkmal dieser veränderten Produktionsbedingungen besteht darin, dass Prozesse künstlerischen Schaffens stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. So diskutiert Petra Sabisch in ihrem Beitrag in
away, in: Gavin Butt: After Criticism. New Responses to Art and Performance, Malden: Blackwell Publishing 2005, S. 117-134. 37 Vgl. Husemann: Choreographie als kritische Praxis.
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diesem Band die politische und kritische Dimension von Organisationsformen innerhalb des Tanzfeldes. Dabei versteht sie Institutionen zunächst als einer „Wunschökonomie“ entspringend und wendet sich in Anlehnung an Deleuze und Guattari gegen die gängige Trennung von Institution und Organisation, indem sie auf die politische Bedeutsamkeit der Organisationsformen hinweist. Vor diesem Hintergrund fragt sie, wie im Zuge neuer Kommunikationsformen andere künstlerische Modelle der Kooperation und Produktion am Beispiel des Performing Arts Forum aussehen können. In diesen neuen Kooperations- und Produktionsformen wird die Integration von diversen Akteuren der Tanzszene in die Arbeitsprozesse der TänzerInnen und ChoreographInnen im wachsenden Maße konstitutiv für die choreographische Produktion.38 Hiermit werden nicht nur TänzerInnen und ChoreographInnen als Co-AutorInnen begriffen, sondern darüber hinaus auch jene, die häufig als von außen betrachtend oder produzierend gelten, wie DramaturgInnen, TanzkritikerInnen, ProduzentInnen etc. In diesem Zusammenhang werden Praktiken des Kuratierens und der Dramaturgie zentrale Themen künstlerischer und wissenschaftlicher Reflexion. Symposien, Workshops im Rahmen von Festivals und Publikationen versuchen mittlerweile, diese unscharfen, intermediären Felder zu definieren.39 Und zugleich werden diese Bereiche durch ihre Thematisierung erst verstärkt als zentrale Praktiken des Feldes etabliert. Dieses Aufheben von Grenzen zwischen künstlerischem Schaffen, Produktion und Reflexion ist sowohl produktiv als auch konfliktreich wie Pirkko Husemann und Sandra Noeth in ihren Beiträgen verdeutlichen. Beide haben mittlerweile von der wissenschaftlichen und an Projekten partizipierenden Seite auf jene der Produzenten – als Kuratorin bzw. Dramaturgin an Tanzhäusern – gewechselt und stehen damit auch vor der Aufgabe, ihre theoretischen und institutionskritischen Positionen mit den neuen Rahmenbedingungen und Strukturen in Einklang zu bringen. Mit ihren Bei-
38 Vgl. ebd. 39 Vgl. Florian Malzacher/Tea Tupajic/Petra Zanki (Hg.): Curating Performing Arts, in: Frakcija Performing Arts Journal 55, summer 2010; Sigrid Gareis: ‚New Institutionalism‘ und Kritik. Zum Transfer des Begriffs ‚Kurators‘ in das Feld der darstellenden Kunst, unter: http://www.corpusweb.net/newinstitutionalism-und-kritik.html; Judith Rugg/Michèle Sedgwick (Hg.): Issues in Curating Contemporary Art and Performance, Bristol: Intellect Books 2007.
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trägen werden Fragen danach provoziert, nach welchen Regelsystemen die kuratorische und dramaturgische Praxis funktioniert, und wie sich diese Praktiken selbst immer wieder befragen lassen. Eine wichtige Rolle in diesen neuen Produktionsnetzen kommt den Festivals zu. Wie Jennifer Elfert aufzeigt, haben Festivals eine höchst produktive Eigendynamik: Neben der Generierung öffentlicher Aufmerksamkeit, tragen Festivals auch zur Förderung und Ausbildung junger Künstler bei. Das ursprünglich als einmalig und die Regeln des Betriebs aushebelnd geltende Festival ist somit längst zu einer ‚festen‘ Institution der Tanzszene geworden. Dabei haben diese neuen Produktionsformen auch Rückwirkungen auf die staatlichen Theater, die vereinzelt dem zeitgenössischen Tanz eine feste Anbindung bieten und darüber auch versuchen, ihre Arbeitsweisen zu befragen. Diese Integration pointiert in besonderer Weise die Bedeutung, Herausforderung und Veränderung von Arbeitsprozessen, wie Thorsten Teubl als Tanztheaterdramaturg am Staatstheater Kassel im Interview verdeutlicht. Fragen nach der Nomenklatur, der Zeitlichkeit von Prozessen und den unterschiedlichen Entscheidungshierarchien provozieren Reibungsflächen mit den gängigen Theaterstrukturen. Somit ergibt sich für sein Arbeitsfeld als Tanzdramaturg eine besondere Funktion der Vermittlertätigkeit – und dies nicht nur innerhalb von künstlerischen Prozessen, sondern auch in Bezug auf die Institution Staatstheater und die Öffentlichkeit. Mit diesen neuen Kooperations- und Produktionspraktiken rückt auch die Praxis des Schreibens und Beschreibens weiter in das Feld der Tanzkunst hinein, ein Aspekt, der – wie am Beispiel der Notation skizziert – bereits immer zentral für die Institutionalisierung von Tanz war, aber oftmals auch in einem dichotomen Verhältnis zu Tanz bzw. als das andere körperlicher Praxis betrachtet wurde.
Z UR TEXTLICHEN V ERFASSTHEIT VON T ANZ : KONZEPTE , K RITIK UND W ISSENSCHAFT Die Textproduktion zum Tanz ist keinesfalls ein neues Unterfangen und hat immer wieder Hochphasen erlebt, vor allem auch dann, wenn TänzerInnen und KritikerInnen gemeinsam gegen als ‚veraltet‘ gedachte Strömungen vorgehen. Nicole Haitzinger gibt hierfür zahlreiche Beispiele in einer
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historisch vergleichenden Perspektive und damit einen eindrucksvollen Einblick, wie Tanzkünstler immer schon einen zentralen Beitrag zur Textproduktion zum und über Tanz geleistet haben. Sie geht dabei der Frage nach, wie Tanz durch Schrift im Austausch mit sich wandelnden Regelsystemen institutionalisiert wird. Anhand der Analyse von Programmen und Manifesten aus unterschiedlichsten Kontexten kann sie aufzeigen, dass trotz einer inhaltlichen Verschiebung bleibende Regeln und Strukturen dieser Textformen und Institutionalisierung von Tanz erkennbar sind. Eine weitere zentrale Position in diesem Verhältnis von Verschriftlichung und Institutionalisierung nimmt die Tanzkritik ein. TanzkritikerInnen dokumentieren eine Tanzszene und ihre Vorlieben, sie können KünstlerInnen und Projekte fördern und dem Tanz Sichtbarkeit verleihen: Wer kommt zu welcher Veranstaltung? Ist man als TanzkünstlerIn nur noch sichtbar, wenn man möglichst viele Rezensionen erhält? Solche Fragen sprechen auch von der Macht der Kritik: Tanzkritik als Bestandteil des komplexen Gewebes Tanz und zugleich eines übergreifenden (ökonomischen) Marktes zeigt sich als verflochten in einem Netz interdependenter Interessenlagen: Wie soll Tanzkritik verfasst werden, damit sie sowohl dem/der KünstlerIn als auch dem Publikum gerecht wird? Christina Thurner geht diesen Fragen nach, indem sie zunächst einen historischen Überblick über die Entwicklung der Tanzkritik gibt und aufzeigt, wie das Geschriebene nachhaltig Ideale tänzerischer Praxis mit prägen kann. Vor dem Hintergrund historischer Modelle fragt sie, wie eine ‚objektive‘ Form der Tanzkritik aussehen könnte. Eine heutzutage immer zentraler werdende Textform ist das Konzept, das im Rahmen von Projektförderanträgen geschrieben werden muss. Nach welchen Regeln sie geschrieben werden, darauf geht konkret Johanna Kasperowitsch in ihrem informativen Bericht über einen Workshop zum Projektmanagement mit zwei zentralen Figuren der deutschen Tanzproduktionsszene – Madeline Ritter und Heike Lehmke – ein. Die Frage nach der Beschreibbarkeit von Tanz ist auch eines der zentralen Themen der Tanzwissenschaft. Dabei bietet die Tanzwissenschaft der tänzerischen Praxis durch ihre theoretische Fundierung eine Aufwertung und Etablierung, die wiederum selbst – konsequent interdependent gedacht – auch ihrerseits auf die interne und wissenschaftliche Etablierung in Bezug auf Institutionalisierung zu reflektieren ist. Tanzwissenschaft ist im deutschsprachigen Raum eine junge Disziplin und ihre Etablierung geht
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zugleich auch in Form von Curricula und Forschungsschwerpunkten mit einer Kanonisierung und Schaffung von Wissen über Tanz einher. Zudem findet die Etablierung der Tanzwissenschaft als eigene Disziplin in den jeweiligen nationalen Kontexten durchaus anders statt. Jens Richard Giersdorf verdeutlicht in seinem Beitrag, wie Fragen eines nationalen Curriculums und hochschulpolitische Entwicklungen von den Studiengängen in Leipzig (ehemalige DDR), Surrey (Großbritannien) und Riverside (USA) jeweils spezifische Entwürfe und methodische Zugänge von Tanzwissenschaft hervorbrachten, die er exemplarisch mit den Begriffen Archivierung, Analyse und Choreographie fasst. In diesen wissenschaftlichen Kontexten wird implizit mitbestimmt, was als betrachtenswert für die Reflexion gilt. Dies geschieht nicht losgelöst von ästhetischen Diskursen oder Bestrebungen der Tanzkunst, sich in einem ‚autonomen‘ Feld zu etablieren: WissenschaftlerInnen wie KünstlerInnen haben immer wieder zur Stabilisierung des Feldes – etwa im Kampf um die Anerkennung als Kunst oder ihres eigenen Faches – bestimmte Praktiken als Nicht-Tanz oder als Nicht-Kunst versucht auszuschließen. In einer globaleren Perspektive wäre u.a. nach Formen des Einschlusses und Ausschlusses zu fragen und damit implizite Strategien des Feldes zu reflektieren. So sind beispielsweise Formen von Volkstänzen, populärem Tanz oder jene Tänze aus anderen Kulturen, die als traditionell und damit als weniger innovativ gelten, von der Tanzwissenschaft häufig nur als Randphänomene wahrgenommen bzw. eher von EthnologInnen oder SoziologInnen beachtet worden.40 Dies ist verständlich, insofern Tanz lange Zeit abseits intellektu-
40 Ausnahmen in der deutschen Tanzwissenschaft, die z.B. eine Auseinandersetzung mit Volkstanz oder Gesellschaftstänzen bieten oder Fragen kultureller Verortung und Identität stellen, sind: Hanna Walsdorf: Bewegte Propaganda. Politische Instrumentalisierung von Volkstanz in den deutschen Diktaturen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010; Gabriele Klein/Malte Friedrich: Is this real? Die Kultur des HipHop, Franfurt/M.: Suhrkamp 2003; Yvonne Hardt: Staging the Ethnographic of Dance History: Contemporary Dance and its Play with Tradition, in: Dance Research Journal, 43/1, 2011, S. 27-42; für überblicksartige Darstellungen in der anglo-amerikanischen Forschung siehe Theresa Jill Buckland (Hg.): Dancing from Past to Present. Nation, Culture, Identities, Madison: University of Wisconsin Press 2006; Julie Malnig (Hg.): Ballroom,
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eller Reflexion verstanden wurde und es somit naheliegend war, im Kontext seiner wissenschaftlichen Etablierung vor allem die Innovativität, Kritikfähigkeit und das theoretische Potential des Tanzes zu pointieren: Beispielsweise wurde die Verbindung zu theoretischen/schriftlichen Praktiken (Notationen, Analyse analog zur Literaturtheorie) hervorgehoben bzw. sich auf beiden Seiten des Atlantiks insbesondere mit der jeweiligen tänzerischen Avantgarde auseinander gesetzt.41
Boogie, Shimmy Sham, Shake. A Social and Popular Dance Reader: Chicago: University of Illinois Press 2009. 41 Vgl. Jeschke: Tanzschriften – ihre Geschichte und Methode; Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/M.: Fischer 1995; Susan Foster: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkley: University of California Press 1988. So ist die Auseinandersetzung mit dem so genannten Postmodern Dance als eine sich selbst reflektierende Praxis grundlegend im Rahmen der Etablierung der Tanzwissenschaft als kritische Disziplin in den USA. Vgl. Foster: ebd.; Sally Banes: Democracy’s Body. Judson Dance Theater, 1962-1964, Durham/London: Duke University Press 1995; dies.: Terpischore in Sneakers: Postmodern Dance, Middletown: Wesleyan University Press 1987; Mark Franko: Dancing Modernism. Performing Politics, Bloomington: Indiana University Press 1995. Ein ähnlicher Boom tanzwissenschaftlicher Entwicklung als eine eigenständige Disziplin (vor allem von WissenschaftlerInnen, die sich dezidiert als TanzwissenschaftlerInnen von Beginn an verstehen) lässt sich in Deutschland strukturell ähnlich durch die Auseinandersetzung mit einer spezifischen Ausprägung des zeitgenössischen Tanzes, zu deren Vertretern u.a. Xavier le Roy, Jerome Bel, Meg Stuart, Willam Forsythe u.a. gehören, beobachten. Vgl. Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006; Husemann: Choregoraphie als kritische Praxis; Susanne Foellmer: Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript 2009; Christiane Berger: Denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld: transcript 2006.
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G LOBALISIERUNG UND
TÄNZERISCHES
E RBE
Die Auseinandersetzung mit ‚informelleren‘ tänzerischen Praktiken erlaubt es, dynamische Modelle von Institution zu reflektieren und dabei auf performative, d.h. hier weitgehend an die körperlich-sinnlichen Aufführungen gebundene Anteile der Institutionalisierung und Stabilisierung aufmerksam zu werden. In diesem Sinne betrachtet Michael Rappe in seinem Beitrag die Geschichte und Entwicklung des HipHop und B-Boying als eine Überführung einer Protestbewegung in eine symbolische Form, die zugleich neue körperliche Emanzipationsräume für marginalisierte Afro-Amerikaner in der Bronx bot und zeigt auf, dass diese Etablierung neuer körperlicher Stilformen mit der Überformung traditioneller afro- und afro-amerikanischer Musik- und Tanzformen einherging. Innovation und Tradition sind hier eng miteinander verbunden. HipHop als Bereich der populären Kultur hat zudem in den letzten Jahren bereits vermehrt wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren: Zum Einen weil B-Boying und Clowning mittlerweile auch auf den etablierten Bühnen – also im Feld der ‚hohen‘ Kunst – angekommen sind. Und zum Anderen, weil sie nicht nur Fragen nach der Hybridität von Kunst in einer globalisierten Welt aufwerfen, sondern auch nach der weltweiten Migration von Bewegungs- und Musikformen, die in unterschiedlichen, oft kulturell marginalen sozialen Räumen und als Protesthaltung entwickelt wurden.42 Wie die Inszenierung einer spezifischen Lokalität und eines kulturellen Erbes sowie Vermarktung und Vermittlung in einer globalisierten Welt vor dem Hintergrund der Schaffung neuer institutioneller Strukturen geschieht, beleuchtet Janet O’Shea in ihrem Betrag zur Vermarktung des Lokalen. Sie analysiert die nationalen und ökonomischen Interessen, die zur Gründung des Festival of India als internationaler Showcase für indische Kunst in London führten und zeigt, wie darüber Ästhetiken und spezifisch indisch gedachte Traditionen konstruiert wurden, die systematisch die kulturelle Praxis indischer Immigranten in England ausschloss. Zudem vergleicht sie das Festival mit Dance Umbrella, einem zeitgenössischen Tanzfestival, das sich in ähnlicher Weise als von einer national bestimmen Inszenierung begreifen lässt und zeigt strukturelle Zusammenhänge und Parallelen zum Tourismus auf. Darüber rücken Fragen nach der Funktion und Konstruktion
42 Vgl. Klein/Friedrich: Is this real?
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von Geschichte und Tradition als Teil institutionalisierender Praktiken in den Blickpunkt. Die Auseinandersetzung mit dem tänzerischen Erbe hat mittlerweile auch die zeitgenössische Tanzszene erfasst und provoziert vielfältige Fragen: Wie werden im Tanz, vor allem im Modernen und Zeitgenössischen Tanz, Wissen und Choreographien tradiert? Welche Rolle und Funktion spielen dabei Rekonstruktionen sowohl als affirmative wie auch kritische Praktiken? Und wie kann dies gelingen, wenn das Ziel der Performance die Erforschung ästhetischer Codes und Konventionen war, der Versuch in neuen Improvisationsformen und Organisationsformen lag, beispielsweise in Yvonne Rainers Continous Project-Altered Daily (1969/1970) – einem der Klassiker einer kritischen und selbstreflexiven Tanzkunst der Zeit. Wie reproduziert man Gruppenprozesse und eine Tanzkunst, die sich an den ästhetischen Kontexten der Zeit abgearbeitet hat, untersucht Yvonne Hardt in der Reflexion des Re-Enactments dieses Stückes mit Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Damit rückt auch das Thema der Vermittlung und Ausbildung als zentraler Aspekt in der Institutionalisierung von Tanz in den Blickpunkt.
V ERMITTLUNG VON T ANZ IN BILDUNGS INSTITUTIONELLEN
K ONTEXTEN
Vom Wandeln eines gesellschaftlichen Status von Tanz spricht auch die Entwicklung von Tanz in Schulen und die Vermittlung von Tanz in nicht künstlerischen Kontexten – auch ein Feld, das bis vor kurzem wenig Einfluss auf Ausbildungsgänge hatte oder innerhalb einer eher ästhetisch orientierten Tanzwissenschaft Interesse geweckt hätte. Was ein nicht-kunstinteressiertes Publikum vom Tanz dachte, schien wenig interessant für die Experten. Das hat sich weltweit verändert: Nicht nur Tanz in Schulen wird gehypt und beispielsweise als integrativer Heilsbringer stilisiert – wie es Filme wie Rhytm is it (2004) fördern –, sondern mittlerweile etablieren sich Studiengänge und Landesbüros für Tanz in Schulen, die eine reflektierte Perspektive auf das Phänomen erlauben, TänzerInnen und PädagogInnen schulen, um den institutionellen Kontakt mit Tanz gestalten zu helfen. Welche Strategien werden hier verfolgt und wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen den Feldern Schule und Kunst? Welches (ästhetische) Bildungs-
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potential liegt beispielsweise im Zeitgenössischen Tanz? Diesen Fragen gehen die Beiträge von Nana Eger und Martin Stern mit einem Fokus auf Tanz in Bildungsinstitution nach. Mit diesem Überblick sind sicherlich nicht alle relevanten Bereich von Institution und Choreographie erfasst, sondern lediglich das Spektrum dieses Buches, das über diese Fokussierungen hinaus gerne zu einer weiterführenden Diskussion anregen möchte.
D ANKSAGUNG Dieses Buch wäre nicht ohne die Mithilfe vieler Beteiligter entstanden. Wir möchten Friederike Lampert herzlich danken, die die Reihe der Choreographietagungen an der Hoschule für Musik und Tanz Köln (HfMT) initiierte, organisierte und die Förderung durch den Tanzplan Deutschland erreichte und uns die thematische Gestaltung 2010 überlassen hat. Zudem geht unser Dank an Vera Sander für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation aus den Mitteln des Zentrums für Zeitgenössischen Tanz der HfMT Köln und an Susanne Grau für ihre unermüdliche Unterstützung im Lektorat und Layout. Pirkko Husemann, Maren Witte und Kirsten Maar möchten wir für ihre detaillierten und hilfreichen Anmerkungen zu unseren Textentwürfen danken. Und nicht zuletzt geht unser herzlicher Dank an die AutorInnen, die diesen Band möglich gemacht haben.
L ITERATUR Adshead, Janet: Dance Analysis, Theory and Practice, Hampshire: Dance Books 1994. Albrecht, Cornelia/Cramer, Franz Anton (Hg.): Tanz [Aus] Bildung. Reviewing Bodies of Knowledge, München: e-podium 2006. Banes, Sally: Democracy’s Body. Judson Dance Theater, 1962-1964, Durham/London: Duke University Press 1995. Dies.: Terpischore in Sneakers: Postmodern Dance, Middletown: Wesleyan University Press 1987.
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Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. Berger, Christiane: Denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Bielefeld: transcript 2006. Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. Ders.: Historische und soziale Voraussetzungen modernen Sports, in: Gebauer, Gunter/Hortleder, Gert (Hg.): Sport-Eros-Tod, Frankfurt/M. 1986, S. 91-112. Ders.: Programm für eine Soziologie des Sports, in: ders. (Hg.): Rede und Antwort, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 193-207. Ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993. Brandstetter, Gabriele: Tanz als Wissenskultur. Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung, in: Gehm, Sabine/Husemann, Pirkko/von Wilcke, Katharina (Hg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung im Tanz, Bielefeld: transcript 2007, S. 37-48. Dies.: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/M.: Fischer 1995. Dies.: Choreographie, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar 2005, S. 52-55. Buchloh, Benjamin: Conceptual Art 1962-1969: From the Aesthetics of Adminstration to the Critique of Insitutions, in: October 55, 1990, S. 105-143. Buckland, Theresa Jill (Hg.): Dancing form Past to Present. Nation, Culture, Identities, Madison: University of Wisconsin Press 2006. Bühl, Walter L.: Institution, in: Fuchs-Heinritz, Werner/Klimke, Daniela u.a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie, VS Verlag 2011, S. 308-309. Butt, Gavin (Hg.): After Criticism. New Responses to Art and Performance, Malden: Blackwell Publishing 2005. Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Stuttgart 1960.
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Ders./Stern, Martin: Spiel, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Enzyklopädie Philosohpie (3 Bände), Hamburg: Meiner Verlag 2010, S. 2546-2550. Goffman, Ervin: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973. Hardt, Yvonne: Staging the Ethnographic of Dance History: Contemporary Dance and its Play with Tradition, in: Dance Research Journal, 43/1, 2011, S. 27-42. Huschka, Sabine: Moderner Tanz. Konzepte Stile Utopien, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002. Husemann, Pirkko: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009. Jeschke, Claudia: Tanzschriften – ihre Geschichte und Methode. Die illustrierte Darstellung eines Phänomens von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bad Reichenhall: Schubert 1983. Klein, Gabriele/Friedrich, Malte: Is this real? Die Kultur des HipHop, Franfurt/M.: Suhrkamp 2003. Klein, Gabriele (Hg.): Tango in Translation. Tanz zwischen Medien, Kulturen, Kunst und Politik, Bielefeld: transcript 2009. Dies.: Tanz in der Wissensgesellschaft, in: Gehm, Sabine/Husemann, Pirkko/von Wilcke, Katharina (Hg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld: transcript 2007, S. 25-36. Krais, Beate: Die moderne Gesellschaft und ihre Klassen – Bourdieus Konstrukt des sozialen Raums, in: Colliot-Thélène, Catherine/Francois, Etienne/Gebauer, Gunter: (Hg.): Pierre Bourdieu Deutsch-französische Perspektiven, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 79-105. Lampert, Friederike (Hg.): Choreographieren reflektieren. ChoreographieTagung an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Münster: Lit 2010. Leopold, Silke: Tanz und Macht im Ancien Régime, in: Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.): Tanz als Anthropologie, München: Fink 2007, S. 159-168. Malnig, Julie (Hg.): Ballroom, Boogie, Shimmy Sham, Shake. A Social and Popular Dance Reader, Chicago: University of Illinois Press 2009. Malzacher, Florian/Tupajic, Tea/Zanki, Petra (Hg.): Curating Performing Arts, in: Frakcija Performing Arts Journal 55, summer 2010.
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Menger, Pierre-Michel: Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers, Konstanz: UVK 2006. Müller-Schöll, Nikolaus: Theater außer sich, in: Kurzenberger, Hajo/Matzke, Annemarie (Hg): TheorieTheaterPraxis, Berlin: Theater der Zeit 2004, S. 342-352. Reiter, Saskia: Selbstmanagement im Kulturbetrieb. Kulturunternehmer zwischen Unabhängigkeit und Prekariat, in: Lewinski-Reuter, Verena/Lüddenmann, Stefan (Hg.): Kulturmanagement der Zukunft. Perspektiven aus Theorie und Praxis, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 164-181. Rogoff, Ingrid: Looking away, in: Butt, Gavin: After Criticism. New Responses to Art and Performance, Malden: Blackwell Publishing 2005, S. 117-134. Rugg, Judith/Sedgwick, Michèle (Hg.): Issues in Curating Contemporary Art and Performance, Bristol: Intellect Books 2007. Savigliano, Marta E.: Worlding Dance and Dancing Out There in the World, in: Foster, Susan L. (Hg.): Worlding Dance, Hampshire: Palgrave Macmillan 2009, S.163-190. Schlösser, Franziska/Bähr, Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution, Bielefeld: transcript 2009. Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006. Stern, Martin: Stil-Kulturen. Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken. Bielefeld: tanscript 2010. Weickmann, Dorion: Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580-1870), Frankfurt/M.: Campus 2002. Williams, Drid: Ten Lectures on Theories of the Dance, London: The Scarecrow Press 1991.
Zur Choreographie der Organisation: Zeitgenössische künstlerische Praktiken P ETRA S ABISCH
Willkommen.1 Der Titel dieser Tagung ist „Choreographie und Institution“. Ich geh’ mal davon aus, dass jeder von Ihnen einen Begriff der Choreographie als künstlerischer Praxis hat, dass jedeR eine Idee hat davon, was das sein kann; wenngleich die Ansichten sicherlich weit auseinandergehen und selbst einer eingehenden Betrachtung wert wären. Was aber ist eine Institution? Für mein Empfinden ist es äußerst interessant, darüber nachzudenken, was eine Institution ist, was sie sein kann, tun kann und wie sich genau das Verhältnis zwischen Choreographie und Institution darstellt. Instituere, etwas instituieren, ist das lateinische Wort für einsetzen, einrichten. Etwas Instituieren beinhaltet also eine gewisse Macht, die das, wofür sie sich einsetzt, auch einrichten kann.
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Bei den Überlegungen zur schriftlichen Niederlegung meines Vortragstextes kam ich zu dem Schluss, die Vortragsform beizubehalten, um auf diese Weise die situative, d.i. zeit- und kontextgebundene Adressierung eines Fachpublikums, welches TanzwissenschaftlerInnen, TanzkuratorInnen, DramaturgInnen, Studierende und künstlerische PraktikerInnen vereint, hervorzuheben. Das Reden innerhalb einer akademischen Institution wie der Hochschule für Tanz und Musik Köln sei dabei selbst als eine performative Praxis markiert und in seiner Überschneidung von institutioneller und individueller Praxis ausgestellt.
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Ich möchte also im Folgenden zunächst der Frage nach dem Verständnis von Institution nachgehen, bevor ich in einem zweiten Schritt das Verhältnis von Choreographie und Institution etwas näher beleuchten möchte, um letztendlich aus diesem Verhältnis heraus einige Schlussfolgerungen anzustellen. Was ist eine Institution? Zu dieser Frage möchte ich zunächst einige grundsätzlichere Überlegungen entwickeln, ohne hier in der Kürze allen soziologischen, philosophischen und politischen Dimensionen der Definition von Institution nachgehen zu können. Ich verstehe unter Institution ein im- und explizites Regelwerk, das auf eine über das Individuum hinausgehende Wunschökonomie antwortet und damit bestimmte Ordnungen in das Soziale einführt, oder besser, soziale Beziehungen organisiert. Ich wiederhole, eine Institution antwortet auf einen gesellschaftlichen Wunsch bzw. auf eine Gemengelage von Wünschen, die sie organisiert und strukturiert, was zugleich das Möglichwerden und In-Kraft-Setzen sowie die Regulation dieser Wünsche bzw. gesellschaftlichen Bedürfnisse umfasst.2 Ich folge mit dieser Definition im Wesentlichen nicht der Unterscheidung von Institution und Organisation, einer m. E. bizarren, in Soziologie und Wirtschaftswissenschaften nach wie vor noch geläufigen Trennung von Verhaltensweisen und Organisationsweisen, denn es kommt mir gerade darauf an, die Organisationsprozesse einer Institution, also ihre performative Praxis zu verstehen, welche nicht unabhängig von ihrem Struktur-Werden als Institution betrachtet werden kann.3 Der performative turn in den Kul-
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Der von mir hier verwendete Begriff einer überindividuellen Wunschökonomie greift also in deutlich anderer Richtung die soziologischen Begrifflichkeiten der „joint action“ oder auch der „collective intentionality“ von John R. Searle auf; vgl. z.B. John R. Searle: What is an institution?, in Journal of Institutional Economics, Nr. 1, 2005, S.1-22, hier S. 6; Searles Definition der Institution, ebd., S. 21-22. Vgl. ebenfalls das Verständnis der Institution als einer durch Regeln erzeugten Reduktion von Unsicherheiten in sozialen Tauschgeschäften in der Literatur der neueren Institutionenökonomik.
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Eine kategoriale Trennung von Institution und Organisation ist für eine Betrachtung des Zusammenhangs von soziologischen und ökonomischen Aspekten hinderlich, da sie ihren Unterschied (z.B. im Hinblick auf Verhaltensweisen und Organisationsformen, in der Regel- oder Zielorientierung) eher setzt als erklärt.
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turwissenschaften hat deutlich gemacht, inwiefern das, was als gegeben erscheint, wie bspw. eingefahrene gesellschaftliche Konventionen, in Wirklichkeit verzeitlichte Prozesse von Praktiken sind, deren Vollzugscharakter durch die strukturbildende Macht der Wiederholung als Gewohnheit immer wieder überdeckt wird.4 Angesprochen sei damit das Problem der Unterscheidung einer Institution von einer Nicht-Institution, denn sobald man die Verhaltensweisen und performativen Praktiken selbst als Institution fasst, bzw. ihre Sedimentierung über die Zeit, wird es sehr schwierig, die Institution von einer Nicht-Institution abzugrenzen. Folgende Fragen tauchen dann auf: Ist ein eingeschliffener Brauch schon eine Institution? Wie formal muss eine Institution sein, um als solche erkannt zu werden? Sind Regelsysteme wie Sprache und Kalender als Institutionen zu beschreiben? Wie wiederholbar müssen performative Akte sein, um als formale und reglementierte in gesellschaftlich institutionalisierte Codices überzugehen? Und welche produktive
Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zum Begriff der „sozialen Institution“ von Seumas Miller: Social Institutions: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2008 Edition), ed. by Edward N. Zalta. http://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/social-institutions/ (3.2.2011). 4
Dies ist genau das Problem das Judith Butler schon in Gender Trouble (dt.: Das Unbehagen der Geschlechter) aus der Perspektive performativer Praktiken angesprochen hat. Ab wann wird die Wiederholung einer Aktivität zur gesellschaftlichen Regel und Norm und welcher Umgang mit diesen performativen Wiederholungen produziert ein Abweichen von diesen Normen? Im Hinblick auf die diskursiv konstituierte und regulierte Subjektkonstitution, die geschlechtsspezifizierend verfährt, konstatiert Butler: „Das Subjekt wird von den Regeln, durch die es erzeugt wird, nicht determiniert, weil die Bezeichnung kein fundierender Akt, sondern eher ein regulierter Wiederholungsprozeß ist, der sich gerade durch die Produktion substantialisierter Effekte verschleiert und zugleich seine Regeln aufzwingt. In bestimmter Hinsicht steht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs; daher ist die ‚Handlungsmöglichkeit‘ in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren.“ Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. v. Kathrina Menke, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 213.
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Rolle kommt der Wiederholung im Sinne einer Veränderung dieser Praktiken zu?5 Mit anderen Worten: Wenn man das statische Bild von Institution durch ein dynamisches ersetzt, dann kann man überhaupt erst einige neuere institutionelle Praktiken verstehen, die sich in Zeiten der Krise der Institution als Reaktion auf postfordistische Produktions- bzw. Privatisierungstendenzen darstellen.6 In diesem Zusammenhang soll ein merkwürdiges Phänomen Erwähnung finden, dass die Institution zu kennzeichnen scheint: Eine Institution neigt dazu, sich selbst strukturell zu verstetigen. Damit meine ich, dass eine Institution, sobald sie einmal ins Leben gerufen wurde, prinzipiell dazu tendiert, sich selbst nicht abzuschaffen, selbst dann, wenn ihr ursprüngliches Ziel erreicht ist. Das heißt, dass sich das Regelwerk, mit dem sie auf einen gesellschaftlichen Wunsch antwortet, sedimentiert und fixiert, ohne notwendig die Befriedigung des Wunsches zu überprüfen, an der Empirie zu brechen oder aber den Wunsch zu erneuern. Wenn das so ist, dass Institutionen sich gewissermaßen selbst reproduzieren, unabhängig davon, ob sie ihren Wunsch, ihre Aufgabe und Funktion einlösen, dann heißt das, dass sie irgendwann den Nexus von Wunsch und Institution aufkündigen und so strukturell verstetigen. Wann passiert das? Wie? Warum ist diese Verstetigung der Institution als Form und Struktur (anstatt als Funktion) schwerlich vermeidbar? Aufgerissen sei mit diesen Fragen also das weite Problemfeld der Verhältnisse von Agentur und Struktur, von Praktiken und ihren Materialsierungen, sowie von Subjektivierungsprozessen und politischen Interessen.
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Zur gewaltsamen Macht der Wiederholung und der Möglichkeit ihrer variierenden Effekte, vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 317. In Anknüpfung an nicht-repräsentative Handlungstheorien hat Gilles Deleuze diese Kraft der Wiederholung lange vor dem performative turn im Sinne einer Philosophie der Differenz konzipiert, vgl. Gilles Deleuze: Différence et répétition, Paris: PUF 1968.
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Der fließende Übergang von individuellen zu institutionellen Praktiken und Arbeitsformen ist z.B. in der Rolle des zeitgenössischen Kurators ersichtlich, der einerseits institutionell agiert und institutionelle Aufgaben vertritt, andererseits aber oftmals freischaffend tätig ist, wie andere Kunstproduzenten auch.
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Ein weiteres und doch damit zusammenhängendes Problem ist, dass die auf einen gesellschaftlichen Wunsch antwortende und sich dadurch gründende Institution manchmal zur alleinigen Instanz wird, die sich dem Vollzug des Wunsches widmet. Mit anderen Worten: die Institution bekommt das Ausschließlichkeitsrecht für die Zuständigkeit, auf einen gesellschaftlichen Wunsch, wie etwa Bildung, zu antworten.7 Diese Verstetigung der Institution (und ihrer Autorisierungsfunktion) kann nur darüber funktionieren, dass die performativen Praktiken, welche die Institution zu einer solchen machen, von ihrer Struktur getrennt werden. Etwas wird als gegeben gesetzt und nicht mehr als Vollzug gedacht. Mit anderen Worten: der Inhalt/die Aufgabe bzw. der gesellschaftliche Wunsch nach einer Institution wird von der Fixierung ihrer Struktur genau dadurch überrollt und zeitlich überdauert, dass man die inneren Organisationsprozesse für etwas dem ‚ursprünglichen‘ Wunsch Äußerliches oder Nachgeordnetes betrachtet. Das zumindest ist meine Hypothese. In diesem Sinne möchte ich mich auf Félix Guattari beziehen, der die Bedeutung von Organisationsprozessen als Ort von institutionalisierten Verteilungspolitiken und Machtpraktiken nicht zufällig in einem Gespräch mit Gilles Deleuze über „Capitalism and Desire“ diskutiert. Am Beispiel traditioneller politischer Strukturen macht Guattari deutlich, wie organisatorische Prozesse oftmals als zweitrangig eingestuft werden und unter dem Vorwand einer bloß technischen Umsetzung die Instituierung bestimmter Machttechniken verschleiern: „The same goes for traditional political structures. It's always the same old trick: a big ideological debate in the general assembly, and the questions of organization are reserved for special committees. These look secondary, having been determined by political options. Whereas, in fact, the real problems are precisely the problems of
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Als Kritik an dieser Art von Spezialisierung bzw. sedimentierten Zuständigkeitsbereichen seien die von der institutionalistischen Bewegung inspirierten Gruppen, wie Bildung ohne Schule, angeführt. Für einen exzellenten Überblick über die institutionelle Analyse vgl. den Artikel von Marta Malo de Molina: Gemeinbegriffe, Teil 2: Von der institutionellen Analyse zu gegenwärtigen Erfahrungen zwischen Untersuchung und Militanz, übers. v. Birgit Mennel, veröffentlicht auf der Webseite des Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik: http://eipcp.net/transversal/0707/malo/de (3.2.2011).
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organization, never made explicit or rationalized, but recast after the fact in ideological terms. The real divisions emerge in organization: a particular way of treating desire and power, investments, group-Oedipuses, group-super-egos, phenomena of perversion.“
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Aus genau diesem Grund sind Organisationsprozesse zutiefst politisch, womit dasjenige Feld aufgerufen ist, um das es hier geht: die institutionelle Analyse und Kritik des Tanzes, welche, das sei hier vorausgeschickt, nicht unabhängig von sozialen Organisationsformen zeitgenössischer Arbeit betrachtet werden kann.9 Wie ist eine Kritik an der Ausführung und Umsetzung kollektiver Wünsche möglich, wenn sich diese bereits institutionell formiert haben? Welche Sichtbarkeit und welche Einspruchsmöglichkeiten oder Veränderungsmöglichkeiten hat der heutige Citoyen bzw. die freischaffende Choreographin vis à vis offizieller Institutionen, Konventionen und Bräuche? Die institutionelle Kritik bzw. die Kritik an den konkreten Umsetzungen des Wunsches sieht sich dabei unmittelbar mit unterschiedlichen Formen der Macht konfrontiert (wie z.B. disziplinären Identitätspolitiken, autoritären Verfahren, intransparenten Selektionsverfahren, der kommerziellen Logik der Repräsentation und rein quantitativen Evaluierungsverfahren), kurz: mit Regeln und Regulierungen, die, anstatt einer qualitativen Entsprechung des gesellschaftlichen Wunsches den Weg zu bahnen, sich eher gegen ihn zu verkehren scheinen.
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Félix Guattari: On Capitalism and Desire, in Gilles Deleuze: Desert Islands and Other Texts, 1953-1974, hg. v. David Lapoujade, übers. Michael Taormina, New York/Los Angeles: Semiotext(e) 2004, S. 264.
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Zur institutionellen Analyse und Kritik im Frankreich der 70er Jahre, vgl. insbesondere Félix Guattari: L’intervention institutionnelle, Paris: Payot 1980; sowie ders.: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976. Für einen Überblick über die Geschichte der Institutionellen Analyse, vgl. Malo de Molina: Gemeinbegriffe, s.o., sowie Christoph Weismüller: „Die institutionelle Gruppe“ bei Félix Guattari, in ders.: Zwischen analytischer und dialektischer Vernunft. Eine Metakritik zu Jean-Paul Sartre's Kritik der dialektischen Vernunft, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 408-429; und Stefan Nowotny/Gerald Raunig: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien: Turia & Kant 2008.
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II Wenn man im Kontext der Choreographie der Organisation also das Verhältnis von Tanz bzw. Choreographie und Institution untersucht, wie es sich diese Tagung zum Thema gesetzt hat, dann wird es interessant. Mein Hintergrund zu diesem Thema, auf den ich mich nun auch ausschließlich beziehe, ist der zeitgenössische experimentelle Tanz, d.h. die Szene der freischaffenden Choreographie und nicht die Choreographie der staatlich geförderten, institutionalisierten Stadt- und Staatstheater. Diese Unterscheidung ist aus arbeitsorganisatorischer und arbeitsrechtlicher Sicht entscheidend, wobei hier nicht behauptet werden soll, dass den staatlichen oder kommunalen Einrichtungen allein ein Institutionscharakter zukäme, während der Bereich der freischaffenden Kunst gänzlich nicht-institutionell sei. Ganz im Gegenteil möchte ich vielmehr beispielhaft und ganz konkret den Graubereich institutioneller Praktiken und die damit zusammenhängenden Probleme benennen, an denen sich die zeitgenössische freie Szene des Tanzes immer wieder stößt. Vorausgeschickt sei dabei die Tatsache, dass sich eine choreographische Produktion nicht im künstlerischen Akt der szenischen Aufführung erschöpft. Sie ist vielmehr ein Zusammenspiel aus organisatorischen Prozessen, welche vom Förderantrag bis zu Formen der künstlerischen Zusammenarbeit, von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bis zur Kunstvermittlung reicht. Diese organisatorischen Prozesse leiten sich einerseits aus der künstlerischen Forschung und ihrer Präsentation ab, wie sie gleichzeitig ein Verhältnis mit bestehenden, affektiven, sozialen, institutionellen und monetären Ökonomien eingehen. Erst diese komplexe Organisation von Arbeitsprozessen verleiht dem künstlerischen Produkt seine Form und Sichtbarkeit. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass der freischaffende experimentelle Tanz beständig und zwangsläufig mit Institutionen in Kontakt tritt, ob dies nun Theater, Ausstellungsräume und die Kunstszene sind oder die Kunst- und Kulturförderung der öffentlichen Hand auf nationaler und internationaler Ebene, Stiftungen, Mäzene, sowie Bildungsinstitutionen usw. Man sieht also, dass ich mich hier seitens der Institutionen zunächst auf formale Institutionen beschränke, wobei ich unterstreichen möchte, dass eben der Übergang zu informellen Regeln und Praktiken ein Bereich ist, der genauer erforscht werden müsste.
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Aus der empirischen Perspektive künstlerischer Praxis und ihrer Arbeitsorganisation scheint die Trennschärfe zwischen Institution und NichtInstitution im Bereich des Tanzes recht unschwer zu ermitteln: Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die genannten Institutionen zumeist für eine gesellschaftliche Aufgabe stehen, hier: die Kunstpraxis zu ermöglichen – und ich sage bewusst, dass sie dafür ‚stehen‘, denn manchmal tun sie das eher historisch bzw. symbolisch, als dass sie das konkret ausführen. Kennzeichen dieser Institutionen sind geregelte Entscheidungsprozesse; sie verfügen über eine Art Infrastruktur inklusive Verwaltungsapparat sowie oftmals über eine gewisse Planungssicherheit. Im Gegensatz zu dieser Arbeitsorganisation ist das Prekariat der freischaffenden Kunst hinsichtlich rechtlicher, versicherungstechnischer und finanzieller Absicherung mittlerweile öffentlich bekannt.10 Planungssicherheit gibt es für freischaffende KünstlerInnen so gut wie gar nicht, einen eigenen Status nur in wenigen Ländern Europas, Altersabsicherung inexistiert, während Flexibilität und Mobilität zwei unerlässliche Voraussetzungen sind, ebenso wie interkulturelle Kompetenzen, insbesondere
10 Die Aussagen der Enquête-Kommission Kultur sind hierzu eindeutig: „Aus Sicht der Vermittler und Verwerter stellt sich der Kunstmarkt als stabil und prosperierend dar. [...] Im Bereich der darstellenden Kunst hätten – so die Experten – Schauspieler und Tänzer in den letzten zehn Jahren einen Einkommensverlust von ca. 30 bis 40 Prozent hinnehmen müssen. Die Arbeitsmarktsituation sei für alle angespannt, insbesondere aber für diejenigen, die an den ‚großen Häusern‘ des Theaterbetriebs nicht festangestellt arbeiteten. Die Einschätzungen der Entwicklungen in diesem Bereich reichten bis hin zur Charakterisierung als einen ‚verheerenden Kahlschlag‘.“ Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, Regensburg 2008, S. 428f. Zur besonderen Situation des Tanzes, vgl. S. 478. Zur Debatte um „immaterielle Arbeit“ in den Performing Arts, vgl. Bojana Cvejić/Ana Vujanović: Exhausting Immaterial Labour, Journal of Performing Arts Theory, hg. v. TKH/Les Laboratoires d’Aubervilliers, Paris/Belgrad, Oktober 2010; Petra Sabisch: Eine kleine Wirkungsgeschichte der Umstände von Virtuosität für die Kunst der Performance, in: Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai van Eikels (Hg.): Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen, Freiburg i. Br.: Rombach 2011 (im Erscheinen).
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sprachliche und administrative, sowie Erfahrungen und Kenntnisse im internationalen Raum. Wenn man also das Anforderungsprofil eines halbwegs erfolgreichen Tanzschaffenden aus der Sicht einer Institution wie z.B. einem Theater erstellt und dann mit der strukturellen Realität eben dieser formalen Institution konfrontiert, dann wird man eines extremen Kontrasts zwischen individuellen und institutionellen Arbeitsstrukturen und ihrer jeweiligen Praktiken gewahr. Ohne die oftmals schwierige Lage von Theatern kaschieren zu wollen, ist an dieser Stelle eine Schieflage auszumachen, die sich nicht zuletzt darin zeigt, dass eine Kritik an den institutionalisierten Praktiken des Theaters eben nur als individuelle möglich ist, sich dadurch in erster Linie selbst das Wasser für weitere Produktionen abgräbt und obendrein in der Form der privatisierten Kritik unwirksam bleibt.11
11 In diesem Zusammenhang sei auf den erst nach meinem Vortrag entstandenen Blog des schwedischen Performers, Kurators und Hochschullehrers Mårten Spångberg hingewiesen (August bis Oktober 2010), der einige dieser institutionellen Praktiken in der Banalität ihrer Alltäglichkeit benennt, diskursiv situiert und in ihren individuellen Auswirkungen auf die Profession beschreibt. Dieser sicherlich in Rage geschriebene Blog ist m.E. nichtsdestotrotz die einzige Stimme in Europa, die eine durchaus relevante Kritik der (diskursiven) Praktiken des eigenen professionellen Feldes individuell veröffentlicht, vgl. http://spang bergianism.wordpress.com. Ein umso größeres Gewicht erhält diese couragierte Kritik von Spångberg an institutionalisierten Praktiken durch die ebenfalls von ihm realisierte radikale künstlerische Umsetzung des M.A-Studiengangs Choreography an der University of Dance and Circus in Stockholm: Spångberg hat diesen Studiengang zu einem, aus meiner Perspektive weltweit einzigartigem Produktionsort neuartiger choreographischer Formen umgestaltet, deren Verschränkung von Kritik, Theoriebildung und Methode zu neuen performativen Produktionspraktiken führt. Über die Auswirkungen dieses Ausbildungsprojektes stehen genauere Forschungen noch aus; wobei gerade das Erschaffen von Bedingungen und Arbeitsbeziehungen hier vielleicht erst dann in Gänze in den Blick kommt und entsprechend gewürdigt werden kann, wenn man dieses Projekt selbst als künstlerisches begreift. Zur künstlerischen und theoretischen Arbeit von Spångberg, vgl. auch seine Webseite http://martenspangberg.org/.
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Am Beispiel der sogenannten Spielstättenbescheinigung wird dies deutlich: Ein Theater entscheidet darüber, ob einer Tanzschaffenden eine Spielstättenbescheinigung erteilt wird, wobei letztere wiederum unerlässlich für die Antragstellung ist.12 Ohne die Gunst eines Theater-Kuratoriums können also überhaupt keine Mittel für die Praxis eingeworben werden. Diese indirekte Vorselektion der darstellenden Kunst durch die Theater verläuft rein unilateral. Das heißt, der freischaffende Tanz hat auf der anderen Seite weder Einfluss auf die Wahl von KuratorInnen, noch darauf, welche Theater finanziert werden und welche nicht. Unabhängig davon, wie gut also die einmal durch einen gesellschaftlichen Wunsch ins Leben gerufenen Institutionen arbeiten, denn das bleibt im Zweifelsfall ungeprüft und dafür gibt es oft nicht einmal nachvollziehbare Kriterien, verfügen letztere über ein einseitiges, oft untransparentes Entscheidungsrecht gegenüber den nicht-institutionalisierten Trägern der Kunstszene. Ein anderes Beispiel für einen einseitigen definitorischen Einfluss auf die choreographische Praxis ist die Tanzforschung.13 Dieses Problem
12 Die Spielstättenbescheinigung attestiert einer choreographischen Produktion einen öffentlichen Aufführungsort, durch den sich die Produktion selbst wiederum gegenüber der öffentlichen Hand legitimiert. Die Anerkennung eines Aufführungsortes als Spielstätte setzt damit die Sicherheitsnormen eines öffentlich begehbaren Ortes voraus und macht es kleineren oder alternativeren Orten manchmal schwer, überhaupt als Spielstätte fungieren zu können. In diesem Zusammenhang ist es interessant, zeitgenössische künstlerische Praktiken zu beobachten, die den privaten Raum nutzen bzw. selbst zum Gegenstand ihrer Kunst machen. 13 Zunächst muss man hier entgegen überkommener Vorstellungen insbesondere in der freischaffenden Kunst einwenden, dass es in der Wissenschaft heutzutage ähnlich prekär zugeht wie in der freien Kunst. In der Wissenschaft, ich beziehe mich hier auf die Geistes- u. Sozialwissenschaften in Deutschland, gibt es im Gegensatz zur Kunst nur einen Karriere-Weg: abgeschlossenes Studium, wissenschaftliche Mitarbeit, Promotion, Juniorprofessur oder Habilitation, Professur. Aus individueller Perspektive kann man also sagen, dass Flexibilität im Karriereweg absolut nicht gefragt ist, wohl aber in der Ortswahl. Diese Art einseitiger Flexibilität fällt in eins mit einer fast schon institutionalisierten Planungsunsicherheit, da man als Wissenschaftlerin in Deutschland als einzigem mir bekannten Land weltweit, nach sechs bzw. 12 Jahren wegen seiner Berufser-
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besteht darin, dass die Erforschung des Tanzes an die Wissenschaft delegiert wurde, ohne letztere dazu zu verpflichten, sich an der künstlerischen Praxis auszurichten bzw. für die Bedingung ihrer Möglichkeit Sorge zu tragen. Der damit oftmals praxisferne akademische Diskurs übt darüber hinaus, selbst bei bester Absicht des individuellen Forschers, institutionell eine diskursive Definitionsmacht aus, die indirekt (über Zuschreibungen und Charakterisierungen) und direkt (als Verteilungspraxis) in die Produktionsverhältnisse der Tanzpraxis eingreift. Damit meine ich, dass der tanzwissenschaftliche Diskurs, u.a. durch die Auswahl seiner Forschungsgegenstände und durch die Distribution seines Diskurses, in die Vermarktungsmöglichkeiten choreographischer Produktion hineinspielt. Auch hier ist der Einfluss bzw. die Festschreibung der künstlerischen Praxis durch einen vermeintlich objektiven wissenschaftlichen Kommentar rein unilateral, worin sich eine Hierarchie der Artikulationsformen von Tanz und dem Schreiben über Tanz ausdrückt, die zu ändern die PraktikerInnen selbst kein Mitspracherecht haben. Man kann dies einfach veranschaulichen: Wenn ein Choreograph ein Stück macht, in dem er sich mit, sagen wir, Jacques Derrida, auseinandersetzt, dann wird das weder die Philosophiegeschichte noch die Tanzforschung zwangsläufig bewegen. Wenn aber ein tanzwissenschaftlicher Artikel veröffentlicht wird und online zirkuliert, der eine Choreographie in Hinsicht auf den Begriff der Spur von Jacques Derrida erklärt, dann greift er durch diese Konstatierung in die diskursive Sichtbarkeit des choreographischen Projektes ein, genau wie auch jede Kritik über das tänzerische Schaffen einen Einfluss auf die choreographische Position im Kunstmarkt hat.
fahrung aus dem Berufsleben entlassen werden kann. Diese Aussage bezieht sich auf die Befristung der Arbeitsverträge von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen unter Anrechnung vorausgegangener Arbeitsverhältnisse innerhalb der sog. Qualifizierungszeit von 12 Jahren (6 Jahre vor der Promotion, 6 Jahre nach der Promotion), die aus dem ehemaligen Hochschulrahmengesetz (HRG, §57a&b, Abs. 1, Satz 1&2) in das Wissenschafts-Zeitvertragsgesetz übernommen wurde. Vgl. Gesetz zur Änderung arbeitsrechtlicher Vorschriften in der Wissenschaft, vom 12.4. 2007, § 2, Abs. 1, Satz 1 und 2, in: Bundesgesetzblatt Jahrgang 2007 Teil I Nr. 13, ausgegeben zu Bonn am 17. April 2007; einsehbar auf der Webseite des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung: http://www.bmbf.de/pub/WissZeitVG_endg.pdf (2.2.2011).
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Wenngleich die Tanzwissenschaft sicherlich nicht für die gesellschaftliche Hierarchie von diskursiven zu anderen Praktiken (z.B. dem Tanz) verantwortlich zu machen ist, bleibt doch ihre eigene Einflussnahme in künstlerische Produktionsverhältnisse und Existenzgrundlagen meines Wissens bislang absolut unreflektiert, was umso erstaunlicher ist, da eben diese Wissenschaft des Tanzes ihre eigene Legitimation aus genau dieser Praxis bezieht.14 In ihrer Dissertation Choreographie als kritische Praxis hat Pirkko Husemann diesen Konnex von Diskurs und Produktions- bzw. Distributionsverhältnissen in der Tanzforschung aus praxeologischer Sicht kritisiert: „Diese Herangehensweise ermöglicht es in letzter Konsequenz, die Frage nach der Kritik an Produktions-, Distributions- und Präsentationsformen nicht nur an die Tanzpraxis, sondern auch an die Tanzforschung zu richten. Betrachtet man die Tanzforschung aus der Perspektive der choreographischen Praxis von Le Roy und Lehmen, so liegt die Forderung nach einem theoretischen Forschungsansatz nahe, welcher die Rolle der Theorie als Praxis im Kontext des akademischen, aber vor allem auch innerhalb des künstlerischen Feldes reflektiert. Es muss gefragt werden, auf welche Art und Weise Kritik in der Tanzforschung stattfinden kann und wie Theorie produziert, verteilt und präsentiert wird. Wie können also die Folgen eines ‚objektivierenden‘ Zugriffs auf einen Forschungsgegenstand, wie ihn der akademische Diskurs pflegt, erfasst werden, ohne dass die Selbstreflexion des Forschenden oder die Ästhetisierung des Diskurses dabei im Vordergrund stehen?“
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14 In meiner Dissertation über zeitgenössische Choreographie und praktische Philosophie habe ich mit dem Begriff der Artikulation versucht, dieses hierarchische Verhältnis von wissenschaftlich-diskursiven gegenüber künstlerischen Praktiken aufzuheben und ihre Gleichwertigkeit in der Differenz stark zu machen, vgl. Petra Sabisch: Choreographing Relations. Practical Philosophy and Contemporary Choreography in the works of Antonia Baehr, Gilles Deleuze, Juan Dominguez, Félix Guattari, Xavier Le Roy and Eszter Salamon, München: epodium 2011, S. 95-143. 15 Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009, S. 245f. (Hervorhebung PS).
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III Als letzten und dritten Aspekt möchte ich nun auf jenen kollektiven Wunsch zurückkommen, der wie zu Anfang eingeführt, erst den Anlass bietet, um ein Regelwerk zu instituieren, welches dann die Form des freischaffenden Tanzes, von Theatern und Kunstproduktion, von Förderinstitutionen, Kulturvermittlung, Tanzwissenschaft etc. annimmt. Wie sieht es mit diesem Wunsch aus? Wie könnte man ihn heute formulieren? Meines Erachtens besteht dieser Wunsch im Schaffen der Bedingungen der Möglichkeit einer qualitativen, experimentellen künstlerischen Praxis und Forschung, die sinngebende Differenz statt spektakulärer Homogenität erzeugt. Gerade wenn das kreative Potential einer künstlerischen Praxis etwas Neues produzieren können soll, sich immer wieder neu entwerfen können muss und darin ungewöhnliche Perspektiven auf die Funktionen von Sinnlichkeit, Bewegung und Affekt bieten soll, dann ist die künstlerische Praxis genau das, was selbst nicht institutionalisiert werden kann, ohne ihren Sinn zu verlieren. Angesichts dessen, dass sich im Bereich des Tanzes spätestens seit der postmodernen Avantgarde zumindest die experimentellen Strömungen immer wieder, mindestens werkimmanent, mit ihren eigenen Konventionen auseinandergesetzt haben, mit Sehgewohnheiten, mit Präsentationsformaten, sowie mit Produktions- und Distributionsverhältnissen – und in diesem Sinne eine institutionelle Kritik waren –, haben die bestehenden Institutionen es m.E. nicht geschafft, die Bedingungen für eine qualitative, experimentelle choreographische Praxis zu schaffen.16
16 Eine Kritik an ‚den‘ Institutionen, die sich selbst als das Andere ausnimmt, greift hier sicherlich zu kurz, da sie den Zwischenbereich der institutionellen Praktiken, an dem ‚Frei‘-schaffende teilhaben, schnell ausblendet und damit Gefahr läuft, eine zu simple Machtauffassung zu transportieren. Aus diesem Grund habe ich versucht aufzuzeigen, inwiefern die Teilhabe an den Bedingungen der Möglichkeit von Kritik für Freischaffende als privatisierte erscheint, was für die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik seitens der Institutionen ebenfalls zu erforschen wäre. Insofern schließt mein Artikel gewissermaßen an Andrea Frazers Gedanken einer „Institution der Kritik“ an, allerdings nicht um ‚die‘ Kritik zu institutionalisieren, sondern als ein gedankliches Korrektiv für eine Neuformulierung der Möglichkeit von Kritik in einer globalisierten Arbeitsge-
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Neben der auch in Institutionen spürbaren Prekarisierung, dem Druck der u.a. durch die europaweiten Kürzungen der Kulturbudgets als Folge der Finanzkrise entstand und der Tatsache, dass eine Institution grundsätzlich eher den Betrieb ihrer Regelsysteme aufrechterhält als ihre eigenen Praktiken zu kritisieren oder Machtverhältnisse zu verändern, liegt dies aber auch daran, dass eine qualitative Kunstpraxis, gerade weil sie nicht gänzlich in Regeln auflösbar ist, von seiten der Institutionen immer wieder einfach vorausgesetzt wird. Mit anderen Worten, institutionelle Praktiken, und in der Kürze muss das hier leider zwangsläufig etwas allgemein klingen, haben sich viel zu lange nur auf das choreographische Output konzentriert, unterstützen aber in den seltensten Fällen das, was durch die Maschen einer Projektförderkultur fällt: eine kontinuierliche, nachhaltige Praxis der Tanzschaffenden. Die oben aufgeführten Beispiele auf der Ebene der Arbeitsbedingungen und der Organisation zeigen die zunehmende Schwierigkeit, eine qualitative, experimentelle Praxis in den Performing Arts durchzuführen, die sich einerseits flexibel an die institutionelle Lage anpasst, andererseits aber nicht mit ihr verschmilzt. Diese Schwierigkeit, welche durch unilaterale Machtrelationen in den Institutionen des Tanz- und Theaterfeldes eher verschärft denn ausgeglichen wird, hat zur Selbstorganisation von vielen KünstlerInnen geführt, die an einer Auseinandersetzung mit den eigenen Arbeitsbedingungen interessiert sind und dieselben hinsichtlich neuer Experimente auch immer wieder neu definieren. Die Argumentation ist kurz: Wenn die dafür autorisierten Institutionen nicht dem kollektiven Wunsch entsprechen, oftmals der künstlerischen Praxis sogar mit Disrespekt entgegentreten, der Wunsch also unerfüllt weiterbesteht und sich erneut kollektiv Äußerung verschafft, wenn desweiteren die Kritik an institutionellen Praktiken ungehört verhallt, dann organisiert man sich besser selbst. Mit anderen Worten: Man instituiert den Wunsch erneut, auf differente Art und Weise. In diesem Zuge möchte ich auf das Performing Arts Forum, kurz PAF, in Frankreich zu sprechen kommen, das 2005 von Jan Ritsema ins Leben gerufen wurde und seitdem als ein von KünstlerInnen und anderen PraktikerInnen betriebener Raum funktioniert, in dem die Arbeitsbedingungen
sellschaft. Vgl. Andrea Frazer: From the Critique of Institutions to an Institution of Critique, in: Artforum 44, Nr. 1, September 2005, S. 278-283, hier S. 283.
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selbst bestimmt und die jeweilige Praxis, soweit gewünscht, in Austausch mit peers entwickelt werden kann. Auf der Webseite stellt sich dieses Forum wie folgt dar: „PAF (=PerformingArtsForum) is a place for the professional and not-yet professional practitioners and activists in the field of performing arts, visual art, literature, music, new media and internet, theory and cultural production, and scientists who seek to research and determine their own conditions of work. PAF is for people who can motorize their own artistic production and knowledge production not only responding to the opportunities given by the institutional market. Initiated and run by artists, theoreticians and practitioners themselves, PAF is a user-created, userinnovative informal institution. Neither a production-house and venue, nor a research-center, it is a platform for everyone who wants to expand possibilities and interests in his/her own working practice. PAF is – a forum for producing knowledge in critical exchange and ongoing discursive practice – a place for temporary autonomy and full concentration on work͒– a tool-machine where one can work on developing methods, tools and procedures, not necessarily driven toward a product͒– a place for experimenting with other than known modes of production and organization of work, e.g. open source production.“
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Gerade der Austausch mit peers ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden Individualisierung in der freischaffenden Kunst – ausgelöst durch ein nomadenhaftes Leben zwischen Residenzen und Tourneen – äußerst relevant. Ein inhaltlicher Austausch mit KollegInnen, ein Feedback ohne Angst vor Produktionskürzungen und ohne Diskussionen um die Anpassung des Formats an bestehende Sehgewohnheiten und Theaterprofile sowie die Möglichkeit von intensiven professionellen Begegnungen: all dies gehört zu einer an der Qualität ausgerichteten Praxis.18
17 Vgl. hierzu die Webseite des Performing Arts Forum: http://www.pa-f.net, (Hervorhebung PS). 18 Vgl. hierzu z.B. das von März bis Juni 2011 laufende Seminar „Performativity: Tendencies in Management“, das von Anders Jacobson, Johan Thelander und Mårten Spångberg konzipiert und organisiert wurde, und u.a eine Studienexkursion nach PAF umfasst, sowie zahlreiche Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Ansätzen aus Organisations- und Wirtschaftstheorien. Dieses Semi-
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Als ein Beispiel für unterschiedliche zeitgenössische künstlerische Praktiken der Selbstorganisation ist PAF ebenso eine implizite Kritik an Organisationsformen und Begegnungsmodi mit bestehenden Institutionen. Diese Kritik verausgabt sich jedoch nicht im Kritisieren von bestehenden Institutionen, sondern institutiert den kollektiven Wunsch nach qualitativen und selbst-bestimmbaren Arbeitsformen erneut; und zwar bewusst nicht als ein ‚Außen‘ der Institutionen, sondern als eine „informelle Institution“ mit einem sehr überschaubarem Regelwerk. Interessanterweise, und das sei hier abschließend erwähnt, knüpft PAF damit, in akronymischer Übereinstimmung, genau an jene institutionelle Kritik an, die Guattari in den 1970er Jahren wesentlich mitprägte, und die, so will es die Koinzidenz, eine Gruppe namens Partizipative Aktionsforschung, kurz: PAF, hervorbrachte.19 Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
nar ist Teil des M.A. Studienprogramms der University of Dance and Circus in Stockkholm sowie gleichzeitig für Interessierte geöffnet. 19 Vgl. Malo de Molina: Gemeinbegriffe, s.o.: Die AF (‚Aktionsforschung‘, später noch durch ‚P‘ für ‚partizipativ‘ ergänzt) entstand Ende der 1970er Jahre als Widerpart zum Produktivismus und Technizismus von FE (Forschung und Entwicklung). Sie ist das Ergebnis eines Zusammenwirkens kritischer Schulen der Sozialforschung und Sozialpädagogik (besonders der Volksbildung sowie der Theorien und Erfahrungen Paolo Freires und seiner Pädagogik der Unterdrückten), die in Lateinamerika in Verbindung mit der Erwachsenenbildung und dem kommunitären Kampf gegen das tägliche Elend zunehmend präsent waren. Die PAF stand in einem klaren Zusammenhang mit der französischen Strömung der institutionellen Analyse, wenn auch vor allem mit deren ‚formalisierter‘ Version, wie sie von Lapassade, Lourau und Lobrot vertreten wurde; von dieser übernahm sie Schlüsselbegriffe wie Analysator oder Transversalität. Auf die iberische Halbinsel gelangte die PAF schon in den 1980er Jahren durch den Einfluss der so genannten dialektischen Soziologie von Jesús Ibáñez, Alfonso Ortí und Tomas R. Villasante. Die PAF verfolgte den Anspruch, Forschung und soziale Intervention mit den Kenntnissen, dem Know-how und den Bedürfnissen lokaler Gemeinschaften zu verbinden.“
Z UR C HOREOGRAPHIE DER O RGANISATION | 51
L ITERATUR Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. v. Kathrina Menke, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. [Gender Trouble, London: Routledge 1990]. Dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt/M:: Suhrkamp 1997. [Bodies that Matter, London: Routlege 1993]. Cvejić, Bojana/Vujanović, Ana: Exhausting Immaterial Labour, Journal of Performing Arts Theory hg. v. TKH/Les Laboratoires d’Aubervilliers, Paris/Belgrad, Oktober 2010. Deleuze, Gilles: Différence et répétition, Paris: PUF 1968. Ders./Guattari, Félix: On Capitalism and Desire, in: Gilles Deleuze: Desert Islands and Other Texts, 1953-1974, hg. v. David Lapoujade, übers. Michael Taormina, New York/Los Angeles: Semiotext(e) 2004. [Iles désertes, Paris: Les Editions de Minuit 2002]. Deutscher Bundestag (Hg.): Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, Regensburg 2008. Frazer, Andrea: From the Critique of Institutions to an Institution of Critique, in: Artforum 44, Nr. 1, September 2005, S. 278-283. Guattari, Félix: L’intervention institutionnelle, Paris: Payot 1980. Ders.: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Husemann, Pirkko: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009. Nowotny, Stefan/Raunig, Gerald: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien: Turia & Kant 2008. Sabisch, Petra: Choreographing Relations. Practical Philosophy and Contemporary Choreography in the works of Antonia Baehr, Gilles Deleuze, Juan Dominguez, Félix Guattari, Xavier Le Roy and Eszter Salamon, München: epodium 2011. Dies.: Eine kleine Wirkungsgeschichte der Umstände von Virtuosität für die Kunst der Performance, in: Brandstetter, Gabriele/Brandl-Risi, Bettina/van Eikels, Kai (Hg.): Prekäre Exzellenz. Künste, Ökonomien und Politiken des Virtuosen, Freiburg i. Br.: Rombach 2011 (im Erscheinen).
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Searle, John R.: What is an institution?, in Journal of Institutional Economics (2005), 1, S. 1-22. Weismüller, Christoph: Die institutionelle Gruppe bei Félix Guattari, in ders.: Zwischen analytischer und dialektischer Vernunft. Eine Metakritik zu Jean-Paul Sartre's Kritik der dialektischen Vernunft, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 408-429.
I NTERNETQUELLEN Gesetz zur Änderung arbeitsrechtlicher Vorschriften in der Wissenschaft, vom 12.4. 2007, § 2, Abs. 1, Satz 1 und 2, in: Bundesgesetzblatt Jahrgang 2007 Teil I Nr. 13, ausgegeben zu Bonn am 17. April 2007. http://www.bmbf.de/pub/WissZeitVG_endg.pdf (2.2.2011). Miller, Seumas: Social Institutions, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2008 Edition), hrsg. v. Edward N. Zalta. http://plato. stanford.edu/archives/fall2008/entries/social-institutions/ (3.2.2011). Malo de Molina, Marta: Gemeinbegriffe, Teil 2: Von der institutionellen Analyse zu gegenwärtigen Erfahrungen zwischen Untersuchung und Militanz, übers. v. Birgit Mennel, veröffentlicht auf der Webseite des Europäischen Instituts für progressive Kulturpolitik: http://eipcp. net/transversal/0707/malo/de (3.2.2011). Performing Arts Forum (PAF): http://www.pa-f.net (5.2.2011). Spångberg, Mårten: Spangbergianism http://spangbergianism.wordpress. com/ (2.11.2010). Spångberg, Mårten: Webseite http://martenspangberg.org (10.5.2011).
On Autodomestication: Zum Verhältnis von Tanz und Institution S ANDRA N OETH
„F ISH
DON ’ T SEE THE WATER THAT THEY ARE IN “
„Anyone can be an artist, whether one was born or turned into one. The same goes with art audience – anyone can have art, whether the artist is bought, received as a gift, rescued or adopted. However, it takes a responsible person to be a good artist’s guardian. A responsible artist guardian loves and cares for his artist – provides a work place, health care and nutrition and training to control the actions of the artist. An artist is a privilege and a commitment. Through responsible artist guardian’s love, concern and actions regarding each artist that is brought in, every artist becomes a cherished member of the art family.“
1
In ihrer 2008 entstandenen Lecture The Responsibility of the Artist, die Teil einer Serie von performativen Arbeiten und Vorträgen zum Thema Kunst und Institution ist, beschreibt die estnische Performerin und Choreographin Krõõt Juurak nicht ohne Zynismus die Arbeits- und Lebensbedingungen eines stereotypisierten zeitgenössischen Künstlers und einer ebensolchen Institution. Flexibel und rahmenschaffend zugleich werden sie häufig miteinander in ein sich scheinbar entgegenstehendes Verhältnis gebracht.
1
Transkription der Lecture The Responsibility of the Artist von Krõõt Juurak, 20.08.2008, Röhsska Museet, im Rahmen der Konferenz The Future of the Art Institution/Gothenburg Dance and Theatre Festival.
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Dabei stellt sich sowohl für die Künstlerinnen und Künstler ebenso wie für die Kunst-Institution in der Wahl ihrer Themen, Strukturen, Partner etc. gleichermaßen die Frage nach der eigenen und kollektiven Handlungsfähigkeit in einer Gesellschaft, die sich durch die Simultaneität und die Beschleunigung von Einflüssen, Informationen und einem sich in der Folge stetig in Veränderung befindlichen lokalen und globalen (Produktions- und Vermittlungs-) Umfeld auszeichnet: In ihren live sich konstruierenden wie medial vermittelten sozialen, politischen oder künstlerischen Räumen zeigt sich die Anforderung an die gegenwärtige Tanz- und Performancekunst und ihre Akteure und Orte demnach nicht in der Repräsentation von bestehenden Strukturen, Diskursen etc., sondern im Be-Greifen und Sich-Positionieren in einem kontinuierlich aktualisierten und heterogenen Außen. Krõõt Juurak adressiert die mehr oder weniger freiwillig gewählte Verbindung von Künstlern und Institutionen mit der Analogie zu Haustieren und ihren Besitzern und einer speziell für das Training von Tieren entwickelten Erziehungsmethode, dem sogenannten clicker training: einem Training, das die Kommunikation mit dem Tier verbessern, das Miteinander harmonisch gestalten und zu immer neuen intelligenten Leistungen und kreativem Potential anregen soll. Ohne in pathetisches Klagen, in persönliche Erfahrungsberichte oder in utopische Entwürfe zu verfallen, trifft Krõõts Analyse dabei mit entwaffnender Offenheit in die Diskussionen um die Rolle des Künstlers bzw. um die Räume der Kunst in der Gesellschaft. Der „Künstler als Haustier der Institution“2 scheint eine ideale Metapher für einen mehrsprachigen, flexiblen, mobilen, offenen und einsatzbereiten, ungebundenen Zeitgenossen zu sein. Beherbergt zur Bespaßung und zur Begleitung, verweist sie vor der Folie globaler Möglichkeitsräume auch auf die viel beschriebene und bis zur individuellen und kollektiven Überforderung ausdifferenzierte Verantwortung des Einzelnen für die Gestaltung seines Lebens und seiner Arbeit (z.B. im Zusammenhang mit Konzepten des lebenslangen und selbstbestimmten Lernens).3
2
Vgl. Krõõt Juurak: Autodomestication, Performance, Premiere am 02.06.2009 in
3
Vgl. vor allem auch im Hinblick auf die Vermischung und das Ineinandergreifen
Tanzquartier Wien/Studios. von öffentlichen und privaten Sphären: Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berliner Taschenbuchverlag 2006.
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„There is the uniqueness and colorfullness of the world of pets, there are special species but yet they are all animals: flexible working hours, high identification with 4
your job, blurring of private and professional, utopian ideas, creativity.“
Die Attacke gilt dabei auch dem Ruf nach dem Immer Neuen, der durch den Kunst-Markt hallt. Dieser lässt sich im Hinblick auf die gängige Praxis der Benennung und der Besetzung von Formaten, Methoden und Themen oder die Uraufführungspolitik der Tanzhäuser und -festivals denken, die nach Individualität und Abgrenzung sucht; und betrifft zugleich auch die Diskursivierung, also das Sprechen und Schreiben über die (eigene) künstlerische Arbeit und die damit verbundene Frage der Affirmation bzw. Negation von Signatur und Autorschaft. In den Herstellungsprozessen, wie sie die zeitgenössische Tanz- und Performancekunst als Wechselspiel zwischen Choreographie und Alltag, zwischen affektiver Unmittelbarkeit und distanzierender, repräsentierender Diskursivierung entwirft, zeigt sich dabei eine Dynamik des stetigen Selbst-Erfindens in einer (Kunst-)Welt, die von sich verändernden, sich ablösenden und überlappenden Trends, Strukturen und Personen geprägt ist. Mit der Wahl des Solo-Formats und der damit einhergehenden Fokussierung auf den eigenen Körper spitzt Krõõt Juurak in ihrer Lecture Performance die Diskussion um die Involviertheit und die Abhängigkeit des Künstlers in Gesellschaft, Ökonomie und Wissensdistribution noch zu.5 Historisch betrachtet hat sich die Form des Solos als Ort der Verhandlung
Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie von Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswirst: Velbrück 2006. 4 5
Juurak: The Responsibility of the Artist. Die Auseinandersetzung mit der Institution in der Form des Solos zieht sich durch die Geschichte des zeitgenössischen Tanzes. Stellvertretende Beispiele sind u.a. Gerhard Bohners markante Solo-Arbeiten nach dem Verlassen des Tanztheater Bremen 1981, die auch Auseinandersetzungen mit den Möglickeiten und Grenzen institutioneller Angebundenheit sind; Jochen Rollers Performance-Serie perform performing (2002-2004), in der er Tanz als Arbeit untersucht; die Score-Serie O,O (2005) von Deborah Hay, die auf ihrem Solo Room basiert und Fragen der Originalität und der Weitergabe von (Bewegungs-) Material thematisiert oder Manuel Pelmus repräsentationskritische Arbeit Preview (2006).
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von Utopien und Diskursen um die Autonomie, die Natürlichkeit und die Authentizität des Körpers wiederkehrend bestätigt. Sowohl TänzerChoreographen als auch die Seite der Rezeption betonen in ihren Beschreibungen Figuren und Zuschreibungen des Singulären und des Einzigartigen, die dem Solo eine Stellvertreterfunktion (für eine größere Gruppe, für einen künstlerischen Werk-Korpus etc.) zuerkennen und es beispielsweise als künstlerische Visitenkarte oder individuelle Ausdrucksform ausweisen. Diese ‚Begleiter‘ des Solos sind zugleich Ausdruck einer (europäischen und nordamerikanischen) Tanzgeschichtsschreibung, die sich lange Zeit vor allem entlang einzelner Künstler-Persönlichkeiten und geprägt von den vorherrschenden Repräsentationspolitiken entwickelte und erst in den letzten Jahren den Kontexten und Arbeitsweisen von künstlerischen Projekten systematisch und in ihrer entsprechenden politischen und methodologischen Relevanz mehr Raum gibt.6 Darüber hinaus betonen sie zudem die ökonomischen Implikationen des Solo-Formats, die es trotz deutlicher Einschnitte in kulturpolitischen wie privaten Fördersystemen und in einem sich immer weiter ausdifferenzierenden Markt für experimentelle Kunst zu einem vergleichsweise kostengünstigen und international leichter zu verkaufendem künstlerischen Produkt machen.7 „A pet offers some kind of freshness, of realness that is life, shortly. But also it is in the realm of play. A pet that is really dangerous for the owner is no longer a pet. [...] Consumers, owners, those who give care and money are also a colorful world. [...] Some institutions value independence or others value their influence in terms of 8
owning or what the pet or the environment where it lives.“
Krõõt Juurak bringt in ihrer Lecture einige der Parameter zur Sprache, die bestimmend für das Verhältnis von Tanz und Institution sind: Themen von Kontrolle und gegenseitiger Einflussnahme, Definitionen von Besitzver-
6
Vgl. u.a.: Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009; Petra Sabisch: Choreographing Relations. Practical Philosophy and Contemporary Dance, München: epodium 2010.
7
Vgl. Gurur Ertem (Hg.): Solo? In Contemporary dance, Istanbul: BIMERAS
8
Juurak: The Responsibility of the Artist.
2009.
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hältnissen und Zugehörigkeiten (innerhalb der Künstlerschaft ebenso wie zwischen Künstlern und Institutionen) und Territorien (im Zusammenhängen mit realen Räumen, Probenstudios oder Residenzen aber auch weiter gefasst im Hinblick auf den Umgang mit mehr oder weniger transparenten Strategien der Auswahl- und Einladung), Fragen nach den praktischen und historischen Grundlagen und Bezugssystemen der Institutionen ebenso wie der institutionellen Ausbildungen. Exemplarisch zeigt sich die Institution anhand dieser natürlich nur bedingt verallgemeiner- und fassbaren Regelwerke als abstraktes Subjekt des Ermöglichens, des Raum-Gebens, des Verwaltens und Initiierens – aber auch der (ökonomischen, kuratorischen) Rahmung, der Einschränkung, der Manipulation und des Verhinderns von künstlerischen Prozessen und Diskussionen. In der Mobilisierung und Aktualisierung dieser Verhältnisse, in seiner „freshness“ und „realness“, wie Krõõt Juurak sagt, liegt zugleich ein potentieller Widerstand der Kunst und der Künstler: Wenn ein Tier zu wild ist, gilt es nicht mehr als Haustier. Die Praxis der Domestizierung sieht sich in ihrer (unausgesprochenen) Vereinbarung von Vorhersehbarkeit und Kontrolle im Prozess der Sinnproduktion selbst mit dem Eigen-Sinn, mit dem sich Entziehenden, mit dem NichtGeplanten, dem Zufall und dem Nicht-Wissen konfrontiert und öffnet dem Choreographischen – jenseits von seiner Funktion der Strukturierung und der Komposition – gestalterische und politische Räume des Eingreifens. „Commissioning is directly influencing the pet. But at the same time one can never know how and what the pet thinks exactly and this may be the key to the artist’s resistance. Recently there has been a lot of studies about artist’s thinking, their preferred styles and patterns of thinking. This has of course to do with what is the artist’s role in the society, depending on the artist’s will or on clever ideas – I don’t think so. But I just say that having pets is maybe a passing trend, but learning from them is not, and maybe the characteristics of the pet will stay, and this is the ability 9
to adapt to situations.“
9
Ebd.
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APORIEN DES Z USAMMENSEINS , WIR ‚ WIR ‘ SAGEN ?
ODER : WIE KÖNNEN
Verschiedene Entwürfe des Mit-Seins und des Gemeinschaftlichen und ihre Aporien haben in den letzten Jahren die Reflexion und die Praxis von Tanz und Performance geprägt. Im Zusammenhang mit meiner Arbeit als Dramaturgin in individuellen Projekten einzelner Künstler bzw. Künstlerkonstellationen als auch im Rahmen einer Institution wie dem Tanzquartier Wien denke ich an künstlerische Arbeitsweisen, die der Frage nach der Politik der individuellen und kollektiven Entscheidungsfindung zentralen Raum einräumen. Die Methode des Reformulierens, die der Künstlerzwilling deufert + plischke entwickelte, die Praxis der Real Time Composition des Choreographen und Performers João Fiadeiro oder auch die von Künstlern entwickelte Field-Methode, die versucht, ein nicht-hierarchisches Sprechen über die eigene ebenso wie der Arbeit anderer zu vermitteln, scheinen mir hierfür exemplarisch. Andere Entwürfe, wie z.B. im Rahmen des 2005 gegründeten Zusammenschlusses practicables, arbeiten an der Entwicklung einer kollektiven Körperpraxis, die von somatischen Körperpraktiken ausgeht und Recherche, Training und Produktion/Kreation von Bewegung in diesen Prozessen zusammendenkt. Zugleich lassen sich – um wiederum nur auf einige wenige Beispiele zu verweisen – Künstler wie Laurent Chétouane, der sich in Horizon(s) (2011) mit Fragen des Sinns, der Begründbarkeit und der Ethik von Bewegung beschäftigt oder die Choreographen Meg Stuart und Philipp Gehmacher nennen, die Begegnung in ihren Performances entlang der brüchigeren, leiseren, der nicht vollzogenen Linien des Gemeinschaftlichen denken.10 An diese und andere Untersuchungen des Mit-Seins erinnert es, wenn Krõõt Juurak das Augenmerk auf die Bedingungen und Bedingtheit der realen wie symbolischen ‚Domestizierung‘ der Kunst und ihrer Akteure legt. Dies kann im Zusammenhang mit einem Wandel der bereits seit den 1960er Jahren in der bildenden Kunst unter dem Schlagwort der Institutionskritik
10 Vgl. Kattrin Deufert/Sandra Noeth/Thomas Plischke: MONSTRUM. A book on reportable portraits, Berlin: books on demand 2009; www.joaofiadeiro.blogspot.com, www.practicable.info und www.thefield.org.
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geführten Diskussionen und ihrer aktuellen Entwicklung gelesen werden11: Sich abwendend von einem Denken der kategorialen Grenzziehung und Konfrontation der Aufgaben und Positionen von Künstler und Institutionen bzw. ihrer Mitarbeiter über eine Phase hinweg, die die Involviertheit der Künstler selbst in das ‚Feld Institution‘ und seine Gestaltung ins Zentrum rückte, sind jüngere Auseinanderetzungen zunehmend von gemeinsamen Diskussionen über die Möglichkeiten einer institutionskritischen Praxis bestimmt. Diese entfernen sich zunehmend von inhaltlichen, personellen, strukturellen o.a. Beschreibungen eines ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Vielmehr treten der Moment der Begegnung der beteiligten Akteure und das darin verhandelte reale wie symbolische Territorium als responsive Struktur in den Mittelpunkt.12 Diese Verschiebung hin zu der Annahme eines geteilten Grundes, der die Produktion, Vermittlung und Rezeption von Tanz und Performance gleichermaßen integriert und betrifft, lässt Fragen der Relationalität, von Nähe und Distanz, von Anerkennung und Verantwortung für das Denken einer institutionskritischen Praxis von zentraler Bedeutung werden. Ausgehend von der Annahme, dass es dabei nicht nur um die Darstellung von bestehenden Strukturen, Machtverhältnissen, kulturellen Kodes etc. geht, sondern Kunst immer auch an dem Denken alternativer Räume zum Erproben von Leben arbeitet, stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Tanz und Institution im Spannungsfeld von Kunst, Publikum und Zivilgesellschaft ebenso wie im Kontext der damit in Verbindung stehenden Wissensproduktion und Geschichtsschreibung als ein in Oszillation befindliche Bewegung gedacht werden kann: Zwischen Antwort und Verantwortung und sich eindimensionalen bzw. zu schnellen Zuordnungen von Effizienz und Kategorisierung entziehend, wird aus meiner Sicht die Idee des In-Bewegung-Versetzens grundlegend, in der vielgestaltige Setzungen, Projekte, Körper und Ideen aufeinandertreffen.
11 Vgl. Simon Sheikh: Notizen zur Institutionskritik unter: http://eipcp.net/trans versal/0106/sheikh/de, sowie: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.): Institutional Critique. An anthology of artists’ writing, Cambridge, Massachusetts: MIT-Press 2009. 12 Interessant ist, dass diese Prozesse auch von den Institutionen und den dort arbeitenden KuratorInnen und DramaturgInnen vorabgetrieben und beherbergt werden. Siehe z.B. Florian Malzacher/Tea Tupajic/Petra Zanki (Hg.): Curating Performing Arts, in: Frakcija Performing Arts Journal, Nr. 55, (summer) 2010.
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D RAMATURGIE : C OMMON G ROUNDS ? Mit Bezug auf das Verhältnis von Tanz und Institution gelesen, scheinen das Aufkommen und die Entwicklung der Diskussionen um den Ort und die Praxis des Dramaturgischen in Tanz und Performance in den letzten Jahren dieses Suchen nach einem gemeinsamen Raum aufzugreifen und zu bearbeiten.13 Ausgangspunkt dafür ist eine in Europa traditionell vorwiegend im Zusammenhang mit Theater und Drama geprägte Begriffsgeschichte, die mit Dramaturgie zugleich die Analyse wie auch die Gestaltung eines Texts bzw. einer Handlung und verschiedene Parameter und Instrumente (im Hinblick auf Zeit, Raum, Narrative, Figuren, Rhythmus, dem Verhältnis von Musik und Bewegung etc.) zur Strukturierung und zum Umgang mit der Aufmerksamkeitsökonomie des Publikums meint. Die damit in Verbindung stehende Theorie und Praxis des Dramaturgischen, die sich häufig anhand einer speziellen Rolle innerhalb eines Arbeitsprozesses konkretisiert und mit Konzepten des ‚ersten (neutralen) Beobachters‘ in Verbindung steht, hat sich anhand der Spezifik und der Wirkweisen verschiedener Medien auch für den Tanz ausdifferenziert und wurde in den letzten Jahren durch eine selbst-reflexive Community von Künstlern, der Entwicklung verschiedener methodologischer Recherche-Tools und neuer Räume und Formen des Austauschs und des Produzierens deutlich gewandelt. Sich vom Text loslösend und in Hinwendung zum Prozessualen lässt sich das Denken des Dramaturgischen zunehmend von dem Ausweisen einer bestimmten Rolle und ihr zugeordneter Tätigkeiten hin zu einer im Arbeitsprozess geteilten Praxis des Positionierens und Repositionierens verstehen. Vor dem Hintergrund temporär wechselnder Arbeitskontexte und eines sich stark veränderten Berufsbilds der Künstler, das meist klar über das ‚Kunstmachen‘ hinausgeht, entwickelt sich die dramaturgische Praxis über ihre strukturgebende Funktion hinaus als perspektivisches Instrument der Untersuchung eines geteilten Raums und der dort generierten Entscheidungen, Bezugnahmen und Begegnungen. Damit ist nicht die Festlegung oder die
13 Siehe z.B. die Schwerpunkte in Performance Research: On Dramaturgy, Vol. 4, H. 3, 2009, oder MASKA: the Dramaturgy of Dance, no 66-67, 2001. Siehe auch die theoretisch-künstlerischen Konferenzen Europäische Dramaturgie im 21. Jahrhundert, 26.-30.09.2007 in Frankfurt am Main oder die SDHS-Konferenz Dance Dramaturgy vom 23.-26.06.2011 in Toronto.
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Neudefinition eines formalen Regelwerks oder die Erzielung von Konsens ihr vorrangiges Ziel; auch geht es nicht um die Etablierung einer metakünstlerischen Dramaturgen-Figur. Das Potential von Dramaturgie als ein Element innerhalb künstlerischer Prozesse liegt dabei vielleicht mehr in einer möglichen Praxis der Teilhabe14, die sich an die Künstler ebenso wie an die Produzenten und Kuratoren richtet. Dies ist keine Absage an den Versuch, sich über Interdependenzverhältnisse von Form und Inhalt, von medialer und diskursiver Spezifik, von Dynamiken von Raum, Zeit und Bühne zu verständigen, am Umgang mit Affekten und der Kommunikation mit dem Publikum zu arbeiten und mit den lokalen Gegebenheiten umzugehen. Es geht nicht um ein Plädoyer für voraussetzungslose Offenheit oder eine Praxis, die sich prinzipiell von Kategorien oder Einordnungen abwendet. Entscheidend ist, dass nicht der Moment der Zuordnung und der Fixierung, sondern das Vermessen der Abstände zu den Ideen, der Stimme, dem Tun des jeweils anderen und das Nachvollziehen der Prozesse der Entscheidungsfindung in den Mittelpunkt rücken. In diesem Prozess zeigt sich Dramaturgie als KommunikationsArbeit, die sich nicht auf den Austausch mit den Künstlern beschränkt, sondern auch innerhalb der Institutionen und abhängig von deren jeweiliger Struktur die Zirkulation und den Rückfluss von Wissen und Austausch mitgestaltet. Dramaturgie ließe sich so verstanden als Arbeit an der Textur eines künstlerischen Projektes, das sich immer auch hin zum Gesellschaftlichen öffnet, auffassen. Dies impliziert sowohl für die KünstlerInnen als auch für die Institution, sich in einem rhizomatischen Bezugssystem immer wieder neu zu bestimmen und das eigene Tun hin zu seinem politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Außen zu öffnen15; ein Bewusstsein für die Momente des Umschlags herzustellen, in denen die eigene Praxis wie auch die des Anderen in Resonanz versetzt wird und sich im Moment der Begegnung mit dem Anderen stetig re-formuliert.
14 Vgl. Jean-Luc Nancy: Das Bild: Mimesis & Methexis, in: Jörg Huber (Hg.): Ästhetik, Erfahrung, Interventionen 13, Wien/New York 2004, S. 171-190. 15 Vgl. Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, Paris: Presses du Réel 2002; Gilles Deleuze/Felix Guattari: Rhizom, Berlin: Merve 1977; Boyan Manchev: La métamorphose et l’instant. Désorganisation de la vie, Strasbourg: La Phocide 2009.
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Dramaturgie fordert damit die Auseinandersetzung mit der Anatomie einer Entscheidung und das Bewusstsein für die Fiktionalität derselben, die ihre formale und diskursive Repräsentation immer schon in sich birgt.
I NSTITUTIONSKRITIK ALS ADRESSIERUNG VON H ANDLUNGSFÄHIGKEIT Dieser Moment des In-Bewegung-Haltens lässt sich in der Praxis anhand des Wechsels von medialen Formaten und Rollen (wie z.B. der Entscheidung von Krõõt Juurak, die Form des Vortrags für ihr künstlerisches Projekt zu bearbeiten) ebenso exemplarisch diskutieren wie am beschriebenen Beispiel der Dramaturgie im Zusammenhang mit choreographischen Projekten. Neben der kulturpolitischen und gesellschaftlichen Dimension zeigt sich eine weitere Herausforderung, die das Verhältnis von Tanz und Institution und eine darin weiter zu entwickelnde, handlungsfähige institutionskritische Praxis, betrifft. Dramaturgisches Denken und institutionelle Strukturen sind in beiden Fällen und in ihrer jeweiligen, immer auch miteinander verbundenen Praxis mit dem Aufeinandertreffen verschiedenster formaler, ästhetischer, persönlicher, struktureller, politischer u.a. Bedürfnisse und Stimmen ebenso wie impliziter und expliziter Machtverhältnisse und ökonomischer Parameter konfrontiert. Die im Alltag institutionell angebundener Dramaturgen, Kuratoren und Künstler bestehenden Zwänge sachlicher, finanzieller, ideologischer, öffentlichkeitswirksamer, kultur- oder produktionstechnischer Natur können dabei nicht ausgeblendet werden, aber müssen in einem temporären Raum der Zusammenarbeit immer wieder aufs Neue und im Dialog verhandelt werden. Ziel könnte es dabei sein, eine größtmögliche Transparenz für Entscheidungsvorgänge und die Konstruktion von Verstehensprozessen in der Herstellung von Produktions- und Präsentationsverhältnissen zu schaffen. Nicht immer geht es dabei ausschließlich um ein ‚Mehr‘ an Freiheit. Die gemeinsame Verantwortung liegt darin, die Aufmerksamkeit für die Resonanzen des eigenen Handelns und Denkens aufzubringen, sich die unterschiedlichen Anliegen klar zu machen und ihre Koexistenz zu organisieren. Das Choreographische entsteht in den Zwischenräumen von Künstlern, Institutionen und Publikum ebenso wie von Theorie und Praxis, wenn die Voraussetzung und Bedingungen der Teilhabe – in Anlehnung an Jacques Derridas Sprechen von der „beding-
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ten“ und „unbedingten Gastfreundschaft“16 und damit, in der Übertragung, die Voraussetzungen einer jeden Einladung, eines jeden Zusammenarbeitens, einer jeden Begegnung immer wieder neu befragt, ins Spiel gebracht und aufs Spiel gesetzt werden. In diesem wechselseitigen Verhältnis geht es also darum, Räume zu schaffen, die nicht am utopischen Anspruch der Gleichheit aller Akteure scheitern, sondern die im Moment des Sich-Öffnens, im Dialog mit den temporären Gemeinschaften des Publikums und der Kunst gleichermaßen, um die Verhandlung von Rechten und Pflichten wissen und in der Konsequenz auch die De-Stabilisierung von festen Wissens- und Analysekonzepten als Potential in ihre Arbeit zu integrieren suchen. Aus der Perspektive der Institution betrachtet bedeutet dies auch, sich für die Einfluss- und Übernahme der künstlerischen Prozesse zu öffnen und die dort generierten Diskurse und Praktiken aufzunehmen, um eine kritische Praxis entstehen zu lassen. Mehr als Ränder zu markieren oder zu verteidigen geht es um das Einsetzen für die künstlerischen Belange, und dies schließt neben den Bedürfnissen der Künstler und Künstlerinnen auch die der Institution und die eines lokalen und internationalen Publikums mit ein. Um Institutionskritik als eine handlungsfähige Praxis zu denken, können Tanz und Institution nicht als Subjekt-Objekt Relation sondern vielmehr in Perspektive auf ihre Interdependenzen, angenommen werden. Als Bewegung im Dazwischen, liegt die verbindende Bewegung des Choreographischen dann nicht im Festschreiben, sondern im Schritt zur Seite, in dem wir uns, zwischen Entscheidung und Verpflichtung, hin zu einem spielerischen und ungesicherten Antworten und im Verlassen der eigenen Position hin zum Anderen öffnen. Darin kann sich auch heute ein politische Potentials von Tanz und Performance und die von Krõõt Juurak angemahnte gemeinsame Verantwortung für eine handlungsfähige institutionskritische Praxis formulieren. „What is to be done? In Estonia there are some old people, still farming. And they don’t ask what will be done but what needs to be done. […] Things ask to be done. And in this sense it would maybe be good to ask us what needs to be done, what needs to be performed. This is the role of the artist.“17
16 Vgl. Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft, Wien: Passagen 2007. 17 Juurak: The Responsibility of the Artist.
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L ITERATUR Alberro, Alexander/Stimson, Blake (Hg.): Institutional Critique. An anthology of artists’ writing, Cambridge, Massachusetts: MIT-Press 2009. Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Paris: Presses du Réel 2002. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Rhizom, Berlin: Merve 1977. Derrida, Jacques: Von der Gastfreundschaft, Wien: Passagen 2007. Deufert, Kattrin/Noeth, Sandra/Plischke, Thomas: MONSTRUM. A book on reportable portraits, Berlin: books on demand 2009. Ertem, Gurur (Hg.): Solo? In Contemporary dance, BIMERAS: Istanbul 2009. Malzacher, Florian/Tupajic, Tea/Zanki, Petra (Hg.): Curating Performing Arts, in: Frakcija Performing Arts Journal, Nr. 55, 2010. Juurak, Krõõt: The Responsibility of the Artist, Lecture, 20.08.2008, Röhsska Museet, im Rahmen von Gothenburg Dance and Theatre Festival. Dies.: Autodomestication, Performance am 02.06.2009 im Tanzquartier Wien, siehe: http://autodomestication.wordpress.com/. Manchev, Boyan: La métamorphose et l`instant. Désorganisation de la vie, Strasbourg: La Phocide 2009. Jean-Luc Nancy: Das Bild: Mimesis & Methexis, in: Huber, Jörg (Hg.): Ästhetik, Erfahrung, Interventionen 13, Wien 2004, S. 171-190. Noeth, Sandra: Hospitality is not equal. Über Choreografie als gastfreundschaftlichen Raum, in: Tigges, S./Pewny, K./Deutsch-Schreiner, E.: Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance, Bielefeld: transcript 2010, 203-216. Performance Research, On Dramaturgy, Vol. 14, Nr. 3, 2010. Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie von Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswirst: Velbrück 2006. Ritsema, Jan: Illusionslos. Zur Zukunft der Kunst und der Künste, in: Kruschkova, Krassimira/Gareis, Sigrid: Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft, Berlin: Theater der Zeit 2009, S. 91-100. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berliner Taschenbuchverlag 2006. Simon Sheikh: Notizen zur Institutionskritik, unter: http://eipcp.net/trans versal/0106/sheikh/de (02.2011).
Der Kampf um künstlerische Belange Eine kleine Institutionskunde am Beispiel des Hebbel am Ufer P IRKKO H USEMANN
Institutionen für den Tanz gibt es im deutschsprachigen Raum einige. Richtet man das Augenmerk auf die Spiel- und Produktionsstätten für den Tanz, dann zählen hierzu zum Beispiel Tanzhäuser wie etwa das Tanzhaus nrw in Düsseldorf oder das Tanzquartier in Wien, aber auch etablierte Tanzfestivals wie etwa Dance München, Tanz im August in Berlin und ImPulstanz in Wien. Neben diesen auf Tanz spezialisierten Institutionen hat der Tanz auch in spartenübergreifenden Theatern wie etwa Kampnagel Hamburg, Theaterhaus Gessnerallee oder Hebbel am Ufer seinen Platz. So sehr sich diese Institutionen mit Blick auf ihre ästhetischen Profile, Organisationsformen und Zielgruppen auch unterscheiden mögen, so gleichen sie sich doch in ihrer grundlegenden Funktion: sie präsentieren und produzieren zeitgenössischen Tanz, bieten teilweise Profitraining für Tänzer und Residenzen für Choreographen an und vermitteln Tanz an ein lokales und/oder (inter-)nationales Publikum. Aufgabe der Tanzinstitutionen ist es also, Prozesse der Tanzproduktion, -distribution und -rezeption zu ermöglichen, zu bündeln, zu gestalten und zu regulieren – eine minimale Definition, die sich so schon in Peter Bürgers Theorie der Avantgarde findet. Dort beschreibt er die „Institution Kunst“1 wie folgt:
1
Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974, S. 29.
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„Mit dem Begriff Institution Kunst sollen [...] sowohl der kunstproduzierende und -distribuierende Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellungen über Kunst bezeichnet werden, die die Rezeption von Werken wesentlich bestimmen.“2
Bürgers Begriff der „Institution Kunst“ geht also über den Horizont einer einzelnen Institution hinaus, ist aber zugleich ohne die Beteiligung diverser Institutionen und der sie vertretenden Akteure nicht vorstellbar. Der kulturelle Auftrag einer Tanzinstitution, für dessen Erfüllung diese meist von öffentlicher Hand subventioniert wird, richtet sich grundsätzlich an Künstler und Zuschauer, d.h. an zwei Gruppierungen zwischen denen sie vermittelt und denen sie eine Art kollektiver Bedürfnisbefriedigung ermöglicht. Künstler erwarten von der Institution Koproduktionen oder Unterstützung bei der Suche nach Fördergeldern für ihre Stücke, sie nutzen Proben- und Aufführungsräume sowie künstlerisches, administratives und technisches Personal, und sie profitieren von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit einer Institution. Das Publikum wiederum verspricht sich von den Tanzhäusern, Theatern oder Festivals ein Programm, das sie kontinuierlich mit den wichtigsten Tendenzen des zeitgenössischen Tanzes versorgt und u.U. auch mit den dazugehörigen (künstlerischen und wissenschaftlichen) Diskursen vertraut macht. Oftmals gehört zur Vermittlungsarbeit auch die kulturelle Bildung, d.h. die Heranführung von Kindern und Jugendlichen an den Tanz mit dem langfristigen Ziel der Ausbildung eines ‚Publikums von morgen‘. Tanzinstitutionen kommt somit in erster Linie die Rolle der Ermöglichung und Vermittlung von Tanz zu, wobei sie immer auch eigene Inklusions- und Exklusionsmechanismen hervorbringen. Denn Institutionen bzw. ihre Vertreter (d.h. Intendanten, künstlerische Leiter, Dramaturgen, Kuratoren) müssen aus ästhetischen oder ökonomischen Gründen selektieren und festlegen, welche Künstler und Produktionen gefördert und präsentiert werden und welche nicht. Ebenso haben sie zu entscheiden, welche Zielgruppen sie ansprechen und mit ihrem Programm erreichen möchten. Solche Setzungen obliegen in der Regel den Intendanten bzw. künstlerischen Leitern und werden bei Gründung bzw. Übernahme einer Institution unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Kriterien vorgenommen. Hierzu zählen u.a. der
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Ebd., S. 29.
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persönliche Geschmack und die Affinität zu bestimmten Künstlern, Ästhetiken oder Fragestellungen, die räumliche und ökonomische Ausstattung einer Institution, vor Ort bereits vorhandene oder aber fehlende Angebote für das lokale Publikum, Desiderate in der nationalen oder internationalen Tanzlandschaft etc. Institutionelle Profile werden in der Regel also nicht einfach erfunden, sondern aus einer gegebenen Situation abgeleitet, wobei sie im laufenden Betrieb gleichzeitig eine gewisse Eigendynamik entwickeln, welche wiederum zur Profilierung der Institution, der Ausdifferenzierung des Tanzmarktes und Prägung eines jeweils spezifischen Tanzbegriffs beiträgt. Denn nicht jede Konsequenz einer vorgenommenen Setzung kann antizipiert werden, und auch bei der Auswahl des Programms werden nicht immer dieselben Maßstäbe angelegt. Trotzdem geben Tanzinstitutionen je nach ästhetischem Profil und Organisationsstruktur bestimmte Standards der Produktion, Distribution und Präsentation von Tanz vor. Hierzu zählen oft ein kurzfristiges, produktorientiertes, schnelles Arbeiten auf Projektbasis sowie eine möglichst effiziente Arbeitsteilung auf Seiten der Künstler und die optimale Terminierung von Produktionen oder Gastspielen aus Sicht der Veranstalter. Ebendiese aus der Sicht der Institution (und zumindest ursprünglich auch zum Nutzen der Künstler) entwickelten Standards bilden nicht selten den Stein des Anstoßes für eine von Künstlern und Kuratoren formulierte Kritik an der Macht der Institutionen. Im Folgenden sollen daher sowohl die Prozesse der Institutionalisierung des Tanzes und deren Effekte, als auch Gegenentwürfe mit institutionskritischem Impetus dargestellt werden. Einblick in eine Institution wird dabei am Beispiel des Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin gewährt, an dem ich seit 2008 als Kuratorin für Tanz tätig bin.3 Das HAU, das u.a. auch Tanz produziert und präsentiert, begreift sich seit Aufnahme seines Betriebs in der Saison 2003/04 als Spielstätte für die so genannte freie Tanz- und Theaterszene. Die Institutionskritik wiederum wird am Beispiel einzelner von Künstlerkuratoren konzipierten Veranstaltungen und Projekte veranschaulicht. Obwohl bzw. gerade weil diese Künstlerkuratoren einige ihrer Produktionen auch am HAU entwickelten bzw. zeigten, schufen sie sich früher oder später andere Rahmenbedingungen für die Tanzproduktion und -präsentation, die so am HAU nicht vorhanden oder zu etablieren sind. Die Gegen-
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Das Kuratieren von Tanz umfasst dabei sowohl die Betreuung der Tanzproduktionen und -gastspiele als auch die Programmierung der Tanzfestivals.
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überstellung der institutionellen Logik des HAU mit prozessorientierten Langzeitprojekten oder ungewöhnlichen Festivalformaten, die also gerade aufgrund der Kenntnis der Institution zustande gekommen sind, führt vor Augen, wo die Grenzen der Vereinbarkeit von choreographischer und kuratorischer Praxis verlaufen. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf einen künstlerisch-wissenschaftlichen Diskurs, der sich mittlerweile unter Stichworten wie bspw. „Kulturen des Kuratorischen“4 vor allem im Feld der bildenden Kunst etabliert hat und u.a. als privilegiertes Feld für die Reflexion der Institutionalisierung von Kunst gelten kann. So vage der Begriff des Kurators in der darstellenden Kunst derzeit noch sein mag, so bezeichnet er doch eine Funktion, die zwischen Kunst, Publikum und Institution zu vermitteln hat. Durch die Zusammenstellung einzelner Werke zu einem Gesamtkomplex leisten diejenigen, die für die Programmgestaltung eines Theaters oder Festivals verantwortlich sind, eine Produktion zweiter Ordnung, bei der meist nicht mehr der einzelne Künstler oder dessen Werk im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die Wechselwirkungen zwischen Kunst und ästhetischem, sozialem oder institutionellem Kontext. Motiviert wird diese Kontextualisierung immer zugleich durch die Belange und Interessen der Künstler, der Zuschauer und der Institution, was zwangsläufig eine Reihe von Konflikten mit sich bringt und Kompromisse erforderlich macht. Gerade aus diesem Grund wirft der Blick auf das Kuratieren aber auch die Frage nach den Möglichkeiten einer gemeinsam von Kuratoren und Künstlern geführten kritischen Reflexion der Institutionalisierung des Tanzes auf.
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Das HAU ist eine 2003 von Matthias Lilienthal gegründete GmbH, für die drei vorher unabhängige, aber räumlich nahe beieinander gelegene Spielstätten mit drei Probebühnen zusammengelegt wurden. Auf dem Programm
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So der Titel eines seit 2009/10 bestehenden und berufsbegleitenden MasterStudiengang an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Das Kuratorische wird dort als eine kulturelle Praxis definiert, die über das Organisieren von Ausstellungen oder Festivals hinaus sich zu einem eigenen Verfahren der Generierung, Vermittlung und Reflektion von Erfahrung und Wissen entwickelt.
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stehen – zumindest bis zum Wechsel der Intendanz im Jahr 2012 – Produktionen von lokalen, nationalen und internationalen Künstlern und Gruppen aus den Bereichen Theater, Tanz, Performance und Musiktheater, wobei vor allem ein „postdramatischer“ und gesellschaftskritischer Theaterbegriff dominiert. In der deutschen Theaterlandschaft steht das HAU damit für ein experimentelles und interdisziplinäres Programm, das von seinem künstlerischen Team nach quasi-soziologischer Manier gestaltet wird. Wie es in einem Porträt des HAU heißt, mag der künstlerische Leiter Lilienthal keine „Kunstkacke“, stattdessen reibe er sich lieber an der „Realitätskacke.“5 Aus seinem Jargon übersetzt, bedeutet das so viel wie die Ablehnung eines rein ästhetizistischen Kunstverständnisses zugunsten einer Öffnung des Programms für gesellschaftlich relevante Themen wie etwa Migration und Ökonomie. Hinzu kommt noch sein besonderes Interesse an dokumentarischen Verfahren und ortsspezifischen Arbeiten, was sich u.a. in Projekten wie dem performativen Parcours X-Wohnungen niederschlägt.6 Mit Blick auf die Lage (Berlin als Hauptstadt, Studentenstadt und Kulturmetropole, die sich besonders für ihre Kreativwirtschaft rühmt) und unmittelbare Nachbarschaft des HAU in Berlin Kreuzberg (einem immer noch sozial relativ schwachen Stadtviertel mit einer großen türkischen Community) wünschte sich Lilienthal zum Zeitpunkt der Gründung ein hohes Maß an Transparenz der Institution und street credibility, d.h. einer möglichst unprätentiöse Haltung sowie der Zugänglichkeit des Programms für die unmittelbaren Anwohner des Theaters – sei es als Künstler oder als Zuschauer. Mit dieser Ausrichtung setzte sich das Konzept des HAUs zum Zeitpunkt seiner Institutionalisierung im Jahr 2003 deutlich von bestehenden Theatermodellen ab, bei denen es sich aber gleichzeitig auch bediente: dem Stadttheater als Inbegriff der Institution Theater mit eigenem Ensemble und Stagione-Betrieb einerseits und dem so genannten Off-Theater andererseits, das sich ehemals in Abgrenzung von den schwerfälligen Theaterapparaten
5
Friedhelm Teicke: Hebbel am Ufer (HAU). Theaterkombinat der anderen Art, unter: http://www.hebbel-am-ufer.de/de/geschichte.html?HAU=2 (22.12.2010).
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X-Wohnungen ist ein durch schriftliche Anweisungen geführter Spaziergang durch private und halböffentliche Räume, in denen Künstler eigens für diesen Anlass entwickelte Kurzperformances entwickeln. Das Format wurde von Lilienthal konzipiert und bisher in zahlreichen Städten realisiert.
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definiert hatte. Zwar kam es schon seit Ende der 1980er Jahre zunehmend zu Überschneidungen zwischen Stadt- und Off-Theatermodellen, da Künstler aus der ‚freien Szene‘7 zunehmend auch als Gastregisseure an die großen Häuser eingeladen wurden und gleichzeitig mehr und mehr Institutionen für die ‚freie Szene‘ wie etwa das TAT in Frankfurt am Main oder Kampnagel Hamburg entstanden. Aber im Falle des HAU ging diese Form der Institutionalisierung mit einer dezidierten Politisierung einher. Es entstand eine Institution für die „freie Szene“, die sich nicht nur als Agent ihrer Künstler und Gruppen verstand, sondern zudem noch eine gesellschaftspolitische Mission verfolgte. Damit erreichte Lilienthal das größtmögliche Maß an Öffentlichkeit auf lokaler und internationaler Ebene, was im Jahr 2004 kurz nach der Eröffnung mit der Auszeichnung zum Theater des Jahres durch die Zeitschrift Theater der Zeit honoriert wurde.8 Auch die Diversität des relativ jungen Publikums9 und die Auslastung von 80% (zahlende Besucher 63%)10 zeugen von der hohen Akzeptanz des HAU beim Berliner Publikum. Wie aber schlägt sich ein solches programmatisches Profil in der Organisationsstruktur und Arbeitsweise eines Theaters nieder? Gezeigt und produziert werden am HAU zu etwa 50% internationale Gastspiele und zu 50% Produktionen von lokalen Künstlern, wovon ein nicht unerheblicher Anteil Migrationshintergrund hat. Statt eines festen Ensembles arbeitet das HAU mit einem leicht variierenden Pool von ca. 40 bis 50 Personen oder Gruppen über mehrere Jahre hinweg. Im Tanz sind dies z.B. die Berliner Constanza Macras/Dorky Park, Two Fish (Angela Schubot & Martin Clausen), Jeremy Wade, Simone Aughterlony, Eszter Salamon usw. Zu den internationalen Gastspielen zählen Künstler und Gruppen wie Alain Platel/ Les Ballets C de la B, Anne Teresa de Kaersmaeker/Rosas, Mette Ingvartsen, Yasmeen Godder, Xavier Le Roy und Jérôme Bel. Strukturiert ist das
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Die künstlerische Autonomie der Szene ist selbstverständlich vor allem aus fi-
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Vgl. die Pressestimmen anlässlich der Auszeichnung unter: http://www.hebbel-
nanziellen Gründen stärker eingeschränkt, als es der Begriff vermuten lässt. am-ufer.de/de/tdj.html (31.01.2011). 9
Der Altersdurchschnitt liegt bei 25 bis 35 Jahren, d.h. bei einer Klientel, die in der Regel nicht besonders zahlungskräftig ist.
10 Die hier und im Folgenden genannten Zahlen beziehen sich auf den aktuellen Stand im Jahr 2010.
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Programm des HAU durch zahlreiche Festivals und thematische Schwerpunkte, wofür es zwei Gründe gibt: Einerseits herrscht in Berlin ein enormer Wettbewerb um Aufmerksamkeit innerhalb der vielfältigen Theaterlandschaft, in der jedes Haus darum bemüht ist, eine jeweils eigene Nische inklusive des dazugehörigen Publikums und der medialen Öffentlichkeit zu besetzen. Andererseits spielt auch die Unterfinanzierung des HAU, das im Prinzip drei Spielstätten mit dem Budget von einer betreibt, eine Rolle.11 Drittmittel können bisher besser für größere Programm-Cluster mit mehreren beteiligten Künstlern als für einzelne Produktionen akquiriert werden. Sowohl die Lenkung der Aufmerksamkeit als auch die Zusatzfinanzierung lässt sich durch eine kurzfristige, schnelle und damit flexible Programmierung samt thematischer Fokussierung besser herstellen, als durch einen klassischen Stagione-Betrieb mit längeren Laufzeiten für weniger Produktionen, die eventuell lose unter einem Thema für die gesamte Spielzeit zusammengefasst werden. Resultat sind durchschnittlich drei Premieren pro Woche mit einer Laufzeit pro Produktion von ca. drei bis fünf Tagen. Der Spielbetrieb findet durchgehend in allen drei Häusern von Ende September bis Anfang Juli statt. Auf das Jahr hochgerechnet macht das also etwa 120 Produktionen und bis zu 440 Vorstellungen.12 Dieses Pensum ließe sich auch als dauerhafter Festivalbetrieb bezeichnen, womit im Prinzip sowohl die Idee eines Festivals als einmaliger oder herausragender Veranstaltung mit verdichtetem Programm ad absurdum geführt wird als auch die Selbstdefinition des HAU als Plattform für die ‚freie Szene‘ untergraben wird. Denn wo eine Themenorientierung im Vordergrund steht, ist eben nicht für jeden Künstler bzw. jede Produktion Platz. Angesichts dieser Festivalisierung der Institution liegt es auch nahe, kulturpolitische Weichenstellungen als Reaktion auf
11 Das jährliche Budget beläuft sich derzeit auf € 4,64 Mio. Förderung vom Land Berlin, wovon nach Abzug der laufenden Kosten für Personal und Miete aber unter Berücksichtigung der Einnahmen durch Kartenverkauf ca. € 1,2 Mio. künstlerisches Budget übrig bleiben. Daher werden jährlich um die € 1,1 Mio. über kommunale, nationale und europäische Stiftungen für die HAU-eigenen Veranstaltungen und Festivals akquiriert. 12 Ein kleines Rechenexempel zeigt, dass bei 120 Produktionen durchschnittlich nur ca. € 2.700 pro Vorstellung zur Verfügung stehen, was auch die Notwendigkeit einer regelmäßigen und umfassenden Drittmittelakquise erklärt.
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das ‚Modell HAU‘ zu interpretieren. Denn in jüngster Zeit deutet sich an, dass die Förderung von Festivals auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene von den Fördergremien erheblich eingeschränkt wird, da die Satzungen der Stiftungen streng genommen lediglich die Beurteilung von künstlerischen, nicht von kuratorischen Konzepten erlauben. Die Skepsis gegenüber einer um sich greifenden „Festivalitis“ ist also zumindest teilweise als steuernde Reaktion auf die derzeitige Konjunktur von Festivals bzw. der Festivalisierung von Theaterspielplänen zu interpretieren.13 Im Vergleich mit dem genannten output ist das HAU personell relativ schlank aufgestellt. Das Personal setzt sich zusammen aus 36 Festangestellten (Voll- und Teilzeit) und zahlreichen Freelancern, so dass die Fixkosten für Personal relativ gering sind und je nach Bedarf aufgestockt oder reduziert werden können. Die Zuständigkeiten innerhalb des Personals sind aufgrund der Menge und des schnellen Wechsels der zu betreuenden Produktionen und Gastspielen klar verteilt: Neben den Abteilungen Verwaltung, Produktionsbüro, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Haus- und Bühnentechnik arbeitet das HAU mit einem künstlerischen Team, das sich aus dem künstlerischen Leiter und fünf Kuratoren zusammensetzt, die für einen der Bereiche Theater, Tanz, Musik und Theaterpädagogik verantwortlich sind.14 In mehrmals wöchentlich stattfindenden Dramaturgie-Sitzungen werden alle inhaltlichen und organisatorischen Aspekte des Programms innerhalb dieses künstlerischen Teams besprochen und gemeinsam entschieden, wobei Lilienthal als Intendant und Geschäftsführer sowohl in inhaltlicher, personeller als auch finanzieller Hinsicht das letzte Wort hat. So wird der Informationsfluss zwischen den verschiedenen Disziplinen und Abteilungen gewährleistet und die Koordination der zahlreichen Veranstaltungen überhaupt erst möglich.
13 Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion von Festivals den Beitrag von Jennifer Elfert in diesem Band. 14 Zwar sind diese Bereiche im Blick auf das Gesamtprogramm (insbesondere von Festivals) nicht immer eindeutig zu unterscheiden. Dennoch werden auch Festivals mit Tanz, Theater und Musik meist von einer Person zusammengestellt, um eine programmatische Linie zu garantieren.
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I N - UND E XKLUSIONSMECHANISMEN
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Wer seine Arbeit am HAU präsentieren oder produzieren will, ist also zwangsläufig mit diesem ästhetischen Profil, dieser Organisationsstruktur und Arbeitsweise konfrontiert. Für Gastspiele von bereits fertig gestellten Produktionen hat dies – sofern sie aus finanzieller oder technischer Sicht auf einer der Bühnen des HAU realisierbar sind – weniger gravierende Auswirkungen. Entweder sie passen in das Profil des HAU bzw. in den thematischen Kontext eines Festivals oder nicht. Für den Tanz am HAU hat dies zur Folge, dass es Produktionen mit einem sozial oder politisch relevanten Thema wie etwa Familie, Revolution oder Urbanität besonders leicht haben, den ‚Geschmackstest‘ der Institution zu bestehen und von den Kuratoren ausgewählt zu werden. Stücke, die sich mit Phänomenen wie Zeiterfahrung, Berührung oder akustischer Wahrnehmung befassen, müssen meist ihre Relevanz jenseits der Kunst bzw. jenseits des Tanzes beweisen, bevor sie in die engere Auswahl kommen. In solchen Fällen kommt es vor, dass die Produktionen nur in einem bestimmten Zusammenhang (meist ein auf Tanz spezialisiertes oder thematisch kuratiertes Festival) gezeigt werden können. So ist es durchaus möglich, dass im Zuge der Planung eines Gastspiels klar wird, dass ein Künstler im regulären Programm des HAU nicht genug Aufmerksamkeit und damit nur wenig Publikum bekäme, so dass für ihn nur ein Tanzfestival in der nächsten Spielzeit in Frage kommt, das eine größere Vielfalt an Ästhetiken für ein breiteres Publikum anbietet. Bei Berliner Künstlern muss u.U. noch berücksichtigt werden, dass das HAU im Rahmen seiner Festivals ein primär internationales Programm anbietet, in das lokale Künstler nur vereinzelt integriert werden können. Diese Verkettung von Sachzwängen und den daraus resultierenden Entscheidungen für oder gegen eine Produktion bzw. für oder gegen bestimmte Auflagen führt manchmal dazu, dass diese für ein Gastspiel ‚gewaltsam‘ rekontextualisiert werden. Am Ende taucht dann ein Stück, das sich aus der Perspektive des Berliner Choreographen mit Virtuosität und Dilettantismus befasst, in einem thematischen Zusammenhang auf, der für ihn selbst gar nichts mit dem Thema der Produktion zu tun hat: also z.B. in einem europäisch-asiatischen Theaterfestival. Schwerwiegender sind die Folgen für diejenigen, die neue Arbeiten am HAU produzieren möchten. Denn bevor überhaupt produziert werden kann, müssen entsprechende Produktionsmittel beschafft werden, die das HAU
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aufgrund seiner Unterfinanzierung nicht oder nur zu einem sehr geringen Teil selbst zur Verfügung stellen kann. Solche Produktionsmittel sind immer seltener in Form von Koproduktionen verfügbar, sondern müssen zunehmend über kommunale, nationale oder internationale Fördertöpfe beschafft werden. Ob ein Projekt realisiert werden kann oder nicht, entscheidet sich also nicht nur bei den Kuratoren des HAU, sondern in der Regel ein bis anderthalb Jahre im Voraus in der Jurysitzung einer Stiftung. Somit sind es auch in erster Linie schriftliche Konzepte, und nicht choreographische Arbeiten, die für die Auswahl ausschlaggebend sind. Bei der Beantragung von Fördermitteln findet also zunächst eine Übersetzung des Tanzes in das Medium der Sprache bzw. Schrift statt, bevor es dann wieder umgekehrt von Konzepten in Choreographie zurück übertragen wird, wobei sich die Resultate natürlich z.T. erheblich von dem ursprünglichen Konzept unterscheiden können. Aufgrund der Abhängigkeit von zusätzlichen Fördermitteln ist es faktisch auch an der Tagesordnung, dass Berliner Künstler ihre Produktionsmittel gewissermaßen bereits ans HAU mitbringen und in der Phase der Antragstellung lediglich (ideell und fachlich) von der Institution unterstützt werden. Dies führt regelmäßig dazu, dass pro Antragsfrist mehr Anträge vom HAU eingereicht bzw. unterstützt werden, als überhaupt in einer Spielzeit untergebracht werden können. Durch den Selektionsprozess bei den Förderinstitutionen reduziert sich zwar die Anzahl der zu programmierenden Projekte, oft kommt es aber dennoch zu einer ‚Überbuchung‘ der Saison, die zwangsläufig die Verschiebung der ursprünglich geplanten Proben- und Aufführungsphase oder aber eine zusätzliche Verdichtung des Programms zur Folge hat. Nach gesicherter Finanzierung und Absprache eines für beide Seiten geeigneten Premierentermins stellt das HAU dann Raum, Personal und Dienstleistungen zur Verfügung. Die Arbeitsbedingungen sind in diesem Fall nicht immer ideal: Durch den schnellen Wechsel an Produktionen auf dem Spielplan des HAU stehen nicht für alle Künstler und Gruppen Probenstudios zur Verfügung. Zum Teil müssen sie daher externe Studios vor Ort anmieten. Auch Endproben unter ordentlichen technischen Bedingungen können bei einer Premiere gegen Ende der Woche in der Regel nur über drei bis vier Tage stattfinden. Organisatorisches und technisches Personal steht zwar für die Vorbereitung bzw. Durchführung der Proben in den Probenstudios des HAU zur Verfügung, aber eine kontinuierliche dramaturgische Begleitung sowie ein umfassendes Produktionsmanagement im Anschluss
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an die Premiere kann das HAU nicht leisten, weshalb es diese Dienstleistungen meist an freiberufliche Mitarbeiter delegiert. Hier zeigt sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen Selbstbild und Realität HAU: Eine Institution, die sich auf die Fahnen schreibt, für die ‚freie Szene‘ da zu sein, sieht sich aus den genannten finanziellen, organisatorischen oder räumlichen Gründen gezwungen, gerade diejenigen Prozesse auszulagern, die die künstlerische Produktion u.a. ausmachen. An die Stelle der Rundumbetreuung der Künstler und der Vermittlung ihrer Arbeit tritt somit die Verwaltung ihrer Betreuung und Vermittlung. Schon in einem Porträt des HAU als Theater des Jahres 2004 hieß es deshalb: „[Es] ist klar, dass Matthias Lilienthal keine Wärmestube für schutzbedürftige Künstler eingeweiht hat, die vom Theater vor allem erwarten, dass es Streicheleinheiten und regelmäßige Überweisungen verabreicht. Er hat auch kein neues Labor eröffnet, in dem junge Talente unbehelligt bis zum Sankt Nimmerleinstag experimentieren dürfen – sondern eine Plattform zur Verfügung gestellt, auf der es haltlos, zugig, also eher ungemütlich zugeht.“15
Für die Hinterfragung dieser Dynamik bleibt im Falle des HAU jedoch kaum Zeit. Meist sind es Ausnahmesituationen wie die Abweisung eines kuratorischen Konzeptes durch ein Fördergremium oder aber der Protest eines ‚aussortierten‘ Künstlers durch die Kuratoren, die die ‚Logik‘ der Institution plötzlich wieder in Erinnerung rufen: Geldmangel und Konkurrenzdruck führen zur Abhängigkeit von öffentlicher Förderung. Diese Abhängigkeit wiederum schränkt die Gestaltungsspielräume von Institution und Künstlern gleichermaßen ein. Denn sowohl die Arbeitsbedingungen der Künstler als auch die Betreuungsmöglichkeiten der Kuratoren werden in Mitleidenschaft gezogen. Eine Art Teufelskreis also, der zur Zeit der Gründung des HAU vermutlich als kleineres Übel betrachtet wurde oder – wie es ein Kommentar nahe legt – gar eine kritische Positionierung gegen die Produktionsmodelle der Staats- und Stadttheater bedeutete: „So aufrichtig diese Position im Moment auch sein mag – es wäre mitunter nicht
15 Eva Behrendt: Prinzip Pferdewette, unter: http://www.hebbel-am-ufer.de/de/tdj. html (31.01.2011).
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schlecht, wenn es zwischendurch Zeit, Raum und Kunst gäbe, die das Nachdenken genau darüber zuließen.“16 Dazu aber kommt es im laufenden Betrieb kaum. Stattdessen findet im Zuge der Programmgestaltung durch das künstlerische Team des HAU kontinuierlich eine unglaublich schnelle Entscheidungsfindung und Selektion nach einer Vielzahl von intern festgelegten Kriterien wie organisatorische und finanzielle Machbarkeit sowie Relevanz und Zugänglichkeit für das lokale Publikum statt. Die aus diesen Prozessen hervorgehenden Standards der Produktion, Distribution und Präsentation von Tanz, gelten nicht nur für das HAU, sondern auch für vergleichbare Institutionen, und lassen sich schematisch verkürzt wie folgt zusammenfassen: In der Regel entstehen Tanzproduktionen am HAU auf Projektbasis, d.h. dass Gelder, Räume und Mitarbeiter nur für eine einzige Produktion zur Verfügung stehen. Erst wenn die Finanzierung gesichert ist, können die Choreographen ihre Recherche betreiben, Proben durchführen und Arbeitsmaterial kaufen sowie Honorare für Produktion und Aufführung zahlen. Je kürzer die Produktionsphase, desto geringer die Ausgaben für künstlerisches und technisches Personal und für die Raummiete. Da die vorhandenen Produktions- und Fördermittel in der Produktionsphase meist vollständig ausgegeben werden beziehungsweise sogar ausgegeben werden müssen, kann ein finanzieller Gewinn (wenn überhaupt) erst durch anschließende Gastspiele erzielt werden. Je geringer die Zahl der beteiligten Personen, desto geringer der ‚Einkaufspreis‘ der Produktionen und desto größer wiederum die Chance für eine ausgiebige Tournee mit dem Effekt der Verbreitung und dem Versprechen zusätzlicher Einnahmen. Vor diesem Hintergrund bietet sich eine klassische Arbeitsteilung an. Unter der Prämisse, am Ende des verfügbaren Recherche- und des vereinbarten Probenprozesses ein künstlerisches Resultat zu präsentieren, engagieren die mit den entsprechenden Ressourcen ausgestatteten Choreographen die ihren Ansprüchen entsprechenden Mitarbeiter. Die Beteiligten (Tänzer, Dramaturgen, Manager, Techniker, Bühnenund Kostümbildner etc.) leisten als professionelle Spezialisten ihren Beitrag, indem sie ihre jeweiligen Kompetenzen im Sinne des Choreographen und der Produzenten einbringen. Das aus diesem Arbeitsprozess resultierende Bühnenstück muss dann grundsätzlichen Rahmenbedingungen entsprechen: es sollte bühnentechnisch möglichst unkompliziert und damit
16 Ebd.
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tourneefähig sein, eine durchschnittliche Spieldauer von 60 bis 90 Minuten nicht erheblich unter- oder überschreiten und je nach Kapazität der Spielstätte eine möglichst hohe Platzauslastung und damit entsprechende Einnahmen für die Institution garantieren. Deshalb muss schon bei der Terminierung eines Gastspiels oder einer Premiere berücksichtigt werden, dass eine angemessene Sichtbarkeit bei Presse und Publikum garantiert ist. Denn ohne Rezensionen keine akzeptable Auslastung, ohne ausreichende Auslastung nur geringe Einnahmen, und ohne Auslastung und Einnahmen keine Förderung für die Institution. Selbstverständlich obliegt es Künstlern und Veranstaltern, sich diesen Standards unterzuordnen bzw. zu widersetzen, aber zu umgehen sind sie nicht. Auch eine klare Zuweisung der Verantwortung für diese Zustände ist nicht ohne Weiteres möglich, denn es sind nicht nur Intendanten und Kuratoren, sondern auch Produktionsmanager und Künstler, die sich dieser ‚Logik‘ zumindest teilweise unterwerfen. Dennoch provozierte diese Sachlage gerade in der ersten Spielzeit des HAU heftige Kritik: „Künstler und Gruppen, die nicht am HAU auftreten dürfen, schimpfen über den ‚Monopolisten‘ Lilienthal, der aber keineswegs dazu verpflichtet ist, alle freien Berliner Gruppen auftreten zu lassen. Angesichts der Devise ‚Quantität vor Qualität‘ lassen sich Ausschlüsse jedoch schwer vermitteln.“17
ANSÄTZE DER I NSTITUTIONSKRITIK VON K ÜNSTLERKURATOREN So verwundert es auch nicht, wenn sich Künstler u.a. über die mangelnde Transparenz der der Programmpolitik zugrunde liegenden Kriterien empören. So teilt etwa Xavier Le Roy im Zuge eines Austauschs über die beste Platzierung eines seiner neuen Stücke per email mit, dass er mit der Logik der vom HAU angebrachten Argumentation nicht einverstanden sei: „I just argue because I work for dissensus before looking for a too fast consensus guided by norms that I don’t want to accept as ‚the law‘. This debate is a question of principle and an ethic I work for as far as I can. I can show the work any time but try
17 Behrendt: Prinzip Pferdewette.
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to make it in a context where it would resonate the most (from my understanding) and that is what I want to discuss. I am just fighting for a discussion that is proportionally more artistic then about production and interior-politic matters.“18
Dieser Kommentar eines der führenden Institutionskritiker im Tanz lässt ahnen, dass in der Tanzszene längst eine Debatte über die Macht der Institutionen und die Verantwortung ihrer Repräsentanten geführt wird. Manche Künstler machen aus der Not sogar eine Tugend, indem sie alternative Institutionen fordern oder selbst initiieren. So gründete Le Roy etwa seine eigene, wenn auch nur temporäre Institution, indem er im Jahr 2008 an dem von der Choreographin Mathilde Monnier geleiteten Centre Chorégraphique National (CCN) in Montpellier das Projekt 6M1L (für six months one location) organisierte.19 Von Sommer bis Winter 2008 lud Le Roy (der damals assoziierter Künstler am CCN Montpellier war) eine Gruppe von neun Künstlern sowie acht Studierenden des post-gradualen Programms EX.E.R.CE am CCN dazu ein, sechs Monate lang ununterbrochen an einem Ort zu verbringen und gemeinsam an eigenen Projekten zu arbeiten: „6M1L is a project that sets up special conditions in order to examine what they produce in terms of procedures, working methods, formats, discourse and ways of working together. The essential conditions are that the work 1) takes place in one location 2) lasts the duration of six months without interruption and 3) involves a number of people who each apply with a project of their own.“20
Grundidee war demnach in erster Linie die Realisierung eines von Künstlern selbst bestimmten Gegenentwurfs zu den vorhandenen Produktionsbedingungen in Residenzprogrammen, Theatern und Festivals mit dem Ziel der Entschleunigung, Verwurzelung und Kollektivierung künstlerischer Arbeit. 6M1L war aber auch als Plattform für das Experimentieren mit den Konzepten von Kreation, Produktion und Dokumentation sowie Lernen und
18 Xavier Le Roy in einer Email an Pirkko Husemann vom 12.02.2010. 19 Vgl. hierzu die aus der Veranstaltung hervorgegangene Publikation: Mette Ingvartsen (Hg.): 6 Months 1 Location (6M1L), everybodys publications, ohne Ortsangabe 2009. 20 Ebd., S. 12.
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Lehren gedacht. Dabei arbeitete jeder der Beteiligten in unterschiedlichen Funktionen und Konstellationen an mehreren Projekten gleichzeitig, und es fanden zwei international beworbene öffentliche Showcases unter dem Titel Les jours du spectacle statt. In Fortsetzung dieses Aufenthalts übernahm das Team von 6M1L dann im Juni 2009 das Festival In-Presentable in Madrid, das bis dato von dem Choreographen Juan Dominguez (einem der Teilnehmer von 6M1L) kuratiert worden war. Das Festivalprogramm setzte sich zusammen aus älteren und neueren Stücken der Künstler-Kuratoren, veranstaltet wurden aber auch Diskussionen mit internationalen Kuratoren über ihre Arbeitsethik. Ein weiteres Beispiel für ein von Künstlern konzipiertes Veranstaltungsmodell ist das im Dezember 2010 parallel in Madrid und Berlin organisierte Living Room Festival, dessen viertägiges Programm in den Wohnzimmern der beteiligten Künstler präsentiert wurde. Anlass für dieses Doppel-Festival war die Tatsache, dass der reguläre Veranstaltungsbetrieb von Theatern oder Festivals kaum Gelegenheit bietet, ältere oder noch unfertige Produktionen (work in progress) zu präsentieren. Deshalb beschlossen die in Madrid lebende Performerin Maria Jerez und der in Berlin lebende Tänzer und Choreograph Jefta Van Dinther (auch Teilnehmer von 6M1L) sowie eine Gruppe von befreundeten Tänzern, Choreographen und Wissenschaftlern, sich auf eigene Faust einen informellen und vergleichsweise intimen Rahmen zur Präsentation der eigenen Arbeiten zu schaffen: „One festival and two different programs designed to trigger your curiosity, as well as ours. Simultaneously in Madrid and Berlin, four days of experiments, you and us together, during which we will consider our works as devices to create relations instead of objects to consume. We will show you old works, that have already had their time and would most likely never be programmed again, or that didn’t find the right context to be presented in. We will displace them to our living rooms to see how this new frame will transform them and give rise to new meanings. We will also present works that have never been shown in your city, works in progress and other experiments. Between the different events, there will be time to talk together, or to chill and lie down on soft pillows and blankets. Entrance is free, places are limited, drinks are cheap.“21
21 Vgl. http://livingroomfestival.wordpress.com (31.01.2011).
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Im Vergleich mit 6M1L und In-Presentable steht beim Living Room Festival also weniger die Entschleunigung und Verwurzelung des Produzierens oder die Pluralisierung von Autorschaft im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Wahl eines privaten Veranstaltungsortes, der automatisch andere räumliche und technische Bedingungen, aber auch eine weniger marktförmige Festivalatmosphäre mit sich bringt. Gemeinsamkeit aller drei Projekte ist die Tatsache, dass sie so gut wie alle oben beschriebenen Standards der Produktion, Distribution und Präsentation von Tanz am HAU zu konterkarieren versuchen: die stattfindenden Arbeitsprozesse sind nicht primär produktorientiert, die Produktionsprozesse unter ökonomischen Kriterien relativ ineffizient und die Resultate in Form der Festivals kaum für ein breites Publikum von Interesse. Unkonventionell ist auch die Form der Zusammenarbeit innerhalb von flachen Hierarchien, da die Verantwortlichkeiten der an Konzeption, Organisation und Präsentation der Projekte Beteiligten nicht eindeutig zugeordnet werden können. Schließlich entsprechen die gewählten Präsentationsformate nur selten den an Institutionen wie dem HAU üblichen Standards, da nicht nur fertig formatierte Tanzproduktionen, sondern auch Ausschnitte aus einem Produktionsprozess oder ‚veraltete‘ Produktionen präsentiert werden. Diese Befreiung von und Kritik an institutionellen Standards ist jedoch in der Regel nur unter Umgehung bestehender Institutionen und mit Hilfe der Etablierung alternativer Modelle möglich.
V ERINNERLICHUNG
DER I NSTITUTIONSKRITIK
Diese Modelle samt ihrer Dokumentationen wirken zwar relativ hermetisch, werden aber durchaus von Veranstaltern wahrgenommen und zum Teil auch in die Programme der Institutionen integriert.22 Die institutionskritische Haltung der Künstler führt also dazu, dass die Institutionen ihre
22 Eine ausführliche Darstellung dieser Integrationsversuche und -möglichkeiten sowie die Konsequenzen für die ‚Formatierung‘ von kritischen Haltungen habe ich am Beispiel eines anderen Langzeitprojektes von Xavier Le Roy mit dem Titel E.X.T.E.N.S.I.O.N.S. vorgenommen. Vgl. hierzu Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009, S. 128-166.
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eigenen Mechanismen reflektieren, aktualisieren und gelegentlich auch den veränderten Bedürfnissen der Künstler anpassen. Dennoch passiert dies meist noch durch die Assimilierung alternativer Modelle, also durch die Integration einer von außen an die Institution heran getragenen Künstlerkritik und weniger durch eine von vorne herein von den Institutionen verinnerlichte Kritik. Folgt man der Kuratorin Sigrid Gareis23, so lässt sich zwar ein gesteigertes Interesse an Institutionskritik im Tanz ausmachen, das sich u.a. in der gesteigerten Bereitschaft zur Reflexion der Kuratierens durch die Kuratoren selbst niederschlägt. Dennoch steht der Tanz noch ganz am Anfang einer schrittweisen Entwicklung, die sich in der bildenden Kunst bereits seit den 1960er Jahren vollzogen hat. In Anlehnung an Gerald Raunig und Stefan Nowotny24 umreißt Gareis den Weg der Institutionskritik in der bildenden Kunst hin zu ihrer vorerst letzten Stufe, dem New Institutionalism, wie folgt: Kritik wird heutzutage nicht länger nur von außen (von Künstlern) an die Institutionen herangetragen. Ebenso wenig endet sie mit der Erkenntnis, dass auch Künstler unweigerlich in institutionalisierende Prozesse verstrickt sind. Stattdessen wird die Kritik von den Institutionen durch die Kuratoren quasi verinnerlicht. Diese Einverleibung der Kritik durch die Beauftragung von Kuratoren ist also nicht einfach mit der Assimilierung von Kritik durch die Institution gleichzusetzen. Letztere wurde von den Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello mit Blick auf den Kapitalismus ausführlich untersucht: „Er ist auf seine Gegner angewiesen, auf diejenigen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen, um die fehlende moralische Stütze zu finden und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen, deren Relevanz er sonst nicht einmal erkennen würde.“25
23 Vgl. hierzu Sigrid Gareis: ‚New Institutionalism‘ und Kritik. Zum Transfer des Begriffs ‚Kurator‘ in das Feld der darstellenden Kunst, unter: http://www. corpusweb.net/new-institutionalism-und-kritik.html (31.01.2011). 24 Gerald Raunig/Stefan Nowotny: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien: Turia & Kant 2008. 25 Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003, S. 68.
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Der New Institutionalism geht jedoch noch einen Schritt weiter. Indem Kuratoren dazu engagiert werden, die eigenen Institutionen in deren Funktionsweise zu hinterfragen oder sie zumindest temporär neu zu konzipieren, arbeiten sie zugleich für und gegen die ‚Institution Kunst‘. Dass diese Aufgabe der internalisierten Kritik eine große Herausforderung bedeutet und keineswegs automatisch zu kritischen Institutionen, sondern primär zur Theoretisierung des Kuratierens führt, lässt sich u.a. an einer Vielzahl von Publikationen und Veranstaltungen zum Thema festmachen. So widmeten sich etwa eine Ausgabe der kroatischen Zeitschrift Frakcija26 und eine Tagung im Rahmen der Veranstaltungsreihe Explorationen27 auf PACT Zollverein in Essen dem Kuratieren als einer Praxis, die bisher weder im Feuilleton noch auf wissenschaftlicher Ebene angemessen thematisiert und analysiert wurde. Im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen dabei sowohl die Übertragung des Begriffs aus der bildenden in die darstellende Kunst, die Verantwortung der Kuratoren in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Publikum und Künstlern, ein noch genauer zu bestimmender Ethos dieses Berufsstandes sowie die Unterschiede und Wechselwirkungen zwischen dem Kuratieren in den unterschiedlichen Künsten. Die wohl konsequenteste Zuspitzung dieser Entwicklung findet sich jedoch in einem künstlerischen Projekt mit dem Titel The Curatorsʼ Piece von Petra Zanki und Tea Tupajic (beide Tänzerinnen und Mitherausgeberinnen der oben genannten Ausgabe von Frakcija). Im Falle dieses für Ende 2011 geplanten Stückes mit und über Kuratoren wird die Diskussion über das Kuratieren zum Gegenstand einer Bühnenproduktion, für die Kuratoren als Akteure auf die Bühne geholt und gleichzeitig als Koproduzenten der Produktion verpflichtet werden.28 Was auch immer am Ende auf der Bühne zu sehen
26 Florian Malzacher/Tea Tupajic/Petra Zanki (Hg.): Curating Performing Arts, Frakcija Performing Arts Journal, Nr. 55, summer 2010. 27 Explorationen 11 – Beyond Curating. Strategies of Knowledge Transfer in Dance, Performance and Visual Arts wurde von Sigrid Gareis, Stefan Hilterhaus und Christine Peters konzipiert und fand vom 28. bis 30.01.2011 in Essen statt. Unter: http://www.pact-zollverein.de/deutsch/veranstaltungen/2011/1101exploratio nen11.html (31.01.2011). 28 Vgl. hierzu die Website des Projekts unter: http://www.curatorspiece.net/ sowie den Artikel von Tea Tupajic/Petra Zanki: E-Mail to a Curator. An introduction to The Curatorsʼ Piece, in: dies. (Hg.): Curating Performing Arts, S. 89-93.
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sein wird: The Curatorsʼ Piece wirft die Frage nach den Möglichkeiten einer gemeinsam von Kuratoren und Künstlern geführten kritischen Reflexion der Institutionalisierung von darstellender Kunst auf und überführt sie in ein für Künstler, Zuschauer und Kuratoren kompatibles Format. Mit Gerald Raunig ließe sich diese von Zanki und Tupajic an ausgewählte Kuratoren und Institutionen herangetragene Möglichkeit zur verinnerlichten Institutionskritik als Ansatz zu einer instituierende Praxis verstehen. Eine Praxis, die einsetzt statt festsetzt, Teilhabe ermöglicht und somit in erster Linie Relationen und Öffnungen herstellt, statt sich zu verschließen und sich in der eigenen Organisation abzusichern: „Kon-stituierende Macht als Zusammen-setzung, die sich selbst verfasst in einem kollektiven Prozess.“29 Für eine Institution wie das HAU würde ein solcher Versuch der Instituierung (statt Institutionalisierung) eine große Herausforderung bedeuten, denn zu dem bereits vorhanden Willen zur Gesellschaftskritik müsste sich die Bereitschaft zur Institutions- und Selbstkritik gesellen. Die Aussichten hierfür wären vermutlich weniger schlecht gewesen als es angesichts der oben beschriebenen Strukturen scheint, denn Lilienthal ist der Auffassung, für jegliche Art von Tabubruch bereit zu sein: „For me, managing such a theatre house has something to do with the desire of taking politically cultural positions. A place like HAU can always be redefined – also as a place for making politics. [...] In principle, it is like this: Whenever I see a taboo, I start itching.“30
Aber angesichts der Tatsache, dass seine Intendanz im Jahr 2012 endet, wird es kaum mehr zu einer Selbstanalyse des HAU durch seine Kuratoren kommen. Lediglich die dann zusammen mit Lilienthal ‚freigesetzten‘ Kuratoren oder aber das nachfolgende Team könnten eine Kritik der institutionellen Vernunft zum Ausgangspunkt nehmen, um sich neue Wirkungsfelder zu suchen bzw. das Profil der Institution zu aktualisieren.
29 Gerals Raunig: Instituierende Praxen, No.2. Institutionskritik, konstituierende Macht und der lange Atem der Instituierung, unter: http://eipcp.net/trans versal/0507/raunig/de (31.01.2011). 30 Matthias Lilienthal in einem Beitrag zum Thema „Society“ im Curatorʼ Glossary, in: Malzacher/Tupajic/Zanki (Hg.): Curating Performing Arts, S. 112f.
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L ITERATUR Behrendt, Eva: Prinzip Pferdewette, unter: http://www.hebbel-amufer.de/de/tdj.html (31.01.2011). Boltanski, Luc/Chiapello, Ève : Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974. Gareis, Sigrid: ‚New Institutionalism‘ und Kritik. Zum Transfer des Begriffs ‚Kurator‘ in das Feld der darstellenden Kunst, unter: http:// www.corpusweb.net/new-institutionalism-und-kritik.html. Husemann, Pirkko: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009. Ingvartsen, Mette (Hg.): 6 Months 1 Location (6M1L), everybodys publications, ohne Ortsangabe 2009. Malzacher, Florian/Tupajic, Tea/Zanki, Petra (Hg.): Curating Performing Arts, in: Frakcija Performing Arts Journal, No. 55, summer 2010. Raunig, Gerald: Instituierende Praxen, No.2. Institutionskritik, konstituierende Macht und der lange Atem der Instituierung, unter: http://eipcp.net/transversal/0507/raunig/de (31.01.2011). Ders./Nowotny, Stefan: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien: Turia & Kant 2008. Teicke, Friedhelm: Hebbel am Ufer (HAU). Theaterkombinat der anderen Art, unter: http://www.hebbel-am-ufer.de/de/geschichte.html?HAU=2 (22.12.2010).
I NTERNETQUELLEN http://www.hebbel-am-ufer.de/de/tdj.html (31.01.2011). http://www.allianz-kulturstiftung.de/en/projects/performing_arts/6m1ls_ extensions/index.html (31.01.2011). http://livingroomfestival.wordpress.com (31.01.2011). http://www.pact-zollverein.de/deutsch/veranstaltungen/2011/1101ex plorationen11.html (31.01.2011). http://www.curatorspiece.net (31.01.2011).
Das Festival als (flüchtige) Institution Perspektiven für den zeitgenössischen Tanz in Deutschland J ENNIFER E LFERT
1994 wird der zuvor nur einem kleinen Kennerkreis bekannte Theaterkünstler und Choreograph Jo Fabian mit gleich zwei Produktionen zu einem der bedeutendsten Theaterfestival Deutschlands eingeladen. Das Deutsche Theatertreffen zeigt Whisky & Flags und Keine Gnade (beide 1993) – es ist ein erster Schritt für Fabian in die ‚obere Liga‘ des Tanztheaterbetriebs und in die Festivalszene. Ähnlich ergeht es 2004 der jungen Choreographin Antje Pfundtner. Ihr ein Jahr zuvor produziertes Solo eigenSinn (2003) wird auf der Internationalen Tanzplattform erstmals einem größeren internationalen Publikum vorgestellt und tourt seitdem bis heute weltweit. Fabians wie Pfundtners Karrierestart sind zwei Beispiele dafür, wie Festivals dazu beitragen können, Künstlerbiografien zu steuern, Karrieren zu generieren und zu befördern. Es ist kein Zufall, dass der Rahmen des Festivals bei beiden Künstlern als Katalysator für ihre Etablierung in der Tanzszene gewirkt hat – die Präsentation ihrer Arbeiten auf einem renommierten Festival hat beinahe planmäßig zum Erfolg geführt. Auch in diesem Sinne können Festivals als Organisationsform heute mit Fug und Recht als Institutionen im Kultursektor bezeichnet werden. Vielmehr noch aber definieren sie den Begriff der Institution neu – und das über alle Genregrenzen hinweg. Das Entscheidende an ihrem Auftreten im Kultursektor ist, dass sie Flüchtigkeit als ein für Institutionen zentrales Charakteristikum salonfähig gemacht haben. Kaum ein Theater- und Tanzhaus, das heute auf
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die ‚Ausnahme‘ des Festivals und seine integrierende und zugleich wandelnde Kraft und Anziehung verzichten könnte. Der Verdacht liegt nahe, dass der Tanz, der sich aus der Bewegung und der Beweglichkeit generiert und leichter nationale Grenzen überschreitet, prädestiniert ist für diese Organisationsform. Im Folgenden soll es um die institutionelle Qualität von Festivals gehen beziehungsweise ihre Eigenschaft, sowohl flüchtig zu sein als auch stabilisierend zu wirken. Festivals nutzen ihre institutionalisierte und institutionalisierende Kraft, um Experimente und Neuerungen im zeitgenössischen Tanz durchzusetzen und gegenüber den Interessen, die von Politik und Wirtschaft an Kunst herangetragen werden, zu vertreten. Die folgende Argumentation wird zeigen, dass sich die Begrifflichkeiten Festival und Institution keinesfalls ausschließen, sondern (nicht nur) für den Tanz in Deutschland eine mehr als sinnfällige Liaison eingehen, um neue Perspektiven für Produktionskooperationen, das Voranschreiten der Avantgarde und die Entwicklung des Nachwuchses zu eröffnen. Denn der zeitgenössische deutsche Tanz, der sich seit den 1970er Jahren neu formiert und konsolidiert hat, findet eine Kondensation seiner Fähigkeiten in Festivals. Die Entwicklung des neuen deutschen Tanzes fällt dabei zusammen mit den Umwälzungsprozessen der siebziger Jahre, in der Folge der 68erBewegung. Als sich der zeitgenössische Tanz ‚erfindet‘, sind Festivals im heutigen Sinne gerade en vogue. Einen ähnlichen historischen Zusammenfall zwischen politisch-sozialen Umwälzungen und der Positionierung des Tanzes im Festival findet sich zwanzig Jahre später erneut. Festivals wie DANCE (München), Tanz im August (Berlin), Tanztheater International (Hannover), transeuropa (Hildesheim), Tanzplattform Deutschland (Berlin), euroscene Leipzig, TANZOFFENSIVE (Leipzig), plateaux (Frankfurt am Main), Freischwimmer (Hamburg u.a.) markieren seit dem Jahr 1990 nicht nur eine Zäsur, sondern sind wichtige Instanzen von Wissensvermittlung und Konzentrationspunkte künstlerischer und kulturpolitischer Energien. Viel wichtiger aber als die historische Korrelation zwischen Festivalund Tanzentwicklung ist der Umstand, dass Festivals als unabhängiges Format zur Produktion neuer Kunst auf genuine Bedürfnisse des Tanzes antworten. Denn als ‚Ausnahmesituation‘ leben Festivals von ihrer Flüchtigkeit und davon, dass sie Ereignisse, also nicht prognostizierbare Situationen präsentieren. Während seiner Aktualisierung bezieht sich das Festival
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stark auf den ihn umgebenden Raum und zieht seine Energie aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem ‚Gerade noch da‘ und dem ‚Schon wieder verschwunden‘. In der kurzen Spanne seiner Aktualisierung muss es die Chance nutzen, die Besucher in seinen Bann zu ziehen. Es handelt sich also auch um eine ästhetisch-künstlerische Verwandtschaft, die Tanz und Festival verbindet. Inwiefern diese Nähe zwischen Kunst und Organisationsform mit dem stark pejorativ verwendeten Begriff der Institution in Wechselwirkung steht, wird im Folgenden nachgegangen.
I NSTITUTION UND F ESTIVAL –
KONTRÄRE
B EGRIFFE ?
Für das Verständnis des Verhältnisses zwischen den Begriffen „Institution“ und „Festival“, die in der Festivaldiskussion lange Zeit regelrecht antagonistisch verwendet wurden, muss auf die Entwicklung von Kunstfestivals im deutschen Kontext rekurriert werden. Pointiert gesagt, ist es ein quasi antiinstitutionelles Pathos, das die Entwicklung vieler Festivals nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland grundiert. Es ist also alles andere als selbstverständlich, beide Begriffe in einer Überschrift nebeneinander zu stellen. Die ersten deutschsprachigen Performancefestivals der Avantgarde unternehmen den Versuch, sich abseits der ausgetretenen Pfade und der Selbstverständlichkeiten im Kulturbetrieb zu positionieren sowie Kunst wieder zum Ereignis zu machen. „Institution“ gilt in den 1970er/80er Jahren als Schmähwort,1 als Inkarnation des Überkommenen und Rückständigen, der Stagnation.2 Hinter dieser Geringschätzung verbirgt sich vornehmlich das Bedürfnis, einer unangepassten, nicht in übliche Formate pressbaren Kunst ihren adäquaten Raum zu geben und sich jenseits des geregelten und scheinbar politisch und ästhetisch gebrandmarkten ‚Beamtenkulturbetriebs‘ zu positionieren. Während in den Jahrzehnten zuvor die Gründung von Kunstfestivals in Deutschland in der Überzeugung geschah,
1
Vgl. Franz Willnauer: Franz: Festspiele und Festivals in Deutschland, hg. vom Deutschen Musikrat, Bonn 2005, vgl. http://www.miz.org/static/themenpor tale/einfuehrungstexte_pdf/03_KonzerteMusiktheater/willnauer.pdf vom 07. Januar 2011, S. 8.
2
Auch Wagners Planungen für sein heute so musealisiert wirkendes Festspielprojekt wurden von einem institutionskritischen Impuls grundiert.
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das Trümmerfeld, das das Naziregime hinterlassen hatte, durch kulturelles Aufschließen an die Siegermächte zu verlassen und die eigene Entwertung zu verschleiern, versuchten die Festivals der 1970er und 1980er Jahre eine neue, befreiende Richtung einzuschlagen. Ein an diese Zeit angelehntes Pathos, das in der Institution seinen Feind erkennt, wird auch heute noch gelegentlich bemüht. So schreibt der Festivalmacher und Künstler Peter Sellars: „Festspiele [als anderer Begriff für Festivals] sind eine Ausnahme von der Regel. Ein Theater, ein Museum, das sind Institutionen, die jeden Tag die Türen öffnen müssen. Die Toiletten müssen funktionieren, die Air-Condition-Anlage muß funktionieren. Das sind Institutionen der Regierung, und Institutionen dienen sich selbst und nicht der Kunstform, nicht dem Volk, sondern nur den Menschen, die sie betreiben. […] Die Schönheit der Festspiele liegt darin, daß sie als Strukturen flexibel sind. […] hier geht es darum, daß es in der Kunst eigentlich um eine totale Umkehr geht.“3
Sellars bezieht sich offenkundig auf die landläufige und scheinbar augenfällige Bedeutung des Begriffs Institution. Als Institutionen werden gemeinhin Behörden, Häuser der Kultur oder auch auf die eine oder andere Weise einflussreiche Menschen bezeichnet, die zwar nicht mehr zwangsläufig zweckmäßig und hilfreich sein müssen, aber als Institution ihren gesellschaftlich Stellenwert wahren können. Ihre Daseinsberechtigung wird nicht infrage gestellt, denn sie sind musealisiert und dadurch widerspruchsfrei etabliert. Hierzu zählen sicherlich einige Festivitäten wie lokale Feste – aber auch einige Tanzfestivals wie die in Wolfsburg angesiedelten „Movimentos“ Festwochen lassen sich zu dieser Kategorie rechnen.4 Sie sind oft integraler Teil des Stadtbilds, bieten Kontinuität und begründen Identitäten. Auf Institutionen im Kulturbereich gemünzt, wird diese Form
3
Peter Sellars: Festivals, vgl. http://www.festspielfreunde.at/deutsch/dialoge2001/15_Sellars.pdf (06.01.2011).
4
Man beachte die dezidierte Kennzeichnung als „Festwochen“ – ein Terminus, der ähnlich wie „Festspiel“ als Abgrenzungsvokabel eingesetzt wird und verdeutlichen soll, dass das präsentierte Programm ‚klassischer‘ Natur ist, also hauptsächlich im Sinne eines Bildungsbürgertumsverständnis von Kunst gelagert ist: Jazz, Klassik, Ballett.
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der Kontinuität jedoch regelmäßig als Angestaubtheit gedeutet, Institutionen als antiquiert und von innen heraus ausgehöhlt bewertet. Selten wird ihnen attestiert, dass sie Innovationen fördern oder gar generieren können. Um diesen speziellen Zug soll es jedoch im Kontext von Festivals gehen. Denn Festivals sind interpretierbar als institutionalisierte Verdichtung von Experiment, Innovation und produktivem Dissens.5 Institutionen werden am Beispiel von Tanz- und Theaterfestivals lesbar als lebendiger Rahmen, der Sicherheit bietet, aber nicht in Bürokratisierung erstarrt. Festivals kommt daher die Aufgabe zu, den Grenzgang zu bewältigen, das Neue unter dem Deckmantel des planmäßigen, kulturpolitisch Sinnvollen durchzusetzen – natürlich immer unter der Prämisse, die Avantgarde bei allen notwendigen Manövern nicht zu boykottieren. Es gilt, das folgende, von Dorothea von Hantelmann entworfene Szenario zu vermeiden: „In dem Moment jedoch, als die Avantgarden selbst historisch wurden, scheiterten sie letztlich an der integrativen und reintegrierenden Macht genau der Konventionen, die sie versucht hatten zu überwinden.“6 Doch sind Konventionen nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit Institutionalisierung. In Gegensatz zur landläufigen Definition von Institution als Hemmschuh stehen nämlich durchaus konkurrierende Deutungen des Begriffs, die in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen vorherrschen. In der Soziologie etwa werden Institutionen definiert als „Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln […], die verbindliche Geltung beanspruchen“.7 Es handelt sich mit anderen Worten um Regelsysteme, die gesellschaftliche Allgemeingültigkeit reklamieren können. Sie müssen sich an-
5
Wegen ihrer besonderen Eignung dazu, neue ästhetische Wege vorzuschlagen, wird an Festivals zugleich die Forderung herangetragen, dies möglichst immer und auf einem gleich bleibenden Niveau zu tun. Aus dem Experimentierfeld kann so die Pflicht zur Innovation werden.
6
Dorothea von Hantelmann: How to do things with art. Zur Bedeutsamkeit der
7
Hartmut Esser: Institutionen. Aus der Reihe ‚Soziologie, spezielle Grundlagen‘,
Performativität von Kunst, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, S. 8. Bd. 5, Frankfurt/M.: Campus 2000, S. 2. Die folgenden Zitate sollen die positiven Dimensionen des soziologischen Verständnisses von Institution veranschaulichen. Dass sich in Institutionen aus solch politische und gesellschaftliche Kollektive affirmieren und selbst verhandeln, die ethisch nicht notwendigerweise ‚richtig‘ sind, sei ausdrücklich betont.
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fänglich legitimieren, ihr Standpunkt ist jedoch insofern gefestigt, als sie „gerecht und richtig“ erscheinen.8 Ihre Funktionen bestehen hauptsächlich darin, das Zusammenleben der Individuen innerhalb einer Gesellschaftsordnung zu erleichtern, indem sie Orientierung, Sinn und Schutz bieten. Die Leistungen von Institutionen für den Einzelmenschen fasst Hartmut Esser folgendermaßen zusammen: „Entlastung von zu großem Entscheidungsdruck, Hilfe bei der Übernahme riskanter Alternativen, Schutz vor ihrer eigenen Unvernunft und die gerade für Initiative und Innovation nötige Festlegung und ‚Definition‘ der Situation.“9 In diesem Verständnis stehen Institutionen folglich nicht im Widerspruch zu Innovationen – ihr Gegenpol ist vielmehr die Stagnation, die vom Phlegma der Funktionsträger in Institutionen ausgehen mag. Und selbst wenn künstlerische Stagnation nicht selten mit der wirtschaftlichen Konsolidierung eines kulturellen Unternehmens einhergehen mag, so sind selbst die erfolgreichsten Festivals als flüchtige Gebilde im Falle ihrer allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Akzeptanz davor nicht völlig gefeit, aber durch ihre wandelbare Struktur weniger anfällig. Doch was kann überhaupt als Festival verstanden werden? Es existiert vor jeder wissenschaftlichen Kategorisierung wie im Fall der Institution ein landläufiges Verständnis des Begriffs, ein common knowledge. Donald Getz’ Minimaldefinition „[a] festival is a public, themed celebration“10 scheint diesem am nächsten zu kommen. So konkurrieren Veranstaltungen mit Titeln wie „Festival der schön gedeckten Tische“ oder „Internationales Bierfestival“ scheinbar gleichrangig um den Titel Festival und der berechtigte Verdacht liegt nahe, dass es sich hierbei nicht um im engeren Sinne künstlerische Darbietungen handelt. Was aber sind die Differenzkriterien? Der Begriff Festival stammt (aus dem Englischen und dieses seinerseits) aus der lateinischen Wurzel festivus und bezeichnet zunächst die Art und Weise, wie etwas von statten geht – nicht genau was von statten geht. „Heiter“, „fröhlich“, „angenehm“ sind die Attribute des Festivals in seiner ursprünglichen Wortbedeutung und als solche sind sie mit dem Fest verwandt. Das heißt, dass das Festival als Organisationsform – als Form, in der
8
Ebd., S. 9.
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Ebd., S. 20.
10 Donald Getz: Festivals, special events, and tourism, New York: Van Nostrand Reinhold 1991, S. 54.
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Zeit und Raum für ein Zusammentreffen im festlichen Rahmen des Festivals organisiert werden – immer auch mit einer gewissen Leichtigkeit, einer Nonchalance einhergeht. Es handelt sich beim Festival demnach nicht nur um ein Fest, um eine Messe, um eine Ausstellung, um ein Treffen – und meint doch all diese Komponenten zu gewissen Teilen. Um das Festival für die Diskussion seiner Funktion für den zeitgenössischen Tanz in Deutschland nutzbar zu machen, wird es im Folgenden jedoch spezifischer verstanden als eine Konzeption künstlerischer Darbietungen innerhalb eines fest umrissenen Zeit-Raums vor einem speziellen Publikum, das neben künstlerischen Programmpunkten diskursive und unterhaltsame Angebote beinhaltet beziehungsweise miteinander verschränkt. 11 Seit den 1990er Jahren lässt sich nicht nur für den zeitgenössischen deutschen Tanz, sondern auch im gesamten Kultursektor ein Anstieg der Festivalgründungen verzeichnen.12 Es lässt sich damit von einem regelrechten Festivalboom sprechen,13 der die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche affiziert (Politik, Ökonomie, Stadtentwicklung [Stichwort „Festivalisierung der Stadtpolitik“] etc.). An dieser Stelle soll jedoch hauptsächlich die Frage interessieren, welche Auswirkungen die spezifische Organisationsform des Festivals auf den Kultursektor in Deutschland hatte und hat. Festivals, in ihrer Programmüberfülle, in ihrem Ausnahmecharakter, erfüllen heute für verschiedenste Stakeholder vielfältige Funktionen. Folgende Aspekte des Organisationsmodells Festival haben sich als besonders relevant für den zeitgenössischen Tanz erwiesen: • • •
seine Neigung zur Kontextualisierung, seine Fähigkeit zur Generierung von Aufmerksamkeit, seine Aufgabe als Nachwuchsförderer,
11 Für eine umfassendere Darstellung der Historie von Festivals vgl. Jennifer Elfert: Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells, Bielefeld: transcript 2009. 12 Der Erfolg des Festivalmodells war dabei offenbar so groß, dass der Begriff mittlerweile übertragen wurde auf andere gesellschaftliche Bereiche. 13 Oder auch pathologisierend als Festivalitis, vgl. Imre Fabian: „Festivalitis“: Bereicherung oder Verflachung?, in: Peter Csobádi u.a. (Hg.): „Und jedermann erwartet sich ein Fest“. Fest, Theater, Festspiele, Anif/Salzburg: MuellerSpeiser 1996, S. 269-289.
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• •
seine Funktion als Produktionswerkstatt und seine Verantwortungsübernahme in seiner Lobbyfunktion.
Zu allen Aspekten im Folgenden einige Gedanken.
K ONTEXTUALISIERUNG Da Festivals zeitlich und räumlich begrenzte Phänomene sind, die sich dadurch auszeichnen, nicht allzeit präsent und verfügbar zu sein, kommt ihnen zwangsläufig eine Sonderstellung als Ausnahme im Spielplanalltag zu. Festivals bilden in diesem Sinne eine Zäsur im Ablauf, die Rahmung für das Erlauben des Unerlaubten – die notwendige Abweichung vom Gängigen, die doch einige Verlässlichkeit aufweist, da sie in regelmäßigen Abständen eintritt. Damit stellen Festivals als kalkulierbare Ausnahmen zweifellos begrenzt greifbare Institutionen innerhalb des Spielplanjahres dar – unabhängig davon, ob es sich um kleine, in einen Spielplan integrierte Festivals handelt oder unabhängig organisierte Annualen oder Biennalen. Doch wie jede Institution im soziologischen Sinne muss diese mit Inhalt gefüllt beziehungsweise der Inhalt dramaturgisch aufbereitet werden, um Sinn zu ergeben und den Überfluss an Eindrücken, ästhetischen Positionen und Stilrichtungen, die auf Festivals präsentiert werden, erfass- und erfahrbar zu machen. Ganz gleich, wie die äußere Rahmung des Festivals durch Parameter wie sein Intervall, seine zeitliche Situierung und Dauer, seine Lokalisierung (festes Tanzhaus oder alternative Orte), gestaltet ist, wirkt sich die Verschränkung und die Positionierung der gezeigten Produktionen besonders auf die Gestalt des Festivals aus. Selbst wenn viele Festivals ohne inhaltliche Motti und damit ohne eine explizite inhaltliche Rahmung auskommen, so bedeutet doch die Zusammenstellung einzelner Beiträge innerhalb einer Festivaldramaturgie eine Umdeutung, eine Neugewichtung, ein Austarieren der Inhalte. Jede einzelne Produktion weist im Festivalgefüge über sich selbst hinaus und wird dadurch bereichert und vernetzt. Festivals bieten damit die Gelegenheit, auf engstem Raum einen Überblick über die verschiedenen Stile und Formen gewinnen zu können, die aktuell kursieren. Spartenübergreifende Festivals wie die euro-scene Leipzig wiederum setzen den Tanz gar ins ästhetische Verhältnis zu den anderen Künsten und möchten somit den Horizont erwei-
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tern, lassen Diskussionen über Unterschiede und Synergiefelder zwischen den Künsten aufscheinen. Sie bieten den Teilnehmerinnen und Besucherinnen des Festivals die Möglichkeit, neue Referenzpunkte zu entdecken und sich jenseits der eigenen Zunft inspirieren zu lassen. Abzuweichen von der im Tanzalltag gängigen Programmlogik bietet zu dem auch jungen, noch nicht populären Künstlerinnen die Gelegenheit, auf Augenhöhe mit alten Meistern und etablierten Größen der Szene gesehen und rezipiert zu werden, und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und im Falle der euro-scene Leipzig kann ein Festival nicht zuletzt die einzig nennenswerte Präsentationsplattform für zeitgenössischen Tanz in einer Stadt sein und somit den einzigen lokalen Kontext für Tanz darstellen.
AUFMERKSAMKEIT Kuratoren und Kunstförderer, die Festivals besuchen, um unbekannte Gruppen zu entdecken und den state of the art der Tanzszene zu begutachten, lassen sich vor allem vom Renommee des besuchten Festivals zu einem Besuch motivieren. Junge Künstlerinnen profitieren also bestenfalls von der Glaubwürdigkeit und dem guten Ruf, der festen Größe eines Festivals. Aufmerksamkeit wie Zeit sind begrenzte Güter. „Aufmerksamkeit, Zeit und Raum sind konstitutive Letztbestandteile der subjektiven Erlebnissphäre. Raum und Zeit sind die Dimensionen, Aufmerksamkeit ist, wenn man so will, die Substanz menschlichen Erlebens.“14 Damit ist sie zugleich eine Form von Währung, so Georg Franck. Diesem Gedankengang folgend, ließen sich Festivals als ‚Kreditinstitute‘ für Aufmerksamkeit beschreiben, die die von ihnen eingenommene Aufmerksamkeit, die die Medien und professionellen Besucher ihnen zukommen lassen, den auf ihnen präsentierten Künstlerinnen zur Verfügung stellen.15 Und das nicht nur im Sinne von „symbolischem Kapital“ (Bourdieu), sondern in einem konkret monetären:
14 Georg Franck: Aufmerksamkeit, Zeit, Raum. Ein knapper Ausdruck für das Veränderungspotential der neuen Informationstechniken und Kommunikationsmedien, in: Martin Bergelt/Hortensia Völckers (Hg.): Zeit-Räume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume, München: Hanser 1991, S. 74-88, hier S. 77. 15 Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München/Wien: Hanser 1998, S. 134ff.
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„Die Kapitalisierung der Beachtlichkeit ist ein Masseneffekt. Nur mit großen Mengen an Beachtung wird der Eindruck gemacht, der sich selbst trägt. Große Mengen an Beachtung kommen freilich nicht von selbst zusammen. Damit die Leute sehen, daß viele andere Leute Augen machen, müssen erst einmal viele Leute zusammenkommen. Damit viele Leute überhaupt zusammenkommen, müssen Anlässe des Zusammentreffens und müssen Anlagen bestehen, die ein großes Publikum fassen.“16
Und auf die Situation von Tanz-/Theaterfestivals angewendet bedeutet dies: Wer die Chance bekommt, als new act auf einem solchen aufzutreten, erhält einen Vorschuss an gesicherter Beachtung.17 Veranschaulicht werden diese Zusammenhänge von Franck im Bild des „Reden-über“, das den gesamten Kulturbereich durchzieht. „Die geschäftsmäßige Organisation des Kulturbetriebs erschöpft sich nicht darin, daß Versammlungsstätten unterhalten und Einrichtungen aufrechterhalten werden, daß das Veranstaltungswesen gepflegt und Literatur verlegt wird, daß die Kunstkritik und der Kunsthandel florieren. Zu einem geschäftsmäßigen Kulturbetrieb gehört, daß Talente rekrutiert werden, daß Veranstaltungen in der Öffentlichkeit besprochen und gewertet werden, daß Verleger erfolgversprechende Autoren entdecken und ihnen ein Forum bieten, daß sich die Kunstkritik mit Fragen des Rangs der Werke und der Einordnung der Künstler beschäftigt, daß ein Ausstellungswesen funktioniert, um Begabungen zum Durchbruch zu verhelfen, die wiederum das künftige Renommee der Institution begründen.“18
Der Kulturbetrieb sorgt mit anderen Worten für seine Perpetuierung, indem er sich selbst zum Thema macht und neue Talente zur Fortschreibung seiner Relevanz zum Zug kommen lässt. Festivals verfolgen die gleiche Strategie und sind damit wirkungsvolle Instrumente, um sonst nur schwierig durchzusetzende, anspruchsvolle Künstlerinnen und Stile zu präsentieren und einen Raum zu geben.
16 Ebd., S. 135. 17 Vgl. ebd., S. 135f. 18 Ebd., S. 136f.
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N ACHWUCHSFÖRDERUNG Vor allem unbekannte Künstlerinnen stehen heute neben den ‚großen Namen‘ der Szene klar im Zentrum des Festivalinteresses. Im Spannungsfeld der Nachwuchsförderung zeigt sich, wie Festivals als Institutionen von neuen Stilen und Künstlerinnen profitieren und diese wiederum auf Festivals angewiesen sind. Um Talente aktiv zu fördern und nicht nur für deren Beachtung (s.o.) zu sorgen, treten Festivals hauptsächlich als Orte von Professionalisierung auf. Sie sind ein Reservoir an Know-how und Netzwerkverbindungen, bieten jungen Künstlerinnen Tipps und nützliche Hinweise für die Akquise von Drittmitteln und Tourmöglichkeiten für neue Inszenierungen. Darüber hinaus stehen Festivals auch als Garanten für die professionelle Abwicklung der Produktionen von noch unbekannten Künstlerinnen gegenüber potentiellen Finanziers ein. Denn die Tatsache, dass ein Festival sich für die Produktion einer Inszenierung von bislang wenig oder nicht bekannten Künstlerinnen einsetzt, kann als ausschlaggebendes Argument für Geldgeber fungieren. Das macht sie zu einer wichtigen Ergänzung zu den freien Tanzhäusern, deren Möglichkeiten noch immer begrenzt sind, was Dieter Buroch als Leiter des Mousonturm Frankfurt bemerkt: „Die Produktionsmöglichkeiten im freien Bereich haben sich mit Einrichtungen wie Hebbel-Theater Berlin, Kampnagel Hamburg, Mousonturm Frankfurt/Main und Podewil Berlin zwar verbessert, sie reichen aber bei weitem nicht aus, um der großen Verantwortung gegenüber einer jungen Theatergeneration mit ihren neuen Ideen und Konzepten gerecht zu werden. Projekte wie ‚Junge Hunde‘ in Hamburg, ‚reich und berühmt‘ in Berlin oder ‚plateaux‘ in Frankfurt/Main ermöglichen es jungen Choreografen und Regisseuren, unter professionellen Bedingungen neue Theaterkonzepte zu entwickeln.“19
In diesem Sinne sind Festivals gerade für den Nachwuchs wichtige Lehrbetriebe und Karriereschmieden. Diese Funktionen spielen eine signifikante Rolle, da sich die Fördersituation des Nachwuchses sogar verschlechtert hat, seitdem nicht nur schon etablierte Künstlerinnen/Gruppen, sondern
19 Dieter Buroch: Produktionsraum für den Tanz. Schwierigkeiten und Chancen für Stadttheater und freie Produzenten in Deutschland, in: euro-scene Leipzig (Hg.): Tanzplattform 2002, Leipzig 2002, S. 12-14, hier S. 13.
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auch Theaterhäuser um finanzielle und sachliche Förderung konkurrieren und im Zweifelsfall die zugkräftigeren Aushängeschilder präsentieren können. Somit kommt Festivals als Institutionen die Funktion von Trainingsfeldern zu, auf denen sich künstlerische Signaturen entwickeln können, wo sich Künstlerindividualitäten herausbilden und zugleich bereits von der Kunstkritik sowie den Förderinstitutionen beobachtet und unterstützt werden. Bisher unbekannte Künstlerinnen finden im Festivalkontext erste Orientierung und können relativ bequem, weil zeitlich konzentriert, wichtige Kontakte für ihre Karriere knüpfen. Drängende Fragen der start-upKünstlerinnen können hier beantwortet werden: „Wo gehören sie hin, die Tänzer und Choreographen, wie strukturiert man sich kulturpolitisch, wie organisiert man Räume und finanzielle Ressourcen?“20 Die Professionalisierung der Produktionsbedingungen (finanzielle Absicherung, Situierung, Vernetztheit mit Öffentlichkeit und Förderern und so weiter) des Nachwuchses ist so im Bestfall eines der Resultate aus der Teilnahme an einem Festival.21 Dennoch wäre es verfehlt, Festivals für die Professionalisierung des Nachwuchses und der Tanzszene allein in die Verantwortung zu ziehen. Als flüchtige Ereignisse, als flüchtige Strukturen sind sie, trotz aller Vernetzung, allein nicht ausreichend, um eine nachhaltige Ausbildung und Unterstützung zu garantieren. Sie stoßen Neues an und können als Katalysator wirken – Grundlagenbildung fällt nur bedingt in ihr Ressort. „Die Akzente müssen in der Ausbildung gesetzt werden. Das ist viel wichtiger als ein neues Festivals ins Leben zu rufen“22 – und doch nicht alles. Denn nicht nur Künstlerinnen profitieren vom Festival. Es ist das Wechselspiel zwischen neuen Positionen und der Präsentation anerkannter
20 Rüdiger Schaper: Lokale Globalisierung. Rüdiger Schaper stellt das Arbeitsmodell von Sasha Waltz in Berlin vor, in: Johannes Odenthal (Hg.): Tanz.de. Zeitgenössischer Tanz in Deutschland, Strukturen im Wandel, eine neue Wissenschaft, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 114-119, hier S. 116. 21 Verschwiegen werden darf nicht, dass mit dem Eintritt in ein Festivalnetzwerk auch Nachteile und Einschränkungen verbunden sein können. Extensives Touren, der Druck, beständig originell sein zu müssen, sozialer Druck, Netzwerkbeziehungen beständig zu aktualisieren sind nur einige Beispiele. 22 Hortensia Völckers: Tanz als Pflichtfach. Hortensia Völckers, Künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, im Gespräch, in: Odenthal (Hg.): Tanz.de, S. 108-110, hier S. 109.
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Tanzstile und bereits etablierter Avantgardekünstler, von dem Künstlerinnen, Festivals und Kuratoren gleichermaßen zehren. Nachwuchsförderung bedeutet so immer auch die Förderung, die Nachwuchskünstlerinnen dem Kulturbetrieb zuteil werden lassen, indem sie neue künstlerische Positionen vertreten und damit den ästhetischen Diskurs beflügeln. Festivals werden so zu wichtigen Gradmessern für die Entwicklungen in der deutschen Performanceszene, weil sie einen Überblick darüber verschaffen, was die nachwachsenden Künstlergenerationen bewegt und was die gegenwärtig wichtigen Themen sind. Es ist also auch eine Abhängigkeit der Festivals von der nachrückenden Künstlergeneration, die sie sie den Nachwuchs fördern lässt und ebendieses zur Aufgabe und nicht nur zum good will werden lässt. „Von den Festivalbetreibern selbst darf man erwarten, dass sie in der Förderung des Nachwuchses, in der Sicherung der künstlerischen Qualität und in der Stärkung von Innovation ihre vordringliche Aufgabe sehen werden.“23
P RODUKTIONSNETZWERKE Abgesehen von der Sensibilisierung der öffentlichen Wahrnehmung für den zeitgenössischen Tanz durch Festivals sind es insbesondere die Produktionslogiken des Tanzes, die ihn für die Arbeit in der Organisationsform des Festivals prädestinieren. So ist der Tanz als nicht auf eine verbale Sprache fixierte Kunst stärker noch als das Theater international organisiert. „In bezug auf die darstellenden Künste läßt sich feststellen, dass kulturelle Zusammenarbeit innerhalb Europas bereits ein Faktum ist. In den letzten Jahren ist die Überschreitung der Grenzen zu einem wichtigen, sogar charakteristischen Element der Arbeit diverser Theater- und Tanzensembles geworden.“24
23 Franz Willnauer: Festspiele und Festivals in Deutschland, hg. vom Deutschen Musikrat, Bonn 2005, vgl. http://www.miz.org/static/themenportale/einfueh rungstexte_pdf/03_KonzerteMusiktheater/willnauer.pdf (07.01. 2011). 24 Marianne Van Kerkhoven: Kulturelle Identität und die Identität der Kultur. Das Europa der 90er Jahre, in: Kulturgesellschaft mbH (Hg.): Theater am Turm Frankfurt, Schirn-Kunsthalle Frankfurt, OFF-TAT Frankfurt, Künstlerhaus Mousonturm, Januar 1991, S. 1.
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Und Festivals haben sich als ideale Orte/Gelegenheiten herauskristallisiert, Kooperationsbeziehungen in Form von Netzwerken zu aktualisieren und zu begründen.25 Wichtige Namen in diesem Zusammenhang sind das IETM (Informal European Theatre Meeting), das NPN (Nationales Performance Netzwerk) oder auch das Dance Network Europe (1994 bis 2000). Künstlerische Netzwerkbeziehungen bestehen in Europa nicht erst, seitdem sich die ersten internationalen Tanz- und Theaterhäuser in den achtziger Jahren etablieren. In Deutschland sind hier vor allem die Kampnagel Kulturfabrik (Hamburg, gegr. 1985 von Hannah Hurtzig und Mücke Quinckardt), das Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt am Main, gegr. 1988 von Dieter Buroch), das Hebbel-Theater (Berlin, neu gegründet 1989 von Nele Hertling, seit 2000 als HAU geführt von Matthias Lilienthal) zu nennen; später dann die Sophiensæle (Berlin, gegr. 1996 von Sasha Waltz und Jochen Sandig, danach geleitet von Amelie Deuflhardt und Heike Albrecht), das tanzhaus nrw (Düsseldorf, gegr. 1998 von Betram Müller) und PACT Zollverein (Essen, gegr. 2002 von Stefan Hilterhaus). Seitdem hat die Netzwerkpraxis aber einen erhöhten Einfluss auf die gesamte kulturelle Szene in Deutschland und insbesondere auf die Festivalszene. Netzwerke als flexible und prozessuale Strukturen, die oft auf freundschaftlichen oder kollegialen Verbindungen beruhen, erleichtern zunächst hauptsächlich die Praxis des Koproduzierens von Theater- und Tanzperformances, deren Kosten zwischen den Produzenten geteilt werden und folglich länderübergreifend in den Häusern oder Festivals der Netzwerkpartner zu sehen sind. Im Festivalkontext sind somit auch in Zeiten leerer Fördertöpfe aufwändige, kostenintensive Produktionen möglich, wenn die Partner ihre zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen zusammenführen. Und selbst wenn Produktionen nicht im Verband eines Koproduktionsnetzwerks ihre Finanzierung finden, sind Einladungen zu Festivals oft starke Argumente für die Bewilligung von externen Fördergeldern. Als seltene, prestigeträchtige Ereignisse sind Festivals trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Öffentlichen Hand somit auch indirekt noch immer in der Lage, größere
25 So etwa die Internationale Tanzplattform, von der Bettina Milz Bilanz behauptet: „Die Tanzplattform als Veranstaltertreffpunkt und Kontaktbörse funktioniert ausgezeichnet.“ Vgl. Bettina Milz: Tanz? Platt? Form? Die Kuratorin Bettina Milz reflektiert zehn Jahre Tanzplattform Deutschland, in: Odenthal (Hg.): Tanz.de, S. 161-163, hier 162.
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finanzielle Ressourcen für ihre Produktionen zu mobilisieren.26 Das lässt Festivals zu bedeutenden Anlaufstellen für bekannte wie unbekannte Künstlerinnen werden: „Spielstätten und Festivals sind die mayor players auf dem Feld der freien Tanzproduktionen, obwohl die eigentlichen Produzenten, als Geldempfänger und finanziell Verantwortliche, zumeist die Künstler selbst sind. Sie stellen die Förderanträge und setzen Gelder in künstlerische Projekte um. Aber künstlerische Arbeiten, die sich nicht mit möglichst bedeutsamen Orten verbinden, haben es schwer, eine Finanzierung zu erhalten.“27
Es ist also nicht nur die direkte Förderung von Festivals durch Geldgeber, die für Künstler wichtig ist – es ist im Zweifelsfall allein die Assoziation an ein bekanntes und anerkanntes Festival, die Künstlern die Finanzierung einer Produktion selbst ermöglicht. Gleiches gilt für eine Handvoll Städte auf der kulturellen Landkarte Deutschlands. So ist es sehr wahrscheinlich, dass kulturelle ‚Leuchttürme‘ wie Berlin, Hamburg oder München auch die Mittel für ein Festival und die darin präsentierten Inszenierungen bereitgestellt bekommen, da ihnen eine kulturpolitische Sonderstellung zukommt. Und in selbem Maße ist es wahrscheinlicher, dass Festivals, die von einer bereits etablierten Riege von Tanzorganisatoren oder einem renommierten Tanzhaus kuratiert werden, Subventionen erhalten. Dabei steht für die Finanziers der öffentlichen Hand vor allem das Argument im Fordergrund, dass derart die knappen Mittel einigermaßen abgesichert in ‚Qualität‘ in-
26 Dabei darf nicht verleugnet werden, dass Festivals und thematische Reihen an festen Häusern damit auch in ein direktes Konkurrenzverhältnis zu den freien Künstlern treten: „Die Stadttheater haben den Wert von Impulsen aus der Freien Szene erkannt mit der Folge, dass ihre zur Auffrischung der Spielpläne ins Leben gerufenen Sonderreihen nun losgelöst vom eigenen Hausbudget mit freien Projekten um dieselben Fördertöpfe konkurrieren.“ Constanze Klementz: Feiern, bilden, agitieren. Heike Albrecht und Jan-Philipp Possmann, die künftigen Leiter der Berliner Sophiensæle, stehen in den Startlöchern, in: Theater der Zeit 61, H. 6, 2007, S. 29. 27 Michael Freundt: Komplizenschaften. Michael Freundt über neue Produktionsweisen zwischen Veranstaltern und Künstlern, in: Odenthal (Hg.): Tanz.de, S. 120-123, hier S. 120.
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vestiert werden, die sie aus dem Personenkult um eine Festivalmacherin ableiten, aus ihrer Erfahrenheit oder der Wertschätzung eines lokalen Festivals durch die Kunstszene. In der hieraus erwachsenden Konkurrenz um Fördertöpfe speist sich – wenn auch nicht nur daraus – die Idee, Tanzproduktionen kozufinanzieren. Aus kuratorischer Sicht steckt mehr hinter dieser Netzwerkpraxis. Thomas Franck, ehemaliger Kurator der Sophiensæle, benennt die inhaltlichen Gründe für das Koproduzieren zwischen Tanzhäusern: „Dabei geht es keineswegs lediglich darum, möglichst viele Gelder in einen Topf zu werfen, um die Produktionskosten für ein Projekt zu bündeln. Das ist der (freilich nicht unerhebliche) unmittelbare Zweck von Koproduktionen. Dahinter steht in den allermeisten Fällen eine lange Phase der Beobachtung und des Austauschs von Kuratoren, Dramaturgen und Produzenten über künstlerische Ansätze, über Programme und Inhalte. Sich auf eine Koproduktion einzulassen, insbesondere im internationalen Austausch, hat immer auch mit genauer Kenntnis der Arbeitsweisen der Partner, mit Vertrauen in deren Zuverlässigkeit, mit gegenseitigem Verständnis künstlerischer Interessen und Programme und mit Überzeugungskraft zu tun.“28
Es geht beim Koproduzieren und Netzwerken also immer auch um die Diskussion ästhetischer Perspektiven und den Wunsch nach produktiver Kontinuität in der Zusammenarbeit mit anderen Häusern und Künstlerinnen. Das Netzwerken als produktive Praxis unterstützt damit die besondere Stellung, die den etablierten Festivals und Tanzhäusern zukommt. Festivals als Teile von Produktionsnetzwerken sind weit mehr als nur praktische Werkzeuge, um Gelder zu mobilisieren beziehungsweise zusammenzuwerfen: Sie sind zugleich fest lokalisierbare Orte, die ihre kulturpolitische Gravität haben und damit für Künstler wichtige finanzielle Referenzpunkte werden können. Zugleich sind sie Gelegenheiten, um im Austausch ästhetische Positionen zu sondieren, gemeinsam weiterzuentwickeln und voranzutreiben.
28 Thomas Frank: Cross the Border, close the Gap, in: Amelie Deuflhard (Hg.): Spielräume produzieren. Sophiensæle 1996–2006, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 72-74, hier S. 73f.
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L OBBY Neben diesen kontinuierlichen Koproduktionsformen können Festivals die punktuell auf sie gerichtete Aufmerksamkeit dazu nutzen, Energien zu bündeln, die hauptsächlich auf die Strukturierung und Förderung (des Tanztheaters) abzielen. Tanzfestivals können für den gesamten Tanzsektor als Stellvertreter fungieren, indem sie ihre Relevanz nicht nur für das Einwerben von Subventionen geltend machen, sondern zusammen mit Netzwerkpartnern übergeordnete Zielsetzungen formulieren, die Unterstützung von dauerhaften Strukturen einfordern und damit langfristig und über den Moment des Festivals hinaus die Beachtung ihrer Signifikanz für den deutschen Kulturbetrieb einklagen. „Als kulturpolitische Lobby schaffen sie tanzspezifische Strukturen und Förderungen.“29 Festivals erzeugen also nicht nur Aufmerksamkeit für Künstlerinnen und Produktionen, mobilisieren und akquirieren nicht nur finanzielle Ressourcen, sie sind auch Foren, auf denen Erfahrungen ausgetauscht und Strategien entwickelt werden können, um die gemeinsame Sache durchzusetzen. Dies scheint auch mehr als nötig, denn die Lobby des Tanzes ist eher schwach. So fasst Hortensia Völckers, Leiterin der Kulturstiftung des Bundes und selbst lange Zeit eine Protagonistin des Tanzes in Deutschland, dessen aktuelle Situation folgendermaßen zusammen: Der „Tanz ist im Verhältnis zu anderen Sparten der Hochkultur unterrepräsentiert. Obwohl es über siebzig Tanzkompanien an städtischen Bühnen gibt und die Vorstellungen gut besucht sind, haben die Tanzleute in ihren Häusern überwiegend schlechte Bedingungen. […] Anders als das Schauspiel mit seinen redegewandten und durchsetzungsfähigen Intendanten hat der Tanz keine Lobby.“30
Und Bettina Trouwborst konstatiert: „In den Köpfen der Kulturpolitiker hat die Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre wenig Spuren hinterlassen.
29 Ulrike Melzwing: Zusammen arbeiten. Einige Überlegungen zu aktuellen Produktionsweisen im zeitgenössischen Tanz, in: Tanz und Theater e.V. (Hg.): Tanzplattform 2008, Hannover 2008, S. 6-10, hier S. 7. 30 Hortensia Völckers: Alphabetisierung für den Tanz: „Wir ändern nur etwas durch Erfahrung“, vgl. http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/de/stif tung/magazin/magazin14/alphabetisierung_fuer_den_tanz/ (08.01.2011).
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Der Tanz scheint für sie eine prestigeträchtige Spielerei zu sein, die man sich in schlechten Zeiten versagen kann.“31 Festivals kommt somit auch die Rolle zu, als Sprachrohre der Tanzszene nach außen hin aufzutreten, da sie den konzeptionellen Spagat zwischen ihrer Instrumentalisierung als kulturpolitische Aushängeschilder und Zentren der Kunst meistern. Sie entsprechen als marketingträchtige und imagefördernde Großereignisse den Ansprüchen der „Festivalisierung der Stadtpolitik“32 und sind so für die Kulturpolitik unmittelbar verwertbar, während sie nach innen als Ermöglicher anspruchvoller Produktionsformate und als Diskussionsplattformen auftreten. Als Vermittler zwischen den Interessen kondensieren sie progressive Kunst und wirtschaftliches Kalkül zu einem Aufmerksamkeit erzeugenden Ereignis. Somit können Sie direkt auf die Entscheidungsgremien der Politik Einfluss nehmen, indem sie ihre besondere Stellung im kulturpolitischen Betrieb bewusst nutzen, um ihre Relevanz für die Argumente der Avantgarde in die Waagschale werfen.
F AZIT Institutionalisierung, Lobbyismus und Innovationsförderung sind Teilmengen des Oberbegriffs der Professionalisierung, die auf Festivals vordringlich vorangetrieben wird. Als Institutionen haben Festivals als eine der ersten Veranstaltungen ihre Stimmen für den Tanz erhoben. Sie sind Anlass zum Austausch und zur Präsentation des state of the art und damit die Aushängeschilder des zeitgenössischen Tanzes – publikumswirksame Kondensationen des Innovativen oder bereits Etablierten. Anders als andere Felder ist die Kultur permanenten internen und intrinsischen Erosionen ausgesetzt. Das bedeutet auch eine beständige Selbsterneuerung des Feldes – weshalb auch „Institutionen“ der Kultur jeweils nur bedingte Haltbarkeit aufweisen.33 Umso mehr ergibt das Bild der flüchtigen Institution für Festivals
31 Bettina Trouwborst: Spielräume in den Institutionen, in: Tanzhaus NRW – die Werkstatt (Hg.): Tanzplattform 2004, Düsseldorf 2004, S. 17-20, hier S. 20. 32 Vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel: Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadtentwicklung durch große Projekte, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. 33 Vgl. Pirkko Husemann: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009, S. 91.
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Sinn. Sie sind Institutionen ‚auf dem Sprung‘: in ihrer Neigung zur Selbstauflösung, zur beständigen Selbstkritik, zur Modulierung ihrer dramaturgischen Ausrichtung. Festivals sind außerdem flüchtige Institutionen in dem Sinne, dass sie die Tradierung von Wissen garantieren und einen sicheren Raum darstellen, in dem Erfahrungen gemacht und weitergegeben werden können. Ihre hohe ästhetische und kulturpolitische Glaubwürdigkeit wird ergänzt durch die Wendigkeit, den Willen zur Innovation und das Maß an Kritikfähigkeit, die notwendig sind, um den zeitgenössischen Tanz in Deutschland zu befeuern und zugleich zu stabilisieren. Damit lösen sie den traditionellen (falschen) Gegensatz zwischen Beständigkeit und Progressivität auf und antworten so auf die Bedürfnisse des Tanztheaters als einer strukturell wesensverwandten, eben flüchtigen Kunst. Daraus ergibt sich für den Tanz die Perspektive, sich im Produktionsraum Festival als Teil des kritischen Modells Festival zu verstehen – und damit auch seine zunehmende Institutionalisierung zu reflektieren. Der zeitgenössische Tanz muss dieselbe Wechselbewegung vollziehen, die Festivals heute vollziehen müssen: zunehmend Verantwortung als Produktionsort künstlerischer Innovation zu übernehmen und gleichzeitig ein Hort kritischer Befragung zu bleiben, der diese Verantwortung in ihrer Zweideutigkeit als Schritt zur Konservierung von Innovation erfasst.
L ITERATUR Bergelt, Martin/Völckers, Hortensia (Hg.): Zeit-Räume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume, München: Hanser 1991. Bogusz, Tanja: Institution und Utopie. Was die Soziologie vom Theater lernen kann, in: Schößler, Franziska/Bähr, Christine (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2009, S. 157-165. Buroch, Dieter: Produktionsraum für den Tanz. Schwierigkeiten und Chancen für Stadttheater und freie Produzenten in Deutschland, in: euroscene Leipzig (Hg.): Tanzplattform 2002, Leipzig 2002, S. 12-14. Csobádi, Peter u.a. (Hg.): „Und jedermann erwartet sich ein Fest“. Fest, Theater, Festspiele, Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 1996. Deuflhard, Amelie (Hg.): Spielräume produzieren. Sophiensæle 1996-2006, Berlin: Theater der Zeit 2006.
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Elfert, Jennifer: Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells, Bielefeld: transcript 2009. Esser, Hartmut: Institutionen. Aus der Reihe ‚Soziologie, spezielle Grundlagen‘, Bd. 5, Frankfurt am Main/New York: Campus 2000. Fabian, Imre: „Festivalitis“: Bereicherung oder Verflachung?, in: Csobádi, Peter u.a. (Hg.): „Und jedermann erwartet sich ein Fest“. Fest, Theater, Festspiele, Anif/Salzburg: Mueller-Speiser 1996, S. 269-289. Franck, Georg: Aufmerksamkeit, Zeit, Raum. Ein knapper Ausdruck für das Veränderungspotential der neuen Informationstechniken und Kommunikationsmedien, in: Bergelt, Martin/Völckers, Hortensia (Hg.): ZeitRäume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume, München: Hanser 1991, S. 74-88. Ders.: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München/Wien: Hanser 1998. Frank, Thomas: Cross the Border, close the Gap, in: Deuflhard, Amelie (Hg.): Spielräume produzieren. Sophiensæle 1996-2006, Berlin: Theater der Zeit 2006, S. 72–74. Freundt, Michael: Komplizenschaften. Michael Freundt über neue Produktionsweisen zwischen Veranstaltern und Künstlern, in: Odenthal, Johannes (Hg.): Tanz.de. Zeitgenössischer Tanz in Deutschland, Strukturen im Wandel, eine neue Wissenschaft, Berlin: Theater der Zeit 2005, S. 120-123. Getz, Donald: Festivals, special events, and tourism, New York: Van Nostrand Reinhold 1991. Hantelmann, Dorothea von: How to do things with art. Zur Bedeutsamkeit der Performativität von Kunst, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007. Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter: Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadtentwicklung durch große Projekte, Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. Husemann, Pirkko: Choreographie als kritische Praxis. Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen, Bielefeld: transcript 2009. Melzwing, Ulrike: Zusammen arbeiten. Einige Überlegungen zu aktuellen Produktionsweisen im zeitgenössischen Tanz, in: Tanz und Theater e.V. (Hg.): Tanzplattform 2008, Hannover 2008, S. 6-10. Milz, Bettina: Tanz? Platt? Form? Die Kuratorin Bettina Milz reflektiert zehn Jahre Tanzplattform Deutschland, in: Odenthal, Johannes (Hg.):
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I NTERNETQUELLEN Sellars, Peter: Festivals, vgl. http://www.festspielfreunde.at/deutsch/dialoge 2001/15_Sellars.pdf (06.01. 2011). Völckers, Hortensia: Alphabetisierung für den Tanz: „Wir ändern nur etwas durch Erfahrung“, vgl. http://www.kulturstiftung-des-bundes. de/cms/de/stiftung/magazin/magazin14/alphabetisierung_fuer_den_ tanz/ (08.01. 2011).
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Willnauer, Franz: Festspiele und Festivals in Deutschland, hg. vom Deutschen Musikrat, Bonn 2005, vgl. http://www.miz.org/static/themen portale/einfuehrungstexte_pdf/03_KonzerteMusiktheater/willnauer.pdf (07.01.2011).
Tanzdramaturgie im Spannungsfeld von Kunst und Management E IN G ESPRÄCH MIT T HORSTEN T EUBL 1
Yvonne Hardt (YH): Du bist Tanztheaterdramaturg am Staatstheater Kassel. Herzlichen Dank, dass Du dich bereit erklärt hast, ein Gespräch mit uns darüber zu führen, was es für eine Zeitgenössische Tanzkompanie bedeutet, innerhalb der Rahmenbedingungen eines öffentlich-rechtlichen Theaterbetriebs zu arbeiten und was das Aufgabenfeld des Dramaturgen dort ist. Zunächst: Wie sieht die Kompanie aus und wie sind die Rahmenbedingungen, mit denen ihr arbeitet? Thorsten Teubl (TT): Die Tanztheaterkompanie am Staatstheater Kassel zählt 11 feste Tanzverträge (neun davon sind fest besetzt), einen Tanzdirektor, einen Trainings- und Probenleiter, einen Repetitor (der mit der Sparte Musiktheater geteilt wird), zahlreiche Gäste (welche je nach Anforderungen der jeweiligen Produktion engagiert werden) und einen Tanztheaterdramaturgen, der auch als Produktionsleiter agiert und zusätzlich sämtliche Gastspiele am eigenen Haus koordiniert und betreut. Des Weiteren ist es möglich, einmal pro Monat einen Gastlehrer für das klassische und zeitgenössische Training der Tänzer und Tänzerinnen zu engagieren. Das Tanztheater agiert als eigene Sparte innerhalb des Gesamttheaterbetriebs neben Musiktheater und Sprechtheater. Der Produktionsplan umfasst pro Spielzeit fünf Produktionen auf den unterschiedlichen Spielflä-
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Das Gespräch wurde am 10.05.2011 geführt.
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chen des Staatstheaterbetriebs, alle zwei Jahre mit dem Staatsorchester. Die Bühnen sind das Opernhaus mit 947 Sitzplätzen, das Schauspielhaus mit 517 Sitzplätzen, die Experimentierbühne TIF (Theater im Fridericianum) sowie diverse andere Spielstätten innerhalb der Stadt, wie bspw. auch das Kunstmuseum Fridericianum. Die Kompanie gastiert zudem regelmäßig im In- und Ausland mit tourfähigen Stücken aus dem bestehenden Repertoire. Alle Tanztheaterproduktionen werden vom Tanzdirektor selbst konzipiert, Ausnahme bildet lediglich der sogenannte geteilte Abend mit einem Gastchoreographen sowie die Choreographische Werkstatt, in welcher den Tänzern und Tänzerinnen selbst die Möglichkeit geboten wird, erste choreographische Schritte zu wagen. z
YH: Der zeitgenössische Tanz ist mittlerweile ein äußerst vielfältiges und heterogenes Phänomen. Welche Ansätze und Perspektiven sind hier für das Staatstheater Kassel bzw. die Kompanie von Johannes Wieland, der seit 2006 die Position des Tanzdirektors inne hat, von Bedeutung? TT: Die Bandbreite dessen, was unter Zeitgenössischem Tanz verstanden werden kann ist unendlich groß und ihre Beschreibung nur bedingt möglich: ein grundlegender Begriff ist Vielfalt, mit der Verpflichtung, sich als Kunstsparte immer wieder neu zu erfinden und neu zu organisieren. Zeitgenössischer Tanz verlangt, durch das Hinterfragen von Konventionen und Aufführungstraditionen, nach neuen Präsentations- und Produktionsformen. Wir wollen das körperlich, aber auch intellektuell Mögliche wagen, um relevante Fragen an die Gesellschaft und an das menschliche Sein am performativen Ort zu verhandeln. Zeitgenössischer Tanz trägt für uns zur Innovation anderer Kunstsparten bei und bietet vielleicht einen Entwurf für das Theater der Gegenwart. Zeitgenössischer Tanz ist mehr als ein bloßer Gegenentwurf zur Klassik und zur Moderne, es ist für uns ein Medium der Grenzüberschreitung: ästhetische, körperlich-technische und politischintellektuelle Grenzen können überschritten werden, Grenzen zwischen Sprech- und Musiktheater sowie Performance Art werden aufgebrochen bzw. aufgehoben. YH: Könntest Du zu diesem Aspekt des „menschlichen Seins“ noch etwas sagen?
T ANZDRAMATURGIE IM S PANNUNGSFELD
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TT: Für uns geht es dabei auch um eine Entdeckung von Mitleidsfähigkeit, darum, das Menschliche in der Kunst wieder neu zu entdecken. Diese Frage der Menschlichkeit wird besonders virulent, vergleicht man unsere Produktionen mit dem Musiktheater. Hier steht die Arbeit am Mythos im Mittelpunkt. Für mich geht es im zeitgenössischen Tanz hingegen um Themen, die mich als Mensch bewegen. Wir arbeiten beispielsweise gerade an der Produktion traffic, die sich mit dem Altwerden bzw. den „Risiken“ von Jungsein auseinander setzt. Es kann schon sein, dass wir damit in Kassel einen ganz eigenen Weg beschreiten. YH: Eine zeitgenössische Tanztheaterkompanie an einem deutschen Staatstheater ist immer noch eher eine Ausnahme als eine Regel. Oft ist die Halbwertszeit dieses Zusammenspiel von zeitgenössischen Kompanien am Staatstheater nicht lange, ziehen sich die Choreographen (z.B. Sasha Waltz) schnell wieder aus diesem Kontext zurück. Was macht es so schwierig für zeitgenössische Kompanien im Theaterbetrieb? Welche Rolle spielt dabei das Hinterfragen von Produktionsformen? TT: Typische Arbeitshierarchien wie sie auch bei einem klassischen Ballettensemble gefunden werden, weichen hier dem Arbeitsansatz als Kollektiv, in welchem die Beteiligten als Gleiche unter Gleichen zu sehen und zu verstehen sind. Und genau diesem Ansatz stehen die klar hierarchisch geprägten Machtstrukturen eines klassischen Theaterbetriebs gegenüber. Der Herr Direktor und der Controller sagen hier augenzwinkernd „der Chaotenhaufen bringt den ganzen Laden durcheinander.“ Im Staatstheater Kassel kommt hinzu, dass der Begriff und die Arbeitsweisen des Zeitgenössischen Tanzes innerhalb des Gesamtbetriebs in den vielen einzelnen Abteilungen noch nicht zur Gänze ins Bewusstsein gedrungen zu sein scheint. Dies bedeutet: Im Arbeitsalltag wird häufig mit den Begrifflichkeiten des Klassischen Tanzes gearbeitet, welcher eine andere Kommunikationsstruktur und andere Hierarchien verlangt. Intern sind viele Überzeugungsgespräche notwendig gewesen, die Sprachregelung „Zeitgenössischer Tanz“ durchzusetzen, trotzdem existieren auch nach einer Neubeschriftung der Räumlichkeiten wieder ein Ballettsaal, Ballettgarderoben, Elevengarderoben etc.
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YH: Könntest Du detailliert Eure Arbeitsprozesse beschreiben und erklären, inwiefern sie vom ‚Regelbetrieb‘ des Theaters abweichen, so dass ihr als ein „Chaotenhaufen“ bezeichnet werdet? TT: Ein Referenzpunkt ist z.B., dass eine Oper zwei bis drei Jahre im Voraus geplant wird. Damit stehen die Besetzung, das Orchester und der Dirigent fest, die Handlung und der Stoff sind bekannt. Mit der Wahl eines bestimmten Regisseurs ist antizipierbar, wie die Inszenierung aussehen wird. Im Gegensatz dazu ist die Produktion bei uns selbst Teil des Ziels. Der Weg – so viel steht fest – gleicht einem Suchprozess, einem Experiment, die Probensituation einem Labor, einem Prozess der Transformation von Material: Bei Probenbeginn liegt dem Team oft nicht mehr als nur eine Ausgangsidee für das Stück vor, die dann innerhalb des Probenprozesses mehrmals verändert wird. Konkret heißt das: Wir haben anfangs ein weißes Blatt Papier und beginnen zunächst mit den Tänzern, mit dem Choreographen, mit dem Dramaturgen, mit dem Proben- und Trainingsleiter über die Produktion nachzudenken. Daraus entsteht dann eine Sammlung von Fragen, die an die Tänzer zurückgegeben werden. Diese Fragen beschäftigen das Ensemble lange Zeit über die ersten Probenwochen hinweg. Nach und nach werden Dinge zusammengeführt, man experimentiert und verwirft, so dass nach vier bis fünf Wochen manchmal noch gar nicht so viel klar ist. Die Konkretisierung geschieht oft erst in der allerletzten Woche. Manchmal ringen wir bis zur Premiere um eine bestimmte ästhetische Form. Mit diesem Arbeitsprozess sind wir mit dem Rest des Hauses nicht wirklich kompatibel. Wenn beim Bühnenbild schlagartig irgendwelche Elemente hinzukommen oder wegfallen sollen, wenn technisch noch etwas dazu erfunden werden muss, dann bereitet das selbstredend in einem weitgehend nach ökonomischen und rationalen Gesichtspunkten agierenden Theaterbetrieb durchaus Probleme. Auch ein kurzfristiges Gastspiel der Kompanie im Ausland bringt die Planung des Gesamtbetriebs zum Teil schon an den Rand des „Nervenzusammenbruchs“. Aufgrund der sehr langfristigen Disposition eines Staatstheaterbetriebs mit mehreren Sparten ist nicht nur die Kompanie in den Vorstellungen des Spielplans verplant, sondern auch alle anderen Arbeitskräfte (z.B. mitreisende Techniker etc.), die nicht spontan umdisponiert werden können. Es ist natürlich auch nicht vorrangiges Interesse des Theaters, das Tanztheater auf Reisen zu schicken, sondern primär für die Region, für Kassel Theater zu machen. D.h. es muss zwischen Internationalität
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(was Tanz für mich immer auszeichnet) und dem regionalen Bezug vermittelt werden. Dieser Brückenschlag ist schwierig. Der generelle Verzicht auf Gastspiele hätte wiederum Auswirkungen auf den Ruf und somit auf den internationalen ‚Wert‘ und Ruf der Kompanie. Für den Verwaltungsapparat ist der Zeitgenössische Tanz schon oft ‚Last und Leid‘. Gerade in Bezug auf die Internationalität des Zeitgenössischen Tanzes treten neue Fragestellungen in Bezug auf Visa- und Steuerrecht und allgemeiner Organisation an den Verwaltungsapparat heran. Hinzu kommt eine gesteigerte Kontakthäufigkeit mit Berufsgruppen wie Sounddesignern, Schlag- und Klangwerkern, DJs, Videokünstlern etc., und mit jenen die komplette Palette des internationalen Urheberrechts. Leider finden Festivals meistens in den Theaterferien, und somit zu für den öffentlichen Theaterbetrieb ungünstigen Zeiten, weil Ferienzeit statt. Die Freie Szene agiert hier wesentlich flexibler und hat andere Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit und Kooperationen. YH: Das hört sich so an, als wäre es für beide Seiten kein leichtes Unterfangen? TT: Eines ist sicher: Zeitgenössischer Tanz an einem öffentlich-rechtlichen Theaterbetrieb provoziert und verlangt von allen Beteiligten Mut, und das geht über die Fragen des strukturellen Arbeitsprozesses hinaus. Es bedarf Mut auf beiden Seiten, weil das Theater als Massenmedium ausgedient zu haben scheint – rückgängige Besucherzahlen aufgrund von Konkurrenz anderer Kulturanbieter. Mut erfordert es auch von der Theaterleitung, ein ökonomisches Risiko einzugehen, ‚alt-eingesessenes‘, bürgerliches Publikum zu verlieren. Und zu aller Letzt der nicht zu unterschätzende Mut seitens der Besucher, sich auf das Wagnis Tanz einzulassen. Das ‚Schlachtfeld‘ für Lobbyarbeit und Überzeugungsarbeit ist bereitet, wenn ein bisher eher klassisch bis modern orientiertes Tanztheatergeschehen vor Ort sich hin zum Experimentierfeld eines kollektiv geführten Tanztheaterensembles entwickelt. Die Relation von Einnahmen und Ausgaben gerät im ökonomischen Tunnelblick schnell in ein Ungleichgewicht – in ein für die kulturpolitische Diskussion gefährliches Ungleichgewicht. Trotz dieser permanenten Reibung geht es nicht darum zu fragen, ob das Staatstheater der richtige Ort für das Zeitgenössische Tanztheater ist. Meiner Ansicht nach ist ein Ausbrechen aus den gewohnten Spielstätten,
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weg von der Guckkastenbühne nicht zwangsläufig nötig, um zeitgenössischen Tanz zu realisieren. Vielmehr ist die Fragestellung nach dem WIE von maßgeblicher Bedeutung, die Durchführbarkeit von Zeitgenössischem Tanz gegen alle Widerstände und Unwägbarkeiten zum Trotz. YH: Welche Chancen siehst du für den zeitgenössischen Tanz am Staatstheater? Welche produktiven Seiten hat dieses Zusammenspiel und wer passt sich in diesem Prozess wem an? TT: Diesen geschilderten suboptimalen Umständen steht die große Chance gegenüber, unter dem finanziellen Schutzschirm eines öffentlichrechtlichen Betriebs ein Repertoire an zeitgenössischen Stücken erarbeiten, erhalten und in einer relativ hohen und sicheren Anzahl von Vorstellungen, einem breiten Publikum präsentieren zu können. Das Staatstheater bietet nicht nur Freiraum zu und während der Produktion unter relativ sicheren Bedingungen, sondern auch die garantierte Bereitstellung von Proberäumen und letztendlich den Erhalt einer Kompanie durch die finanziell regelmäßige Absicherung aller Beteiligten – und erst einmal auch ungeachtet dessen, ob sich die Vorstellung ökonomisch rechnet oder nicht. Wir haben innerhalb der Sparte unheimliche Freiheiten im Theater. Natürlich werden die Verträge vom Intendanten gemacht, aber die künstlerischen und inhaltlichen Entscheidungen treffen wir, wie beispielsweise die Auswahl der Tänzer und interne Organisation der Sparte Tanz. Das ist eine wirklich große Chance. Es ist auch das, was das Arbeiten an einem Staatstheater sehr schön macht. Die Begegnung zwischen Offenheit und Struktur kann befruchtend sein. Die Anforderungen, die eine Zeitgenössische Tanzkompanie an den Gesamtbetrieb stellt, offenbaren sich in vielen Einzelprozessen mit jeweils ganz unterschiedlichen und sehr spezifischen Problemstellungen. Innerhalb der Abteilung sind durch wechselnde Projektteams und der Rotation von Leitungsaufgaben wechselnde Leitungshierarchien denkbar. Der kollektive Arbeitsansatz verlangt in bestimmten Arbeitsphasen Gleichberechtigung unter den Beteiligten sowie ein hohes Maß an Austausch und Interaktion, mit Verpflichtung zu Kreativität und Motivation. Die erhöhte Eigendisziplin verlangt das Treffen von Entscheidungen und deren Einhaltung, was letztendlich mit einer hohen sozialen Verträglichkeit und Kompetenz der Mitglieder einer Tanzkompanie einhergeht.
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YH: Was meinst Du genau, wenn du vom Kollektiv sprichst? Wie sieht diese kollektive Zusammenarbeit bei Euch aus? TT: Wir haben eine kollektive Dramaturgie, die mit einem gemeinsamen Austausch zwischen allen Beteiligten beginnt. Es werden viele Gespräche geführt, bei denen alle Vorstellungen, alle Ideen gesammelt werden. Das kann ein anstrengender und Nerven aufreibender Prozess sein, wenn jeder mitspricht, und das Niveau sehr unterschiedlich ist. Aber dadurch wird eine Fülle an Material generiert. Dieses wird dann im Laufe des Arbeitsprozesses sondiert und sortiert. Die schlussendliche Entscheidung – und das ist dann die Begrenzung des Kollektivs und der Punkt, wo die Hierarchie deutlich ins Spiel kommt – trifft dann der Choreograph aber auch der Dramaturg. Es ist zwar Johannes (Wielands) Entscheidung, aber wir sind natürlich immer beratend dabei und haben einen großen Einfluss. Man arbeitet in einem Team, indem sich auch Führungspositionen verschieben, in dem Verantwortung abgegeben oder neu verteilt werden kann, in dem man sich aufeinander verlassen kann. Auch das ist für mich eine Form von kollektiver Arbeit, insbesondere wenn man das mit dem hierarchisch strukturierten Staatstheaterbetrieb vergleicht. Da gibt es den Intendanten, den Verwaltungsdirektor, den Opern- und den Betriebsdirektor, und alle haben ihren Hackbereich. Das ist bei uns anders. Es hat auch etwas mit Demokratisierung von kulturellen Prozessen zu tun, auch von Menschlichkeit: Menschlich und respektvoll mit anderen umzugehen und ihnen auch Verantwortung zu übertragen. YH: Du sprichst davon, dass es eine kollektive Dramaturgie gibt. Welche spezifische Aufgabe hast du dann noch als Dramaturg in den Produktionen und am Haus? Was unterscheidet Dich von einem ‚klassischen‘ Dramaturgen? TT: Als Tanztheaterdramaturg beschäftigte ich mich mit dem Spekulativen, mit jenem, was noch gar nicht existiert. Damit unterscheidet sich diese Arbeit von jener meiner Dramaturgie-Kollegen im Sprech- und Musiktheater, die mit konkreten Texten und Stoffen umgehen. Neben der direkten Proben- und Produktionsbetreuung und neben der künstlerischen Mitgestaltung der Tanztheaterproduktionen beschäftige ich mich auch mit dem Management der Kompanie. Allgemein ist der Tanzdramaturg ein Mischwesen, ein
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Grenzgänger, er arbeitet an der Peripherie. Er soll Fragen stellen, die das Projekt hinterfragen und damit weiterführen. Doch das reicht heutzutage bei weitem nicht mehr aus, das Berufsbild ist ein hochdiffiziles. Dem Tanztheaterdramaturg kommt die Rolle eines Moderators und Managers zu, der zwischen allen Bereichen des Theaters vermittelnd eingreift; er ist Macher und Prügelkind, wobei es im Theateralltag oftmals schwierig ist, sich die Neutralität zu bewahren. Er muss im Arbeitsprozess und den damit verbundenen Auseinandersetzungen zeitgleich ausgleichend und inspirierend tätig sein. Er ist für den Choreographen und die Kompanie Impulsgeber, Ratgeber, Finanz- und Steuerberater und vieles mehr: Als Tanztheaterdramaturg sitze ich zwischen allen Stühlen – und das ist herrlich! YH: Könntest Du etwas aus Deinem Arbeitsalltag erzählen? Gerade kommst Du aus einer Regiesitzung und unsere Gesprächszeit ist begrenzt, weil du danach am Programmheft der nächsten Produktion arbeitest. Was wird in der Regiesitzung besprochen? Wie sieht deine Arbeit konkret aus? TT: Als Dramaturg disponiere ich den Spielplan des Tanztheaters mit, dazu gehören auch die Koordination der Proben und der ExtraVeranstaltungen. Es müssen technische Absprachen gemacht werden: z.B. wann das Klavier auf den Proben sein muss, wann der Tanzboden, wann der Schwingboden gelegt wird und viele weitere unzählige organisatorische Kleinigkeiten. YH: Heißt das, dass ein Großteil Deines Aufgabenbereichs in der Produktionsleitung ist? Und wie viel Zeit bleibt für die Produktionsdramaturgie. Wie nah bist Du an der Entwicklung der Stücke dran? TT: Der Begriff Produktionsleitung trifft das Ganze ziemlich konkret. Als Tanzdramaturg laufen bei mir die ganzen Fäden für die unterschiedlichen Produktionen zusammen. In Kassel kommt dabei die etwas nervenaufreibende Aufgabe hinzu, dass der Tanzdramaturg (weil er ja so wenig zu tun hat) auch die Gastspiele am Haus koordiniert und betreut. Das ist fast schon höheres Management, weil man auch verhandelt und Personalmanagement betreibt, was sich schon aufgrund der vielen ausländischen Mitglieder und Gäste der Kompanie nicht immer einfach gestaltet. Da kann es schon vorkommen, dass man sich am Heiligen Abend, wenn
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sich die Familie bereits unter dem Weihnachtsbaum versammelt hat, mit einem Konsulatsmitarbeiter in Taiwan über ein Arbeitsvisum für einen Gasttänzer in der kommenden Produktion „unterhält“ (die Verwaltung involviert sich in solche Arbeitsprozess nur bedingt, weil der Arbeitnehmer für solcherlei Dinge, wie man selbst weiß und wie die Theaterverwaltung es auch weiß, selbst verantwortlich ist): „Warum engagieren sie dann nicht einfach mal deutsche Tänzer, da gibt es keine Probleme.“ Die Betreuung ist mit der Anmeldung auf Ausländerämtern, Einwohnermeldeämtern und dem Erstellen von Steuererklärungen noch lange nicht beendet… Abenteuer bietet der Beruf ebenfalls ausreichend. Wer kann schon von sich behaupten, beim Versuch des Transportes eines sechs Meter langen Astes zu Fuß quer durch Manhattan während eines Gastspiels von der Polizei festgesetzt worden zu sein? In welchem Beruf kommt man dazu, im Schnellverfahren eine Drehgenehmigung auf einem internationalen Flughafen zu erwirken und dort auf dem Rollfeld zwischen startenden und landenden Flugzeugen den Einsatz der Flughafenfeuerwehr auszulösen? YH: Wie viel Zeit bleibt Dir dann noch für die Produktionsdramaturgie und welche Bedeutung hat sie für Dich? TT: Es ist eine permanente Gradwanderung. Ich versuche so oft wie möglich, im Saal zu sein, das Stück mit zu entwickeln, zu beobachten, Fragen zu stellen, aber die Zeit ist knapp bemessen. Dabei versuche ich zwei bis drei Stunden am Tag im Saal zu sein. Das sind die besonderen Momente am Tag, weil man künstlerisch kreativ wird. Allerdings haben die Organisation und das Management einen ziemlich hohen Zeitaufwand. Man fängt morgens um 8 Uhr an und hört abends um 23 Uhr oder später auf. Wir haben ein durchaus allumfassendes Berufsbild vor uns... YH: Du sagst, die Arbeit des Dramaturgen ist Fragen zu stellen, zu beobachten? Könntest Du hier ein paar Beispiele geben, was du fragst? Worauf achtetest Du, wenn Du beobachtest? TT: Man beobachtet und fragt, wieso muss es gerade diese Bewegung sein, wieso ist genau das der dramaturgische Ablauf, können die Teile nicht miteinander verschoben werden. Meine erste Produktion mit Johannes Wieland war raus bist Du – da arbeiteten wir mit Sounds von Bernd Kämpfert
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und es wirkte auf mich sehr glatt und zu schön. Ich habe Johannes dann gefragt: „Können wir da nicht einen DJ hinstellen, der das ganze live abmischt und auch auf der Bühne ist?“ So entstand die Idee eines Glaskastens, in dem der DJ dann stand und den Kämpfert mit Rock und Deep House-Klängen abmischte. Auch geht es darum eine Rahmung zu finden, ein Anfang und ein Ende, Dinge zu sehen, die der Choreograph vielleicht nicht mehr sieht, weil er die Distanz zum Stück verloren hat. Man ist der Anwalt des Publikums und muss dafür eine eigene Distanz zum Stück bewahren. YH: Wie bist Du eigentlich Tanz-Dramaturg geworden? TT: Ich bin kein klassischer Tanzdramaturg, sondern ich bin eigentlich Opernregisseur. Ich habe angefangen als Theologe und Musikwissenschaftler, und habe bei Götz Friedrich Musiktheater und Regie studiert, dann selbst inszeniert und assistiert. Während des Studiums habe ich auch bei John Neumeier als Beleuchtungsinspizient gearbeitet. So hat sich eine Liebe zum Tanz entwickelt, wobei ich im Laufe meines Theaterlebens die unterschiedlichsten Stile kennen lernen konnte. Später habe ich Kulturmanagement studiert und zugleich als künstlerischer Leiter für das Kinder- und Jugendtheater in Görlitz gearbeitet. Als dann eine Stelle in Kassel frei wurde, habe ich mir mehrere Proben angeschaut und habe entschieden, dass es äußerst spannend sein könnte, mit dem zeitgenössischen Tanz zu arbeiten, jenseits von Dogmen zu denken, am Puls der Gegenwart zu agieren. Auch die Engführung von künstlerischen Prozessen mit Kulturmanagement, die Verbindung zwischen Tanz, Schauspiel und Musiktheater hat mich sehr fasziniert. Das begreife ich als mein Metier. YH: Was würdest Du jemandem raten, der sich für Tanzdramaturgie interessiert? Wie sollte er oder sie vorgehen? Was für Interessen und Qualifikationen sollte er oder sie mitbringen? TT: Ohne professionelles Handwerkszeug und weitreichende Kenntnisse im Bereich Kulturmanagement ist der Tanzdramaturg verloren. Denn der Tanztheaterdramaturg übernimmt das Management der Kompanie, verhandelt Verträge, organisiert das Budget (rechnen sollte er also auch können), besorgt Sponsorengelder, betreibt spezielle Presse- und Öffentlichkeitsar-
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beit für das Tanztheater und übt sich nebenbei in Lobbyarbeit, indem er sich bei den relevanten Veranstaltungen sehen lässt und dort agiert. Aber er sollte auch die Fähigkeiten haben, künstlerischen Prozess beurteilen zu können, das kann man nur, wenn man in künstlerischen Produktionen mitgearbeitet hat. Mit einem theoretischen betriebswirtschaftlichen Wissen wird man hier nicht weiter kommen. Man kann dieses BWLWissen nicht einfach über einen Prozess stülpen, sondern man muss versuchen anhand des konkreten Prozesses, der konkreten Strukturen eigene Instrumentarien zu finden. Das hat – zugegeben – auch viel mit Improvisation zu tun. Im Grunde sind die Anforderungen an den Tanztheaterdramaturgen damit einfach: er muss schlicht und ergreifend ein theaterpraktisch erprobter Allrounder sein, mit dem Wissen darum – frei zitiert nach Wolf Wondratschek –, dass er dann fehl am Platz ist, sobald es gemütlich wird. Wenn er dann noch eine Affinität zur Psychologie und zur Tätigkeit eines Kindergärtners hat (nicht nur für die Tänzer und Choreographen, auch für den Rest des Hauses...) und die Fähigkeit des Zuhörens besitzt, dann ist er genau richtig. Die eruptiven Emotionen im Theateralltag, welche geprägt sind von Eitelkeit und Selbstdarstellung, muss er mit einem lächelnden Augenzwinkern und ironischer Distanz hinnehmen. YH: Haben sich im Laufe der Zeit Deine Kriterien verändert, nach denen du Prozesse einschätzt? Und wenn man so ein eingeschleifter Allrounder ist, was fordert einen noch heraus? TT: Ja. Als ich angefangen habe, war ich ganz klassisch orientiert. Dann habe ich Götz Friedrich kennen gelernt, der eine sehr eigene Ästhetik hatte und vor allem ein handwerkliches Können, das mich inspiriert hat. Im Laufe der Zeit bin ich auch wagemutiger und experimenteller geworden, was dann dazu führt, dass man Dinge – wie sie zum Beispiel in der Oper vorkommen – eigentlich nicht mehr wirklich erträgt. Man steht kopfschüttelnd davor, auch weil es einen einfach nicht mehr interessiert, weil der Bezug zum Menschen weit weg ist. Für mich sollte der Dramaturg auch bereit sein, Strukturen zu hinterfragen, Vormachtstellungen z.B. in der Personalunion von Tanzdirektor und Chefchoreograph zu überdenken und dadurch den Zeitgenössischen Tanz lebendig zu erhalten und Vielfalt zu garantieren.
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Der Spagat zwischen künstlerischer Tätigkeit und professionellem Kultur-, Theater- und Projektmanagement ist eine Herausforderung, die oftmals halsbrecherisch ist. Das Agieren in der ‚Grauzone‘, zwischen den Fronten Kompanie und Theater, zwischen kunst- und strukturgebender Ordnung, im Spannungsfeld von Produktion, Publikum, Gastspielorganisation am eigenen Haus, Koordination und Durchführung der internationalen Gastspiele der Kompanie, im Spannungsfeld von Rahmenprogrammen zu den Produktionen, Einführungsveranstaltungen, Volkshochschulkursen, Workshops, Education-Projekte etc. kann auch Freiheit bedeuteten. Diese Freiheit ermöglicht die Positionierung von eigenen Standpunkten sowie die Eroberung eines eigenen Raums, aber es bleibt ein Ungleichgewicht; um frei mit Merce Cunninghams zu sprechen: „Wie kann man sich selbst in unbekanntes Land versetzen und dann eine Lösung, einen Weg herausfinden, nicht unbedingt die einzige, aber immerhin eine plausible Lösung. Das erfordert natürlich unkonventionelle Verhaltensweisen.“2
2
Merce Cunningham: Der Tänzer und der Tanz. Gespräche mit Jacqueline Lesschaeve, Frankfurt/M.: Fricke Verlag 1986.
Die Kunst ist dazwischen: Konzepte, Programme und Manifeste zur kulturellen Institutionalisierung von Tanz N ICOLE H AITZINGER
Die Institutionalisierung von Tanz und die damit einhergehende Wertigkeit im System der Künste ist mit den vorherrschenden politischen, kulturellen und sozialen Kontexten der jeweiligen Zeit verbunden. Je höher die Aufmerksamkeit für Bewegung, Geste, Körperlichkeit und Tanz als kulturelle und ästhetische Phänomene ist, desto wahrscheinlicher wird die Etablierung von spezifischen Orten für den Tanz. Gerade der Ort, die Verortung verbindet sich mit der Frage der Institutionalisierung, also im Wortsinn einem instituere, einer Errichtung, Einrichtung, Erstellung, Aufstellung. Ebenso spielen in den Akademisierungsbestrebungen, die eng mit der Institutionalisierung von Tanz verbunden sind/die als ein wichtiger Aspekt der Institutionalisierung von Tanz gesehen werden kann, sowohl die Bildung wie auch die Techné in unterschiedlichen Gewichtungen eine Rolle: Zwei Aspekte, die schon in der Antike Kultur bestimmten.1 In diesem Text ist
1
„Das Wort ‚Kultur‘ ist dem lateinischen ‚cultura‘ entlehnt und kommt von colere = drehen, wenden, bebauen. […] Wichtig ist: ‚Cultura‘ bedeutet die agrarische Tätigkeit und deren Voraussetzung: Das Ackerland. Im Griechischen gibt es kein eigenes Wort für ‚Kultur‘. Dem lateinischen Wortsinn entsprechen am ehesten ‚paideia‘, Bildung, oder techné, Kunst und Technik.“ Zitiert nach Dirk Baeker: Kultur, in: Karlheinz Barck et. al (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe.
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von besonderem Interesse, welche Institutionalisierungsvorschläge im Verhältnis zur jeweiligen Perspektivierung von Körperlichkeit aus verschiedenen Dokumenten herauskristallisiert werden können. Wie also werden tanzende, choreographierte und inszenierte Körper in Regelsystemen oder programmatischen Ideen als Instrumente verhandelt, zu kulturellen Erscheinungsformen gemacht? Welche Grundbedingungen für Institutionalisierung lassen sich dabei herauslesen? Die folgenden Ausführungen folgen dem Format des zeitübergreifenden Mappings, um exemplarisch historische wie zeitgenössische Konzepte, Programme, Manifeste und – von den „Lettres Patents der Académie de Danse“ (1662) bis zu zeitgenössischen Profilierungen von Tanzinstitutionen – ihre jeweils kulturellen wie tanzspezifischen Verschriftungen von Körper, Bewegung und Choreographie vorzustellen. Bei den herangezogenen Textsorten handelt es sich um Vor-Schriften im doppelten Sinn: Sie werden vor oder im Zuge der konkreten Errichtung eines Ortes der Zusammenkunft verfasst und/oder sie legen programmatische Regeln und Regelungen (Tanztechnik, Ausbildung, Ästhetik) für eine zukünftige Institutionalisierung fest. Die Methode des Mappings verfolgt keine lineare Geschichtsschreibung, sondern erlaubt über re-konstruktive Momentaufnahmen eine vergleichende Bestimmung von Situationen.
E INLEITUNG : „M ANIFESTE
POUR “
(2009)
Der zeitgenössische Choreograph und Tänzer Boris Charmatz – seit 2009 künstlerischer Leiter des ehemaligen Centre Chorégraphique National de Rennes – veröffentlicht 2009 ein „Manifeste pour“, in dem er das Konzept „nationales Choreographiezentrum“ verabschiedet und ein Museum des Tanzes (musée de la danse) als gegenwärtige Form der kulturellen Institutionalisierung für Tanz fordert.2 Die zeitgenössische performative Kunst greift heute, mehr als 40 Jahre nach dem so genannten legendären „No manifest“ (1965) von Yvonne Rainer, das sich in seinem Gestus des Nein-
Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart: Metzler, 2001, Bd. 3, S. 510-556, hier: S. 512f. 2
Boris Charmatz: Manifeste pour, unter http://www.museedeladanse.org/sites/de fault/files/manifeste-A0-FR.pdf (franz.; 07.07.2010).
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Sagens radikal gegen jede Mystifizierung und Manifestierung von Tanz richtet,3 wieder auf ein vor allem von den historischen Avantgarden genütztes Format der künstlerischen Kommunikation zurück. Den historischen Avantgardemanifesten (1910-1930) können retrospektiv folgende Aspekte zugeordnet werden: Sie werden von einem Kollektiv oder einem Repräsentanten verfasst, ihre Botschaft ist leicht identifizierbar und präzise artikuliert. Sie erfüllen eine bestimmte Funktion im soziopolitischen Kontext, das heißt, sie versuchen, die bestehende Realität zu ändern sie sind engagierte Akte, die konkretisieren und/oder verdammen, sie suchen die Öffentlichkeit, wollen ein größtmögliches Publikum erreichen, und sie richten sich explizit gegen einen faktischen Seins-Zustand mittels einer oft rohen und gewalttätigen Sprache.4 Zeitgenössische Kunstmanifeste sind im Vergleich ähnlich in ihrer Intention – hier sind die drei Punkte Programmatik, Präsentation und Engagement zu nennen – allerdings unterscheiden sie sich in ihrem Gestus der Verschriftung und dem Aspekt der Internalisierung. Hans Ulrich Obrist analysiert in „Manifestos for the Future“: „[…] it could be said that the twenty-first century art manifesto appears to be more introverted than aggressive, more reticent than screaming, and more individual than collective.“5 Ein zeitgenössisches Manifest für den Tanz, wie das von Boris Charmatz, scheint heute – in einer Gesellschaft, in der sich Raum-Zeitvorstellungen radikal verändern, und die deutlich weniger konzise künstlerische Strömungen als die vorigen Jahrhunderte hervorbringt6 –weniger
3
Yvonne Rainer publizierte das Manifest als Postskript im Programmheft zu Parts of Some Sextets (1965): „NO to spectacle no to virtuosity no to transformations and magic and make-believe no to the glamour and transcendency of the star image no to the heroic no to the anti-heroic no to trash imagery no to involvement of performer or spectator no to style no to camp no to seduction of spectator by the wiles of the performer no to eccentricity no to moving or being moved.“ Yvonne Rainer: Work (1961-1973), New York 1974, S 178.
4
Friedrich Wilhelm Malsch: Künstlermanifeste. Studien zu einem Aspekt moderner Kunst am Beispiel des italienischen Futurismus. Bonn: VDG, 1997, S. 21.
5
Hans Ulrich Obrist: Manifestos for the Future unter http://www.e-flux.com/jour nal/view/104 (07.07.2010).
6
Ebd.
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nostalgisch rückwärtsgewandt zu sein, als es vielmehr potentielle Gesten eines ‚zukünftigen‘ Tanzes aufzuzeigen vermag. Diese zeitgenössischen Bekenntnisse, Offenbarungen, Gebote übertragen in Schrift, die in dieser Form schon verloren geglaubt schienen, rekurrieren implizit auf ein ‚messianisches Wissen‘, das immer dann auftaucht, wenn das ‚Ende‘ der Zeit, der Welt befürchtet wird.7 Historisch perspektiviert übertrugen die historischen Avantgarden das aus der Religion kommende und lang ihr vorbehaltene Verfahren der Listung von Geboten auf die Kunst. Hier werden formal Analogien zu Boris Charmatz „Manifeste pour“ und Hans Ulrich Obrists „zehn Thesen“ zur Kunst des 21. Jahrhunderts erkennbar. Obrist betont inhaltlich – im Vergleich mit der Utopie einer (Kunst)Welt sowie die Rettung der Seele durch die Kunst der historischen Avantgarde – die „Polyfonie der Zentren“ und eine „neue Sehnsucht nach nicht medial vermittelten, direkten Erfahrungen“: „1. Jeder Ort kann Zentrum sein 2. Wir brauchen keine Karten 3. Wir leben auf einem Archipel 4. Stadt und Dorf sind glokal 5. Die Realitäten sind parallel 6. Es gibt kein Leitmedium mehr 7. Identität ist eine Wahl 8. Die Kunst ist dazwischen 9. Das 21. Jahrhundert ist ein Gespräch 10. Dies ist kein Manifest“8
In einer Gegenwart, die von Massenkultur, Digitalisierung und permanentem Wandel bestimmt ist, scheint der Wunsch nach Unmittelbarkeit – ihre höchste Verdichtung wird in der Kunst(-theorie) und Philosophie9 dem Tanz zugesprochen – stärker zu werden.
7
Vgl. Boris Groys: The Weak Universalism unter http://www.e-flux.com/jour-
8
Hans Ulrich Obrist: Kunst im 21. Jahrhundert. In: Das Kulturmagazin – Du,
9
Vgl. u.a. die Tanzperspektivierungen von Jean-Luc Nancy oder Jacques Rancière.
nal/view/130 (07.07.2010). 807, Juni 2010, S. 24-25.
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In diesem Sinn kann die quasi-manifestierende Annäherung an Tanz von Boris Charmatz gleichzeitig als archäologischer wie projektiver Akt verstanden werden, der einer Homogenisierung von Körper-Zeit wie ZeitKörper Widerstand zu leisten versucht. Nicht zufällig formuliert er – eben um nicht abzuschließen („pour ne pas finir“), um zu keinem Ende zu kommen und eine Zukunft des Tanzes als möglich erscheinen zu lassen – „zehn Gebote“ („dix commandements“) für das Museum des Tanzes: „un micro-musée un musée d’artistes un musée excentrique un musée incorporé un musée provoquant un musée transgressif un musée permeable un musée aux temporalités complexes un musée cooperative un musée immédiat.“10
Im „Manifeste pour“ lässt sich ein gegenwärtiges Tanzverständnis herauskristallisieren, das sich implizit auf das Referenzsystem Moderne beziehen lässt: Hier hat der Körper kein Zentrum, braucht keine Versicherung seiner selbst in einer Körpermitte. Auch der Begriff Choreographie wird im Manifest zunächst ausgelöscht, um ihn zu erweitern. Die anthropologische Dimension des Tanzes vermag den von Boris Charmatz als begrenzt empfundenen Rahmen der Choreographie zu sprengen. In diesem Sinne ist Tanz jenseits von Struktur immer auch Imaginarium. Im Akt der anthropologischen Subjektivierung wird Tanz radikal vom Körper aus gedacht; Gegensätze werden (ineinander) aufgelöst. So können die Rolle des Akteurs und des Betrachters in einem Körper zusammenfallen, wie auch Fiktionen in der Zwischenzone des Tuns und Betrachtens hervorgerufen werden. Das Oszillieren spiegelt sich auch in dem Konzept der entorteten Verortung des Tanzmuseums: „We are at a time in history where a museum can modify BOTH preconceived ideas about museums AND one’s ideas about
10 Charmatz: Manifest Pour.
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dance.“11 Das Tanzmuseum ist nach Charmatz’ Vision ein Raum im Werden, ein symbolischer Raum, zugleich imaginär wie real, ein praktischer, ästhetischer und auch spektakulärer Raum, ein Raum, der von verschiedenen Bewegungen und Gesten immer wieder hervorgebracht werden soll. Im Vergleich mit Avantgardemanifesten, die sich gegen ein bestehendes oder angenommenes tradiertes Kunstverständnis, gegen eine bestehende Ordnung richten und den faktischen Seinszustand ändern wollen, ist das „Manifeste pour“ von der Idee einer der potentiellen Allesdurchdringung des Tanzes (Jean-Luc Nancy) bestimmt.
L ETTRES PATENTES DU ROY (1661): O RT , I NSTRUKTION , R EGISTRIERUNG , Z ENSUR Die Etablierung der Academie Royale de Danse (1661) ist ein wesentlicher Schritt zur Institutionalisierung des Tanzes im 17. Jahrhundert. In den „Lettres patentes du roy, pour l’etablissement de l’Academie royale de danse en la ville de Paris“ aus dem Jahre 1662 wird die Einführung von Statuten und Zensurmaßnahmen mit der Unordnung, Konfusion und dem Missbrauch des Tanzes während der letzten Kriege argumentiert. In vergangenen Zeiten seien dem Tanz zwar unbestreitbare Qualitäten in der direkten Formung des (Gesellschafts-)Körpers und des Divertissements in Kriegs- und Friedenszeiten zugesprochen worden; allerdings – und das verändert die gesellschaftliche Positionierung des Tanzes radikal – müsse nun eine gegenwärtig um sich greifende Korruption und der Missbrauch des Tanzes verhindert werden. Daher legt der höchste und mächtigste Repräsentant und Verfasser, König Ludwig XIV., zwölf prinzipielle und allgemeingültige Statuten für die Tanzakademie fest. Der öffentliche und theatrale Tanz wird unter die Kontrolle von dreizehn ernannten professionellen und an die Akademie berufenen Tanzmeistern gestellt. Die Konsequenzen sind eine zunehmende Professionalisierung und Virtuosität des Tanzes um 1700. Folgende Punkte der Statuten scheinen für die Diskussion der Institutionalisierung von Tanz von besonderer Bedeutung, da sie – als Modell oder Gegenentwurf – bis in die Gegenwart aufgegriffen werden. Erstens
11 Charmatz: Manifeste Pour.
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wird schon im Paragraphen II der Aspekt der Etablierung eines Raumes zur Zusammenkunft als Institutionalisierungsgarant definiert. Dabei handelt es sich (noch) nicht um einen feststehenden Ort (Gebäude), dennoch: Die dreizehn Tanzmeister müssen sich einmal im Monat an einem zuvor gemeinsam vereinbarten Ort treffen, um über die Perfektion des Tanzes und seine Missbräuche zu sprechen. Die Kosten dafür werden von der Allgemeinheit übernommen. Zweitens wird der Aspekt der Instruktion besonders hervorgehoben. Diese erfolgt mündlich oder über ein körperliches Vorzeigen: „Jede Person ist aufgefordert, zu dem vereinbarten Ort zu kommen, wird dort empfangen und unterwiesen, und lernt vom ,Mund‘ der Vorgänger [orale Tradierung] und über Instruktionen der alten Meister dieser Kunst.“12 Drittens und viertens werden die Registrierung wie die Zensur zur Regel. Alle Tänzer in Paris und Umgebung sind verpflichtet, sich namentlich und mit Adresse einzutragen und ihre – alten und neuen Tänze wie Ballettschritte – vor den Tanzmeistern zu präsentieren. Erst nach diesem Akt erfolgt die offizielle Erlaubnis der öffentlichen Aufführung und des Unterrichts. Man entzieht durch die Monopolstellung der Académie de Danse dem Adel das Recht auf ‚unabhängige‘ Choreographie. Das vorhandene Bewegungsmaterial wird reglementiert und offiziell kodifiziert. Die gesellschaftliche Aufwertung des Tanzes nach Vorbild der monopolistischen Akademien für Malerei und Skulptur geht mit der Einschränkung seiner (Bewegungs-) Freiheit einher. Das strategische Ziel ist es, die Tanzkunst mit ihrer Kodifizierung strenger abzugrenzen und kontrollierbarer zu machen. Die Institutionalisierung des Tanzes durch Akademie und Bühne wirkt sich auch auf das tänzerische Handeln aus. Während es zuvor Verkörperung und Darstellung meinte, betont es nun immer mehr seine formal fixierbaren und technisch vermittelbaren Elemente. Die tänzerischen Fertigkeiten nehmen zu, und so werden weitere Gelenke in die Bewegungsausführung mit einbezogen. Die Gliedmaßen-Aktionen der Tanzenden werden vielfältiger und größer; der unmittelbare Raum um den Körper erweitert sich. Rumpfwendungen kommen hinzu, die es ermöglichen, die Ausrichtung der Körperfront von der Fortbewegungsrichtung zu trennen; der Raum
12 Lettre Patentes (1662) zitiert nach Mark Franko: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body. Cambridge: Cambridge University Press 1993, Appendix 3, S. 166-185.
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ist real (durch die Fortbewegungsrichtung) und projektiv (durch die Richtung der Körperfront).13 Dokumentiert wird der Prozess der Reglementierung und Kodifizierung vor allem auch in den Tanznotationen, wie etwa in Chorégraphie, ou l’Art de décrire la dance par caractères, figures et signes démonstratifs (1700) von Raoul Auger Feuillet, in dem er den Bestand der Tradition sichtet und in Bodenwegsnotationen systematisiert. Gleichzeitig setzt er durch die Analyse der Beinbewegungen das tanztechnische Potenzial der kodifizierten Bewegungen frei. Seine Schriften tragen nicht zuletzt zur Verbreitung der Akademisierung auch im folgenden Jahrhundert bei.
Q UERELLE UM 1700/1760: T ANZ IM K ANON DER SCHÖNEN K ÜNSTE Ein weiterer wichtiger Aspekt im historischen Kontext der kulturellen Institutionalisierung von Tanz ist – weniger konkret als im übertragenen Sinn – der ästhetische Diskurs, der einem im Wortsinn instituere = hinstellen, aufstellen, einrichten, regeln entweder vorangeht, es hervorbringt und/oder es begleitet. Diese Tendenz spiegelt sich in zwei historischen Höhepunkten der Querelle des Anciens et Modernes um 1700 und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, wie Christina Thurner in Beredte Körper – Bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten nachdrücklich herausgearbeitet hat.14 Ganz im Zeitgeist verfassen die nicht tanzspezifisch ausgebildeten humanistischen Gelehrten Michel De Pure Idées des Spectacles anciens (Paris, 1668) und Claude François Ménéstrier Des Ballets anciens et modernes selon les règles du Théâtre (Paris, 1682). Diese Tanztraktate sind Verschriftungen, die sich mit der Frage von bewegter Körperlichkeit im Kontext von Gesellschaft und Theater des ausgehenden 17. Jahrhunderts auseinandersetzen. Beide versuchen sie das mechanistische Tanzverständnis der Zeit über die tanztheatrale Theoretisierung von Fragen zur dramatischen Handlung und Ausdrucksbewegung zu erweitern.
13 Vgl. Claudia Jeschke: Tanz-Notate. Bilder. Texte. Wissen, in: Gabriele Brandstetter/Franck Hofmann/Kirsten Maar (Hg.): Notationen und choreographisches Denken, Freiburg i. Br.: Rombach 2010, S. 47-66, hier S. 49. 14 Christina Thurner: Beredte Körper – Bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld: transcript 2009.
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Die Einordnung des Tanzes in das System der Künste erfolgt über die Herstellung von Analogien mit anderen imitativen Künsten, vor allem der Kunst des Theaters (im Speziellen der Vergleich mit Tragödie und Komödie) wie auch der Rhetorik, der Poesie und der Malerei. Dramaturgische Fragen werden über die Zusammenführung von poetologischen und rhetorischen Modellen verhandelt. Eine Besonderheit des Tanzdiskurses ist die Betonung der Imagination des Ausführenden, seine Fähigkeit zur Vorstellung – denn sie soll in die Erscheinungsform der Bewegung einfließen. Bewegung wird so erstmals als Ausdruck dramatischen Geschehens, als Handlungsträger konzipiert; in der Gestaltung des Tänzers erfahren Inhalt und Erscheinungsform eine Verknüpfung. Im 18. Jahrhundert kommt es in den kunsttheoretischen und ästhetischen Reflexionen zu weiteren Einordnungen des Tanzes in den Kanon der schönen Künste. So signalisiert beispielsweise Friedrich Gottlieb Klopstock in „Poetik der Wortbewegung“ und seiner Einführung der „Tanzkunst“ in den Rivalitätskonflikt um den Rang der schönen Künste und der schönen Wissenschaften (1758) den Statuswandel des Tanzes in der ästhetischen Theorie seiner Zeit.15 Die Einbildungskraft, die Imagination, wird in der Diskussion um den ästhetischen Wert der schönen Künste zu einem Schlüsselbegriff; in den Bildenden Künsten werden ihr „bleibende“, in den darstellenden Künsten „transitorische“ Funktionen zugeschrieben. In diesem System bildet der Tanz „eine Verbindung der schönen Künste in einem und demselben Produkte.“16 Die Fähigkeit zur Repräsentation von (hier vor allem inneren) Bewegungen als Bewertungskriterium für die schönen Künste findet sich sowohl bei Johann Joachim Winkelmann wie in der Encyclopédie und führt zu einer Erschütterung des Schönheitsideals äußerer Ruhe hin zu einem Kunstbegriff, dessen Sprache mit einem „taumelnden Tanz“ assoziiert werden kann (z.B. in Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce von 1762). Die Wertigkeit des Tanzes im Gefüge der Künste und in der Wissenskultur des 18. Jahrhunderts steigt in dem Maße als dass das transitorische Moment in den anderen Künsten, vor allem in der Bildenden Kunst an Bedeutung gewinnt. Besonders deutlich wird das in der Ut pictura
15 Vgl. zu folgenden Ausführungen auch Roger W. Müller-Farguell: Tanz, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart: Metzler, 2001, Bd. 6, S. 1-15, hier S. 4f. 16 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, 1790, § 52.
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poesis-Debatte (Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe), in der man sich auf die Horazformel („wie in der Malerei, so in der Dichtung“) bezieht und die Gleichsetzung oder Unterscheidbarkeit von Künsten diskutiert. Bei Johann Gottfried Herder wird die Tanzkunst schließlich stilisiert als eine harmonische Verbindung von „lebendiger Bildhauerei“, „sichtbarer Musik“ und „stummer Poesie.“17 In der Querelle von Jean Georges Noverre und Gasparo Angiolini im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts werden diese poetischen Metaphern wie „Das Ballet ist ein Gemählde“18 für den Tanz auch verwendet, allerdings werden sie ausdifferenzierter und tanzspezifischer verhandelt. JeanGeorges Noverre verlangt die Verbindung von „mechanischem“, technisch orientiertem Tanz und den „innere Regungen hervorbringenden“ Ausdruckselementen.19 Das virtuose Beherrschen der Körperbewegungen, das ein instrumental gewordenes Verständnis von Tanztechnik zeigt, wirkt sich konstruktiv auf die Ausführung der vorgestellten (imaginierten) und dargestellten Ausdrucksbewegungen aus, die nun als Ablauf konzipiert werden. Indem Noverre einem neuen, von geometrischen und mechanischen Systemen unabhängigen Bewegungskonzept folgt, wird der Raum auch vom Körper aus gestaltbar. Darüber hinaus geht er davon aus, dass das Bewegungsvokabular von der Anatomie und den technischen wie ausdrucksmäßigen Fähigkeiten des Tänzers abhängig ist. Und dass diese Konditionierung mit den spezifischen Genres übereinstimmen muss: mit dem „ernsthaften und heroischen“ Tanz, mit dem „vermischten oder halb ernsthaften“ Tanz und mit dem „grotesken“ Tanz. Dem ernsthaften und heroischen Tanz, der mit der Tragödie gleichgesetzt wird, wird dabei der höchste Wert zugesprochen. In der Genrehierarchie wird dieser ganz oben angesiedelt: „eine edle Figur, völlige Züge, ein stolzer Charakter, ein majestätischer Blick, gehören für den ernsthaften Tänzer“ und in ihm vermag sich Wirkungsmacht (Verführung der Seele des Publikums) voll zu entfalten.20 Der Versuch der Positionierung des Tanzes im Kanon der schönen Künste bezieht sich hauptsächlich auf den heroischen Tanz.
17 Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder, 4., 1769. 18 Jean Georges Noverre: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette. Hamburg: Cramer 1769, 1. Brief. 19 Ebd., S. 23/24 (2. Brief) u. S. 256 (12. Brief). 20 Ebd., S. 173 (9. Brief).
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Trotz der neuen Interdependenz von Technik und Ausdruck – mit dem instrumentalen Körper als Vermittler – bilden die ästhetischen Verhandlungen zur Synästhesie der Tanzkunst mit ihren Referenzen zur Bildenden Kunst, zur Rhetorik und zur Poetik wie die Erläuterungen zu tanztechnischen Aspekten zwei Systeme.
T RAITÉ (1820-1830): T ECHNÉ
UND
B ILDUNG
Carlo Blasis Traité Elémentaire de la Danse (1820) und The Code of Terpsichore (1830) gelten als Standardwerke, die schon im 19. Jahrhundert weithin rezipiert wurden und auch heute noch immer wieder bearbeitet werden. Für die Frage der kulturellen Institutionalisierung von Tanz scheinen mir zwei Aspekte von Bedeutung: Blasis’ pädagogisch-didaktisches Konzept, das sich in erster Linie an den Tänzer selbst richtet, lässt zwei große Themenkreise erkennen: Erstens den Wunsch der Erstellung einer Grammatik, eines Lexikons des Tanzes, also eine spezifische Ausrichtung auf Tanztechnik (techné) und zweitens den Aspekt der Bildung des Tänzers, die einen privilegierten Stellenwert bei Blasis bekommt. Der Tänzer wird gleichzeitig zum eigenverantwortlichen „Maschinisten“ seines Körpers und zum sublimen Künstler, der auch in den anderen Künsten (Malerei, Poesie, Rhetorik, Musik) bewandert ist. Die Vervollkommnung der Technik wie persönliche Gestaltung ermöglicht die tänzerische Individualisierung; diese tänzerische Dynamik, ein wesentlicher strukturierender Aspekt, ist gleichermaßen abhängig vom Ideal des harmonischen Körperaufbaus wie auch von der spezifischen Physis, Anatomie und Muskelbeschaffenheit des betreffenden Tänzertypus. Die von Noverre noch dramaturgisch begründeten Ausdrucksbewegungen verbinden sich bei Blasis mit den choreographisch motivierten Tanzbewegungen. In seinen Strichfiguren zeigt sich ein Bewegungskonzept, das eine „segmentierend abstrakte“ Sicht auf den Körper favorisiert.21 Die Virtuosität des einzelnen Tänzers steht im Mittelpunkt. Beides spiegelt sich in den inszenatorischen Verfahren sowie der Ästhetik des Romantischen Balletts.22
21 Vgl. Jeschke: Tanznotate, S. 49. 22 Vgl. dazu Gabriele Brandstetter: The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik. In: Gabriele Brandstetter/Gerhard
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Blasis’ vielschichtige Verweise auf die Antike (z.B. Lukian), die Encyclopédie, auf die Tanzpraxis von Jean Dauberval, Pierre Gardel, Auguste Vestris wie auch auf aktuelle literarische und künstlerische Strömungen spiegeln die eklektische Wissenskultur des Tanzes seiner Zeit wieder, die Tradiertes und Zeitgeistiges und verschiedene historische Referenzen miteinander kombiniert. Diese theoretischen Ineinanderschichtungen sind aber nicht beliebig, sondern erlaubten Carlo Blasis – zunächst im Traité, dann in The Code of Terpsichore und schließlich in Studi sulle arti imitatrici – sein Konzept der Grazie zu entwickeln sowie seine Vision der Analogien und Interdependenzen des Tanzes im Vergleich mit den anderen Künsten zu präsentieren.23 In Rekurs auf Technik und Bildung des (Tanz)Künstlers entwickelt Blasis tanzspezifische Konzepte wie er auch ein relationales und synthetisches Gefüge des Tanzes zu konstruieren vermag.24
B ESCHLUSS DER P LENARVERSAMMLUNG DES T ÄNZER -K ONGRESSES (1928): AUTONOMIE DER T ANZKUNST UND I NSTITUTIONALISIERUNG EINER M ASSENBEWEGUNG Der Begriff mitteleuropäischer Ausdruckstanz umfasst ganz unterschiedliche Tendenzen und Vorstellungen von Tanz, vom Expressionismus bis zum Agitprop. Unter den Künsten nimmt der Tanz trotz seiner höheren gesellschaftlichen Akzeptanz in den 1920er und 1930er Jahren einen Sonderstatus ein, da die Ausbildung – wie bis heute – nicht in die Curricula der Schulen und Universitäten integriert war. Trotz oder gerade wegen dieses institutionellen Problems suchten Rudolph von Laban und Mary Wigman, ebenso wie andere AusdruckstänzerInnen, den Status des Tanzes und seiner An-
Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 49-72. 23 Vgl. Flavia Pappacena: Carlo Blasis’ treatise on dance 1820-1830. Lucca: Libreria Musicale Italiana, 2005, S. 243. 24 Vgl. Nicole Haitzinger: Choreographie als Denkfigur. 2007, 1847, 1769. Ein Versuch zur komplexeren Abklärung des Begriffs, in: http://www.corpusweb.net/choreographie-als-denkfigur-2007-1847-1769-7.html (21.01.2011).
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hänger nicht nur künstlerisch, sondern auch sozial zu verbessern. Den (ihren) Tanz publik zu machen und zu institutionalisieren, hieß, Schulen zu gründen, Tanzgruppen ins Leben zu rufen, lecture demonstrations zu geben, Artikel zu publizieren. Vom zweiten Tänzerkongress 1928 in Essen wird in der – von über 1000 Tänzern besuchten – Plenarversammlung ein Entschluss einstimmig angenommen, aus dem für die Frage der kulturellen Institutionalisierung von Tanz einige für diese Zeit relevante Aspekte herausgegriffen werden sollen: „Der Tanz, der sich als selbständige Kunstgattung und als Bühnentanz zeigt, strebt nach einer Eroberung, bzw. Beeinflussung des ganzen heutigen Theaters (der Oper und des Schauspiels). Als großes Ziel bleibt bestehen die Schaffung eines eigenen Tanztheaters für die tänzerische Bühnenkunst und chorische Laienkunst, mit eigenen, den Arten des Tanzes angepaßten Schauräumen.“25
Daraus lassen sich zwei wesentliche Aspekte des Ausdruckstanzes der 1920er Jahre erkennen: die Laien- oder Massenbewegung – die Yvonne Hardt in Politische Körper untersucht hat – und die Emanzipation von bzw. die Gleichberechtigung mit den anderen Künsten.26 Beide Phänomene wirkten sowohl als Prämissen der ästhetischen Konzeption als auch als bestimmende Faktoren der soziokulturellen Situation des Tanzes. Das Ziel einer Schaffung von „den Arten des Tanzes angepaßten Schauräumen“ dient als Institutionalisierungsgarant. Zur kulturellen Aufwertung des Tanzes sollen drei Hauptforderungen beitragen: „1. In der Tanzerziehung und Bühnenpraxis eine klare Unterscheidung und Trennung des Theatertanzes und des Konzerttanzes. 2. Anerkennung und Einführung einer gemeinsamen Tanzschrift. Als solche hat sich die dem Tänzerkongress vorge-
25 Resolution Essen 1928 zitiert nach: Hedwig Müller/Patricia Stöckemann: „…jeder Mensch ist ein Tänzer.“ Ausdrucktanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945. Gießen: Anabas, 1993, S. 90. 26 Vgl. Yvonne Hardt: Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster: Lit 2004.
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führte Tanzschrift Labans erwiesen. 3. Schaffung einer Hochschule, die ganz besonders den hohen Anforderungen des Theatertanzes in jeder Weise gerecht wird.“ 27
Hier spiegelt sich das Autonomiebestreben des Tanzes, das seine absolute Besonderheit hervorhebt und auf drei Ebenen manifestiert werden soll: Etablierung des Theatertanzes als eigene Kunstform, Anerkennung der Tanzschrift Labans wie auch die Einrichtung einer Hochschule. Das Paradoxon von Streben nach Autonomie der Kunstform Tanz und Synäisthesie bzw. Transdisziplinarität von Körper und Bewegung bestimmt die heterogene Strömung des mitteleuropäischen Ausdruckstanzes. Die Topoi Raum, Zeit und Kraft werden zu Leitmotiven im Kunst- und Laientanz: Harmonie war für Laban das Ergebnis aktiver Wechselbeziehungen zwischen Körperaktionen (Bewegungen) und organischen Formen (räumlichen und dynamischen Prototypen, wie zum Beispiel kristallinen Körpern). Mystische Innenschauen wie das Verhältnis von Individuum und Masse werden über räumlich-dynamische und rhythmisierte Konfigurationen visualisiert, wobei eine fixierte Raumvorstellung erkennbar bleibt. Die Tanzschrift von Laban verbindet eine analytische Bewegungssystematisierung mit einer atmosphärisch-ästhetischen Annäherung an den Tanz; die Notierung der Gewichtsübertragungen wie die Einteilung in leichte und schwere Zentren werden u.a. für das Bewegungskonzept bestimmend. Ohne das in diesem Kontext noch genauer ausführen zu können: Der tänzerisch gestalteten Körperbewegung wird hier eine eigene Kunstfertigkeit zugesprochen, und dieser sollte man – so die Forderungen der AusdruckstänzerInnen beim Kongress 1928 – mit der gesamtgesellschaftlichen Förderung der Tanzkultur gerecht werden.
R ESÜMEE
UND
AUSBLICK
So zeit- wie kontextgebunden sich die verschrifteten Manifestationen des Tanzes in offiziellen Dokumenten auch präsentieren und auf unterschiedliche Bewegungs- und Körperkonzepte verweisen, so erstaunlich einheitlich sind die Parameter, die für die kulturelle Institutionalisierung der Kunstform Tanz zeitenübergreifend eine Rolle zu spielen scheinen. Es lassen sich
27 Resolution Essen 1928.
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vier Aspekte im Zusammenspiel erkennen, denen man zuschreibt, Tanz etablieren zu können: erstens die Einrichtung eines Ortes, an dem Tanz gezeigt wird oder stattfinden kann, zweitens die Frage der Ausführung, der Techné, drittens die (Aus-)Bildung des Tänzers und viertens die Frage der Ästhetik (des Tanzes, des Körpers, der Bewegung) sowie seine Positionierung im System der „anderen“ Künste. Um diese vier Themen kreisen die Texte zur kulturellen Institutionalisierung von Tanz; sie bilden das Fundament, auf dem ganz unterschiedliche ‚Architekturen‘ entstehen oder gedacht werden. Boris Charmatz’ „Manifeste pour“ von 2009 durchdringt ein zeitgenössischer wie metaphorischer Gestus. Und gleichzeitig lassen sich – beinahe versteckt – vier Aspekte wiederentdecken: Das „lebendige“ Musée de la Danse soll jeden Samstag zur öffentlichen Stätte des Tanzes werden; ein Tanzstudio, ein Theater, eine Bar, eine Schule, ein Ausstellungsort und eine Bibliothek sind integrativer Teil des kollektiven Raums. Das Museum des Tanzes wird so erstens zu einer Stätte, in der zweitens Fragen zur Ausführung und Techné und drittens Fragen zur (Aus-)Bildung (Schule, Bibliothek) aufgegriffen werden. Die sich hier viertens formulierende zeitgenössische Ästhetik – und ich verstehe Ästhetik nach Jean Rancière „weder als allgemeine Kunsttheorie noch eine Theorie, die die Kunst durch ihre Wirkungen auf ihre Sinne definiert, sondern eine spezifische Ordnung des Identifizierens und Denkens von Kunst“28 – greift wiederholt scheinbar Widersprüchliches auf, re-kombiniert und transfiguriert es. Zudem verweist auch das Konzept eines Tanzmuseums mit Ausstellungsraum auf eine favorisierte Analogie von performativer und bildender Kunst. Ob temporäre beziehungsweise fixe Stätte der Zusammenkunft, Gedankengebäude oder gegenwärtige Vision eines verkörperten, unmittelbaren und durchlässigen Tanz-Museums, ob letztlich realisierbar oder nicht: Die kulturelle Institutionalisierung von Tanz ist eine zukünftige Frage. Räume, die von Gesten und Bewegungen hervorgebracht werden, sind potenzielle Räume, Räume im Werden, die Differenz produzieren, statt sie zu nivellieren. In diesem Sinne kann Tanz – als Perspektive, als Ereignis – auch als Kritik an (seiner) Institutionalisierung verstanden werden und im Zwischen sein subversives Potenzial entfalten.
28 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin: b_books 2008, S. 23.
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L ITERATUR Baeker, Dirk: Kultur, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart: Metzler, 2001, Bd. 3, S. 510-556. Brandstetter, Gabriele: The Code of Terpsichore. Carlo Blasis’ Tanztheorie zwischen Arabeske und Mechanik, in: Brandstetter, Gabriele/Neumann, Gerhard (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 4972. Charmatz, Boris: Manifeste pour unter http://www.museedeladanse. org/sites/default/files/manifeste-A0-FR.pdf (07.07.2010). Franko, Mark: Dance as Text. Ideologies of the Baroque Body, Cambridge: Cambridge University Press 1993. Groys, Boris: The Weak Universalism unter http://www.e-flux.com/journal/view/130 (07.07.2010). Haitzinger, Nicole: Choreographie als Denkfigur. 2007, 1847, 1769. Ein Versuch zur komplexeren Abklärung des Begriffs, in: http:// www.corpusweb.net/choreographie-als-denkfigur-2007-1847-1769-7. html (21.01.2011). Hardt, Yvonne: Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster: Lit 2004. Jeschke, Claudia: Tanz-Notate. Bilder. Texte. Wissen, in: Brandstetter, Gabriele/Hofmann, Franck/Maar, Kirsten (Hg.): Notationen und choreographisches Denken, Freiburg i. Br.: Rombach 2010, S. 47-66. Malsch, Friedrich Wilhelm: Künstlermanifeste. Studien zu einem Aspekt moderner Kunst am Beispiel des italienischen Futurismus, Bonn: VDG, 1997. Müller, Hedwig/Stöckemann, Patricia: „…jeder Mensch ist ein Tänzer.“ Ausdrucktanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945, Gießen: Anabas 1993. Müller-Farguell, Roger W.: Tanz, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart: Metzler, 2001, Bd. 6, S. 1-15. Noverre, Jean Georges: Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, Hamburg: Cramer 1769.
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Obrist, Hans Ulrich: Manifestos for the Future unter http://www.eflux.com/journal/view/104 (07.07. 2010). Ders.: Kunst im 21. Jahrhundert, in: Das Kulturmagazin – Du, 807, Juni 2010, S. 24f. Pappacena, Flavia: Carlo Blasis’ treatise on dance 1820-1830, Lucca: Libreria Musicale Italiana 2005, S. 243. Rainer, Yvonne: Work (1961-1973), Halifax: The Press of the Nova Scotia College of Art and Design 1974. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books 2008. Thurner, Christina: Beredte Körper – Bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld: transcript 2009.
Tanzkritik – eine kritische Institution? C HRISTINA T HURNER
An jeder Tanzkritik hängt viel Schweiß – verströmt von vielen Beteiligten: Da sind einerseits die Künstler (die Choreographinnen, die Tänzer, die Bühnenbildnerinnen und Musiker usw.), die ein Stück erarbeiten, aufführen und hoffen, dass darüber in den Medien berichtet wird. Da ist der Tanzverantwortliche auf einer Redaktion, der es heutzutage oft nicht leicht hat, einen Artikel über eine Tanzveranstaltung im Feuilleton oder im Kulturteil seiner Zeitung unterzubringen beziehungsweise den Redakteurinnen anderer Kunstsparten klarzumachen, warum über dieses Stück 80 und nicht nur 30 Zeilen einzuplanen sind. Da ist die Tanzkritikerin, die noch in der Nacht oder am Morgen nach der Vorstellung am Computer vor einem zunächst leeren Dokument sitzt und fieberhaft – die Zeit drängt – nach einem originellen und passenden Aufhänger, einem prägnanten, fesselnden Anfang sucht und dann beim Schreiben immer die verschiedenen Lesererwartungen im Hinterkopf hat (die der Künstler, der Redakteurinnen, der Kritikerkollegen, der potentiellen Vorstellungsbesucherinnen, der Verantwortlichen von Förderinstitutionen und der übrigen Zeitungsleserinnen). Der Tanzkritiker versucht also beim Schreiben den Spagat, den verschiedenen Lesererwartungen gerecht zu werden, sich und seinem Urteil dabei selber treu zu bleiben und dann auch noch einen verständlichen, konzisen, gut argumentierten, möglichst objektiven, stilistisch brillanten usw. Text zu verfassen. Wenn die Kritik einmal fertig ist, wird sie im besten Fall höchstens leicht redigiert und nicht gekürzt am nächsten Tag in der Zeitung erscheinen, gelesen oder auch nicht, ins Altpapier geworfen oder vielleicht in Pressespie-
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gel und -mappen aufgenommen, in Dossiers für weitere Fördermittel gelegt, in Workshops oder tanzwissenschaftlichen Seminaren besprochen. Wo so viele Beteiligte zusammenkommen, kann man – dem Thema dieses Bands entsprechend – von einer Institution sprechen – zumindest, wenn man Institution im weiten Sinn als eine Einrichtung für bestimmte Zwecke versteht oder soziologisch als einen Komplex von Vorgängen und Regelungen, denen in einem gesellschaftlichen Gesamtsystem gewisse Bedeutungen zukommen.1 Die Einrichtung Tanzkritik hätte so gesehen innerhalb eines bestimmten Systems (eben der Tanz- und Medienszene) dann die Bedeutung, zu informieren, Tanzereignisse in größere Zusammenhänge einzuordnen und zu bewerten. Damit ist die Tanzkritik eine kritische Institution – dies wiederum in mehrfachem Sinne: sie übt Kritik und ist deshalb auch mit Macht verbunden, sie ist aber selber wiederum Mächten ausgesetzt und dabei nicht unumstritten, ja sogar gefährdet. In meinem Beitrag soll diese ‚kritische Institution‘ Tanzkritik unter verschiedenen Blickwinkeln vorgestellt werden. Einerseits fließen in diese Betrachtungen meine eigenen praktischen Erfahrungen ein aus zwölf Jahren Tanzkritikschreiben vor allem für die Neue Zürcher Zeitung und verschiedene Fachzeitschriften, andererseits meine wissenschaftliche – historische und theoretische – Forschung über Tanzkritik. 2 Ich werde dazu zunächst ein wenig ausholen und eine kurze Geschichte der Tanzkritik präsentieren – freilich nur knapp und punktuell. Dann folgen generelle Ausführungen zum Schreiben über Tanz, also über choreographierte Bewegung, und abschließend wird auf die heutige Situation der Institution Tanzkritik im Kontext der Medien beziehungsweise des Journalismus eingegangen, um am Ende nochmals meine Titelfrage zu stellen: Tanzkritik – eine kritische Institution?
1
Vgl. Renate Wahrig-Burfeind (Hg.): Wahrig. Deutsches Wörterbuch, 8. v. neu bearb. u. aktual. Aufl, Gütersloh/München: Wissen Media Verlag 2006, S. 774.
2
Vgl. dazu auch die entsprechenden Kapitel in Christina Thurner: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld: transcript 2009. Meine wissenschaftliche und feuilletonistische Tätigkeit bewegen sich in unterschiedlichen Textgattungen, haben sich aber immer gegenseitig beeinflusst, indem historisches und theoretisches Wissen über Tanz dessen Wahrnehmung mitprägt, und umgekehrt der wissenschaftliche Diskurs durch Anschauung und feuilletonistische Beschreibungen von Tanz sich weitet.
T ANZKRITIK –
H ISTORISCHES
ZUR
EINE KRITISCHE I NSTITUTION ?
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T ANZKRITIK
Die Anfänge der Tanzkritik lassen sich um den Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich verorten. Dort etablierte sich in den Zeitungen das so genannte Feuilleton. Dabei handelte es sich um den Text unter dem Strich, der sich an ein kulturinteressiertes, kultiviertes Publikum richtete und eine Mischung aus dokumentarischer und literarischer Vermittlung pflegte.3 Während die frühen Ballettbesprechungen etwa von Castil-Blaze und Hector Berlioz meist im größeren Zusammenhang der Rezeption musikalischdramatischer Gattungen wie der Oper standen, etablierte sich in Paris ab den 1830er Jahren jener Feuilleton-Stil, der nicht nur das Schreiben über Tanz, sondern auch die Vorstellung von Tanz für lange Zeit wesentlich beeinflusst hat.4 Vor allem zwei Kritiker haben den feuilletonistischen Diskurs im Hinblick auf den künstlerischen Tanz entscheidend geprägt: Jules Janin und – heute noch bekannter – Théophile Gautier. Beide Kritiker waren von der einzigartigen Wirkung der romantischen Tanzkunst ihrer Zeit überzeugt und entwickelten eine spezifische Art der Vermittlung. Leidenschaftlich verehrten sie ihre Stars, die sie selbst zu solchen gemacht hätten; dies schreibt Janin in einer Rezension zu Giselle, ou les Wilis am 30. Juni 1841 im Journal des Débats.5
3
Vgl. dazu auch Georges Matoré: Le vocabulaire de la prose littéraire de 1833 à 1845. Théophile Gautier et ses premières œuvres en prose, Genf, Lille: Droz/Giard 1951, S. 103; und auch Ruth Jakoby: Das Feuilleton des Journal des Débats von 1814 bis 1830, Tübingen: Gunter Narr 1988, S. 149, wonach das Feuilleton sich „in den letzten Jahren der Restauration den gewandelten Ansprüchen von Lesern, Theaterbesuchern und Autoren“ angepasst habe.
4
Vgl. zur romantischen Tanzkritik u.a. die grundlegende, inzwischen jedoch z.T. überholte Studie von Margrit Wienholz: Französische Tanzkritik im 19. Jahrhundert als Spiegel ästhetischer Bewußtseinsbildung. Théophile Gautier – Jules Lemaître – Stéphane Mallarmé, Bern/Frankfurt: Lang 1974; u. insb. neueren Erkenntnissen folgend: John V. Chapman: Jules Janin. Romantic Critic, in: Lynn Garafola (Hg.): Rethinking the sylph. New perspectives on the romantic ballet, Hanover/London: University Press of New England 1997, S. 197-241, hier S. 197ff.
5
Vgl. Jules Janin in Journal des débats politiques et litteraires, 30.6.1841, S. 1.
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Gautier betont entsprechend, er sei in der Funktion des Kritikers ein Poet und kein Magister.6 Der Tanz, vor allem aber die Tänzerin in der romantischen Kulisse ist dem Kritiker Inspiration für seine poetische Schrift.7 Er beschreibt nicht nur, was zu sehen ist, er sieht und schildert vielmehr auch, was dabei in seiner Phantasie vorgeht und bühnentechnisch oft gar nicht möglich ist. Ein besonders kreatives Beispiel für die imaginär sich verselbständigenden Reflexionen und sprachlich eingefangenen Bilder findet sich in einer Besprechung Gautiers vom 24. September 1838 für La Presse anlässlich eines Auftritts von Fanny Elßler in der Wiederaufnahme der Sylphide an der Pariser Oper – hier in deutscher Übersetzung: „Wenn Fanny tanzt, so denkt man an tausend reizende Dinge; die Phantasie irrt durch marmorweiße Paläste, über die die Sonne hinflutet; wie die Parthenonfriese heben sie sich vom dunkelblauen Himmel ab; man glaubt, man stünde da – gelehnt an das Geländer der Terrasse, man hält einen Becher voll Syrakuserwein in der Hand; ein weißes Hündchen schmiegt sich dir zu Füßen; eine wundervolle Frau steht an deiner Seite [...].“
8
Oder an anderer Stelle über deren Ballerinenkollegin: „Mlle. Taglioni zauberte einem Täler vor, voller Schatten und Kühle, wo urplötzlich aus der Rinde einer Eiche eine schneeweiße Erscheinung vor des jungen Hirten Augen auftaucht und ihn vor Verwunderung erröten macht [...].“9 Der Bewegung der Tänzerin auf der Bühne folgt die bewegte Fantasie des Kritikers; in Gedanken geht ihm dabei eine Welt auf, die Elemente des Gesehenen aufnimmt und mit dazu Imaginiertem vermischt. In dieser Beschreibung ist so nicht mehr erkennbar, was sich auf der Bühne und was sich in der Imagination des Rezensenten abgespielt hat. Die Beschreibung lässt keine eindeutigen Rückschlüsse zu, entfernt sich aber in der Bildwahl auch nicht so weit, dass mit dem Text eine ganz neue, unabhängige Kreation vor-
6
Théophile Gautier: Introduction, in: L’Artiste: revue de Paris, 14.12.1856, S. 3-5, hier S. 4.
7
Vgl. a. Edwin Binney: Les ballets de Théophile Gautier, Paris: Nizet 1965, S. 37.
8
Gautier, zit. in: Andrei Levinson: Théophile Gautier und das Ballett, in: Ders.: Meister des Balletts, Aus dem Russischen übertr. v. Reinhold von Walter, Potsdam: Müller 1923, S. 125-198, hier S. 153f.
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Gautier, zit. ebd., S. 153f.
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läge. Dennoch, aus heutiger Sicht ist festzuhalten, dass die Tanzkritiker der Romantik offenbar keine Scheu vor Subjektivität hatten – im Gegenteil. Die eigene intuitive Ansicht wurde emphatisch ausgeschrieben. Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Kunstform Tanz, das Selbstverständnis des Kritikers, der Kritikerin und auch die Ansprüche der Feuilletons freilich verändert. Dennoch würde ich behaupten, dass der Tanzkritik noch heute etwas von diesem emphatischen Diskurs anhaftet, gerade weil die Tanzrezension – mehr als die klassische Schauspiel- und Musiktheaterkritik – auf der Imagination des Betrachters, der Betrachterin fußt. In der Tradition, die Tanzrezeption als einen intuitiven Vorgang zu begreifen, steht u.a. auch die New York School of Criticism, zu der bekannte Tanzkritikerinnen wie Arlene Croce, Deborah Jowitt und Marcia B. Siegel gehören, die ihre journalistische Blütezeit vor allem in den 1970er Jahren hatten. Sie verstehen die Tanzkunst als „self-expression“ oder als reine „expression of emotions“10, auf die die Betrachtenden mit dem Wunsch nach emotionaler Teilhabe und nicht nach Analyse reagierten.11 Freilich ist der Stil der Tanzrezension des späten 20. Jahrhunderts anders als zu Gautiers Zeiten. Es würde sich seither – aus verschiedenen Gründen – wohl kaum jemand mehr erlauben, öffentlich so unverhohlen von einer Tänzerin zu schwärmen, und dennoch sind einige Charakteristiken des Schreibens über künstlerische Bewegung in den Tanzkritiken und -essays signifikant geblieben, obwohl sich der Tanz seit dem romantischen Handlungsballett, auf das Gautier sich bezog, und dem American Modern Dance, den Croce u.a. beschrieben, sehr verändert hat. Drei grundlegende Aspekte der Tanzkritik würde ich hervorheben, bevor ich noch auf Gegenströmungen, vor allem auf die der objektivierten Kritik eingehe: •
•
Die Nachträgliche Sichtbarmachung, also der Versuch, bewegte Bilder durch die Be-Schreibung so einzufangen beziehungsweise zu vermitteln, dass sie vor den Augen der Lesenden wieder auferstehen. Direkt daran an schließt die Dynamische Poetisierung; diese lässt sich definieren als der Versuch, die Dynamik der Bewegung in der Schrift
10 Vgl. Roger Copeland/Marshall Cohen (Hg.): What is dance? Readings in theory and criticism, Oxford u.a.: Oxford University Press 1983, S. 3. 11 Vgl. Roger Copeland: Dance criticism and the descriptive bias, in: Dance Theatre Journal, 10/3, Frühling/Sommer 1993, S. 26-32, hier S. 29.
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•
nicht einzufrieren, sondern ein Vokabular zu finden, das selber Bewegung beinhaltet, das buchstäblich die Fantasie in Gang setzt. Erreicht wird dieser Effekt durch verschiedene Verben der Bewegung, durch Metaphern, assoziative Bilder, durch Vergleiche oder Verweise. Die Betonung der Rezeption; es geht dabei um eine Er-Schreibung von Wirkung, anstelle einer akribischen Bewegungsanalyse. Dabei kommt es zu einer Wechselwirkung von Wahrnehmung und Diskurs, von Diskurs und Wahrnehmung. D.h. die Tanzkritik erfindet die Wirkung von Tanz niemals gänzlich neu, sondern fasst sie in jeweils ‚passende‘ und für die Lesenden versteh- und vorstellbare Worte bzw. Diskurse, also Rede- und Argumentationsweisen. Allerdings greift sie auf diese Diskurse in einer Weise zu, die wiederum die Rezeption des Tanzes beeinflusst, indem diese gewissermaßen vor-geschrieben, sprachlich geformt wird.12
Gegen einen überwiegend persönlichen, intuitiven Zugang gab es – wie erwähnt – auch in der Tanzkritik immer wieder Bestrebungen hin zu größtmöglicher Objektivität, zur Argumentation und zur Information – wie in anderen Bereichen des Feuilletonjournalismus auch. Der Literaturwissenschaftler und Kritiker Stefan Neuhaus beschreibt in seiner „Kleine[n] Theorie der idealen Kritik“ von 2004 die vier Funktionen der Kritik: 1. Orientierungsfunktion, 2. Informationsfunktion, 3. Kritikfunktion, 4. Unterhaltungsfunktion.13 Wer gleichzeitig orientieren, informieren, bewerten und unterhalten will, muss – dies ist auch meine Meinung – subjektive Wahrnehmungsweisen verbinden mit objektivierbaren (ganz objektive gibt es nicht); er oder sie muss nah am Gegenstand dran sein, aber immer auch wieder Distanz einnehmen. Damit bin ich schon bei meinem zweiten Punkt: wie schreibt man über Tanz? Anders als der Literaturkritiker und die Theaterjournalistin müssen Tanzkritikerinnen und Tanzkritiker Worte für eine Kunst finden, die (meist) ohne Worte auskommt, die sich vielmehr über bewegte oder sonst irgendwie präsente, in Raum und Zeit choreographierte Körper zeigt.
12 In dieser Vor-schreibung liegt denn auch eine nicht zu vernachlässigende Macht der Tanzkritik auf das Publikum und auf die Kunst. 13 Vgl. Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 165ff.
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S CHREIBEN
ÜBER
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Ein Beispiel soll zunächst in dieses Thema einführen: In Meg Stuarts Stück ALIBI findet sich eine Szene gegen Schluss, in der die sieben Akteure, Mitglieder der Kompanie Damaged Goods, einige Minuten lang zittern und sich schütteln. Nimmt man nun diese Bewegung des Zitterns, dann gibt es verschiedene Beschreibungsarten. Medizinisch spricht man z.B. von ‚Tremor‘, der allgemein physiologisch folgendermaßen beschrieben wird: „Tremor (lat. trẹmor Muskelzittern) […] Zittern; […] unwillkürlich auftretende, weitgehend rhythmisch aufeinander folgende Kontraktionen antagonistisch wirkender Muskeln, die sich als Oszillation eines od. mehrerer Körperabschnitte äußern“,14 oder: „Das Zittern ist eine unwillkürliche, schnell aufeinanderfolgende Anspannung und Entspannung der Muskeln. Häufige Ursachen für Zittern sind Kälte und Anspannung wie Stress“.15 Beim Zittern handelt es sich demnach um eine relativ klar diagnostizier-, also wahrnehmbare oder – wenn man so will – les- und beschreibbare Bewegung, und dennoch ist mit diesen medizinalen Definitionen die entsprechende Bewegungssequenz auf der Bühne im Stück ALIBI sicher nicht hinreichend erfasst. Es fehlen etwa die spezifische Qualität der Bewegung, der Kontext und die Signifikanz. Die meisten Pressestimmen zur Premiere im November 2001 erwähnen die Szene. Interessant ist dabei, worauf jeweils das Augenmerk liegt. Aus drei Rezensionen soll im Folgenden je die einschlägige Stelle zitiert werden, um anhand dieser im Vergleich einige einführende Bemerkungen zum Thema ‚Tanz beschreiben‘ im feuilletonistischen Zusammenhang zu machen. In der Neuen Luzerner Zeitung stand unter dem Titel „Als würde der ganze Planet erschüttert“: „Besonders aufwühlend die letzte Szene von ‚Alibi‘: Nachdem einer – von aggressiven Ausbrüchen begleitet – erklärt hat, er fühle sich wie ein Mensch aus Glas, be-
14 Willibald Pschyrembel (Hg.): Klinisches Wörterbuch, Online-Ausgabe: http://www.wdg.pschyrembel.de/Xaver/start.xav?SID=Urs46Keller64t45system s46ch279104832949&startbk=pschyrembel_ppp&bk=pschyrembel_ppp&hitnr= 1&start=%2f%2f*%5B%40node_id%3D%27630950%27%5D&anchor=el (14. 07. 2010). 15 http://www.paradisi.de/Health_und_Ernaehrung/Symptome/Zittern (14.7.2010).
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ginnen alle nach und nach zu zittern. Alle zittern und beben scheinbar endlos, als 16
würde der ganze Planet erschüttert. Erschüttert wird auch das Publikum“.
Die Neue Zürcher Zeitung vermeldete dazu im Artikel „Leibhaftige Gewalt“ von Lilo Weber: „Schliesslich verzittern sie alle, nicht eine Minute lang, nicht zwei, sondern viele. Bis es taghell wird im Stadion und das Publikum, leicht irritiert, auf den nächsten Ausbruch wartet. Er kommt nicht“.17 Und in der Zeitschrift Theater der Zeit war in einem Artikel unter dem Titel „Die Macht der Physis“ zu lesen: „Zu diffusem, nervösem Getöse [...] zittern und schütteln sich die sieben Akteure gegen Schluss lange Minuten lang, so dass alles an ihnen erbebt. So intensiv ist das, dass die körperliche Entspannung und die leise anklingende Musik wie eine magische Atmosphäre nach dem Sturm erscheinen und auch auf die Zuschauer wie eine Erlösung wirken. Es ist dies eine flüchtige Erlösung, die auf der Bühne nicht über Worte zu vermitteln ist, die nur geahnt werden kann, um nicht kitschig und falsch zu sein.“
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Allen drei Textstellen gemeinsam ist die Erwähnung der Intensität und der zeitlichen Dauer des Zitterns. Mit Naturgewalten wird es verglichen, in verschiedene Verben gefasst. Es wird allerdings nicht genauer beschrieben, wie das Zittern vor sich geht, d.h. was genau wie bewegt ist an den Tanzenden, vielmehr schwenken die Texte gleich auf die Wirkung dieser Bewegungssequenz. Das Publikum wird als erschüttert, als irritiert und als bewegt involviert beschrieben. Die Bewegung hat sich also von den Tanzenden auf die Schreibenden – als Teil des Publikums – übertragen, diese wiederum haben die Bewegung offenbar vor Ort angenommen, dann andernorts in Worte gefasst und so als bewegten Eindruck im Text, aus der Sicht der teilhabenden Zuschauerin, festgehalten. Ein Unbehagen darüber, dass das konkret Gesehene und der erfahrene Effekt letztlich nicht in wörtliche Sprache zu übertragen sind und dass der intensiven Wahrnehmung in
16 Eva Bucher: Als würde der ganze Planet erschüttert, in: Neue Luzerner Zeitung, 19.11.2001, S. 8. 17 Lilo Weber: Leibhaftige Gewalt, in: Neue Zürcher Zeitung, 19.11.2001, S. 28. 18 Christina Thurner: Die Macht der Physis, in: Theater der Zeit, Januar 2002, S. 8f., hier S. 9.
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physischer Kopräsenz eigentlich zweidimensional schriftlich nicht gerecht zu werden ist, schwingt in den Beschreibungen mehr oder weniger leise mit. Dies ist denn auch die Crux und zugleich die immer neue Herausforderung beim Schreiben über Bühnentanz. Tanz-Bewegung lässt sich – zumindest im feuilletonistischen oder kulturwissenschaftlichen Kontext – nicht exakt einfangen in Worte und still stellen in Schrift, wohl aber übertragen in narrative Abläufe, in angelehnte Metaphern und sprachliche Figuren, in Semantisierungen oder Assoziationen. Dass alle drei Kritiken zu ALIBI die zitternden Menschen auf der Bühne als Erschütterung aller im Raum sich Befindenden wiedergeben, ist eine Wahrnehmungs- und Vermittlungsleistung. Wahrnehmung sowie Art und Weise der Vermittlung sind jedoch wesentlich geprägt von der Diskurstradition, also von der spezifischen Be-schreibung von Bewegung beziehungsweise von der Er-Schreibung der Wirkung von künstlerischer Bewegung im Tanz. Es ist m.E. ein Mythos, zu glauben, dass Bewegung auf der Bühne direkt, ganz unmittelbar zu rezipieren, aufzuschreiben und zu vermitteln ist. Wir nehmen wahr, wofür wir das Instrumentarium zum Wahrnehmen haben. Und dieses Instrumentarium liefert uns – nicht nur, wohlgemerkt, aber sicherlich zu einem entscheidenden Teil – der Diskurs. Tanz be-schreiben (im Feuilleton oder auch in der Wissenschaft) ist also nicht, wie oft angenommen, eine rein parasitäre Angelegenheit, sondern ein Akt, der aus dem gesamten Prozess der Wahrnehmung nicht (mehr) herauszulösen ist und der zurück- und weiterwirkt. Dies lässt sich exemplarisch verdeutlichen, wenn man sich den enormen Einfluss Gautiers und seiner Zeitgenossen etwa auf das bis heute wirksame Klischeebild von ‚der Tänzerin‘ vor Augen hält. Wie ich denn nun Tanz beschreibe, nachdem ich ihn gesehen habe, diese Frage hängt mit diesem Zirkel aus Wahrnehmung und Diskurs zusammen. Ich habe oder kreiere Sätze für das, was ich sehe beziehungsweise mit verschiedenen Sinnen wahrnehme. Gautier hat etwas getroffen mit seinem Ausspruch, dass seine Sätze in die Luft flögen und er wisse, dass sie, wie Katzen, auf ihren Füssen landeten.19 Damit schreibt er dem Akt des Schreibens selber Bewegung ein – den Flug der Sätze. Es realisiert sich dies in
19 Gautier zit. in Ivor Guest: The ballet of the second empire, London: Pitman 1974, S. 25.
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der praktischen journalistischen Arbeit zwar nicht immer ganz so leichtfüßig, je nach Stück, das man zu be-schreiben hat und nach Verfassung. Und doch ist dieser Akt eine sichere Bewegung, die fast nicht schief gehen kann, solange sie in ihrem Element ist, im tanzspezifischen Diskurs. Auf jenen muss sich aber immer wieder neu einlassen, wer über Tanz – in seiner ganzen stilistischen Vielfalt vom Ballett bis zur Performance – schreibt, muss dabei nicht nur den geradlinigsten Weg von der Bewegung zum Wort oder zum Text gehen, sondern sich auch in Richtung der Ränder des Diskurses ausstrecken, um nicht stets das selbe zu schreiben und sich von seiner Wahrnehmung im Moment der Präsenz von Tanz auf der Bühne auch immer wieder herausfordern lassen. Im Zittern lediglich eine unwillkürliche, schnell aufeinanderfolgende Anspannung und Entspannung der Muskeln zu sehen und zu beschreiben, wird dem Tanz nicht gerecht, erst wenn aus dem Zittern eine planetare Erschütterung wird oder ein irritierender Ausbruch, ist jene Bewegung eingefangen, um die es im Stück geht, weil die Zuschauer – nie alle natürlich – das Setting in jenem Moment mit ihren Wahrnehmungsinstrumentarien tatsächlich so erfahren haben. Nur so bekommen die Lesenden des Textes davon dann nachträglich eine bewegte Vorstellung. An dieser Stelle bin ich wieder bei der Institution Tanzkritik angelangt, der Einrichtung von und für die Tanz- und Medienszene mit dem Ziel, nachträglich (nochmals) sichtbar zu machen, zu orientieren, zu informieren, zu bewerten und zu unterhalten. Ich möchte nun nach diesen historischen und diskursanalytischen Überlegungen noch ganz praktische anfügen und nicht nur nach der Wahrnehmung, der Vermittlung und dem Diskurs fragen, sondern auch ganz konkret: wie und wofür schreibt man denn eine Tanzkritik?
D IE T ANZKRITIK / DER T ANZJOURNALISMUS
HEUTE
Zunächst muss der Vollständigkeit halber erwähnt sein, dass die Tanzkritik einerseits eine bestimmte Textsorte meint und andererseits ein Überbegriff ist für ganz verschiedene journalistische Textsorten. Dazu gehören: • •
die Kritik, d.h. in der Regel eine Aufführungsbesprechung die Vorschau
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• • • • • • •
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das Künstlerporträt das Interview die Reportage der Künstlernachruf (aus Anlass eines Todesfalls) der Kommentar20 die Festivalberichterstattung der Saison-Überblicksartikel
Im Folgenden beschränke ich mich – aus Platzgründen – nur auf die Tanzkritik als Textsorte im engeren Sinne. Als Kritikerin tätige ich dabei folgende Arbeitsschritte: Vor jeder Vorstellung findet eine Recherche statt – meist anhand von Presseunterlagen, Informationen über Künstlerinnen und Künstler, über das Stück, das Thema usw. Während der Vorstellung schreibe ich mit, was mir gerade einfällt, blind im Dunkeln. Dann folgt zu Hause oder im Hotel das Ordnen der Notizen. Ich versuche den Verlauf des Stücks nochmals nachzuvollziehen und mit Stichworten zu vergegenwärtigen. Daraufhin muss ich mir einen Fokus überlegen sowie die Dramaturgie des Textes entwerfen, die nicht einfach die Dramaturgie des Stücks nachahmen soll. Es folgen Titel, Untertitel und Einstieg. Nach diesem Schreibauftakt gilt es, den Rest des Textes gemäß vorher überlegtem Konzept zu schreiben. Ich achte auf eine stilistisch geschickte Verknüpfung von Informationen und Argumentation, also von Beschreibung, Analyse und Wertung, dabei v.a. auch auf Kohärenz und Stimmigkeit der Argumentation. Zum Schluss muss ich Namen und Daten nochmals überprüfen und den Artikel nach Möglichkeit gegenlesen lassen. Bei jedem Text habe ich dabei grundsätzlich zu beachten: • • • • •
den Informationsauftrag die Gewährleistung von Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit eine – je nach Medium mehr oder weniger gefragte – Fachkompetenz einen guten Aufbau und Stil sowie eine gewisse Originalität
20 D.i. ein Meinungsartikel zu einem überraschenden Ereignis, z.B. zur Etatkürzung von Forsythes Ballett Frankfurt, was zu seinem Weggang geführt hatte.
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Wer das alles beachtet und beherrscht, ist oder wäre eigentlich ein guter Tanzkritiker, eine gute Tanzkritikerin. Aber die Institution Tanzkritik bin ja, wie erwähnt, nicht nur ich als Schreibende. Ich brauche ein Medium der Vermittlung, für das ich schreibe – und da sieht es heutzutage leider nicht so rosig aus. Nach einer Hausse der Tanzkritik erleben wir diesbezüglich gerade eine institutionelle Baisse. Die jüngste Blütezeit der Tanzkritik zeigte sich in den 1990er und den ersten 2000er Jahren nicht nur an einer großen Zahl von Tanzfachzeitschriften, vielmehr lässt sie sich auch an dem Raum messen, der der Tanzkritik in Tages- und Wochenzeitungen, in Radio und Fernsehen eingeräumt wurde. Die Neue Zürcher Zeitung beispielsweise hatte zu jener Zeit eine fest angestellte Tanzredakteurin und mehrere freie Mitarbeiterinnen. Sie publizierte fast täglich Tanzkritiken – einerseits auf der lokalen Seite „Zürcher Kultur“ (da wurden praktisch flächendeckend die Ereignisse in der freien professionellen Tanzszene behandelt), andererseits im Feuilleton über das nationale und internationale Tanzgeschehen (so genannte große Premieren wurden regelmäßig und oft umfangreich besprochen). Diese komfortable Situation änderte sich mit den ersten Anzeichen der Wirtschaftskrise. Die Tanzredakteurin wurde entlassen; der Bereich Tanz wurde ausgelagert: ich habe ihn einige Jahre auf Honorarbasis betreut, d.h. ich habe in Absprache mit der Redaktion eine – immer mehr zurückgestutzte – Auswahl von zu besprechenden Tanzereignissen treffen müssen und meist selber besprochen – aus Mangel an zu bezahlenden weiteren Mitarbeiterinnen und je nach zeitlicher Verfügbarkeit. Seit der großen Wirtschaftskrise bestimmen nun vor allem fachfremde Redakteure über den Raum, der dem Tanz, welchem Tanz und von wem gegeben wird – Tanzkritiken sind mittlerweile leider knapp geworden. Das Beispiel der Neuen Zürcher Zeitung ist sicher kein Einzelfall. In vielen Redaktionen von Tageszeitungen lassen sich ähnliche Entwicklungen feststellen; Tanzzeitschriften gingen ein oder fusionierten (wie jüngst ballettanz und tanzjournal zu tanz – beide Zeitschriften waren selber schon Ergebnisse von Zusammenschlüssen); außerdem werden Sendeplätze in Radio und Fernsehen zusammengestrichen. Dieser Beitrag soll nun allerdings nicht mit einem großen Jammern enden. Die wirtschaftlichen Zeiten werden wieder besser – dies wird uns zumindest fast täglich prophezeit. Ob sich die Printmedien jedoch so weit erholen, dass der Status Quo der 1990er Jahre wieder erreicht werden kann,
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ziehe ich zwar in Zweifel.21 Dabei finde ich es allerdings auch wichtig, dass die Institution Tanzkritik gerade in einer Zeit wie unserer kritisch befragt wird, damit sie, wenn die Medien finanziell wirklich wieder gestärkt sein und ihr journalistisches Angebot erneut ausbauen sollten, in diesen oder neuen Medien und überhaupt in der Gesellschaft (wieder) einen besseren Stand und die ihr adäquate Bedeutung erhält. Alle Beteiligten – vom Tanzkritiker, aber auch von der Künstlerin, der Redakteurin, den Verantwortlichen von Förderinstitutionen bis zu den übrigen Zeitungsleserinnen – sie alle sollten Tanzkritik einschätzen und schätzen können, indem nicht irgendwelche mythischen Bewegungsteilhaben heraufbeschworen werden, sondern – wie ich dies in meinem Beitrag versucht habe – die Parameter der Tanzkritik transparent gemacht werden, auf dass ihr kritischer, aber auch ihr lustvoller und kreativer Wert sich (wieder) etabliere. In diesem Sinne bin ich nämlich nicht nur der Ansicht, dass Tanz und Tanzkritik einander gegenseitig befruchten und brauchen, ich bin auch überzeugt vom gesellschaftlichen Nutzen dieser Institution, die unsere Wahrnehmung eines ästhetischen Phänomens beziehungsweise ganz verschiedener Phänomene jenseits der Sprache über immer wieder neu zu (er-)findende Sprache schärft. Insofern lohnt sich der Schweiß, um auf den Anfang zurückzukommen.
L ITERATUR Binney, Edwin: Les ballets de Théophile Gautier, Paris: Nizet 1965. Bucher, Eva: Als würde der ganze Planet erschüttert, in: Neue Luzerner Zeitung, 19.11.2001, S. 8. Chapman, John V.: Jules Janin. Romantic Critic, in: Garafola, Lynn (Hg.): Rethinking the sylph. New perspectives on the romantic ballet, Hanover/London: University Press of New England 1997, S. 197-241. Copeland, Roger: Dance criticism and the descriptive bias, in: Dance Theatre Journal, 10/3, Frühling/Sommer 1993, S. 26-32.
21 Die ‚Krise‘ der Tanzkritik hat sicherlich nicht nur ökonomische Ursachen. Veränderte Rezeptionshaltungen von Mediennutzern und andere Vermittlungsformen generierende Kunstentwicklungen spielen wohl ebenfalls eine Rolle.
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Ders./Cohen, Marshall (Hg.): What is dance? Readings in theory and criticism, Oxford u.a.: Oxford University Press 1983. Gautier, Théophile: Introduction, in: L’Artiste: revue de Paris, 14.12.1856, S. 3-5. Ders.: Écrits sur la danse, Ausgew., präsent., komment. v. Ivor Guest, Arles: Librairie de la danse/Actes Sud 1995. Guest, Ivor: The ballet of the second empire, London: Pitman 1974. Jakoby, Ruth: Das Feuilleton des Journal des Débats von 1814 bis 1830, Tübingen: Gunter Narr 1988. Janin, Jules, in: Journal des débats politiques et litteraires, 30.6.1841, S. 1. Levinson, Andrei: Théophile Gautier und das Ballett, in: Ders.: Meister des Balletts, aus dem Russischen übertr. v. Reinhold von Walter, Potsdam: Müller 1923. Matoré, Georges: Le vocabulaire de la prose littéraire de 1833 à 1845. Théophile Gautier et ses premières œuvres en prose, Genf/Lille: Droz/Giard 1951. Neuhaus, Stefan: Literaturkritik. Eine Einführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. Thurner, Christina: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld: transcript 2009. Dies.: Die Macht der Physis, in: Theater der Zeit, Januar 2002, S. 8f. Wahrig-Burfeind, Renate (Hg.): Wahrig. Deutsches Wörterbuch, 8. v. neu bearb./aktual. Aufl., Gütersloh/München: Wissen Media Verlag 2006. Weber, Lilo: Leibhaftige Gewalt, in: Neue Zürcher Zeitung, 19.11.2001, S. 28. Wienholz, Margrit: Französische Tanzkritik im 19. Jahrhundert als Spiegel ästhetischer Bewußtseinsbildung. Théophile Gautier – Jules Lemaître – Stéphane Mallarmé, Bern, Frankfurt: Lang 1974.
I NTERNETQUELLEN http://www.paradisi.de/Health_und_Ernaehrung/Symptome/Zittern. Pschyrembel, Willibald (Hg.): Klinisches Wörterbuch, Online-Ausgabe: http://www.wdg.pschyrembel.de/Xaver/start.xav?SID=Urs46Keller64t4 5systems46ch279104832949&startbk=pschyrembel_ppp&bk=pschyrem bel_ppp&hitnr=1&start=%2f%2f*%5B%40node_id%3D%27630950 %27%5D&anchor=el (14.07.2010).
Projektanträge und marktgerechte Präsentation Ein Bericht über einen Workshop zum Projektmanagement J OHANNA K ASPEROWITSCH
Was will ich? Wonach suche ich? Als Tanzstudentin, die kurz vor dem Abschluss steht und sich einer Tanzlandschaft gegenüber sieht, die vielfältiger und teilweise unübersichtlicher nicht sein könnte, sind dies zentrale Frage für den kommenden beruflichen Weg. Gerade gegen Ende des Studiums, wenn sich persönliche Fähigkeiten, Neigungen und Geschmäcker herauskristallisiert haben, wächst das Interesse an Orientierung und Entwicklungsmöglichkeiten: Sich über Choreographen, Stücke, Kompanien, Tanzhäuser und weitere Institutionen zu informieren, scheint nun besonders wichtig für die berufliche und künstlerische Entwicklung. Dabei wird ein für angehende Tänzer und Choreographen wichtiges Wissen selten ausführlich im Rahmen des Studiums vermittelt. Dies betrifft vor allem Informationen über die unterschiedlichen Arten und Weisen der Tanzförderung in Deutschland und die Herangehensweisen an das Beantragen von Geldern. Ein recht trockenes, aber wichtiges Thema für angehende Künstler. Um dieses Wissen in Ansätzen zu vermitteln, fand im Rahmen der Tagung „Choreographie und Institution“ im Sommer 2010 ein dreitägiger Workshop zu den Themen Projektmanagement und Tanzförderung für die Tanzstudierende des Zentrum für zeitgenössischen Tanz der Hochschule für Musik und Tanz Köln statt. Heike Lehmke vom Tanzforum Köln und Madeline Ritter vom Tanzplan Deutschland hatten es sich zur Hauptaufga-
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be gemacht, den Studenten die Angst vor dem Beantragen von Fördergeldern zu nehmen. Doch würde ihnen das gelingen? Die Stellwände im Seminarraum waren vollgeschrieben mit unzähligen Fragen, die zeigten, dass die Studierenden dem Thema mehr als unsicher gegenüber standen und von den zahlreichen Formalitäten überfordert schienen. Welche Kunst ist förderungswürdig? Warum wird manche Kunst mehr gefördert als andere? Warum ist Kultur nicht gleich Kultur? Was gehört in ein Konzept? Oder: Was ist überhaupt eine Managerin und ihre Aufgabe? Es wurde schnell klar, dass der Themenbereich Tanzförderung riesig ist, und es viele Unterthemen wie Förderungsarten und Projektbeschreibung zu besprechen gab. Dieser Text fasst nun gebündelt die Ergebnisses diese Workshops zusammen. Er richtet sich bewusst an Tanzstudierende aber auch an andere Interessierte, die mit dem Schreiben von Förderanträgen beginnen wollen. Er ist als ein Hilfsmittel zur Orientierung gedacht, möchte aber abschließend auch kritische Fragen ansprechen.
W O KANN ICH F ÖRDERUNG BEANTRAGEN ? W ELCHE F ÖRDERUNGSARTEN GIBT ES ? Wer einen ersten Überblick sucht, was von wem, wo und wie gefördert wird, der wirft am besten ein ersten Blick auf die Webseite: www.tanzfoerderung.de. Dabei handelt es sich um eine von Tanzplan Deutschland in Auftrag gegebene Zusammenstellung aller Förderungsmöglichkeiten im Bereich Tanz auf Bundesebene. Man findet reichlich Information über Auslandsstipendien, Basis- und Konzeptförderung, Projektförderung, Ausbildungsstipendien, Arbeitsstipendien und Förderung für Research und Forschung. Recht übersichtlich ist die Seite in Bundesländer unterteilt und verschafft – abgesehen von Förderung auf kommunaler Ebene – einen guten Überblick über alle Möglichkeiten samt Verlinkungen zu den jeweiligen Webseiten des relevanten Stiftungen oder Organisation mit Adressen, Telefonnummern und kurzen Beschreibungen der jeweiligen Förderungskriterien (Wer wird gefördert?) und Förderungsrichtlinien (Was muss ich beim Antragstellen beachten?). Denn bei der Bandbreite an Förderangeboten sollte man
P ROJEKTANTRÄGE UND
MARKTGERECHTE
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sich diese Fragen – unter Berücksichtigung der eigenen Qualifikation – zuerst stellen. Als Studienabsolvent aus Köln ist beispielsweise die „Kunststiftung NRW für Nachwuchsförderung“ in Düsseldorf interessant. Sie ist die richtige Adresse für Auslandsstipendien, (erste) eigene Projekte oder Hospitanzen und Praktika in Ensembles oder bei bestimmten Choreographen, die einer Weiterqualifizierung dienen. Wer zunächst erst künstlerische Recherche betreiben möchte, (um dann ein Projekt entwickeln zu können) findet in NRW das „Kultursekretariat für Rechercheförderung“ in Wuppertal als Anlaufstelle. Hier wird das Forschen in spartenübergreifenden Projekten in den Bereichen Tanz, Musik, bildender Kunst und Literatur unterstützt. Somit ist dieser Förderer nicht hauptsächlich an fertigen Endprodukten interessiert, sondern will eher Prozesse und Diskurse anregen. Weitere interessante Beispiele wären die „NRW-Spitzenförderung“ für Ensembles und die „SK Stiftung Kultur“ der Sparkasse KölnBonn. (Erstere erhalten derzeit Stephanie Thiersch, Ben J. Riepe und Cocoondance aus Bonn.) Diese Förderung gewährleistet den Choreographen Planungssicherheit für drei Jahre und kann eventuell sogar verlängert werden. Zielgruppe der SK Stiftung Kultur sind nichtkommerzielle, also nicht primär gewinnorientierte, freie Theater und bildende Kunst im Stadtgebiet Köln. Nachwuchsförderung wird aber nicht nur finanziell geleistet wie die Förderstrukturen in anderen Bundesländern z.B. mit dem „Tanzlabor 21“ in Frankfurt am Main oder auch Kampnagel in Hamburg zeigen. Dies ist nur ein kleiner, lokaler Einblick in die Bandbreite von Förderungen, die auch schon für den Nachwuchs offen sind – denn für viele andere Anträge muss man bereits eigene choreographische Projekte realisiert haben. Allerdings gilt für alle Anträge – so der Hinweis von Lehmke und Ritter – dass es Sinn macht, vor dem tatsächlichen Antragstellen ein persönliches Informationsgespräch mit den Verantwortlichen zu vereinbaren, da in diesem Bereich der Nachwuchsförderung Bund, Land und Stadt oft nicht sehr gut zusammenarbeiten und dies das Beantragen von Geldern verkomplizieren kann. Um all diese Beispiele zusammengefasst und auf dem aktuellen Stand sowie noch viele weitere Förderungsmöglichkeiten in anderen Bundesländern zu finden, ist – wie gesagt – die Webseite www.tanzfoerderung.de die geeignete Plattform für eine erste Suche.
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P ROJEKTBESCHREIBUNG Hat man einen potentiellen Förderer gefunden und sich entschlossen, den jeweiligen Antrag zu stellen, ist die schriftliche Darstellung des geplanten Projekts von entscheidender Bedeutung. Aber wie ein noch recht vages Projekt knapp und bündig in schriftliche Form bringen? Wie interessante aber doch sehr persönliche Gedanken und Ideen allgemeinverständlich präsentieren? Wie zu Papier bringen, was sich bisher nur tänzerisch und körperlich manifestiert? Heike Lehmke und Madeline Ritter stellten den Studenten am zweiten Tag des Workshops das Prinzip einer Speed-Dating-Runde vor, bei dem sie ihre imaginären Projekte sehr kurz und knapp aber überzeugend einer zweiten Person, ohne langes Grübeln und in fünf Minuten mündlich darstellen sollten. Auch wenn es sich als schwieriger als gedacht herausstellte, ein Projekt in wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen, und die schriftliche Projektbeschreibung im tatsächlichen Antrag mit mehr Zeit und ausführlicher gestaltet werden kann, so macht es doch Sinn, die Thematik des eigenen Vorhabens gedanklich für sich auf den Punkt zu bringen. Auch regt diese Verfahren dazu an, nicht vor dem leeren Blatt zu versauern, sondern anderen sein Vorhaben zu schildern, um zu überprüfen, ob Ziele und Ideen klar verständlich sind Je klarer die Absichten und je genauer die Beschreibung, desto überzeugender kommen diese auch beim Gegenüber, dem potenziellen Förderer an. Geht es an die eigentliche, schriftliche Projektbeschreibung sind weitere formale Punkte zu beachten: ein Titel oder Arbeitstitel des Projekts sollte bereits angegeben werden. Gegebenenfalls auch ein Untertitel, in dem ersichtlich wird, ob es sich um Tanz, Theater oder Tanztheater handelt. Nach einer Kurzdarstellung des Projekts wird die Umsetzung erneut genauer geschildert, d.h. es sollte nicht nur das Thema bzw. Ideen deutlich werden, sondern auch mit welcher Methode gearbeitet werden soll, z.B. wie ich an Bewegungsfindung mit meinen Tänzern arbeiten möchte und welche konkreten Gedanken ich zu Bühnenanordnung, Raumsituation, Licht und Zeitdauer habe. Dies klar darstellen zu müssen, hilft auch, die eigenen Ideen nochmals zu konkretisieren. Selbst wenn diese sich in der Umsetzung später ändern, kann der Probenprozess von einer genauen Reflexion vorab profitieren.
P ROJEKTANTRÄGE UND
MARKTGERECHTE
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Ein wichtiger Punkt innerhalb der Projektbeschreibung ist auch die Zieldefinition. Fragestellungen hierzu können sein: Hat das Projekt eine nachhaltige Wirkung? Inwiefern ist es auf Kontinuität angelegt? Was ist an diesem Projekt innovativ? Ist notwendige Professionalität gewährleistet? Leistet das Projekt einen Beitrag zur Qualifizierung von künstlerischen Fähigkeiten? Sind Vernetzungsstrukturen gegeben? Hat es internationale Ausstrahlung? Die Definition der Ziele muss nicht unbedingt einen eigenen schriftlichen Punkt innerhalb der Projektbeschreibung ergeben. Sie ist aber als grundlegender Hintergedanke ein wichtiger Aspekt und sollte zumindest durch eine überzeugende und fundierte Art und Weise der Darstellung des Projekts und dessen geplanter Umsetzung deutlich werden. Sehr persönliche Motivationen und Ziele sind meist schwierig zu formulieren und sollten deshalb – wenn sie überhaupt angegeben werden – gut durchdacht und sehr klar formuliert sein. Ihre schriftliche Darlegung ist aber nicht zwingend von Bedeutung für den Förderer.
W AS
MUSS NUN IN DEN
ANTRAG
NOCH REIN ?
Damit ist der Antrag aber noch lange nicht vollständig! In den meisten Fällen gibt es ein Formblatt (teilweise auch online) der Förderer auszufüllen. Hier werden zuerst grundsätzliche Angaben zum Projekt abgefragt: Also Kontaktdaten des/der Verantwortlichen, Daten des Projektkontos (Die Projektkosten sollten immer von einem eigens angelegten und separaten Konto aus verwaltet werden. Dies gewährleistet eine übersichtlichere Selbstverwaltung und wirkt auch professioneller), eine kurze Übersicht zum künstlerischen/beruflichen Werdegang des/der Antragstellers/in und der gegebenenfalls weiteren Beteiligten, einen Verweis auf die eigene Webseite, falls vorhanden, den Durchführungszeitraum (hier sollte neben Premierendatum und Daten weiterer Vorstellungen ein möglichst langer Produktionszeitraum eingeplant werden. Die Vorbereitungszeit eines Projekts ist nicht zu unterschätzen! Gleichzeitig darf sie in der Regel nicht vor dem Förderungsbeginn liegen) und nicht zuletzt die Höhe der beantragten Summe. Angaben zur Projektorganisation sind lästig aber wichtig. Sie beinhalten gegebenenfalls Informationen zu weiteren Förderern. Ein Projekt wird meist nicht komplett von nur einem Förderer unterstützt, sondern von mehreren: Geldgeber schließen sich gerne anderen Geldgebern an. Angaben zu
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Kooperationspartnern (soziale Einrichtungen, Hochschulen, andere Künstler, etc.) Zielgruppen, weiteren Projektbeteiligten, eventuell weiteren Kontexten wie Festivals und Wettbewerben gehören auch zur Organisation des Projekts. Wie ich meinen Zeitplan inklusive Probenphase, Aufführungsphase und eventuellen Gastspielen gestalte, gehört ebenfalls in den Antrag. Einen begrenzten Umfang an Anlagen, kann man, falls vorhanden, auch noch einreichen: Also Informationen über bereits durchgeführten Projekte und deren Dokumentation in Form von CDs, DVDs und einen Pressespiegel.
F INANZKALKULATION Die Finanzkalkulation stellt neben der Projektbeschreibung den zweiten großen zu bewältigenden Teil eines Förderantrags dar. Madeline Ritter verwendete an dieser Stelle zahlreiche Fachbegriffen, auf die ich hier zurückgreifen bzw. erklären möchte, da sie vielleicht die größte emotionale Hürde im Antragstellen darstellen: Bevor man kalkuliert muss man zunächst wissen: Welche Kosten sind zuwendungsfähig? Dafür gilt es vor allem die Richtlinien der einzelnen Förderer genau zu studieren. Für die meisten gilt jedoch, dass nur solche Geldbeträge zuwendungsfähig sind, die nach dem Erhalt eines Bescheides ausgegeben werden, d.h. alle finanziellen Verpflichtungen, die vor der Bewilligung einer Förderung eingegangen sind, können nicht abgerechnet werden. Es wird später nämlich genau überprüft, ob der Bewilligungszeitraum eingehalten wurde. Genehmigte Finanzierungen sind übrigens verbindlich. Soll von ihnen mehr als 20% abgewichen werden, muss dies schriftlich und rechtzeitig der Bewilligungsbehörde zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Erstellung eines Kosten- und Finanzierungsplanes sollte eine genaue Übersicht aller Kosten und deren Verwendung gewährleistet. Er ist für den Antragsteller aber auch vor allem für den Förderer zwecks der Übersicht und Nachvollziehbarkeit der ausgegebenen Geldbeträge wichtiger Bestandteil des Antrags. Vorgefertigte Formulare, mit bereits sehr detaillierter Einteilung aller Kosten in Teilbereiche, gibt es hierzu auf der Webseite der Kulturstiftung des Bundes. Hieran kann man auch erkennen, ob man alle möglichen Kosten bedacht hat: Probenräume, Honorare für Tänzer und andere beteiligten Künst-
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ler (Fotografen, Dramaturgen, Assistenten). Aber auch die Pressearbeit (Poster, Flyer, Kopien), Kosten für Bühnenbild, Transporte und Technik sollten bei der Kalkulation nicht vergessen werden. Ausgaben für Technik und Werbung sind nicht zu unterschätzen. Technikmiete für Geräte wie Beamer oder Lautsprecher kostet in der Regel viel. Bei der Werbung lohnt es sich, nicht zu sehr zu sparen und beispielsweise für gute Qualität und ansprechendes Design der Flyer etwas mehr auszugeben. Je besser die Werbung, desto größer das öffentliche Interesse für ein Projekt, welches davon lebt, dass es Zuschauer hat. Auch für die Dokumentation der Arbeit am geförderten Projekt in Form von qualitativ hochwertigen Fotos und DVDs lohnt es sich, etwas Geld einzuplanen. Man kann sie für spätere Bewerbungen und Anträge gut gebrauchen. Was die Honorare betrifft, so sollte im Auge behalten werden, dass der Choreograph bzw. der Projektleiter von der Antragstellung bis zur tatsächlichen Umsetzung eines Projekts die meiste Arbeit hat. Sein Honorar kann also ohne schlechtes Gewissen um einiges höher angesetzt werden als das eines mitwirkenden Tänzers. Für die Höhe von Honoraren sollte man Gespräche der Förderer in Bezug auf mögliche Höchstsätze aber auch mit Kollegen führen, was vor Ort und für den Projekttyp üblich ist, wenn es hier noch keine Erfahrungswerte gibt. Ein weiterer wichtiger Kostenpunkt im Finanzplan sind die Beiträge für die Künstlersozialkasse (KSK). Diese müssen immer auf das Honorar eines Künstlers draufgeschlagen werden. Auch wenn er oder sie nicht Mitglied der KSK ist, muss ein Beitrag geleistet werden (ca. 3.9-5,2% des Honorars). Die jeweiligen Sätze, Anmeldungsformulare und Richtlinien kann man auf der Webeseite: www.kuenstlersozialkasse.de finden. Beachtet man diese Abgaben nicht, kann es bei Nachprüfung durch die KSK unter Umständen zu erheblichen Nachzahlungen kommen. Zu einem Kostenplan gehören auch die Angabe der eigenen Mittel, der Einnahmen z.B. durch andere Förderer oder durch Eintrittsgelder oder festgelegte Fördersummen der präsentierenden Institution, denn bei allen Förderungen handelt es sich um eine Fehlbedarfsfinanzierung. Aber was ist eine Fehlbedarfsfinanzierung? Dies sind die Kosten, die der Antragsteller nicht selbst aufbringen kann. Daraus ergibt sich, dass Eigenmittel oder Drittmittel vor der Verwendung der Förderungsgelder in voller Höhe zu verbrauchen sind. Erst dann dürfen diese verwendet werden. Es darf also kein Gewinn erwirtschaftet werden.
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Allgemein ist noch zu bemerken, dass kein Förderer 100% der Kosten eines Projekts übernimmt. Drittmittel oder weitere Förderer sind fast immer nötig. Es ist daher wichtig zu überprüfen, wie viel die Produktion realistischerweise kostet und auch wie viel Prozent von dieser Gesamtsumme der Förderer übernehmen wird. Geldgeber schließen sich gerne anderen Geldgebern an. Daher sollte man diese, falls vorhanden, neben Summen, die man eventuell noch im Hinterkopf hat, unbedingt im Anhang auflisten. Insgesamt sollte man professionell kalkulieren, d.h. es kann ruhig angegeben werden, was ein Projekt tatsächlich kosten wird, ohne Beschönigung und das Verschweigen von Kostenfaktoren. Vielleicht ist es hilfreich, vorerst ein Idealbudget auszurechnen und es anschließend zu reduzieren und zu überdenken, was eingespart werden könnte. Zudem gilt zu bedenken, dass selbst bei Bewilligung der Förderung oft nicht die beantragte Summe gezahlt wird.
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UND WEITERE I NFORMATIONEN SUCHEN
Ganz gleich, wie gut man bereits über das Antragstellen informiert wurde – und vor allem als weniger routinierter Berufseinsteiger – ist es meist besser, vor der Antragstellung ein persönliches Beratungsgespräch bei der betreffenden Institution zu vereinbaren. Es gibt häufig noch detaillierte Fragen zu formalen Kriterien wie Antragsfristen oder zu Förderkriterien, die eventuell nicht punktgenau auf Webseiten ersichtlich werden und in einem persönlichen Gespräch am schnellsten und sichersten geklärt werden können. Zum Beispiel schließen sich oft bestimmte Förderungen gegenseitig aus. Dies kann man online oft nicht in Erfahrung bringen. Auch können hier von Angesicht zu Angesicht noch zusätzliche Themen besprochen werden, die selbst in dem thematisch sehr umfangreichen Workshop von Madeline Ritter und Heike Lehmke nicht ausreichend besprochen und diskutiert werden konnten. Durch ein persönliches Gespräch wird es einfacher, sich auf die jeweiligen Ansprüche und Vorstellungen des Förderers einzustellen. Außerdem kann es – vor allem bei einer großen Anzahl von Antragstellern – von Vorteil sein, dass der Förderer das Gesicht des Antragstellers kennt. Ein Kriterium wie Sympathie muss nicht, kann aber eine Rolle spielen. Auch sollte man nach einem ersten gescheiterten Antrag nicht aufgeben. Bei vielen
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Förderern gibt es ein fast ungeschriebenes Gesetzt, dass der erste Antrag fast nie bewilligt wird.Wer dann das Glück hat, gefördert zu werden, sollte rechtzeitig im Auge behalten, dass damit die Arbeit noch nicht getan ist.
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Nach Abschluss eines Projekts und bevor der Verwendungsnachweis, bestehend aus einem Sachbericht (DVD, Kritiken, Fotos, Werbung, etc.) und dem zahlenmäßigen Nachweis, in einen Zeitraum von drei Monaten nach Projektende beim Förderer abgegeben wird, sollte man folgende Punkte nochmal checken: Wurden alle Ausgaben im bewilligten Durchführungszeitraum getätigt? Sind alle Ausgaben zuwendungsfähig? Bewegen sich alle Ausgaben innerhalb der Kalkulation, bzw. einer Abweichung von höchstens 20%? Der erstellte Kosten- und Finanzierungsplan beinhaltet auch eine tabellarische Belegübersicht, in der jeweils getrennt voneinander die Ein- und Auszahlungen nach Art und in zeitlicher Reihenfolge aufgelistet werden müssen. Aus dieser Liste müssen Belegnummer, Tag, Einzahler/Empfänger sowie Art und Grund der Zahlung und tatsächlich der centgenaue Geldbetrag ersichtlich sein. Deshalb tut man gut daran, alle Belege mit Datum und Art der Leistung beschriftet und alle Rechnungen mit Datum, Adresse, Kontoverbindung, Lieferdatum, Steuernummer und Rechnungsnummer versehen zeitlich chronologisch abgeheftet zu sammeln und auch nach Abrechnung mindestens fünf Jahre aufzubewahren. Es zeigt sich also an dieser Stelle meiner Ausführungen, bei denen sich an manchen Stellen wegen des Themas eine gewissen Trockenheit nicht vermeiden ließ, dass wer ein künstlerisches Projekt auf die Beine stellen und auch noch zeigen will, neben der entscheidenden und wichtigsten Arbeit, der künstlerischen, auch noch einen auf den ersten Blick unüberwindbaren Berg an Formalitäten vor sich liegen hat, der sich nicht nebenbei erledigen lässt. Für mich persönlich relativierte sich die Angst vor diesem Berg mit etwas Abstand zu dem Seminar wieder. Denn bei genauem Hinsehen ist er nicht unüberwindlich für den, der sich frühzeitig um alles kümmert, gut plant und der den festen Entschluss gefasst hat, seine Arbeit im herkömmlichen Sinne zu zeigen und durch Förderungen zu finanzieren.
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F ÜR DEN M ARKT
ODER NICHT ?
Und genau hier finde ich, lohnt es sich auch ein paar kritische Fragen zu stellen. Denn einen Förderantrag zu stellen, heißt nämlich zu aller erst, sich die Frage zu stellen: Wie verkaufe ich mich und meine Kunst am besten, sodass die gewünschte Stiftung an einer Förderung interessiert ist? Sich diese Fragen zu stellen, setzt wiederum voraus, dass man bereit ist, sich marktgerecht zu verhalten bzw. dieses kann. Denn hat nicht derjenige, der sein persönliches Kunstverständnis und die Formulierung seiner Idee nicht mit angepasstem Marktverhalten zu vereinbaren weiß, schlechtere Aussichten auf Förderung? Was passiert mit weniger sprachgewandten Künstlern oder experimentelleren Projekten? Was geht verloren, wenn Verträge, Anträge, Arbeitsbedingungen und -verhältnisse entscheidend werden? Wie bestätigend es auch sein mag, als Künstler innerhalb des Marktes seinen Platz zu finden, sich zu etablieren und im Sinne von Förderern gute Kunst hervorzubringen, so wichtig scheint es mir aber auch, sich die Frage zu stellen: Will ich unter vorgegebenen Rahmenbedingungen, die unter Umständen gegen mich arbeiten, funktionieren und kann ich das meiner Kunst und meiner Person gegenüber verantworten? Vielleicht beantwortet man diese sehr persönliche Frage mit Ja. Aber selbst dann sollte man eine Art Egoismus entwickeln. Einen Egoismus, der davor schützt, nicht ausschließlich auf die Gunst (und Gelder) anderer zu bauen; ein Egoismus, der einen schützt, den eigenen Wert als Tänzer und Künstler ausschließlich über die Marktprinzipien des kulturellen Sektors zu definieren. Eine kritische Diskussion über den Kunstmarkt fand leider trotz aller Detailgenauigkeit in anderen Bereichen im Worksho von Madeline Ritter und Heike Lehmke nicht statt. Nach zwei Tagen Einarbeitung in diese Thematik hätte ich mir gerade für Berufsanfänger eine Distanzierung von den Förderstrukturen gewünscht, um sich nach allen Details und Informationen noch einmal die größeren Zusammenhänge und Strukturen klar zu machen, in denen man sichals Kunstschaffender in Deutschland bewegt. Wenn man sich aber dennoch darauf einlassen möchte, und um nicht auf ein doch recht wenig greifbares Kriterium wie Sympathie angewiesen zu sein, soll dieser Text – die reinen Formalitäten betreffend – eine erste Hilfestellung sein. Und wer weiß, vielleicht ist es gerade das Schreiben, das einem hilft, auch produktiv zu werden, und setzen Formalitäten auch Strukturen, an denen man sich anlehnen oder abarbeiten kann.
Tanzwissenschaft in höheren Bildungsinstitutionen: Eine Genealogie der Unterschiede
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J ENS R ICHARD G IERSDORF
Bei meiner Einreise nach Amerika werde ich jedesmal nach meinem Beruf als Grund für meinen Aufenthalt in den USA gefragt. Das bringt dann immer einige Verwirrungen mit sich, da der Beamte dank meines deutschen Akzents Dance History (Tanzgeschichte) meist als Dentistry (Zahnheilkunde) versteht. Auf den Begriff Dance Studies zurückgreifend und konfrontiert mit dem nichtverstehenden Gesicht des Beamten, fange ich dann oft an zu erklären, was das wohl sei. Wenn dann endlich eine gewisse Erleuchtung über sein Gesicht gleitet, kommt es meist unweigerlich zur Frage: „Und wir bezahlen Sie dafür?“ Immer wieder gerate ich in die Situation, meinen Beruf als Tanzwissenschaftler erklären zu müssen. Meist weiche ich langwierigen Erläuterungen aus und sage einfach: „Das ist wie Theaterwissenschaft, nur dass man nicht über Theater schreibt, sondern über Tanz.“ Das hilft, aber hinterlässt bei mir einen faden Nachgeschmack. Ich weiß, dass Tanzwissenschaft nicht
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Dieser Text wurde in leicht veränderter Form in Englisch im Dance Research Journal, 41/1, 2009, S. 23-44 publiziert. Eine erste, stark verkürzte Fassung ist in Deutsch in Claudia Fleischle-Braun/Ralf Stabel (Hg.): Tanzforschung & Tanzausbildung, Berlin: Henschel 2008, S. 45-52 erschienen. Ich danke hiermit den Herausgebern für die Rechte zum Wiederabdruck.
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Theaterwissenschaft ist. Tanz erlaubt und bedarf eine andere theoretische und praktische Form der Analyse und Auseinandersetzung. Ich habe selbst getanzt und dann Tanzwissenschaft studiert, weil mich die regulierende Einflussnahme des Tanzes auf die Gesellschaft (also nicht nur als Reflektor sozialer Verhältnisse) interessiert hat. Das Verschwinden meines Heimatlandes DDR – und damit auch der ostdeutschen akademischen Strukturen – hat mich bewegt, mein an der Theaterhochschule Hans Otto in Leipzig begonnenes Tanzwissenschaftsstudium im Promotionsstudiengang Dance History and Theory (Ph.D.Programm) an der University of California, Riverside in den USA fortzusetzen und später eine Lehrtätigkeit in Dance Studies an der University of Surrey in Großbritannien anzunehmen. Da in diesen beiden Staaten eine längere Geschichte der Tanzwissenschaft in höheren Bildungsinstitutionen existiert, als das in Deutschland der Fall ist, dominiert englischsprachige Tanzwissenschaft oft den internationalen Diskurs und die Struktur unserer akademischen Disziplin. Durch meine persönliche Emigration habe ich mich mit sehr unterschiedlichen nationalen disziplinären Diskursen von Tanzwissenschaft auseinander gesetzt. An der University of California, Riverside fand ich mich als Doktorand von einer eklektischen Gruppe internationaler (angehender) Tanzwissenschaftler umgeben: Weiße und asiatischstämmige Amerikaner, Brasilianer, Argentinier, Mexikaner, Taiwanesen und Italiener. Ihr jeweils unterschiedliches Verständnis von Tanz sowie der theoretische Schwerpunkt des Studiengangs in Riverside erweiterten meine Forschungsperspektive und langfristig auch meine Lehre dahingehend, dass Überlegungen zur Konstruktion von Identität und kulturwissenschaftliche Ansätze an Einfluss gewannen. Meine folgende Lehrtätigkeit an der University of Surrey, Guildford, in Großbritannien forderte dazu auf, Tanzwissenschaft im Kontext eines spezifisch national regulierten Tanz-Curriculum zu reflektieren: Wie situiert sich Tanzwissenschaft als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin innerhalb dieses nationalen akademischen Diskurses? Mein danach vollzogener Wechsel an das Marymount Manhattan College – ein kleines Liberal Arts College in New York mit einer berufsorientierten Tänzerausbildung – hat zu dieser nationalen Ausrichtung dann auch noch innerdisziplinäre Fragen zum Verhältnis von Tanztraining und Tanztheorie aufgeworfen. Die folgende, an meinem akademischen Werdegang ansetzende Betrachtung von drei Konzepten der Tanzwissenschaft (DDR, Großbritannien und USA)
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möchte einen Beitrag zum internationalen Dialog über die Funktion von Tanzwissenschaft in der zunehmend internationalen und marktbezogenen Hochschul- und Universitätsausbildung, ihrer disziplinären und institutionellen Strukturen, der Haltung gegenüber ihrem ‚Untersuchungsobjekt‘ Tanz und ihrer Beziehung zu anderen Disziplinen leisten. Der Versuch diese Themen zu untersuchen, bedarf einer dialektischen Vorgehensweise, die die Beziehung zwischen intra- und inter-disziplinären Zusammenhängen beleuchtet. Mit anderen Worten: Ich werde hier das für die Tanzwissenschaft versuchen nachzuvollziehen, was Michel Foucault die diskursive Formierung von disziplinären Gegenständen und Feldern innerhalb einer Disziplin genannt hat. Foucault zeigt auf, wie diese Untersuchungsobjekte von Disziplinen geschaffen und transformiert werden um eine disziplinäre Kohärenz zu erzeugen.2 Dies möchte ich ergänzend mit Pierre Bourdieus Überlegungen zum akademischen Habitus einer Disziplin betrachten. Es geht hier also darum, wie wissenschaftliche Disziplinen kulturelles Kapital in größeren akademischen und nationalen Strukturen produzieren und erhalten.3 Als Grundlage für den Vergleich dieser drei institutionellen Kontexte betrachte ich sowohl Dokumente (u.a. Curricula, Zielsetzungen) dieser Institutionen als auch die wegweisenden Publikationen der GründerInnen dieser Studiengänge – all das begreife ich als Teil dieser höheren Bildungsinstitutionen. Mein Ziel ist dabei in Form einer disziplinären Genealogie im Sinne Foucaults, die Differenzen und Spannungen innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses aufzuzeigen.4 Auch wenn hier auf die Entstehung und Entwicklung von Tanzwissenschaftsinstitutionen eingegangen wird, geht es mir nicht darum, einen Mythos des Ursprungs zu etablieren oder gar eine ‚korrigierende‘ Geschichte der Tanzwissenschaft zu schreiben. Es ist also nicht mein Anliegen herauszustellen, wer zuerst bestimmte Studiengänge und Forschungsperspektiven initiierte, sondern vielmehr möchte ich die institutionellen, nationalen und wissenschaftlichen Kontexte verdeutlichen und befragen, wie sich diese Programme im Bezug auf die Kategorien
2
Vgl. Michel Foucault: The Archeology of Knowledge, New York: Pantheon
3
Vgl. Pierre Bourdieu: Homo Academicus, Stanford: Stanford University Press, 1988.
4
Vgl. Michel Foucault: Nietzsche, Genealogy, History, in: Paul Rabinow (Hg.):
1972, 32f.
The Foucault Reader, New York: Pantheon Books 1984, S. 76-100.
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von Tanz, Choreographie und Körperlichkeit strukturieren und damit ermöglichen, Tanzwissenschaft in Hinblick auf Institutionen bzw. Prozesse der Institutionalisierung zu begreifen. Auch wenn die Auswahl dieser drei Studiengänge von meiner eigenen akademischen Laufbahn beeinflusst ist, so können sie unabhängig davon auch als exemplarisch für drei unterschiedliche Schwerpunkte und methodische Zugänge zur Tanzwissenschaft in ihrem jeweils nationalen Kontext verstanden werden. Die Studiengänge in Leipzig, Surrey und Riverside lassen sich schematisch mit den Begriffen: Archivierung, Analyse und Choreographie kurz beschreiben. Diese Schwerpunkte wurden von den zentralen Gründungsfiguren dieser Studiengänge entwickelt und theoretisiert, aber sie sind im gleichen Maße bestimmt von den damit verbundenen Kämpfen um nationale Identität (DDR), dem Überdenken von Nationalität in einer postkolonialen Welt (UK) und dem wachsenden Einfluss der Wirtschaft in einer globalisierenden Bildung (USA). Die Zeit ihrer Entstehung als auch ihre wissenschaftliche Agenda machen diese Studienprogramme zu beispielhaften Studienfällen, um sich der Thematik der Institutionalisierung von Tanzwissenschaft zu widmen. Sicherlich ließen sich zahlreiche andere wichtige Studienprogramme sowie wertvolle Visionen und individuelle Versuche, das Feld der Tanzwissenschaft zu definieren, benennen. Meine Beschränkung auf diese drei Studienprogramme möchte daher weder diese anderen als weniger wichtig noch als in Opposition dazu betrachten. Allerdings können andere Modelle von Tanzwissenschaft ins Verhältnis zu diesen drei Zugängen gebracht werden, die ohnehin im Austausch stehen und sich vermischen, wie sich alleine schon an meiner Migration zeigt. Mir geht es um ein erstes Verständnis von unterschiedlichen Visionen von Tanzwissenschaft, die ein mehr oder weniger komplexes Verhältnis von Tanz und Theoretisierung definieren. Vielleicht kann ein verstärkter Austausch über Länder- und Sprachgrenzen hinweg helfen, die Unterscheidung zwischen diesen beiden Bestandteilen der Tanzwissenschaftsausbildung zumindest von verschiedenen Richtungen aus neu zu befragen und die kolonialisierende Wirkung einiger Tanzwissenschaftsmodelle zu beleuchten. Ein wichtiger Gesichtspunkt zum Verständnis der institutionellen Etablierung von Tanzwissenschaft ist die Berücksichtigung der Trennung von intellektueller und praktischer Arbeit, die auch die Hierarchie von akademischer Bildung und Berufsausbildung beeinflusst. Im Tanz manifestiert sich dieses dichotome Verhältnis von Training, Produktion und Aufführung auf
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der einen Seite, Wissenschaft und Bildung auf der anderen in besonders ausgeprägter Form. In den 1960er und 1970er Jahren wurden in England mehrere Polytechnika in Universitäten umgewandelt. Dadurch wurden Berufsausbildung und akademische Bildung verschmolzen. In Deutschland wurde hier bislang stärker getrennt, es werden aber nun Versionen der Britisch-Amerikanischen BA- und MA-Strukturen eingeführt. In den USA wurden nach Gründung der älteren Ivy-League Universitäten hauptsächlich neue Universitäten aufgebaut – sogenannte land-grant universities –, welche die landwirtschaftliche und industrielle Bildung förderten und eine weniger deutliche Trennung zwischen Berufs- und akademischer Bildung aufwiesen. Sie bieten heute oft Programme zur Tänzer- und Choreographenausbildung an.5 Diese Einrichtungen sind in der Bildungshierarchie weiter unten platziert, was sich auch darin zeigt, dass in keiner Ivy-League Universität Tanzstudien angeboten werden. In Deutschland wird Tanzwissenschaft mittlerweile in einem hoch akademischen Kontext an mehreren Institutionen gelehrt, allerdings ist diese Disziplin oft im Rahmen von Theater- oder Musikwissenschaft situiert und trat damit quasi durch die Hintertür in den akademischen Bereich ein. Ein wesentlicher Gesichtspunkt dieser Trennung und hierarchischen Wertschätzung ist auch die Geschlechterfrage, da Tanzausbildung und Tanzwissenschaft in den untersuchten Programmen mehrheitlich von Frauen getragen werden. Dies verstärkt die ohnehin vermeintlich weibliche Konnotation des Tanzes und führt damit zu einer weiteren Abstufung in der akademischen Hierarchie. Alle drei untersuchten Programme setzen sich mit diesen Problemen auseinander und haben hierzu unterschiedliche Strategien entwickelt.
ARCHIVIERUNG – T HEATERHOCHSCHULE L EIPZIG In der DDR hatte Kurt Petermann bereits 1977 die Etablierung einer Tanzwissenschaftsausbildung gefordert, die 1986 – zwei Jahre nach dem Tod von Petermann – erst realisiert wurde.6 Seine Vision richtete sich dabei
5
Shannon Jackson: Professing Performance, Cambridge: Cambridge University
6
Kurt Petermann: Aufgaben und Möglichkeiten der Tanzwissenschaft in der
Press 2004, S. 16. DDR, in: Material zum Theater, Nr. 125, 1980, S. 49-65.
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hauptsächlich auf die Archivierung und Erhaltung von Tanz. Petermann, der 1957 das Tanzarchiv in Leipzig als Volkstanzsammlung gründete, definierte die Archivierung von Tanz als konstruktiv und nicht nur reflektierend, was den Wert von Volkstanz für die Schaffung einer eigenen nationalen Identität in den Gründungsjahren der DDR affirmierte. Die 1949 gegründete DDR versuchte, sich als eine sozialistische, jedoch auch als eine ‚deutsche‘, Nation zu definieren. Eine Rückkehr auf die Besinnung von Volkstanzmaterialen aus den Regionen Ostdeutschlands gab dem Sozialismus die erwünschte lokale Komponente. Solche Wertschätzung von Tanz als konstruktivem Bewegungsreservoir für Kollektive können als Weiterführung früherer ethnologischer und Archivierungsprojekte gesehen werden, wie z.B. den Archives Internationales de la Danse und die Forschungen von Marcel Mauss, aber auch Curt Sachs. In diesen Projekten wurde ein „lebendiger Katalog“ von sozial bestimmten Bewegungen erstellt, der zur Erhaltung von kultureller Eigenheit beitragen sollte, aber auch als Material für zukünftige Evaluierung von Gesellschaftsstrukturen stand.7 Die Zugangsweise zur Archivierung in Form von lebendigen und einverleibten Wissen mit seinem Fokus auf nationale Identität beeinflusste zahlreiche Projekte in Europa. Auch das Leipziger Archiv öffnete seine Sammlung für andere Formen des Tanzes, um ein Bild der gesamten sozialistischen Welt, wie sie versuchte sich zu definieren, wider zu spiegeln. Das Archiv dokumentierte bald auch die Arbeit von großen Ballettkompanien, von Laien- und Amateurtanz und von nationalen und internationalen Tanzwettbewerben. Sammlungen von bekannten Tänzern, Choreographen und Tanzhistorikern wie Mary Wigman, Rudolf von Laban, Gret Palucca, und dem kontroversen Tanzkritiker und -wissenschaftler Fritz Böhme sowie dem Volkstanzwissenschaftler Erich Janietz erweiterten die Bestände des Archivs erheblich. Petermann gab zudem Publikation von Archivalien in der Reihe Documenta Choreologica heraus und veröffentliche eine umfassende Tanzbibliographie. Diese Bibliographie erfasste jede einzelne Publikation in deutscher
7
Vgl. Inge Baxmann/Franz Anton Cramer (Hg.): Deutungsräume: Bewegungswissen als kulturelles Archiv, München: Kieser 2005; Marcel Mauss: Techniques of the Body, in: Jonathan Crary/Sanford Kwinter (Hg.): Zone 6: Incorporations, New York: Zone Books 1992, S. 454-477; Curt Sachs: World History of the Dance, New York: Norton 1965, S. 3-6 sowie S. 237-261.
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Sprache zum Tanz seit dem 15. Jahrhundert bis 1963, dem Erscheinungsjahr des Bandes. Die strukturelle Gliederung dieser Tanzbibliographie in 17 Kategorien verrät die allumfassenden Absichten des Projekts und verdeutlich die Bedeutung, die der Erhaltung von Tanzwissen gegeben wurde. Geführt von solch einem Verständnis von Archivierung und seiner Definition des Tanzes als einer oralen Kultur, determinierte Petermann Dokumentationskunde, Tanzgeschichte und Analyse als zentral für eine Vermittlung von Tanz im akademischen Bereich. Spannenderweise stellte Petermann in seinem Diagramm „Tanzwissenschaft“ auch Tanzkritik dar, auch wenn er es außerhalb der zentralen Arbeitsbereiche definierte. Diese bewusste Ausgrenzung der Tanzkritik aus dem Hauptkanon tanzwissenschaftlicher Aufgaben markiert einen deutlichen Unterschied zu den frühen amerikanischen Methoden der Tanzwissenschaft. Diese Sicht etabliert Tanzwissenschaft als strukturell ebenbürtig zu Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaft. Das Hauptproblem der Tanzwissenschaft war für Petermann allerdings die Nicht-Materialität des Tanzes, und seine ganze Aufmerksamkeit verwandte er auf die Konstruktion eines greifbaren Untersuchungsobjekts, das kategorisiert und für die zukünftige Analyse bewahrt werden konnte. Der 1986 in Leipzig eingerichtete Studiengang Tanzwissenschaft entsprach dieser Vision. Petermann hatte drei Möglichkeiten gesehen, ihn institutionell zu verankern und bevorzugte, dass Tanzwissenschaft als eigenständiges Studienfach innerhalb der Choreographieabteilung an der Theaterhochschule Hans Otto in Leipzig angesiedelt werden sollte Nach seiner Auffassung würde das eine ausgeprägte Verbindung von Forschung und Praxis ermöglichen. Petermann erlebte leider die ersten eingeschriebenen Studierenden 1986 nicht mehr, dennoch spiegelte sich sein Verständnis von Tanzwissenschaft im Curriculum des Studiengangs wider. Das Studiencurriculum musste sich allerdings auch mit einer fortwährenden Debatte um den kulturellen Status, Pädagogik und Erhaltung des Ausdruckstanzes in Ostdeutschland auseinandersetzen. Wie Ralf Stabel nachwies, hatte Palucca sich über Jahrzehnte gewehrt ihre Unterrichtsmethode aufzeichnen zu lassen.8 Zum einen favorisierte die DDR Regierung das aus der Sowjetunion stammende Ballet und Volkstänze als wichtige Bausteine in der Darstellung eines sozialistischen Realismus und versuchte,
8
Siehe Eva Winkler/Peter Jarchow: Neuer Künstlerischer Tanz, Dresden 1996, S. 110.
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den Ausdruckstanz als zu individualistisch und formalistisch zu brandmarken und zu marginalisieren. Zum anderen misstraute Palucca bisherigen Dokumentationsmethoden, ihren persönlichen Stil und Improvisation adäquat erfassen zu können, die sie als wesentlich für ihre pädagogischen Prinzipien ansah. Zudem hielt sie keinen Wissenschaftler für qualifiziert genug, ihre pädagogische Methode zu verstehen. Allerdings wurde der Druck auf sie und die Kulturfunktionäre der DDR von Seiten vieler Tänzer und Pädagogen immer stärker, die langsam schwindende Ausdruckstanztradition zu bewahren. Ausgebildete Tanzwissenschaftler sollten nicht nur die dominierende Ballett- und Volkstanztradition aufzeichnen können, sondern auch zur Erhaltung des modernen Tanzes in der DDR beitragen. Der Tanzwissenschaftsstudiengang in Leipzig hatte daher auch modernen Tanz und Improvisation im Lehrplan. Er war der Choreographen- und Pädagogikausbildung angeschlossen und zu Beginn praktisch orientiert. Die Universitätsstruktur in der DDR ließ wenig Freiraum für einen selbstgewählten Studienablauf. Um ein fundamentales Wissen über Tanztechniken aufzubauen, belegten die Tanzwissenschaftsstudierenden am Anfang des Studienganges in Leipzig über den Zeitraum von zwei Jahren zusammen mit den Choreographie- und Pädagogikstudierenden praktische Kurse in Ballet, Zeitgenössischem Tanz, deutschem und ungarischem Folkloretanz, mittelalterlichem Tanz, Improvisation und Jazz Dance. Vervollständigt wurden die Studiokurse durch Kinetographie, Ballettgeschichte, Inszenierungsanalyse, Tanzkritik und ein dramaturgisches Praktikum für den Tanzbereich sowie praktische und theoretische Musikausbildung. Tanz und Musikausbildung wurden stetig begleitet durch Kurse in MarxistischLeninistischer Philosophie. Hinzu kamen verschiedene Kulturwissenschaften, Psychologie und Ästhetikkurse, aber auch erste Kurse in Theaterwissenschaft. Der Lehrplan war auf empirischen Wissensaufbau in Theorie und Praxis konzentriert, um dem angehenden Tanzwissenschaftler die notwendigen Informationen und Methoden für ein Verständnis von Tanz als in sich abgeschlossenes Produkt zu geben. Nur Improvisation und Ästhetik warfen epistemologische Fragen in Verbindung mit Tanz auf und untersuchten Methoden und Methodologien um Tanzen und Choreographieren als Prozeß zu analysieren. Dieser Fokus auf Tanzen und Choreographieren als Prozesse und damit also Tanzpraxis als strukturelles Mittel zu benutzen, verschob sich schließlich mehr und mehr in das Zentrum des Lehrplans.
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Der Wechsel zu westdeutschen akademischen Strukturen nach der Wiedervereinigung Deutschlands brachte eine Freiheit der Lehrveranstaltungswahl und eine stärkere Hinwendung zu Rudolf Münz Positionen zur Theatralität. Er definiert Theatralität als ein Verhältnis zwischen vier verschiedenen Erscheinungsformen von Theater: Theater als Institution, Theater des Alltags, Gegentheater und Nicht-Theater.9 Seine Forderung nach dafür spezifischen Untersuchungsformen, die durch die Struktur der Erscheinung bestimmt sind, definiert die zu betrachtende theatrale Form gleichzeitig als Teil der Untersuchungsmethode und nicht mehr nur als Objekt der Theoretisierung und Historisierung. Angewandt auf die Leipziger Tanzwissenschaft legte dies eine kritische Befragung des existierenden Studienschwerpunktes nahe, in welchem das Kreieren von Tanz als Objekt der Archivierung und Analyse im Mittelpunkt stand. Münz hatte unter anderem Theater als bürgerliche Institution auf seine Funktion in der Erschaffung eines deutschen Nationalbewusstseins hin untersucht. Ähnlich war Archivierung einer nationalen Kultur in der Tanzwissenschaft in Leipzig Teil einer vom Staatsapparat forcierten ideologischen Legitimierung einer spezifischen ostdeutschen Identität. Das Erkennen von Theater und Archivierung als ideologische Staatsinstitutionen ließ mich auch Petermanns tanzwissenschaftlichen Ansatzes überdenken. Daher begab ich mich auf die Suche nach alternativen Modellen der Tanzwissenschaft, eines davon fand ich während meiner Anstellung an der University of Surrey in England.
9
Siehe Rudolf Münz: Theatralität und Theater. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungsprojekt ‚Theatergeschichte‘ in: Wissenschaftliche Beiträge der Theaterhochschule „Hans Otto“, Nr. 1, 1989, S. 5-20. Obwohl Münz seine Untersuchungen als theatergeschichtlich definiert, ist er mehr im Sinne von Foucaults Verständnis von Genealogie an den Zusammenhängen zwischen den Erscheinungsformen von Theater als Prozessen interessiert. Dadurch ist es ihm möglich, Theater als Institutionen und gesellschaftliche Strukturen zu betrachten. Dies überdenkt kritisch traditionelle Theaterhistoriographien.
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T ANZANALYSE – U NIVERSITY
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Eine Untersuchung und Theoretisierung von Methoden der Tanzwissenschaft ist bis heute der Schwerpunkt der Dance Studies an der University of Surrey. Janet Lansdale, welche dem von June Layson gegründeten Programm maßgeblich Form gab, bestand bereits in ihrem Werk The Study of Dance von 1981 darauf, dass jede Tanzform ihre eigene Methodologie verlangt.10 So simpel das scheint, Lansdale definierte damit Dance Studies als eine klar abgegrenzte akademische Disziplin, deren Strukturen und Forschungsmethoden vom Untersuchungsobjekt bestimmt werden. Zudem sah sie die Theorie in einem hierarchisch übergeordneten Verhältnis zur Tanzpraxis: „The person who develops theoretical structures which underlie the process of studying dance has an aim which is broader than ‚how to do a plié‘“.11 Solch eine Aufwertung des theoretischen Aspekts in Bezug auf Tanz und seine Analyse war in Großbritannien notwendig, da der Studiengang Dance Studies nicht wie in Deutschland aus der Theater- oder Musikwissenschaft heraus entstand und damit nicht von vornherein Wissenschaftsstatus innehatte, sondern sich erst von Physical Education, der Sporterziehung, abgrenzen musste. Der Zwang, Dance Studies zu einer gleichberechtigten Disziplin in der britischen akademischen Landschaft aufzubauen, veranlasste Lansdale – wie ich hier nachzeichnen werde – ihren ursprünglichen Fokus, der auf Choreographie, Performance und Appreciation (Ein/Wertschätzung) gerichtet war, ganz auf Appreciation und damit auf die überwiegend theoretisierende Beschreibung, Analyse, Interpretation und Evaluierung von Tanz zu verschieben. Beeinflusst von dieser Definition der Dance Studies wurde im Jahr 1982 ein Ph.D.-Programm (Promotionsstudium) gestartet und jeweils ein Jahr später durch entsprechende MA- und BA-Programme erweitert. Das einflussreiche Ph.D.-Programm ist ein reines Forschungsprogramm Der Master of Arts ist ein einjähriges aufbauendes Studienprogramm theoretischer Natur. Der Bachelor-Studiengang wird als single-honours degree gelehrt. Das bedeutet, dass der Studiengang ausschließlich auf Tanz fokussiert
10 Janet Adshead-Lansdale: The Study of Dance, London: Dance Books 1981. Janet Lansdale publizierte als Janet Adshead, Adshead-Lansdale und Lansdale. Ich benutze Janet Lansdale, da sie zur Zeit diesen Name verwendet. 11 Ebd., S. xiv.
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ist, da er nur in der Dance Studies-Abteilung unterrichtet wird. Dadurch ist das Programm in sich schlüssig und in der Lage – wie von Lansdale in ihren Veröffentlichungen gefordert – verschiedene Tanzformen über ein Spektrum von Tanzteilbereichen hinweg zu untersuchen. Lansdale ist sich vollkommen bewusst, dass in ihrer Vorgehensweise Theorie und Praxis in einem hierarchischen Verhältnis stehen, wobei Theorie durch ihre analytische Funktion Praxis erst ermöglicht. Trotz einer zugleich tiefgründigen und vielseitigen Untersuchung, welche auch eine tanzpraktische Auseinandersetzung einschließt, bleibt bei aller Annäherung Tanz immer Objekt. Das Problem mit solch einer Konstruktion von Tanz als Objekt oder Forschungsgegenstand sind die damit einhergehenden wissenschaftlichen Machtmechanismen, welche vor allem durch den Glauben an eine unhinterfragte Objektivität, scheinbar Übersicht gebende Distanzierung, aber auch grundsätzlich durch die Manipulation des Untersuchungsgegenstandes gekennzeichnet sind. Damit wird also Tanz durch den wissenschaftlichen Diskurs, in Lansdales Verständnis durch Analyse, konstruiert und nicht umgekehrt. The Study of Dance (1981) sowie das in Zusammenarbeit mit June Layson 1983 herausgegebenen Buch Dance History: A Methodology for Study gelten als grundlegende Texte für die Etablierung der Tanzwissenschaft in Großbritannien. The Study of Dance untersuchte Tanz und Tanzwissenschaft im britischen Kontext, indem es die Entwicklung des Feldes in Großbritannien nachzeichnete und zugleich Lansdales wissenschaftliche Fokussierung auf die epistemologischen Fragen des Faches etablierte. Sie definiert eine wissenschaftliche Disziplin darin wie folgt durch: „coherent collection of ideas, objects and/or experiences which justify interest and close examination. […]. […] [t]his examination might be theoretical (in making statements about), practical (in learning how to make, create or perform) and/or evaluative (in learning how to criticise, appraise, make judgements about). A discipline with these features contains notions of standards applicable to understanding theoretical structures and revealed in the ability to apply principles of procedure in practice, and in making judgements within the framework of the activity.“ 12
12 Adshead: The Study of Dance, S.11.
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Diese allgemeine Definition einer wissenschaftlichen Disziplin übertrug Lansdale auf den Tanz, in dem sie die Erforschung von Ideen, Objekten und Erfahrungen in die folgenden Kategorien übersetzte: Das Machen (Choreographie), das Aufführen und die Wert-/Einschätzung (Appreciation) von Tanz.13 Choreographie bedeutete hierbei sowohl die Fähigkeit, Tänze zu erschaffen als auch das Wissen um die grundlegenden Prinzipien von Tanzproduktion. Performance oder die Bewegungs- und Aufführungsqualitäten definierte sie als „skill involved in bringing the dance into existence“ (techniques) und die Befähigung eine gegebene Choreographie zu interpretieren.14 Die Einschätzung wiederum bedeutete eine kritische Untersuchung in Form von Beschreibung, Analyse, Interpretation und Bewertung/Einordnung.15 Lansdale stellte sich die Ausführung dieser Kategorien sowohl im praktischen wie im theoretischen vor. Und sie situierte ihre Forschung im historischen, räumlichen und sozialen Kontext, welche es ihr erlaubten, Tanzwissenschaft als eine eigenständige Disziplin in der britischen Universtitäts-/Bildungslandschaft zu entwickeln. Lansdale betonte dabei immer, dass die Tanzform selbst bestimmen sollte, wie sie untersucht wird.16 Daher müssen die jeweiligen Methoden und theoretischen Grundlagen der tanzwissenschaftlichen Disziplin sich nicht nur mit Fragen des Inhalts der Tänze als eine soziale, rituelle oder künstlerische Form im jeweiligen historischen und lokalen Kontext auseinander setzen, sondern sie müssen auch die Struktur der Tänze in seinen Erscheinungsformen widerspiegeln. Die Bedeutung dieser Position für die tanzwissenschaftliche Ausbildung wird in der Einleitung zu Dance Analysis: Theory and Practice deutlich, wo sie konstatierte, dass „a satisfactory analysis which starts from the dance has yet to be fully worked out.“17 Keine andere Studie hat die Tanzwissenschaft und den theoretischen Fokus in Surrey wie auch in Großbritannien so nachhaltig beeinflusst wie diese 1988 erschienene Publikation. Darin etablierte Landsdale Tanzanalyse als das Herzstück der sich entwickelnden tanzwissenschaftlichen Disziplin. Auch
13 Ebd., S. 78. 14 Ebd., S. 81. 15 Ebd., S. 82. 16 Ebd., S. 108. 17 Janet Adshead (Hg.): Dance Analysis: Theory and Practice, London: Dance Books 1988, S. 13.
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wenn andere wissenschaftliche Bereiche das Studium in England ergänzten und zum Verständnis von Tanz beitragen sollten, wie zum Beispiel Anthropologie, Geschichte, Psychologie oder Soziologie, so forderte Lansdale doch zuerst einen „deep and informed response to the dance itself“.18 Dies beinhalte für sie auch ein Verständnis der Schaffensprozesse des Tanzes und Tanz als eigenständigen Untersuchungsgegenstand ernst zu nehmen. Lansdale begreift dies als ein „refining of the skills of appreciation.“19 Diese Aussage spiegelt den Wandeln in der Konzeption und Vorstellung von Tanzwissenschaft wieder, der sich zwischen diesen beiden Publikationen The Study of Dance und Dance Analysis vollzog, eine Veränderung, die den somit geschaffenen ‚Gegenstand‘ Tanz primär theoretisch analysiert. Während in The Study of Dance Choreographie, Aufführung und Wertschätzung noch gleichberechtigt waren, so verschiebt sich jetzt der Fokus auf die Wert-/Einschätzung als zentrales Element tanzwissenschaftlicher Tätigkeit. Diese Verschiebung ist von Bedeutung, denn sie marginalisiert die praktischen Bereiche und etabliert lediglich die Analyse als „academically viable“.20 Dieses primär theoretische Verständnis von Tanzanalyse wird deutlichen, wenn man sich die von Lansdale etablierten Hauptkriterien, nämlich Beschreibung, Kontextualisierung, Interpretation und Bewertung anschaut. Diese wissenschaftlichen Methoden definieren den Tanzwissenschaftler als einen wissenden, theoretisch geschulten Beobachter, welcher auf Tanz als ein Untersuchungsobjekt schaut. Diese Fähigkeiten sollten dem jeweiligen sozialen Kontext entsprechend sein – etwas das Lansdale in ihren frühen Publikationen immer betonte und sich auch in der Studienstruktur in Surrey widerspiegelte. Somit ist es notwendig, Tanzwissenschaft über den Bereich der westlichen Tanzformen hinaus zu betrachten. Unter der anfangs formulierten Aufgabe, die wissenschaftliche Methode jeweils am Forschungsobjekt auszurichten, ist hier allerdings nicht immer ersichtlich, wie die Struktur nicht-westlicher Tänze sich in einem theoretischen Zugang, der von Appreciation als zentraler Teil der Tanzanalyse bestimmt ist, wiederfindet. In dem Versuch zu definieren, was Forschungsfelder und -disziplinen strukturiert, hat Michel Foucault die Beziehung zwischen dem „Gegen-
18 Ebd., S. 6. 19 Ebd., S. 7. 20 Ebd., S. 6.
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stand“ eines Diskurses und der Struktur des Diskurses untersucht. Er stellt heraus, dass während wir vielleicht dazu tendieren, eine disziplinäre Forschungsausrichtung am Gegenstand der Untersuchung festzumachen, es hingegen vielmehr die diskursive Praxis ist, die ihren Gegenstand nach den Bedürfnissen so definiert und gestaltet, dass er sich dem jeweils anerkannten wissenschaftlichen Diskurs und seinen impliziten Regeln anpasst.21 Eine solche „kolonialisierende“ Tätigkeit könnte dann weniger Interesse an dem Verständnis des Objekts der Untersuchung haben, sondern mehr an der institutionellen Macht, die mit der Etablierung eines Forschungsfeldes einhergeht. Foucaults Untersuchungen zur Grundlage von Wissenschaften scheinen im Kontext der University of Surrey und den größerer Strukturen in Großbritannien erhellend. Aufgrund der stetigen Verringerung der staatlichen Unterstützung, werden britische Universitäten zunehmend wie Unternehmen geführt. Universitäre Strukturen werden vermehrt durch administrative und finanzielle Bedürfnisse vorgegeben, und die Fachbereiche werden wie Produkte und Kunden behandelt. Während meiner fast fünfjährigen Tätigkeit an der University of Surrey wurde die Universität drei Mal umstrukturiert. Finanzielle und nicht wissenschaftliche Motive waren hierfür die Gründe, aus denen der Tanzstudiengang jedes Mal zu einer anderen Verwaltungsstruktur verschoben und jeweils mit anderen Fächern verbunden wurde. In dieser Zeit wurden – es überrascht kaum – mehr neue VerwaltungsmitarbeiterInnen angestellt als neues wissenschaftliches Personal. Die einzelnen Fachbereiche mieten zudem ihre Räume von der University of Surrey, was dazu führt, dass die Tanzabteilung mit ihrem zwangsläufig größeren Raumbedarf – als zum Beispiel die Wirtschaftswissenschaften – zudem mit einem geringen Verhältnis von Studierenden zu Lehrenden zwangsläufig im Vergleich teuer erscheint und damit unter ständigem Rechtfertigungsdruck stehen.22 Solch eine markwirtschaftliche Überformung der Universitäten verändert ihre traditionelle Funktion in England als eine gemeinsame Nationalität formende Institution in einem ehemals kolonial geprägten Gefüge. Um mit den Problemen, die mit dieser Veränderung einhergehen, umzugehen
21 Foucault: The Archeology of Knowledge, S. 46. 22 Außerdem verlagern manche Universitäten das tanztechnischen Training nach außerhalb, indem sie z.B. Kooperationen mit der Royal Academy of Dance eingehen. Dies ist eine typisch unternehmerische Praxis.
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und deren nationale Bedeutung am Leben zu halten (mit seiner Funktion, mündige Bürger unter staatlicher Kontrolle auszubilden), sind klare nationale Richtlinien mit Zielen und Evaluierung der Lehre aufgestellt worden.23 Dieses koloniale Überbleibsel der nationalen Kontrolle der Universitäten als ein Unternehmen (vergleichbar dem der East India Company) steht zur Disposition, denn Großbritannien muss sich zwangsläufig in einer postkolonialen Welt kritischer mit seinem kolonialen Erbe auseinandersetzten und in diesem Zuge auch die Universität als Ort einer spezifischen Schulung seiner nationalen „Subjekte“ überdenken.24 Der zunehmende Fokus auf Analyse als den wesentlichen Aspekt der Tanzwissenschaft kann parallel gelesen werden zu diesen universitären Machtkämpfen. Denn Tanzwissenschaft kann sich nur als eigenständige und bedeutende Disziplin in einem marktwirtschaftlich geführten Universitätsgefüge etablieren, weil und wenn es in der Lage ist, einen eigenständigen Gegenstand und Forschungsmethode nachzuweisen. Auch wenn scheinbar der Gegenstand die Struktur seiner Erforschung bestimmt – wie Lansdale es verlangt –, die vorrangige Methode der Tanzanalyse re-strukturiert hingegen den Gegenstand vor dem Hintergrund einer höheren Wertschätzung theoretischer Reflexion und übt auf diese Weise eine administrative Macht auf den Gegenstand Tanz aus, ohne die darin impliziten kolonial geprägten Taxonomien offen zu legen.25 Allerdings geht es mir nicht darum, Tanzanalyse auf Grundlage dieser kritischen Aspekte abzulehnen,
23 The Quality Assurance Agency (QAA) for Higher Education sieht seine Aufgaben wie folgendermaßen: Es legt die Standards für Abschlüsse mit den Zielen eines Studienganges, ebenso wie die von Studierenden zu erlernenden Fähigkeiten fest. Sie beschreiben, was den Zusammenhalt und das spezifische Profil eines Studienganges ausmachen. Einige dieser standardisierten Vorgaben beziehen sich auch bewusst auf berufsspezifische Anforderungen. Diese Fachbezogenen Richtlinien legen kein genaue national vereinheitlichtes Curriculum fest, sondern erlauben Flexibilität und innovative Programmstrukturen, innerhalb eines übergeordneten konzeptionellen Rahmens. (www.qaa.ac.uk) 24 Paul Gilroy: Between Camps: Nations, Cultures and the Allure of Race, London: Routledge 2004, S.121. 25 Marta Savigliano zeigt deutlich die immer noch existierenden kolonialen Machtgefüge im wissenschaftlichen Diskurs auf. Vgl. Marta Savigliano: Tango and the Political Economy of Passion, Boulder: Westview Press: 1995, S. 224.
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sondern vielmehr sollten wir weiter daran arbeiten, die intrinsisch problematischen Eigenschaften dieser Methode klarer herauszuarbeiten und ihre möglichen hegemonialen Tendenzen weiter theoretisch zu bedenken, um daraus eine Reflexion ihrer Funktion im akademischen Betrieb und in der Gesellschaft zu ermöglichen.26
C HOREOGRAPHIE – U NIVERSITY OF C ALIFORNIA, R IVERSIDE Es ist allerdings diese Differenziertheit in den Strukturen des Tanzens und des verbalen oder schriftlichen Theoretisierens, die die methodischen Untersuchungen an der University of California, Riverside bestimmten. Das 1993 ins Leben gerufene Dance History and Theory Programm musste sich hauptsächlich mit der vom Modernen Tanz dominierten Tanzausbildung an allen Universitäten und Colleges in den USA auseinandersetzen, die eine fast ausschließliche Hinwendung zur praktischen Tanzausbildung und empirischen Historisierung aufweist. Eine Theoretisierung der Dissonanz von Inhalt, Form und Funktion im Modernen Tanz findet in diesen Abteilungen seltener statt und erst die radikale Infragestellung von Choreographie und Tanz durch den sogenannten Postmodern Dance ermöglichte formorientierte Befragungen. Susan Leigh Foster – die maßgeblich die Begründerin des Promotionsstudiengangs (Ph.D.-Programm) in Riverside ist – trug durch ihre Publikation Reading Dancing (1986) zu dieser Reevaluation von Choreographie in der Tanzwissenschaft fundamental bei.27 Beeinflusst von ihrem Tanztraining, eigener choreographischer Praxis, kulturkritischen Methoden und vor allem von Hayden Whites Untersuchungen zu den narrativen (und daher fiktiven) Strukturen des kulturellen und politischen Diskurses (vor allem innerhalb der Geschichtswissenschaft) entwarf Foster vier zeitgenössische
26 Solch eine Arbeit wird vom Department of Dance an der University of Surrey geleistet und zeigt sich im permanenten Überdenken und Umstrukturieren des Studienprogramms. 27 Susan Leigh Foster: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley: University of California Press 1986.
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Hauptkategorien für die Auseinandersetzung mit Choreographie, Technik, Training und dem Tanzen. Ihre analytischen Kategorien erlaubten es, Tanz an unterschiedlichen Punkten seiner Struktur neu zu denken.28 Wirklich jeden Aspekt der Tanzproduktion vom Entstehungsprozess über die Aufführung und die Rezeption(serwartung) betrachtend, bewegte sich Foster um diese einzelnen Bausteine des System Tanz herum, um es von Konventionen und von seinen klassischen Interpretationszuweisungen zu befreien. Diese Vorgehensweise war maßgeblich von strukturalistischen sprachwissenschaftlichen Theorien beeinflusst, die Sprache und Text als zentrale kulturelle Artefakte zur grundlegenden Analyse impliziter gesellschaftlicher Strukturen begriffen und stand damit im Kontext des sogenannten linguistic turn, in dem alle Formen kultureller Produktion als Text analysiert werden können. Das damit einhergehende Verständnis/Konstruktion von Tanz als Text und die bewusste Auswahl von logischen und wissenschaftlichen Kategorien denaturalisierte und de-mystifizierte den gesamten tänzerischen Schaffensprozess. Als eine tanzwissenschaftliche Methode bot es eine klare theoretische Struktur und Definitionen, die Tanzwissenschaft einen gleichberechtigten und vergleichbaren wissenschaftlichen Rahmen zu anderen Disziplinen wie der Theater- oder Literaturwissenschaft gab. Auch wenn Foster eine Leseweise von Tanz als ein Zeichensystem vorstellte, so verlor sie durch ihre weitere konzeptuelle Rahmung niemals die politischen und weiteren kulturellen Potentiale von Tanz aus den Augen. Sie wendete sich zunehmend – beeinflusst von einer poststrukturalistischen Kritik von universalisierenden Tanzanalysen – der kritischen Evaluation von methodischen Arbeitsweisen und Positionen von Tanzwissenschaftlern zu – wie auch einer Tanzgeschichte auf der Grundlage einer genealogischen Vorgehensweise.29 Auf diese Weise konnte Foster den Tanz mit all seinen Elementen in einen Text als eine lesbare Struktur rekonstituieren, aber zugleich auch die Lesepraxis des Forschers als wesentlichen Teil der Wissensproduktion offen legen. Dieser Fokus darauf, wie Wissen sich im Ver-
28 Im Einzelnen untersucht Foster Training, Technik, Probe, Aufführung und Rezeption. 29 Auch wenn sie ähnlich in ihrer strukturalistischen Vorgehensweise sind, so unterscheidet sich Fosters Vorstellung eines ‚Lesens‘ von Tanz aufgrund des Überdenkens epistemologischer Machtstrukturen von Lansdales Tanzanalyse.
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hältnis von Zeichensystemen und kulturellen Bezugssystemen verhält, brachte langfristig eine Verschiebung der Tanzwissenschaft von der Interpretation und Historiographie zu einer tanzwissenschaftlichen Perspektive, die sich fundamental als choreographischen Prozess versteht, mit sich. Diese Veränderung lässt sich auch konkret an der Entwicklung des Ph.D.Programms in Riverside erkennen. Das u.a. von Foster 1991 vorgeschlagene Studienprogramm versprach „a formal and academic base for advanced research in the emerging field of cultural and historical studies of dance.“30 Der Studiengang begriff sich als interdisziplinär, kulturell integrierend und rein theoretisch in seiner Ausrichtung. Damit ließ es andere Diskurse, die bis dahin das Studium von Tanz geprägt hatten, bewusst außen vor. Dazu zählten Kinesiologie, Ethnologie, Ästhetik und Therapie.31 Diese bewusste Auswahl machte deutlich, dass das Studium nicht spätere Choreographen und Tanzpädagogen ausbilden wollte, sondern sich im Kontext einer rein akademischen Disziplin verstand, dessen Fokus auf „research and writing about dance“ lag.32 Ein wesentlicher Aspekt dieser Untersuchungen ist eine Theoretisierung der analytischen Praxis des Tanzwissenschaftlers als Teil der Wissensproduktion und als politischer Akt. Diese neue Deutung der Kreation von Wissen, bezogen auf Zeichensysteme und deren kulturelle Referenzen, verschiebt den Fokus innerhalb der Tanzwissenschaft von der Analyse eines Gegenstandes ‚Tanz‘ hin zum Verständnis von gemeinsamen Strukturen in der Tanz- und Wissensproduktion. Tanz wird dadurch nicht zum Objekt, jedoch ersetzt Sprache auch nicht einfach den choreographischen Akt. Eine Untersuchung der Strukturen von Tanz findet weder vordergründig im Dienste einer Analyse statt, noch geht es um die Bewahrung einer bestimmten Tanztradition. Vielmehr können Zusammenhänge über die Grenzen von Zeichensystemen hinweg choreographiert werden.
30 Susan Leigh Foster: Proposal for a Ph.D. in Dance History and Theory at UCR, University of California internal document, unveröffentlichtes Manuskript 1991, S. 5. 31 Der nur zwei Monate vorher eingereichte Vorschlag für ein Ph.D.-Programm an der University of California, Los Angeles beinhaltete diese Fächer und Tanztechnik als zentrale Bausteine des Curriculums. 32 Foster: Proposal for a Ph.D. in Dance History and Theory at UCR, S. 10.
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Der Studiengang legte einen Schwerpunkt auch auf historische und rekonstruktive Tätigkeit und wies damit Parallelen zu anderen kunsthistorischen Studiengängen auf, die keinen konkreten praktischen Ausbildungsaspekt haben und definierte Tanzwissenschaft in Riverside als ein primär theoretisches Unterfangen. Die Erfahrung mit den Studierenden, die erstmals 1993 mit dem Studium dort begannen, führten jedoch zu einer Veränderung von diesem Fokus auf Analyse, Dokumentation und Rekonstruktion und stellte nun die Konzeptualisierung und Theoretisierung von Tanz – insbesondere auch das Verhältnis von Tanz zu Schrift mit all seinen sozialen Strukturen in den Mittelpunkt.33 Um diese Verschiebung genauer zu verstehen, lohnt es sich den 1996 von Foster herausgegebenen Sammelband Corporealities genauer zu betrachten.34 Alle darin versammelten Essays demonstrieren einen kreativen Umgang im Schreiben mit und über Tanz, vor allem versuchten sie durch die Form ihrer Beschreibung den Inhalt ihrer Untersuchung mit zu kommunizieren. Eine komplexe Choreographie von Machtstrukturen von Bewegung und Verkörperung heraufbeschwörend, visualisierten diese Texte die Bedeutung unterschiedlichster Positionen und Stimmen innerhalb und für die Tanzwissenschaft. So ein belebender Umgang mit Sprache und Texten als eine choreographische Arbeitsweise umgeht das Problem, Tanz lediglich zum Objekt der Untersuchung zu machen bzw. ihn einfach durch Text zu substituieren. Gerade weil die Übersetzung von Tanzen in Schreiben konstruktiv bearbeitet wird, werden die Differenzen beider Strukturen nicht ausgeblendet. Bis dahin war die Übersetzung von Bewegung in Schrift zumeist in Form von Notationen geschehen. Mit dem Fokus der Übersetzung von bewegenden Körpern ins Schreiben, verschoben die Aufsätze in Corpo-
33 Auch wenn das Ph.D. Programm auf dem Papier wie eine Weiterführung des Konzepts des MA in Dance Studies aussah, so beschäftigte es sich faktisch doch mehr mit neuen Methodologien der Tanzwissenschaft. Die vier Kurse: Choreographies of Criticism, History of Dance Reconstruction, Dance Literature Analysis, World Dance History wurden nicht mit einem Schwerpunkt auf Wissensvermittlung unterrichtet. Vielmehr fokussierten sie auf die politischen und theoretischen Implikationen der Tanzpraxis und der Tanzpraxis selbst als eine mögliche Struktur von Theorie. 34 Susan Foster (Hg.): Corporealities, London: Routledge, 1996.
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realities die Aufmerksamkeit von Tanz als Objekt zu Tanz als ein Choreographieren von historischen, sozialen und ästhetischen Beziehungen. Diese Form des Schreibens beschäftigt sich immer noch mit Archivierung und Analyse, allerdings mit einer anderen Strategie für beide Ansätze. Es platziert diese innerhalb der Aktivität des Choreographischen und des Übersetzungsprozesses anstatt im ‚Produkt‘ des Tanzes. In der Entwicklung von Reading Dancing hin zu Corporealities lässt sich also eine Verschiebung von Tanzwissenschaft als einer Untersuchung von Tanz als Zeichensystem hin zur Choreographie von Beziehungsgeflechten beobachten.35 Diese Verschiebung war ein wichtiger theoretischer und politischer Schritt, der es Foster erlaubte, Tanzwissenschaft sicher im akademischen Betrieb zu institutionalisieren. Zudem erhielt die Tanzwissenschaft damit einen Einfluss auf angrenzende wissenschaftliche Disziplinen. Das Dance History and Theory Studienprogramm in Riverside wurde zu einem Zeitpunkt großer struktureller und universitärer Veränderungen in den USA gegründet. Wie Bill Readings in The University in Ruins festhält, war der Einfluss der Kulturwissenschaft innerhalb der anglo-amerikanischen Universitäten und der Fokus auf Kultur nicht länger mit einer nationalen Tradition oder einem Kanon verbunden, sondern etablierte Kultur als einen übergreifenden Begriff ohne einen spezifischen Referenten.36 Darunter versteht Readings, dass der Begriff „Kultur“ – und ich würde hier noch Begriffe wie „Identität“ oder vielleicht auch „Choreographie“ hinzufügen – selbstreferentiell werden und ihr Potential für die kritische Intervention einbüßen. Diese Termini haben natürlich in ihrer übergreifenden Bedeutung einen institutionellen Wert, zum Beispiel im internationalen disziplinären Diskurs oder zur Beantragung von Fördergeldern. Die Einführung dieser Begriffe und die damit verbundene Theoretisierung waren daher ursprünglich sehr brauchbar und wichtig für das Überdenken der einzelnen Disziplinen. Ihre Loslösung von eindeutigen sozialen Bezugspunk-
35 Foster definiert „Choreography“ als Form der Theoriebildung in zahlreichen Publikationen, wie z.B. in Susan Leigh Foster (Hg.): Choreographing History, Bloomington: Indiana University Press 1995, S. 6; Dies. (Hg.): Corporealities, S. xi; dies.: Choreography & Narrative, Bloomington: Indiana University Press 1998, S. xvi. 36 Bill Readings: University in Ruins, Cambridge: Harvard University Press 1996, S. 118.
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ten ist auch nicht auf den Wandel der akademischen Disziplinen zurückzuführen, sondern vielmehr ein Symptom struktureller Ökonomisierung. Readings verbindet das, was er die „dereferentialization“ nennt, mit einem Wandel der Funktion der Hochschulen von nationalitätsstiftenden Institutionen zu transnationalen Unternehmen, denn mit dem Ende des Kalten Krieges verschiebt sich zeitgleich auch der Standort des kapitalistischen Zuwachses vom Nationalstaat auf die globale Bühne. Wenn wir all diese Entwicklungen zusammen denken, wird eine mögliche Verbindung von Globalisierung, der Umwandlung von Universitäten in Unternehmen und spezifischer poststrukturalistischer Forschungstheorien deutlich. Daher scheint es mir für die Disziplin der Tanzwissenschaft wertvoll, auch „Choreographie“ – im Sinne eines zeitgenössischen theoretischen Verfahrens wie dem in Riverside – als scheinbare neutrale Strategie und Ort der Forschung in seiner möglichen Komplizenschaft mit Globalisierungsprozessen in seinen positiven wie negative Auswirkungen zu reflektieren. Eine solche Neueinschätzung von Choreographie scheint mir innerhalb unserer jungen Disziplin, wo konzeptionelle Veränderungen noch größere Auswirkungen haben, eine konstruktive Möglichkeit die Disziplin weiter zu denken. Ich könnte mir hier eine ähnliche Theoretisierung von Choreographie vorstellen, wie jene die Münz für die Theatralität anstrebte. Das würde es möglich machen, die institutionellen Interessen in der Konstruktion von Choreographie (sowie verwandter tanzwissenschaftlicher Konzepte) und ihre möglicherweise hegemonialen Aspekte freizulegen.37
F AZIT Die nationalen Unterschiede sowohl in Bezug auf die Universitäten als auch die mit ihr verbundenen sozialen Strukturen hatten prägenden Einfluss auf die ersten und wegweisenden Modelle der institutionalisierten Tanzwissenschaft im jeweiligen Land. Tanzwissenschaft in Leipzig fungierte im Rahmen eines Interesses, eine neue ost-deutsche Identität mit aufzubauen
37 Unter anderem angeregt durch die Kritik von Lena Hammergren, Martha Savigliano und mir hat Susan Foster nun Choreographie auf ihre politische Funktion hin untersucht. Vgl. Susan L. Foster, Choreographing Empathy: Kinesthesia in Performance. London: Routledge 2011, S. 5.
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und versuchte dies vor allem durch die Archivierung, die wiederum den Fokus auf das Produkt des Tanzes provozierte. In Surrey war man daran interessiert, durch das Schaffen eines eigenständigen Forschungsgegenstandes mit einer diesem Objekt gerecht werdenden Analyse, Tanzwissenschaft als eigenständige Disziplin zu institutionalisieren. Im postkolonialen Staatengefüge Großbritanniens weist Analyse – mit seiner angestrebten Kontrolle über das Objekt Tanzes – ähnliche versteckte imperiale Züge auf. Der Konflikt innerhalb der Universitäten, der durch die zunehmende Umwandlung in Unternehmen entsteht, forcierte diesen Fokus auf Analyse, weil sie die notwendige wissenschaftliche Autorität und kulturelles Kapital mitzubringen scheint.38 Riverside versuchte zunächst ein analytisches System für die Tanzwissenschaft zu etablieren, aber veränderte seine Ausrichtung hin zu Choreographie als eine Strategie, Tanz und Formen tanzwissenschaftlicher Übersetzungsformen zu theoretisieren. Allerdings partizipiert diese scheinbare neutrale Vorstellung von Choreographie zu einem gewissen Grad in einer globalisierenden Hegemonie nordamerikanischen Kapitals. Dabei ist keiner dieser methodischen Konzeptionen von Tanzwissenschaft in sich monolithisch. Vielmehr stehen sie in einem Austausch miteinander, werden Teilaspekte der jeweils anderen Methode, ebenso wie jene anderer Wissenschaft verwendet werden. Ich habe hier lediglich die Unterschiede besonders hervorgehoben, um sie als Modeltypen darzustellen und ihre jeweilige politische Verflechtung mit den nationalen und universitären Bildungsinstitutionen zu verstehen. Ich bin mir im Klaren darüber, dass solch ein internationaler Vergleich selbst Teil einer autoritären und globalisierenden Strategie ist. Aber ich möchte gerne meine privilegierte Position als Wanderer in unterschiedlichen nationalen Systemen nutzen, um die Diskussion über Verbindungen, Zugangsmöglichkeiten, Präferenzen und Auslassungen, die durch unseren disziplinären Diskurs und ihre Strukturen institutionalisiert werden, anzuregen.
38 Vgl. Bourdieu: Homo Academicus, S. 36.
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L ITERATUR Adshead-Lansdale, Janet: The Study of Dance, London: Dance Books 1981. Dies. (Ed.): Dance Analysis: Theory and Practice, London: Dance Books 1988. Baxmann, Inge/Cramer, Franz (Hg): Deutungsräume: Bewegungswissen als kulturelles Archiv, München: Kieser 2005. Bourdieu, Pierre: Homo Academicus, Stanford: Stanford University Press 1988. Foster, Susan Leigh: Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance, Berkeley: University of California Press 1986. Dies. (Hg.): Corporealities, London: Routledge 1996. Dies.: Choreography & Narrative, Bloomington: Indiana University Press 1998. Dies.: Choreographing Empathy: Kinesthesia in Performance, London: Routledge 2011, S. 5. Dies.: Proposal for a Ph.D. in Dance History and Theory at UCR. University of California internal document, unveröffentlichtes Manuskript 1991. Foucault, Michel: Nietzsche, Genealogy, History, in: Paul Rabinow (Hg.): The Foucault Reader, New York: Pantheon Books 1984, 76-100. Ders.: The Archeology of Knowledge, New York: Pantheon 1972. Gilroy, Paul: Between Camps: Nations, Cultures and the Allure of Race, London: Routledge 2004. Jackson, Shannon: Professing Performance, Cambridge: Cambridge University Press 2004. Mauss, Marcel: Techniques of the Body, in: Crary, Jonathan/Kwinter, Sanford (Ed.): Zone 6: Incorporations, New York: Zone Books 1992, S. 454-477. Münz, Rudolf: Theatralität und Theater. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungsprojekt ‚Theatergeschichte‘, in: Wissenschaftliche Beiträge der Theaterhochschule „Hans Otto", 1, 1989, S. 5-20. Münz, Rudolf: Theatralität und Theater: Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 1998. Petermann, Kurt: Aufgaben und Möglichkeiten der Tanzwissenschaft in der DDR, in: Material zum Theater, Nr. 125, 1980, S. 49-65.
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Readings, Bill: University in Ruins, Cambridge: Harvard University Press 1996. Sachs, Curt: World History of the Dance, New York: Norton 1965. Savigliano, Marta: Tango and the Political Economy of Passion, Boulder: Westview Press: 1995. Winkler, Eva/Jarchow, Peter(Hg.): Neuer Künstlerischer Tanz. Dresden 1996.
TanzLiteracy und Bildungsinstitutionen – anhand internationaler Beispiele N ANA E GER
Der Stellenwert und die Notwendigkeit von kultureller Bildung standen in Deutschland vor nicht einmal zehn Jahren noch in der Diskussion.1 Heute besteht – zumindest auf bildungspolitischer Ebene – Einigkeit über die Bedeutung kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche. Künstlerische Angebote sind inzwischen als wichtige und notwendige Bestandteile für nachhaltiges und wirksames Lernen anerkannt. Abseits von rein kognitiver Wissensaneignung kann die aktive Auseinandersetzung mit den Künsten die Sensibilität für unterschiedliche Lebensaspekte erhöhen: Es werden jene Bereiche angesprochen, die uns am Stärksten berühren. Kunst kann gleichermaßen inspirieren wie irritieren, sie kann Denk- und Handlungsräume öffnen, Positionierungen einfordern. Über Kunst können inhaltliche Zusammenhänge und Bezüge zu eigenen Erfahrungswelten aufgedeckt, eigene Bedeutungszuweisungen konstruiert und Entwürfe von Welt erzeugt werden. Der vorliegende Artikel lenkt den Blick auf das Potenzial von Kunst und insbesondere Tanzkunst in Bildungsinstitutionen als notwendigen Beitrag zur individuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Er versucht eine Verortung der zwei ‚Systeme‘ Kunst und Bildung und verweist auf die Relevanz des neu entstehenden Feldes im Dazwischen. Dabei wird
1
Susanne Keuchel: Monitoring and Evaluating Arts Education. The Shift to Focusing on Quality, in: UNESCO today, H. 1, 2010, S. 39-41.
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entlang des Begriffes TanzLiteracy erörtert, wie Bildungsprozesse mit Hilfe von Kunst bzw. Tanz erfolgreich gestaltet werden können und dies dazu beitragen kann, dass kulturelle Bildung als ein eigenständiges Feld wahrgenommen wird. Da Arts Education2 derzeit auch in vielen anderen Ländern Rückenwind erfährt3, wird hier über den ‚Tellerrand‘ geblickt: Vorgestellt werden zwei internationale Beispiele, die aufzeigen, wie sich das LiteracyKonzept in verschiedenen Kontexten gestaltet und im Alltag nutzbar gemacht werden kann, wie Verschränkungen der Felder Kunst und Bildung aussehen können.4
T ANZ
IN
S CHULEN
HAT
K ONJUNKTUR
In dieser gegenwärtigen Diskussion um kulturelle Bildung hat Tanz als Kunstform mit seinen unterschiedlichen Ausprägungsformen einen nicht mehr zu übersehenden Platz eingenommen5; vielerorts wird das (Lern-) Potenzial von Tanz in Bildungseinrichtungen diskutiert. Die zunehmende Popularität zeigt sich u. a. in zahlreichen Kooperationen zwischen Tanzschaffenden und Schulen sowie mit unterschiedlichen Organisationen und Initiativen, die in den letzten Jahren entstanden sind und die das Miteinander der Akteure aus Bildung und Kultur fördern.6
2
Der Begriff Arts Education wird in der internationalen Diskussion sowohl für die schulische als auch außerschulische künstlerische bzw. kulturelle Bildung verwendet. Zum Begriff der kulturellen Bildung siehe auch Max Fuchs: Was ist kulturelle Bildung?, in: Politik und Kultur, H. 6, 2007, S. 10-11.
3
Vgl. Dies berichtet u. a. Max Fuchs von der Second World Conference on Arts Education der UNESCO. Zum internationalen Interesse an Tanz vgl. Susanne Burns/Sue Harrison: Dance Mapping. A Window on Dance 2004-2008, hg Arts Council England 2009, vgl. http://www.artscouncil.org.uk.
4
Dabei handelt es sich an dieser Stelle um einen Werkstattbericht im Rahmen ei-
5
Vgl. Linda Müller/Katharina Schneeweis (Hg.): Tanz in Schulen. Stand und
ner entstehenden Dissertation. Perspektiven; Dokumentation der „Bundesinitiative Tanz in Schulen“, München: Kieser 2006. 6
Vgl. u. a. in NRW nrw landesbüro tanz/tanz in schulen, Take-off: Junger Tanz. Tanzplan Düsseldorf u.v.m.
T ANZ L ITERACY UND B ILDUNGSINSTITUTIONEN | 187
Dabei ist das Feld ‚Tanz in Schulen‘ alles andere als einheitlich. Im Gegenteil: Es besteht große Heterogenität z. B. hinsichtlich der Inhalte, Ziele und Rahmenbedingungen. Auch die Ausprägungsformen und Formate selbst sind verschieden: vom wöchentlichen Tanzunterricht in der regulären Unterrichtszeit über Projektwochen oder freiwillige AGs im Ganztagsbereich bis hin zu Tanz als Medium zur Vermittlung anderer Lerninhalte wie Mathematik. Es unterrichten TanzkünstlerInnen, TanzpädagogInnen oder ChoreographInnen, die prozess- und/oder produktorientiert arbeiten und ihre individuellen Schwerpunkte setzen. Entsprechend variabel und unterschiedlich sind Inhalte und Vermittlungswege. Die derzeitige Praxis und deren Evaluationen zeigen nicht nur die Vielfalt, sondern legen auch dar, wie viel Kompetenz und gute Zusammenarbeit aller Beteiligten für die Qualität und das Gelingen solcher Kooperationen nötig sind.7 Anne Bamford8 etwa benennt einige Faktoren, die für eine qualitativ hochwertige Arts Education erfüllt sein sollten: Dazu zählen Flexibilität, Reflexion, Zugänglichkeit und Forschungsorientierung der Projekte bzw. Programme, die berufliche Fort- und Weiterbildung der Unterrichtenden, ein Bewusstsein über die lokalen Kontexte, Kooperationen mit weiteren Partnern, die Aufführung bzw. Ausstellung der künstlerischen ‚Produkte‘ und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Sind nicht alle Punkte erfüllt, leidet die Qualität, so Bamford.9 Bestrebungen zur Verbesserung der Qualität von Arts Education-Programmen und Projekten stehen daher gegenwärtig im Mittelpunkt der Diskussion.10 Vom Bundesverband Tanz in Schulen sind bspw. Qualitätskriterien hinsichtlich der Kompetenzen von Schüler-
7
Vgl. dazu Norbert Lammert: Kultur in Deutschland. Schlussbericht der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages; 1. Aufl., Regensburg: ConBrio 2008; Susanne Keuchel/Petra Aescht: HOCH HINAUS. Potenzialstudie zu Kinderund Jugendprojekten, hrsg. von PwC-Stiftung/Zentrum für Kulturforschung 2007; Ingo Diedrich: Evaluation der Erprobungsphase des Projektes „MUS-E Modellschule“. Abschlussbericht, hrsg. von Yehudi Menuhin Stiftung Deutschland, Institut für berufliche Bildung und Weiterbildung e.V. Göttingen 2010.
8
Anne Bamford: In Her Own Words – Anne Bamford on Making Arts Education
9
Vgl. ebd.
Meaningful, in: UNESCO today, H.1, 2010, S. 82. 10 Vgl. Susanne Keuchel: Monitoring and Evaluating Arts Education. The Shift to Focusing on Quality, in: UNESCO today, H. 1, 2010, S. 39-41.
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Innen sowie VermittlerInnen entwickelt worden.11 Weiterqualifizierungen von TanzkünstlerInnen und LehrerInnen wurden u. a. von Tanzplan Deutschland vorangetrieben. Neue Formate entstehen, wie etwa das Master-Modul „Tanz in Schulen“ an der deutschen Sporthochschule Köln und der Hochschule für Musik und Tanz Köln.12 Folgende Fragen aus dem Feld Arts Education möchte ich hier näher betrachten: • •
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Wie wird das Feld Arts Education bei den Protagonisten selbst wahrgenommen und wo ‚befindet‘ sich das Feld überhaupt? Wie finden derzeit die Künste Eingang in Schulen, welche Ausprägungsformen können beobachtet werden? In Deutschland und international? Was wird in Bezug auf den Tanz in Bildungseinrichtungen vermittelt und soll gefördert werden? Tanztechnik, Tanzgeschichte, emotionaler Ausdruck oder ein ästhetisches Bewußtsein? Tanz zur Verbesserung der kognitiven Leistungen und übergeordneten Kompetenzen? Inwieweit kann ein TanzLiteracy-Konzept in dieser Diskussion hilfreich sein? Wie gestalten sich Arts Education-Programme in anderen Ländern?
Dazu ein Blick nach Finnland zum Kunstzentrum Annantalo in Helsinki und in die USA zum Lincoln Center Institute in New York City.
D AS ‚3. F ELD ‘:
ZWISCHEN
K ÜNSTEN
UND
S CHULEN
Auch wenn der Aufschwung, der Arts Education in vielen Ländern erfährt, deutlich spürbar ist, so sieht die Realität in den Klassenräumen nicht selten anders aus. In der Praxis fehlt es vielfach an der Akzeptanz dafür, dass kulturelle Bildung und auch von ‚Tanz in Schulen‘ ein eigenständiges Feld ist
11 Vgl. http://heimat.de/home/bv-tanzinschulen/Qualitaet_Kompetenz.pdf. 12 Vgl. das Master-Modul „Tanz in Schulen“ an der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) und der Hochschule für Musik und Tanz Köln (HfMT).
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und nicht etwa als „Luxus“13 oder lediglich als ein Teilbereich „von etwas“14 angesehen wird. Zwar gehen etliche Experten von diesem eigenständigen Feld aus, wie jüngere Publikationen belegen.15 Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit tatsächlich auch der weite Kreis der an Bildung Beteiligten in die aktuelle Diskussion mit einbezogen wird oder ob sich der Diskurs nicht auf ohnehin schon Interessierte bzw. Fachpersonen beschränkt. Eine der Herausforderungen besteht in der ‚Verortung‘ des Feldes Arts Education. Aus eigener Erfahrung als unterrichtende Künstlerin weiß ich, dass viele Fragen insbesondere zu Schnittstellen, übergreifenden Kompetenzen oder dem eigenen Rollenverständnis im Rahmen von kultureller Bildung auftreten: Inwieweit müssen KünstlerInnen, die in Schulen arbeiten, auch PädagogInnen sein? Sollten oder müssen die Künste bzw. Künstler kompromisslos sein, damit sie tatsächlich wirksam sind? Beide Seiten – PädagogInnen bzw. LehrerInnen sowie KünstlerInnen – bringen durchaus eine gewisse Skepsis gegenüber dem jeweils anderen Bereich – den künstlerischen Angeboten bzw. der Institution Schule – mit. Dies verdeutlicht folgende Liste, die im Rahmen eines Fortbildungsseminars für KünstlerInnen und PädagogInnen entstanden ist und einen Einblick in die wechselseitigen Vorbehalte gibt.16 Beide Berufsgruppen wurden gebeten, unzensiert alles aufzuschreiben, was sie über die jeweils andere Berufsgruppe denken. Vorurteile waren dabei durchaus erwünscht: LehrerInnen denken, KünstlerInnen sind: …faul, chaotisch, egozentrisch, arrogant, schmuddelig, verantwortungslos, antiautoritär bzw. sehr autoritär, haben keine Methodik/Didaktik, Leben in den Tag hinein, liegen dem Steuerzahler auf der Tasche, fühlen sich als Nabel der Welt, neidisch auf das Geld der Lehrer, sind intolerant …
13 Vgl. u. a. Valerie Strauss: Willingham: Six practical reasons arts education is more than a luxury, in: The Washington Post, 23.11.2009. 14 In vielen Ländern (z. B. Deutschland, England Sek II., etc.) ist Tanz im Fach Sport integriert. 15 Vgl. bspw. Seidel et al.: „The Qualities of Quality“, Project Zero Harvard Graduate School of Education, Commissioned by The Wallace Foundation (2009). 16 Diese fand im WS 2008 im Rahmen eines Fortbildungstreffens für KünstlerInnen und PädagogInnen bei der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft statt.
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KünstlerInnen denken, LehrerInnen sind: …faul, penibel, ängstlich, nervös, labil, permanent burn-out bedroht, obrigkeitshörig, neidisch auf die Freiheiten der Künstler, arbeiten wenig, verdienen viel, nur schlechte Schüler wollen Lehrer werden, beherrschen den Stoff, können ihn aber nicht vermitteln, jammern auf hohem Niveau, haben die Weisheit mit Löffeln gefressen, sind intolerant… Die Vorbehalte – so übertrieben sie in der Sammlung auch wirken – zeigen sehr klar, dass hier zwei verschiedene ‚Systeme‘ mit all ihren speziellen Eigenheiten aufeinander treffen. Dabei scheinen beide Gruppen mit ihrem Blick auf das jeweils Andere über eher mangelnde Informationen und nur wenige Erfahrungen zu verfügen. Hier trifft der ‚Kunstbetrieb‘ auf den ‚Bildungsbetrieb‘, treffen die Ziele einer institutionalisierten Bildung auf die Ziele einer künstlerischen Praxis und ‚institutionalisierte‘ Lehrer auf ‚freie‘ Künstler und offenbar damit eng verwoben, begegnen sich hier zwei unterschiedliche Wertesysteme. Das ist für beide Seiten nicht einfach, denn, „(w)enn zwei unterschiedliche Systeme zusammen arbeiten, entsteht nicht nur ein Neues, sondern auch starke Veränderungen bei Strukturen und Personal.“17 Damit bei diesen Kooperationen nicht bloß der kleinste gemeinsame Nenner oder ein schlechter Kompromiss heraus kommt, braucht es einen eigenständigen Raum, ein „3. Feld“, wie Winfried Kneip es nennt18. Erst dann können die Potenziale produktiv genutzt werden, kann eine eigene Qualität entstehen. Notwendig dafür sind die gegenseitige Offenheit seitens der Schulen, LehrerInnen und KünstlerInnen, die Akzeptanz der Künste von Arts Education als ein eigenständiger künstlerischer Bereich und insbesondere qualitativ gute Arts Education-Projekte mit qualifizierten Unterrichtenden.
17 Vgl. dazu Max Fuchs: Ganztagsschulen – ein jugend-, kultur- und bildungspolitisches Projekt, 2004, vgl. http://www.akademieremscheid.de/publikationen/ publikationen_fuchs.php (11.006.2011). 18 Vgl. Winfried Kneip: Das Curriculum des Unwägbaren, in: Bielstein, Johannes/Dornberg, Bettina/Kneip, Winfried (Hg.): Curriculum des Unwägbaren. Ästhetische Bildung im Kontext von Schule und Kultur, 1. Aufl. Oberhausen: Athena-Verl. (Pädagogik, 8) 2007, S. 19-27.
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A RTS E DUCATION
IM INTERNATIONALEN
V ERGLEICH
Doch wie genau nun gelingt das Miteinander von Schule bzw. Bildung und Kunst bzw. Tanz? Auf welche Weise können künstlerische Angebote wirksam in den Bildungsalltag eingewoben werden? In einer weltweiten Studie für die UNESCO19 werden folgende Möglichkeiten unterschieden, wie die Künste derzeit international Eingang in Schulen finden: •
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Die erste Form künstlerischer Bildung fasst Bamford unter Education in the Arts zusammen. Damit ist das systematische, fortgesetzte Erlernen von Kenntnissen und Fertigkeiten in den Künsten gemeint, wie z. B. Noten lesen und spielen, das Erlernen von Tanz- oder Improvisationstechniken. Education through the Arts bezeichnet die Bildung durch die Künste. Hiermit wird z.B. visuelles, spielerisches, kreatives Lernen durch Tanz, Theater, Musik, bildende Kunst etc. beschrieben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Erlernen von (Transfer-)Kompetenzen, die auch im Alltag angewendet werden können, wie soziale Kompetenzen oder kritisches Denken. Bamford unterscheidet weiter Education as Art, d. h., dass Bildung sich hierbei einem kulturellen, ästhetischen Verständnis verpflichtet fühlt. Die vierte Unterscheidung bezieht sich auf Art as Education, d. h. dass die Begegnung mit Kunstwerken, das eigene aktive Gestalten, eine künstlerische Umgebung ‚bildet‘. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Kinder und Jugendliche beispielsweise über eine Tanzperformance oder die Teilnahme an einem Theaterprojekt mehr über sich selbst, andere oder ein bestimmtes Thema lernen können als durch einen Vortrag oder das Lesen eines Buches.20
Bei diesen Unterscheidungen, die in der Praxis nicht immer klar voneinander zu trennen sind, stellt sich für Kunstvermittelnde schnell die Frage, welche Form von Arts Education nun zu favorisieren ist:
19 Bamford: The Wow Factor. 20 Vgl. dazu Bamford: In Her Own Words, S. 82.
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Wird Kreativität durch das Erleben von Kunst gefördert? Werden also die Betrachter durch hören, sehen, erleben von Kunstwerken selber kreativ? Oder wird Kreativität nur durch eigenes aktives künstlerisches Schaffen angeregt? Aktuelle Untersuchungen deuten darauf hin, dass „Kinder, die kunstreiche21 Schulen besuchen, [...] den Kindern, die weniger kunstreiche Schulen besuchen, auf allen Bildungsebenen überlegen [sind] und die Wirkung der künstlerischen Bildung [...] sich auch noch Jahre nach dem Schulbesuch im Erwachsenenleben fort[setzt]“.22 Bamfords Studien belegen, dass nicht die Form der künstlerischen Bildung ausschlaggebend, also ein ‚Entweder-Oder‘ in diesem Feld gar nicht vonnöten ist, sondern dass es auf die Qualität der Angebote ankommt.23 Und diese ist u. a. abhängig von den Inhalten, Zielsetzungen, Interessen und dem Kontext, in dem die Projekte bzw. Programme stattfinden. Tatsächlich bereichernd und wirkungsvoll sind die Vielfalt und das Nebeneinander von unterschiedlichen Formen künstlerischer Bildung – als sich ergänzende, nicht hierarchisch bewertete Angebote.
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Für die vielfältigen Kompetenzen, die bei den SchülerInnen durch die verschiedenen Formen der künstlerischen Bildung gefördert werden können, möchte ich gerne einen Begriff verwenden, der insbesondere für Bildungsinstitutionen, auch in Zusammenhang mit einem erweiterten Lernbegriff, interessant ist – und zwar: TanzLiteracy.24 Was kann TanzLiteracy in diesem Zusammenhang bedeuten und warum kann TanzLiteracy für Tanz in Schulen interessant sein?
21 ‚Kunstreich‘ schließt vielfältige Formen der Kunstbegegnung wie z. B. eigenes künstlerisches Gestalten und die Rezeption von Kunstwerken ein. 22 Vgl. Anne Bamford: Arts Education: Why and How. Dokumentation zum Symposium under construction - art as a learning environment, Bonn, Veranstalter: Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft 23.09.1009, online verfügbar unter http://www.montag-stiftungen.com/underconstruction-ueberblick/ (28.08.2010). 23 Bamford: The Wow Factor. 24 Vgl. dazu auch Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik. Lehr- und Studienbuch mit Methodenpool, 3., völlig neu bearb. Aufl., Weinheim: Beltz 2006.
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Der englische Begriff Literacy hat sich in seiner Bedeutungszuweisung immer wieder verändert und wird heute zumeist mit der ‚technischen‘ Fertigkeit übersetzt, lesen und schreiben zu können.25 Im deutschsprachigen Raum bekannt geworden ist er insbesondere durch die umstrittenen PISAVergleichsstudien, in denen die mathematischen, naturwissenschaftlichen und Lese-Fähigkeiten von SchülerInnen in regelmäßigen Abständen erhoben werden. In diesen Studien wird der Begriff jedoch weiter gefasst. Es wurde ein Literacy-Konzept entwickelt, welches von einem erweiterten Lern- und Bildungsverständnis ausgeht: Es geht nicht mehr um die einmalige Vermittlung von Grundfertigkeiten in der Kindheit und um einen festgelegten Kanon an abfragbarem Wissen, sondern um die Entwicklung von Kompetenzen als ein ständig wachsendes Repertoire, welches lebenslang in verschiedenen Kontexten und durch Interaktionen erweitert wird. Dies, so die OECD, soll SchülerInnen dazu befähigen, mit den Anforderungen der heutigen Gesellschaft umgehen zu können und dem stetigen Wandel gewachsen zu sein.26 Entsprechend sind auch Schulen vor veränderte Aufgaben gestellt, wie bspw. der Neurobiologe Gerald Hüther aus seiner Sicht formuliert: „Wichtiger als Wissen – welches jederzeit verfügbar und abrufbar ist, ist die Fähigkeit das vorhandene Wissen nutzbar zu machen, zu beurteilen, zu verstehen, anzuwenden und dadurch wieder [...] Neues hervorzubringen. [...] Es geht darum, neue Herausforderungen anzunehmen und unbekannte Probleme zu lösen – Schule muss daher [...] auf die Bewältigung von Vielfalt und Offenheit vorbereiten.“27
Wenn Tanz in Schulen – in der Annahme, dass ein gemeinsames ‚3. Feld‘ existiert bzw. geschaffen wird – zur Bewältigung dieser Herausforderungen beitragen will, so lohnt sich m. E. die Beschäftigung mit diesem Literacy-
25 Vgl. bspw. Katja Daiss: PONS Wörterbuch für Schule und Studium EnglischDeutsch, Deutsch-Englisch, Studienausg., Barcelona: Klett Sprachen 2005. 26 Informationen über das Literacy Konzept der OECD u. a. http://www.oecd. org/home/0,2987,en_2649_201185_1_1_1_1_1,00.html. 27 Gerald Hüther: Über die Kunst, junge Menschen zum Lernen zu inspirieren. Symposium under construction – art as a learning environment, Bonn, Veranstalter: Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft 24.9.2009, S. 20, http://www. montag-stiftungen.com/underconstruction-ueberblick/ (11.06.2011).
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Konzept. Dies soll nicht geschehen, um messbare ‚Tanz-KunstKompetenzen‘ für ein wie auch immer geartetes „Kultur-PISA“ zu definieren, sondern um eine umfassende Betrachtung der Kunstform Tanz mit ihren besonderen Qualitäten zu ermöglichen und zu erkunden, wie Tanz in Bildungseinrichtungen so etabliert werden kann, dass Kinder und Jugendliche davon bestmöglich profitieren. 28 Der Blick in die Tanzszene der anglo-amerikanischen Länder zeigt, dass Dance Literacy dort als feststehender Begriff existiert und vor allem im Zusammenhang mit der Labanotation verwendet wird. Bezeichnet wird damit die Fähigkeit, Tanznotation entziffern, umsetzen sowie Bewegungen und Choreographien notieren zu können. Daneben wird derzeit über einen erweiterten Dance Literacy-Begriff diskutiert und aus verschiedenen Perspektiven erörtert, welche Kompetenzen dieser Begriff einbinden kann und soll. In dem Curriculum The Blueprint for Teaching and Learning in Dance29, welches für die Vermittlung von Tanz in Schulen in New York City entworfen wurde, umfasst der Begriff Dance Literacy neben der Vermittlung von Tanzvokabular, terminologie und -notation auch die Erfahrungen, die durch Tanz gemacht werden können. Zudem bezieht er sich auf das Kontextwissen (bspw. über unterschiedliche Tanzstile, bedeutende Werke oder TanzkünstlerInnen), das als notwendig angesehen wird, um Tanz analysieren, kritisch betrachten und sich darüber sprachlich versiert austauschen zu können. Innerhalb der Diskussion der National Dance Teacher Organisation (USA) spezifiziert und erweitert zum Beispiel Joan Finkelstein die o. g. Beschreibung, indem sie Tanz mit einer Sprache und somit Dance Literacy mit dem Gebrauch einer (Fremd-)Sprache vergleicht. So stellt sie folgende Kategorien auf:
28 Vgl. Ulrike Hentschel: Ästhetische Bildung im Spiegel empirischer Forschung. Brauchen wir ein Kultur-PISA, aus Kongress „Wozu das Theater“, Hamburg, Veranstalter: Bundesverband Theater in Schulen/Landesinstitut für Lehrerfortbildung Hamburg 2007; Max Fuchs: PISA und die Künste. Fachtagung zur ästhetischen Bildung „Die Nebensache zur Hauptsache machen“, 12.09.2002, online verfügbar unter www.li-hamburg.de/fix/files/doc/Fuchs.doc. 29 http://schools.nyc.gov/offices/teachlearn/arts/canda_dance.html.
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Lesen, Schreiben, Verstehen: Tanz notieren, Tanznotation lesen, die Fähigkeit, über Tanz sprechen und schreiben zu können mit dem dazugehörigen Tanz-Vokabular Umgang mit Grammatik: Gebrauch von Raum, Zeit, Dynamik, Form, Bewegungsmaterial und Verknüpfungen Sprachgebrauch und Literaturkenntnisse: Choreographisches „Handwerkszeug“, Verstehen und Umsetzen von tanzspezifischen Begriffen in Bewegung, Vergleichen und Kontrastieren von Tanz/Bewegungen Kontextwissen: Kenntnisse über Tanzrepertoire, TanzkünstlerInnen, ChoreographInnen und persönliche, soziale, historische Bedeutung der Kunstform.30
Der Vergleich von Dance Literacy mit dem Sprachgebrauch legt nahe, dass es nicht nur um Tanzwissen und -erfahrungen gehen sollte, sondern auch darum, die gelernten Kompetenzen anwenden zu können. TanzLiteracy kann das Erfahren, Wahrnehmen, Kennen, Können, Anwenden und Reflektieren von Tanz beinhalten, ebenso wie wir uns in einer Sprache erst dann sicher und umfassend bewegen, wenn erworbenes Vokabular in unterschiedlichen Kontexten für unterschiedliche Aussagen gezielt und reflektiert genutzt wird. In Anlehnung an das Literacy-Konzept der OECD benennt TanzLiteracy hier u.a. das Hinarbeiten auf das Erreichen persönlicher Ziele, die Weiterentwicklung des eigenen Wissens und Potenziales, das persönliche Engagement für den Tanz, die Teilnahme am und die eigenverantwortliche Mitgestaltung des gesellschaftlich-kulturellen Lebens.31 Mit Blick auf die eingangs geschilderte Problematik zum Verständnis von Arts Education als eigenständiges und gleichberechtigtes Feld der schulischen Bildung geht es mir vor allem darum, TanzLiteracy als ein Konzept anzusehen, welches die Möglichkeit bietet, Tanzvermittlung als einen unabhängigen Bereich mit eigener Geschichte, mit bewährter Praxis und auch mit Literatur wahrzunehmen und anzuerkennen, wie es z. B. Dils
30 Vgl. http://ndeo.org/content.aspx?page_id=2155&club_id=893257&item_id=11 0153. 31 Vgl. http://www.oecd.org/
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formuliert.32 Ein TanzLiteracy-Konzept ermöglicht eine inklusive Sichtweise auf Tanzkunst, auch um es für den Alltag nutzbar zu machen – und das kann das Potenzial sein, welches für Kinder und Jugendliche, für Bildungsinstitutionen und für die Tanzvermittlungspraxis interessant sein kann.33 Die folgenden zwei Beispiele von Arts Education illustrieren dieses Literacy-Konzept auf unterschiedliche Weise.34
B EISPIEL 1: D AS K UNSTZENTRUM ANNANTALO IN H ELSINKI 35 „We would like to plant seeds through experiences in the arts.“ (Johanna Lindstedt, Direktorin des Annantalo Arts Centers) 36
Das Kunstzentrum Annantalo möchte mit seinen Angeboten Kindern und Jugendlichen einen aktiven Zugang zu Kunst und Kultur ermöglichen. Im Laufe seines über 20-jährigen Bestehens wurden dazu vielfältige Formate für die Zusammenarbeit mit Schulen, Kindergärten und außerschulischen kulturellen Bildungseinrichtungen entwickelt. Die Initiativen erstrecken sich von Kunst-Praxis-Kursen für Schulklassen im Grundschulalter über
32 Ann Dils: Moving into dance: Dance appreciation as dance literacy, in: Liora Bresler (Hg.): International Handbook of Research in Arts Education, Dordrecht: Springer 2007, S. 569-580. 33 Ann Dils: Why Dance Literacy, in: Journal of the Canadian Association for Curriculum Studies, 5/2, 2007. 34 Die ausführlichen Ergebnisse über diese Ansätze zur Kunstvermittlung werden im rahmen einer Dissertation erscheinen. 35 Das Datenmaterial von Annantalo Arts Center und vom Lincoln Center Institute wurde durch (1) Interviews, (2) teilnehmende Beobachtung, (3) Literaturrecherche und die (4) Eigendarstellung der Institute generiert. 1 & 2 entstanden während des einwöchigen Aufenthalts bei Annantalos Arts Center in Helsinki 2009 bzw. während der Aufenthalte am Lincoln Center Institute in New York City (2005, 2006, 2008). 36 Dieses Zitat stammt aus einem Interview mit Johanna Lindstedt (Helsinki 2009).
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„Kulturkurse“ für Teenager, Nachmittagsangebote in vielen verschiedenen Kunstsparten, Ausstellungen, Festivals, Workshops, historische Stadtführungen bis hin zu einer Website für LehrerInnen und ErzieherInnen, auf der das gesamte künstlerische Programmangebot für Kinder und Jugendliche im Großraum Helsinki zu finden ist. Mit diesen Angeboten soll Wissen über Kunst, künstlerische Prozesse und Produkte und den Beruf des Künstlers vermittelt werden – und dazu, so die Direktorin Johanna Lindstedt, sollten die Kinder und Jugendlichen mit den bestmöglichen Künstlern und Experten zusammen arbeiten können.37 Für diese Zwecke wurde eine alte Schule in Ateliers, Studios, Theater, Ausstellungsräume, Büroräume und ein Café umgebaut. „Annantalo ist Begegnungsstätte für Menschen, für Gedanken, für die Künste und die Kultur. Ob Kunstschaffen oder Kunsterleben, im Grunde handelt es sich doch darum, Dinge sichtbar zu machen, Erlebtes mit anderen zu teilen und anderen Welten zu begegnen.“ (Kulturbüro der Stadt Helsinki)
Insbesondere hat es sich Annnatalo zum Ziel gesetzt, die Chancengleichheit zu fördern, indem allen SchülerInnen im Großraum Helsinki, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und finanziellen Mitteln, die Möglichkeit eröffnet werden soll, mindestens einmal während ihrer Schulzeit einen Schaffensprozess mit einem professionellem Künstler mitzuerleben und selbst künstlerisch aktiv zu sein. Denn gerade das „Lernen durch aktives Handeln und Erfahren“ soll forciert werden.38 Mit diesen Aktivitäten möchte das Kunstzentrum dazu beitragen, dass Kunst und Kultur einerseits in den Bildungs- und Lebensalltag von jungen Menschen eingebettet wird und andererseits, dass „Kinderkunst“ im kulturellen Leben der Stadt sichtbar wird – z. B. wurden im Museum für zeitgenössische Kunst KIASMA Kunstwerke von Kindern ausgestellt und bei Annantalo finden regelmäßig Ausstellungen von etablierten, wie auch von Nachwuchs-Künstlern mit einem dazugehörigem Begleitprogramm für Schulklassen und Familien statt. Bei der Untersuchung dieses Kunstzentrums stellte sich bald heraus, dass die Arbeit Annantalos nicht isoliert betrachtet werden kann: Annantalo
37 Ebd. 38 Festschrift House of the Arts (1997) zum 10-jährigen Bestehen Annantalos.
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ist eine Abteilung des Kulturbüros der Stadt Helsinki und als öffentliche Einrichtung der künstlerischen Bildung an die finnischen Bildungsstandards gebunden und somit von den Entwicklungen der Bildungs- und Kulturpolitik sowie dem kulturellen Leben der Stadt Helsinki beeinflusst.39 Diese enge inhaltliche Anbindung, wie auch gute finanzielle Ausstattung des Kunstzentrums lässt sich u.a. aus dem breiten Konsens über die hohe Bedeutung von Bildung und die Wertschätzung für Kunst und Kultur quer durch die finnische Gesellschaft erklären. Kunst und Kultur war als identitätsstiftender Faktor in der finnischen Geschichte z. T. äußerst wichtig, um sich als kleines Land zwischen Russland und Schweden behaupten zu können. Der große Stellenwert, den Finnland der Bildung zumisst, lässt sich auch auf den Mangel an eigenen Rohstoffen zurückführen. So setzte die finnische (Bildungs-)Politik schon früh auf „Human Kapital“: Gute Bildungschancen wurden für Alle geschaffen, um den wirtschaftlichen Herausforderungen einer globalisierten Welt gewachsen zu sein. Chancengleichheit soll auch im Bereich der künstlerischen Bildung gewährleistet werden: Es existiert ein Gesetz, das sog. Basic Arts Education Law, welches ein Recht auf künstlerische Grundbildung garantieren soll. Dies bedeutet, dass überall in Finnland, sei es auch noch so dünn besiedelt, künstlerische Aktivitäten angeboten werden, an denen die Kinder und Jugendlichen zu staatlich subventionierten Konditionen teilnehmen können. Diese o. g. Faktoren erklären auch die Bereitstellung der nötigen Ressourcen für die Angebote des Kunstzentrums. Annantalo beschäftigt 14 Festangestellte, stellt 5-6 Praktikumsplätze für Studierende zur Verfügung und arbeitet mit über 50 freiberufliche KünstlerInnen. Hier eine Auswahl der Aktivitäten, die in dem Kunstzentrum bzw. in Kooperation mit den Bildungseinrichtungen stattfinden: •
5x2-Kunst-Praxis-Kurse : Für die 5x2 Kunstkurse kommen Kinder im Grundschulalter mit ihren Schulklassen „5x2“ Schulstunden zusätzlich zum normalen Kunstunterricht in die Studios Annnantalos und arbeiten mit einem professionellen Künstler zusammen, um z. B. ein Theaterstück, einen kurzen Film,
39 Die Auffassung, dass Kunst und Kultur ein wichtiger Baustein im Lebens- und Lernalltag von Kindern sein kann, ist z. B. Grundlage finnischer Bildungspolitik, vgl. www.minedu.fi.
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ein Comic, eine TanzChoreographie etc. zu entwickeln und ggf. auch aufzuführen. Bei den 5x2 Kursen wird produktorientiert gearbeitet und neben den eigenen Erfahrungen, künstlerisches „Handwerkszeug“ erlernt. Es handelt sich also schwerpunktmäßig um Education in the Arts.40 Bei diesem Format geht es darum, viele Kinder zu erreichen und Erfahrungen zu ermöglichen, auf die später aufgebaut werden kann.41 Kulturkurse: Die Erfahrungen aus dem o. g. Format haben gezeigt, dass gerade Jugendliche für das eigene künstlerische Gestalten nicht immer zu begeistern sind, daher wurde für dieses Alter ein anderes Format entwickelt, die sog. „Kulturkurse“, in denen themenbezogen gearbeitet wird. Zu Themen wie Liebe, Freundschaft, Gewalt, Sexualität, Horror etc. werden eigene Aktivitäten im Unterricht mit professionellen Künstlern durchgeführt. Dabei wird Hintergrundwissen beispielsweise in Form eines Vortrags vermittelt, Theaterstücke besucht oder Kunstwerke angeschaut – abhängig vom Interesse der Schulklasse und den Veranstaltungen (Theateraufführungen, Ausstellungen etc.), die in der Stadt zu dem Zeitpunkt stattfinden. Nachmittagskurse: Im Nachmittagsbereich werden Kurse in unterschiedlichen Kunstformen für Kinder und Jugendliche angeboten, ähnlich dem Unterricht an deutschen Jugendkunst- oder Musikschulen.42 Diese werden aus den Mitteln für die Umsetzung des Basic Arts Education Law subventioniert. Kulturelle Koordinatoren: Die lokale, regionale und internationale Vernetzung spielt in Finnland u. a. aufgrund der Geografie, d. h. den großen Entfernungen zwischen den Ortschaften vor allen Dingen im Norden des Landes, eine große Rolle und ist schon seit Langem selbstverständlich. Die lokale Vernetzung findet bspw. in den Schulen durch kulturelle KoordinatorInnen, die das Kulturbüro und Annantalo eingesetzt haben, statt. Diese werden regelmäßig über Veranstaltungen informiert, koordinieren die kulturel-
40 Vgl. Bamford: The Wow Factor. 41 In einem Gespräch mit Johanna Lindstedt in Helsinki (2009). 42 Angeboten werden bspw. Tanz, Theater, Musik, Malerei, Film, Töpfern, Comics zeichnen, Linoleumdruck, textiles Gestalten, etc.
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len Aktivitäten der Schule und sind gleichzeitig Ansprechpartner für andere LehrerInnen in ihrer Schule. Webside Kultus.fi: Darüber hinaus können sich alle interessierten LehrerInnen bzw. ErzieherInnen auf der extra eingerichteten Webseite „kultus.fi“ über kulturelle Angebote, die im Großraum Helsinki stattfinden – geordnet nach Alter, Thema und Kunstsparte – informieren, Tickets kaufen und online die Klasse für Projekte oder Veranstaltungen anmelden. Damit wird zugleich die Infrastruktur institutionell gestützt. Jugendfestivals: Zur internationalen Vernetzung hat Annantalo Jugendfestivals ins Leben gerufen. Insbesondere das Jugendtheaterfestival ist europaweit bekannt und dieser internationale Austausch gibt wiederum Impulse zur Weiterentwicklung Annantalos.
Die genannten Angebote machen deutlich, dass Annantalos Arts Center mit seinen Aktivitäten bestrebt ist, den Zugang zu Kunst und Kultur möglichst vielschichtig und wirksam zu gestalten: Das Zentrum bietet sowohl Education in the Arts als auch Education through the Arts an. Es vernetzt KünstlerInnen, LehrerInnen sowie Institutionen miteinander und möchte durch Festivals eine breite Öffentlichkeit erreichen. Die Vielfalt an Begegnungsmöglichkeiten mit den Künsten schafft nicht nur Wahlmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, um sich für die Künste – aktiv oder rezeptiv – als Bereicherung für ihr eigenes Leben entscheiden zu können, sondern fördert im Sinne des oben beschriebenen Literacy-Konzeptes auch die Kompetenzen der jungen Menschen.
B EISPIEL 2: D AS L INCOLN C ENTER I NSTITUTE IN N EW Y ORK C ITY Ein anderes Beispiel von Arts Education zeigt der Ansatz des Lincoln Center Institutes (LCI) in New York City. Auch hier ist es ein zentrales Anliegen, Kunst für Kinder und Jugendliche zugänglich zu machen und vermehrt in den Bildungsalltag von Kindergärten, Schulen bis hin zu Universitäten zu integrieren. Gibt es im Kunstzentrum Annantalo viele verschiedene Angebote, so wird im Lincoln Center Institute (LCI) das gleiche Modell für
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die jeweiligen Altersstufen und Interessensgruppen jeweils modifiziert. Diese Form von Arts in Education hat sich stetig weiterentwickelt.43 Gegründet wurde das LCI 1975 als Reaktion auf die offensichtliche Benachteiligung von SchülerInnen aus bildungsfernen Schichten, die nur wenig Zugang zu Kunst und Kultur hatten. Um dieser Problematik zu begegnen, wurde die Demokratisierung der Künste gefordert und die Öffnung von Museen und Spielstätten forciert. Man ermöglichte Schulen z.B. den kostenfreien Zugang zu Proben und Veranstaltungen und etablierte ein kunstpädagogisches (Begleit-)Programm. Allerdings stellte sich bald heraus, dass viele Schüler – aber auch Lehrer – wenig Bezug zu den Aufführungen hatten, die sie z. B. im Lincoln Center for the Performing Arts sahen. In einem Brief an das LCI schreibt ein Schüler: „Dear Performers, Thank you for performing at my school on Friday. I liked it a little. Sincerely, John“ 44
Es wurde deutlich, dass wenn die Künste tatsächlich einen wirkungsvollen Beitrag zur eigenen Lebensgestaltung liefern sollten, eine Organisation ausschließlich für Kinder und Jugendliche benötigt wurde, in der sie über und durch die Kunst lernen und forschen können. Um die vorhandenen Resourcen zu nutzen, wurde auf dem Gelände des Lincoln Center for the Performing Arts das LCI gegründet und ein Konzept zur ästhetischen Bildung entwickelt. Dieses wurde im engen Austausch mit der Philosophin Maxine Greene entwickelt, die seit 1976 philosopher in residence am LCI ist. Sie begleitet die stetige Weiterentwicklung des Ansatzes und beschreibt ästhetische Bildung als: „the intentional undertaking designed to nurture appreciative, reflective, cultural, participatory engagements with the arts by enabling learners to notice what there is
43 Vgl. www.lcinstitute.org. 44 Aus einem Gespräch (2008) mit Scott Noppe-Brandon (Geschäftsführer des Lincoln Center Institutes) in New York City.
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to be noticed, and to lend works of art their lives in such way that they can achieve them as variously meaningful.“45
Dabei bezieht sie sich auf den amerikanischen Philosophen John Dewey. Er beschreibt Erfahrung (Experience) u.a. als einen Prozess, in dem das Wahrgenommene wesentlich mehr beinhaltet, als das, was reflektiert oder in Worte gefasst werden kann. Dewey geht davon aus, dass Erfahrungen immer an vorangegangene Erfahrungen anknüpfen.46 Ausgehend von diesem Erfahrungsbegriff wurde ein Ansatz zur ästhetischen Bildung entwickelt, der vielfältige ästhetische Erfahrungen ermöglichen soll, die auch mit anderen Kunstwerken oder im Alltag anknüpfungsfähig sind. Bei der Vermittlungspraxis des LCIs wird anhand einer übergeordneten Fragestellung zu einem einzelnen Kunstwerk ein maßgeschneidertes MiniCurriculum für den Zeitraum von acht Doppelstunden entworfen.47 Dazu werden Aktivitäten für die Schülerschaft entwickelt, die das Kunstwerk aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und verschiedene Sinne ansprechen. Es wird beispielsweise eine Collage erstellt, ein Gedicht geschrieben oder Worte in Bewegung umgesetzt. Beispeilsweise zu einem Konzert, einer Tanzaufführung oder einem Gemälde finden KünstlerIn und LehrerIn gemeinsam die Frage bzw. das Thema, welches zum Kunstwerk, zur Schulklasse und zum Unterrichtsstoff passt: Wie benutzt der Choreograph bspw. Wiederholungen oder Phrasierungen? Wo benutze ich Wiederholungen im Alltag? Was bedeutet Vorderund Hintergrund? Es wird dazu angeregt, über die Inhalte zu reflektieren, zu diskutieren und nachzuforschen: Welche Gründe mag es für die Künstlerin gegeben haben, genau diese Wahl, z. B. die Art der Umsetzung, Farbwahl, Tempo der Bewegung etc. zu treffen? Gibt es eine Verbindung zwischen der getroffenen Wahl des Künstlers und der Reaktion des Betrachters? Oder – etwa an Studierende gerichtet – was ist Ambiguität? Die Schüler bzw. Studenten haben so die Gelegenheit künstlerische Arbeiten auf vielfältige Weise unter Einbezug der eigenen Kreativität zu erleben und neue Erfahrungen zu sammeln. Die Aufführungen bzw. Kunst-
45 Maxine Greene: Variations on a blue guitar. The Lincoln Center Institute lectures on aesthetic education, New York: Teachers College Press 2001, S. 6. 46 Vgl. John Dewey: Art as Experience, New York: Penguin Group 2005. 47 Eigene Beobachtungen bei den Hospitationen am LCI 2005, 2006, 2008.
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werke werden wiederholt angeschaut, jeweils am Anfang und Ende der Unterrichtseinheit, um wahrnehmen zu können, ob bzw. was sich durch das eigene künstlerische Schaffen im Erleben verändert hat. Die Teilnehmenden können so die Erfahrungen integrieren, Zusammenhänge herstellen und dadurch zu einer neuen Sicht auf das Werk und ggf. auch auf ihren Alltag kommen. In der Regel kommen die Künstler des LCI und die Performances (Tanz, Theater und Musik) in die Schulen. Jedes Jahr werden verschiedene Stücke, mindestens je zwei aus den Bereichen Musik, Tanz, Theater vom LCI angeboten oder es stehen zahlreiche Gemälde, Skulpturen, etc. aus den Museen zur Auswahl. Zu den Repertoirestücken des LCI wird Begleitmaterial für Lehrer und die unterrichtenden Künstler bereitgestellt sowie die hauseigene Bibliothek und Mediathek für die eigenen ‚Nachforschungen‘ zur Verfügung gestellt. Das LCI möchte insbesondere die LehrerInnen durch Fortbildungen und Sommerworkshops in dieses Arbeiten mit einbinden, da gerade die schulischen Akteure bei der Implementierung und Vermittlung von den Künsten im (Bildungs-)Alltag eine entscheidende Rolle spielen: „LehrerInnen merken sehr oft, dass die Erfahrungen, die im Prozess gemacht werden, nicht den Erwartungen entsprechen, die sie vorher hatten. Man kann die Erfahrung, die beim künstlerischen Arbeiten gemacht wird, sich nicht durch das Lesen eines Buches aneignen, selbst wenn das Konzept und die methodischen Schritte intellektuell erfasst wurden. Erst wenn sie eigene Erfahrungen gemacht haben, können die Lehrer die Schüler unterstützen.“48
Die Kindergärten, Schulen und Universitäten, die diese LCI-Herangehensweise ihren Schülern oder Studenten ermöglichen möchten, müssen für das Programm etwa 1/3 der Kosten aufbringen, der Rest wird vom LCI übernommen. Das LCI wird, im Gegensatz zu Annantalo, ausschließlich von privaten Geldern finanziert. Zur Zeit arbeiten über 100 KünstlerInnen für das LCI, die in Schulen unterrichten, davon sind sieben Festangestellte, die drei Monate im Jahr bei Weiterzahlung ihrer Gehälter ihre eigenen künstlerischen Projekte/Produktionen verfolgen können.
48 Zitat einer unterrichtenden Künstlerin des Lincoln Center Institutes, online unter www.lcinstitute.org.
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Die Evaluation und Weiterentwicklung dieser ästhetischen Bildung sind für das LCI ein inhärentes Merkmal. Aus den regelmäßigen Evaluationen hat sich ergeben, dass gerade die o. g. Kompetenzen, die hier forciert werden sollen, am besten durch Kontinuität vertieft werden können. Daher wurde 2006/2007 eine eigene Schule, die High School of Arts, Imagination and Inquiry gegründet, die eine kontinuierliche Beschäftigung mit den Künsten ermöglicht. Die o. g. Kompetenzen sollen auch auf andere Fächer wie Mathematik, Geschichte und Sprachen übertragen werden, und es soll eine generell forschende Haltung mit, über und durch die Künste erlernt werden, wie Maxine Greene formuliert: „to continue to question, to learn, to research, to investigate – to never say we are done learning about what we do and the effectiveness of what we do.“49
F AZIT Diese beiden Ansätze machen deutlich, welche Spannweite Arts Education haben kann: • • • • • •
von privat bis öffentlich finanzierten Kunst-Institutionen und -Initiativen, von der Implementierung in den regulären Unterricht als Pflichtveranstaltung bis zur freiwilligen Teilnahme im Nachmittagsbereich, von Institutionen, die an einen Ort gebunden sind bis hin zu „mobilen Vermittlungsinstitutionen“, vom Unterricht in den Künsten bis zur Entwicklung von Transferkompetenzen für den Alltag, von der Prozessorientierung und Betonung der ästhetischen Erfahrung bis zur Produktorientierung von der künstlerischen Freiheit und Unbestimmtheit in der Art der Vermittlung bis hin zur Festlegung der Vermittlungsmethode bzw. Herangehensweise…
ist Vieles möglich, sinnvoll und kann qualitativ hochwertig sein – abhängig von den oben genannten Gelingensbedingungen50, der ‚maßgeschneiderten‘ 49 Vgl. Greene: Variations on a blue guitar. 50 Vgl. Bamford: The Wow Factor.
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Umsetzung der projektspezifischen Ziele und Inhalte sowie vom (politischen) Kontext. Ein Literacy-Konzept, wie in diesem Aufsatz beschrieben, welches das Wissen und die Erfahrung als Grundlage für die Teilnahme und Mitgestaltung am gesellschaftlich-kulturellen Leben ansieht, kann dazu beitragen, Kinder und Jugendliche zu befähigen, den Herausforderungen der heutigen Gesellschaft zu begegnen. Außerdem eröffnet es neue Perspektiven nicht nur für die Lernenden, sondern auch für die Vermittelnden. Tanz in Schulen bietet somit ein interessantes und vielfältiges Erfahrungs-, Experimentier- und Gestaltungsfeld für Kinder und Jugendliche, das mit und durch TanzLiteracy gestaltet und erlebt werden kann sowie ein eigenständiges Arbeitsfeld für TanzkünstlerInnen, -pädagogInnen und ChoreographInnen und ein breites Lernfeld für alle Beteiligten.
L ITERATUR Bamford, Anne: The Wow Factor. Global research compendium on the impact of the arts in education, Münster: Waxmann 2006. Dies.: Arts Education: Why and How. Dokumentation zum Symposium under construction – art as a learning environment, Bonn 23.9.2009, Veranstalter: Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, online unter http://www.montag-stiftungen.com/underconstruction-ueberblick/. Dies.: In her own words. Anne Bamford on Making Arts Education Meaningful, in: UNESCO today, H. 1, 2010, S. 82. Beste, Gisela: Kompetenz statt Bildung? Das PISA-Konzept von Literacy – Aufklärung über Irrtümer und Missverständnisse, Veranstaltung vom 6.5.2007, Evangelische Akademie Arnoldshain. Burns, Susanne/Harrison, Sue: Dance Mapping. A Window on Dance 2004-2008, hrsg. vom Arts Council England 2009, online verfügbar unter http://www.artscouncil.org.uk/our-work/dance-mapping/. Daiss, Katja: PONS Wörterbuch für Schule und Studium Englisch-Deutsch, Deutsch-Englisch, Studienausg., Neubearb. 2005, 1., neu bearb. Aufl., Nachdr. Barcelona: Klett Sprachen 2005. Dewey, John: Art as Experience, New York: Penguin Group 2005.
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Tanz als Möglichkeit ästhetischer Bildung in der Schule M ARTIN S TERN Wenn es […] um Welterschließung geht, dann steht auch die Welt auf dem Spiel und nicht nur ihre Deutungen. Darunter ist der Bildungsbegriff […] nicht zu haben. (Sönke Ahrens)
1
E INLEITUNG Der Beitrag wirft eine bildungstheoretische Perspektive auf Tanz. Konkret fragt er nach den Möglichkeiten ästhetischer Bildung des Zeitgenössischen Tanzes im Rahmen der Institution Schule. Die Institution Schule ist wesentlicher Ort von Bildung, der quer zu den Schultypen alle Heranwachsenden zu erfassen sucht. Den sich daraus ergebenden Kultur, Geschlecht und Milieu übergreifenden Bildungsauftrag gilt es bei der Analyse der Potentiale des Tanzes in den Blick zu nehmen. Dabei kann Tanz allgemein – wie auch Spiel und Sport – nicht per se eine Bildungsrelevanz zugesprochen werden: Der Beitrag nimmt mit dem Zeitgenössischen Tanz eine bildungstheoretisch begründetet Einschränkung vor, deren Auswahl – wie gezeigt werden soll – ästhetisch-reflexiv fundiert ist. Demgegenüber gilt es Tanz-
1
Sönke Ahrens: Experiment und Exploration. Bildung als experimentelle Form der Welterschließung, Bielefeld: transcript 2010, S. 286.
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formen, die einen mimetischen Ausdruck ins Zentrum rücken, kritisch zu reflektieren: Es gilt bspw. zu fragen, inwieweit eine programmatische Arbeit mit Alltagssemantiken ästhetische Spielräume verengen und der Entstehung von Bildungssituationen entgegen stehen können. Darüber hinaus bietet die aktuelle Diskussion um Standardisierung als Folge der Post-Pisa-Bemühungen weitreichende Implikationen: Welche Inhalte und Methoden sind für den Bildungsauftrag der Schule förderlich? Welche Rückwirkungen zeigen Bemühungen um eine Standardisierung von (Bildungs-)Inhalten auf Schulfächer wie Sport respektive Tanz? Welche Bildungsdimensionen lassen sich in Unterrichtsinhalten entfalten, die wie der Tanz in besonderer Weise mit Körper und Bewegungen arbeiten? Die folgenden Überlegungen sind somit auch vor dem Hintergrund bildungspolitischer Tendenzen zu lesen.2 Um den „systematischen Ort“ ästhetischer Bildungsprozesse3 im Tanz in der Institution Schule aufzuzeigen, wird in einem ersten Schritt der Bildungsauftrag der Schule am Doppelauftrag des Schulsports fachspezifisch umrissen und mit einem transformatorischen Bildungsbegriff konkretisiert. Darauf aufbauend gilt es, Körper und Bewegung als Ansatzpunkt, Medium und Akteur von Bildungsprozessen in den Blick zu nehmen und damit die bildungstheoretischen Voraussetzungen einer Bildsamkeit des Körpers im Tanz an einer Unterscheidung zwischen explorativer und experimenteller Selbst- und Welterschließung zu verdeutlichen. Zu klären ist u.a., unter welchen Voraussetzung Körper und Bewegung als bildsame gegenüber (sozial) reproduktiven Dimensionen zu verstehen sind. Vor diesem Hintergrund können dann Möglichkeiten und Grenzen ästhetischer Bildung im Tanz näher bestimmt werden und an choreographischen Strategien der Vermittlung, Erarbeitung und Aufführung von Tanz reflektiert werden. Diesen Überlegungen wird hierzu ein konkretes Beispiel aus der Praxis der Tanzausbildung vorangestellt, auf das abschließend zurückgekommen wird, um die Reflexionen zur ästhetischen Bildung konkreter auf Möglichkeiten des Zeitgenössischen Tanzes zu beziehen.
2
Vgl. hierzu die Beiträge in Elk Franke (Hg.): Erfahrungsbasierte Bildung im Spiegel der Standardisierungsdebatte, Hohengehren: Schneider Verlag 2008.
3
Robert Prohl/Florian Krick: Risiken und Chancen der Einführung von Bildungsstandards für den Sportunterricht, in: ebd.; S. 61-82, hier S. 67.
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G ENERIERUNG VON B EWEGUNGSMATERIAL UND CHOREOGRAPHISCHE S TRATEGIEN – EIN P RAXISBEISPIEL 4 Das Beispiel ist aus dem Kontext einer zeitgenössischen Tanzausbildung gewählt. Zeitgenössischer Tanz ist hier an einer komplexen Bewegungsgenerierung bei seiner gleichzeitigen Analyse interessiert. Tanz ist hier nicht Ausdruck, es wird also nicht mit vorgefassten Semantiken gearbeitet (z.B. wie drücken wir Freude, Trauer, Überraschung körperlich aus; wie stellen wir ein sozial vorgegebenes Etwas körperlich dar?). Vielmehr werden Alltagsbedeutungen und semantische Konstruktionen des Alltags durch die Rekontextualisierung von Bewegungen bewusst hinterfragt und erscheinen damit in bildungstheoretischer Perspektive besonders interessant. Die Ausbildung zum Zeitgenössischen Tanz an der Hochschule für Musik und Tanz Köln bietet hierzu einen idealen Untersuchungsort, der für den schulischen Kontext fruchtbar gemacht werden kann. Das folgende Beispiel ist eingelassen in ein übergreifendes Konzept, das mit dem Begriff „Thinking Body Technique“ 5 bezeichnet wird und eine komplexe Auseinandersetzung mit Körpertechniken und Bewegungsqualitäten in Verbindung mit verschiedenen Vorstellung(-sbildern), Ideen und Modellen von „Ideen-Körper(n)“ beinhaltet.6 Die thematische Orientierung der Unterrichtsstunde, aus der das folgende Beispiel entnommen wird, ist auf die Vermittlung, Erprobung und Reflexion eines aleatorischen Verfahrens zur Generierung von Bewegungsmaterial und choreographische Strategien ihrer Be- und Verarbeitung gerichtet. Die Auswahl entfällt hier auf dieses Beispiel, weil in bildungs-
4
Das angeführte Beispiel stammt aus einer Pilotstudie zu Strategien der Vermittlung zeitgenössischer Tanztechniken bzw. Bewegungsprinzipien, die 2010 an der Hochschule für Musik und Tanz Köln vorgenommen wurde.
5
Ein von Yvonne Hardt eingeführter Begriff für eine Lehrveranstaltungsform, die praktische Tanzanalyse, Tanzvermittlung und die Reflexion von Vermittlungsformen und choreographischen Strategien miteinander verbindet.
6
Zum Begriff „body of ideas“ siehe Susan Leigh Foster: Dancing Bodies, in: Jane Desmond (Hg.): Meaning in Motion. New Cultural Studies of Dance, Durham: Duke University Press 1997, S. 235-258.
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theoretischer Perspektive sowohl das aleatorische Verfahren als auch die Form der Reflexion von besonderem Interesse sind. In einem Tanzstudio (in der Größe einer kleinen Sporthalle) bewegen sich gut zwanzig Tänzerinnen und Tänzer in Zweiergruppen im Raum verteilt. Weder spielt Musik, noch werden andere Materialien genutzt; im Zentrum steht die körperliche Generierung von Bewegung. Die Aufgabe (nach einer ersten explorativen Unterrichtsphase mit Elementen aus der Contact Improvisation) ist zunächst folgende: In den Zweiergruppen sollen sich die Tänzer gegenüber stellen, einen relativ beliebigen Abstand wählen und nach einer vereinbarten Zeit (von einigen Sekunden, manche zählen gemeinsam bis drei) jeweils gleichzeitig eine Bewegung ausführen, bei der sie zuvor für sich blitzschnell bestimmen, mit welchem Körperteil sie einen spezifischen Körperteil des Partners berühren wollen (z.B. Kopf an Knie, Ohr an Handgelenk). Dabei entscheidet sich jeder individuell und ohne Absprache für die Ausführung ‚seiner‘ Bewegung, Vorgaben gibt es keine. Die Resultate sind entsprechend vielfältig und häufig für die Teilnehmer überraschend (es wird viel gelacht): Während beispielsweise die eine Tänzerin nach der Nase der Partnerin greift, hat sich diese dazu entschlossen, ihren Kopf zu den Füßen zu bewegen; eine andere Konstellation zeigt hochgerissene Arme, weil die Tänzerin versucht mit dem Brustkorb die Partnerin zu berühren, während diese mit dem Zeigefinger diese berührt; oder eine weitere Momentaufnahme zeigt einen Tritt mit dem linken Fuß nach vorne gegen den Bauch des Partners, während dieser die rechte Hand zur Begrüßung ausstreckt u.v.m. (Exploration, Reflexion). Die weiterführende Aufgabe besteht nun darin, dass jedes Paar solange der skizzierten Aufgabe nachgeht, bis es fünf für sie interessante Konstellationen gefunden hat. Diese Auswahl aus den zufallsgenerierten Bewegungsbildern soll dann in eine selbst zu wählende Reihenfolge gebracht und wiederholt werden, bis sie memorisiert ist. Jedes Paar, also auch jeder einzeln, soll am Ende ihre Sequenz aus fünf Bewegungsbildern durchtanzen können und vor der Gesamtgruppe präsentieren (Präsentation & Reflexion). Während der Explorationsphase geht die Professorin durch die Halle, beobachtet die einzelnen Gruppen und gibt zweimal eine Rückmeldung für die Gesamtgruppe (Reflexion): Der Fokus liegt darauf, zum einen für die Vielfalt und zum anderen für die mögliche Einfachheit von Bewegungen, Körperteile u.ä. zu sensibilisieren.
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Mit der Präsentation ist zugleich eine Reflexion mit der Gesamtgruppe und weitere Variation verbunden: Die Zuschauenden sind aufgefordert, ihre Eindrücke von den präsentierten Bewegungsbildern zu schildern. Zusätzliche Anregungen zur Reflexion der Wahrnehmung bzw. der gezeigten Konstellationen werden von der Leiterin provoziert, indem sie beispielsweise Modifikationen vornimmt: So bittet sie die Tänzerinnen u.a. den Abstand zueinander oder das Tempo zu variieren (beide oder nur ein Partner führt seine Sequenz schneller, langsamer aus) oder Paarkonstellationen werden neu und beliebig zusammengestellt. Letzteres führt durch die jeweils mitgebrachten Sequenzen wiederum zu völlig neuen Bewegungsbildern, die das Scheitern, zum Beispiel das „Ins-Leere-Fassen“ oder den Konflikt als äußerst spannende Konstellationen aufzeigen. Auch hier wird wiederum mit Variationsvorschlägen gearbeitet, die durch minimale Veränderungen enorme Wirkung für die Rezeption haben. Obwohl das Bewegungsmaterial konstant gehalten wird, entstehen durch die Variationen von Raum, Zeit und der Konstellationen immer wieder neue Eindrücke sowohl für die Performer selbst, als auch für die Zuschauer. Die Reflexionsgespräche sind dabei bewusst kritikfrei gehalten: Die Teilnehmer sind aufgefordert, jenseits von Bewertungen (richtig, falsch, besser, schlechter u.ä.) ihre individuellen Eindrücke, Überraschung, Veränderungen der Wahrnehmung durch die Modifikationen usw. zu schildern. Auffällig an der Arbeit mit den Modifikationen ist zudem, wie sich durch Variationen von Raum und/oder Tempo sowie der Konstellationen scheinbar eindeutige Semantiken von Bewegungen, Gesten und Posen verschieben oder gar gänzlich verändern können. Hier liegt die Bedeutung der Bewegung zum Einen im Auge des Betrachters und wird zum Anderen von Seiten der Tänzer nicht aus ihrer Form oder ihrem intentionellen, subjektiven Ausdruckswunsch generiert, sondern ist das Produkt von tänzerischen, übergeordneten Konstellation. Dieses Beispiel lässt sich an Fragen zum Bildungsauftrag der Institution Schule anbinden. Entsprechend gilt es, den ästhetischen Bildungsbegriff zu präzisieren und in seinen Besonderheiten auf das Feld Tanz zu beziehen und abschließend das skizzierte Praxisbeispiel in bildungstheoretischer Perspektive zu reflektieren.
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B ILDUNGSAUFTRAG
DER
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Die Verortung eines ästhetischen Bildungsanspruchs durch Tanz in der Institution Schule setzt strukturell am „Doppelauftrag des Schulsports“ an: Ausgehend von einer überwiegend fertigkeitsorientierten Vermittlung hat der Sportunterricht eine erzieherische und bildungstheoretische Profilierung erfahren, die aktuell unter einer kritischen Perspektive von Möglichkeiten und Grenzen einer Standardisierung der Inhalte und Zielsetzungen des Sportunterrichts diskutiert wird.7 Mit dem Doppelauftrag werden zwei Zielstellungen der Institution Schule Rechnung getragen, die zum Einen in der Vermittlung fachspezifischer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände bestehen und zum Anderen in der Förderung eines allgemeinen Bildungsanspruchs, der über das Fach hinausweist.8 So können die Vermittlung von Tanzformen, Tanztechniken und choreographischen Strategien im Sinne einer Erziehung zum Tanz verstanden werden: Ein Vermittlungsziel besteht darin, den SchülerInnen (Bewegungs-)Möglichkeiten des Kulturphänomens Tanz zu eröffnen und so eine „Handlungskompetenz“ und ein potentiell lebenslanges Sich-Bewegen in Formen von Tanz zu fördern.9 Die zweite und hier relevante Dimension – Erziehung durch Tanz – zielt hingegen auf die Förderung von allgemeinen Bildungsdimensionen durch Tanz, wie sie von Prohl und Krick als „Fähigkeit zur Selbstbestimmung“, „Mitbestimmungsfähigkeit“ sowie „Solidaritätsfähigkeit“ herausgestellt werden.10 Die Zielstellung ist hier die Förde-
7
Einen guten Überblick gibt die Anthologie von Franke: Erfahrungsbasierte Bildung sowie Florian Krick: Bildungsstandards auch im Sportunterricht? in: sportunterricht 55, H. 2, 2006, S. 36-39.
8
Zur Lehrplanentwicklung siehe den Überblick bei Robert Prohl/Florian Krick: Lehrplan und Lehrplanentwicklung – Programmatische Grundlagen des Schulsports, in: DSJ (Hg.): DSB-SPRINT-Studie. Eine Untersuchung zur Situation des Schulsports in Deutschland, Aachen: Meyer & Meyer 2005, S. 11-44.
9
Vgl. u.a. Dietrich Kurz: Die pädagogische Grundlegung des Schulsports in Nordrhein-Westfalen, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Erziehender Schulsport. Pädagogische Grundlagen der Curriculumrevision in Nordrhein-Westfalen, Bönen: Verlag für Schule und Weiterbildung Kettler 2000, S. 9-55.
10 Prohl/ Krick: Risiken und Chancen von Bildungsstandards, S. 71f.
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rung von Bildungsgehalten (Schlüsselqualifikationen, soziale Kompetenzen), die über das Fach und seine Inhalte hinausweisen. Zu fragen wäre entsprechend danach, welches Bildungspotential in Tanzformen liegt – ist jede Form von Tanz gleichermaßen bildsam (?) – und wie lässt sich dieses Potential im Rahmen der Institution Schule produktiv machen? Bevor ich diese Frage konkreter auf den Tanz beziehe, soll in einem Zwischenschritt der damit verbundene Bildungsanspruch am transformatorischen Bildungsbegriff geschärft werden: Erst vor dem Hintergrund einer Klärung des hier zugrunde gelegten Bildungsbegriffs können die Möglichkeiten und Grenzen auf das ästhetische Erfahrungsfeld Tanz sinnvoll bezogen werden. Dabei wird es im Anschluss an eine Skizzierung des transformatorischen Bildungsbegriffs darum gehen, ästhetische Bildungspotentiale am zentralen Gegenstand von Körper und Bewegung zu klären, der in den fächerübergreifenden Debatten um Bildung in der Erziehungswissenschaft weigehend unberücksichtigt bleibt. Damit legen diese Erörterungen auch eine Grundlage, auf der Fragen nach der Auswahl von Inhalten begründet getroffen werden können.
T RANSFORMATORISCHER B ILDUNGSBEGRIFF Bildung wird hier im Sinne eines transformatorischen Bildungsverständnisses11 als eine „formgebende Instanz“ verstanden, die auf die Selbst- und Weltverhältnisse von Menschen formierend wirkt. 12 Dabei geht Bildung von einer zweifachen Teilung von Welt aus: Erstens teilen wir unsere Welt mit anderen, ja wir ‚besitzen‘ und konstituieren diese unsere Welt nur dadurch, dass wir diese Welt mit anderen gemeinsam haben. In Anlehnung an
11 Vgl. u.a. Hans-Christoph Koller: Bildung als Entstehung neuen Wissens? Zur Genese des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen, in: Hans-Rüdiger Müller/Wassilios Stravoravdis (Hg.): Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft, Wiesbaden: VS 2007, S. 49-66; Hans-Christoph Koller/Winfried Marotzki/Olaf Sanders (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld: transcript 2007; Jenny Lüders: Ambivalente Selbstpraktiken: Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs, Bielefeld: transcript 2007. 12 Ahrens: Experiment und Exploration, S. 287.
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Wittgensteins „Privatsprachenargument“ können wir keine Welt aus uns selbst und losgelöst von sozialen Strukturen, die wir mit anderen teilen, erfahren oder konstituieren: Bildungsprozesse stellen sich somit als individuelle, nicht aber individualistische dar.13 Und zweitens bedeutet Teilung hier, dass der Prozess der Konstitution von Welt minimalistisch ein binärer ist, der in einer fortschreitenden Unterteilung in (Un-)Bekanntes besteht und alle Lern- und Bildungsprozesse begleitet.14 Der Aufbau von Selbst- und Weltverhältnissen vollzieht sich stets an einer so verstandenen Teilung von Welt, genauer an ihren Grenzen. In einem Bildungsprozess geht es „um nichts weniger als um die Art und Weise [geht], wie eine Welt in Hinblick auf ihre Mitteilungsmöglichkeiten geteilt wird“.15 Der systematische Ort von Bildungsprozessen wird hier an den Grenzen festgemacht, die sich erst aus den Teilungen und damit potentiellen Mitteilungen von Welt auftun. Bildungsarbeit kann somit als eine individuelle Arbeit an Zwischenräumen des Un- oder Unterbestimmten verstanden werden. In Abgrenzung zu rein additivem Lernen besteht Bildung darin, dass Dazwischen nicht unter bestehende Wissens- bzw. Wahrnehmungsstrukturen unterzuordnen, sondern hierüber eine Bearbeitung der Wahrnehmungsmuster zu erwirken. Dabei kann eine lohnenswerte Differenzierung des Erziehungswissenschaftlers Sören Ahrens, die zwischen einer Arbeit an inneren und äußeren Grenzen unterscheidet, mit den Begriffen Exploration und Experiment vorgenommen werden.
E XPLORATION
UND
E XPERIMENT
Exploration und Experiment stellen zwei Modi der Welterschließung dar. Dabei bezeichnet Exploration einen Modus, der gleichsam auf die weißen Flecken einer Landkarte gerichtet ist: der unbekannte Raum oder eine neue Tanzform, mit der man noch nicht in Berührung gekommen ist. Das allgemeine (Bildungs-)Ziel der Exploration besteht entsprechend darin, die wei-
13 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 225-580, hier § 67. 14 Ahrens: Experiment und Exploration, S. 286. 15 Ebd.
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ßen Flecken von der Landkarte zu tilgen bzw. sich immer neue Tanzformen, Körpertechniken oder choreographische Prinzipien anzueignen. Demgegenüber setzt das Experiment am gegenüberliegenden Pol an: Nicht das Unerschlossene gilt es zu erforschen, sondern das Erschlossene wird zum Gegenstand der Untersuchung erhoben.16 Warum aber sollte man das bereits Erschlossene untersuchen? Der Ausgangspunkt für eine experimentelle Form der Welterschließung besteht in einer diffusen Ahnung von der Begrenztheit des vermeintlich sicher Geglaubten: Experimentelle Welterschließung ist somit eine Suche nach dem Unbekannten innerhalb der vertrauten Selbst- und Weltverhältnisse. Anders als bei der Exploration, die ausgehend von der Teilung der Welt um das Neue von vornherein weiß (neue Tanzform oder Tanztechnik), ist das Experiment als eine selbsttechnologische Suche nach dem Neuem gleichsam an den Rändern oder Falten des Gewebes bestehender Selbst- und Weltverhältnisse zu verstehen.17 In bildungstheoretischer Perspektive liegt in dieser Unterscheidung ein lohender Ansatz: Transformatorische Bildung ließe sich weniger der Exploration als dem Experiment zuordnen. Exploration setzt die bestehenden Selbst- und Weltverhältnisse als Rahmenbedingungen und stellt diese nicht in Frage; explorative Welterschließung lässt sich somit als eine Form additiven Lernens verstehen: Zu den gegebenen Wissens- oder Könnensstrukturen wird Neues hinzu erworben; das Bestehende wird erweitert oder ergänzt, nicht aber in Frage gestellt. Treffend formuliert diesen Gedanken Peukert in der Unterscheidung zweier „Weisen des Lernens“: „Die eine Art ist ein eher additives Lernen, d.h. im Rahmen eines gegebenen Grundgerüsts von Orientierungen und Verhaltensweisen lernen wir immer mehr Einzelheiten, die aber diese Grundorientierungen und die Weisen unseres Verhaltens und unser Selbstverständnis nicht verändern, sondern eher bestätigen.“
18
16 Vgl. Sönke Ahrens: Experiment und Exploration. 17 Zur Selbsttechnik siehe Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 18. 18 Helmut Peukert: Die Logik transformatorischer Lernprozesse und die Zukunft der Bildung, in: ders./Edmund Ahrens u.a. (Hg.): Geistesgegenwärtig. Zur Zukunft universitärer Bildung, Luzern: Edition Exodus 2003, S. 10.
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Folgt man diesem Gedanken, so verfehlt die Exploration ein grundlegendes Merkmal von Bildungsprozessen: Experimentelle Welterschließung stellt das Vertraute selbst zur Disposition. In den Worten von Peukert: Neben dem additiven Lernen: „gibt es aber auch Erfahrungen, die, wenn wir sie wirklich zulassen, unsere bisherigen Weisen des Umgangs mit der Wirklichkeit und unser Selbstverständnis sprengen, die unsere Verarbeitungskapazität überschreiten. Wollen wir solche Erfahrungen wirklich aufnehmen, so verlangt dies eine Transformation der grundlegenden 19
Strukturen unseres Verhaltens und unseres Selbstverhältnisses.“
Lernprozesse können einerseits als Vermehrung von Wissen auf der Grundlage „fester Lernvoraussetzungen (Schemata, Rahmen, Muster)“ verstanden werden und anderseits als „Lernprozesse, die die zugrundeliegenden Lernvoraussetzungen […] transformieren.“ Unter letzteren ließen sich Bildungsprozesse verstehen, „weil sich in ihnen ein neues Selbst- und Weltverhältnis ausbildet.“20 So bietet im Tanz die experimentelle Auseinandersetzung mit dem Vertrauten unter eingeschränkten Bedingungen und anlässlich einer Konfrontation mit dem Anderen – einer anderen Person, Perspektive, Bewegungsweise usw. – ein unerschöpfliches und zugleich greifbares Potential an Bildungsanlässen. Die experimentelle Suche nach dem Neuen im Vertrauten lässt sich – anders als die Exploration einer neuen Tanztechnik – weder vorhersagen noch erzwingen. Bildungssituationen sind kontingent, d.h. sie sind in ihrer Ereignishaftigkeit möglich aber nicht zwingend notwendig. Daraus folgt eine Paradoxie der Institution Schule, die als „Fremdaufforderung zur Selbsttätigkeit“ Bildungsprozesse inhaltlich und methodisch anzusteuern sucht: „Weder die Qualität von Bewegungserfahrungen noch die Schlüsselqualifikationen allgemeiner Bildung können durch erzieherisches Handeln
19 Ebd. 20 Winfried Marotzki: Aspekte einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, in: Dietrich Hoffmann/Helmut Heid (Hg.): Bilanzierungen erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1991, S. 119-134, hier S. 123.
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direkt bewirkt werden, da diese in der Autonomie des Schülers liegen.“21 Dabei ist die Bildsamkeit des Körpers22 keineswegs aus sich heraus bildungstheoretisch wirksam, vielmehr gilt es, den systematischen Ort ästhetischer Bildungspotentiale an den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Körperlichkeit des Sozialen zu klären. Dabei wird es darauf ankommen, durch geschickte Rahmungen gerade am Performativen der Praxis anzusetzen und so die Kontingenz der Praxis durch Rahmungsbedingungen produktiv und als Schlüssel zu ereignishaften Differenzerfahrungen werden zu lassen.
K ÖRPER , B EWEGUNG
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Eine Perspektive auf Tanz, die Körper und Bewegung als einen Mittler zwischen Ich und Welt versteht, verstellt in bildungstheoretischer Perspektive gerade den Blick für die Bildsamkeit des Körpers selbst: Körper und Bewegung sind im Anschluss an die Arbeiten von Pierre Bourdieu mehr als ein bloßes Medium der Vermittlung, sie sind selbst Instanzen der aktiven Erzeugung von sozialen Ordnungen (Akteur), sie speichern soziale Ordnungen im Sinne einer Inkorporierung sinnhafter Strukturen und Wertungen ab (Speicher) und ebenso fungieren Körper und Bewegung als ein Me-
21 Prohl/Krick: Risiken und Chancen der Einführung von Bildungsstandards, S. 72; siehe hierzu a. die von der Paradoxie abgeleiteten methodischen Prinzipien: Das Prinzip der „‚absichtlichen Unabsichtlichkeit‘ erzieherischer Einflussnahme“, das dem Umstand Rechnung trägt, dass sich Bildungsprozesse nicht planen bzw. produktorientiert ansteuern lassen; das „Prinzip der Einheit von Lehren und Erziehen“, dass einen grundsätzlichen Bedingungszusammenhang zwischen Lernen und Sich-Bilden setzt und damit auch dem Vermittlungsprozess die Aufgaben der Instruktion und Erziehung beimisst sowie das „Prinzip der Gleichrangigkeit von Weg und Ziel des Unterrichts“: Lernen und SichBilden fallen unter diesem Gesichtspunkt ebenso wenig zusammen, wie beide Weisen der Welterschließung sich gegenseitig ausschließen (müssen). (ebd.) 22 Vgl. Dietrich Benner: Bildsamkeit – Leiblichkeit – Sport. Zur Funktion negativer Erfahrungen für ein sportpädagogisches Modell performativer und Distanz vermittelnder Urteils- und Partizipationskompetenzen, in: Franke: Erfahrungsbasierte Bildung im Spiegel der Standardisierungsdebatte, S. 83-98, hier S. 86f.
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dium, das die sozialen Werthaltungen zu zeigen vermag. Aufgrund der relativen Stabilität dieser sozialen Formierung und der Breite der Inkorporierung des Sozialen, die von Bourdieu allgemein als „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ beschrieben wird, stellt die zu Körper gewordene Geschichte des Sozialen einen wesentlichen Ansatz von Bildungsprozessen dar: Insofern die Hysteresis hier eher im Sinne additiven Lernens wirksam ist, stellt ihre Reflexion zugleich einen Ort für Bildungsprozesse dar, der auch eine Arbeit mit und durch Heterogenität in den Blick rückt.23 Das Primat bildungstheoretischer Reflexionen soll hier also auf Körper und Bewegung gelegt werden und nicht auf wie auch immer zu verstehende ent-körperlichte und vorgeblich bewegungsfreie Prozesse des Denkens, Theoretisierens und Reflektierens. Körperlich-praktische Tätigkeiten stellen in diesem Verständnis nicht etwas der Theorie nachgeordnetes dar, sondern vermögen konstitutive Bestandteile innovativer Prozesse zu sein. Denn, Körper und Bewegung stellen ebenso wie Technik (wie Ahrens überzeugend zeigt) wesentliche Instanzen der Begrenzung „unseres Denkens und damit unserer Welt“ dar.24 Betrachtet man die „Körperlichkeit des Sozialen“ in ihrer begrenzenden Wirkung auf unsere Selbst- und Weltverhältnisse25, so bietet dies für bildungstheoretische Überlegungen in zweifacher Weise einen lohnenden Anschluss: In ihrer Begrenzung stehen sie Bildungsprozessen einerseits entgegen, sie richten potentiell neue Erfahrungen auf die bestehenden Strukturen aus (additives Lernen) und verhindern so ein experimentelles Aufscheinen von Neuem. Und anderseits – und darum soll es im Folgenden gehen – bieten gerade diese relativ überdauernden, inkorporierten und mit (Be-)Wertungen und Überzeugungen sozial gesättigten Strukturen einen besonders gut geeigneten Ansatz: Sie sind der Ort ästhetischer Bildungsprozesse. Der Begriff des Ästhetischen wird im Rahmen ästhetischer Bildung nicht als eine Lehre vom Schönen verstanden, sondern im Sinne von Aisthesis gedeutet: Ästhetische Bildung meint „Prozesse und Resultate von reflexiven und performativen Praxen […], die sich aus der Auseinandersetzung mit kunstförmigen und als ästhetisch qualifizierten Gegenständen und
23 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 101. 24 Ahrens: Experiment und Exploration, S. 297. 25 Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 135.
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Formen ergeben.“26 Fragen nach Form und Inhalt fallen in Fragen ästhetischer Bildung in eins: Im Wahrnehmungsprozess ist das, was wir wahrnehmen stets abhängig von der Art und Weise, wie wir wahrnehmen.27 Selbst- und Welterkenntnis können mit anderen Worten zum Gegenstand ästhetischer Bildung werden und sie können dies in dem Moment werden, wo der Prozess der Wahrnehmung (also das Wie und Was und das Zusammenspiel beider) zum Gegenstand von Reflexion wird. Darin zeigt sich auch die grundlegend relationale Auffassung des hier angesetzten Bildungsbegriffs: Bildung wird gerade nicht einseitig als materiale oder formale konzeptualisiert, sondern als dynamisches Bedingungsgefüge wechselseitig aufeinander Einfluss nehmender, interdependenter (Elias) und sich wechselseitig (re-)organisierender und strukturierender Einflussgrößen (Räume, Objekte, Personen, Sinne usw.). Die Betonung der Prozessualität von (ästhetischer) Bildung kann dabei verdeutlichen, dass sich der Bildungsweg nicht an Fragen nach richtig/falsch orientiert oder in vergleichbaren Aussagen mündet. Die Reflexion – als konstitutiver Bestandteil ästhetischer Bildungsprozesse – zielt auf eine Ent-deckung der Spuren, Muster und Gewohnheiten unserer vertrauten Wahrnehmung: medien-induzierte, soziale, geschlechtsspezifische oder kulturelle Formungen von Wahrnehmung, von Zugangsweisen zu Welt und Selbst können zum Gegenstand der Reflexion werden, können interpersonell in ihren Gemeinsamkeiten, Differenzen und Spezifika, in ihren Macharten oder Entstehungskontexten thematisiert und als sozial konturierte Muster offen gelegt werden. Mit dem Erfahren von Differenzen (Heterogenität) und der Reflexion von Sinn- und Bedeutungsdimensionen muss keine Wertung verfolgt werden: Ästhetische Bildung ist auf den Erfahrungsprozess gerichtet und entzieht sich ebenso einer abschließbaren Produktorientierung, wie sie nicht auf eine normative Einrichtung von Selbstoder Welterkenntnissen ausgerichtet ist. Entsprechend ist das Subjekt von Bildung nicht der Lehrende, der den Lernenden adressiert, sondern der Lernende ist Gegenstand und Subjekt von Bildung in eins. In diesem Sinne entzieht sich der Bildungsauftrag der
26 Eckart Liebau/Jörg Zirfas: Die Sinne, die Künste und die Bildung. Ein Vorwort, in: dies. (Hg.): Die Sinne und die Künste. Perspektiven ästhetischer Bildung. Bielefeld: transcript Verlag 2008, S. 7-15; hier S. 11. 27 Vgl. ebd.
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Institution Schule einer Planbarkeit und präzisen Steuerung im Unterricht: Unterricht kann vor allem Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich Bildungssituationen ereignen und Bildungsprozesse vollziehen können. An die Stelle einer traditionellen Lehrerzentrierung rückt hier ein Modus der Generierung von Fragen bzw. Differenzerfahrungen, der mit dem Begriff produktives Scheitern gefasst werden soll.
P RODUKTIVES S CHEITERN Ebenso wenig, wie Bildungsprozesse vorweg genommen werden können, so gelingt die Selbstgestaltung auch nicht allein aus der Person selbst heraus. Bildungsprozesse werden durch ein Moment ausgelöst, das sich per definitionem der präzisen Steuerung entzieht: ein Moment der Irritation oder des Scheiterns. Kurz: Differenzerfahrungen sind ein potentiell produktiver Ausgangspunkt von (ästhetischen) Bildungsprozessen, jedoch für sich noch kein Garant für Bildungssituationen. Ganz im Gegenteil bietet Kontingenz – aufgrund einer Vielfalt der Möglichkeiten – eine Vielzahl an Auswegen und Alternativen, die ein „Scheitern des Scheiterns“ nahelegen: Es ist folgerichtig, wie Ahrens hervorhebt, die Einschränkung der Möglichkeiten, die eine Bildungssituation auszeichnet.28 Erst durch die Limitierung der Optionen können Differenzerfahrungen eine Wirkung entfalten, bei der die individuellen Grundlagen der Strukturierung von Selbst- und Weltverhältnissen nicht anschließen können: sofortige Bewältigung sollte idealiter ebenso ausgesetzt sein, wie Möglichkeiten für Ausflüchte. Absolute Offenheit vermag in rein theoretischer Perspektive alles ermöglichen, vor dem Hintergrund sozialer Strukturierungen (Gewohnheiten, Wertungen) findet jedoch eine vom Einzelnen und meist nicht bewusst vorgenommene Strukturierung von Welt statt, durch die wir immer wieder aufs Neue unsere Welt sinnhaft und als uns Vertraute (mit-)gestalten.29 Der Habitus einer Person kann als ambivalenter „Ort von Bildungserfahrungen“30 und Schlüsselmoment in Bildungssituati-
28 Ahrens: Experiment und Exploration, S. 275 f. 29 Vgl. Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 188ff. 30 Liebau/Zirfas: Die Sinne, die Künste und die Bildung, S. 9.
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onen betrachtet werden: Didaktische Einschränkungen zielen darauf, einen Handlungsrahmen zu bilden, der selbst nicht zum Gegenstand der Reflexion gemacht wird. Vielmehr halten die Einschränkungen „in irgendeiner exteriorisierten Form das zu Bedenkende zusammen und schirmen es gegen alle anderen möglichen Gedanken ab; sie bilden also als Form die Randbedingungen“ einer gerichteten Reflexion, die sich idealiter aus dem Sachzwang der Rahmung ergibt.31
M ERKMALE EINES ÄSTHETISCHEN B ILDUNGSVERSTÄNDNISES Aus den vorangegangenen Überlegungen lassen sich u.a. folgende Merkmale eines ästhetischen Bildungsverständnisses herausstellen: •
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Relationaler Bildungsbegriff: Bildung wird relational gedacht, d.h. Mensch- und Weltverhältnisse ebenso wie Mensch- und Welterkenntnis bedingen sich stets wechselseitig (versus objektive Bildungsinhalte). Bildung vollzieht sich stets in einer aktiven, einer tätigen Auseinandersetzung von Menschen und Welt (versus passiv).32 Im Prozess einer wechselseitigen Formung von Mensch und Welt ist die Person Subjekt und Objekt von Bildung in eins. Somit ist „ästhetische Arbeit“ grundlegend eine aktive „Eigenarbeit des Subjekts“, die sich an und mit den „biographischen Verankerungen ästhetischer Erfahrung“ vollzieht.33 Ästhetische Bildungsprozesse lassen sich nicht von außen planen oder steuern; Bildung allgemein liegt „kein kausales Ursache-Wirkung-
31 Ahrens: Experiment und Exploration, S. 278. 32 Vgl. Ursula Brandstätter: Bildende Kunst und Musik im Dialog. Ästhetische, zeichentheoretische und wahrnehmungspsychologische Überlegungen zu einem kunstspartenübergreifenden Konzept ästhetischer Bildung, Augsburg: Wißner 2004, S. 46; s.a. Monika Roscher (Hg.): Ästhetik und Körperbildung. Hamburg: Czwalina 2008. 33 Gert Selle: Das Ästhetische: Sinntäuschung oder Lebensmittel?, in: ders. (Hg.): Experiment Ästhetischer Bildung. Aktuelle Beispiele für Handeln und Verstehen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 14-37, hier S. 21.
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Prinzip“ zugrunde.34 Über Körper, Sinne und Bewegung ist dem Menschen ein fundamentaler Modus gegeben, in dem sich relationale Selbst- und Weltverhältnisse ereignen. Ästhetische Bildung findet hier einen grundlegenden Anschluss auch und gerade an Alltagsbewegungen, die im „experimentelle(n) Umgang mit neuen Aufgaben“ eingebunden und/oder in „innovative(r) Auseinandersetzung mit dem schon Vertrauten“ ins Zentrum gerückt werden kann.35 Differenz als Bedingung reflexiver Bildung: Die Erfahrung von Differenz – zwischen Subjekt und Objekt, Subjekten, Können und Wollen, Verstehen und (Noch-)Nicht-Verstehen – ist der Ausgangspunkt von Reflexion, Gegenstand des Bildungsprozesses und damit Möglichkeit der Erweiterung, Relativierung oder Veränderung. Offenheit von Bildungsprozessen: Bildung ereignet sich in der tätigen und reflexiven Auseinandersetzung mit dem Unerwarteten, einem Moment der Überraschung bzw. Differenz. Bildungsprozesse sind nicht (primär) auf festgeschriebene Inhalte oder vorgeschriebene Ergebnisse hin ausgerichtet; sie entziehen sich der Planbarkeit und sind als lebenslang bzw. nicht endgültig abgeschlossen angelegt.36 Scheitern des Scheiterns und produktive Einschränkungen: Kontingenz von Handlungssituationen und habituelle Handlungs- und Verhaltensmuster stehen Bildungsanlässen eher entgegen; erst didaktische Einschränkungen von Vielfalt sowie von Möglichkeiten nahtloser habitueller Anschlüsse eröffnen Bildungssituationen.
Der Beitrag von Tanz für Bildungsprozesse liegt somit weniger in der Vermittlung von Tänzen bzw. Bewegungstechniken o.ä., sondern in den Differenzerfahrungen, die durch und innerhalb der Vermittlungsprozesse sich ereignen können.
34 Claudia Meyer: Inszenierung ästhetischer Erfahrungsräume. Ein Beitrag zur Theorie und Praxis in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung, Berlin: WiKu 2003, S. 186. 35 Wolfgang Krieger: Wahrnehmung und ästhetische Erziehung. Zur Neukonzeptionierung ästhetischer Erziehung im Paradigma der Selbstorganisation, Bochum: Projekt 2004, S. 19. 36 Vgl. Brandstätter: Bildende Kunst und Musik im Dialog, S. 46.
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Welchen Beitrag vermag nun Tanz für ästhetische Bildungsprozesse leisten? Tanz bietet in seiner Vielfalt – an Erscheinungs- und Strukturierungsformen, choreographischen und Bewegungs-Prinzipien – ein ästhetisches Bewegungs- und Bildungsangebot: So können Tanzformen und choreographische Arbeit zum Anlass der Reflexion von Selbst- und Weltverhältnissen werden.37 Sie bieten ausgearbeitete und mithin distinkte Muster, Körpertechniken, Bewegungsprinzipien und -qualitäten, die erprobt, erfahren und reflektiert werden können. So können einerseits Tänze selbst nur sehr bedingt zum Gegenstand ästhetischer Bildung werden und anderseits stellt Tanz vor allem ein ideales Medium ästhetischer Bildung dar.38 Der hier vorgeschlagene Zugang zur bildungstheoretischen Relevanz tänzerisch-ästhetischer Bewegungsformen wurde bereits in Auseinandersetzung mit der Bildungsrelevanz von Differenzerfahrungen ausgeführt: Durch tänzerische Bewegungsprozesse ausgelöste Differenzerfahrungen bieten ein Potential, habitualisierte Bewegungsweisen und KörperÖkonomien, geschlechtsspezifische Muster und Zuschreibungen uvm. offen zu legen. In der Irritation – durch Variationen des Tempos, Störung der Ökonomie(n), aleatorische Verfahren der Komposition u.a. – lassen sich inkorporierte Verhaltensweisen und (implizite) Wertungen aufdecken, ausstellen und reflektieren. Das Praxisbeispiel am Anfang des Beitrags zeigt Möglichkeiten Alltagsmotorik ebenso wie tänzerische Bewegungen und choreographische Entwürfe aus ihren (intentionalen) Kontexten zu lösen und durch Variationen (z.B. Tempo, Nähe/Distanz der Tänzer, Sequenzierungen/Rhythmisieren) oder Neukombinationen und Vergleiche bewusst hervorzuheben:
37 Vgl. Antje Klinge: Bildungskonzepte im Tanz, in: Margrit Bischof/Claudia Rosiny (Hg.): Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, Bielefeld: transcript 2010, S. 79-94. 38 Zum „bildungstheoretischen Orientierungsrahmen“ bezogen auf Tanz vgl. auch Jörg Bietz/Brigitte Heusinger: EigenSINN – Tanzen in der ästhetischen Bildung, in: Helga Burkhard/Hanna Walsdorf (Hg.): Tanz vermittelt – Tanz vermitteln. Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung, Leipzig: Henschel Verlag 2010, S. 58-70.
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Implizite oder explizite Wertungen, Intentionen sowie relationale und interdependente Konstruktionen von Bewegungsabsichten bzw. Bewegungsbezügen werden so erfahrbar. Der verändernde Zugriff auf die Aufführungen und Choreographien der SchülerInnen steht dabei weder dem Reflexionsprozess noch einem Erkenntnisbemühen entgegen: Immer und auch dann, wenn wir uns selbst in bildungstheoretischer Absicht zum Gegenstand der Untersuchung machen, stellt Erkenntnis ein Prozess der Konstruktion des Erkenntnisobjektes dar: Der practice turn in den Sozialwissenschaften und hier insbesondere der praxeologische Ansatz Pierre Bourdieus heben gegenüber positivistischmaterialistischen Auffassungen gerade hervor, dass „Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv registriert werden.“39 Ästhetische Bildung zielt, wie herausgestellt, nicht darauf, Neues zu erobern, indem das Neue in das bereits bestehende Wissenssystem integriert wird (additives Lernen), sondern das Neue im (vermeintlich) Vertrautem zu suchen, die bestehende Matrix der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Bewertens experimentell zu befragen. Folgende Reflexionen auf das eingangs gegebene Praxisbeispiel sollen aus den vorangegangenen Erörterungen hervorgehoben werden: (1.) Ein Öffnen habitualisierten Matrix setzt hier grundlegend mit der methodischen Entscheidung an, Aleatorik als Strategie choreographischen Arbeitens einzubeziehen. (2.) Ein wesentlicher Vorteil – insbesondere auch für die Arbeit in der Institution Schule – liegt darin, dass ein Rückgriff auf Alltagsbewegungen möglich ist und somit keine tänzerischen Vorerfahrungen oder Techniken notwendig (wenngleich möglich) sind: Die hier gezeigte, relativ offene Aufgabenstellung holt jeden Einzelnen dort ab, wo er sich aktuell befindet; die Leistungsheterogenität einer Gruppe fällt nicht ins Gewicht. (3.) Durch das aleatorische Verfahren entstehen nicht geplante Bewegungsbilder, die sich einer eindeutigen und bewusst geplanten Semantik entziehen: Intentionen werden systematisch unterlaufen; Irritationen bzw. Differenzerfahrungen, die wesentlich als Ausgangspunkt für Bildungssitua-
39 Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 97; vgl. Theodore Schatzki/Karin Knorr-Cetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York: Routledge 2001.
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tionen gelten, resultieren aus dem Sachzwang der Einschränkungen – ein bildungstheoretisch zentraler Vorteil aleatorischer Strategien. (4.) Die Zufallskomponente entlastet von einer Bewertung des Einzelnen. Die Aufgabe ist nicht frei von Prozessen der Bewertung, bewertet werden jedoch die Konstellationen bzw. Bewegungsbilder auf ihre Wirkung hin (gefällt sie uns oder nicht). (5.) Die Generierung von neuem Bewegungsmaterial ist aufgrund der Konstellationen zweier (oder theoretisch auch mehr) Tanzpartner enorm vielfältig. Mit jeder neuen Konstellation eröffnen sich die TeilnehmerInnen auch neue Erfahrungen und Reflexionsanlässe. (6.) Die stete Brechung der vorab gefassten Bewegungsintentionen (des Einzelnen) durch die außergewöhnlichen Konstellationen legt die (bewussten wie unbewussten) Intentionen von Handlungs- und Verhaltensmustern offen: Dabei wird die Aufmerksamkeit der Tänzer auf und über semantisch eindeutige und/oder harmonische Bewegungsbilder hinaus zu widersprüchlichen, vieldeutigen oder (scheinbar) beziehungslosen Figurationen gelenkt. (7.) Die Unterrichtskonzeption weist eine Kombination aus explorativen und Aufführungsphasen auf, die jeweils durch individuelle oder kollektive Reflexionsimpulse durchzogen sind. Dabei verdeutlichen die Rückmeldungen und Variationen, dass hier nicht ausschließlich die Präsentation einer fertigen Choreographie – im Sinne einer Produktorientierung – im Vordergrund steht: Die Präsentation bildet einen Anlass und einen Ausgangspunkt für (Selbst-)Reflexionen und eine Ent-deckung der Spuren unserer Wahrnehmungsmuster. Variationen eröffnen ein Spiel der Möglichkeiten, das durch den Prozess des Choreographierens erfahren wird. Die für Bildungsanlässe notwendigen Irritationen bzw. Differenzerfahrungen sind für die Zuschauer und/oder Performer unmittelbar körperlich rückgebunden. (8.) Eine so verstandene Prozessorientierung schließt Aufführungssituationen gerade nicht aus: Die am Praxisbeispiel gezeigte Dynamik aus Aufführung-Reflexion-Modifikation verdeutlicht die (in bildungstheoretischer Perspektive) methodisch-didaktischen Vorteile eines Aufführungsverständnisses gegenüber einer Darstellungskultur, die primär mit Vorstellungen von Repräsentation arbeitet: Bereits das aleatorische Verfahren bricht gerade mit intentionalen und eindeutigen Semantiken, was nicht zuletzt auch Anlass für viel Gelächter war. Diese Lösung von semantischer Eindeutigkeit lenkt die Aufmerksamkeit einerseits auf die Konstruktion unserer Wahrnehmungsmuster – mithin Unbehagen, Suche nach Bedeutung u.a. –,
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und öffnet den TeilnehmerInnen anderseits experimentelle Freiräume, die gerade nicht vorschnell über einen Code von richtig-falsch verengt werden. (9.) Dabei bilden mehrfache Reflexionsschleifen einen integralen Bestandteil der primär experimentellen Unterrichtskonzeption. Reflexion ist hier nicht als abschließende Phase konzipiert, die eine (be-)wertende Gesamt-/Rückschau vornimmt, sondern der Arbeit am Material, am Schaffensprozess und den choreographischen Möglichkeiten. (10.) Die Konfrontation mit sich selbst – im Sinne einer Arbeit am Selbst – wird hier nicht direkt angesteuert, sondern ergibt sich aus der Aleatorik heraus und damit in einem quasi ‚geschützen Modus‘. (11.) Im Sinne einer Binnendifferenzierung sind mit einer Vielzahl an Modifikationen – der Geschwindigkeit, Nähe/Anzahl/Wechsel der Partner, Präzision der Bewegungen, Phasenverschiebungen – jederzeit Steigerungsmöglichkeiten gegeben.
Z USAMMENFASSUNG Insbesondere der Zeitgenössische Tanz bietet vielfältige Möglichkeiten, über die Vermittlung von Bewegungsprinzipien oder von choreographischen Strategien Rahmungsbedingungen für Bewegungskontexte zu schaffen, die zwar als normativ betrachtet werden können, die zugleich aber nicht auf der Ebene konkreter Bewegungsweisen oder gar komplexer Sequenzen oder relationaler Bewegungsfiguren vorab festgelegt sein müssen. Contact Improvisation und aleatorische Verfahren sind Beispiele für Tanzformen und choreographische Prinzipien, die verdeutlichen, wie sich gerade durch den Verzicht auf Standardisierung ein Spektrum an kontingenten Prozessen der Ordnungsbildung eröffnet. In beiden Fällen – das eine Mal das zufallsgeleitete Prinzip, das andere die relative Offenheit von Bewegungsprinzipien – wird ein Spielraum der Bewegungsgestaltung akzentuiert, der zugleich nicht belieb ist: Prinzipien sind Formen der Einschränkung, die ein spielerisches Experimentieren mit den Möglichkeiten nicht trotz, sondern durch ihre einschränkenden Wirkungen motivieren und Differenzerfahrungen als Folge eines Sachzwanges provozieren. Die Vermittlung spezifischer Inhalte einer Tanzform oder die Vermittlung choreographischer Verfahren schließt keinesfalls Bildungsanlässe aus. Aber: Ob diese Vermittlungen allein auf ein Produkt hin orientiert sind und
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sich dieses Produkt beispielsweise an idealen Körper- und Bewegungstechniken objektivieren lässt, ist auch eine Frage nach der didaktischmethodischen Ausrichtung des Unterrichts und damit seiner Zielstellung(en). Mit dem Wechsel des Fokus von der Produkt- zu einer Prozessorientierung (oder einer Kombination) – wie im Praxisbeispiel – lassen sich innerhalb der Vermittlung von Tanztechniken, -prinzipien und choreographischen Strategien sowie deren Aufführungen Bildungsanlässe implementieren. Eine Förderung von Bildung verstanden als eine reflexive Arbeit an den Selbst- und Weltverhältnissen der Beteiligten, ihrer Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit, ihren Wahrnehmungsmustern und impliziten (Be-)Wertungen hängt maßgeblich von dem Wie der Auseinandersetzung mit dem Material und den Möglichkeiten und Freiräumen reflexiver Gestaltung-Aufführung-Gestaltungs-Sequenzen ab. Kurz: Lern- und Bildungsprozesse stehen im Sinne von Exploration und Experiment einander nicht ausschließend gegenüber. Vielmehr entscheidet erst die Antwort auf die Frage danach, wie mit dem neu Explorierten verfahren wird – ob es in die bestehenden Muster der Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmatrix eingeordnet wird (additives Lernen) oder zum Anlass und Gegenstand der Reflexion des Bestehenden genutzt wird – darüber, ob Bildungsanlässe angestrebt werden und beide Dimensionen des Doppelauftrags zum Tragen kommen können. Bildungssituationen lassen sich vor dem Hintergrund der Kontingenz des Alltags und dem damit gegebenen Potential eines Scheiterns des Scheiterns erst durch die Einschränkung der (Handlungs-)Möglichkeiten begünstigen. Ansatzpunkt ästhetischer Bildungsprozesse muss daher gerade die Instanz sein, die eine bildsame Reflexivität der inkorporierten Selbst- und Weltverhältnisse zu verhindern weiß: Das Subjekt von Bildung wird mit anderen Worten erst dadurch zu einem potentiell bildsamen Subjekt, dass es sich in einem „Spannungsverhältnis zwischen individuellen Dispositionen und gesellschaftlichen Anforderungen“ bewegt.40 Dabei kommt dem Tanz mit seinen prinzipiengeleiteten Einschränkungen die Funktion zu,
40 Franz Bockrath: „Ursprünglichkeit und ungebrochene Natürlichkeit“ – Über reformierte Leiber und gelehrige Körper in der Bewegungsdidaktik, in: Jörg Bietz/Ralf Laging/Monika Roscher (Hg.): Bildungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik, Hohengehren: Baltmannsweiler 2005, S. 24-55, hier 48.
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Herausforderungen für den Einzelnen zu bieten, deren Bewältigung einerseits nicht festgelegt sind und die anderseits in der Konfrontation und reflexiven Auseinandersetzung mit den körperlich-sinnlich „gespeicherten Erfahrungsspuren, Gedanken, Gefühle(n), Vorstellungen“ erschlossen werden können.41 Dies bei der Unterrichtsgestaltung didaktisch-methodisch zu berücksichtigen, ist für Bildungsziele zentral. Denn: Habituelle Dispositionen stellen ein dynamisches Gewebe an Strategien und Verhaltensmustern dar, das sich in der Praxis ausagiert, indem es den Anforderungen der Praxis ebenso gerecht zu werden, wie diese passgerecht zu transformieren sucht. Der Gedanke eines offenen und vorbehaltslosen Zugangs zu neuen Bewegungsherausforderungen – beispielsweise einer neuen Tanzform – findet hierin ebenso seine Grenzen wie seine pädagogische Herausforderung.
L ITERATUR Ahrens, Sönke: Experiment und Exploration. Bildung als experimentelle Form der Welterschließung, Bielefeld: transcript 2010. Benner, Dietrich: Bildsamkeit – Leiblichkeit – Sport. Zur Funktion negativer Erfahrungen für ein sportpädagogisches Modell performativer und Distanz vermittelnder Urteils- und Partizipationskompetenzen, in: Franke, Elk (Hg.): Erfahrungsbasierte Bildung im Spiegel der Standardisierungsdebatte, Hohengehren: Schneider Verlag 2008, S. 83-98. Bietz, Jörg/Heusinger, Brigitte: EigenSINN – Tanzen in der ästhetischen Bildung, in: Burkhard, Helga/Walsdorf, Hanna (Hg.): Tanz vermittelt – Tanz vermitteln. Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung 2010, Leipzig: Henschel 2010, S. 58-70. Bockrath, Franz: „Ursprünglichkeit und ungebrochene Natürlichkeit“ – Über reformierte Leiber und gelehrige Körper in der Bewegungsdidaktik, in: Bietz, Jörg/Laging, Ralf/Roscher, Monika (Hg.): Bildungstheoretische Grundlagen der Bewegungs- und Sportpädagogik, Hohengehren: Baltmannsweiler 2005, S. 24-55. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993.
41 Bourdieu: Meditationen, S. 185.
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Re/enacting Yvonne Rainers Continuous Project-Altered Daily: Zur Re/konstruktion institutionskritischer Tanzkunst Y VONNE H ARDT
Yvonne Rainer gilt als eine der zentralen Figuren einer sich in den 1960er und 70er Jahren entwickelnden institutionskritischen Tanzkunst in den USA. Die Integration alltäglicher Bewegungen, die augenscheinliche Aufgabe von Virtuosität und emotionaler Expressivität zugunsten einer ‚sachlichen‘ Darstellungsform und eklektischer, dem ‚organischen‘ Bewegungsfluss wiederstrebenden Bewegungsfolgen sowie die Thematisierung des Verhältnisses zum Publikum waren Teil einer Kritik am damaligen ‚dance establishment‘.1 Rainer wie andere Protagonisten um das Judson Dance
1
Vgl. Sally Banes: Terpsichore in Sneakers: Postmodern Dance, Middletown: Wesleyan University Press 1987; Sabine Huschka: Moderner Tanz: Konzepte – Stile – Utopien, Reinbek: rowohlt 2002, S 246-263. Auch wenn diese Charakteristika bestimmende Elemente sind, so zeichnen neuere Studien ein heterogenes Bild der Arbeiten der ProtagonistInnen des Judson Church Theater auf. Vgl. Ramsay Burt: Judson Dance Theater. Performative Traces, New York/London: Routledge 2005; Carrie Lambert-Beatty: Being Watched. Yvonne Rainer and the 1960s, Cambridge: MiT Press 2008; Yvonne Hardt: Reading Emotions. Lesearten des Emotionalen am Beispiel des modernen Tanzes in den USA, in: Margit Bischof/Claudia Feest/Claudia Rosiny (Hg.): e-motion. Jahrbuch der Gesellschaft für Tanzforschung, Bd. 16, Münster: Lit 2006, S.139-155.
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Theater verließen die klassischen Aufführungskontexte (zeigten ihre Arbeiten in alten Kirchen, Gemeindehäusern, Museen, auf der Straße und sogar auf den Dächern von New York) und entwickelten neue Formate der Präsentation und Zusammenarbeit. Diese Charakteristika treffen im besonderen Maße auf das 1969 erstmals gezeigte Continuous Project-Altered Daily (CP-AD) zu. Neben Rainers mittlerweile kanonischem Trio A (1965) gehört es zu jenen Projekten, die in den letzten Jahren eine Renaissance in Re/konstruktion bzw. Re/enactments erfahren haben. An dieser Renaissance lassen sich vielfältige Fragen in Bezug auf das Verhältnis von Tanz und Institution diskutieren, so etwa: Was geschieht mit der Institutionskritik in diesen ‚Aneignungen‘, vor allem dann, wenn diese in einem weiteren institutionellen Rahmen, nämlich der Ausbildung von TänzerInnen an einer Hochschule geschieht? Was sagt dies über das jeweilige Verständnis von Re/konstruktion bzw. Re/enactment aus? Welche Rückwirkungen auf die Institution hat dies bzw. welchen Einblick in das Selbstverständnis und die zeitgemäße Konstitution von Institution erlaubt uns diese Hinwendung zu einem ‚institutionskritischen‘ Re/enactment? Denn herkömmlicherweise wurden weder Rekonstruktion noch Ausbildung mit Institutionskritik verbunden.2 Vielmehr stehen sie gemeinhin für eine Institutionalisierung, Kanonisierung und Festlegen von Lernzielen innerhalb vorgegebener und zumeist hierarchischer Strukturen. Daher erscheint Institutionskritik im Rahmen von Rekonstruktion und institutioneller Ausbildungskontexte auf den ersten Blick paradox. Zugleich aber kann diese vermeintliche Paradoxie als Ausdruck eines in Bewegung geratenen Gefüges verstanden werden, das sowohl das Verständnis von Institution und seiner Konstitution (im Rahmen von Tanz) als auch die Aufgabe und das Verständnis von Avantgarde, Rekonstruktion und Ausbildung betrifft. Die tänzerische Avantgarde der 1960er Jahre, ehemals (institutions-) kritische Instanz freischaffender Kunst, ist mittlerweile gerade aufgrund
2
Ein neuer Trend des educational turn in den Künsten hat sicherlich auch dieses Projekt im Rahmen der Hochschule für Musik und Tanz Köln inspiriert. Für eine jüngere Reflektion von Tanzausbildung vgl. Ulrike Melzwig/Mårten Spångberg/Nina Thielicke (Hg.): Reverse Engineering Education in Dance, Choreography and the Performing Arts. Follow-up Reader for MODE05, Berlin: b_books 2007.
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ihres Nimbus, wegweisend zu sein, institutionalisiert worden.3 Durch die prominente Stellung der Arbeit der Judson ProtagonistInnen im angloamerikanischen Tanzwissenschaftsdiskurs, durch Präsentationen auf renommierten Festivals oder Re/konstruktionen durch bekannte Tänzer wie z.B. Mikhail Barishnikow im Rahmen des White Oak Projekts (1999) wird deutlich, dass trotz des institutionskritischen Impetus des postmodernen Tanzes dieser nun Eingang ins Establishment gefunden hat. Dorothea von Hantelmann hat dieses Phänomen für die Avantgarde allgemein sehr treffend konstatiert: „In dem Moment jedoch, als die Avantgarden selbst historisch wurden, scheiterten sie letztlich an der integrativen und reintegrierenden Macht genau der Konventionen, die sie versucht hatten zu überwinden.“4 Die Wiederaufführungen von Yvonne Rainers Arbeiten lassen sich zudem in einem allgemeinen Trend zur performativen Auseinandersetzung mit Tanzgeschichte verorten: Die Reflexion von Tanzgeschichte findet längst nicht nur im traditionellen Medium wissenschaftlicher Abhandlungen statt, sondern auch in zeitgenössischen Projekten und Aufführungen.
3
Spannenderweise sind die Arbeiten Rainers und anderer Protagonisten des Judson Dance Theaters im deutschsprachigen Raum eher überblicksartig oder von der Kunstwissenschaft besprochen worden. Vgl. Huschka: Moderner Tanz; Sabeth Buchmann: Denken gegen das Denken, Produktion, Technologie, Subjektivität bei Sol leWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oiticica, Berlin: b_books 2007. Im Gegensatz dazu hat das Judson Dance Theater in der nordamerikanischen Tanzwissenschaft einen fast kanonischen Stellenwert bzw. die Auseinandersetzung mit dem Phänomen markiert die Geburtsstunde einer kulturwissenschaftlichen und von kritischer Theorie geleiteten Tanzwissenschaft. Vgl. Sally Banes: Writing Dancing in the Age of Postmodernism, Hanover/London: Wesleyan University Press 1994; Don McDonagh: The Rise and Fall and Rise of Modern Dance, New York: Outerbridge & Dienstfrey 1970; Jack Anderson: Art without Boundaries. The World of Modern Dance, Iowa City: University of Iowa Press 1997. In Deutschland entstehen gerade neue Recherchen – so in der Forschung von Kirsten Maar zu „Choreographie und Installation: Re-Lektüren des Postmodern Dance“ im Rahmen des Sonderforschungsbereichs, vgl. http://www.sfb626.de/teilprojekte/b6/index.html (3.5.2011).
4
Dorothea von Hantelmann: How to do things with art. Zur Bedeutsamkeit der Performativität von Kunst, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007, S. 8.
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Dabei sind klassische Vorstellungen von Rekonstruktion ins Wanken geraten. Re/konstruktion – wie der Querstrich suggeriert – wird nun keinesfalls mehr als eine rein reproduzierende Tätigkeit begriffen, die versucht, sich so nah wie möglich am vermeintlichen Original zu orientieren. Vielmehr werden jetzt in der Auseinandersetzung mit dem historischen Material Konstruktionsprozesse und kreative Eigenleistung ebenso wie die sich aus der Verschiebung ergebenden Möglichkeiten zur Reflexion von Tanzgeschichte betont. In diesem Rahmen wird auch vermehrt von Re/enactments gesprochen, wenn es um eine freiere Aneignung von improvisationsbasierten Stücken geht. Auf weitere Differenzierungsmöglichkeiten wird im Verlauf des Aufsatzes eingegangen und hier zunächst nur pointiert, dass mit dieser begrifflichen Verschiebung neue Formen der Auseinandersetzung mit Tanzgeschichte in den Vordergrund rücken. Diese künstlerisch-reflexive Auseinandersetzung mit der Geschichte des Tanzes bestimmt nicht nur Festivals, sondern hat auch seinen Eingang in Hochschulen und Tanzausbildungen gefunden. So widmete sich die zweite Ausbildungsbiennale (ein Zusammentreffen der in deutschen Hochschulen stattfindenden Tanzausbildungen) dem Thema Rekonstruktion. In diesem Rahmen wurde mit Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln Rainers CP-AD erarbeitet.5 Diese Arbeit an einem historischen Tanzprojekt provoziert im Hochschulkontext zudem Fragen nach pädagogischen Zielsetzungen von Re/konstruktion in einer sich wandelnden und in die Diskussion geratenden TänzerInnenausbildung. Hierbei werden Ziele, Methoden und Strukturen überdacht und auf das veränderte Berufsfeld angepasst. Weit mehr als bewegungstechnisches Können und die Fähigkeit zur schnellen Reproduktion
5
Das Projekt wurde zunächst von Matthieu Doze mit 10 Studierenden im Dezember 2009 erarbeitet und nach der Präsentation auf der Ausbildungsbiennale im März 2010 auch im Rahmen der 4. Choreographie-Tagung am Zentrum für Zeitgenössischen Tanz der HfMT Köln gezeigt. Die theoretische Reflexion beruht auf meiner Mitarbeit am Probenprozess. Die dabei gemachten Beobachtungen und Erfahrungen sind zwangsläufig selektiv. Allerdings möchte ich die Einbeziehung praktischer Arbeit sowie das Verfahren, die eigene Lehrtätigkeit mit zu thematisieren, als einen Schritt hin zu einer tanzwissenschaftlichen Reflexion verstehen, die Vermittlungsstrategien an der Schwelle zwischen Theorie und Praxis ebenso ernst nimmt wie die künstlerischen ‚Produkte‘ und ‚Verfahren‘.
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von Bewegung werden in zeitgenössischen Kompanien mittlerweile ein performatives Können und die Fähigkeit zu Improvisation und Reflexion verlangt. Die Auseinandersetzung mit CP-AD bietet hier das Potential, dies zu erarbeiten und kann eine Reflexivität fördern, die u.a. auch auf die Regeln tänzerischer Ausbildung gerichtet ist. Dieser Aufsatz nimmt daher das erwähnte Studien-Projekt zu Rainer zum Anlass, das Spannungsverhältnis von Institutionskritik, Improvisation, Rekonstruktion und Vermittlung zu reflektieren. In dieser Konstellation ist es zum Einen möglich, genauer der Frage nachzugehen, was heute den institutionskritischen Charakter Rainers Arbeit ausmachen kann und welche Probleme sich bei dessen Aneignung zeigen können. Zum Anderen lenkt die praktische Arbeit mit Studierenden den Fokus auch auf die Techniken und Auffassungen von Improvisation, die zu einem gegebenen Zeitpunkt existieren. Damit rücken die Ausführenden mit ihren spezifischen performativen Fähigkeiten in den Mittelpunkt, und es drängen Fragen nach dem Kontext von Rekonstruktionen in den Vordergrund: Diesen gilt es sowohl in Bezug auf die Gruppe und Entstehungszeit des Projekts zu thematisieren als auch in Bezug darauf, von wem und mit welchem Impetus re/konstruiert wird. Die Reflexion der Praxis der Re/konstruktion im Hochschul- und Ausbildungskontext hilft dabei zugleich zu erkennen, dass das, was als kanonisch (oder etabliert) gilt, jeweils von einem spezifischen Standpunkt und Wissen um Tanzgeschichte bedingt ist: Aus welcher Perspektive kann das Historische wahrgenommen werden, welche Zugänge sind möglich zu einem Material, das unter anderem auch aus einem ideologischen Impetus entstanden ist? Solche Fragen lenken die Aufmerksamkeit innerhalb von Rekonstruktionsprozessen nicht alleine auf die Bewegungsdimensionen und -qualitäten, sondern ebenso auf die Kontexte und die Interaktion der Tänzer untereinander und mit dem Publikum als Teil der Bedeutungs- und Sinnproduktion von Stücken. Sie erlauben es, den enormen sozialen, gruppendynamischen und produktiven Aspekt von Rainers Arbeiten zu erkennen. Diese bleiben oftmals in der Diskussion um die Arbeiten des Judson Dance Theater ausgeblendet, weil der Fokus oft auf die Verneinung und Infragestellung von Strukturen gerichtet ist.6
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Vgl. Shannon Jackson: Social Works. Performing Art, Supporting Publics, New York/London: Routledge 2011, S. 14.
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I NSTITUTIONSKRITISCHES P OTENTIAL VON C ONTINOUS P ROJECT -A LTERED D AILY In zweierlei Hinsicht lässt sich CP-AD zunächst als eine Zuspitzung von Rainers kritischen Auseinandersetzungen mit den Konventionen der Tanzkunst und der Suche nach alternativen Arbeits- und Präsentationsweisen begreifen. Dies betrifft zunächst die improvisatorische Struktur des Projekts und die Aufführung von Prozesshaftigkeit, indem man versuchte, die Grenze zwischen Aufführung und Probe in Frage zu stellen. Ursprünglich im Pratt Institute (also außerhalb der klassischen Tanzbühnen) als eine rohe Materialsammlung gezeigt, entwickelte es sich innerhalb eines Jahres zu einem Format, in dem Rainer während der Performance weitere Bewegungsideen vermittelte und auch die TänzerInnen das Material variieren oder neues einfügen konnten. Zwar hatte Rainer bereits zuvor beispielsweise in Terrain (1963) oder auch in carriage discreteness – ihrem Beitrag zu 9 Evenings: theater & engineering (1966) – mit Improvisation auf der Bühne gearbeitet, doch diese waren ursprünglich an klare Anweisungen gebunden. So sollten sie in carriage discretness über Walkie-Talkies übermittelt werden.7 Auch wenn es technische Probleme bei der Umsetzung gab, die letztlich den TänzerInnen mehr Freiheit ließ als angedacht, so suggeriert diese Konzeption der Improvisation keinesfalls den Eindruck von Entscheidungsfreiheit, sondern von Gesteuertsein. Vor diesem Hintergrund markiert CP-AD eine klare Wende, denn es gibt zwar ein von Rainer entwickeltes oder initiiertes Bewegungsmaterial (z.B. eine Sequenz mit einem Partner zwischen Pose, Fallen, Pose, die „Couples“ genannt wurde, es wurde eine Choreographie mit Stühlen und Kissen integriert: „Pillows and Chairs“, oder es gab eine Gruppenkomposition aus unterschiedlichsten Formen von Hebungen: „Group Hoist“); wann sie allerdings gezeigt wurden und wie damit umgegangen wurde, blieb den TänzerInnen freigestellt und musste untereinander – auch in Bezug auf die Regeln nach denen sie gezeigt wurden – ausgehandelt werden. Sie konnten zudem eigenes Material in der Aufführungssituation weiter/entwickeln und sich gegenseitig beibringen. Im Laufe eines Jahres
7
In der Performance funktionierten die Walkie-Talkies nicht. Vgl. Yvonne Rainer: Feelings are Facts. A Life, Cambridge: MIT Press 2006, S. 175f.
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systematisierte Rainer diese Regeln und stellte sie in einem umfangreichen Programmheft von fünf Seiten für die Aufführung im Whitney Museum 1970 vor.8 Darin wies sie drei verschiedene Weisen aus, mit dem Material umzugehen: Man konnte es 1. in einem anderen „Genre“ bzw. Stil performen, man konnte es 2. persönlich interpretieren oder 3. in einer dem Material völlig fremden und auch „nicht passenden“ (not appropriate) Weise zeigen. Hatte Rainer zuvor die Repräsentationscodes und Themen, die das System des Tanzes bestimmten, hinterfragt, ging sie jetzt gegen die etablierte Trennung von Probe und Aufführung an: So stelltes sie im bereits erwähnten Programmheft die Frage, wieso es eigentlich eine so klare Trennung geben muss zwischen dem, was vor einer Vorführung passiert und der Vorführung selbst. Mit CP-AD erforschte sie diese Grenzziehung. Dafür hielt sie sieben Aspekte fest, die jeweils die Qualität der Performance beeinflussen konnten bzw. zur Reflexion des performativen Gestus animierten: 1. die Probenebene, bei der Material weiter bearbeitet oder neuen TänzerInnen beigebracht wurde. 2. konnte das Material in einem Aufführungsmodus gezeigt werden (also gesetzt, genau geprobt, auch mit Absprachen zum Gebrauch von Sprache). 3. konnte neues Material erarbeitet oder 4. lediglich markiert werden (also nicht voll ausgeführt werden). Zudem gab es 5. die Ebene der „Überraschung“, wo Objekte und Aktionen ohne die Kenntnis der anderen eingeführt werden konnte. Ein 6. Aspekt stellte das Unterrichten dar. Auch hier konnten TänzerInnen neues Material integrieren und anderen beibringen. Abgerundet wurde das Ganze durch einen 7. Aspekt, der die TänzerInnen dazu bewegte zu reflektieren, mit welcher Haltung und welchem Können Elemente gezeigt werden sollten bzw. mit welchem sie es konnten (von dilettantisch bis virtuos). Diese Sammlung kann als wegweisend für eine regelgeleitete Improvisationskunst gesehen werden, die den einzelnen Performer enorme Entscheidungsfreiheit gibt. CP-AD markiert damit auch den Beginn der Grand Union, einer aus dem Judson Dance Theater hervorgegangenen Gruppe, die mit Improvisationen auftraten und tourten. Zu dieser Gruppe gehören die ursprünglichen Performer von CP-AD: Becky Arnold, Douglas Dunn, David Gordon, Barbara Lloyd, Steve Paxton und Yvonne Rainer.
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Vgl. Yvonne Rainer: Work (1961-73), Halifax: Press of Nova Scotia College of Art and Design 1974, S. 129-132.
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I MPROVISATION
UND I NSTITUTION
Improvisation als Teil künstlerischer Arbeitsprozesse war zwar seit der Moderne akzeptiert und Ausdruck eines auf Individualität fußenden Verständnisses künstlerischer Gestaltung, aber als Teil von Aufführungen stellte der Umgang mit Improvisation in den 1960er Jahren einen klaren Bruch mit Aufführungskonventionen dar.9 So waren Rainers Arbeiten zuvor klar gesetzt und durchkomponiert, gerade weil es um die Überwindung eines vermeintlich persönlichen Ausdrucks ging. Daher lässt sich mehr noch als die vorherigen Inszenierungen Rainers CP-AD aufgrund seiner Improvisationsstruktur als institutionskritisch sehen. Folgt man zunächst der Argumentation der mittlerweile umstrittenen Position Peggy Phelans, so entzieht sich Improvisation bzw. Performancekunst gerade durch die Vergänglichkeit und die Nicht-Reproduzierbarkeit – kurz, durch die Verweigerung eines bleibenden Produktes – dem ökonomischen Kalkül.10 Ganz in diesem Sinne hebt Lambert-Beatty hervor: „its [improvisation’s] constant vanishing, makes it always at least potentially resistant to the operations of power in a visually oriented social, cultural, and economic order.“11 Der Charakter des Flüchtigen von Improvisationen hat – trotz der frühzeitigen Kritik Guy Debords an der Huldigung des Neuen und des Vergänglichen, das er als Teil und Grundlage kapitalistischen Begehrens und Produktion identifizierte – gerade in der westlichen Bühnentanzkunst einen institutionskritischen Impetus behalten.12 Phelans ontologische Bestimmung von Performance als das Vergängliche hat mit zu einer Reevaluation des Tanzes und seiner Ephemeralität geführt.13 Diese wird nun nicht länger als ein Manko begriffen, wie es lange in der Geschichte der Tanzrezeption geschah, sondern als jener Aspekt, der Tanz einen kritischen und Wissensgefüge befragenden
9
Für einen Überblick siehe: Friederike Lampert: Tanzimprovisation.Geschichte – Theorie – Verfahren – Vermittlung, Bielefeld: transcript 2007.
10 Peggy Phelan: Unmarked: The politics of Performance, London: Routledge 1993. 11 Lambert-Beatty: Being Watched, S. 50. 12 Guy Debord: Society of the Spectacle, New York: Zone books 1995. 13 Für eine längere Diskussion dieser Re-Evalution des Flüchtigen siehe Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006.
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Status zuweist.14 Insbesondere die Arbeit mit Improvisation, Spontanität und Zufall sind dann auch zentrale Aspekte des Judson Dance Theater, die Sally Banes in ihrer gleichnamigen, mittlerweile grundlegenden Studie von Democracy’s Body sprechen lässt.15 Sie hebeln das hierarchische Verhältnis zum Choreographen als ‚Genie‘ aus, indem die Arbeitsprozesse und das künstlerische Produkt von zahlreichen persönlich unabhängigen Verfahren wie Entscheidungsträgern mitbestimmt werden. Diese kurz skizzierte Sichtweise auf Improvisation gilt es allerdings auch zu relativieren. So trifft der Konventionen befragende Status von Improvisation primär für den westlichen Bühnentanz zu. Darüber hinaus ist Improvisation sowohl in anderen kulturellen Kontexten Teil einer tänzerischen und musikalischen Tradition als auch Strukturmerkmal populärer Tänze.16 Somit kann diese potentielle Kritikfähigkeit durch die Integration von Improvisation nur vor dem Hintergrund des jeweiligen ‚TanzEstablishments‘ gesehen werden und sollte keinesfalls Improvisation schlechthin zu einer institutionskritischen Praxis erhoben werden. (Dies bietet sich vor allem auch dann nicht an, wenn Institution nicht als statisches Gebilde, sondern –wie in der Einleitung – als regelbedingt angesehen wird und somit immer Improvisation beinhaltet). Zudem verdeutlich Lambert-Beatty in ihrer Diskussion von Rainers Arbeiten, dass Flüchtigkeit keinesfalls weder praktisch noch theoretisch den zentralen Schwerpunkt Rainers Arbeit und Institutionskritik darstellte. Vielmehr lassen sich durch die Integration von Posen, die Arbeit mit SlowMotion und Wiederholungen medial überformte Momente des Erinnerns und Stillstellens, des Wiedererkennens und eine Zeitlichkeit ausmachen, die
14 Vgl. Gabriele Brandstetter: Tanz als Wissenskultur. Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung, in: Sabine Gehm/Pirkko Husemann u.a. (Hg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld: transcript 2007, S. 37-48; Gabriele Klein: Tanz in der Wissensgesellschaft, in: ebd., S. 25-36. 15 Sally Banes: Democracy’s Body, Judson Dance Theater 1962-1964, Durham: Duke University Press 1993. 16 Für eine unterschiedliche Wertung und Integration der Improvisation in unterschiedlichen Tanzkontexten, die die Avantgarde beeinflussten siehe: Susan Foster: Dances that Describe themselves, Middleton: Wesleyan University Press 2002, insb. Kap. 1: Genealogies of Improvisation, S. 24-68.
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an Fotos angelehnt ist.17 Mehr noch, wie in keinem davor bekannten Maße, griffen die Judson Protagonisten auf die neuen Medien zu und dokumentierten ihre Proben und Arbeiten filmisch. Dieser Zusammenhang von Bild und (Flüchtigkeit von) Bewegung wirft vielfältige Fragen auf, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter verfolgt werden sollen. Vielmehr schließen die folgenden Überlegungen an den damit verbundenen dokumentarischen Impetus an, der für die Re/konstruktion bzw. Möglichkeiten des Re/enactment wesentlich sind. Denn dieser Hang zum Dokumentarischen lässt sich auch in Rainers Sammlung und der genauen Beschreibung ihrer Stücke erkennen. So ist die Rekonstruktion von Rainers Projekten auch deshalb möglich, weil Rainer frühzeitig ihre Arbeiten in schriftlicher Form reflektierte und dokumentierte. Neben ausführlichen Programmheften, die zudem oft im Stil eines Manifestes geschrieben sind – und dies gilt nicht nur für das im Zuge von Trio A bekannte „No-Manifest“18 – publizierte Rainer bereits 1974 eine Sammlung von Aufzeichnungen in dem Band Works. Dies schafft eine Grundlage für die Rekonstruktion und Aneignung ihres Materials und provoziert dazu, Rainers Arbeit mit einer Perspektive auf die Dokumentations- und Erklärungspraktiken zu betrachten, die ihre institutionskritische Praxis komplexer erscheinen lassen. Institutionskritik setzt hier also nicht auf der Ebene der Flüchtigkeit der Performances an, sondern eher auf einer Ebene der choreographischen Strategie: gerade dadurch, dass der organische Fluss unterbunden wird, historische Zitate integriert werden und versucht wird, der Flüchtigkeit des Tanzes mit klaren scores als eine Art der Notation und Beschreibungen eine konzeptuelle und bleibende Charakteristik zu verleihen. Während diese zahlreichen Dokumente sicherlich auf ihre konstituierende Kraft und die spezifische Medialität hin zu befragen sind, mit der das Image der Judson Church geprägt wurde, so haben sie auch Rekonstruktionen inspiriert.19 Dabei zeigt sich in der Arbeit mit Improvisation in eklatanter Weise die Problematik von Rekonstruktionsprozessen allgemein.
17 Vgl. Lambert-Beatty: Being Watched, S. 49. 18 Vgl. hierzu den Beitrag von Nicole Haitzinger in diesem Band. 19 So argumentiert Lambert-Beatty in Bezug auf die formative Kraft der Bilder: „(Peter) Moore participated in a reaction against the cult of personality in postwar artistic culture. In this way, also, his images share in the direct, factual, or tasklike mode we associate with the art of Rainer and her peers. And in this way,
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R E / KONSTRUIEREN
ODER
R E / ENACTING ?
Wie rekonstruiert man eine Improvisation? Und wieso haben gerade die Projekte Yvonne Rainers solches Interesse erfahren und werden in zahlreichen Re/enactments wiederbelebt? Zweifelsfrei lässt sich die Wiederbelebung von Rainers Arbeit zunächst innerhalb eines größeren Trends verorten, in dem zeitgenössische Künstler die historische Vergangenheit befragen, um einen selbstreflexiven Blick auf die eigene künstlerische Praxis zu werfen und die Historizität der eigenen Kunst zu reflektieren. Auch wenn der Rekonstruktion durch ihre historische Verweiskraft – auch und gerade auf eine historisch anerkannte Avantgarde – immer etwas Affirmatives inhärent ist, so ist doch die Vorstellung von dem, was Rekonstruktion ist, in Bewegung geraten und eröffnet institutionskritische Fragen. Re/konstruktion hat den Nimbus einer Praktik von historischen Spezialisten verloren, die versuchen, die Vergangenheit aus fragmentarischen Überbleibseln eines nicht mehr in Aufführungen befindlichen Tanzes haargenau so darzustellen, wie sie „wirklich war“. Vielmehr ist mit der Erkenntnis, dass dies nicht zu leisten ist, gerade das kritische Potential von re/konstruierenden Praktiken sichtbar und der konstruierende und künstlerische Akt in diesem Verfahren hervorgehoben.20 Timmy de Laet argumentiert exemplarisch für zahlreiche Künstler und Wissenschaftler, die sich der Reflexion dieses Trends annehmen: „Künstler interessieren sich nicht länger nur für die Wiederherstellung eines vermeintlichen Originals, sie erfinden durch eine erneute Nutzung des alten Materials die Welt auch deshalb neu, um die etablierten Positionen des Archivs und die traditionelle Auffassung von Repertoire kritisch überprüfen
it must also now be acknowledged, the images he created actively produced what we now understand that mode – and that art – to have been.“ LambertBeatty: Being Watched, S. 16. 20 Vgl. Yvonne Hardt: Prozessuale Archive. Wie Tanzgeschichte von Tänzern geschrieben wird, in: Johannes Odenthal (Hg.): tanz.de. Zeitgenössischer Tanz in Deutschland – Strukturen im Wandel – Eine neue Wissenschaft. Theater der Zeit, Arbeitsbuch, Berlin 2005, S. 34-39; und dies.: Sich mit der Geschichte Bewegen, in: N. Haitzinger, K. Fenböck (Hg.): Denkfiguren. Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden, München: epodium 2010, S. 214-223.
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zu können.“21 Sie hinterfragen die Aneignungsprozesse und stellen deren Produktionsmechanismen aus. Es ist kein Anliegen mehr, eine genaue Version des Vergangen abzubilden, sondern im Prozess der Aneignung die Verschiebung und Differenz sichtbar zu machen und die Reflexion der ästhetischen Konventionen in den Mittelpunkt künstlerischen Schaffens zu stellen.22 Geschichte wird als ein Produkt der Gegenwart betrachtet. Es geht nicht mehr um das Archivieren statisch gewordener Vergangenheit, sondern das Erinnern wird als performativer Prozess begriffen, „der seinen Gegenstand konstituiert, inszeniert, re-inszeniert und dabei ständig modifiziert, und in dessen Verlauf immer wieder neue Modelle und Medien des Erinnerns hervorgebracht werden.“23 Dabei wird gerade in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Avantgarde der Begriff des Re/enactments verwendet, dem ein kritisches Potential zugeschrieben wird.24 Krassimira Kruschkova spricht hier beispielsweise – in Anlehnung an eine gleichnamige Veranstaltungsreihe im Tanzquatier Wien – von „wieder und wider.“ Es geht also bewusst darum, mit der Vergangenheit zu arbeiten und sie zugleich gegen den Strich zu bürsten.25 Solch eine Auslegung des Begriffs ist dabei durchaus erstaunlich, denn das Re/enactment ist außerhalb der Tanzszene und der zeitgenössischen Kunst eher mit einem affirmierenden Geschichtsverständnis verbunden. Re/enactment bezeichnet dabei das Neuinszenieren historischer Ereignisse an Origi-
21 Timmy de Leat: Wühlen in Archiven, in: tanz, März 2010, S. 54-59. Vgl. hierzu zum Beispiel die Aussage von Martin Nachbar in fast identischen Wortlaut in seiner Lecture zu Rekonstruktion. Martin Nachbar: ReKonstrukt, in: Janine Schulze/Susanne Traub (Hg.): Moving Thoughts. Tanzen ist Denken, Dokumenta Choreoglogica, Berlin: Vorwerk 8 2003, S. 89-95.; oder Hardt: Sich mit der Geschichte Bewegen. 22 Vgl. Hardt: Sich mit der Geschichte Bewegen. 23 Erika Fischer-Lichte/Gertrude Lehnert: Einleitung, in: dies.: (Hg.): Inszenierungen des Erinnerns, Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 9, H. 2, 2000, S. 9-17, hier S. 14. 24 Vgl. Andreas Backoefer/Nicole Haitzinger/Claudia Jeschke (Hg.): Tanz & Archiv: Reenactment, Heft 1, München: epodium 2009. 25 Vgl. Krassimira Kruschkova: Tanzgeschichte(n): wieder und wider. Reenactemnt, Referenz, révérence, in: Thurner, Christina/Wehren, Julia (Hg.): Original und Revival, Zürich: Chronos 2010, S. 39-45.
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nalschauplätzen mit historischen Kostümen. Während es solche Veranstaltungen seit der Antike und auch im Mittelalter (z.B. Passionsspiele) gab, wurden sie vor allem auch durch Robin George Collingwood als eine neue historisch wissenschaftliche Praxis etabliert. Somit ist dieser Begriff – anders als der Umgang von zeitgenössischen Künstlern suggeriert – einem Rekonstruktionsverständnis von Tanz nahe, das versucht, die Vergangenheit so genau wie möglich dem Original anzunähern und scheint somit einem eher klassischen Verständnis von Rekonstruktion zu entsprechen. Dennoch hat es eine gewisse Plausibilität, gerade in Bezug auf die Avantgarde und die Wiederbelebung von Improvisationen von einem Re/enactment zu sprechen.26 Denn die Verschiebung durch den Querstrich betont die im Wortstamm angelegte Aktion, also das Handeln. Und genau die Auseinandersetzung mit Handlungsanweisungen eher als das Ausführen vorgegebener tänzerischer Bewegungen stand im Mittelpunkt der Arbeit des Judson Dance Theaters. Regelgeleitete Improvisationen oder die Lösung von Aufgaben bestimmten mehr als Inhalte und Narration die Postmoderne. In „enactment“ klingt auch die „direct action“ an, die Sally Banes als ein Leitmotiv der Judson Protagonisten sieht.27 Sich dennoch dieser gängigen Vorstellung von Re/enactment bewusst zu werden, lädt auch dazu ein, die Verschiebung von Rekonstruktionsverständnissen, die Kontexte und den besonderen Umgang mit der Wiederbelebung von regelgeleiteten Improvisationen (wie es auch Schlachten sind) zu reflektieren.28
26 Ein weiteres Beispiel für die Rekonstruktion eines improvisationsbasierten Stücks der Avantgarde hat Anne Collode mit Anna Halprins Parades & Changes erarbeitet. 27 Vgl. Banes: Democray’s Body. 28 Re/konstruktion wird daher im Folgenden vor allem dann benutzt, wenn es um die Auseinandersetzung von Rainers Bewegungsmaterial innerhalb des Projekts geht, von Re/enactment hingegen wenn die performativen Dimensionen thematisiert werden. An einigen Stellen bietet es sich sogar gar nicht an, von Re/konstruktion zu sprechen, bspw. wenn das Material direkt weitergegeben wurde.
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R E / ENACTING –
MOBILE KÖRPERLICHE
ARCHIVE ?
Es sind die enorme Regelhaftigkeit und Einschränkung der Improvisation in CP-AD, die bereits andeuten, dass Improvisation hier strukturell verstanden wird und keinesfalls als persönlicher Ausdruck oder Präferenz. Um nämlich das Altbekannte aufzubrechen und in den Körpern tief einverleibte Bewegungsmuster aufzubrechen, bedarf es einer Reflexion improvisatorischen und kompositorischen Arbeitens. Wesentliche Merkmale der Judson Choreographien und ihres performativen Modus, wie eine damals neue Form der Neutralität, des Legeren und die faktische Umsetzung von Probensituationen bzw. das Markieren ergeben sich nicht von selbst. Die Aktionen müssen in einer bestimmten Weise ausgeführt werden, gerade weil die Art der neutralen Präsentation eine ganz bestimmte Bedeutungsdimension hat: Sie ist ein Manifestation der künstlerischen Praxis als das Alltägliche, als das Nicht-Expressive, und in CP-AD zudem Ausdruck der Auflösung von Grenzen zwischen Bühne und Probenszenario. Jedoch ist nichts schwieriger als auf der Bühne nicht zu spielen, sondern lediglich zu agieren und dabei zugleich bewusst und kreativ mit den Regeln umzugehen. Dabei erscheint die Performance gerade dann und dadurch ‚authentisch‘, dass die disziplinierenden Elemente dieser Vorgehensweise für den Zuschauer verborgen bleiben. Das Alltägliche und Lässige auf der Bühne zu inszenieren, bedurfte demnach einer enormen Arbeit, eine die zwar nicht immer im klassischen Sinne tänzerisch virtuos war, die aber eine enorme Konzentration forderte – wie zum Beispiel Lucinda Childs über die Aufführung an Rainers Stück We shall run (1963) festhielt: „We all came out, and I remember worrying that I was going to forget it. The piece was very complex. You had to go over here and make a little circle, and come back here and make a big circle. It was hard to keep it in my head. But we did it. You broke off from the group here and there, but you always had to remember where you splintered out to. You couldn’t just drift, and if you got in the wrong group you wouldn’t know what they were doing.“29
29 Interview mit Lucinda Childs, April 1980, zitiert nach Banes: Democracy’s Body, S. 87.
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Trotz der Einfachheit der Bewegungssequenzen – einer alltäglichen Handlung wie dem Rennen – ist es aufgrund ihrer strukturellen Bewegungsanordnung nicht leicht, dies auf der Bühne auszuführen: Dabei eine performative Haltung zu entwickeln, die zugleich faktisch und präsent ist, ist an Erfahrungen und ein gutes Zusammenspiel aller Tänzer gebunden (etwas das gerade in der Erarbeitung mit Studierenden besonders transparent wird). Das war im Fall von CP-AD am Ende der 1960er Jahre durch die lange Zusammenarbeit der Gruppe gegeben. Auch wenn Yvonne Rainer sich immer noch ein Veto-Recht vorbehielt, weil sie doch Angst hatte, dass Dinge mit ihrem Material passieren könnten, die sie sich nicht wünschte, so entstand CP-AD mit einer Gruppe von Tänzern, die seit gut sieben Jahren kontinuierlich miteinander gearbeitet hatten – sowohl als Tänzer wie auch als Choreographen. Sie teilten ähnliche künstlerische Visionen: Sie wollten die Definition von Tanz, vor allem dessen exzessive, expressive und offensichtlich virtuose Bewegungsbasis in Frage stellen. Dennoch waren ihre Arbeiten trotz ihrer Unterschiedlichkeit und dem Spiel mit einfachen Gesten und Bewegungen sehr kompositorisch bzw. gerade weil sie sich einer narrativen oder expressiven logischen Folge verweigerten, wurde das strukturelle Prinzip besonders wichtig: So sind ihre Stücke charakterisiert durch Momente der Wiederholung und durch die Arbeit an Extremen (z.B. enorme Verlangsamung, exzessive Wiederholung, niemals den Blick zum Zuschauer etc.).30 Aus diesen gemeinsamen Arbeitsprozessen konstituierten sich ein Wissen und ein Schatz an Erfahrung im Umgang mit kompositorischen Elementen, auf die sie auch in Improvisationen zurückgreifen konnten. Es ist ein praktisches und einverleibtes Wissen, ein performatives Können, das in einem ständig oszillierenden Prozess körperlicher und reflexivtheoretischer Arbeit ein Konglomerat gebildet hat, das man mit den Worten Susan Fosters als einen „body-of-ideas“ beschreiben kann.31 Auf Michel Foucault und Marcel Mauss aufbauend, beschreibt sie hiermit jenen Materialisierungsprozess im tänzerischen Training, der den Körper im Zusammenspiel von ästhetischen, pädagogischen, hierarchischen und kulturellen Diskursen formt. Dies lässt sich ebenso an Pierre Bourdieus Studien zum
30 Lambert-Beatty: Being Watched. 31 Susan Foster: Dancing Bodies, in: Jane Desmond (Hg.): Meaning in Motion. New Cultural Studies of Dance, Durham: Duke University Press 1997, S. 235258, hier S. 235.
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Habitus anbinden, in denen er das Fortleben von sozialen Strukturen und den ihnen inhärenten Machtstrukturen durch körperliche Praktiken aufgezeigt hat. Dabei artikuliert Bourdieu ein Konzept der zeitlichen Überlagerungen von Erinnerung, wenn er davon ausgeht, dass der Habitus die „aktive Präsenz früherer Erfahrungen“ gewährleistet.32 Somit lassen sich in körperlichen Praktiken Vergangenheit, Präsenz und Zukunft als simultan präsent begreifen. Myriam van Imschoot überträgt dies in ihrem Aufsatz „Rests in Pieces“ auf die Performancekunst: „One could think of performers as mobile body-archives. They are not merely domiciled containers, but metabolic ecologies that compose the living traces of experience. “33 Dies macht das Arbeiten mit der gleichen Score mehr noch als in anderen tänzerischen Bereichen, wo es ebenfalls das Problem der Übertragung von Bewegungen (z.B. eines Choreographen) auf einen anderen Körper (z.B. des Tänzers) gibt, besonders schwierig. Denn damit sind das erlernte Können und die zur Improvisation gehörenden Kompetenzen längst nicht so offensichtlich und transparent wie im klassischen Sinne einer Bewegungsvirtuosität. Dies stellt eine besondere Herausforderung aber auch Potential für die Erarbeitung mit Studierenden dar. Das Re/enactment macht es möglich, Virtuosität und künstlerische Kompetenz auf unterschiedlichsten Ebenen zu entdecken als teil eines aktiven Handelns. Dass es dabei um mehr als nur eine körperliche Fähigkeit, sondern gerade auch um eine Frage der Einstellung und der tänzerisch-ästhetischen Vorstellungen geht, wurde beispielsweise in der Aneignung der Bewegungssequenz „Couples“ mit Studierenden deutlich. Zwar ist das Erlernen der Bewegungssequenz selbst bereits schwierig, denn sie zeichnet sich dadurch aus, dass zunächst mit der Hilfe eines stützenden Partners eine Pose eingenommen wird, dann durch das Aufheben der Unterstützung in eine andere Position gefallen wird, dabei eine genaue formale, oft von Distorsionen und komplizierten Balancen charakterisierte, neue Pose wieder eingenommen wird. Es gibt also ein permanentes Spiel zwischen Pose, Fallen
32 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M 1993, S. 101. 33 Myriam Van Imschoot: Rests in Pieces: On Scores, Notation and the Trace in Dance, S. 7. http://www.make-upproductions.net/start/MATERIALS%20AND %20PUBLICATIONS/Rests%20in%20pieces,%20M.%20Van%20Imschoot/Re stsInPieces_Myriam%20VanImschoot.pd (25.3.2011).
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und neuer Pose, das jedoch nie wirklich stabil ist, und das vor allem eines besonderen Vertrauens in den Partner bedarf. In der Aneignung zeigte sich gerade das Statische und Systematische der Posen, das sich auf Anhieb einer dynamischen Bewegungsweise entzog (obwohl es in ein Fallen übergeht), als ein mit ästhetischen Konventionen beladenes Element. In der Aneignung gilt es diese Vorbehalte zunächst in zu reflektieren, indem beispielsweise auf das Spiel mit Zitaten eingegangen wird. Das eher lustige choreographische Element „Pillow and Chair“ erlaubt zudem die Komplexität einfacher Bewegungen zu erfahren: Was wie eine einfache Tätigkeit aussieht, z.B. ein Kissen aufzuheben, sich damit zu drehen, es auf den Boden zu legen, den Kopf darauf zu platzieren und mit einem Stuhl nach vorne gebeugt über ein Kissen zu steigen, erweist sich durchaus als herausfordernd. Die Reihenfolge der Bewegungen zu memorieren benötigt einige Zeit, da sie sich nicht aus der Bewegung heraus ergibt. Auch lenkt das Einstudieren34 die Aufmerksamkeit auf die enorme Musikalität dieser Bewegungsfolge in ihrer differenzierten, rhythmischen Strukturierung. Während diese kleinen Choreographien innerhalb des Projektsettings Halt geben, ist die Aufforderung, sie jeweils auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichem performativem Können auszuführen (wie es Rainers Programmheft vorsah) besonders herausfordernd. Man ist gezwungen, sich auf die Strukturen und eine einfache sachliche Präsentation einzulassen, und ist somit sehr viel stärker als in den Bewegungssequenzen anderer aufgerufen, sich preiszugeben und wird gegebenenfalls hinsichtlich der live-kompositorischen Fähigkeiten wahrgenommen. Dabei ist es zugleich auch möglich, die Historizität live-kompositorischer Verfahren zu entdecken und zu reflektieren. Denn während auf der einen Seite einige die Virtuosität und Komplexität dieser Improvisationsfähigkeit noch nicht erkennen, ist auf der anderen Seite für jene, die sie beherrschen und in der Nachfolge dieser Einflüsse ausgebildet wurden, die scheinbare Einfachheit und Unbedachtheit dieser Improvisation auffällig. Auch Improvisationstechniken haben eine Geschichte und fordern somit dazu auf, den Kontext ihrer Präsentation in den Blickpunkt zu rücken. Die
34 Hier scheint mir der Begriff des ‚Einstudierens‘ weitaus passender als Rekonstruktion, denn hier brachte Matthieu Doze die Bewegungsfolge den Studierenden einfach bei. Hingegen wurde „Group Hoist“ nur anhand von Rainers genauer Beschreibung in Works re/konstruiert.
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Frage nach den Kontexten stellt sich umso mehr, als es im Zuge der Avantgarde sowohl von Seiten der Künstler als auch von Theoretikern zu einer definitorischen Verschiebung von ‚Kunst‘ kommt, die diesen Kontexten besondere Bedeutung zumisst. Kunst wird nun nicht mehr an intrinsischen Eigenschaften des Kunstwerkes festgemacht, sondern ist in einer interaktiven Situation mit dem Betrachter und Kontext verknüpft. Da wir heute sowohl ein Wissen um die Entwicklung der Improvisation als auch einen methodischen und technischen ‚Werkzeugkasten‘ haben, mit Hilfe dessen Improvisation gestaltet werden kann, drängt sich besonders die Frage auf, wie man mit Bewegungsregeln arbeiten bzw. diese re/enacten kann, die einst Vorboten der Contact Improvisation waren. Diese war damals noch nicht entwickelt, prägt aber das heutige Training von Tänzern in hohem Maße.
R EKONSTRUKTION ALS REFLEXIVES M OMENT VON R EGELHAFTIGKEIT UND PERFORMATIVER S TRATEGIEN Gehen wir aber davon aus, dass es im Re/enactment einer Improvisation keinesfalls um die Wiederherstellung eines vermeintlich ursprünglichen Umgangs mit einer „Score“ geht, dann kann der Aneignungsprozess zu einem Möglichkeitsraum werden, der es erlaubt, implizite Strukturen tänzerischer Praxis freizulegen. Ebenso kann er eine Inspiration bzw. ein Ausgangspunkt für eine Schulung performativen Könnens sein, indem genau jene Sensibilitäten für die kompositorischen Elemente und Haltung zu und miteinander entwickelt werden, die die Grundlage improvisatorischer Projekte sein können und deren implizite Virtuosität ausmachen. Das Projekt kann im Re/enactment somit zu einem selbstreflexiven Umgang führen, indem es auf die Regelhaftigkeit tänzerischer Praxis zurückverweist. Diese Regeln müssen entdeckt werden. Das heißt, die Studierenden wurden beispielsweise dazu aufgefordert die Regeln zu reflektieren, nach denen Proben funktionieren, wenn es darum ging den von Rainer geforderten Probenmodus zu reproduzieren, und verhindert werden soll, dass man das Proben einfach repräsentiert anstatt so zu handeln. Das provoziert Fragen wie: Wie wird Bewegungsmaterial beigebracht und erlernt? Wie wird es entwickelt? Wie oft wird es wiederholt – und welche Sequenzen besonders oder in einer Variation davon? Wie werden Korrekturen gegeben? Und werden diese immer gleich gegeben? Wie gelungen die faktische Ausfüh-
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rung und Wahrnehmung der Probensituation in der ursprünglichen Aufführung von CP-AD war, kann natürlich nicht rekonstruiert werden: Regel, Möglichkeitsraum und Ausführung sind hier nicht deckungsgeich. Dennoch gilt es den Aspekt der Probensituation als Teil der Aufführung ernst zu nehmen. Dabei fällt auf, dass eine Gruppe Studierender nicht auf einen ähnlichen Erfahrungsschatz von Probensituationen, dem Zusammenspiel, der künstlerischen Vision und Arbeitspraktik zurückgreifen können, wie jene ursprüngliche Gruppe von CP-AD. Es gilt daher zu fragen, welche Strategien des Erarbeitens es erlauben, mögliche Aspekte der Probenarbeit (wie auf Fehler hinweisen oder Sequenzen in unterschiedlicher Länge zu wiederholen) in der Aufführungssituation zu realisieren. Eine Möglichkeit bestand z.B. darin, neue Regeln – vielleicht sogar enorme Zuspitzungen – zu setzen, die auf der Erkenntnis des Reflexionsprozesses von der Regel der Probe basieren. In der Arbeit mit Studierenden erwies sich z.B. die Regel als hilfreich, in der Ausführung der „Group Hoist“ immer dann die Sequenz von vorne zu beginnen, sobald jemand einen Fehler erkannte bzw. dies konstatierte und ausrief. Die Studierenden durften erst mit der „Group Hoist“ aufhören, wenn sie sie trotzdem einmal durchgetanzt hatten. Diese Regel brachte die Studierenden dazu, für ihr eigenes Gefühl – wenngleich typisch für Probenprozesse – lange an einem Material zu arbeiten. Solch ein Vorgehen mag nur dann als problematisch für eine Re/enacting gelten, wenn man sie nicht immer auch schon als Konstruktion begreift.35 Das Erfinden von Regeln war Teil von CP-AD, und diese waren durchaus paradox. So gab es auch im Rahmen der von Rainer legitimierten Verfahrensweisen, die Regel des „Surprise“: Man konnte eine Überraschung mitbringen und integrieren. Und die Überraschung (die ja oft mit Spontanität, dem Nicht-Geplanten assoziiert wird) funktionierte doch als solche oder vielleicht gerade auch, weil sie auf einer Regel basierte. Mehr noch als eine performative Haltung, eine Einstellung Zusammenhänge zu befragen wurde CP-AD als ein Experiment begriffen. Folgt man der Argumentation Sönke Ahrens, nachdem ein Experiment danach verlangt, etwas Unbekanntes im
35 Vgl. Mark Franko: Epilogue. Repeatability, Reconstruction, and Beyond, in: ders.: Dance as Text: Ideologies of the Baroque Body, Cambridge: Cambridge University Press 1993, S. 135.
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Bekannten zu entdecken, so muss ein Re/enacting genau jenen Raum zulassen, Neues im Bekannten zu entdecken. Es muss inhärent kontingent sein.36 Diese spezifische Regel der Wiederholung in Bezug auf „Group Hoist“ schuf zudem eine spezielle gruppendynamische Situation, die wiederum an die Frage nach der Rekonstruktion nicht nur von Improvisationsregeln, Material, sondern auch von Gruppenkonstellationen anzubinden ist. Denn abseits von ästhetischen Konventionen (z.B. in Bezug auf Virtuosität), oder dem Aufbrechen der Grenze zwischen Aufführung und Probe, geht es hier auch um einen veränderten Produktionsrahmen, der sicherlich in der Rekonstruktion in einem institutionellen Ausbildungskontext nicht unterschiedlicher sein konnte. Damals wurden demokratische Arbeitsstrukturen erprobt. Lambert-Beatty hat den Konflikt und die Auseinandersetzungen festgehalten, die Rainer mit der Gruppe hinsichtlich dessen, was erlaubt und was nicht erlaubt war, austrug. Es ging darum einen Prozesses der Demokratisierung und der Partizipation der Tänzer zu finden, wie sie heute in der zeitgenössischen Tanzszene viel selbstverständlicher sind, und die auf den Einfluss dieser Experimente des Postmodern Dance zurückzuführen sind. Allerdings ist dies eine kontinuierliche Entwicklung gewesen, die zu diesem Zeitpunkt nicht konfliktfrei war und es vielleicht auch nie ist. Einer der Gründe für diese demokratisierende Entwicklung ist im politischen Kontext von 1969 zu sehen. Es ist das Jahr, in dem Yvonne Rainer Trio A nackt und nur mit amerikanischen Flaggen bedeckt tanzt, in dem sie ein Banner während eines Workshops platziert mit der Aufschrift: „warum sind wir da?“ (gemeint war der Vietnamkrieg) und in der sie in stillen Märschen ohne scheinbar politischen Slogan durch New York lief, in der Studentenproteste die Frage nach Mitbestimmung laut werden ließen.37 Dass der Vietnamkrieg Einfluss auf die künstlerischen Schaffensprozesse nahm, wird auch am nächsten Stück Rainers, das markanter Weise War Piece hieß, deutlich. Diese Kontexte zu verstehen, kann Teil einer reflektierenden Aneignung von historischen Tanzmaterialen sein. Für Studierende ermöglicht es zwar nicht diesen historischen Rahmen zu reproduzieren, aber es
36 Vgl. Sönke Ahrens: Experiment und Exploration. Bildung als experimentelle Form der Welterschließung, Bielefeld: transcript 2011. Für diesen Hinweis zum Experiment danke ich Martin Stern, der ihn auf seine bildungstheoretischen Dimensionen hin in diesem Band bespricht. 37 Vgl. Lambert-Beatty: Being Watched, Kapitel 5.
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erlaubt ihnen, ihre eigenen Produktionserwartungen in Bezug auf eine Gruppe und den Gestaltungsprozess zu befragen. Das reflexive Potential einer Re/konstruktion hängt damit vom jeweiligen Kontext oder der einzelnen Persönlichkeit ab. In Tanz-Studiengängen, die bisher primär die technischen Aspekte in der Tanzausbildung geschult haben, stellt die Auseinandersetzung mit Projekten der tänzerischen Avantgarde die Möglichkeit dar, das eigene Verständnis von Tanz zu reflektieren und den Umgang mit improvisatorischen Strukturen zu schulen. Neben der Bereitschaft sich auf Experimente einzulassen bzw. Tanz jenseits technischer Virtuosität als eine Suche nach dem Neuem im Vertrauten zu begreifen, schult es Elemente, die auch für die kompositorische Arbeit abseits der Avantgarde und experimentellen Projekte zentral sind. Dazu gehört die Arbeit an Extremen, das Vertrauen zu entwickeln, dass scheinbares NichtsTun (wie Still-Stehen) auf der Bühne sehr effektiv sein kann (vor allem, wenn sich alle anderen bewegen) und Wiederholungen und Momente um ihrer enormen Wirkung willen auszuhalten. Für jene Ausbildungszweige, die in der Folge und als Produkt der tänzerischen Avantgarde entstanden sind, oder für Studierende, die sich in diesem Sinne begreifen, erlaubt solch eine Re/enactment die historische Entwicklung ihres Tanztrainings zu erfahren und Differenzen zu entdecken. Denn während für ungeübte Studierende die Improvisation mit dem Material schwierig ist, so sind die Regeln und Bewegungen von CP-AD heute im Kontext einer etablierten Improvisationsszene eher selbst schon wieder historisch, wirken fast schon anachronistisch. „Group Hoist“ kann hier als ein Vorbote der Contact Improvisation gesehen werden. Was damals als Versuchsanordnung begonnen hat, ist mittlerweile selbst zu einer institutionalisierten Praxis geworden, mit Kategorien der Analyse und des Arbeitens gerade im Bereich der Improvisation.38 Das Wiederbeleben von CP-AD eröffnet uns damit immer noch (wenn auch unter anderen Vorzeichen) die Möglichkeit unsere Standards von Tanz und Improvisation zu befragen. In diesem Sinne kommen die unterschiedlichen Reaktionen auf dieses Re/enactment, die von Entsetzen über ein Gelangweilt-Sein bis hin zur Begeisterung reichten, jenen der damaligen Zeitgenossen ziemlich nahe. Auch in diesem Sinne lebt das Stück somit weiter.
38 Vgl. Cynthia Novack: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Madison: University of Wisconsin Press 1990.
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Mit solch einer pädagogischen Sichtweise ist sicherlich der institutionskritische Impetus des Stückes genommen, seine Möglichkeiten für die Institution Tanzausbildung kanalisiert. Aber das Spannende an tänzerischer Praxis ist, dass sie auch innerhalb von Institutionen ein Eigenleben führen kann, dass auch Vorstellungen von Ausbildung ins Wanken geraten sind, und dass nicht einzuschätzen ist, wie das Projekt mit welchen Studierenden und mit welchem Publikum wirkt. Wenn man die Diskussionen als Teil des Re/enacting begreift, und wenn man Raum für das eigene Entdecken gewährt, bleibt ein wichtiger Impetus dieses Stückes, das nun selbst zu einer Ikone eines avantgardistischen Experiments geworden ist, vielleicht mehr am Leben, als wenn es gelingt, den Eindruck einer Performance aus dem Ende der 1960er zu erzeugen.
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Style as Confrontation: Zur Geschichte und Entwicklung des B-Boying M ICHAEL R APPE
Vor nunmehr vierzig Jahren entwickelte sich in verschiedenen Städten der Vereinigten Staaten eine kulturelle Praxis mit ihren unterschiedlichen Disziplinen des B-Boying (Breakdance)1, Writing (Graffiti), MCing (Rapping) und DJing, die heute unter dem Begriff Hip Hop bekannt ist. Mit ihren vielfältigen visuellen, textlichen und musikalischen Strategien läutete sie einen bis heute anhaltenden Prozess ein, der das Bild der Popmusik maßgeblich veränderte. Dabei ist es mehr als bemerkenswert, wie Hip Hop aus einer komplexen Verbindung von kulturellen, afrodiasporischen (oralen) Traditionen sowie sozial-ökonomischen und technologischen Bedingungen der postindustriellen Stadt entstand. Am Beispiel des B-Boying möchte ich die komplexen Verbindungen nachzeichnen, die zu dieser Kultur geführt haben. B-Boying umfasst eine heterogene Tanzpraxis, die sich ab Ende der 1960er Jahre parallel in New York, Los Angeles und Fresno aus verschiedenen Street- und Funktänzen entwickelt hat. Vor einer Darstellung des B-Boying werde ich auf den soziokulturellen Kontext eingehen, in dem sich die Hip Hop-Kultur entwickelte. Im Anschluss daran werde ich die grundlegenden Bewegungsformen des BBoying beschreiben. Dabei ist es mir wichtig aufzuzeigen, wie sich die
1
Der Name Breakdance hat sich als Oberbegriff für diese unterschiedlichen Tanzformen durchgesetzt. Innerhalb der Hip Hop-Szene wird jedoch vom BBoying gesprochen.
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vielfältigen Bewegungs- und Tanzfiguren des B-Boying durch Rückgriffe auf ältere afroamerikanische Tanzstile einerseits und der Übernahme von Bewegungsabläufen aus populärkulturellen Artefakten andererseits entwickelten. Dies erlaubt es, Hip Hop trotz seines zunächst rebellischen und konfrontativen Charakters im Kontext von Institutionalisierung zu denken. So möchte ich zum Abschluss einige Anmerkungen zur ‚Institution‘ Hip Hop-Tanz machen und vorschlagen, B-Boying als eine ‚performative‘, an die Körper und die Rituale des battle circle gebundene Institution zu betrachten, die meines Erachtens von Beginn an die Lebensverhältnisse, in dem das B-Boying entstand, thematisiert, und durch die Aneignung und die Beherrschbarkeit des eigenen Körpers im Tanz den desolaten und unkontrollierbaren Lebensumständen in den afroamerikanischen Gettos eine symbolisch-körperliche Praxis entgegensetzt. Dabei hat sich Hip Hop/BBoying im Laufe der Zeit von einer symbolisch agierenden, lokalen Subkultur zu einem transkulturell und global vernetzten Kulturmodell entwickelt.2
G RACE
UNDER PRESSURE : DER SOZIOKULTURELLE UND SOZIALPSYCHOLOGISCHE K ONTEXT Ein großer Teil der kulturellen Techniken des Hip Hop entwickelte sich in New York und dort in dem Stadtteil South Bronx. Um einen Überblick und Verständnis für die soziokulturellen Hintergründe dieser Entwicklung zu gewinnen, lohnt es sich etwas ausführlicher die empirisch fundierten Erkenntnisse der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Tricia Rose hier noch einmal nachzuzeichnen:3 Eine bereits Ende der 1950er Jahre einsetzende städteplanerische Entwicklung hatte einen großen Einfluss auf die
2
Vgl. George Lipsitz: Dangerous Crossroads. Popmusik, Postmoderne und die Poesie des Lokalen, St. Andrä-Wördern: Hannibal Verlag 1999; Stefanie Menrath: Represent what – Performativität von Identitäten im Hip Hop, Hamburg: Argument Verlag 2001; Gabriele Klein/Malte Friedrich: Is this real? – Die Kultur des Hip Hop, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.
3
Vgl. Tricia Rose: Black Noise. Rap Music And Black Culture In Contemporary America, Hanover: Wesleyan University Press 1994, S. 31-32; dies.: Ein Stil, mit dem keiner klar kommt. Hip Hop in der postindustriellen Stadt, in: SPOKK (Hg.): Kursbuch Jugendkultur, Mannheim: Bollmann Verlag 1997, S. 142-156.
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Entstehung des Hip Hop. Diese Entwicklung führte zu massiven sozialen und ökonomischen Veränderungen innerhalb der South Bronx. Besonders ausschlaggebend hierfür war der 1959 begonnene Bau des Cross Bronx Expressway. Es handelt sich hierbei um eine sechsspurige Autobahn, die mitten durch die Bronx verläuft und damit die South Bronx vom Rest der Bronx abschneidet. Durch den Bau wurden über 60.000 Wohnungen vernichtet und die demographische Lage des Stadtteils extrem verändert: Viele Familien der Mittelschicht zogen aus dem bis dahin heterogen strukturierten Stadtteil an den Stadtrand New Yorks, weil die Arbeitsplätze durch die neuen Verkehrswege, wie den Cross Bronx Expressway, nun einfach zu erreichen waren. So entwickelte sich die South Bronx zu einem inner-cityGetto weiter, das vor allem von AfroamerikanerInnen, von EinwanderInnen der Westindischen Inseln sowie PuertoricanerInnen bewohnt wurde und bis heute wird.4 Darüber hinaus stieg zu dieser Zeit die Arbeitslosenquote in den USA. Eine große Zahl der EinwohnerInnen der South Bronx arbeitete in genau den Industriezweigen, in denen durch die einsetzende wirtschaftliche Rezession, die damals vorangetriebenen Rationalisierungsmaßnahmen und die Computerisierung besonders viele Arbeitsplätze abgebaut wurden. Dies schuf eine wirtschaftlich prekäre Situation: Das durchschnittliche ProKopf-Einkommen Mitte der 1970er Jahre in der South Bronx betrug lediglich rund 5.200 US-Dollar (sonstiges New York 9.682 US-Dollar) im Jahr, während die Kindersterblichkeit bei 29 pro 1000 Geburten lag (sonstiges New York 5 von 1.000 Geburten).5 Die Gettoisierung und die soziale und ökonomische Verelendung führten wiederum zu einem Wertverlust der Gebäude. HausbesitzerInnen investierten immer weniger in ihr Eigentum. Oftmals wurden Menschen Opfer so genannter heißer Sanierungen: Durch Brandstiftung wurde versucht, den Wertverlust durch Versicherungszahlungen auszugleichen. Im Jahr 1975 verloren beispielsweise bei 13.000 Bränden 10.000 Menschen ihre Woh-
4
Eine solche Entwicklung lässt sich bei allen Großstädten der USA beobachten. Vgl. dazu Sudhir Alladi Venkatesh: Innen Schoko - außen Vanille. Wer wohnt wo in den Großstädten der USA, in: Le Monde diplomatique, Nr. 7208, Berlin: TAZ Verlag 4.11.2003; ders.: Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben, New York 2008, dt. München: Econ Verlag 2008.
5
Vgl. Nelson George in: Charlie Ahearn/Jim Fricke: Yes Yes Y’all – Oral History of Hip Hop’s First Decade, Cambridge: Da Capo Press 2002, S. Viii.
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nungen.6 Tony Silver, Regisseur von Style Wars, einem der einflussreichsten Filme über die frühe Hip Hop-Szene7, beschreibt den Stadtteil wie folgt: „I remembered what the Bronx looked like after the Cross Bronx Expressway had been built. It was the beginning of the burnt down Bronx. It looked like a bombed city, a little like pictures of Berlin after the war.“8 Dies führte wiederum dazu, dass nicht nur das soziale Umfeld gut funktionierender Nachbarschaften, sondern auch bis dahin funktionierende Familienstrukturen zerstört wurden. Auf diese Weise vergrößerte sich der Einfluss der Straßengangs innerhalb der South Bronx. Statt dem Bandenwesen Einhalt zu gebieten, zog sich die Polizei aus weiten Teilen dieses Stadtteils zurück. Diesen Missstand machten sich die Gangs zunutze und teilten den Bezirk durch Kämpfe unter sich auf. So entstand innerhalb der South Bronx Anfang der 1970er Jahre ein rechtsfreier Raum, in dem sich Hip Hop zunächst unbeobachtet und ungestört entwickeln konnte, da es dort überall Orte wie zum Beispiel Abrisshäuser gab, in denen ohne Strafverfolgung Graffitis gesprayt und illegale Partys, so genannte Block Partys9, gefeiert werden konnten.10 Bemerkenswert ist, dass durch diese illegale Struktur eine Entwicklung einsetzen konnte, die zur Transformation einer Gangkultur in eine friedliche Sub- und global erfolgreiche Popkultur beitrug. Der Musikjournalist und Filmproduzent Nelson George weist auf einen weiteren dynamischen Aspekt hin, der diese Entwicklung begünstigte: Er beschreibt die Atmosphäre Anfang der 1970er Jahre als „grace under pressure“11. Er meint da-
6
Vgl. ebd., S. viii.
7
Style Wars. Tony Silver (Regie). USA: Wienerworld Limited/MVD Visual
8
Tony Silver in: Martha Cooper: Hip Hop Files. Photographs 1979-1984, Köln:
1983/2007. MZEE Productions 2004, S. 168. 9
Block Partys, auf denen TänzerInnen in Wettbewerben gegeneinander antraten, sind keine genuine Erfindung der Hip Hop-Kultur, sondern haben eine lange Tradition innerhalb der afroamerikanischen Community. Vgl. hierzu Katrina Hazzard-Gordon: Jookin’. The Rise Of Social Dance Formations In AfricanAmerican Culture, Philadelphia: Temple University Press 1990, 154-162.
10 Vgl. Nelson George in: Charlie Ahearn/Jim Fricke: Yes Yes Y’all – Oral History of Hip Hop’s First Decade, Cambridge: Da Capo Press 2002, S. ix. 11 Ebd., S. ix.
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mit den absoluten Willen zu überleben und die Suche nach einer eigenen, individuellen Ausdrucksform und Selbstentfaltung (self-expression). Ehemalige Gang-Mitglieder setzten ihre Auseinandersetzungen auf symbolischer Ebene fort und kreierten so innerhalb weniger Jahre eine Kultur, in der auf den Ebenen Tanz (B-Boying/Breakdance), Musik (MCing, DJing) und ‚Malerei‘ (Graffiti/Writing) Wettbewerbe ausgetragen und um Ruhm (fame) und Ansehen gekämpft wurde. Ein Zeitzeuge, B-Boy Burn, beschreibt den Übergang und die fordernde Atmosphäre des Kampfes (ums Überleben) wie folgt: „All the gangs would fuckin’ rock. They would hustle and they would rock. You’re a gang member and you go to somebody’s neighborhood to dance and you got fifteen people lined up behind you ready to kick ass. Much tension. If I go in there and dis you, your friends are going to jump me. Some get mad ’cause they got burned, but the real ones, they got respect.“12
Sein B-Boy-Kollege Fabel unterstützt ihn darin, indem er Kreativität, Skills und Stil als Merkmale von Überlegenheit definiert: „The original style was [...] based more on flavor, finesse, freezes, footwork, toprocking. The drop – how you get from being on top down to the ground – that was just as important. Going into your footwork, how you went into your freeze, and how you came out of your freeze, and how came back up to your feet. All of those things were vital and sometimes made the difference between loosing a battle or winning a battle. We took things very serious back then. There was a lot at stake, like your whole neighborhood laughing at you.“13
In dieser Atmosphäre von Anerkennung durch Wettbewerb und symbolischem Kampf sieht der Musikjournalist und Autor David Toop den kreativen Motor, durch den sich diese Kultur innerhalb kürzester Zeit nahezu explosionsartig entwickeln konnte. Es wurde „aus den beschränktesten Quellen einer verarmten Umgebung geschöpft und ein Maximum an außergewöhnlicher Kreativität erzielt. Am Anfang lagen die Rapper,
12 Ahearn/Fricke: Yes Yes Y’all, S. 12. 13 Ebd., S. 12.
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Tänzer, DJs und Graffiti-Künstler nachts wach, um sich Tricks auszudenken, mit denen man die Konkurrenz ausschalten könnte. Der Wettbewerb war gnadenlos, aber dafür wurde viel erfunden.“14
Rose sieht die Entwicklung der Hip Hop-Kultur im Allgemeinen und des BBoying im Besonderen nicht nur im Kontext einer sich transformierenden Gangkultur. Für sie entstand Hip Hop aus der komplexen Verbindung von kulturellen, afrodiasporischen Traditionen und gesellschaftlichen und politischen Bedingungen.15 Eine besondere Bedeutung für diese Entwicklung hat für Rose dabei die postindustrielle Großstadt mit ihrer ambivalenten Mischung aus den bereits erwähnten Mängeln und Einschränkungen sowie der Verfügbarkeit neuester Technologien. Sie beschreibt, wie beispielsweise erst durch die qualitative Verbesserung von Autolack-Sprühdosen, den freien Zugang zu Abrisshäusern, sowie das Abtauchen in die Anonymität von U-Bahnen und deren Nutzung als Publikationsfläche die Grundlage für die Entwicklung des Kunststils Graffiti geschaffen wurde. Durch das Sprayen auf U-Bahnzüge fand die Graffiti-Kunst eine schnelle Verbreitung in allen fünf Stadtteilen New Yorks und damit eifrige NachahmerInnen. Ähnliches gilt auch für die Musik: RapperInnen und DJs profitierten von der Entwicklung einer einfachen und preiswerten Übertragungsmöglichkeit in Form der Musikkassette. Damit produzierten und vertrieben sie so genannte Mix-Tapes16. Das MixTape ist im Hip Hop bis heute eine sehr beliebte Form der Distribution. Schnell produziert, stellt es ein aktuelles Dokument, eine Art Straßenzeitung dar, die über den Status Quo der jeweiligen Hip Hop-Szene Auskunft gibt. Die Mix-Tapes wurden wiederum auf leistungsstarken, so genannten boomboxes (oder auch „Getto-Blastern“) in Parks oder auf Sportplätzen in ganz New York abgespielt und die Musik damit einer größeren Zuhörerschaft zugänglich gemacht.
14 David Toop: Rap Attack 3. African Jive bis Global Hip Hop, 3. erw. Aufl., London 1991, dt. Höfen: Hannibal Verlag 1992, S. 167. 15 Vgl. Rose: Black Noise, S. 64. 16 Vgl. Thomas Blondeau: Der Sound der Straße. Die Musikindustrie ärgert ihr kreatives Umfeld, in: Le Monde diplomatique, Nr. 8500, Berlin: TAZ 08.02. 2008, S. 23.
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Ökonomischer Mangel und der gleichzeitige Versuch, diesen durch Kreativität und Erfindungsreichtum zu kompensieren, sind für Rose eine weitere wichtige Motivation. Sie beschreibt, wie die Computerisierung zu einer vermehrten Beschäftigungslosigkeit unter den Jugendlichen führte. Viele der ersten Hip Hop-KünstlerInnen fanden trotz guter Berufsausbildung keine Arbeitsplätze, insbesondere in Bereichen, die im Zuge der Computerisierung wegrationalisiert wurden. So verdienten viele (der) Hip Hop-KünstlerInnen ihr Geld mit Gelegenheitsjobs und setzten ihr obsolet gewordenes Wissen ein, um die künstlerische und technologische Entwicklung des Hip Hop voranzutreiben. Der DJ Grandmaster Flash nutzte beispielsweise seine Kenntnisse als Elektrotechniker und erweiterte durch die Entwicklung einer Vorhöreinrichtung am DJ-Mischpult die Möglichkeiten rhythmisch-musikalischen Arbeitens. Darüber hinaus wurden in den 1970er Jahren die Etats für Schulmusikprogramme drastisch gekürzt und den SchülerInnen damit der Zugang zu „klassischen“ Instrumenten als Einstieg in das Musizieren erschwert. Dies ist für Rose ebenfalls ein wichtiger Grund, warum ‚aufgenommene‘ (recorded) Musik als kreative Ausdrucksform so wichtig wurde.17 Neben diesen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen spielen bei der Entwicklung der Hip Hop-Kultur die afrodiasporische Tradition und die Bedeutung, die in diesem Kontext der Musik und dem Tanz zufallen, eine zentrale Rolle.
T RANSPLANTED TRANSATLANTIC – M USIK UND T ANZ ALS G RUNDLAGE AFROAMERIKANISCHER K ULTUR Um nachvollziehen zu können, wie elementar Musik und Tanz für die Entwicklung der afroamerikanischen Kultur ist, ist es notwendig, an dieser Stelle kurz auf die zentralen Aspekte afrikanischer Kulturen einzugehen.18
17 Vgl. Rose: Black Noise, S. 34-35. 18 Ich betrachte Kultur mit Clifford Geertz als ein vom Menschen „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe, in das er verstrickt ist“ (Geertz, S. 9) und das nach Karl H. Hörning von einem Geflecht von Praktiken in Gang gehalten, reproduziert und dabei auch transformiert werden kann (Hörning, S.139). Kultur wird darüber hinaus, nach Paul Bohanann und Dirk van der Elst, „immer ‚lokal‘ er-
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Afrikanische Kulturen, vornehmlich die Kulturen südlich der Sahelzone sind so genannte oral cultures.19 In oral cultures wird: „Wissen in der Form einer multimedialen Inszenierung aufgeführt [...], die den sprachlichen Text unablösbar einbettet in Stimme, Körper, Mimik, Gestik, Tanz, Rhythmus und rituelle Handlung. [...] Feste und Riten sorgen im Regelmaß ihrer Wiederkehr für die Vermittlung und Weitergabe des identitätssichernden Wissens und damit für die Reproduktion der kulturellen Identität. Rituelle Wiederholung sichert die Kohärenz der Gruppe in Raum und Zeit.“20
Neben den unterschiedlichen Techniken der Wissenskonservierung und der Vermittlung kultureller Werte haben sich innerhalb der oral cultures adäquate Kommunikationsformen und -strukturen entwickelt.21 Da das gesprochene Wort sowie sämtliche oral kommunizierten Inhalte ihrer Gestalt nach
worben – genau daraus erwächst ihre Vielfalt und Variabilität“ (Bohanann/van der Elst, S. 55). Daraus, so Bohanann und van der Elst weiter, ergeben sich zwei unterschiedliche Sichtweisen auf Kultur. Bei der einen liegt der Schwerpunkt auf der Wahrnehmung für „die dem Menschen eigene charakteristische Art des Erwerbs und der Erfindung von Verhaltensweisen“ (ebd.). Bei der anderen Sichtweise handelt es sich um die Wahrnehmung „charakteristische[r] Gebräuche und Rituale einer bestimmten Gesellschaft, ihre[r] technischen Errungenschaften und Fertigkeiten, Organisationen, Werte und ihre[r] Sprache“ (ebd.) sowie ihrer (kulturellen) Wandlungsprozesse. Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987; Karl H. Hörning: Kultur als Praxis, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1, Stuttgart: Metzler 2004, S. 139-151, Paul Bohannan/Dirk van der Elst: Fast nichts Menschliches ist mir fremd – wie wir von anderen Kulturen lernen können, Wuppertal: Peter Hammer 2002. 19 Im Unterschied dazu haben sich die so genannten literate cultures ausdifferenziert, die vornehmlich das geschriebene Wort und dessen Ableitungen wie Bücher, Zeitungen oder Computer als Wissensspeicher benutzen. Vgl. hierzu Ben Sidran: Black Talk. Schwarze Musik – die andere Kultur im weißen Amerika, New York 1971/1981, dt. Hofheim: Wolke Verlag 1985, S. 27-44. 20 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H.Beck 1999, S. 56f. 21 Vgl. Sidran: Black Talk.
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flüchtig und zeitgebunden sind, können sie nur im Moment des kommunikativen Aktes von den an diesem Akt Teilhabenden wahrgenommen werden. Somit müssen selbst die kleinsten Modifikationen registriert und unmittelbar verarbeitet werden, da sie sonst der Gemeinschaft verloren gingen. Vor diesem Hintergrund haben sich in den oral cultures hinsichtlich des auditiven Wahrnehmungsvermögens und der Formen verbaler und stimmlicher Artikulation spezielle Kommunikationstechniken und -fähigkeiten entwickelt. Hierzu gehören die Ausbildung differenzierter Ausdrucks- und Wahrnehmungsmöglichkeiten (expressive und semantifizierende Gestaltung22 von Musik) und ein hohes Maß an Improvisationsvermögen in Form permanenter Paraphrasierung der zu vermittelnden Informationen. MusikerInnen spielen die eigenen Rhythmen und Melodien und nehmen in diesem Kontext die anderen Stimmen und Schwingungen der Gemeinschaft auf, deren Einflüsse sie in ihrem eigenen Sound wiederum auf spontane und vielfältige Weise verarbeiten. Dadurch stehen sie in permanenter Interaktion mit der Gemeinschaft. Grundlage bleibt dabei der gemeinsam gespielte Rhythmus, der eine verbindende und verbindliche Kommunikations- und Handlungsebene darstellt. Somit schafft das Musizieren als multimediale Inszenierung in oral cultures nach dem Musikethnologen John Miller Chernoff: „die geeignete Situation, um die Aufmerksamkeit auf wichtige soziale Belange zu richten und Kommentare dazu abzugeben. Die Menschen erwarten von der Musik, dass sie in enger Beziehung zur Kontextsituation entsteht und bestimmte Aspekte dieser Situation mit mehr Ausdruckskraft erfüllt.“23
22 Bei afrikanischen Sprachen handelt es sich um so genannte Tonhöhen-Sprachen, bei denen ein Wort – abhängig von seiner Modulationshöhe – eine vollkommen andere Bedeutung erhalten kann. Afrikanische Musik wiederum besteht aus rhythmischen Melodien, deren (melodische) Gestaltung sich an der Syntax und der Semantik der betreffenden Sprache orientiert. D.h., die durch die Sprache vorgegebene Grundstruktur bildet die Basis der jeweiligen Melodie. Der umgekehrte Fall – d.h. die Unterordnung des Textes unter die jeweilige Melodie – ergäbe für die SängerInnen und die HörerInnen keinerlei Sinn. Vgl. John Miller Chernoff: Rhythmen der Gemeinschaft – Musik und Sensibilität im afrikanischen Leben, Chicago 1979, dt. Wuppertal: Peter Hammer 1999, S. 99-113. 23 Chernoff: Rhythmen der Gemeinschaft, S. 94.
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Den afrikanischen Sklaven in Nordamerika war es verboten, die eigenen Lieder zu singen und eigene Religionen zu pflegen. Zwar nahmen die SklavInnen die ihnen aufgezwungene neue Sprache, Musik und Religion an, blieben aber in der Form der Ausübung im Wesentlichen ihren afrikanischen Ursprungskulturen verbunden. Nach dem Historiker Sterling Stuckey entwickelten die aus den unterschiedlichsten ethnischen, religiösen und sprachlichen Zusammenhängen stammenden afrikanischen Individuen eine Art übergeordnete Form des Pan-Afrikanismus, aus der sich dann im weiteren Verlauf eine homologe afroamerikanische Kultur und Identität formte.24 Eine solche (übergeordnete) Instanz, die zur Ausbildung einer neuen, afroamerikanischen Kultur und Identität führte, ist für Stuckey der ring shout.25 Das Wort shout bezieht sich hierbei nicht auf den Gesang oder den Schrei, sondern auf einen kreisförmigen Tanz. Sein Ursprung weist zurück auf die weit verbreiteten Kreistänze West- und Zentralafrikas. Im ring shout tanzen die Teilnehmenden mit rhythmischem Schritt (shuffle) gegen den Uhrzeigersinn. Der ring shout ist mehr als nur ein gemeinschaftlicher Tanz: In ihm vermischen sich Tanz, religiöse und weltliche Themen, Lernen durch Geschichten (so genannte toasts26) und verbale Wettbewerbsspiele (so genannte playin’ the dozens27) sowie Musik zu einem gemeinschaftsstiftenden Ereignis. Der ring shout wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zu der Grundform musikalischen, religiösen und gesellschaftlichen Handelns.28
24 Vgl. Sterling Stuckey: Slave Culture: Nationalist Theory and the Foundation of Black America, New York: Oxford University Press 1987, S. 3-97. 25 Vgl. ebd., S. 16. 26 Toasts sind längere, gereimte Erzählungen über verbale und körperliche Wettkämpfe, wie z.B. The Signifyin’ Monkey And The Lion oder Stagger Lee. 27 Playin’ the dozens sind (rhythmisierte) Reimwettbewerbe, in denen es darum geht, GegnerInnen durch Beleidigungen zu besiegen. 28 Vgl. Robert Winslow Gordon: Negro ‚Shouts‘ from Georgia, in: Alan Dundes (Hg.): Mother Wit from the Laughing Barrel. Readings in the Interpretation of Afro-American Folklore, New Jersey/London: Prentice-Hall 1973, S. 446-447 und Samuel A., Jr. Floyd: Ring Shout! Literary Studies, Historical Studies, and Black Music Inquiry, in: ders. (Hg.): Black Music Research Journal, Nr. 11/2, 1991, Chicago: Columbia College 1991, S. 266, Hazzard-Gordon: Jookin’, S. 81.
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Innerhalb dieser ring shouts entwickelte sich ein Musizierverhalten, das von substanzieller Bedeutung für die weitere Entwicklung der afroamerikanischen Musik war. Der Musikwissenschaftler Samuel A. Floyd, Jr. fasst die Ausdrucksformen innerhalb des ring shouts wie folgt zusammen. Es finden sich „[…] calls, cries, and hollers; call-and-response devices; additive rhythms and polyrhythms; heterophony, pendular thirds, blue notes, bent notes, and elisions; hums, moans, grunts, vocables, and other rhythmic-oral declamations, interjections, and punctuations; off-beat melodic phrasings […]; constant repetition of rhythmic and melodic figures and phrases (from which riffs and vamps would be derived); timbral distortions of various kind; musical individuality within collectivity; game-rivalry; hand-clapping, foot-patting, and approximations thereof; and the metronomic foundational pulse that underlies all Afro-American music.“29
Diese idealtypische Beschreibung des ring shouts ist für Floyd die Blaupause afroamerikanischer Musik, und die oben beschriebenen Elemente kommen in unterschiedlicher Ausprägung in jedem afroamerikanischen Musikstil vor. Im Kontext der Entwicklung des afroamerikanischen Tanzes im Allgemeinen und des B-Boying im Besonderen sind die in dem vorangegangenen Zitat aufgeführten kulturellen Praktiken der konstanten Wiederholung rhythmischer und melodischer Phrasen (constant repetition of rhythmic and melodic figures), der musikalischen Individualität im Kontext eines Kollektivs (musical individuality within collectivity) sowie Wettbewerbsspiele (game-rivalry) von großer Bedeutung. Die konstante Wiederholung musikalischer Phrasen im Ritual des ring shouts bildet die Grundlage zur Partizipation. Der shuffle step, der rhythmische Tanzschritt, leitet dieses Ritual ein. Nach ihm richten sich die Partizipierenden und auf ihn bauen alle weiteren Gesänge, rhythmisch vorgetragenen Geschichten u.v.m. auf. Gleichzeitig können die Teilnehmenden durch die zyklische Gestalt jederzeit „einsteigen“ sowie die Rhythmen, Texte/Inhalte und Melodien angemessen wahrnehmen. Darüber hinaus haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich innerhalb eines ring shouts öffentlich miteinander zu messen. Zwischen den AkteurInnen entsteht so einerseits ein überindividuell verbinden-
29 Floyd: Ring Shout!, S. 267-268.
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des Gemeinschaftsgefühl, andererseits wird ihnen durch die Erlaubnis zur Improvisation die Möglichkeit zur Entwicklung und Entfaltung einer eigenen, sehr persönlichen „Stimme“ gegeben. Und schließlich spiegeln sich im ring shout inhaltliche Themen auf gestischer und mimischer wie musikalischer Ebene, das heißt Musik erfüllt niemals einen reinen Selbstzweck. Sie bezieht sich immer unmittelbar auf Sprache und Bewegung, indem zum Beispiel zu rhythmisch-musikalisch vorgetragenen Geschichten (toasts) getanzt wird und die TänzerInnen gleichzeitig die Inhalte der Erzählungen gestisch darstellen: “In the dancing ring, participants also mime and interpret the rhythms of drummers for entertainment and mime the dramatic actions of storytellers.“30 Floyd sucht nun eine übergeordnete Denkfigur, um dieses intermediale Agieren adäquat beschreiben zu können. Er findet diese in der Technik des call&response. Mit call&response bezeichnet man das Wechselspiel zweier oder mehrerer Instrumente (Instrumentengruppen) oder SängerInnen (Sängergruppen), die sich in einer Art Dialog miteinander befinden. Dabei wird die von einem Instrument oder einem/r Sänger/in vorgetragene musikalische Phrase (call) von einer anderen Stimme (bzw. Sängergruppe) oder einem anderen Instrument (bzw. einer Instrumentengruppe) aufgenommen und variierend beantwortet (response). Floyd erkennt in dieser Technik innerhalb des ring shouts eine Entsprechung bei der Technik und den rhetorischen Strategien des Signifyin’ Monkey, wie sie von dem Literaturwissenschaftler Henry Louis Gates Jr. für die afroamerikanische Sprache beschrieben wurden.31 Hinter der Figur des Signifyin’ Monkey verbirgt sich – dies sei in diesem Zusammenhang kurz umrissen – zunächst ein komplexes Gefüge aus Kommunikationstechniken und rhetorischen Mitteln wie zum Beispiel das Sprechen in Andeutungen, Wettbewerbssituationen (verbal duelling), Doppeldeutigkeiten oder Codes (um nur einige Beispiele zu nennen). Darüber hinaus ist der Signifyin’ Monkey die rhetorische Metafigur, die die kommunikativen Akte innerhalb einer durch die oral culture geprägten afroamerikanischen Gesellschaft strukturiert. Beschrieben werden kann diese Metafigur kommunikativen Handelns als ein ständiges para-
30 Samuel A. Floyd Jr.: The Power Of Black Music. Interpreting Its History From Africa To The United States, Oxford: Oxford University Press 1995, S. 21. 31 Vgl. ders.: Ring Shout!, S. 267.
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phrasierendes Wiederholen von Informationseinheiten: „Repetition, with a signal difference, is fundamental to the nature of Signifyin(g).“32 In Abgrenzung zu der dialogischen Technik des call&response führt Floyd den Begriff Call-Response als übergeordnete Bezeichnung für diese Metafigur musikalisch-kulturellen Handelns ein. Call-Response subsumiert (analog zum Signifyin’ Monkey) alle musikalisch-rhetorischen Figuren wie zum Beispiel Blue Notes, call&response oder musikalisches bzw. visuellgestisches Handeln im Kontext eines Wettbewerbs. Weiterhin beschreibt die rhetorische Figur des Call-Response auch den dynamischen Prozess von Bedeutungsbildung durch paraphrasierende Wiederholung: Call bezeichnet die individuelle Stimme, die eine Melodie singt und/oder einen Rhythmus schlägt. Response meint die Aufnahme und Wiederholung dieser Stimme in (s)einer Differenz. Response verweist zugleich auf den Ursprung und auf die Variationen des Calls. Gleichzeitig ist dies kontextabhängig, denn mit der paraphrasierenden Aufnahme findet auch eine erneute Individualisierung statt. Aus dem Response wird in einem neuen Kontext ein neuer (individualisierter) Call, der beantwortet werden kann: „Call-Response, the master trope, the musical trope of tropes, implies the presence within it of Signifyin(g) figures (calls) and Signifyin(g) revisions (responses, in various guises) that can be one or the other, depending on their context.“33 Aus diesem Grund ist es leicht nachvollziehbar, dass sich afroamerikanische Musik in den ring shouts im Kontext von Tanz (und Gesang) entwickelt hat und besonders durch Tanz geprägt und geformt wurde. Floyd beschreibt dies wie folgt: „When dancers are dancing, it is how they relate to what the musicians play and how the musicians react to their movements, gestures, and urgings that make the dance a success, for it is the dancers’ physical Signifyin(g) that excites other dancers and musicians alike: a bump here, a grind there, a nod here, a dip there. Within black life, it is culturally, socially, and artistically significant – something fraught with cultural memory and, in that sense, quite meaningful to actual and potential signifiers. It is this manifestation of materiality, this physical realization of the Signifyin(g) mode, inside and outside the ring, that creates and makes possible intracultural, in-
32 Henry Louis Gates Jr.: The Signifying Monkey – A Theory of African-American Literary Criticism, New York: Oxford University Press 1988, S. 51. 33 Floyd: The Power Of Black Music, S. 95.
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terdisciplinary aesthetic communication. It is to this materiality that we must attend if we are fundamentally to understand the music, for it is in the material manifestations of Signifyin(g) that reside many of the clues and cues to the perception of black music and its evaluation.“34
Afroamerikanische Musik ist untrennbar mit visuell-gestischen Äußerungen (Tanz, Mode und Körpersprache) und mit der sprachlichen Praxis verbunden und wird durch diese geformt. Entscheidend ist die intermediale Verbindung aller Elemente während der Performance, das heißt die Transformationsvorgänge von Sprache in Musik, Musik in Tanz, Tanz in Rhythmus, Rhythmus in Sound usw. An dieser Stelle seien einige Beispiele schlaglichtartig genannt: Die toasts in den ring shouts wurden tanzend rezipiert; die cries, calls und hollers der ring shouts wurden in die Gesänge des Gospels und des Blues übernommen; die sich dort entwickelnden expressiven Ausdrucksformen fanden wiederum Eingang in den Soul und den Funk; die Tanzwettkämpfe der ring shouts waren die Vorlage instrumentaler battles im Jazz; BluesmusikerInnen übernahmen die Traditionen oraler Erzählkunst (toasts und dozens) und überführten diese in ihre Musik; Jazzpianisten übernahmen Spielweisen der New Orleans Marchingbands und kreierten daraus einen neuen Piano- und Musikstil (Jazz); die verbal duellingStrategien der dozens wurden die Vorlage für Raps im Hip Hop usw. Call-Response bildet somit die Grundlage für die Entwicklung musikalischer Stile bzw. der afroamerikanischen Kultur. Gleichzeitig strukturiert Call-Response das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft. Hier beziehe ich mich auf den Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan Assmann, der das kulturelle Gedächtnis als eine Instanz beschreibt, die ihr Selbstbild als Gemeinschaft über kulturelle Handlungen herstellt. Dabei richtet sich das „kulturelle Gedächtnis [...] auf Fixpunkte in der Vergangenheit.“35 Das bedeutet, dass es eine Art von „mythischer Urgeschichte“ gibt, der durch kodierte, festgelegte Symbole und Rituale immer wieder aktualisiert wird und so für die Identität einer Gemeinschaft sorgt.36 Darüber hinaus führt Assmann mit der Unterkategorie des kommunikativen Gedächtnisses eine weitere Differenzierungsmöglichkeit ein. Darunter fallen für ihn alle „Erinne-
34 Ebd., S. 96f. 35 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 52. 36 Vgl. ebd., S. 56.
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rungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies die Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt.“37 Diese entstehen informell durch die alltägliche Kommunikation und umschließen eine Spanne von drei bis vier Generationen ein.38 Durch die Wiederholung traditionalisierter musikalischer Strukturen, Formen und Techniken (CallResponse) kann das kulturelle Gedächtnis von AfroamerikanerInnen somit bis zurück zu den ring shouts in der Gegenwart aktualisiert werden. Dies geschieht auf allen Ebenen des kulturellen Handelns. Dabei werden immer wieder historische Symbole, Texte oder Bewegungen aufgenommen und in den aktuellen Kontext integriert. Eindrückliches Beispiel in diesem Kontext ist für mich die Entstehung und Entwicklung des B-Boying.
S TYLE AS CONFRONTATION : D IE E NTWICKLUNG B-B OYING (B REAKDANCE )
DES
Um diese strukturbildende Qualität des Call-Response am B-Boying besser nachvollziehen zu können, scheint es mir an dieser Stelle notwendig, genauer auf den Ursprung und die Entwicklung der wichtigsten Tanzbewegungen einzugehen. Das B-Boying entstand Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre parallel sowohl an der Ostküste (New York) und an der Westküste (Los Angeles, Fresno). Grundlage für alle Bewegungsformen waren die damals angesagten Funktänze. In New York entstand mit dem Tanz Good Foot, dessen Name auf den James Brown-Hit Get On The Good Foot zurückgeht, die erste Vorform des B-Boying. Die Tanzfiguren des Good Foot bestanden in der Hauptsache aus einer Abfolge komplizierter Schrittkombinationen.39 Inspiriert waren diese von dem gleitenden Tanzstil James Browns, vom Kampfstil Muhammad Alis mit seinen kurzen tänzelnden Schritten und den Kampfbewegungen der in dieser Zeit populär werdenden Martial-Arts-Filme. Daneben fanden sich in diesem Tanz bereits erste artistische Bewegungsabfolgen. Die
37 Ebd., S. 50. 38 Ebd., S. 56. 39 Vgl. Eva Kimminich: Tanzstile der Hip-Hop-Kultur: Bewegungskult und Körperkommunikation, DVD mit Booklet und Figuren-Lexikon, Freiburg/Berlin: o.A. 2003, S. 3.
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B-Boys/B-Girls ließen sich im Rhythmus der Musik zu Boden fallen (drop) und schnellten durch Drehbewegungen (spins) wieder in den Stand. Dies brachte ihnen den Spitznamen boie-oie-oings ein.40 Daneben entwickelten Ex-Black Spades-Mitglieder den so genannten Comedy Style, der sich durch komödiantische und pantomimische Elemente, wie den Pinguingang Charly Chaplins, auszeichneten. Hier ist sehr spannend nachzuvollziehen, wie sich Tanz und Musik im Hip Hop gegenseitig im call&response entwickelten: Die DJs reagierten auf die Tanzenden, folgten diesen in ihren Bewegungen und suchten nach Rhythmen und Sounds, die die Tanzenden in ihren Aktionen unterstützten. Die Musik musste die Tanzenden begeistern, sie musste die polyrhythmische Struktur bieten, die die Tanzenden für ihre komplexen und polyzentrischen Bewegungen brauchten, anderenfalls wurden sie wieder verworfen oder überarbeitet. Der Hip Hop-Journalist Harry Allan bestätigt diesen interaktiven Aspekt in einem Interview mit Joseph Schloss: „Joe: Do you see, for instance, a bunch of people dancing to a record as a form of performance? Harry Allan: Oh, absolutely. It’s performance for themselves. For each other. And it’s a way that people tell each other, “This is an important record.” And, as such, these important ideas. And, by “ideas,” I mean [sings the melody from The 900 Number, by DJ Mark the 45 King]: that’s an idea. Or the representation of an idea [...]. And, by everybody moving to that, people are saying to each other “We share this.” “This is ours.” And you can have that conversation with your body.“ 41
Aus dem Good Foot und dem so genannten Comedy Style entwickelten sich die für das B-Boying typischen Tanzfiguren, die nach Top-, Uprock- (auch Brooklyn- oder Battlerock genannt) und Downrock-Figuren (auch Floor-, Footwork oder Styles genannt) unterschieden werden. Top- und Uprocks sind individualisierte Tanzschritte, die oftmals die Einleitungssequenz eines
40 Vgl. Michael Holman: Breaking: The History, in: Breaking and the New York City Breakers, New York 1984, wiederveröffentlicht in: Murray Forman/Mark Anthony Neal (Hg.): That’s The Joint! The Hip-Hop Studies Reader. New York/London: Routledge 2004, S. 36. 41 Harry Allan zitiert nach: Joseph G. Schloss: Making Beats: the art of sampledbased hip-hop, Middletown: Wesleyan University Press 2004, S. 181-182.
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Tanzes darstellen und in die provozierende mimische und gestische Elemente integriert sind, um die gegnerischen TänzerInnen herauszufordern. Durch einen Drop gelangt der/die Tanzende auf den Boden, um Downrocks auszuführen. Downrocks sind Tanzbewegungen, bei denen mit aufgestützten Händen komplizierte Schrittfolgen getanzt werden. Diese dienen wiederum als Ausgangspunkt für Back- und Headspins, schnellen Pirouetten auf dem Rücken und dem Kopf, sowie einer großen Anzahl weiterer Powermoves. Diese bestehen aus artistischen Bewegungen, wie zum Beispiel der Windmill, einer „Drehung [...] um die Körperlängsachse mit abwechselndem Bodenkontakt von Schultern, Bauch oder Rücken mit ausgestreckten Beinen.“42 Ein Tanz (Routine) endet meist mit einem Freeze. Ein Freeze ist eine bestimmte Position, in der die TänzerInnen erstarren: Beim Hollowback Freeze werden im Handstand die Beine so weit nach hinten gebogen, bis sie fast den Boden wieder berühren und der/die Tanzende so in einem extremen Hohlkreuz auf den Händen steht. Beim Suicide springt der/die Tanzende aus dem Stand hoch und fällt auf den Rücken. Der Freeze stellt den individualisierten Abschluss eines Tanzes dar, dessen abrupt angehaltene ‚Aussagen‘ „auf einen ‚Standpunkt‘ fixiert“43 werden. Scheinbar ohne jegliche Mühe schließt der/die Tanzende mit einer schwierigen Figur ab, um absolute Kontrolle zu dokumentieren: über die Situation, den eigenen Körper und über den/die GegnerIn. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es eigentlich keiner weiteren Bewegung mehr bedarf, da alles zu Erwartende nicht an das eigene Können heranreichen wird.44
42 Kimminich: Tanzstile der Hip-Hop-Kultur, S. 31. 43 Vgl. Joseph G. Schloss: Foundation. B-boys, b-girls, and hip-hop in New York, Oxford/New York: Oxford University Press 2009, S. 86-90. 44 Als erste organisierte B-Boy-Crew gelten die Zulu Kings, die sich Anfang der 1970er Jahre in New York formierten. Als weitere Gruppen sind die Nigga Twinz, Seven Deadly Sinners, Shanghai Brothers, Bronx Boys oder Zulu Queens zu nennen. Die bis heute bekannteste und erfolgreichste B-Boy/B-GirlCrew ist die Rock Steady Crew mit TänzerInnen wie Crazy Legs, Mr. Wiggles, Frosty Freeze, Lady Doze, Pop Master Fabel oder Ken Swift. Vgl. Nichole Beattie/ Lindy D. (Hg.): Hip Hop Immortals, New York (USA) 2003, dt. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2003.
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An der Westküste der USA, in Los Angeles und Fresno, entwickelten sich zur gleichen Zeit die Tanzstile Locking, Popping und der Electric Boogaloo. Das Locking wurde 1969 von Don Campell sowie von Locktron und Shabba Doo in den Gettos von Los Angeles erfunden.45 Grundlage waren Funktänze im Stil des sprichwörtlichen Funky Chicken (der/die TänzerIn ahmt mit Armen und Beinen die Bewegungen eines Huhns nach). Zudem entwickelten sich Tanzfiguren, die auf hyperbolisch-parodistische Weise Bewegungsabläufe des alltäglichen Lebens aufnahmen, wie beispielsweise die den Stop-and-go-Rhythmus in einer Warteschlange aufgreifende Bus Stop oder die Imitation von Roboterbewegungen, wie sie in Science Fiction-Serien wie Lost In Space zu sehen waren. Diese zunächst einfachen Bewegungsabläufe wurden durch Kombinationen in komplexe Bewegungsabläufe überführt. So entwickelte „Don Campell [...] hydraulische, roboterartige, extrem kontrollierte Bewegungsabläufe, die er durch wilde, unkontrollierte Bewegungen unterbrach; das Ganze wurde durch eine auf Komik abzielende Mimik begleitet.“46 Inspiriert vom Locking kreierten Boogaloo Sam und seine Brüder Poppin Pete und Ticking Deck in Fresno, einer Kleinstadt zwischen Los Angeles und San Francisco, den Boogaloo Style. In diesem Stil waren die Bewegungen nicht so abgehackt, sondern erhielten eine weiche, fließende und raumgreifende Note.47 Aus dem Boogaloo Style entwickelte Boogaloo Sam schließlich das Popping. Dieser Tanzstil basiert auf einer isolierten Kontraktion einzelner Muskelpartien. Die einzelnen Bewegungen der TänzerInnen wirken dabei explosionsartig und wie unter Strom gesetzt. Boogaloo Sam gründete 1977 zusammen mit anderen Tänzern The Electronic Boogaloo Lockers. Ein Jahr später änderten sie ihren Namen in Electric Boogaloos und begannen die unterschiedlichen Popping-, Lockingund Boogaloo-Stile zu kombinieren. Seitdem werden diese Stile auch unter dem Begriff Electric Boogaloo (Electric Boogie) subsumiert.48 Dabei entstanden Ausdifferenzierungen und Weiterentwicklungen der einzelnen Stile, wie zum Beispiel das Ticking, eine Bewegung, bei der der/die Tanzende
45 Vgl. Kimminich: Tanzstile der Hip-Hop-Kultur, S. 9. 46 Ebd., S. 10. 47 Der Name Boogaloo geht zurück auf den James Brown-Song Do The Boogaloo, nach dem die TänzerInnen gern übten. 48 Vgl. Kimminich: Tanzstile der Hip-Hop-Kultur, S. 12-14.
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aussieht wie in Schwingung versetztes Metall; das Waving, wellenförmige Bewegungen, die durch den ganzen Körper verlaufen oder der Backslide, eine Bewegung, bei der der/die Tanzende aussieht, als ob er/sie vorwärts geht, sich aber tatsächlich rückwärts bewegt.49 Verbreitung fanden die West Coast-Tanzstile vor allem durch das Musik-Fernsehen. Durch einen Auftritt der Lockers-Tanzcrew Don Campells in der TV-Show Soul Train50 am 25. Januar 1975 wurde der neue Tanzstil an der Ostküste bekannt und fand Eingang in das Bewegungsrepertoire der B-Boys und B-Girls in New York.
T HE B ATTLE C IRCLE : D IE K ONSTRUKTION G EMEINSCHAFT IM T ANZ
VON
Die Kunstform B-Boying thematisiert durch die Körperbewegungen, Tanzfiguren und Rituale wohl am überzeugendsten ihre Verbindung zu der Gangkultur amerikanischer Großstädte: Verfeindete Gangs trafen sich und begannen, sich auf körperlich-symbolischer Ebene auseinanderzusetzen, statt mit Waffen oder Fäusten um Gebiete (turfs) zu kämpfen. Dabei übernahmen die Kombattanten, bewusst und unbewusst, die Kampfstrategien und Regularien von Wettbewerbspielen, wie sie sich seit den ring shouts entwickelt hatten. Innerhalb der block partys fanden auf symbolischer Ebene Auseinandersetzungen zwischen zwei oder mehreren KontrahentInnen vor Publikum statt. Es wurden Wettkämpfe ausgetragen, die sich an den Strukturen der (playin’ the) dozens orientierten und im Hip Hop-Kontext bis heute battles genannt werden: B-Boys/B-Girls treten mit
49 Diese Tanzbewegung wurde von dem R&B-Sänger Michael Jackson adaptiert und 1978 durch den Musikclip Blame It On The Boogie als Moon Walk weltweit bekannt. The Jacksons: Blame It On The Boogie. Von dem Album The Very Best Of The Jacksons. USA: Epic/Sony 1978/2004. 50 Soul Train gilt bis heute als eine der einflussreichsten Shows für die Präsentation afroamerikanischer Musik und afroamerikanischen Tanzes. Die vor über dreißig Jahren von Don Cornelius entwickelte und produzierte Show startete im Oktober 1971 mit einer einzigartigen Mischung aus Gospel, Blues, Jazz, Funk, Soul und Hip Hop. Vgl. http://www.soultraintv.com (11.08.2005).
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ihrer Posse51 in so genannten battle circles gegeneinander an, MCs bekämpfen sich verbal auf der Bühne und DJs zeigen ihr Geschick an den Plattentellern bei DJ Battles. Das Publikum oder eine Jury entscheidet über die Qualität. Ziel all dieser Aktionen ist es, der Beste oder die Beste zu sein; „man muss einen Stil finden, mit dem keiner klar kommt.“52 Wie bei den WriterInnen, den DJs und MCs, führten der Kampf und die Wettbewerbssituation im Hip Hop zu einem permanenten Druck, die eigenen Skills zu verbessern und zu erweitern. B-Boys/B-Girls suchten nach Inspiration in den unterschiedlichsten Tanz- und Bewegungskulturen und überführten (flippten53) diese in ihre eigenen Tanzstile. Eine wichtige Inspirationsquelle war nach dem Hip Hop-Künstler Michael Holman die vielfältige Tradition afroamerikanischer Tänze: So wurde der im B-Boying praktizierte Leg Hop (bei dem man mit dem rechten Bein über den horizontal abgewinkelten Unterschenkel des linken Beins springt) direkt von den Nicholas Brothers, ein in den 1930er Jahren sehr beliebtes Flash (bzw. Jazz) Dance-Duo, übernommen.54 Ein anderes Beispiel findet sich im Electric Boogaloo. Die gleitenden Bewegungen des Poppings haben ihren Ursprung im Virginia Essence, einem Tanz, der in den Minstrel Shows getanzt wurde (und dessen Tanzschritte an die gleitenden Bewegungen eines Schlittschuhläufers erinnerten). Der Virginia Essence wiederum ist eine Fusion aus dem Shuffle Step (ein rhythmisierter Tanzschritt, der von den afrikanischen SklavInnen in den ring shouts praktiziert wurde) und dem Clog Dancing (eine Stepptanzform) englischer EinwanderInnen.55 Weitere für das BBoying bedeutsame afroamerikanische Tanzstile waren unter anderem Tänze aus den Vaudeville-Theatern. Über die Tänzerin Ida Forsyne fanden Tanzfiguren russischer Volkstänze Eingang in den afroamerikanischen Tanz. So übernahm sie Anfang des 20. Jahrhunderts eine Tanzfigur aus dem Kazotsky Tanz (bei dem der Tänzer in der Hocke und auf die Arme ge-
51 Posse = Gruppe, auch Musik- (z.B. 2 Live Crew) oder B-Boy-Gruppe (z.B. Rock Steady Crew). 52 Rose: Ein Stil, mit dem keiner klar kommt, S. 153. 53 Flippin’ bzw. flippin’ the script bezeichnet im Hip Hop das Konzept, Wörter, Musik, Bewegungen oder Sounds aufzunehmen und leicht verändert zu wiederholen. 54 Holman: Breaking: The History, S. 35. 55 Vgl. ebd., S. 33.
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stützt die Beine nach vorne bewegte) und schuf damit eine Vorlage für die Downrocks.56 Die hier aufgeführten Beispiele verdeutlichen zwei Dinge: Zum einen entstand der afroamerikanische Tanz, parallel zur afroamerikanischen Musik, durch die akkulturative Verbindung von afrikanischen und europäischen Volkstanztraditionen. Zum anderen steht das B-Boying als primär afroamerikanische Tanzform genau in dieser Tradition. Es nimmt ältere Tanztraditionen auf und entwickelt diese in einer ständigen „Bewegung“ von Nachahmung und (Re-)Kombination mit anderen Tanzkulturen und Bewegungskulturen weiter: So entstand aus dem Shuffle Step der afrikanischen SklavInnen in Kombination mit dem Irish Jig der Tap Dance. Aus dem Tap Dance entwickelte sich der Flash- bzw. Jazz Dance der 1930er Jahre und daraus wiederum der in den 1940er Jahren aufkommende Lindy Hop. James Brown kreierte mit Good Foot seinerseits neue, gleitende Tanzbewegungen, indem er Elemente des Flash Dance und des Lindy Hop mit dem Camel Walk, einem alten Tanz der Minstrel Shows, kombinierte.57 B-Boys/B-Girls (re-)kombinierten nun diese Tänze und erweiterten sie mit Elementen aus pop- und volkskulturellen Bewegungs- und Alltagskulturen58: Aus den Kampfbewegungen der Martial-Arts-Filme übernahmen sie die Drehbewegung der Beine (mit der ein Kämpfer vom Boden aufsteht) und entwickelten den Powermove Windmill. Aus Bewegungselementen des brasilianischen Kampftanzes Capoeira leiteten die B-Boys/B-Girls zum Beispiel den Powermove Airchair ab. Dabei handelt es sich um einen Freeze, bei dem das komplette Körpergewicht auf dem in die Hüfte gestützten Ellbogen ruht. Science Fiction-Filme oder die ersten Computerspiele wie Tekken Tag Tournaments oder Streetfighter wurden zum Ausgangspunkt für Popping-Bewegungen wie dem Robot Dance, dessen gleitende Fußbewegungen wiederum ihren Ursprung im Virginia Essence haben. Betrachtet man dieses Interagieren von Bewegungskulturen und Gesten unter dem weiter oben beschriebenen Aspekt afroamerikanischen Kulturhandelns, so lässt sich dieses Interagieren sehr gut mit der bereits oben dar-
56 Vgl. ebd., S. 35. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. Jorge ‚Popmaster‘ Fabel Pabon: It Isn’t What We Wear, It’s How We Rock It, in: Martha Cooper: Hip Hop Files. Photographs 1979-1984, Köln: MZEE Productions 2004, S. 210.
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gestellten Denkfigur des Call-Response beschreiben. Die TänzerInnen nehmen Figuren aus zurückliegenden Epochen auf und wiederholen diese in ihrer Differenz. Dabei entsteht nicht nur eine Kette von Signifikanten, die auf ein ursprüngliches Signifikat verweisen oder die Ausgangspunkt für etwas Zukünftiges sind. Vielmehr entsteht durch die – keinem chronologischen Prinzip folgende – (Re-)Kombination von Figuren und Stilen ein Bewegungs- oder Äußerungsrepertoire, das es ermöglicht, angemessen auf persönliche und gesellschaftliche Verhältnisse zu reagieren. Diese Annahme bestätigt auch die Kulturwissenschaftlerin Eva Kimminich, die auf diskursanalytischer Ebene herausarbeitet, wie die oben beschriebene Form oralen (körperorientierten) kulturellen Handelns zu einem identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Prozess werden kann.59 Sie sieht im Hip Hop „ein sich selbst generierendes System, das sich unter Stress zu regenerieren versucht, indem [es] sich durch ‚prospektive Regression‘ selbst erneuert.“60 Das heißt, bei einem Mangel an funktionsfähigen Angeboten werden durch das variative Wiederholen vorliegender Texte, Zeichen und Bewegungen „Rollen aus weiter zurückliegender Vergangenheit oder aus anderen Kulturen zur Verfügung [gestellt]. [...] Diese werden aus ihrem ehemaligen Kontext herausgelöst und in neue Geschichten eingebettet [...] und stellen ein Surrogat derjenigen Ressourcen dar, die den Mitgliedern einer [...] Gemeinschaft im Allgemeinen zur Verfügung stehen.“61
Durch ihren vielfältigen Gebrauch und das variationsreiche flippin’ sind Tanzfiguren Bestandteil eines kulturellen Netzwerks unzähliger Geschichten – „eingeschrieben“ und tradiert durch und in Bewegungsabläufe(n). B-
59 Vgl. Eva Kimminich/Claudia Krülls-Hepermann (Hg.): Wort und Waffe. Welt – Körper – Sprache – Perspektiven kultureller Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, Bd. 2, Frankfurt/M.: Peter Lang 2001; Kimminich: Tanzstile der HipHop-Kultur; dies.: ‚Lost Elements‘ im ‚MikroKosmos‘. Identitätsbildungsstrategien in der Vorstadt- und Hip-Hop-Kultur, in: dies.: Kulturelle Identität – Konstruktionen und Krisen. Welt – Körper – Sprache – Perspektiven kultureller Wahrnehmungs- und Darstellungsformen, Bd. 3, Frankfurt/M.: Peter Lang 2003, S. 45-88. 60 Vgl. Kimminich: ‚Lost Elements‘ im ‚MikroKosmos‘, S. 87. 61 Ebd., S. 87.
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Boying hält, in Anlehnung an Lothar Mikos, der das für die musikalische Technik des Samplings im Hip Hop ausgearbeitet hat, „[...] das kulturelle und kommunikative Gedächtnis lebendig und trägt auf diese Weise zur Reproduktion von Kultur bei.“62 In diesem Sinne möchte ich vom B-Boying als einer Institution sprechen. Beim B-Boying handelt es sich in meiner Vorstellung um keine an einen bestimmten Ort gebundene, sondern um eine ‚performative‘, an die Körper gebundene Form von Institution. Diese Institution entsteht im Moment des Tanzes innerhalb des performativen Aktes des battle circles. Grundlage sind die Narrative der Tanzbewegungen im Kontext der rhythmisch-musikalischen Struktur der Breakbeats63 und der Raps.64 Dabei dienen die Tanzbewegungen als Ausgangsmaterial für eine aktive Herstellungsleistung von persönlichem Sinn und Kohärenz, die sich gleichzeitig durch eine soziale Abgrenzung nach außen selbst vergewissert. Ein eindrückliches Beispiel hierfür liefert der Film Rize, eine Dokumentation über den sich ab den 1992er Jahren aus dem B-Boying entwickelnden Kampftanz Krumping. In mehreren Einstellungen betonen die TänzerInnen und ihre Familienangehörigen die Wichtigkeit des battle circles als eine Institution, durch die im Getto Kunst entsteht. Dazu die Tänzer Dragon und Lil C: „[Lil C] In besseren Vierteln gibt es alle Arten von Tanzschulen, für Ballett, modernen Tanz, Jazztanz, Stepptanz… Da gibt es jede Menge angesehener Schulen, wo man hingehen kann. Aber nicht da, wo man wohnt – wo wir wohnen. [Dragon] Wir kommen aus der inner-city, dem Getto, aus dem südlichen L.A., aus Watts, der East Side, Compton […], wo’s nichts gibt. Hier gibt’s kein Freizeitprogramm, und wenn du nicht Football spielen willst, denn ein Footballteam gibt’s überall, weil die denken, in der inner-city sind alle Sportler. Was nicht stimmt: nicht alle spielen Basketball, nicht alle spielen Football. Aber was gibt es hier sonst? Also
62 Lothar Mikos: „Interpolation and sampling“: Kulturelles Gedächtnis und Intertextualität im HipHop, in: Jannis Androutsopoulos (Hg.): Hip Hop: Globale Kultur – lokale Praktiken, Bielefeld: transcript Verlag 2003, S. 81-82. 63 Der Breakbeat entsteht durch das abwechselnde und ununterbrochene Abspielen einer bestimmten rhythmischen Sequenz (Breaks) auf zwei Plattenspielern, die mit einem Mischpult verbunden sind. 64 Vgl. Schloss: Foundation. B-boys, b-girls, and hip-hop in New York.
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haben wir Folgendes gemacht: Wir haben uns zusammengefunden und das hier erfunden.“65
Für beide Tänzer ist ihre Kunstform eine Art „(Getto-)Ballet“, ein Möglichkeitsraum zum künstlerischen und ästhetischen Ausdruck in einem Stadtteil, in dem keine ‚normalen‘ Tanzstudios öffnen und sich die Freizeitangebote eher an stereotypen Sichtweisen auf die inner-city-Jugend orientieren. In anderen Interviews betonen die ProtagonistInnen die soziale Seite stärker, indem sie sehr eindrücklich beschreiben, dass sie als Angehörige einer Tanzcrew nicht von den Gangs ihres Viertels rekrutiert werden. Das heißt, man ist nicht nur im battle circle ein Tänzer, eine Tänzerin, man ist es auch in einem übergeordneten gesellschaftlich bedeutsamen Kontext. Die Bewegungs- und Tanzfiguren des B-Boying (und neuerer Hip HopTänze) entstanden und entstehen aus dem rekombinierenden Rückgriff (Call-Response) auf ältere afroamerikanische Tanzstile (wie z.B. Flashbzw. Tap Dance) einerseits und der variativen Übernahme von Bewegungsabläufen aus populärkulturellen Artefakten (z.B. Martial Arts-, ComicFilme oder Computerspiele) andererseits. Dabei thematisiert das B-Boying von Beginn an die Lebensverhältnisse, in dem es entstand, und setzt durch die Aneignung und die Beherrschbarkeit des eigenen Körpers im Tanz den desolaten und unkontrollierbaren Lebensumständen in den afroamerikanischen Gettos eine symbolisch-körperliche Praxis entgegen, die für Kontinuität, Identität und Kontrolle steht. Zudem legen sie Zeugnis davon ab, wie die leidvollen Erfahrungen mit strukturellem Rassismus und sozialer Verelendung auch auf körperlicher Ebene verarbeitet wurden (und werden); und sich durch vielfältiges ästhetisches Handeln eine symbolisch agierende und sozial bedeutsame lokale Subkultur entwickelt(e) – ein Modell, das sich durch seinen Erfolg und seine breite Akzeptanz auch auf globaler und ökonomischer Ebene durchsetzte und eine eigenständige, auch kommerziell erfolgreiche Popkultur hervorbrachte.
65 Vgl. Rize. David LaChapelle (Regie). USA: AL!VE/rem 2005.
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Das Lokale vermarkten: The Festival of India und Dance Umbrella1 J ANET O’S HEA
The Festival of India präsentierte in den 1980er und 1990er Jahren in einem groß angelegten Format ‚Indische Kultur‘. Ursprünglich in Großbritannien 1982 das erste Mal realisiert, fand es bald auch in anderen Ländern wie den USA, Frankreich, Deutschland und China statt.2 Dabei verfolgte das Festival das Anliegen, einen umfassenden Überblick über indische Kultur zu vermitteln und sollte ein globales Publikum ansprechen. So boten verschiedenste Veranstaltungsorte diverse Vorstellungen von ‚klassischem‘ indischen Tanz (Bharata natyam, Kathak, Odissi und Kathakali), über nordund südindische klassische Musik bis hin zu populären und volkstümlichen Musik- und Tanzformen; Museen zeigten Ausstellungen zum Thema Indien, und Kaufhäuser sowie kleine Galerien dekorierten ihre Schaufenster mit indischen Motiven; Künstler demonstrierten ihre handwerklichen Fähigkeiten vor einem Publikum in Galerien und in Vorlesungssälen und in den USA sogar auf einer Freifläche der Washington Mall. In Großbritannien
1
Mein Dank geht an Jens Giersdorf für das Lesen früherer Entwürfe dieses Textes und an Neelima Jeyachandran, die mir half, Quellenmaterial zum Tourismus in Indien zu finden.
2
Vgl. für eine vollständige Aufzählung aller nationalen Orte und Daten des Festivals of India siehe Purnima Shah: National Dance Festivals in India: Public Culture, Social Memory, and Identity, Unpublished PhD dissertation, University of Wisconsin, Madison 2000, S. 33-34.
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wurde im Museum of Mankind (heute The British Museum) ein GujaratiDorf nachgebaut, um den Eindruck des alltäglichen Lebens in Indien zu vermitteln. Das Festival of India wurde von institutioneller Seite konzipiert und offiziell von politischer Seite unterstützt: Die Idee für das Festival stammte ursprünglich vom britischen Botschafter in Indien und wurde als eine Zusammenarbeit der beiden Premierministerinnen Indira Gandhi und Margaret Thatcher realisiert. Dabei können die Veranstaltungen des Festivals als zentralisiert beschrieben werden: zum Einen in einem lokalen Sinn, da jeweils die wichtigsten und größten Veranstaltungsorte und Theater mit einbezogen wurden, zum Anderen auch in einem metaphorischen Sinn, denn die Liste der eingeladenen Gäste liest sich wie das „Who’s who“ der indischen Kunst der 1980er Jahre: So traten beispielsweise als Musiker Ravi Shankar und M.S. Subbulakshmi, im Tanz Sanjukta Panigrahi, Alarmel Valli und Birju Maharaj auf. Sowohl die Ziele als auch die Auswirkungen des Festivals hatten globale Implikationen. Es war eine diplomatische Geste, mit der man versuchte, die Beziehungen zwischen Indien und den damaligen Weltmächten zu fördern.3 Dieses diplomatische Anliegen sollte durch den Austausch im Bereich der Künste und Performances realisiert werden. Ganz anders präsentierte und organisierte sich anfangs das Dance Umbrella Festival, auch wenn es eine ähnliche Begriffswahl in seiner Selbstbeschreibung verwendete. Es wurde 1978 initiiert und entstand aus der britischen New Dance Bewegung. Als eine Plattform für unabhängige Kunst und für freischaffende Künstler war es zunächst an einem einzigen, kleinen Ort angesiedelt: dem Riverside Studio. Während das Festival of India großformatig angelegt, repräsentativ und global orientiert war, so verkörperte Dance Umbrella zunächst genau das Gegenteil. Es war ein unmittelbares, lokales und von der künstlerischen Basis organisiertes Festival des zeitgenössischen Tanzes. Allerdings hatte es von Anfang an auch transnationale Bestrebungen, denn schon zu den ersten Festivals wurden Künstler wie Anne Teresa De Keersmaeker, Michael Clark und Trisha Brown eingeladen. Diese TanzprotagonistInnen repräsentierten zur damaligen Zeit
3
Das Festival of India sollte auch dafür genutzt werden, Beziehungen zu weniger machtvollen Nationen aufzubauen, wie beispielsweise Mauritius, Trinidad, Tobago und Guyana, um damit die großen Auswanderungsströme von Indien dorthin anzuerkennen. Vgl. Shah: National Dance Festivals in India, S. 34.
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das Verständnis von zeitgenössischem Tanz in Großbritanien, das von Entwicklungen im europäischen Festland, England und Nordamerika in den 1980ern geprägt war. Eher langsam – über einen Zeitraum von 30 Jahren – entwickelte sich Dance Umbrella zu einer Mainstream Tanzplattform, auf der die weltweit bekanntesten zeitgenössischen Tanzkompanien in Londons anerkanntesten Theatern auftraten. In beiden Fällen entstanden die Festivals als eine Reaktion auf ein wahrgenommenes Defizit in der internationalen Sichtbarkeit der jeweils nationalen Kulturproduktion. Das Indian Council of Cultural Relations initiierte das Festival of India, um die internationale Wertschätzung von indischer Kunst, Kultur und Tradition zu fördern. Die Organisatoren von Dance Umbrella entwickelten ihr Festival, um eine damals gängige Vorstellung zu widerlegen, dass zeitgenössischer britischer Tanz lediglich ein Ableger von Strömungen und Entwicklungen in Nordamerika und Festlandeuropa sei. Beide Events zielten somit darauf hin, ‚Differenz‘ herauszustellen und gleichzeitig integrativ zu wirken. Ich untersuche im Folgenden diese beiden Beispiele, weil sie scheinbar unterschiedlichen Wegen (trajectories) in der Programmentwicklung von Festivals folgen. Da das Festival of India ein spektakularisiertes, offizielles und globales Unterfangen war, provozierte es zugleich die Entwicklung eines Gegenfestivals: Das Festival of India in Britain als eine lokale und aus der künstlerischen Basis sich entwickelnde Veranstaltungsreihe, die die indische Kunst von ausgewanderten indischen Künstlern präsentierte. Demgegenüber verläuft die Entwicklung von Dance Umbrella entgegengesetzt: Während es anfangs unabhängig und lokal war und einen Gegenpol zum Mainstream in seiner Programmgestaltung setzte, so wurde es über die Jahre hinweg bürokratisierter, anerkannter und entwickelte ein hochkarätiges Profil. Diese gegensätzlichen Entwicklungen provozieren Fragen nach der politischen Dimension von Festivals und nach den Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten einer alternativen oder dem Mainstream widerstehenden Festivalgestaltung. Sie bieten ein ideales Feld, um die Politik der Zurschaustellung (politics of display) und Alternativen zu den dominanten Modi der Präsentation und Praktiken des Schauens zu erforschen. Anhand dieser beiden Beispiele möchte ich die Mechanismen und Strukturen von Festivals im globalen Kontext untersuchen. Ich schlage dabei vor, dass die zunehmende Verbreitung von Festivals mit drei anderen geschichtlichen Entwicklungen bzw. Phänomenen korreliert: die Verbin-
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dung von Wissenschaft und Kulturtourismus, imperialistische Präsentationspraktiken und die Konstruktion von nationalen Identitäten. In der Programmierung von Festivals – wie andernorts auch – fungiert Tanz oftmals als ein Emblem kultureller Besonderheit4 und als ein „destination image“5, d.h. eine Art Leitbild, das die Summe aller Assoziationen zu einem Bild darstellt. Im Tanz verbindet sich scheinbar Kultur im Sinne von Kunst mit Kultur im Sinne einer Lebensweise.6 Präsentationsformen (modes of display) von Festivals verhandeln daher sich verändernde soziale und politische Umstände und tanzende Körper nehmen an diesen Prozessen maßgeblich teil. Der hier von mir gewählte Zugang ist hauptsächlich archivarisch und theoretisch. Meine Analyse basiert auf schriftlichen Quellen des Festivals of India, primär auf den eigenen schriftlichen Zeugnissen des Festivals sowie Kritiken aus Zeitungen und Magazinen. In Erweiterung dessen lese ich diese mit theoretischen Texten quer, die im Feld der Süd-Asien Dance Studies, der Anthropologie des Tourismus und postkolonialen Studien zum Empire und zu Ausstellungen zu verorten sind. Ziel dieses Aufsatzes ist es daher weniger, eine umfassende Analyse der beiden Festivals zu leisten, sondern vielmehr Bedeutungsspektren dieser Festivals innerhalb eines globalisierten Tanzmarktes aufzuzeigen. Zu diesem Zweck behandle ich Tanzfestivals als Institutionen: als etablierte Konstrukte, die auf Aufführungen sowohl kuratorisch als auch ökonomisch strukturierend wirken. Ebenso betrachte ich Festivals als eine Art von Choreographie: als ein Entscheidungsträger, der bestimmt, wo tanzende Körper auftreten. Diese Entscheidungen – wie auch in der Choreographie von Bühnenproduktionen – sind jeweils bestimmt von einer spezifischen ‚Politik der Repräsentation‘ (politics of representation). Darüber hinaus ist Tanz in Festivalkontexten eng verwoben mit Institutionen der Zurschaustellung: unter anderem mit imperialen Ausstellungspraktiken und mit Institutionen des transnationalen Reisens wie dem Tourismus.
4
Susan Reed: Dance and the Nation: Performance, Ritual, and Politics in Sri
5
Jane Desmond: Staging Tourism: Bodies on Display from Waikiki to Sea World,
6
Vgl. ebd., S. 17.
Lanka, Madison: University of Wisconsin Press 2010, S. 5. Chicago and London: University of Chicago Press 2001, S. 12.
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F ESTIVALS , T OURISMUS UND Z USCHAUERPERSPEKTIVEN
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KOLONIALE
Ich möchte hier die Beziehung zwischen Festivalprogrammierung und Tanzvorführungen in Hinblick auf die Vorstellung untersuchen, dass Festivals durch Aufführungen (spectacle) und Zurschaustellung versuchen, (von Neuem) Kontrolle über Möglichkeiten der Selbst-Repräsentation zu erlangen.7 Ein Festival, das als „feierlicher Event“8 in seiner Bandbreite über einzelne Aufführungen hinausgeht, hat in der Regel Überschneidungen mit dem täglichen Leben. Aber so sehr sie auch mit diesen alltäglichen Elementen interagieren, so sehr sind Festivals doch immer auf eine Außenwirkung ausgerichtet („geared toward display“)9, indem sie für gewöhnlich ihre Praktiken und Formen spektakularisieren. Sie operieren als „a form of environmental performance“10, die eine multi-sensorische und multi-fokussierte Wahrnehmung fordern: also entweder eine partielle Aufmerksamkeitsstreuung oder eine hoch disziplinierte Fokussierung.11 Als solches verlangen Festivals von ihren Zuschauern andere Wahrnehmungskompetenzen als einzelne Tanzaufführungen. In den letzten 40 Jahren kam es zu einer allgemeinen Verbreitung von Festivals, die durch ihren Eventcharakter zunehmend in Verbindung mit der Tourismusindustrie stehen.12 Festivals weisen dabei unter anderem deshalb eine Verbindung zum Tourismus auf, wie Kirshenblatt-Gimblett argumentiert, weil sie ‚Kultur‘ in konzentrierter Form darbieten.13 Darüber hinaus nähern sich Festivals und Tourismus auch darin an, dass beide ‚Reisen‘ choreographieren: Sie strukturieren Bewegungen von Körpern sowohl im unmittelbaren als auch im transnationalen Raum. Und mehr noch, weisen Festivals und Tourismus eine Schnittstelle in ihren theoretischen Prämissen
7
Vgl. Barbara Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture: Tourism, Museums, and Heritage, Los Angeles/Berkeley: University of California Press 1998, S. 25.
8
David Picard/Mike Robinson (Hg.): Festivals, Tourism and Social Change, Re-
9
Ebd.
making Worlds, Clevedon: Channel View Publications 2006, S. 1. 10 Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture, S. 59. 11 Vgl. ebd., S. 57f. 12 Picard/Robinson: Festivals, Tourism and Social Change, S. 2. 13 Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture, S. 59.
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hinsichtlich ihrer jeweiligen historischen Vorstellungen von Kultur und seiner Repräsentation in Aufführungen und im Reisen auf. Zudem kann man Festivals in Zusammenhang mit einem anthropologischen Blick bringen, insofern sich Festivals in der Regel derart verstehen, dass sie Praktiken und Performances auf der Bühne zeigen, die als nicht leicht zugänglich, als übersehen bzw. missachtet oder als ‚unbekannt‘ gelten. Festivals gehen damit in einer traditionellen anthropologischen Weise vor:14 Sie konstituieren, wenn auch nur temporär, eine Sammlung kultureller Artefakte. Tourismus und Anthropologie gemeinsam, so Sally Ness, ist eine „common cultural legacy“: Sie sind beide „journey-centered pursuits“, die im 19. Jahrhundert im nordwestlichen Europa entstanden sind.15 Als Kulturanthropologin lenkt Ness dabei ihre Aufmerksamkeit auf die Konflikte zwischen Anthropologie und Kulturtourismus; Konflikte die ihrer Ansicht nach aus der in Europa etablierten Dichotomie zwischen Arbeit und Freizeit resultieren. Ich werde hier weniger diese Konflikte zwischen Tourismus und ‚Kultur‘, sondern vielmehr ihre gemeinsame Geschichte untersuchen und die Ansicht vertreten, dass Festivals Teil einer Geschichte der Anthropologie sind, aufgrund der sich Schnittstellen zwischen Anthropologie, Präsentationsformen und Unterhaltung konstatieren lassen. Kulturtourismus (cultural tourism) operiert seit Langem in einem Modus des Sammelns. Das ursprüngliche Anliegen reisender Europäer und später Nordamerikaner war im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Immersion in die ‚Kultur‘ der besuchten Region. Kultur wurde hier als eine Mischung aus Kunst, Architektur, Sprache und Lebensstil verstanden. Das Aufkommen der europäischen Körperkultur- und Gesundheitsbewegung im 19. Jahrhundert und die zunehmenden Möglichkeiten unterschiedlicher Klassen, auch der Arbeiterschichten, zu reisen, ebenso wie die neuen schnelleren Verkehrsmittel im 20. Jahrhundert untergruben zunächst einmal diese ursprünglichen Ziele der kulturellen Immersion. Am Ende des 20. Jahrhunderts lässt sich ein Interesse am ‚Exotischen‘ konstatieren, das zu-
14 Indem ich hier Anthropologie mit der Tätigkeit des Sammelns verbinde, beziehe ich mich auf eine traditionelle amerikanische Form anthropologischer Praxis, die mit Franz Boas verbunden wird: die Dokumentation von Praktiken suggeriert dabei, dass sie ‚selten‘ oder vom Verschwinden bedroht sind. 15 Sally Ness: Where Asia Smiles: An Ethnography of Philippine Tourism, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2003, S. 5.
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gleich mit einer bewussten Ablehnung von Pauschalreisen einhergeht, so dass die Tourismusindustrie und die Reisenden neue Strategien entwickeln, um ihre Reisen, insbesondere von Freizeitreisenden, abzugrenzen. Eine solche Strategie besteht darin, ein konsequentes Anliegen mit der Reise zu verfolgen; Öko-Tourismus ebenso wie Kulturtourismus lassen sich hier in einer Kategorie einordnen. So gesehen sind die Formen des Reisens wieder bei ihrem Ursprung angekommen: von den großen Touren der kulturellen Immersion über die Gesundheits- und Freizeitreisen hin zum Kulturtourismus. Allerdings gibt es zentrale Unterschiede zwischen dem heutigen Kulturtourismus und den großen Reisen der Vergangenheit. Im Kulturtourismus ist ‚Kultur‘ verdichtet, eingekapselt und verpackt; es ist kein Ort der Immersion, sondern ein Artefakt, das gekauft werden kann. In diesem Zusammenhang werden Performances unterschiedlichster Art immer wichtiger für den Kulturtourismus, da sie diese verdichtete Form von Kultur scheinbar in besonderer Weise repräsentieren.16 Tanz, Musik und Theater, die zu Hause meistens als reine Unterhaltung wahrgenommen werden, suggerieren als Erfahrungen auf Reisen eine intellektuelle Tiefe und ein utopisches Versprechen inter-kultureller Verständigung. Wissenschaftliche Texte nicht nur im Rahmen der Anthropologie tragen – so meine These – zu diesem Prozess bei, in dem Räume erst zu kulturellen Orten gemacht werden, oder wie Kirshenblatt-Gimblett es formuliert, ein undefinierter Ort zu einem Reiseziel avanciert.17 Sobald Anthropologen – wie auch andere Autoren – einer Gegend zu Bekanntheit verhelfen, indem sie diese als zugleich exotisch aber auch aufgrund ihrer ‚Kultur‘ als wertvoll für die Betrachtung etablieren, zieht diese Region auch das Interesse von anderen Reisenden an. Diese Vorstellung von einer kulturellen Bedeutung eines Ortes verleiht dem Tourismus Seriösität, indem sie Reisen als eine intellektuelle Tätigkeit auszeichnet und es möglich macht, kulturbezogenes Reisen von reinem Erholungsurlaub zu unterscheiden. ‚Anthropologisierte‘ Orte wie beispielsweise der Südpazifik, Bali und Java werden so zum ‚Anderen‘ stilisiert und damit langfristig identifiziert. So strahlen sie eine Anziehungskraft aufgrund ihrer ‚kulturellen‘ Zuschrei-
16 Für eine weiter Diskussion zur Vorstellung, dass Perfomances Kultur ‚verkapseln‘ siehe Desmond: Staging Tourism; Reed: Dance and the Nation. 17 Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture, S. 7.
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bungen (markers) aus, die sie zu wertvollen Tourismuszielen werden lassen. Diese Entwicklung trifft auch auf die boomende Tourismusindustrie in Indien zu, die stetig an Bedeutung gewinnt.18 Dabei sind die Auswirkungen einer einst kolonial bestimmten Perspektive und Wissenschaft immer noch spürbar, die eine Dichotomie zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘ herausgestellt und eine bis heute sich hartnäckig haltende Sichtweise etabliert hat, wonach Indiens bedeutende geschichtliche Phasen in der Vergangenheit liegen. Zugleich begriff diese kolonial geprägte Wissenschaft ihre aufgestellten Taxonomien als unhinterfragt allgemeingültig für das Verständnis und Analysen Indiens, z.B. seiner Gebräuche, Menschen und ‚Stämme‘. So überrascht es nicht, dass die Tourismusindustrie in Indien die klassischen Aufführungstraditionen besonders betont und inszeniert: als aus einer vergangenen Zeit stammender ‚orientalischer‘ Überfluss, wie er scheinbar in der königlichen Architektur von Moghul oder Rajasthani zum Ausdruck kommt. Zudem bestimmt eine Verbreitung von Lokalkolorid in der Form von Tanzund Musikaufführungen aus den vielen Regionen und Kulturen Indiens diese Inszenierung von fokussierter Kulturproduktion des Tourismus. In jedem dieser Fälle ist ‚Kultur‘ jener Aspekt, der einen Ort zu einer touristischen Attraktion macht und zugleich wird damit der Tourismus aufgewertet, weil er mit dem Versprechen eines kulturellen Austausches und Verstehens einhergeht, anstatt nur Unterhaltung und Erholung zu bieten. Touristenfestivals beinhalten in der Regel eine Art Rekonstruktion und Verdichtung traditioneller, einheimischer Praktiken.19 Aufführungen bieten hier eine verkürzte und vereinfachte Version von Kultur: kurz zusammen-
18 Trotz dieser stetig steigenden Bedeutung des Tourismus für Indien, ist Indien als Ort des Tourismus theoretisch erstaunlich unterbestimmt und wird nur wenig diesbezüglich in der wissenschaftlichen Literatur beachtet. Ausnahmen sind Barbara Ramusack: Tourism and Icons: The Packaging of the Princely States of Rajasthan, in: Catherine B. Asher/Thomas R. Metcalf: Perceptions of South Asia’s Visual Past, New Delhi: American Institute of Indian Studies 1994, S. 235-255; Tim Edensor: Tourists at the Taj: Performance and Meaning at a Symbolic Site, London: Routledge 1998. 19 Jane Desmond konstatiert, dass Shows für Touristen „single-note concepts of cultural difference“ betonen und dabei ein scheinbares kulturelles Verständnis ermöglichen „without requiring special preparation or verbal comprehension on the part of the audience,“ Desmond: Staging Tourism, S. 17.
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gefasst für ein leichteres Verstehen und eine einfachere Handhabung. Das Kujaraho Dance Festival ist ein Beispiel für ein indisches PerformanceFestival, das nur in Hinblick auf Touristen entstanden ist.20 Solche Events bieten eine kulturelle Darbietung an einem einzelnen Ort und für jene Reisenden, die weder die Zeit noch die Bereitschaft haben, für jede dieser unterschiedlichen Kunst-, Tanz, und Musikformen einen anderen Ort aufzusuchen und den damit verbundenen Problemen des Zugangs und Verständnis. Events wie das Festival of India und das neuere in London stattfindende India Now! Festival (2007) haben ein ähnliches Format: Sie bieten Kultur in einer verdichteten Form an, so dass der Besuch des Festivals wie eine Form des Tourismus operiert, allerdings ohne die Notwendigkeit zu reisen. Gleichwohl sind diese Events auch indirekt Werbung fürs Reisen, indem sie potentiellen Touristen einen kleinen Vorgeschmack davon geben, was sie auf einer Reise in die hier repräsentierten Länder erleben könnten. Solche internationalen Spektakel präsentieren Performances als eine Art Snapshot oder als Postkarte von Kultur.21 Performance fungiert in dieser Art von Festival als ein eigenständiges, wenn auch reduziertes Emblem für Kultur. Dieses Image eines Reiseziels (destination image) verleitet zum Reisen, indem es Menschen von einem Ort, der scheinbar weniger kulturell indentifziert ist – und damit keine spezifische kulturelle Geschmacksnote zu haben scheint – zu solchen Orten leitet, an denen ‚Kultur‘ leicht zugänglich scheint. Insbesondere dem Tanz kommt dabei als ein Werbebild nicht nur in Bezug auf so klassische Beispiele wie Hawaii und Bali, sondern auch in Bezug auf Indien eine Schlüsselfunktion in Werbekampagnen und Reiseführern zu. Das Ausmaß, in dem Bilder von klassischen indischen Tänzern dabei zirkulieren, ist beachtenswert, besonders angesichts der globalen Verbreitung, die diese Tanzformen erfahren haben. Denn ein Tourist aus Houston, London, Mexico City oder Stockholm hat mittlerweile genauso die Möglichkeit, Vorstellungen von Bharata natyam, Odissi oder Kathak in heimischen Veranstaltungsorten wie in Theatern in Chennai oder Delhi zu sehen. Das ist eines der vielen Beispiele, in denen nationale Tourismusbüros ihre Länder auf der Grundlage ihrer ‚Kultur‘ vermarkten und Tanz
20 Shah: National Dance Festivals in India. 21 Vgl. für eine Diskussion zur Bedeutung der Postkarte für den Tourismus Desmond: Staging Tourism.
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dabei als eine Art Kurzschrift oder eine exemplarische und verdichtete Inkarnation der ‚Kultur‘ gilt, die zu Marketingzwecken verwendet wird. Im Gegensatz zum Festival of India, scheint das Dance Umbrella Festival auf den ersten Blick nicht Kultur (im Sinne einer nationalen Besonderheit) zu inszenieren,22 weil es zunächst einmal zeitgenössischen Tanz protegiert, der sich selbst als international und universell versteht und demnach keiner spezifischen Kultur zuordenbar scheint. Dance Umbrella möchte nicht das Spektakuläre und Einmalige dieser Tanzform herausstellen, sondern vielmehr sie als „normale“ kulturelle Praktik zeigen, die mit seiner Umgebung interagiert. So scheint es außerhalb der touristischen Netzwerke zu operieren. Allerdings ist auch für die UK, genauso wie für ‚Entwicklungsländer‘, der internationale Tourismus ein bedeutender Industriezweig.23 Auch wenn Großbritannien nicht im gleichen Maße ‚exotisiert‘ wird, so wird es doch tendenziell eher als eine große Zivilisation der Vergangenheit denn als eine der Gegenwart dargestellt. Damit wird es in ähnlicher Weise wie Orte, die orientalisiert werden, mit seiner bedeutenden Vergangenheit assoziiert.24 Besonders amerikanische Touristen reisen nach Großbritannien, um Zeugnisse einer großartigen Vergangenheit zu bestau-
22 Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture, S. 62. 23 Beispielsweise zählt die UN World Tourism Organization ca. 28,2 Millionen jährliche Besucher in der UK im Jahr 2009 (UN World Tourism Barometer 2010: S. 21, http://www.unwto.org/facts/eng/pdf/barometer/UNWTO_Barom 10_3_en.pdf). Das ist das Vierfache der Touristen, die nach Indien reisen. 24 Mein Dank geht hier an Emilyn Claid, die mich auf die Pseudo-Orientalisierung Englands, vor allem von Seiten amerikanischer Touristen, aufmerksam gemacht hat. In diesem Sinne wird England mit seiner großen Vergangenheit assoziiert und sein verloren gegangener Status als Imperialmacht lässt sich parallel lesen mit einem Phänomen, das Marta Savigliano in der Repräsentation von Spanien als das ‚Exotische‘ aufzeigt: „when the imperial tables of world power turned, the Spanish exoticizers ended up exoticized, lumped together with their passionate colonial subjects“, Marta Savigliano: Tango and the Political Economy of Passion, Boulder: Westview Press 1995, S. 86. In ähnlicher Weise hat sich das (neo)koloniale Machtgefüge von Großbritannien hin zu den USA verschoben und damit wird Großbritannien zu jenem großen, aber ‚verblassten‘ Empire. Im Unterschied zu Spanien wird es allerdings nicht als ‚leidenschaftlich‘ charakterisiert, sondern eher als ‚idyllisch‘.
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nen (z.B. Tower of London, Buckingham Palace, Shakespeares Geburtsort in Stratford-on-Avon, das rekonstruierte Globe Theatre etc.). Touristen vertiefen sich auch in die ‚Kultur‘, wie sie zum Einen scheinbar leicht zugänglich in Museen sind und auf der anderen Seite aber auch durch den Besuch von Aufführungen, besonders vom Theater, konsumiert werden kann. Eine große Anzahl von Touristen, die in ihren Heimatländern niemals Theaterproduktionen anschauen, besuchen Theater in Londons West End. Das heute großangelegte Dance Umbrella Festival und ähnliche Entwicklungen und Förderungen von bekannten, geographisch zentral platzierten Tanzveranstaltungsorten kann als Versuch gesehen werden, Tanz mit dem international hoch angesehenen Theater enger zu verknüpfen. Festivals – als groß angelegte internationale Events – sind zudem so eng mit dem Tourismus verknüpft, dass sie an der gut ausgebauten Infrastruktur teilhaben können. Für viele Entwicklungsländer ist der Tourismus eine zentrale Einnahmequelle, die jedoch für die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur für ‚luxuriöse‘ Reiseziele auch enorme Probleme für diese Länder produzierte.25 Events wie das Festival of India, so die Argumentation von Kirshenblatt-Gimblett, benötigen eine absolut moderne Infrastruktur, um die technisch hochaufwendigen Shows präsentieren zu können. Auf der anderen Seite, wie der Ökonom Bruno Frey festhält, profitieren Kunstfestivals zugleich von ihren relativ geringen Produktionskosten: So werden Künstler nicht langfristig engagiert, sondern eher für eine Show bezahlt und zudem werden ihnen keine Produktionsräume oder Residenzen zur Verfügung gestellt.26 Darüber hinaus finden Festivals als begrenzte Projektvorhaben statt, die sie für Sponsoren zu einem geringeren finanziellen Risiko machen. Als Teil einer Geschichte von Phänomenen des Spektakulären wie Kolonialausstellungen, Weltausstellungen oder andere Präsentationsplattformen, teilen Tourismus und Festivals eine ähnliche Relation zwischen Betrachten, Ausstellen und der Ausübung von Macht. Kolonialausstellungen üben beispielsweise Kontrolle über die Mechanismen des zur Schaustellens aus, indem sie Menschen aus anderen Länder und Regionen nach Europa brachten und sie dazu bewegten, ihr alltägliches Leben zu demonstrieren. Dabei wird die darin provozierte Konstellation zwischen Schauen, Lernen
25 Vgl. Kirshenblatt-Gimblett: World Heritage and Cultural Economics. 26 Vgl. hier auch den Artikel von Jennifer Elfert in diesem Band.
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und Repräsentation deutlich.27 Das Betrachten wird hier zu einem konsumtiven Akt (form of consumption), der zugleich genussvoll als auch bildend wirkt.28 Dies wird in Wissen überführt; ein Wissen, das wiederum die Rechtfertigung für diese Repräsentationsform sowie dafür wird, an Stelle anderer sprechen zu können.
F ESTIVALS , G ESCHICHTE DER KOLONIALEN AUSSTELLUNG UND NATIONALE I DENTITÄT Zentral ist sowohl für das Festival of India als auch für Dance Umbrella die Repräsentation nationaler Identität. Im Fall des Festivals of India erscheint ‚Indische Kultur‘ bestimmt durch eine Aufwertung von kulturellem Erbe und des Vergangenen, in seltenen Fällen auch als etwas, das zeitgenössische Praktiken beeinflusst zumeist aber eher als eine ‚lebende Tradition‘ gezeigt wird. Rezensionen des Festivals besprachen vor allem den klassischen Tanz, hingegen zeitgenössischen Tanz oder Überformungen weniger. Das 1982 stattfindende Festival ging zwar der Welle und Entwicklung des zeitgenössischen indischen Tanzes und vor allem dem Erfolg der bekannten Tänzerin Chandralekha voraus. Dennoch war moderner indischer Tanz zu jener Zeit gut genug etabliert: So schrieb die UK Kunstkuratorin Naseem Khan einen Artikel für die Festivalzeitung, in dem sie neue kritische Kontextualisierungen für das Verständnis von modernem indischen Tanz forderte. Die amerikanische und britische Version des Festivals of India beinhalteten auch keine populären indischen Tanzformen und im auffälligen Kontrast dazu, wie heute Festivals kuratiert werden, wurden auch keine Tanzfilme gezeigt. Die Kuratoren wählten zwar Tanzperformances, die eine Spannbreite regionaler Traditionen verkörperten (jeweils eine Vorführung von Bharata natyam, Kathak, Odissi usw.), allerdings wurden Volkstänze nur dann gezeigt, wenn die jeweilige Region scheinbar keine klassische
27 Saloni Mathur: India by Design: Colonial History and Cultural Display, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2007; Timothy Mitchell: Orientalism and the Exhibitionary Order, in: Nicholas Dirks: Colonialism and Culture, Ann Arbor: University of Michigan Press 1992; Susan Reed: Dance and the Nation. 28 Vgl. Desmond: Staging Tourism, S. 17.
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Tanzform aufzuweisen hatte. Mehr noch, das Festival in London zeigte nur Kunst, die auch aus Indien stammte und stellte keine Projekte von ausgewanderten indischen Künstlern vor.29 Trotz der globalen Implikationen und Bestrebungen des Festivals of India, verorteten die Festivalmacher indische Kunst und Kultur nur in Indien, anstatt sie als internationale, von der Diaspora verbreiteten Formen zu positionieren und ihre lange Geschichte innerhalb transnationaler Austauschprozesse aufzuzeigen und anzuerkennen. Diese Auswahl von sogenannter ‚Hochkultur‘, insbesondere von klassischem Tanz unter Ausgrenzung populärer Tanzformen und von indisch(stämmigen) Künstlern außerhalb Indiens, deutet ferner darauf hin, dass einige künstlerische Ausdrucksformen erwünschter und akzeptierter waren als andere. Wie ich an anderer Stelle ausführlich argumentiert habe,30 sind Indiens traditionelle Solotanzformen sowohl eng mit der Schaffung nationaler Identität als auch regionaler Differenzen verbunden und suggerieren eine harmonische Beziehung zwischen beiden. Jene Tanzformen, die als klassisch identifiziert werden wie Bharata natyam, Kathak und Odissi, wurden zum Beginn des 20. Jahrhunderts von jenen Tänzern und seinen Förderern refiguriert, die einen kulturellen Nationalismus als Teil einer Gegenbewegung zum Kolonialismus vertraten und die Tanz als ein Emblem nationalen Stolzes begriffen. Die Tänzer erkundeten die Geschichte ihres Tanzes und schlugen jeweils unterschiedliche Definitionen vor, was als traditionell gelten kann, je nachdem welche Quellen sie als Beweis für Alter und Tradition anführten. Im Fall des Bharata natyam markiert beispielsweise für einige Tänzer die Praxis der Kurtisaninnen im 19.. Jahrhundert und ihre Verbindung zur Hofkultur den ästhetischen Höhepunkt dieser Tanzform, während genau dies für andere den Abstieg und Verfall im Vergleich zur klassischen Epoche bedeutete, die sie wiederum eng mit Theorie und Literatur des Sanskrit verbanden. Dabei integrierten Tänzer zunehmend Verweise und in einigen Fällen auch Bewegungsmaterial, das nicht aus ihrer vermittelten Praxis stammte, sondern auf Beschreibungen aus antiken und mittelalterlichen ästhetischen Theorien oder klassischer Literatur bzw. ikonographischen Vorbildern ba-
29 Im US Festival 1985 nahmen die nordamerikanisch-stämmigen Musiker Zakir Hussain and Ali Akbar Khan teil, allerdings keine Tänzer. 30 Janet O’Shea: At Home in the World: Bharata Natyam on the Global Stage, Middletown, CT: Wesleyan University Press 2007.
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sierte. Dies lässt sich als ein Prozess betrachten, der in den1930er Jahren einsetzte und sich zum Ende des 20. Jahrhunderts rapide beschleunigte.31 Was zunächst für die Solotanzform Bharata natyam galt, setzte bald auch als eine Refiguration von Kathak, Mohini attam, Odissi und Kuchipudi ein, in der es zu einer Standardisierung dessen kam, was als Klassizismus gelten kann.32 Das Festival of India ‚kultivierte‘ aufgrund seiner Präsentationsstruktur, in der jeweils ein Tanz pro Region gezeigt wurde, das Bild einer ‚Einheit in der Diversität‘ oder ein ‚Nation aus Nationen‘-Model des indischen Nationalismus. Dies wiederum ist eng mit dem politischen Erbe Jawaharlal Nehru, Indiens erstem Ministerpräsidenten, verbunden. Während Indira Gandhi in vielerlei Hinsicht sich von den politischen Positionen Nehrus abgrenzte, konnte sie im Jahre 1982 eher davon profitieren, auf dieses ‚Nation aus Nationen‘-Ideal zurückzugreifen, weil separatistische Strömungen und Propaganda überall auf dem Subkontinent aufflammten.33 Die Zurschaustellung regionaler Vielfalt erlaubte es der indischen Regierung über diese Agitationen hinwegzusehen, indem sie mit der Festivalprogrammierung suggerier-
31 In meiner früheren Forschung habe ich die Refiguration von Bharata natyam unter nationalistischen Vorzeichen zu einem respektablen Element des kulturellen Erbes und einer angesehenen Tätigkeit für Frauen der Mittelschicht als Ausgangspunkt genommen, um zu untersuchen, wie unterschiedliche Protagonistinnen durch ihre Wahl von Choreographie, Training und Aufführungspraxis ihre verschiedenen Verständnisse von Nation zum Ausdruck brachten. Ebenso betrachtete ich, wie Tänzerinnen sich Autorität verschufen, indem sie eine feminin gedachte Tanzform nutzen, um nationale Vorstellungen von Reinheit, Spiritualität und kulturelle Integrität in die Welt hinaus zu tragen. Vgl. O’Shea: At Home in the World. 32 Ananya Chatterjea: Contestations: Constructing a Historical Narrative for Odissi, in: Alexandra Carter (Hg.): Rethinking Dance History: A Reader, London/New York: Routledge 2004, S. 143-156. 33 Shah identifiziert die Integration von „diverse and strife-torn regional communities into a unitary ‚national‘ one“ als den Hauptgrund für die Schaffung nationaler Festivals. Shah: National Dance Festivals in India, S. xi. Bharucha kritisiert diese nationalistische Erfindung von Tradition im Festival of India und anderen Inszenierungen der Regierung. Vgl. Rustom Bharucha: Theatre and the World: Performance and the Politics of Culture. London: Routledge 1993, S. 193.
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ten, dass die regionale Harmonie bei aller Differenz eine lange Tradition hat und ein integraler Bestandteil der ‚indischen Zivilisation‘ ist. Vor diesem Hintergrund konnte man die separatistischen Strömungen als ‚anormale‘ zeitgenössische Phänomene erscheinen lassen. Das Festival of India präsentierte klassischen Tanz als alt und zeitlos und dies wäre in dieser Form nicht möglich gewesen, hätten die traditionellen Tanzformen nicht auch die wirklich moderne Eigenschaft besessen, sich über Grenzen hinweg bewegen zu können. Indem die Festivalmacher Tanz als ein wiedererkennbares Ikon indischer Kultur hervorhoben, griffen sie auf eine lange Geschichte transnationalen Austausches indischen Tanzes und seiner Tänzer zurück, die bis zur ersten Performance der DevadasiTänzerinnen von Ponducherry in London und Paris ins Jahr 1838 zurückreicht. Diese Tanzformen waren von den Tempeln und Höfen Indiens in die Theatersäle gewandert und hatten die Entwicklung einer neuen öffentlichen Kultur gefördert,34 die eng mit den Sehnsüchten einer aufstrebenden Mittelschicht verbunden werden können. Auf dem Festival wirkten primär Tänzer und Tänzerinnen mit, die bereits eine internationale Karriere aufweisen konnten. Als solches konnten mit Hilfe des klassischen Indischen Tanzes die Ziele des Festivals umgesetzt werden, neue Formen von Performances und Zuschauer zu gewinnen. Es ist nicht überraschend, dass diese national überformte Geschichte des Tanzes für die Festivalgestaltung nützlich gewesen ist. Die Verbindung des Tanzes zu einer spezifischen ‚Kultur‘ herauszustellen, ist sicherlich einfacher als eine komplexe und widersprüchliche Geschichte aufzuzeigen. Besonders auffällt dabei ist, dass genau jene choreographische Form, die genutzt wurde, um westliche Vorstellungen einer kulturellen Überlegenheit zu widerlegen, nun im Dienste einer Anbiederung Indiens an den Westen erfolgte, indem sich die ‚exotische‘ Ausstrahlung zu Nutze gemacht wurde. Indira Gandhi hatte das Festival bewusst als eine diplomatische Geste verstanden, die klar mit ökonomischen Interessen einher ging, was beispielsweise durch Veranstaltungen wie „India: Your Business Partner“ oder durch Artikel in der Festivalzeitung wie „India: The World’s Tenth Largest Economy“ deutlich wurde. Gandhi nannte das Festival dann auch einen
34 Lakshmi Subramanian: From the Tanjore Court to the Madras Music Academy: A Social History of Music and South India, New Delhi: Oxford University Press 2006.
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vollen Erfolg, weil es „actively created interest in Indian products“35 zu vermitteln vermochte. Das Festival of India lässt sich daher als ein Versuch Gandhis erachten, die sozialistische Politik ihrer Vorgänger rückgängig zu machen und Indien einen Zutritt zum Weltmarkt zu ermöglichen. Sie tat dies durch einen Event, der Performance und Tanz in den Mittelpunkt stellte. Wie die Kunsthistorikerin Saloni Mathur nahe legt, verhandelte das Festival of India auch Fragen nach einer kolonialen Form der Zurschaustellung. Auf der einen Seite reproduzierte das Festival durch seine Modi der Sammlung und der Präsentation eine etablierte Form der kolonial geprägten Wissensproduktion durch Ausstellungen. Indem man als historisch lang anerkannt geltende Kunstformen auf der Bühne neben der Inszenierung eines alltäglichen Lebens positionierte, ließ man bewusst kulturelle Reproduktion – exemplifiziert durch die reformierten und refigurierten klassischen Tanzund Musikformen – mit der nostalgischen Repräsentation eines zeitlos erscheinenden indischen Dorfes in eins fallen. Dabei konnten sich die Festivalmacher auf eine lang etablierte Faszination des Westens für indische Kunst, Handwerk und Traditionen verlassen, indem diese durch einen Modus der Repräsentation orientalisiert werden, die Mathur als einen „cult of the craftsman“ identifiziert.36 Auf der anderen Seite demonstrierte das Festival zugleich einen modernen Staat, denn die Festivalorganisatoren übernahmen die Kontrolle über die Darstellung von kultureller Differenz, eine ehemalige Domäne der westlichen Missionare, Kolonialbeamten und Intelektuellen. Das Festival of India, wie Purnima Shah argumentiert, war Teil einer expliziten und intentionalen Regierungskampagne, um einen vereinten Nationenstaat zu bewerben.37 Die Art und Weise, wie das Festival den Ausstellungsapparat zur Schau stellte, fungierte in Kirshenblatt-Gimbletts Worten als seine „theatricalized performance of heritage“, welche „exemplify[ied] the strategic
35 Festival of India Trust: Festival of India in Great Britain. London: Festival of India Office July/August 1982, S. 2. 36 Vgl. Mathurs Kapitel: The Indian Village in Victorian Space: The Department Store and the Cult of the Craftsman, in dies: India by Design, S. 27-51. 37 Shah: National Dance Festivals in India.
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use of the interface to convey messages of modernity […] in contrast with the heritage on display.“38 Ferner war es nicht die Sichtbarkeit der Präsentationsmaschinerie, sondern auch der Inhalt des Festivals, der es erlaubte, eine nationalistische Aussage zu transportieren. Auf dem Festival of India – anders als in den Präsentationen in den Kaufhäusern, die Mathur beispielsweise eingehend beschreibt –, überlagerten sich die Inszenierung des täglichen Lebens und theatrale Bühnenformen. Es waren insbesondere die indischen Tanzperformances, die dieses Vorgehen erlaubten, denn ihr ambivalenter Status als Produkte ihrer widersprüchlichen Geschichte machte dies möglich und verschleierte zugleich diese Widersprüche.39 Dance Umbrella – ähnlich dem Festival of India – rekurrierte im gleichen Maße auf die internationale Beweglichkeit von Tänzern und Choreographen und integrierte ihre Performance unter dem Aspekt nationaler Identität. Vor 1970 kamen primär ausländische Tanzproduktionen von Nordamerika und Europa nach Großbritannien, ein Import, der zeitgenössischen Tanz in Großbritanien zu etablieren half. Zugleich suggerierte dies allerdings, dass diese Form des Bühnentanzes kein genuin britisches Unterfangen war. Nachdem allerdings das Festival eine internationale Anerkennung erfahren hat, wurde es auch zu einer Plattform, die britische Tänzer ins Ausland schicken konnte. Auch Dance Umbrella interagierte mit spezifischen ökonomischen Rahmenbedingungen. Wie Bonnie Rowell aufzeigt, gründete und organisierte Valerie Bourne Dance Umbrella aufgrund zahlreicher Streichungen von öffentlichen Fördergeldern. The Arts Council förderte in der Mitte der 1970er Jahre primär Touren großer und renommierter Kompanien, während es die allgemeine Kunstförderung einschränkte. Nach Rowell schlug das Arts Council eine Förderung nach dem amerikanischen Modell vor, wonach scheinbar „modern and experimental dance […] [would] flourish under the banner of free enterprise.“40 Zum einen kam es zu einer Kürzung der För-
38 Kirshenblatt-Gimblett: Destination Culture, S. 8. 39 Shah weist zudem darauf hin, dass diese nationalistische Überformung von traditionellen Tänzen die Entwicklung von Tanzfestivals mit bedingte. Vgl. Shah: National Dance Festivals in India, S. xiv. 40 Bonnie Rowell: Dance Umbrella: The First Twenty-One Years, London: Dance Books 2000, S. 9.
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dermittel und dies ging zum anderen einher mit einer Verschiebung hin zu einer projektbasierten Förderung. Dance Umbrella reagierte auf diese ökonomischen Veränderungen – vielleicht aus purer Notwendigkeit – indem es auf die relativ geringen Festivalproduktionskosten setzte, die ich mit Bruno Frey zuvor ansprach. Damit stellte diese Tanzplattform auch einen Versuch dar, von Seiten der Tänzer, Choreographen und Förderer das unwegsame ökonomische Terrain auf ihre eigene Art und Weise neu auszuloten. Selbst wenn es ein scheinbar weniger offensichtlich politischer Event war als das Festival of India, so wurden mit dem Dance Umbrella jedoch auch britische Nachkriegs- und post-imperiale Positionen verhandelt. Zwar ist Großbritanien weder ‚exotisiert‘ noch ‚kolonialisiert‘ worden, sondern eine post-imperiale Gesellschaft. Auch erscheint seine Kultur als eine (ehemalige) Weltmacht ‚neutral‘ anstatt kulturell markiert im Sinne einer Ethnizität. Dance Umbrellas unterschwellige kompensatorische Bestrebungen haben daher weniger mit einer Anthropologisierung britischer Kultur zu tun – weil eine Charakterisierung Großbritanniens als ein ethnographisches Subjekt eher eine jüngere Entwicklung ist –, sondern vielmehr mit einem tanzspezifischen Defizit der Wahrnehmung und Anerkennung: der dominanten Perspektive, dass zeitgenössischer Tanz in Großbritannien aus Nordamerika und Europa stammt. Dance Umbrella entstand zunächst durch die Aktivitäten und agitatorischen Bestrebungen der Association of Dance and Mime Artists (ADMA).41 Laut der Choreographin und Wissenschaftlerin Emilyn Claid war ADMA „an activist pressure group that gave independent artists a voice.“42 Durch eine langfristige Unterstützung von unabhängigen, freischaffenden Künstlern in den 1970 und 1980er Jahren – zu denen später sehr erfolgreiche Choreographen wie Mark Morris, Michael Clark und Stephan Petronio zählten – wurde Dance Umbrella langsam ein Mainstream Festival internationaler Künstler und gab in diesem Zuge langsam die Förderung kleinerer Orte und weniger etablierter Künstler auf. Auch diese Initiative füllte eine Leerstelle britischer Tanzpraxis und Geschichte durch die Förderung unabhängiger, experimenteller Künstler, denn zu den ‚heimischen‘ Tanzformen zählen zumeist populäre oder Volks-
41 Lamford, personal correspondence May 2007; Rowell: Dance Umbrella, S. 9. 42 Emilyn Claid: Yes? No! Maybe… Seductive Ambiguity in Dance, London and New York: Routledge 2006, S. 60.
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tänze. Zudem hat Großbritannien eine lange Tradition, tänzerische Bühnenkunst zu importieren. Dance Umbrella lässt sich innerhalb dieser tanzhistorischen Entwicklung positionieren, während es versuchte, diese Tradition mit der lokalen und sich entwickelnden New Dance Szene zu verbinden und neu zu gestalten. Das Festival zeigte britische Choreographen neben solchen aus den USA und Europa und neben Aufführungen gab es Workshops, Seminare und Ausstellungen. Mit diesem Programm zeigte Dance Umbrella ein Verständnis vom zeitgenössischen Tanz als ein nationales Phänomen und demonstrierte, dass er ebenso gut britisch sein konnte.
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Nachdem ich hier zwei unterschiedliche Entwicklungspfade von Festivals nachgezeichnet habe, die auf unterschiedliche Weise Entwürfe nationaler Identität inszenierten, möchte ich zu meiner ursprünglichen Idee zurückkommen, dass Festivals durch das Zurschaustellen in einem Kompensationsmodus wirken. Zudem möchte ich anhand meines abschließenden Beispiels nach den Möglichkeiten des Widerstandes gegen spezifische Programmentscheidungen innerhalb von Festivalstrukturen fragen. Denn zeitgleich mit dem Londoner Festival of India, organisierte das neu gegründete Committee of Asian Artists (CAA) ihr eigenes Festival neben dem offiziellen Event. CAA kritisierte das Festival of India sowohl durch Performances als auch in schriftlicher Form. Sich Festival of India in Britain nennend, bot die CAA als einen Counter-Event kostenlose Performances an öffentlichen Orten. Das stand im auffälligen Kontrast zu den Vorführungen des offiziellen Festivals, da diese nicht nur in etablierten Theatern stattfanden, sondern hohe Eintrittsgelder forderten. Als beispielsweise das offizielle Festival ein Konzert in der Royal Festival Hall präsentierte, zeigte die CAA ihre eigene Eröffnungszeremonie in der South Bank. CAA publizierte auch eine Reihe ergänzender Beiträge, die dann sogar in der offiziellen und autorisierten Festivalzeitung erschienen. Das Festival of India in Britain war von einem konkreten Anliegen bestimmt, dass eine anonyme Kolumne pointiert wie folgt zusammenfasste: „Visitors to the official festival should be under no
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illusion that Indian arts exist solely in India. They are here all […] year round and are all too often underfunded, unknown, and ignored.“43 Die CAA stellte auch die Ziele des offiziellen Festivalprogramms in Frage: So erkannte die anonyme Kolumne die möglichen Vorteile des Festivals zwar an, hob allerdings vor allem seine Limitationen hervor: „[W]hile there is no denying that 1982 should be a special year for the arts of India, it is essential that some sort of critical focus be developed. Without it, the whole operation could easily degenerate into a high-grade cultural supermarket that will eventually exhaust the customer with the variety of exotic choice. The effect of that on the Asian arts permanently here could be disasterous (sic).“ 44
Der Autor wies im weiteren auf die problematische Trennung von Kunst aus Indian und jener Künste aus dem Bereich der Diaspora hin und stellte die Ironie heraus, dass man gerade die migratorischen und immigratorischen Identitäten von einer offensichtlich globalen Feier kultureller Vielfalt ausschloss: „[T]he Festival has unwittingly deprived itself of one of its potentially strongest cards. Indian culture [through its diasporic arts] can […] be demonstrated to have resilience, adaptability, and a universality that has enabled it to travel.“45 In ähnlicher Weise kritisierte die Choreographin und Gastherausgeberin der zweiten Festivalzeitung Shobana Jeyasingh, dass es das Festival aufgrund seines panoraamartigen Ausstellungsmodus darauf anlegte, eine exotisierende Publikumshaltung zu provozieren: „the post-Sixties’ appetite for the unknown and the transcendental is a ready market for products muffled up in a rhetoric that goes on about antiquity and spirituality rather than the structure of the dance.“46 Tatsächlich schufen die zahlreichen Präsentationen im Stil einer Tanzplattform zwar eine Plethora unterschiedlichster Formen, ließ allerdings kaum Raum für eine Diskussion über die Strukturen von Tanz, Musik und anderen Kunstformen. Das Committee of Asian Artists war eine Koalition verschiedenster Künstler, Kunstorganisationen und Institutionen. Eine dieser Gruppen war
43 Festival of India Trust: Festival of India in Great Britain, London: Festival of India Office May 1982, S. 9. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 10.
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die Academy of Indian Dance, später bekannt als Akademi. Akademi hatte bereits von seinen Anfängen an im Jahre 1977 eine Verbindung zum Contemporary Dance Trust am The Place (einem Unterrichts- und Veranstaltungsort in London) gesucht. Indem sie sich dafür entschieden, mit einer Institution zusammen zu arbeiten, die sich als dezidiert zeitgenössisch orientiert begriff, platzierte Akademi südasiatischen Tanz in der Mitte der britischen Tanzszene und verbanden es nicht mit einer klassischen Tanztradition oder suchten Koalitionen zu Ballettkompanien. Damit definierten sie südasiatischen Tanz nicht in Hinblick auf Klassizismus oder spezifischen Traditionen von ‚Welt‘- oder ‚ethnischem‘ Tanz, sondern mit Forschung und Experiment. Ironischer Weise war es das The Festival of India, das diese Entwicklung provozierte und vorantrieb. Durch den Ausschluss britisch asiatischer Künstler und Kunstpraktiken half das Festival indirekt, einen neuen und spezifischen Raum für den britischen asiatischen Tanz zu schaffen, der sich vom Tanz aus Indien und auch jenem der Diaspora unterschied. Weil das Festival of India eine hegemoniale Sichtweise auf Nationalität präsentierte, brachte sie die unterschiedlichsten Organisationen durch eine gemeinsame Kritik zusammen und schweißte die Gruppe südasiatischer Künstler in Britanien zusammen. Die Gründung eines alternativen Festivals nahm damit nicht nur eine kritische Haltung gegenüber den Vermarktungsstrategien des Festivals of India ein, sondern auch gegenüber der damit verbundenen Verfestigung von Differenz in einem globalen Kulturmarkt. Das Festival of India in Britain konnte dies erreichen, weil es explizit indische Kunstformen lokal verortete, indem es in Großbritannien ansässige südasiatische Tänzer und Musiker präsentierte. Während das Festival of India die koloniale Vergangenheit verschleierte, indem es euphemistisch von der ‚longstanding relationship between Britain and India‘ sprach, betonte das Festival of India in Britain die komplizierte Beziehung zwischen diesen Staaten, indem es die Zuschauer an die lange Geschichte der Migration und Einwanderung erinnerte, die indische Praktiken schon weit vor 1982 nach Großbritannien brachten. Als solches ermunterte das CAA seine Zuschauer, einen einfachen Exotismus abzulehnen, der Differenzen entlang nationaler Grenzen ansiedelte. Das alternative Festival machte auf den globalen Austausch von indischem Tanz und anderen Vorführungspraktiken aufmerksam und verband diese ebenso mit einem konkreten und unmittelbaren Kontext und
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nicht lediglich mit einem „Imagined Homeland“. Das Gegen-Festival unterstützte damit eine Entwicklung, die man in Arjun Appadurais Worten mit Interessengemeinschaften vergleichen kann, die sich um südasiatische Kunstformen herausbildeten und diese zugleich auch als herausfordernde, nachdenkliche und selbstkritische Praktiken begriffen.47 Das Festival of India in Britain war als ein widerständiges und lokales Festival allerdings ein zeitlich begrenztes Unterfangen. Dennoch provozierte seine Programmgestaltung Fragen nach den Strukturen von Festivals und den Möglichkeiten, konventionelle Sehgewohnheiten zu destabilisieren. Wie allerdings das Beispiel von Dance Umbrella gezeigt hat, kann ein Festival diese Fähigkeit, herausfordernd zu sein, mit seiner zunehmenden Institutionalisierung im Sinne einer Festigung seiner Strukturen und eines zunehmenden Erfolges verlieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob ein Festival überhaupt widerständig sein und bleiben kann. Oder ist es nicht aufgrund seiner Struktur dazu verdammt, zur Stabilisierung beizutragen? Das Festival of India in Britain zeigt zumindest, dass lokale Netzwerke Performances dazu nutzen können, um strategisch die ökonomische Globalisierung und die hegemoniale Darstellung von Differenz zu befragen. Yatin Lin, die sich dabei auf James Clifford stützt, hat vorgeschlagen, Festivals als Kontaktzonen, als Orte der Kollaboration und des Austausches zu verstehen.48 Diese positivere Einschätzung von Festivals legt nahe, dass Festivals trotz ihrer Verstrickung mit einer imperialen Ausstellungspraxis so gestaltet werden können, dass Festivalmacher und Teilnehmer darin ganz bestimmte Identitäten durch Performances herausarbeiten können. Wenn die Struktur des Festivals immer wieder angepasst, befragt und problematisiert wird, können seine Möglichkeiten vielleicht weiter ausgeschöpft werden, so dass Tanz sowohl Zuschauer als auch Performer stetig herausfordert. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Yvonne Hardt
47 Arjun Appadurai: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996. 48 Yatin Lin: Cloud Gate Dance Theatre and Taiwan’s Changing Identity, in: Claire Rousier (Hg.): Danses et identitiés de Bombay à Tokyo, Pantin: Centre National de la Danse 2009, S. 127-140.
D AS L OKALE
VERMARKTEN
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Autorinnen und Autoren
Eger, Nana arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der RuhrUniversität Bochum zur Etablierung von kultureller Bildung in der Ausbildung und promoviert über internationale Ansätze zur Kunstvermittlung, die sie im Rahmen eines Stipendiums für die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft erforscht hat. Ausgebildet als Diplom-Sportlehrerin, Tanzpädagogin, in Tanztherapie (DGT) und „Participatory Arts“ (USA) verfügt sie über vielfältige choreographische, tanzkünstlerische und -pädagogische Erfahrungen u. a. mit Kindern und Jugendlichen. Seit über 10 Jahren ist sie an verschiedenen Hochschulen in der Aus- und Weiterbildung von LehrerInnen und KünstlerInnen tätig (u. a. Universität zu Köln, Universität Opole (Polen), Universität Innsbruck, Deutsche Sporthochschule Köln). An der Deutschen Sporthochschule Köln und der Hochschule für Musik und Tanz Köln koordinierte sie die Entwicklung des Master-Moduls „Tanz in Schulen“ (Tanzplan Deutschland). Elfert, Jennifer (Dr. phil.) arbeitet in Frankfurt am Main als Projektleiterin und Kulturmanagerin. Nach ihrem Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Germanistik hat sie mit ihrer Studie Theaterfestivals: Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells (erschienen im transcript Verlag 2009) die deutsche Festivallandschaft kritisch aufgearbeitet. Giersdorf, Jens Richard (PhD) ist Associate Professor am Marymount Manhattan College in New York City. Er studierte Tanz-, Theater- und Musiktheaterwissenschaften an der Theaterhochschule in Leipzig, promovierte in Dance History and Theory an der University California, Riverside
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und war Lecturer B in Dance Studies an der University of Surrey, Guildford. Seine Monografie The Body of the People, welche ostdeutsche doktrinäre und resistive Choreographien untersucht, ist im Erscheinen in der Studies in Dance History Reihe der University of Wisconsin Press. Zudem arbeitet er mit Gay Morris an einem Sammelband über Tanz im Verhältnis zu Krieg, Terrorismus und bewaffneten Konflikten. Weitere Veröffentlichungen u.a.: ‚Hey, I Won’t Let You Destroy My History‘: East German Dance Theater and the Politics of Restaging, in: Maska, November 2003. Haitzinger, Nicole (Dr. phil.) promovierte am Institut für Theater-, Filmund Medienwissenschaft der Universität Wien. Sie ist Assistenzprofessorin im Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg und nimmt als wissenschaftliche „Begleiterin, Tanzdramaturgin und Kuratorin an diversen internationalen Projekten und Theorie-PraxisModulen teil. Der Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit liegt auf Inszenierungsanalyse, Antikenrezeption sowie auf zeitgenössischen performativen Künsten. Neuere Publikationen: DenkFiguren. Performatives zwischenBewegen, Schreiben und Erfinden (hg. zusammen mit Karin Fenböck), München: epodium 2010; Interaktion und Rhythmus. Zur Modellierung von Fremdheit im Tanztheater des 19. Jahrhunderts (hg. und verfasst zusammen mit Claudia Jeschke und Gabi Vettermann), München: epodium 2010. Hardt, Yvonne (Dr. phil.) ist Tänzerin, Choreographin und Tanzwissenschaftlerin. Sie ist Professorin für angewandte Tanzwissenschaft und Choreographie an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Nach ihrem Studium der Theaterwissenschaft und Geschichte in Berlin und Montreal, promovierte sie am Graduiertenkolleg „Körper-Inszenierungen“ der FU Berlin. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Tanz- und Filmwissenschaft der FU Berlin und Assistant Professor am Department of Theater, Dance and Performance Studies der University of California, Berkeley. Publikationen u.a.: Politischer Körper: Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster: Lit 2004; Tanz – Metropole – Provinz (hg. zusammen mit Kirsten Maar) Münster: Lit 2007.
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Husemann, Pirrko (Dr. phil.) ist Kuratorin für den Bereich Tanz am Hebbel am Ufer Berlin. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Ihre Dissertation Choreographie als kritische Praxis: Arbeitsweisen bei Xavier Le Roy und Thomas Lehmen ist bei transcript: Bielefeld 2009 erschienen. Gemeinsam mit Sabine Gehm und Katharina von Wilcke kuratierte sie den Tanzkongress Deutschland 2006 im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Daraus hervorgegangen ist die Publikation Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz (erschienen auf Deutsch und Englisch bei transcript: Bielefeld 2007). Kasperowitsch, Johanna studierte zunächst von 2006-07 slawische Sprachen (russisch, serbisch) und Literatur an der Humboldt Universität zu Berlin und dann Bühnentanz am Zentrum für zeitgenössischen Tanz der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Das Studium schloss sie im Juli 2011 mit dem Diplom ab. Derzeit arbeitet sie für das MichealDouglas Kollektiv aus Köln in deren neuster Produktion Corpus spiritus. O’Shea, Janet (PhD) ist Associate Professor am Department of World Arts and Cultures der University of California, Los Angeles. Sie wurde mit dem 1. Preis des Association for Asian Studies Book Award und dem Selma Jeanne Cohen Award der Society of Dance History Scholars ausgezeichnet. Zur ihren Publikationen zählen: At Home in the World: Bharata Natyam on the Global Stage, Middletown: Wesleyan University Press 2007; The Routledge Dance Studies Reader (2 ed.) hg. zusammen mit Alexandra A. Carter, London: Routledge 2010. Zudem hat sie diverse Aufsätze publiziert in The Drama Review, Dance Research Journal, Asian Theatre Journal und in zahlreichen Anthologien. Noeth, Sandra ist Dramaturgin am Tanzquartier Wien. Sie studierte Kultur-, Kunst- und Tanzwissenschaft in München, Paris und Bremen und arbeitete mit verschiedenen nationalen und internationalen Künstlern, Projekten und Institutionen, u.a. Tanzplan Bremen für die Publikation ‚tanzhefte’ (gemeinsam mit Edith Boxberger), K3 – Zentrum für Choreographie/Tanzplan Hamburg als Kuratorin des Eröffnungsfestes und verschiedener Theorie-Praxis-Veranstaltungen. Von 2006-2009 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Performance Studies der Univer-
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sität Hamburg. Publikationen: zusammen mit Kattrin Deufert und Thomas Plischke ist sie Ko-Autorin von MONSTRUM. A book on reportable portraits, Books on Demand 2009; Hospitality is not equal. Über Choreographie als gastfreundschaftlichen Raum, in: Stefan Tigges Stefan u.a. (Hg.): Zwischenspiele, Bielefeld: transcript 2009. Rappe, Michael (Dr. phil.) ist Professor für Geschichte und Theorie der Populären Musik an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Er studierte in Kassel Soziologie, Biologie und Musik und war als Kulturmanager, Rapper, Trompeter, Musikpädagoge und DJ tätig. Zudem war er zehn Jahre Lehrbeauftragter für Poptheorie an der Fachrichtung Musik der Universität Kassel und von 2002-2005 Kursbereichsleiter der Offenen Jazz Haus Schule in Köln. Darüber hinaus bietet er Seminare im Bereich der Lehrerfortbildung an (z.B. Arbeitskreis für Schulmusik, Verband Deutscher Schulmusik, Goethe Institut). Lehraufträge u.a. an der Universität Wien, der Hochschule für Musik und Theater München, der Züricher Hochschule der Künste, der Universität Siegen und der Popakademie Baden-Württemberg. Neuere Publikationen u.a.: Under Construction. Kontextbezogene Analyse afroamerikanischer Popmusik, Köln: Dohr Verlag 2010; Videoclips – Musik für Augen und Ohren (zusammen mit Heinz Geuen), Esslingen: Helbling 2009. Sabisch, Petra (PhD) ist Choreographin und Philosophin. Neben eigenen choreographischen Arbeiten (zuletzt method unplugged, Berlin 2010 & conversation piece, Berlin 2008) & diversen künstlerischen Kollaborationen in Paris & Berlin (mit Antonia Baehr, Jérôme Bel, Alice Chauchat, Frédéric Gies, Mette Ingvartsen et al.), erhielt sie 2010 den Doctor of Philosophy (London) mit ihrer Dissertation Choreographing Relations: Practical Philosophy and Contemporary Choreoraphy in the works of Antonia Baehr, Gilles Deleuze, Juan Dominguez, Félix Guattari, Xavier Le Roy and Eszter Salamon (München: epodium/Tanzplan 2011). Von 2004 bis 2007 war sie Ko-Kuratorin des KünstlerInnen-Kollektivs Fernwärme im Ausland (Berlin); seit 2005 ist sie involviert in die Internet-Plattform Everybodys sowie in die Entwicklung des Performing Arts Forum PAF (St. Erme). Sabisch lehrt europaweit, u.a. im B.A. Dance & M.A. Choreography der University of Dance Stockholm, im M.A. Choreographie und Performance der Universität Gießen, sowie am HZT Berlin.
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Stern, Martin (Dr. phil.) ist Professor für Sportpädagogik und -ethik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er studierte Sportwissenschaft, Chemie, Philosophie und Erziehungswissenschaften. Er war langjähriger Mitarbeiter des SFB 447 „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin und am Institut für Sportwissenschaft der Humboldt Universität zu Berlin im Bereich Sportphilosophie und Pädagogik. Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Soziologie von Trendsportarten, Erlebnispädagogik, Entstehung von Organisationsstrukturen, Medien- und Körpertheorien sowie Methoden qualitativer Sozialforschung, zeitgenössischer Tanz und Improvisationskulturen. Publikationen u.a.: Stil-Kulturen. Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken, Bielefeld: transcript 2010; Kalkuliertes Risiko. Technik, Spiel und Sport an der Grenze (hg. zusammen mit Gunter Gebauer u.a.) Frankfurt/M.: Campus 2006. Teubl, Thorsten ist seit Februar 2009 als Tanztheaterdramaturg am Staatstheater Kassel engagiert. Er wurde in der Münsterstadt Ulm geboren und wuchs auf der Schwäbischen Alb auf. Auf Studien der Theologie und der Musik- und Theaterwissenschaft folgte ein Studium der MusiktheaterRegie an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Einen Masterstudiengang Kulturmanagement schloss er an der TU-Dresden und der Universität Fedrico II von Neapel ab. Er war an unterschiedlichen Theatern als Regisseur und Spielleiter tätig, organisierte Festivals, arbeitete in Theaterprojekten mit Kindern und Jugendlichen, unterrichtete als Dozent im Fach Kulturmanagement unter anderem am ISW Freiburg und an der Universität Austral in Buenos Aires. Thurner, Christina (Dr. phil.) ist Professorin für Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern. Sie studierte in Zürich und Berlin und war 1997-2006 Wissenschaftliche Assistentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. 1996-2007 arbeitete sie außerdem als Tanzjournalistin, v.a. für die Neue Zürcher Zeitung. Forschungsschwerpunkte sind: Ästhetikkonzepte, Tanz und Performance, Gender, Historiographie. Neuere Publikation: Beredte Körper – bewegte Seelen. Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld: transcript 2009; Hg.: Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz, Zürich: Chronos 2010.
TanzScripte Margrit Bischof, Claudia Rosiny (Hg.) Konzepte der Tanzkultur Wissen und Wege der Tanzforschung 2010, 234 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1440-4
Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Methoden der Tanzwissenschaft Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps« 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., Prof. Begleit-DVD, 28,80 €, ISBN 978-3-89942-558-1
Susanne Foellmer Am Rand der Körper Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1089-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
TanzScripte Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.) Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz 2007, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-808-7
Gabriele Klein, Gitta Barthel, Esther Wagner Choreografischer Baukasten (hg. von Gabriele Klein) Juni 2011, 564 Seiten, Kasten mit Modulheften, Praxiskarten und einem Buch, zahlr. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-1788-7
Laurence Louppe Poetik des zeitgenössischen Tanzes (übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand) 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1068-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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