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German Pages 398 Year 2015
Stefan Apostolou-Hölscher Vermögende Körper
TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 39
Stefan Apostolou-Hölscher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Mindere Mimesis am Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetische Theorie der Akademie der Bildenden Künste München.
Stefan Apostolou-Hölscher
Vermögende Körper Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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„Was ich die ästhetische Revolution nenne, ist der Bruch mit diesem System der Übereinstimmung zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren. [...] Die alte repräsentative Ordnung wurde von der Idee geleitet, dass das Denken die aktive Form ist, die der passiven Materie Ordnung gibt. Die ästhetische Revolution beginnt, sobald man die Form als der Materie selbst innerlich setzt und die Sprache von selbst spricht, nicht mehr als ‚Sichtbarmachen‘, sondern indem sie ihr eigenes Vermögen manifestiert, indem sie ihre eigene Herkunft ausdrückt. [...] Die ästhetische Revolution ist dieser Paradigmenwechsel, der bewirkt, dass an der Stelle des alten Systems der Form, die die Materie bestimmt, oder des Sagbaren, das das Sichtbare bestimmt, nicht so sehr das Ungeformte zur Herrschaft gelangt, sondern vielmehr eine Rede des Nicht-Sprechenden.“ JACQUES RANCIÈRE/REGIME, FORMEN UND ÜBERGÄNGE DER KÜNSTE
Danksagungen
Wie alles auf der Welt ist auch die vorliegende Arbeit nicht Erzeugnis eines Vermögens, das sich vollends im Privatbesitz befände, sondern mit einer viele Instanzen umfassenden Praxis verwoben. Ohne den Austausch mit anderen hätte sie nie Gestalt angenommen. Ich danke zunächst den beiden Betreuern dieser Dissertation: Obwohl uns der ein oder andere Dissens vereint, stand mir Gerald Siegmund in den letzten Jahren immer wieder kritisch und ratsam bei. Bojana Kunst ist später dazugekommen und hat schnell bewiesen, dass sie ebenso wie er für Ansätze offen ist, die nicht sofort in ihr eigenes Schema passen. Ohne die zahlreichen Gespräche mit Freunden und Kollegen, die mich immer wieder sowohl mental unterstützt als auch durch ihr Nachfragen herausgefordert haben, hätten die beiden wahrscheinlich noch mehr zu tun gehabt. Ich danke deshalb zusätzlich Ula Akta (für seine Vertiefung der so wichtigen Unterscheidung zwischen potentia und potestas), Bojana Cveji (dafür, mich seit unserer ersten Begegnung während der Sommerakademie 2004 im Frankfurter Mousonturm immer wieder dazu angehalten zu haben, neu zu beginnen mit dem Denken von Choreographie), Ralph Fischer (dafür, sofort erkannt zu haben, worum es geht), Mark Franko (dafür, mich während einer Unterhaltung auf dem Gießener Marktplatz ermutigt zu haben, mit meiner eigenwilligen Lesart der Briefe Noverres nicht nur auf dem Holzweg zu sein), Maria Muhle (obwohl wir uns vor der Fertigstellung dieser Arbeit nie begegnet sind), Jan Müller (für seinen philosophisch geschulten Blick auf manche Kapitel und den ein oder anderen Ratschlag zu methodischen Justierungen), Jenny Nachtigall (für kollegiale Ermutigungen während der Fahnenerstellung), Leonie Otto (dafür, mich auf Widersprüche hingewiesen zu haben), Petra Sabisch (für sehr, sehr vieles!), Florian Schneider (für seinen Hinweis auf den kantianischen Marxismus), Sebastian Schulz (für unsere unendliche Geschichte über Dekonstruktion und Schönheit), João da Silva (für den nicht nur pragmatischen Blick und unseren Austausch über Improvisation), Anneka Esch-van Kan (für unsere Gespräche über das ästhetische Regime und postdramatisches Theater), Ana Vu-
janovi (für ihr Talent zuzuhören und für ihre gedankliche Schärfe), Paul Filter und Nine Westphal (für ihre Gastfreundschaft in München) und vielen weiteren mehr. In den vorliegenden Text eingeflossen sind sicherlich auch die anregenden Gespräche mit den Studierenden vom MA Choreographie und Performance in Gießen und von der AdBK in München, die zum Glück immer wieder beweisen, dass Lehren in erster Linie heißt, belehrt zu werden. Hoffentlich ist es uns deshalb in dem ein oder anderen Seminar halbwegs gelungen, sollte das möglich sein, mehr oder minder das richtige Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen zu finden, so dass auch sie durch ihre Begegnung mit mir verändert wurden und zu manchen Gedanken kommen konnten, die sonst nicht in ihnen aufgekommen wären. Mich betreffend kann ich jedenfalls nur sagen: Würde die Tätigkeit anderer nicht ihren Beitrag dazu geleistet haben, hätte meine Dissertation nicht ihre jetzige Form angenommen. Außerdem danke ich meinen Eltern, die mich immer unterstützt und ermutigt haben, meinen Weg zu gehen. Gewidmet ist dieses Buch Despina Apostolou-Hölscher, in Liebe, deren Musik ein Teil von ihm ist.
Inhalt
Prolog | 11 1.
Einleitung: Tanz und Choreographie – (Produktions)Verhältnisse | 29
Parabel I: Mette Ingvartsens/Jefta van Dinthers It’s in the air | 45 2.
Choreographie und Tanz zwischen Form und Lebendigkeit | 65
2.1 2.2
André Lepecki als Anwalt des vermögenden Körpers | 66 Gerald Siegmund als Anwalt des Abstands zwischen Körper und Gesetz | 77 Eine Alternative zwischen Ästhetik und Biopolitik | 92
2.3 3.
3.1 3.2 4.
4.1 4.2 4.3
Zwei Poetiken des Tanzes | 97 Arbeau und das Leben der getakteten Gemeinschaft: Der Priester und sein Anwalt | 99 Feuillet: Schritte machen auf dem weißen Blatt Papier | 108 Drei Regime bei Jacques Rancière | 121 Das ethische Regime und seine Geometrie der Schritte und Positionen im Raum | 132 Das poetische/repräsentative Regime der Künste und die natürliche Ordnung der Körper | 138 Das ästhetische Regime der Kunst und seine choreographischen Fehlschritte | 143
Parabel II: Jérôme Bels Véronique Doisneau | 155
5.
Wie das biopolitische Kalkül mit dem Versprechen der Ästhetik Ernst macht | 167
5.1 5.2
Schillers Spieltrieb und das Verknoten der Gegensätze | 170 Kants Schönes, die bestimmbare Form der Körper und ihr Gemeinsinn | 187 Noverres tableaux vivants im Visier der Biopolitik | 210
5.3
Parabel III: Yvonne Rainers Trio A | 235 6.
Choreographie, Leben und Praxis in Noverres Briefen über die Tanzkunst | 245
6.1 6.2
Über Hirten und Schafe | 256 Von den Vereinnahmungsapparaten zum Choreographischen | 266
Parabel IV: Ivana Müllers While we were holding it together | 273 7.
Biopolitik als Produktionsverhältnis | 285
7.1
Zwei Ur-Ethiken: Biopolitische Kalküle bei Rudolf von Laban und Doris Humphrey | 298 Was Rancières Gleichheitsaxiomatik entgeht | 312
7.2
Parabel V: Saša Asentis My private bio-politics | 321 8.
Das Choreographische im ästhetischen Regime | 331
Spinoza: Was kann ein Körper? | 345 Von passiven Leidenschaften über aktive Freuden zu Gemeinbegriffen | 351 8.3 Spinozas Kritik am Denken in stummen Gemälden und Noverres tableaux vivants | 356
8.1 8.2
Parabel VI: Ivana Müllers Playing Ensemble Again and Again | 363 9.
Epilog: Immanenz, Subjektivierung und das Lebendige im Choreographischen | 373
Literatur- und Quellenverzeichnis | 379
Prolog
Vielleicht streicht, von den anderen nicht bemerkt und den Geschichtsbüchern kommender Jahrhunderte unbekannt, jemand durch das aufgewühlte Paris des Jahres 1789. Die Glut der Barrikaden ist erloschen, in der Luft liegt nur hier und dort noch der immer schwächer werdende Geruch vergangener Rauchschwaden, und die Menschenmassen drängen eher in den verborgenen Winkeln der Stadt zusammen. Manche von ihnen sind damit beschäftigt, wieder ihre Marktstände zu errichten. Karren und Kutschen, sie tragen neben Fisch, Fleisch, Gemüse und Gewürzen aus den ländlichen Teilen des Landes auch Kleidung und Schmuck, fahren in alle Richtungen, gezogen entweder von Pferden, Eseln oder Menschenhand. Der König ist entthront, und überall schicken sich neue Kräfte an, seinen leeren Platz zu besetzen für eine Zukunft, deren Gestalt noch niemand voraussehen kann, auf die viele hoffen, vor der manche Angst haben, die doch schon angebrochen ist mit den Ereignissen der letzten Monate und die noch weiteres Blutvergießen mit sich bringen wird. Die heute nirgends erwähnte Person, welche möglicherweise nie existierte, hatte vor Jahren versucht, in die Académie Royale de Danse aufgenommen zu werden, war aber gescheitert, weil sie nicht den richtigen Körperbau aufwies und sich, was sich bald vor den strengen Blicken der bei ihrer Prüfung anwesenden Ballettmeister herausstellen sollte, allzu ungelenk bewegte. Man hatte ihr damals mitgeteilt, sie sei für den Beruf des Tänzers ungeeignet, obwohl sie nie wünschte, an einem der Hofballette teilzunehmen, sondern nur das vage Bedürfnis verspürte, irgendwann einmal eigene Werke zu entwerfen, Stücke, in denen das zu sehen sein würde, was sich ihr auf den Straßen der Stadt zeigt. Sie war nie daran interessiert, die komplizierten Schrittfolgen und Sprünge zu lernen, die an der Akademie unterrichtet wurden, sondern wollte beweisen, dass Tanz, noch vor aller téchne, überall ist, in jedem Moment oder jeder Moment selbst und manchmal sogar der Staub hinter Gebäudemauern, derart komplex, dass sie sich noch immer nicht sicher ist über ihn und das, was ihn ausmacht.
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Auch jetzt wieder sieht sie sich mit diesem Problem konfrontiert: Sie kann nicht ausblenden, dass die Schritte der Passanten einen unglaublich komplexen Rhythmus auf dem Pflaster erzeugen. Ihr entgeht nicht der schwankende Gang des mit Kartoffelsäcken beladenen Gasthausbetreibers, wenn er die Stufen zum Eingang seiner Schenke erklimmt. Ihre Aufmerksamkeit wird zu einer Gruppe Musikanten gelenkt, deren Oberkörper wedelnde Bewegungen vollführen, während sie ihren Streichinstrumenten Töne entlocken. Es gibt das Schlenkern, Schütteln und Winken von Händen, die Unterschiede in den Gesichtern der Passanten, das Ausklopfen von Teppichen, das Schleichen obdachloser Katzen vor Wänden und überall Lichtspiele in drüben Pfützen. Wie all das rahmen? Weder weiß sie wo Tanz beginnt noch wo er endet. Weder könnte sie sagen, wer an ihm beteiligt ist, noch, in welche Richtung er geht, wenn er sich in zahlreichen Situationen entfaltet. Immer jedoch scheint bei ihm eine Grenze auf dem Spiel zu stehen, sich Bekanntes mit Unbekanntem zu vermischen und etwas Form anzunehmen, obwohl ihm keine schon bestimmte Form entspricht. Dieser Tanz auf der Schwelle, der nicht unterrichtet werden kann und den sie seit langer Zeit auf die Bühne bringen wollte, sollte sichtbar machen, was eigentlich unsichtbar ist und ins Bild setzen, was jenseits der Rahmen bestehender Bilder liegt. Er sollte ins Theater hereinholen, was bisher nicht zu ihm gehörte und tanzbar machen, was kein Tanz ist, weil es dafür noch keine Begriffe gibt. Jemand, dessen Name verlorengegangen ist, kommt nun unter dem Dachvorsprung einer Hausecke zum Stehen. Es hat zu regnen begonnen. Weiter oben spannen die Betreiber der Verkaufsstände Stoffschirme über ihren Auslagen, auf denen sich bereits erste Waren sammeln. Ein Karren fährt vorbei, gezogen von zwei alternden Eseln, die erschöpft wirken und von ihrem Besitzer, einem jungen Bauern aus einem der Vororte der französischen Metropole, geschlagen werden, um den Rest ihres anstrengenden Weges zügiger zurückzulegen. Mehrere Schweinsköpfe und geräuchertes Fleisch anderer Tiere liegen unverhüllt hinten auf, was von dem anonymen Beobachter der Szene dann registriert wird, wenn sein umherschweifender Blick auch bemerkt, dass sich eines der schmutzigen Hausfenster auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse öffnet und das in Falten gehüllte Gesicht einer Frau aus dem Süden dahinter zum Vorschein kommt. Der Wagen aus der Provinz ist schon vorbeigezogen, gefolgt von unzähligen drängenden Leibern, hungrigen Kindern, die von ihren Eltern getragen werden, Alten und Kranken, die nur mehr humpeln können und jungen Paaren im besten Alter, da erhascht er einen weiteren Eindruck. Die Anordnung der Fischkörper auf dem Stand zu seiner Linken, welcher unter einem aus gelblich braunen Kartoffelsäcken gestickten Dach errichtet wurde, entspricht ziemlich genau der Form der grauen Backsteine, die das Fenster umgeben, aus dem noch immer der runzelige Kopf, verborgen unter einem Gestrüpp grauer Haare, zu ihm herüberschaut. Viel zu viel
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passiert gleichzeitig, um sofort in einen größeren Zusammenhang gestellt werden zu können: Haben sich die beiden Frauen, sie könnten Zwillingsschwestern sein, die soeben aus einer Seitengasse getreten sind, gleichzeitig herumgedreht? Entspricht der Gang der einen, die Art, wie sie langsamen Schrittes einen Fuß vor den anderen setzt, immer mit der Ferse zuerst, als wolle sie verhindern zu fallen, den Bewegungen, mit denen die Hände des Obstverkäufers im Hintergrund seine Auslage präparieren? Besteht eine Verwandtschaft zwischen den Bewegungen des Mundes, mit denen der kleine Junge auf der anderen Straßenseite einen Apfel zerkaut und dem Gepicke der Tauben, die neben ihm mit ein paar wenigen Brotsamen befasst sind? Ähneln die Bewegungen, mit denen ein stattlicher Herr gerade den Gehsteig kehrt, nicht jenen der Vorhänge, mit denen die Gardinen mancher Fenster im Wind schaukeln? Welche Farben erfüllen das Gesichtsfeld und wie ändert sich deren Wahrnehmung, wenn man sie nicht mehr als Attribute bestimmter Objekte aufnimmt, sondern in ihnen eine Fläche unterschiedlich schattierter Kleckse sieht, von denen der ganze Raum bedeckt ist? Beinhaltet die Wasserpumpe eines nahen Brunnens nicht eine unglaublich schöne Melodie, wenn man alle anderen Geräusche ausblendet und sich nur auf sie konzentriert? Benötigt die Gruppe bewaffneter Angehöriger der gerade erst ausgerufenen Nationalgarde mehr Zeit zur Durchquerung der Straße als der alte Mann am Stock vor ihr, obwohl er sich nur schleppend fortbewegt? Weist das Auf und Ab seiner Gehhilfe Gemeinsamkeiten mit dem Wehen des weißen Standdaches auf, unter dem sich nun verschiedene Stickereien anhäufen? Die später Teil keiner Geschichte gewordene Person sieht sich an diesem späten Nachmittag des Jahres 1789 mit einem tableau konfrontiert, dessen Konturen an den Rändern ausfransen und dessen Grenzen sich nicht fixieren lassen. Alles, scheint ihr, steht mit allem anderen in Verbindung, und eine universale Wahlverwandtschaft von Menschen, Tieren, Dingen und Ereignissen bildet sich in ihrer Erfahrung heraus wie die Wolken am Himmel über ihr. Widmet sie sich einer bestimmten Konstellation an Impressionen und konzentriert sich beispielsweise auf den Rhythmus des Hammers, mit dem der Schuhmacher am Ende der Gasse sein Werk vollbringt, um dessen Klang mit dem Getrappel der Pferdehufe in Relation zu setzen oder auf Gemeinsamkeiten zwischen der filigranen Anordnung ausgelegter Teller rechts von ihr und den Mustern, die gleichzeitig von den Hufen der Tiere hinterlassen werden, entgeht ihr, dass drei spielende Kinder, fast verborgen von den Leibern der Erwachsenen, zwischen denen sie sich hindurchschlängeln, einem Hund hinterherjagen und dabei ähnliche Wellen schlagen wie die, in denen sich die Kundschaft vor einem Stand versammelt, an dem gerade der Verkauf von Süßwaren beginnt oder dass man, wenn man den Haarwuchs der Passanten fokussiert, zugeben muss, dass heute mehr Rothaarige unterwegs sind als an anderen Nachmittagen.
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Das sich dem dieser Tage vergessenen Zuschauer bietende Bild hat in seiner sich ständig verändernden Lebendigkeit nicht nur keinen fixen Rahmen, der es einschränken und einen Bereich in ihm von etwas abtrennen würde, das sich dann draußen befände, es ist auch unendlich tief. Immer tiefer kann man in das Meer der Eindrücke eintauchen, nie wird man seinen Grund oder einen Punkt erreichen, der sie irgendwo verankern würde. Das tableau ist in intensiver Bewegung begriffen und von einem Leben erfüllt, das überall gleichermaßen Zeugnis ablegt von einer Form, die von jeder Bestimmung ihrer Kontur entkleidet ist und deshalb der Beantwortung der Frage, was zu ihr gehört und was nicht. Alles spricht. Alles ist expressiv. Was sich zeigt, sind eine universale Tätigkeit der Dinge und ein tätiges Leben, das auf Körper verweist, die überall Formen generieren, ohne dass sich eine gegenüber einer anderen privilegieren ließe. Der enthusiastische Betrachter dieser Szenerie meint, er müsse es hier mit einer ihm unbekannten Choreographie zu tun haben, die aus so vielen Elementen besteht, dass es niemandem jemals gelingen wird, ein Regelwerk zu errichten für diesen vielschichtigen Tanz der Körper und ein ihnen gemeinsames Vermögen, das keinem gehört, obwohl es etwas ausdrückt, von dem man nicht weiß, wie es beschaffen sein wird, sondern von dem sich nur sagen lässt, es bringe in tableaux vivants zusammen, was überhaupt nicht zusammengehört und doch überall miteinander verwandt ist. Ein anderes Szenario aus dem Jahre 1818 hat, dank seiner Aufbereitung durch den französischen Philosophen Jacques Rancière, in den letzten Jahren auch innerhalb der internationalen Tanzszenen deutlich seine Spuren hinterlassen und dort nicht nur das Nachdenken über Methoden der Ausbildung, sondern auch über die Frage nach dem Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit tiefgreifend beeinflusst und verändert.1 1818 soll der Pädagoge Joseph Jacotot an einer Schule im heute belgischen Löwen Französisch unterrichten. Weil er selbst jedoch nicht des Niederländischen mächtig ist und seine Schüler wiederum weder auf die französische Grammatik noch auf irgendeine Art von Vokabular zurückgreifen können, zwischen beiden also zunächst eine unüberbrückbare Kluft besteht, die jede Art des produktiven Austauschs eigentlich unmöglich machen müsste, beginnt bald schon, wie Rancière es nennt, ein intellektuelles Abenteuer. Jacotot spricht nicht Niederländisch und seine Schüler sprechen kein Französisch. Trotzdem begeben sie sich auf einen gemeinsamen Weg, auf dem die Schüler etwas lernen, ohne dass sie dabei von ihrem Lehrer geleitet würden. Geleitet werden sie allein von ihrem Willen, etwas lernen zu wollen und ihrem Vermögen, prinzipiell lernen zu 1
Vgl. hierzu exemplarisch Ulrike Melzwig/Mårten Spångberg/Nina Thielicke (Hrsg.), REVERSE ENGENEERING EDUCATION in Dance, Choreography and the Performing Arts, Berlin: b_books, 2007 und Bojana Cveji, The ignorant mentor, in: Steven De Belder/Theo van Rompay (Hrsg.), „P.A.R.T.S. – Documenting ten years of contemporary dance education“, Brüssel: P.A.R.T.S., 2005.
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können.2 Was derart entsteht ist etwas, das weder Jacotot noch sie im Vorhinein wissen. Jacotot ist seinen Schülern keineswegs überlegen. Im Gegenteil: Später wird er sie sogar Malen und Klavierspielen lehren, obwohl er selbst weder Malen noch Klavierspielen kann. Was er sie lehrt, ist kein bereits bestimmtes Wissen. Er lehrt sie nur, von ihrem eigenen Vermögen zum Lernen Gebrauch zu machen, um 2
Im Kontrast zu Christoph Menke werde ich den Begriff des Vermögens im Verlauf der vorliegenden Arbeit nicht für Fähigkeiten und Tätigkeiten reservieren, die durch (disziplinäre) Übung erworben und bereits technisch konstituiert sind, um ihn derart dem der Kraft gegenüberzustellen. Menke stellt fest: „Durch Vermögen können wir etwas: Wir können eine Tätigkeit nach sozialen Standards erfolgreich ausüben. Kraft ist die Möglichkeit von Vermögen, weil sie das Andere der Vermögen ist.“ – Christoph Menke, Ästhetik der Gleichheit, Ostfildern: Hatje Cantz, S. 28. Im Gegensatz dazu verstehe ich Vermögen im Sinne Spinozas nicht als potestas, sondern als potentia, als zunächst unbestimmtes Vermögen, Kräfte entfalten zu können und damit als Voraussetzung jeder Form von Praxis (siehe Kapitel 8). Um mein Anliegen gleich zu Beginn schon zu verdeutlichen, sei hier eine Aussage Rancières in voller Länge zitiert, die er 1993 in einem Interview mit Monica Costa Netto getätigt hat und welche an dieser Stelle sowohl als Zusammenfassung als auch als Vorwegnahme meiner Inanspruchnahme seines Denkens dient: „Es gibt Philosophie im Allgemeinen dort, wo die Idee eines gemeinsamen Denkvermögens dargelegt wird, wo dieses gemeinsame Vermögen ausgehend von dieser Selbigkeit von Denken und Sein gedacht wird, die von Parmenides [und in dessen Nachfolge Spinoza! – Anm. d.A.] formuliert wurde [...]. Die Frage der Teilhabe an diesem gemeinsamen Vermögen wurde im Platonismus mit der Frage der Aufteilung zwischen den Diskursmodi oder – in den Worten von Gilles Deleuze formuliert – mit dem Urteil über die Rechtmäßigkeit des Prätendenten verknüpft. Das steht auf dem Spiel, wenn man die Sophisten oder die Dichter auf ihren Platz verweist. Doch auch die philosophische Frage nach den Grenzen, die zu ziehen sind, um das gemeinsame Denkvermögen zu bestimmen, wurde mit der politischen Frage nach der Gemeinschaft verbunden, das heißt mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem gemeinsamen Vermögen der Gemeinschaft und der Verteilung der Körper auf Plätze und Funktionen. Die politische Frage, so wie die Demokratie ihre Formulierung erzwingt, ist Folgende: Was geht an gemeinsamem Vermögen in die Rede desjenigen ein, dessen gesellschaftliche Tätigkeit durch die Ausübung dieser oder jener Techne bestimmt ist? Die drastische Antwort von Platon besteht darin, das Eine der Gemeinschaft gerade mit dem Prinzip der hierarchischen Verteilung der Körper in der Gemeinschaft zu identifizieren, mit der ungleichen Teilhabe am gemeinsamen Denkvermögen.“ – Jacques Rancière/Monica Costa Netto, Politik der Schrift, in: Jacques Rancière, „Und die Müden haben Pech gehabt! – Interviews 1976–1999“, Wien: Passagen, 2012, S. 68. Zur Kontextualisierung des Rancièrschen Verständnisses von Vermögen in Immanuel Kants Analytik des Schönen vgl. Kapitel 5.2., wo es als das subjektiv allgemeine Moment der Urteilskraft herausgearbeitet wird.
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jede Form von Wissen als von ihnen bestimmbare und als ihnen gemeinsame Tätigkeit zu erfahren. Sie sollen allein ihrem eigenen Willen und ihrer eigenen Intelligenz folgen innerhalb einer nicht bereits fertig produzierten Welt, sondern in einer Welt, die sie selbst erschaffen. Wie etwas lernen und sich verständigen, wenn die gemeinsame Grundlage vom Aufeinandertreffen verschiedener Sprachen gebildet wird? Wie, ohne auf im Voraus feststehenden Begründungen aufzubauen, das Gemeinsame innerhalb einer geteilten Praxis generieren?3 Jacotot beantwortet diese Fragen, indem er davon ausgeht, dass es keine zu erreichende Sprachbeherrschung gibt, der man sich Schritt für Schritt annähern könnte, sondern dass Sprache aus unzähligen losen Momenten besteht, die man von allen Seiten aus aufnimmt, ohne jemals sicher sein zu dürfen, auf welchem Weg man sich befindet und wohin dieser Weg führt. In ihrer pragmatischen Dimension ist Sprache ihm zufolge etwas, das seinerseits übersetzt werden muss und konfrontiert werden soll mit anderen Momenten, die ihrerseits nicht Sprache sind. Satz für Satz, Wort für Wort, Silbe für Silbe, Buchstabe für Buchstabe. Sprache als solche und als allgemeines System gibt es nicht. Es gibt nur Übersetzungen und unterschiedliche Manifestationen des menschlichen Vermögens zu sprechen, die sich weder aneignen noch beherrschen, sondern nur innerhalb einer Praxis des Übersetzens miteinander konfrontieren lassen. Am Anfang von Jacotots Lehrmethode steht eine simple Annahme: Alle können sprechen, alle können etwas 3
Praxis meint der Marxschen Feuerbachthese zufolge die formgebende Komponente der menschlich-sinnlichen Tätigkeit: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde – aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt.“ – Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx/Friedrich Engels, „Werke – Band 3“, Berlin: Dietz, 1969, S. 533. Die Rede von Praxis impliziert in den folgenden Kapiteln keine strikte Unterscheidung zwischen Arbeit, Herstellen und Handeln, die seit Aristoteles und dann wieder durch Hannah Arendt in Umlauf gekommen ist. Im Gegensatz zur handwerklichen posis, die auf produktionsästhetischer Ebene durch eine bestimmte téchne geregelt wird und auf rezeptionsästhetischer Seite mit einer bestimmten aísthesis korrespondiert, ist Praxis hier prinzipiell unbestimmt und deswegen ebenfalls nicht beschränkt auf den Bereich öffentlich-politischen Handelns, der dem rein reproduktiv-privaten Leben der Arbeit gegenüberstünde. Praxis bezieht sich nicht auf bereits gegebene Formen, sondern bringt sie zuallererst tätig hervor. Vgl. Paolo Virno, Grammatik der Multitude, Berlin: ID, 2005 und die darin enthaltene Kritik an der aristotelischen Dreiteilung von Arbeit, Herstellen und Handeln in Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 2008.
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ausdrücken. Jacotot stellt einen radikalen Ansatz von Gleichheit und Emanzipation an den Anfang seines Experiments in Löwen. Er unterstellt nämlich, dass Gleichheit und Emanzipation nicht, wie oft angenommen, das Ziel des Unterrichts seien, sondern an seinem Anfang stünden. Anstelle feststehender Begründungen setzt Jacotot eine bodenlose Gleichheit der Vermögen voraus. Dabei geht er von drei Annahmen aus: (1.) Jeder Mensch kann und will auf eher hervorbringende denn nur aufnehmende Weise lernen. (2.) Der Wille und die Intelligenz aller Menschen dazu sind prinzipiell gleich verteilt, oder, wie Rancière es formuliert: „Die Intelligenz ist Aufmerksamkeit und Suche, bevor sie Kombination von Ideen ist. Der Wille ist die Fähigkeit, sich zu bewegen, nach seiner eigenen Bewegung zu handeln, bevor er Instanz der Wahl ist.“4 (3.) Auch der Lehrer darf – als unwissender Lehrmeister – keinen irgendwie gearteten Wissensvorsprung geltend machen, ist also seinen Schülern in keinerlei Hinsicht überlegen. Im Fall Jacotots führt die Annahme, dass es keine im Vorhinein feststehende, gemeinsame Sprache und kein im Vorhinein bestimmtes, zu erreichendes Wissen zwischen ihm und denjenigen gibt, die etwas lernen wollen, dazu, dass das, was gelernt wird, durch das Lernen selbst zuallererst entsteht. Er vermittelt seinen Schülern das Französische nicht Schritt für Schritt, indem er ihnen zunächst die Grammatik und erste, einfache Vokabeln beibringt, sondern lässt sie sofort ein ganzes Buch lesen und in eine Sprache übersetzen, die ihnen unbekannt ist, das Buch über Telemach, in dem der altgriechische Mythos über den Sohn von Odysseus und Penelope erzählt wird und das um 1818 gerade in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen ist. Rancière zufolge ist es eine „gemeinsame Sache“5, keine gemeinsame Sprache jedoch, welche das Lernen der Schüler und das Lernen Jacotos zusammenbringt: „Man beginnt mit dem Text und nicht mit der Grammatik, mit den Worten und nicht mit den Silben.“6 Das Buch Telemach, das die Schüler zunächst nicht auf Französisch zu lesen vermögen und dessen niederländische Übersetzung Jacotot seinerseits nicht versteht, ist der Ausgangspunkt für einen Unterricht, in dessen Verlauf nichts erklärt, aber alles erfunden werden muss. Worum es dabei geht, ist ein gemeinsames Übersetzen von Texten, die weder der Lehrer noch seine Schüler bereits kennen oder verstehen, sondern durch ihre Tätigkeit des Übersetzens ins Spiel bringen, um zu verifizieren, was a priori gesetzt wird. „Das Wort Gleichheit der Verstandesvermögen faßt hier zwei grundlegende Bedeutungen zusammen: zunächst, daß jeder gesprochene oder geschriebene Satz nur durch die Setzung eines Subjekts Sinn annimmt, das mittels eines entsprechenden Abenteuers fähig ist, dessen Sinn herauszulesen, dessen Wahrheit wiederum von keinem vorgängigen Code oder Lexikon 4
Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister, Wien: Passagen, 2007, S. 69.
5
Ebd., S. 12.
6
Ebd., S. 40.
18 | V ERMÖGENDE K ÖRPER garantiert wird; daß es zweitens nicht zwei Arten gibt, verständig zu sein, daß jeder Verstandesvorgang denselben Weg einschlägt, jenen der Materialität, die von der Form oder dem Sinn durchquert wird, und daß sein Brennpunkt stets die vorausgesetzte Gleichheit eines Sagen-Wollens und eines Verstehen-Wollens ist.“7
Beim generativ konzipierten, universalen Unterricht geht es nicht darum, einen Sinn hinter dem Telemach anzuvisieren, sondern in Bezug auf ein gemeinsames Buch und geleitet nur von dem je eigenen Willen zu verstehen das auszudrücken, was nur man selbst ausdrücken kann und was nicht bereits auf den Seiten des Buches steht. Rancière zufolge ist das Buch Telemach letztlich Synonym einer ganzen Welt bzw. der Auffassung einer Welt, die noch nicht produziert ist, sondern in actu produziert wird als die gemeinsame Sache vermögender Körper. „Ein Buch, das ein Ganzes ist; ein Zentrum, dem man alles, was man neu lernen wird, hinzufügen kann; ein Kreis, in dem man jedes dieser neuen Dinge verstehen kann, die Mittel finden kann zu sagen, was man darin sieht, was man darüber denkt und was man damit macht. Das ist das erste Prinzip des universalen Unterrichts: Man muss etwas lernen und darauf den ganzen Rest beziehen. Und zuerst muss man etwas lernen.“8
Anhand der gemeinsamen Lektüre des Telemach, die gleichzeitig eine getrennte Lektüre ist, weil es zwar eine gemeinsame Sache, aber keine gemeinsame Sprache gibt, wird dasjenige übersetzt, was gleich verteilt ist, nämlich die Intelligenz sprechender Wesen und ihre Fähigkeit, sich dieser Intelligenz zu bedienen. Wohin die Reise geht, lässt sich nicht bestimmen, fest steht jedoch, dass sie keine andere Begründung kennt als die Ausübung von Vermögen innerhalb einer Praxis, die ihren Zweck allein in sich selbst und – dem zugrundeliegend – in der gemeinsamen Ausübung von Vermögen hat. Weil sich das Sprechen des einen nicht einfach direkt in das Sprechen eines anderen hinein übersetzen lässt und ebenfalls kein einziges Sprechen Bezugspunkt sein kann, gibt es nichts bereits Bestimmtes zu verstehen. Die Tätigkeit des Verstehens richtet sich vielmehr auf das, was zwischen den einzelnen Sätzen, Wörtern, Silben und Buchstaben unbestimmt ist und sie als Momente einer Sprache überhaupt erst denkbar werden lässt. „Verstehen ist immer nur übersetzen, das heißt ein Äquivalent eines Textes geben, aber nicht seinen Grund. Es gibt nichts hinter einer geschriebenen Seite, keinen doppelten Boden, der die Arbeit einer anderen Intelligenz, die des Erklärenden, erfordern würde; es gibt keine
7
Ders., Die Gemeinschaft der Gleichen, in: Joseph Vogl (Hrsg.), „Gemeinschaften“,
8
Ders., Der unwissende Lehrmeister, S. 32 f.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 120 f.
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Sprache des Lehrmeisters, keine Sprache der Sprache, deren Wörter und Sätze die Macht hätten, den Grund der Wörter und Sätze eines Textes zu sagen.“9
Vor diesem Hintergrund wird in den folgenden Kapiteln die These entwickelt, dass das von Rancière geschilderte Szenario weitreichende Korrekturen herkömmlicher Auffassungen des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit provoziert und warum es wichtig ist, die Konsequenzen aus seiner emanzipatorischen Lektüre der Unterrichtspraxis von Jacotot in ihrer ganzen Tragweite für choreographische Praktiken zu artikulieren. Dabei wird es darum gehen, pragmatisch relevante Momente des Schönen, die schon vor Jacotots Experimenten in Löwen ein Problem innerhalb der Philosophie darstellen, für die Gegenwart zu überdenken.10 In späteren, nach Der unwissende Lehrmeister (1987 im französischen Original erschienen) verfassten Schriften, nimmt Rancière explizit Bezug auf die Überlegungen Friedrich Schillers und Immanuel Kants zum Schönen, welches, wie gezeigt werden soll, wegen seiner affektiv-‚belebenden‘ und transformativen Qualitäten ein anderes Licht auf das Verhältnis zwischen Formen und Tätigkeiten wirft. Auch Christoph Menke hat jüngst auf den emanzipatorischen Aspekt des Schönen angespielt: „Dass wir gleich sind, erfahren wir in der ästhetischen Transgression unserer Existenz. Die politische Gleichheit ist ein ästhetischer Effekt. Wir machen uns ästhetisch gleich; ästhetisch machen wir uns gleich.“11
9
Ebd., S. 20.
10 Zur jüngsten Renaissance des Schönen vgl. Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/ Jan Völker, Vita aesthetica – Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Berlin/Zürich: diaphanes, 2011 sowie ders./Franck Hofmann/Susanne Leeb/Hans Stauffacher (Hrsg.), Form – Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, Berlin/Zürich: diaphanes, 2011. Dem affektiven Moment des Schönen attestiert John Protevi aus deleuzianischer Perspektive eine radikale Offenheit und Unbestimmtheit: „In moving to consider aesthetic judgment in more detail, we must remember that here we deal with reflective judgment, which in contrast to determinate judgment, does not subsume a sensory manifold under a pre-given concept, but instead arrives at its judgment, its way of making sense, in the very process of exploring the manifold given to it. […] In other words, reflective judgment is the escape from stereotyped cultural categories; it is provoked by the fresh encounter with the novel, an encounter that is felt before it is thought, or, even more radically, felt in excess of any recuperative thought. In Deleuze’s terms, reflective judgment is provoked by affect.“ – John Protevi, Political Affect – Connecting the Social and the Somatic, Minneapolis/London: University of Minnesota Press, 2009, S. 75. 11 Menke, Ästhetik der Gleichheit, S. 30 f. Allerdings wird der Begriff der Ästhetik im Verlauf der vorliegenden Arbeit nicht allein für ästhetische Praktiken der Kunstproduktion und -rezeption reserviert, sondern bezieht sich mit Rancière auch auf die Denk- und
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Gerade heute, während die von Michel Foucault in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität zwischen 1977 und 1979 angestellten Prognosen sich bewahrheiten und – in einem durchaus wortwörtlichen Sinne – im Bereich des sogenannten zeitgenössischen Tanzes jede noch so mikroskopische körperliche Regung Gefahr läuft, einem allumfassenden biopolitischen Kalkül und einem kinästhetischen Imperativ unterzogen zu werden, ist es überaus dringend, der permanenten Anreizung, Steuerung und Vereinnahmung der lebendigen Tätigkeit von Körpern durch die Biopolitik etwas entgegenzuhalten, das sich nicht kalkulieren lässt.12 Paolo Virno weist in seiner Grammatik der Multitude darauf hin, dass es zuallererst der durch Karl Marx geprägte Begriff der Arbeitskraft sei, der Foucaults Analysen einer ihm zufolge um 1800 aufkommenden Form von Macht und Wissen implizit als ihr Gegenstand zugrunde liege.13 Obwohl Foucault seinerseits bereits in Der Wille zum Wissen davon ausgeht, dass „das Leben, verstanden als Gesamtheit grundlegender Bedürfnisse, konkretes Wesen des Menschen, Entfaltung seiner AnWahrnehmungsweisen, respektive die Schemata, die jede Form von Erfahrung strukturieren. Vgl. hierzu Kapitel 4. 12 Biopolitik wird hier der Ästhetik gegenübergestellt, obwohl sie ebenfalls auf Prozesse verweist, die Gilles Deleuze 1990 in seinem Aufsatz Postskriptum über die Kontrollgesellschaften beschrieben hat: „Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen. ‚Kontrolle‘ ist der Name, den Bourroughs vorschlägt, um das neue Monster zu bezeichnen, in dem Foucault unsere nahe Zukunft erkennt.“ – Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders., „Unterhandlungen“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 255. Foucaults Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität fanden bereits mehr als 10 Jahre zuvor statt und haben Deleuze sicherlich zu seinen eigenen Überlegungen inspiriert. Vgl. auch die Polemik gegen zeitgenössische Favorisierungen des ‚Performance‘-Begriffs und den performativen Imperativ in Jon McKenzie, Perform or Else – From Discipline to Performance, London/New York: Routledge, 2001. 13 Im Maschinenfragment aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie heißt es: „Der Produktionsprozeß hat aufgehört Arbeitsprozeß in dem Sinn zu sein, daß die Arbeit als die ihn beherrschende Einheit über ihn übergriffe. Sie erscheint vielmehr nur als bewußtes Organ, an vielen Punkten des mechanischen Systems in einzelnen lebendigen Arbeitern; zerstreut, subsumiert unter den Gesamtprozeß der Maschinerie selbst, selbst nur ein Glied des Systems, dessen Einheit nicht in den lebendigen Arbeitern, sondern in der lebendigen (aktiven) Maschinerie existiert, die seinem einzelnen, unbedeutenden Tun gegenüber als gewaltiger Organismus ihm gegenüber erscheint. In der Maschinerie tritt die vergegenständlichte Arbeit der lebendigen Arbeit im Arbeitsprozeß selbst als die sie beherrschende Macht gegenüber, die das Kapital als Aneignung der lebendigen Arbeit seiner Form nach ist.“ – Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz, 1974, S. 585.
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lagen und Fülle des Möglichen“14 den schwarzen Punkt in der Mitte der Zielscheibe dieser „neuen Machtprozeduren, die ihrerseits auch nicht mehr auf dem traditionellen Recht der Souveränität beruhen“15 bilde, unterstreicht Virno, dass sich in Erinnerung an Marx, im Gegensatz zu einer Beschäftigung mit Foucault allein, dessen Lebensbegriff sehr viel klarer fassen ließe, wenn er auf das Problem der Arbeitskraft bezogen wird. Immerhin geht es nämlich auch bei Foucault um das Vermögen der Körper und ein ihrer Lebendigkeit innewohnendes Potential. „Was bedeutet also ‚Arbeitskraft‘? Der Begriff bedeutet: die Potenzialität zur Produktion – das heißt: Kraft, Potenz, Vermögen, Fähigkeit, dynamis. Eine generische Potenzialität, die selbst unbestimmt bleibt: In ihr ist nicht die eine oder andere spezifische Art von Arbeitstätigkeit vorgegeben, sondern in ihr ist jede beliebige Art angelegt, die Herstellung einer Autotür ebenso wie die Birnenernte, der freundliche Ton einer Telefonistin vom Call-Center ebenso wie die Fahnenkorrektur eines Buchs.“16
Worauf sich Virno zufolge die Biopolitik auf produktive Weise bezieht, ist keine bereits bestimmte Tätigkeit von Körpern, sondern ihr Arbeitsvermögen als „etwas, das nicht aktuell, nicht präsent ist.“17 Nur deshalb erlange der Begriff des Lebens in den späteren Schriften Foucaults eine solche Prominenz, weil das Leben in diesem Sinne „Behälter der dynamis ist, der reinen Potenzialität“18, eben der Arbeitskraft. 14 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit 1 – Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 172 f. 15 Ebd., S. 173. Foucault schreibt hier: „Kann man als ‚Bio-Geschichte‘ jene Pressionen bezeichnen, unter denen sich die Bewegungen des Lebens und die Prozesse der Geschichte überlagern, so müßte man von ‚Bio-Politik‘ sprechen, um den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens zu bezeichnen. Natürlich ist es nicht so, daß das Leben in die es beherrschenden und verwaltenden Techniken völlig integriert worden wäre – es entzieht sich ihnen ständig.“ – Ebd., S. 170. Dasjenige, was sich ‚ständig‘ zu entziehen vermag, wird im Verlauf dieser Arbeit an der Lebendigkeit der Körper festgemacht. Gegenüber der Idee eines bestimmten Lebens bleibt sie als deren lebendige Praxis supplementär. Das Wort ‚Leben‘ ist demnach nicht ontologisch, biologisch oder gar vitalistisch zu verstehen, sondern meint ein bestimmtes ethos, also eine bestimmte Aufenthalts- und Seinsweise der Körper: Insofern verwende ich den Lebensbegriff eher im Sinne des bios als in dem des zoë. Ebenso wenig soll die Rede von einer ‚Lebendigkeit‘ der Körper markieren, dass sie noch nicht tot sind. Vielmehr bezeichnet sie ein ihnen inhärentes Vermögen, das in keinem ethos aufgehen kann. 16 Virno, Grammatik der Multitude, S. 85. 17 Ebd., S. 86. 18 Ebd., S. 87.
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Die lebendige Tätigkeit der Körper wird innerhalb der Biopolitik nicht mehr auf ihnen äußerliche, bereits feststehende (choreographische) Formen bezogen, sondern angesehen als Reservoir potentieller Formen, als etwas, „das an und für sich keine selbstständige räumlich-zeitliche Existenz hat, nämlich das generische Vermögen zu arbeiten.“19 Nicht nur, wie in den Disziplinargesellschaften, um tatsächlich vollbrachte Arbeit geht es in der Biopolitik, sondern um das Vermögen, arbeiten und Formen entfalten zu können und deren Vereinnahmung durch ein äußerst flexibles und anpassungsfähiges Kalkül, unter einen Zweck also, welcher der Praxis der Körper äußerlich ist und über den Christian Marazzi schreibt: „Das zweckgerichtete Handeln ist nicht das Handeln auf Grund gesellschaftlich anerkannter Werte, sondern jenes auf Grund eines Kalküls, dessen Bestandteile sich auf die Messung der Eignung des Mittels zum Zweck, auf eine rationale Kalkulation reduzieren.“20 Ob es demgegenüber einen Widerstand des Schönen gibt, kann an dieser Stelle nicht beantwortet, sondern vorerst nur gefragt werden, was ein Körper noch tun kann, wenn sein Vermögen als zunächst unbestimmtes Können Gegenstand einer (perfiden) Form von Machttechnologie geworden ist. Innerhalb der Biopolitik geht es um eine Einverleibung der Fähigkeiten von Körpern in immer neue Techniken, denen sie ihre Tätigkeit anzupassen haben, wobei ihr generisches Vermögen einem Kalkül der Selektion und Kombination unterzogen wird, also die Formen, die sie hervorbringen, anhand ihrer Kompatibilität mit bestimmten Stilen verwertet werden. Susan Leigh Foster hat hierfür den Begriff hired body geprägt und konstatiert, dass dieser Körper überbestimmt bzw. -codiert und nur schwer in der Lage ist, eine ihm eigene Praxis zur Geltung zu bringen, weil ihm keine Zeit bleibt außerhalb des Einübens und Weiterentwickelns bereits gegebener Stile und Techniken.21 Der biopolitische Körper ist in seinen Ausdrucksweisen funktionalisiert und seines Vermögens enteignet. Im Gegensatz dazu steht eine ästhetische Auffassung des Körpers, 19 Ebd., ebd. 20 Christian Marazzi, Der Stammplatz der Socken – Die linguistische Wende der Ökonomie und ihre Auswirkungen in der Politik, Zürich: Seismo, 1998, S. 30. 21 Vgl. Susan Leigh Foster, Dancing bodies, in: Jonathan Crary (Hrsg.), „Incorporations“, London/New York: Routledge, 1992. In seinen letzten Vorlesungen am Collège de France unterzieht Foucault die Idee einer durch Technik geregelten Tätigkeit einer fundamentalen Kritik: „Er selbst, dieser Mann der techne, hätte natürlich nichts lernen können und wüßte heute überhaupt nichts oder sehr wenig, wenn es vor ihm nicht einen ähnlichen Fachmann (technites) gegeben hätte, dessen Schüler er war und der sein Lehrer war. Ebenso wie er nichts gelernt hätte, wenn ihm nicht jemand gesagt hätte, was er vor ihm wusste, ist es nun notwendig, daß er sein Wissen weitergibt, damit es nicht mit ihm stirbt.“ – Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012, S. 43. Innerhalb der Ästhetik dagegen wird eine Praxis der Körper denkbar, die nicht im Voraus technisch bestimmt ist.
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über die Rancière schreibt, dass es in ihr um die Erforschung der „Bruchlinien zwischen dem funktionalen Körper, dem expressiven und dem unbestimmten Körper“22 anstatt um die Funktionalisierung jedes Ausdrucks und die vollständige Bestimmung des Unbestimmten am Körper geht. Der ästhetische Körper ist ein potentieller Körper. Deshalb lässt sich keine verbindliche Technik finden, anhand derer er ausgedrückt werden könnte. Bei ihm geht es um die Erforschung dessen, was sich außerhalb der Topographie befindet, die bereits durch Technik auf eine bestimmte Art und Weise funktionalisiert und einer bestimmten Ausdrucksform zugeordnet worden ist, um regelgerecht choreographierbar zu sein.23 Armen Avanessian weist auf diese formierende Komponente des Schönen hin, die Kant in seiner Ästhetik gegenüber bereits feststehenden Formsprachen stark gemacht hat. „Seine kritischen Überlegungen zu einer ‚bloßen‘ Form ästhetisch singulärer Ereignisse lassen sich nicht auf eine Theorie sinnlich (wahrnehmbarer) schöner Formen reduzieren, sondern zielen auf die Präsentationsbedingungen von Dingen. Kants ‚bloße Form‘ verweist auf eine formgebende Kapazität, auf die Transformation von Formlosem in Form. Ein solcher singularisierender Formbegriff gibt nicht die Gestalt von Dingen vor, sondern setzt ein auf der Ebene ihrer Gestaltbarkeit überhaupt. [...] Was sich zeigt, ist ein künstlerischer und kunsttheoretischer Formbegriff, der statt auf einen Gegensatz von Form und Materie eher auf eine materielle Produktivität künstlerischer Formen setzt.“24
Dieses Formen generierende Vermögen der Körper und das ästhetische Ausspielen ihrer Gleichheit werden im Verlauf der folgenden Kapitel ins Spiel gebracht.25 In 22 Jacques Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Friedrich Balke/Harun Maye/Leander Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, München: Fink, 2009, S. 268. 23 Gerald Siegmund fragt diesbezüglich in einem Artikel in Theater heute: „Erzählte der Tanz seine Geschichten lange Zeit über Bilder, stellt sich im aktuellen Kontext inflationärer Bilderwucherungen die Frage, ob das Bilderfinden noch das richtige Mittel ist, Erfahrungen im Theater zu artikulieren. Um Bilder kommen wir im Theater kaum herum. Die Frage ist nur: Welche Bilder produzieren wir?“ – Gerald Siegmund, Jenseits der Pose, in: Theater heute, Oktober 2005, S. 8. 24 Armen Avanessian, Form – Singularität, Dynamik, Politik, in: ders./Hofmann/Leeb/Stauffacher (Hrsg.), „Form – Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis“, S. 13 f. 25 Das Feld der Ästhetik ist historisch umstritten. Gerade von mancher sogenannten ‚materialistischen‘ Philosophie ist der Ästhetik vorgeworfen worden, an der Verbreitung von Ideologie zu partizipieren und derart bestimmte Produktionsverhältnisse zu verschleiern. Ohne auf solche nicht nur unberechtigten Angriffe näher eingehen zu können, möchte ich mich Terry Eagleton anschließen, wenn er die Geschichte des Schönen in der ihr gebührenden Ambivalenz schildert und darauf hinweist, dass „if on the one hand it provides a
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der Ästhetik als Produktion und Rezeption von Kunst ist es von Anfang an darum gegangen, die Lebendigkeit eines Körpers als etwas Unbestimmtes und als Vorbedingung einer gemeinsamen Praxis mehrerer Körper vor deren Eingemeindung in einen vollständig bestimmten Lebenszusammenhang zu retten. Das Schöne lässt sich nicht anhand von Regeln choreographieren, sondern ist etwas, das jede fixe Form von Choreographie an ihre Grenze bringt und mit dem konfrontiert, was außerhalb ihrer Körperhaltungen, Raumwege und Schrittfolgen liegt: „Ästhetische Unordnung, politische Unordnung, symbolische Unordnung, wirkliche Unordnung, alles hängt zusammen“26, schreibt Rancière in einem frühen Buch. Das Schöne ist etwas, auf das sich das biopolitische Kalkül zwar beziehen kann, das ihm aber zugleich auch zu entgehen vermag, weil es etwas ins Spiel bringt, mit dem sich nicht rechnen lässt, das sich nicht verrechnen lässt und das als solches in der Lage ist, seiner Vereinnahmung durch das kinästhetische Kontinuum der Biopolitik zu entgehen. Beim Schönen handelt es sich um Ausdrucksweisen jenseits dessen, was im Raum der Choreographie bereits möglich ist. Denn der sich lebendig artikulierende Körper kennt ebenso wenig wie die Schüler Jacotos aus Rancières Beschreibung seiner Lehrtätigkeit in Löwen eine ihm äußerliche Choreographie, die vermittelt zwischen seinem immer offenen Vermögen und dem, wohin es führt, wenn er es, zusammen mit anderen, in Form einer gemeinsam geteilten Praxis, ausspielt. Rancière beschreibt Emanzipation als Ausspielen der Fähigkeit von Körpern: „Die Fähigkeit lässt sich nicht teilen. Es gibt nur eine Kraft, diejenige, zu sehen und zu sagen, aufmerksam zu sein darauf, was man sieht und was man sagt.“27 Emanzipation im Verhältnis zwischen Formen und Tätigkeiten findet in konkreten Vollzügen statt, zwischen den Tanzmachern ebenso wie zwischen ihren Stücken und den Zuschauern. Als solche weist sie eine längere Geschichte auf und hat nicht gestern erst begonnen. Es bleibt zu zeigen, inwieweit sich Auffassungen des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit tiefgreifend gewandelt haben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – parallel ebenso zum Aufkommen ästhetischer Probleme wie zum Entstehen dessen, was Foucault Biopolitik nennt. Die Frage danach, was ein tanzender Körper vermag, konnte nur solange mit Verweis auf choreographische Poetiken beantwortet werden, bis sie an Verbindlichkeit verloren. Dass es unmöglich ist zu sagen, was er kann, wird zu einem Eingeständnis, wenn er aus im Vorhinein gegebenen Rahmungen heraustritt und becentral constituent of bourgeois ideology, it also marks an emphasis on the selfdetermining nature of human powers and capacities which becomes, in the work of Karl Marx and others, the anthropological foundation of a revolutionary opposition to bourgeois utility.“ – Terry Eagleton, The Ideology of the Aesthetic, Oxford: Blackwell Publishing, 1990, S. 9. 26 Jacques Rancière, Der Philosoph und seine Armen, Wien: Passagen, 2010, S. 87. 27 Ders., Der unwissende Lehrmeister, S. 38.
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ginnt, eigene choreographische Konzepte zu entwickeln. Was Paolo Virno unter einer Form von Virtuosität versteht, die keine ihr äußerlichen Modelle imitiert, sondern sich als schöpferische Tätigkeit Geltung verschafft, rückt dann in den Vordergrund. „It is completely legitimate to deduce from certain defining features of our species the conditions that make possible the variation of behaviors. But it is a blatant error to identify these conditions of possibility with the particular logicolinguistic resources to which we have resource when one single behaviour undergoes change.“28
28 Paolo Virno, Multitude – Between Innovation and Negation, Los Angeles: Semiotext(e), 2008, S. 70. In seiner viel diskutierten Grammatik der Multitude formuliert Virno dieses Problem anhand des marxistischen Konzepts des general intellect, das er an prominenter Stelle einer sehr eigensinnigen Lesart unterzieht, um daraus seine Idee der postfordistischen Virtuosität zu entwickeln: „Während virtuose Künstler im eigentlichen Sinn (die Pianistin, der Tänzer etc.) von den klaren Vorgaben einer Partitur, das heißt von einem Werk im engen Sinn, ausgehen, können die postfordistischen Virtuosen, die ihre sprachlichen Fähigkeiten ‚in Szene setzen‘, auf kein bestimmtes Werk zurückgreifen. General intellect darf man nicht als das gesamte von der menschlichen Spezies gesammelte Wissen verstehen; general intellect ist die Fähigkeit zu denken, das Vermögen als solches, nicht seine unzähligen besonderen Realisierungen. Der general intellect ist nichts anderes als der Intellekt im Allgemeinen.“ – Ders., Grammatik der Multitude, S. 66. Trotz erheblicher Differenzen zwischen seinem und dem Denken Rancières treffen sich beide letztlich dennoch am Punkt ihrer bedingungslosen Affirmation eines zunächst unbestimmten Vermögens der Körper, welches im Verlauf dieser Arbeit im Anschluss an Rancière als affektiv wirksames Moment des Schönen innerhalb der Ästhetik beschrieben werden soll, wobei ich Drehli Robnik zustimme, wenn er bezüglich Rancières verstreuter Polemiken gegen eine andere postoperaistisch geprägte Denkweise bemerkt, „diese reduziere Politik auf ein Überschießen der nicht länger von sich selbst getrennten, im gemeinschaftlichen Sein wurzelnden Produktivkräfte über ihren Container namens Empire.“ – Drehli Robnik, Einleitung: Streit, Zeit, Bild, in: ders./Thomas Hübel/Siegfried Mattl (Hrsg.), „Das StreitBild – Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière“, Wien: turia+kant, 2010, S. 19. Vgl. auch Jacques Rancière/Nicolas Poirier, Die Politik deckt sich weder mit dem Leben noch mit dem Staat, in: Jacques Rancière, „Die Wörter des Dissenses – Interviews 2000– 2002“, Wien: Passagen, 2012. Allerdings ist die Figur des Virtuosen bei Virno sehr verschieden von einer einfachen Opposition zwischen Empire und Multitude, wie sie sich in Antonio Negris und Michael Hardts berühmter Trilogie findet. Seine eigene Vorstellung von Multitude hat überhaupt keine ethischen Aspekte. Gerade weil sie nicht auf eine bestimmte Form von Aufenthalt und Seinsweise der Körper rekurriert, würde es sich m.E. für Rancière lohnen, Virno einmal genauer zu lesen, entspricht doch seine apriorische
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Ab diesem Punkt gibt es keine Antworten mehr auf die Frage nach dem, was das Vermögen eines Körpers ausmacht, weil er ab dann immer mehr kann als das, was man ihm zutraut. Es trifft nun zu, was Bojana Cveji über die Körper schreibt, nämlich dass ihnen eher eine Priorität von „Bewegung, Passage und prozesshafter Unbestimmtheit“ zukommt als eine von „Position, Signifikation und sozialer Determination.“29 Diese prozesshafte Unbestimmtheit der Körper kann jedoch in zwei einander extrem entgegengesetzte Richtungen zeigen. Sie kann paradoxerweise dazu führen, sie, nachdem sie von feststehenden Formen befreit worden sind, in einer Freiheit der ‚freien‘ und leeren Zirkulation von Bewegungen und Bildern einzusperren, wie es im Falle der Biopolitik geschieht, sie kann es aber auch ermöglichen, bei der Unbestimmtheit der Körper zu verweilen, ohne sie für neue Zwecke zu instrumentalisieren. Für das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz heißt das, dass die Körper aus einem Kontinuum der ständig ablaufenden, leeren Bewegungs- und Bilderproduktion herausgenommen werden müssen, um es ihnen zu gestatten, zunächst danach zu fragen, was Choreographie zu sein vermag und was ein tanzender Körper kann, bevor er innerhalb bestimmter Ideen des Körpers festgelegt wird. Dieses Zaudern und Zögern entspricht der ästhetischen Abweichung vom Weg, die Rancière seit einigen Jahren einfordert und der im Verlauf der folgenden Kapitel nachgegangen werden soll. Insofern verfährt die Ästhetik mit den Körpern genauso wie Jacotot mit seinen Schülern, wenn er ihnen keinen bereits betretenen Pfad zeigt und ihnen nahelegt, eigene Richtungen einzuschlagen: „Aber vor allem wies er die Idee einer natürlichen Ordnung und der Hierarchien, die daraus folgen könnten, zurück. Alle Sprachen sind gleich willkürlich.“30 Ebenso wenig gibt es eine notwendige Verbindung zwischen bestimmten Funktionen und einem bestimmten Ausdrucksvermögen des Körpers, dafür aber eine prinzipielle Unbestimmtheit seiner Lebendigkeit, entlang derer er das ihm mit anderen gemeinsame Vermögen ins Spiel bringt – quod erat demonstrandum. In Kapitel 1 wird deshalb zunächst skizziert, inwiefern das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit sowohl historisch als auch gegenwärtig immer wieder aufs Spiel gesetzt wurde und wird. Bezüglich dieser Problematik widmet sich Kapitel 2 zwei in mehrerlei Hinsicht entgegengesetzten Positionen innerhalb der Tanzwissenschaft, um von ihnen ausgehend eine Alternative zwischen André Lepeckis Ablehnung von Choreographie überhaupt und Gerald Siegmunds Identifizierung von Choreographie mit einer symbolischen Ordnung lacaniGleichheitspostulierung in vielerlei Hinsicht Virnos Annahme einer allen Körpern gemeinsamen Virtuosität, deren Partitur der general intellect sei. 29 Bojana Cveji, Wir haben kein Geld, also müssen wir denken, in: Sigrid Gareis/Krassimira Kruschkova (Hrsg.), „Ungerufen – Tanz und Performance der Zukunft“, Berlin: Theater der Zeit, 2009, S. 154. 30 Rancière, Der unwissende Lehrmeister, S. 76.
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anischer Provenienz zu entwickeln, der Aspekte der beiden anderen enthält und sich gleichzeitig auf Distanz zu ihnen begibt. Kapitel 3 unternimmt die kurze Genealogie eines normativ gefassten und in erster Linie auf téchne gegründeten Verständnisses von Choreographie im Sinne einer Poetik seit Thoinot Arbeau und RaoulAuger Feuillet, das dann in Kapitel 4 anhand von Rancières Unterscheidung zwischen dem ethischen, dem poetischen/repräsentativen und letztlich dem ästhetischen Regime korrigiert wird. Hierbei geht es darum zu zeigen, dass sich mit dem Entstehen der Ästhetik um 1800 als nicht länger besonderem Tätigkeitsbereich (Produktionsästhetik) wie gerade deshalb besonderem Sensorium (Rezeptionsästhetik) der Kunst im Singular eine Abwendung von den durch eine jeweils spezifische téchne konturierten Künsten und ihren Gattungen im Plural und deren wechselseitige Entgrenzung nach der Logik späterer ready-mades vollzieht.31 Kapitel 5 vertieft die paradoxe Situiertheit ästhetischer Praktiken, welche sich immer zugleich auf und jenseits der Grenze dessen befinden, was bereits zu ihnen gehört und die derart aktiv neue Formen generieren, indem es näher auf Schillers Überlegungen zum Spieltrieb und Kants Analytik des Schönen aus dessen Kritik der Urteilskraft eingeht. Das subjektiv allgemeine Vermögen der Körper, das hierbei zum Vorschein kommt und in ihnen eine unbestimmte Lebendigkeit provoziert, die in keiner bestimmten Lebensform aufgehen kann, wird anschließend mit Foucaults späten Vorlesungen über Die Geschichte der Gouvernementalität konfrontiert. Anhand Jean Georges Noverres Konzept des tableau vivants wird dann demonstriert, dass zwar sowohl Ästhetik als auch Biopolitik aus der um 1800 aufkommenden Vorstellung einer ständig neue Formen generierenden Natur resultieren, sich das Vermögen der Körper jedoch radikal von dem Kalkül unterscheidet, das sie und die Formen, die sie hervorbringen, anhand bestimmter Verfahren zu vereinnahmen versucht. Diese Spannung zwischen Ästhetik und Biopolitik wird in Kapitel 6 vertieft, das einer eingehenden Lektüre von Noverres Briefen über die Tanzkunst und die Ballette von 1760 gewidmet ist, ohne dabei seine eigene choreographische Praxis in Betracht zu ziehen. Hier soll gezeigt werden, dass Noverre, wenn er prophezeit, dass in Zukunft alles sprechen und expressiv sein werde, in seinem berühmten Manifest einerseits poetisch geregelte Ideen von Choreographie aufkündigt, deren ästhetische Öffnung andererseits jedoch die Praktiken und Gegenstände des Tanzes auch in die Nähe ihrer biopolitischen Kontrolle rückt. Kapitel 7 fokussiert anhand der energetisch motivierten Theorien Rudolf von Labans und Doris Humphreys dementsprechende Produktionsweisen. In ihm wird untersucht, wie Körper dazu angeregt werden, ihre dynamis in stilistisch
31 Zum ready-made vgl. Claire Fontaine, Paper Voices, in: Jason E. Smith/Annette Weisser (Hrsg.), „Everything is in Everything – Jacques Rancière Between Intellectual Emancipation and Aesthetic Education“, Pasadena: Art Center Graduate Press, 2011, S. 85.
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und technisch geregelte Akte (energeia) zu investieren und warum sie dann ihres Vermögens enteignet werden. Im Rahmen von Kapitel 8 wird schließlich der Begriff des Choreographischen als Alternative dazu vorgeschlagen. Anhand des Naturverständnisses von Benedictus de Spinoza und des von ihm postulierten generativen Verhältnisses von Substanz und Modi werden Formen und Tätigkeiten dort nicht mehr als bereits bestimmte und voneinander unterschiedene Pole gedacht, sondern als Tätigkeitsformen auf einer ihnen gemeinsamen Ebene und in gegenseitiger Immanenz angesiedelt.32 Das Choreographische wird von Fehlschritten konstituiert, welche sich am Ende der vorliegenden Arbeit, in Kapitel 9, als diejenigen Momente herausstellen, die auf dem Spiel stehen, wenn es darum geht, eine offene Praxis vermögender Körper entgegen ihrer Vereinnahmung durch biopolitische Kalküle zu formulieren. Eingeschoben in den argumentativen Fortgang der einzelnen Kapitel sind Parabeln, in denen Werke zeitgenössischer Choreographinnen und Choreographen besprochen werden. Sie dienen einer Konkretisierung der aufgeworfenen Fragestellungen und Probleme, sollen jedoch nicht für diesen Zweck instrumentalisiert werden, sondern weitestgehend in ihrer Singularität für sich selbst sprechen.33 Weder wird die Thematik dieser Dissertation deduktiv aus ihnen heraus entwickelt noch induktiv in sie hineingelegt. Die Stücke von Saša Asenti, Jérôme Bel, Mette Ingvartsen/Jefta van Dinther, Ivana Müller und Yvonne Rainer werden zwar im Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und Biopolitik sowie hinsichtlich vermögender Körper besprochen, aber derart, dass die mit ihnen gemachten Erfahrungen in die anderen Teile des Textes einfließen und sie modifizieren, ohne dass eine einzelne Komponente auf eine andere reduzierbar oder aus ihr ableitbar wäre.
32 Rancière bezieht sich wegen seiner Bevorzugung Kants und Schillers zwar nur selten auf Spinoza, beruft sich jedoch maßgeblich auf ihn, um sein ästhetisches Regime historisch noch vor dem Aufkommen der Ästhetik um 1800 zu verankern. Vgl. Jacques Rancière, Is there a Deleuzian Aesthetics?, in: Qui Parle?, Volume 14, Number 2, 2004, http://www. 16beavergroup.org/mtarchive/archives/002019.php. – Zugriff am 21.8.2010. 33 Zur Kritik am gegenwärtigen Florieren von Beispielen in den ‚angewandten‘ Kulturwissenschaften vgl. Mirjam Schaub, Das Singuläre und das Exemplarische – Zu Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhetik, Berlin/Zürich: diaphanes, 2010.
1. Einleitung: Tanz und Choreographie – (Produktions)Verhältnisse „Aus einem bestimmten Körper gilt es, die Möglichkeit anderer Körper abzuleiten, die in seinem Vermögen liegen: das ist das Herz der ästhetischen Dimension der Politik und es ist das, was die politische Emanzipation auf stärkste Weise an die Erprobungen neuer Kräfte des eigentlich Sinnlichen im ästhetischen Regime der Kunst gebunden hat.“
1
JACQUES RANCIÈRE/IST KUNST WIDERSTÄNDIG?
Es ist schwer festzumachen, seit wann genau Unklarheit darüber besteht, was unter Choreographie zu verstehen sei. Spätestens seitdem durch die Strategien des Judson Church Theatre während der 1960er Jahre auch das weite Feld der Alltagsbewegungen und leblose Objekte als Quellen tänzerischen Materials angesehen werden und in den 1990er Jahren, im Anschluss daran, eine neue Generation von Choreographinnen und Choreographen den Körper als offenes ‚Konzept‘ deklariert hat, herrscht allerorten Dissens über die Praktiken, die zur Choreographie zu zählen seien, und es besteht keine Einigkeit darüber, was Choreographie überhaupt ist.2 In der 1
Jacques Rancière, Ist Kunst widerständig?, Berlin: Merve, 2008, S. 66.
2
Was unter Konzept zu verstehen sei, darauf wird in späteren Kapiteln bezüglich der Produktion von Ideen des Körpers, wie sie einerseits unter ästhetischen Gesichtspunkten denkbar wird, andererseits aber auch in Verbindung mit den Gemeinbegriffen, die Spinoza in seiner Ethik einführt, näher eingegangen: „Was dem menschlichen Körper und einigen äußeren Körpern, durch die der menschliche Körper affiziert zu werden pflegt, gemeinsam und eigentümlich ist und was im Teil eines jeden von diesen Körpern ebenso wie im Ganzen ist, davon wird es auch im Geist eine adäquate Idee geben.“ – Benedictus de Spinoza, Die Ethik, Stuttgart: Reclam, 1977, S. 201.
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Tat ist Choreographie nicht mehr. Vielmehr wird sie immer wieder neu erfunden in Stücken, die oftmals als Vorschläge zu deuten sind, was sie auch sein kann.3 Ebenso gibt es, daraus resultierend, keine festen Parameter mehr, anhand derer sich bestimmen lassen könnte, was Tanz sei, wo er beginnt, wo er aufhört und wie die Tätigkeit von Körpern verfasst sein muss, um von ihr sagen zu können, sie sei ‚tänzerisch‘ gestaltet. Bojana Cveji formuliert bezüglich der Konsequenzen dieses Paradigmenwechsels und das, was seitdem wichtiger ist als die Referenz auf ein im Vorhinein bestimmtes Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit: „Not what kind of object a dance performance is, but what kind of concept of dance is performed, or put forth in the performance. This entailed that the new practices could not be defined essentially, by grasping and reasserting the same properties or distinctive traits which constitute the work.“4 In diesem Zusammenhang ist das Verständnis von Technik in einem grundlegenden Wandel begriffen.5 3
Susan Leigh Foster korrigiert in Choreographing Empathy eigene frühere Überlegungen, wenn sie aufgrund mancher Tendenzen im zeitgenössischen Tanz zu dem Schluss kommt: „All of these dances push the limits of what has previously been considered choreography. […] They also expand and alter the boundaries of a dance, asking where and when does the choreography end, and what is included and what is excluded from consideration by the frame and parameters it sets. Each dance elaborates a very different notion of virtuosity, requiring highly distinctive sets of skills for its execution. And each purveys a distinctive vision of the body – what it is and how it is connected to other bodies and to the world.“ – Susan Leigh Foster, Choreographing Empathy, London/New York: Routledge, 2011, S. 215. Insofern geht Foster nicht nur über ihre vorigen, eher von Seiten der Cultural Studies und deren Lesart choreographischer Praktiken als Chiffren kultureller Macht- und Wissensformationen geprägten, Überlegungen hinaus, sondern widerspricht auch ihrem im selben Buch nach wie vor vorangestellten Verständnis des Verhältnisses zwischen Choreographie und Tanz: „Proposing a dialectical tension between choreography and performance, I emphasized the ways that choreography presents a structuring of deep and enduring cultural values that replicates similar sets of values elaborated in other cultural practices whereas performance emphasizes the ideosyncratic interpretation of those values.“ – Ebd. S. 5.
4
Bojana Cveji/Xavier le Roy/Gerald Siegmund, To end with judgment by way of clarification, in: Martina Hochmuth/Krassimira Kruschkova/Georg Schöllhammer (Hrsg.), „It takes place when it doesn’t – On dance and performance since 1989, Frankfurt am Main: Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, 2006, S. 51.
5
Randy Martin bietet einen Technik-Begriff an, den ich durchgehend übernehme: „Dance technique can be considered a political practice precisely to the extend that it represents a moment where bodies that are primitive with respect to their subordination to a given authority develop the means to move for and against that very authority. […] To the degree that acquisition of techniques frames the participation that produces consent to be ruled,
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Meinte Technik traditionell die Kenntnis eines fixen Vokabulars geregelter Bewegungsabläufe und die Beherrschung eines bestimmten Stils, der Bewegungen im Raum regulierte und in Bezug auf den sich die Körper in ihm ausrichteten, geht es vielen Choreographinnen und Choreographen heute eher um die Erfindung neuer Körperkonzepte und den transformativen Umgang mit den institutionellen Milieus, in denen sie sich bewegen. Choreographie umfasst genauso die Entgrenzung ihrer Materialien wie die Konfrontation und Vermischung der tänzerischen Tätigkeit ihrer Körper mit anderen Tätigkeiten und Körpern. Deshalb wird es in den folgenden Kapiteln darum gehen, ein hylemorphisch geprägtes Verständnis des Verhältnisses zwischen Choreographie und Tanz grundlegend zu hinterfragen.6 Denjenigen Betechnical accumulations effectively conceal the hold on the body – coercion – that is the state’s ultimate recourse to regulate society.“ – Randy Martin, Critical Moves – Dance Studies in Theory and Politics, Durham&London: Duke University Press, 1998, S. 156. Daraus resultierend sieht er, vor einem marxistischen Hintergrund, einen auch für diese Arbeit wichtigen, durch téchne gestifteten, Zusammenhang zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit: „Dance technique is a situation in which the process of production and its product – the body dancing and the dancing body – are tightly joined in local bodies and in which an ascribed affiliation far short of the kinds of participation in the political public sphere promised by substantive citizenship may, nonetheless, be keenly felt as a depoliticizing form of prophylaxis.“ – Ebd., S. 178. 6
Hylemorphismus (hýl = Materie, morph = Form) meint seit Aristoteles die einseitig aufeinander bezogenen Größen von Materie und Form, wobei der Weg hier von einer bestimmten Form aus zur unbestimmt gedachten Materie hin verläuft. Ich will im Gegensatz zu diesem dichotomischen Modell zeigen, inwiefern seit der ästhetischen und biopolitischen Wende in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts genau dieses Verhältnis nicht mehr anhand einer klar gezogenen Grenze gedacht werden kann, weil dann der Materie nicht mehr einfach eine reine Passivität unterstellt wird, die nur auf ihre Einschreibung durch aktive, intelligible Formen warten würde. Vielmehr sind ab dann – und das sollte meiner Ansicht nach tradierte Begriffe von Choreographie grundlegend in Frage stellen – Materie und Form ineinander verschachtelt und wechselseitig aufeinander bezogen: „Die bearbeitete Materie ist Idee, sie ist ihre eigene Idee, die in den Körpern, die sie unterwirft, keinen Platz für ein anderes Denken lässt“, wie Rancière es formuliert. – Rancière, Der Philosoph und seine Armen, S. 199. Steven Shaviro fasst die Problematik des Hylemorphismus aus einer deleuzianischen Perspektive sehr treffend zusammen, wenn er schreibt: „In fact, matter is never intirely passive and inert, for it always contains incipient structures. Matter already contains distributions of energy, and potentials for being shaped in particular directions or ways. […] For its part, form is never absolute, and never simply imposed from the outside, since it can only be effective to the extent that it is able to translate itself, by a process of ‚transduction‘, into one or another material. That is to say, form is energetic: it works by a series of transformations that transmit energy, and
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griff der Choreographie als Form, welcher sie auf bestimmte Regelpoetiken und Verfahrensweisen festlegte und der dem des Tanzes als Tätigkeit determinierend gegenüberstand, fassen Hartmut Böhme und Sabine Huschka im Vorwort zu Wissenskultur Tanz prägnant zusammen. „Tanzen folgt stets einer Choreographie. Der griechische chorós, der lateinische chorus (woher auch der ‚Chor‘ stammt) meint ursprünglich: Tanzplatz, das hieß: der abgegrenzte Raum, wo der Kulttanz für die Götter stattfand. Als weitere Bestimmung kommt jedem Tanzen das Moment der Situierung zu: Der chorós ist eine ‚eingeräumte‘, gerahmte Aufführungs- und Schaustätte von ‚Körpern in Bewegung‘. Choreographie enthält ferner gr. graphós, graphein, das Schreiben, eigentlich: Ritzen, das Geschriebene, die Schrift. Tanzen ist Raumschrift, Raumritzung, die Zeichnung und Verschriftung des Raums – freilich nicht in Lettern, sondern in den ephemeren, unsichtbaren Spuren und Figuren, die in der tänzerischen Bewegung erzeugt werden – aufscheinend und verschwindend. Das ‚graphische‘ Moment am Tanz, die flüchtige Tanzschrift ist es, die den Anschluss an andere Medien eröffnet: das Medium des expliziten Wissens, Notation, Sprache, Bilder.“7
Meinte Choreographie lange Zeit über festgelegte Verfahren der Notation und der regelhaften Aufführung von Bewegung und wurde deshalb durch sie der Körper in im Vorhinein feststehende Formzusammenhänge eingefügt, gibt es seit geraumer Zeit immer mehr Auffassungen, die ihr eine gegenteilige Tendenz bescheinigen. Sie ist dann mindestens die Infragestellung jener abgesicherten Rahmungen, wenn nicht gar ihre permanente Überschreitung und Konfrontation mit einem Außen, von dem sie sich zuvor abzugrenzen versucht hatte. Dieses Außen, dessen Form noch unbestimmt ist, operiert dann im Inneren der Choreographie und macht es unmöglich, sie als bestimmte Form oder als ein fixes Repertoire an Körperhaltungen, Schrittfolgen, Positionen und Raumwegen essentialistisch festzulegen. Im Spannungsfeld zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie, während der Formung des Formlosen und auf dem Weg zur Form hin, in einem Bereich, in dem es nicht länger als gesichert gelten kann, ob im wahrsten Wortsinn die Schrift den Raum und die Körper konstituiert oder ob jene im Gegenteil jegliche Festlegung dessen, was Schreiben eigentlich heißt und anhand welcher Prozeduren es zu verfahren hat, prekär werden lassen, verändert sich auch der Tanz grundlegend. Konnte er, solange feststand, auf was der Körper sich in seiner Tätigkeit bezog, wenn er tanzte, als Einübung von Formsprachen verstanden werden, erlangt er eigene gestalterische thereby ‚inform‘ matter, affecting it or modulating it in a process of exchange and communication.“ – Steven Shaviro, Without Criteria – Kant, Whitehead, Deleuze, and Aesthetics, Massachusetts: MIT Press, 2009, S. 53. 7
Hartmut Böhme/Sabine Huschka, Prolog, in: Sabine Huschka (Hrsg.), „Wissenskultur Tanz“, Bielefeld: transcript, 2009, S. 13.
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Kraft dann, wenn es an ihm liegt, ebendiese Formen zuallererst hervorzubringen und Technik als solche immer wieder von Neuem zu erfinden, anstatt sich an bereits bestehenden Techniken zu orientieren. Choreographie ist nicht länger als normative Poetik festgestellt. Frühere Regelwerke verlieren an Bedeutung gegenüber dem unbestimmten Vermögen der Körper und unzähligen neuen Materialien, die von außen her kommend das nur vermeintlich eigene Terrain der Choreographie besetzen: Alles besitzt das Potential, zum choreographischen sujet zu werden. Als offene Frage steht Choreographie im Mittelpunkt auch derjenigen Arbeiten, die seit den 1990er Jahren entstanden sind und oft als ‚zeitgenössischer‘ Tanz bezeichnet werden. Obwohl sie alle vielleicht gar nichts miteinander vereint außer einem Dissens, den sie in Bezug auf hylemorphische Auffassungen des tanzenden Körpers vertreten, ist ihnen gemeinsam, neue Wege zu finden, um die Frage danach, was ein Körper kann, weiterhin offen zu halten. Der Choreograph und Performancetheoretiker Mårten Spångberg fasst dies in seinem Manifest mit dem Titel Immaterial Performance: Knowledge, Everything, Frames, Change zusammen. „These strata operate as agency for creative actions that does [sic!] not simply break or obey to rules (simultaneously affirming them in the act of transgression), but are actions that changes [sic!] the grammatical system itself, operating in and on a space or situation where the grammatical rules can not [sic!] be distinguished from the event. Immaterial performance is precisely and not (a/the) theatre, but unfolds as an expression of practices as it subsists in experience, and can hence not be reducible to a grammar, or the whole field of visibility.“ 8
Sind solche Phänomene wirklich nur zeitgenössisch oder haben sie historische Vorläufer? Gibt es ihnen vorausliegende Ereignisse, die zu ihrer Entstehung beigetragen haben? Sicherlich wurde Choreographie seit Thoinot Arbeaus Orchésographie und vor allem von Raoul-Auger Feuillet, dessen Notationssystem fester Bestandteil des Balletts war, wie es sich zunächst unter Ludwig XIV. entwickelte, als Einfügung des Körpers in ein Korsett aus ihn determinierenden Schrittfolgen, Körperhaltungen, Positionen im Raum und Raumwegen verstanden. Aber bereits mit Jean Georges Noverre, dem gleichzeitigen Erstarken ästhetischer Fragen innerhalb der Philosophie und der von Michel Foucault analysierten biopolitischen ‚Wende um 1800‘9 ist, das will diese Arbeit zeigen, das Verhältnis zwischen Choreographie als 8
http://idash.org/~marten/Immaterial_Performance.pdf. – Zugriff am 28.8.2010.
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Vgl. Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), Ästhetische Regime um 1800. Obwohl es natürlich um vielerlei Ereignisse geht, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entfaltet haben, wird auch in dieser Arbeit von einer ‚Wende um 1800‘ gesprochen werden, um die Korrespondenzen zwischen ästhetischen und biopolitischen Entwicklungen zuzuspitzen.
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Form und Tanz als Tätigkeit prekär geworden, obwohl es im romantischen Ballett des 19. Jahrhunderts und vermehrt noch in der Tanzmoderne des 20. Jahrhunderts immer wieder zu Restaurationsversuchen des hylemorphischen Modells kam. Bojana Cveji schreibt über eine den verschiedenen Strömungen des sogenannten zeitgenössischen Tanzes gemeinsame Tendenz: „Die Choreographie bricht mit der historischen Dimension der modernen Subjektivität des tanzenden Körpers und erweitert sich um jeden beliebigen Körper, jede beliebige Bewegung, jedes beliebige Verfahren.“10 Dennoch muss der Frage nachgegangen werden, inwiefern die von Cveji akzentuierte Tendenz mancher heutiger Praktiken wirklich nur ‚zeitgenössisch‘ ist oder ob sich ein Bruch nicht schon um 1800 ankündigt und es deshalb seitdem immer wieder um beliebige Körper, Bewegungen und Verfahren geht, welche die Choreographie als vormals souveräne Formation aus Macht und Wissen verunsichern, indem sie sie gegenüber einem Feld ihr äußerlicher Kräfte öffnen. Seitdem steht, lässt sich mit Georges Canguilhem sagen, auch innerhalb choreographischer Praktiken das ‚Leben als Lebendiges‘11 auf dem Spiel. „Das Leben ist Herausbildung von Formen, die Erkenntnis ist Analyse geformter Materie. Es ist normal, dass eine Analyse niemals über den Prozess der Formierung Rechenschaft ablegen kann und das man die Originalität der Formen aus dem Blick verliert, wenn man sie bloß als Resultate sieht, deren Komponenten man zu bestimmen trachtet. Da die lebendigen Formen Ganzheiten sind, deren Sinn in dem Streben liegt, sich als solche in der Konfrontation mit ihrem Milieu zu verwirklichen, können sie nur in einer Vision, in einer Zusammenschau, niemals durch Division, durch Zerteilung, erfasst werden. […] Der Verstand darf sich auf das Leben nur beziehen, wenn er die Originalität des Lebens anerkennt. Das Denken des Lebendigen muss die Idee des Lebendigen dem Lebendigen selbst entnehmen.“12
Das Motiv des Lebens als Lebendiges um 1800 ist Motivation sowohl für ästhetische Überlegungen, die Immanuel Kant in seiner Kritik der Urteilskraft und Friedrich Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen unternehmen als auch für eine neue Form von Macht und Wissen, die Foucault, vor allem in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität, thematisiert. Als Lebendiges wird das Leben dabei von der Ästhetik einerseits und der Biopolitik andererseits neuen Verfahren unterzogen und motiviert den Umbruch innerhalb der Künste ebenso wie den innerhalb der aufkommenden Lebenswissenschaf10 Bojana Cveji, Schnittverfahren und Mischungen, in: tanz-journal, Mai 2009, S. 29. 11 Vgl. hierzu Maria Muhle, Eine Genealogie der Biopolitik – Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem, Bielefeld: transcript, 2008. Ich verdanke Maria Muhle sehr viel für diese Dissertation. 12 Georges Canguilhem, Das Denken und das Lebendige, in: ders., „Die Erkenntnis des Lebens“, Berlin: August, 2009, S. 19 ff.
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ten um 1800, allerdings, wie Jan Völker unterstreicht, unter völlig anderen Vorzeichen. „Der Lebensbegriff, der dem frühen Kant nicht zur Verfügung stand, wird im Zeitraum von 1750 bis 1800 entwickelt. Kant selbst wird daran mit dem zweiten Teil der Kritik der Urtheilskraft selbst großen Anteil haben. Diese epistemologische Neufassung des Lebens wird es andererseits der Ästhetik ermöglichen, sich zum einen in Bezug auf das Leben zu entwickeln, um zum anderen an ebendieser Stelle einen Punkt der Unbestimmtheit in einem epistemologischen Rahmen anzuzeigen. Die Ästhetik Kants wird das Leben nicht nur als einen ihrer zentralen Begriffe ausmachen, sondern über diesen eine Stelle der Unbestimmtheit markieren, die rückwirkend an die Metaphysik anknüpft und die Unbestimmtheit in die Sinnlichkeit selbst überträgt.“13
Was in der Ästhetik auf dem Spiel steht, ist das Spannungsfeld zwischen einem ethisch verfassten Leben im Sinne eines fixen Aufenthalts und einer fixen Seinsweise der Körper und deren Unbestimmtheit, eine Spannung, die auch das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz tangiert. Diesbezüglich möge daran erinnert sein, dass sich bereits an der Vorstellung einer einzigen Substanz und deren Affektion durch ihre unzähligen Modi, welche Spinoza rund 100 Jahre vor Kant, Schiller und der ästhetischen und biopolitischen Wende um 1800, in seiner 1667 posthum erschienen Ethik, thematisiert, ablesen lässt, inwiefern die Choreographie als souveräne Form zerfallen wird und bis heute zerfällt, weil beliebige Körper, beliebige Bewegungen und beliebige Verfahren auf der Bühne erscheinen. Es ist Noverre, der in seinen Briefen über die Tanzkunst und über die Ballette diese Konsequenz als erster denkt. In seinen Briefen geht es um das spannungsvolle und unlösbare Verhältnis zwischen dem Vermögen (potentia) der Körper und der Choreographie im Sinne einer Formation aus Macht und Wissen (potestas), die es letztlich mit der Beliebigkeit des Lebendigen zu tun bekommt. Ohne die zahlreichen Brüche und Verschiebungen, die sich zwischen Noverres choreographischem Schaffen und den Praktiken mancher heutiger Tanzschaffender ereignet haben, leugnen zu wollen, lässt sich konstatieren, dass sich bereits mit ihm, zumindest in dem, was er in seinen Briefen über das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz schreibt, ein wichtiger Einschnitt abzeichnet. Er wendet sich ab von jeglichem Regelwerk, das die Choreographie als Form und ihr Verhältnis zum Tanz als Tätigkeit im Vorhinein festlegen würde und konstatiert ihr eine Zukunft gerade dann, wenn sie sich alles gleichermaßen zum sujet macht und ihre Verfahren dadurch beständig erweitert: „Words will become useless, everything will speak, each movement will be expressive, each attitude will depict a particular situation, each gesture will reveal a thought, each glance will convey a new sentiment; 13 Jan Völker, Ästhetik der Lebendigkeit – Kants dritte Kritik, München: Fink, 2011, S. 120.
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everything will be captivating, because all will be a true and faithful imitation of life.“14 Noverre schlägt eine Verlagerung choreographischer Produktionsweisen von der fixen Form auf die offene Affizierbarkeit der Körper und des tänzerischen Materials vor, genau so, wie Cveji es in deleuzianischem Tonfall den heutigen Praktiken konstatiert. „Das Interesse verlagert sich von der Form zum Material, und das sind keine technischen Bedingungen, sondern Performancekonzepte. Dabei stellt solches Material eine Ordnung des Vermischens dar: eine Ordnung, die heterogene Elemente gleichzeitig oder nacheinander platziert, so daß sie Mischbeziehungen bilden, deren Elemente nicht mehr voneinander getrennt werden können. Dieses Materialkonzept bestätigt eine Heterogenese, in der die Komposition nicht durch die Form (Ähnlichkeit mit einer Reihe idealer und allgemeiner Eigenschaften) erarbeitet wird, sondern durch ein Verfahren. Verfahren als Kompositionsprinzip unterscheidet sich von Form durch die Definition solcher Beziehungen, für die eine Offenheit für die Dinge, die als Material dazukommen, erforderlich ist. Beziehungen geben dem Transformationsprozeß Beständigkeit, lassen aber Wandel in der ‚Intention/Spannung‘ oder Verdichtung der materialen Teile zu. Beziehungsschaffende Verfahren erklären, warum Vielfalt nicht entdeckt, sondern konstruiert wird.“15
Aus der ästhetischen Verschiebung der choreographischen Aufmerksamkeit von der (feststehenden) Form auf zunächst unbestimmte Verfahrensweisen folgt ein offenes Verhältnis zwischen Form und Material bzw. zwischen Ausdruck und Inhalt: Choreographie öffnet sich gegenüber beliebigen Ausdrucksmaterien. Was bei Arbeau und Feuillet noch wie die hylemorphische Einprägung einer aktiven Form in eine passive Materie wirkt, weil die tanzenden Körper bei ihnen im Voraus definierten Rahmungen eingepasst werden, verwandelt sich in ein spannungsvolles Verhältnis zwischen heterogenen Kräften. Ralf Stabel, der 2010 eine neu bearbeitete Fassung der Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette Noverres herausgegeben hat16, 14 Jean Georges Noverre, Letters on dancing and ballets, London: C.W. Beaumont, 1951, S. 53. Hier zeigt sich bereits eine paradoxe Konstellation in den choreographischen Reflektionen Noverres. Diese Konstellation durchzieht laut Sulgi Lie als „theoretische Spannung“ durchweg das ästhetische Regime Rancières und spannt es auf „zwischen seiner romantischen Poetik eines ‚Alles spricht‘ und der fiktionalen Differenz eines ‚Alles lügt‘“. – Sulgi Lie, Die widerständige Fiktion, in: Jacques Rancière, „Und das Kino geht weiter – Schriften zum Film“, Berlin: August, 2012, S. 200 f. 15 Cveji, Schnittverfahren und Mischungen, S. 31. 16 Ralf Stabel (Hrsg.), Jean Georges Noverre – Briefe über die Tanzkunst, Berlin: Henschel, 2010. – Stabel paraphrasiert den Wortlaut Noverres, um ihn nach eigenen Angaben für eine heutige Leserschaft verständlicher zu machen. Obwohl ich dieses Vorhaben für sehr wichtig halte, um Noverre gerade einem jüngeren Publikum näher zu bringen, werde ich
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macht eine sehr aufschlussreiche Bemerkung über eine der wichtigsten Fragen, die das Schaffen des Reformators in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bewegt und die Auswirkungen bis heute gezeitigt hat. Obwohl Noverre nämlich als Erfinder des ballet d’action17 bekannt ist und viele deshalb davon ausgehen, es wäre ihm, auch in seinem Nachdenken über den Tanz, in allererster Linie um eine choreographische Adaption der aristotelischen Poetik gegangen, unterstreicht Stabel im Gegensatz dazu, dass bereits mit Noverre der choreographischen Poetiken untergeordnete Tanz obsolet wird, indem er sich von jeder Form festgelegten Ausdrucks befreit und gegenüber potentiell allen, ihm zunächst äußerlichen, Inhalten öffnet. „Könnte es nicht auch sein, dass der Bühnentanz spätestens seit Noverre eine Art Vehikel für vollständig oder oftmals außertänzerische Ideen geworden ist? […] Noverre schafft oder wünscht nicht eigentlich ein Handlungsballett. Denn jeder, der tanzt, handelt per se. Er schafft oder wünscht eigentlich ein Literaturballett, eine beredte Bewegungskunst. Das jedoch ist ein Ballett, in dem der Tanz nicht an erster oder zweiter, sondern an gar keiner Stelle mehr steht, sondern zum Transportmittel für literarisch vorgegebene Abläufe wird.“18
Sicherlich bezog sich Noverre, als er nach literarischen Quellen für seine Werke suchte, nicht auf die heutigen, medial geprägten, Umwelten, sondern größtenteils auf antike und heute ‚klassisch‘ genannte Stoffe der in seiner Zeit überlieferten Literatur. Aber die Idee, sich als Choreograph überhaupt nach Inspirationsquellen umzuschauen, die zunächst nicht zum eigenen Feld gehören und nicht bereits als choreographische Formen gelten, sondern beliebiges Material sind, hat er doch mit vielen zeitgenössischen Tanzschaffenden gemeinsam. Wird Literatur ganz allgemein als etwas verstanden, was der Choreographie im Sinne einer Festlegung von Körperhaltungen, Positionen im Raum und Schrittfolgen äußerlich ist, aber auch mit Tanz zu tun haben kann, dann ist verständlich, warum Stabel Noverre als derart im Rahmen meiner Arbeit nicht aus dieser Ausgabe zitieren, sondern aus der englischen Übersetzung von Cyril W. Beaumont aus dem Jahre 1951, die sich auf die St. Petersburger Ausgabe von 1803 bezieht und meiner Ansicht nach den originalen Wortlaut der ersten Ausgabe von Noverres Briefen aus dem Jahre 1760 am ehesten wiedergibt. Eine aktualisierte deutsche Übersetzung durch Sibylle Dahms ist noch in Arbeit. 17 Sibylle Dahms weist darauf hin, dass Noverre selbst immer nur den Ausdruck ballet en action für seine Choreographien verwendete und es deshalb geradezu falsch ist, dass heute oft von ballet d’action gesprochen wird. Ballett in Handlung sei etwas gänzlich anderes als ‚Handlungsballett‘: „Fatalerweise hat man in der Folgezeit diese scheinbar geringfügige Abweichung für authentischen Noverre gehalten.“ Sibylle Dahms, Der konservative Revolutionär – Jean Georges Noverre und die Ballettreform des 18. Jahrhunderts, München: e_podium, 2010, S. 76. 18 Stabel (Hrsg.), Jean Georges Noverre – Briefe über die Tanzkunst, S. 224.
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heutigen Denkerchoreographen präsentiert. Demnach ist er einer der ersten, die Choreographie nicht als fixes Ausdrucksrepertoire, das die Körper einfach einzustudieren hätten, entwirft, sondern davon ausgeht, dass man ihrem Eigensinn folgen und den Kräfteverhältnissen zwischen ihnen abhorchen muss, was zuallererst noch zur Choreographie werden kann und was sich auf dem Weg befindet zur Form, bevor man eine festgelegte Idee davon bildet. Das Spannungsfeld zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie, also das Außen, das im Inneren der Choreographie arbeitet seit Noverre, verweist auf einen Konflikt, den Jacques Rancière als zentrales Moment seines ästhetischen Regimes der Kunst artikuliert. Rancières Konzept einer Aufteilung des Sinnlichen und sein Bestehen auf einem eher als Frage denn als Antwort verstandenen ästhetischen Paradox hinsichtlich der Praktiken der Kunst und ihres Vermögens, das Sinnliche anders aufzuteilen und anzuordnen, implizieren ein neues Verständnis von Technik; téchne lässt sich demzufolge nicht definieren, bevor sie im Verlauf eines konkreten Verfahrens entwickelt und auf die Probe gestellt, also konstruiert wird. Sogar von seiner eigenen Methode spricht Rancière in einem kurzen Text als einer des ‚Es könnte sein‘, während er sich selbst dabei in der dritten Person auftreten lässt. „A configuration of sense is an effective form of linkage between perceptions, discourses and decisions. This form of linkage creates a specific form of commonsense, defining what can be seen, said and done, and confronting other forms of commonsense, which means other constructions of the possible. This is the main intuition underpinning Rancière’s ‚method‘: there is not, on the one hand, ‚theory‘ which explains things and, on the other hand, practice educated by the lessons of theory. There are configurations of sense, knots tying together possible perceptions, interpretations, orientations and movements. What he does himself is to construct a moving map of a moving landscape, a map that is ceaselessly modified by the movement itself.“19
Was laut Rancière in der Ästhetik aufs Spiel gesetzt wird, ist eine festgestellte und unumkehrbare Subsumption gegebener Inhalte unter jene gebende Ausdrücke, respektive passiver Materien unter aktive Formen. Außerdem lehnt er jegliche Festlegung dessen ab, was zeitgenössisch sei und was nicht. So gesehen ist bereits der 19 Jacques Rancière, A few remarks on the method of Jacques Rancière, parallax, 2009, Vol. 15, No. 3, S. 120. Jens Kastner spricht von ‚Praxen des Entklassifizierens‘, anhand derer Rancière in seinem Nachdenken über das ästhetische Regime vorgehen würde, und Ruth Sonderegger tituliert ihn aufgrund seiner methodischen Vorgehensweise in den Archiven sogar als ‚Sammler des Streits‘. Vgl. Jens Kastner, Der Streit um den ästhetischen Blick – Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Wien: turia+kant, 2012, S. 65 und Ruth Sonderegger, Affirmative Kritik – Wie und warum Jacques Rancière Streit sammelt, in: Robnik/Hübel/Mattl (Hrsg.), „Das Streit-Bild“, S. 52 f.
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Begriff des Zeitgenössischen selbst problematisch, unterstellt er doch, die unter ihm gefassten choreographischen Praktiken und Werke würden an einer bestimmten Zeit, die als gemeinsam geteilte Gegenwart begriffen wird, teilhaben. Rancière dagegen verwirft bezüglich seines um 1800 einsetzenden ästhetischen Regimes sogar die Unterscheidung zwischen Klassik und Moderne. „Die Kategorie der Klassik ist eine moderne Kategorie, eine Begriffsschöpfung der Romantik. Und sie ist eine polemische Kategorie. Das echte Gegenteil der Klassik ist nämlich nicht die Moderne. Nicht Gegenwart und Vergangenheit sind einander entgegengesetzt, sondern zwei unterschiedliche Arten, sie aufeinander zu beziehen: Die jüngere Unterscheidung Klassik/Moderne setzt sich bereits ab von der zuvor dominierenden Unterscheidung zwischen Anciens und Modernes.“20
Im Anschluss daran werden in dieser Arbeit Trennungen wie die zwischen Klassik, Moderne und Postmoderne oder die zwischen ‚TanzTanz‘ und ‚Konzepttanz‘ keine Rolle spielen, und das Adjektiv ‚zeitgenössisch‘ umfasst nichts weiter als Phänomene, deren Datierung nur wenige Jahre zurückliegt, ohne dabei das Heute zu sehr vom Gestern wegkatapultieren zu wollen.21 Ramsay Burt weist auf die Prekarität jeder Art von Einteilung in Epochen innerhalb der Tanzwissenschaft hin, wenn er über die heutige Generation von Tanzschaffenden aussagt: „With benefit of a deeper knowledge and understanding of dance history and theory, these younger dancers questioned their elders’ cults of newness by deliberately engaging with older models of contemporary dance.“22 In den nächsten Kapiteln geht es um die Verstrickungen zwischen Ästhetik und Biopolitik, die seit der Wende um 1800 und bis heute fortwirken. Bevor in den späten 1990er Jahren vielerorts in Europa ein heftiger Streit über den von seinen nicht
20 Jacques Rancière, Was bringt die Klassik auf die Bühne?, in: Felix Ensslin (Hrsg.), „Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne?“, Berlin: Theater der Zeit, 2006, S. 23. 21 Mark Franko weist darauf hin, dass epochalen Einteilungen oft eine teleologische Geschichtsauffassung gemeinsam ist: „Modernist accounts of modern dance history thus perform the telos of aesthetic modernism itself: a continuous reduction to essentials culminating in irreducible ‚qualities‘.“ – Mark Franko, Dancing Modernism/Performing Politics, Bloomington&Indianapolis: Indiana University Press, 1995, S. IX. Ich möchte vorschlagen, das Problem der teleologischen Reduktion ebenso auf jüngere Prognosen des Post zu erweitern, welche seit einigen Jahren die Ismen historischer Avantgarden abzulösen begonnen haben. 22 Ramsay Burt, Judson Dance Theatre – Performative Traces, London/New York: Routledge, 2006, S. 194.
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wohlgesonnen Kritikern so genannten ‚Konzepttanz‘23 entbrannte und manche Praktiken deshalb als choreographische in Frage gestellt wurden, weil sich in ihnen die Körper auf der Bühne nicht mehr genug ‚bewegten‘, hatte es in den USA den berühmten Dissens zwischen Sally Banes und Susan Manning über das Vermächtnis des Judson Church Theatre der 1960er und 70er Jahre gegeben. Ausgelöst worden war er durch eine oft zitierte Aussage von Sally Banes im Vorwort einer späteren Auflage ihres Buches Terpsichore in Sneakers. „In dance, the confusion the term ‚post-modern‘ creates is further complicated by the fact that historical modern dance was never really modernist. Often it has been precisely in the arena of post-modern dance that issues of modernism in the other arts have arisen: the acknowledgement of the medium’s materials, the revealing of dance’s essential qualities as an art form, the separation of formal elements, the abstraction of forms, and the elimination of external references as subjects. Thus in many respects it is post-modern dance that functions as modernist art. That is, post-modern dance came after modern dance (hence, post-) and, like the post-modernism of other arts, was anti-modern dance. But since ‚modern‘ in dance did not mean modernist, to be anti-modern dance was not at all to be anti-modernist.“24
Obwohl die Konfusion zwischen Banes und Manning – welche offensichtlich schon bei Banes selbst sehr akut war – am Ende noch geklärt werden konnte, ist es dennoch nicht produktiv, anhand essentialistischer Kriterien (deren häufigste wohl die Begriffspaare Expressivität vs. Neutralität bzw. Emotionalität vs. ‚reine‘ Bewegung sind25) verschiedene choreographische Praktiken auf ihnen zugeordnete Epochen 23 Zur Kritik dieses äußerst ambivalenten Begriffs und über einen wichtigen Unterschied zwischen den durch ihn bezeichneten Praktiken und der bildenden Konzeptkunst der 1960er und 1970er Jahre merkt Gerald Siegmund an: „Die Trennung von Konzept und Gegenstand trifft auf die Tanzkünstler, die mit dem Label Konzepttanz belegt werden, nicht zu. Nicht der Entzug sinnlicher Erfahrung steht bei ihnen im Vordergrund, sondern die Produktion von anderen Erfahrungen jenseits konventionalisierter Ästhetiken und ihrer Art der Sinnlichkeit, die die tanzenden Körper allzu oft in die Nähe von fetischisierten Objekten rückt.“ – Gerald Siegmund, Konzept ohne Tanz – Nachdenken über Choreographie, in: Reto Clavadetscher/Claudia Rosiny (Hrsg.), „Zeitgenössischer Tanz“, Bielefeld: transcript, 2007, S. 51. 24 Sally Banes, Terpsichore in Sneakers, Hanover: Wesleyan University Press, 1987, S. XV. 25 Mark Franko hat häufig die Unterscheidung zwischen Ausdruck und Form in Bezug auf Diskurse kritisiert, welche choreographische Praktiken essentialistisch auf die Reinheit des Tanzes in der ‚neutralen‘ Ausführung von Bewegung festzulegen versuchen, am vehementesten aber wohl in The Work of Dance: „But was it by chance or by fashion that the emotional physicality of modern dance spoke for radical causes in the thierties?
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einschränken zu wollen. Im Gegenteil: Tanz, sobald er im späten 18. Jahrhundert in Noverres Briefen als Kunst in Erscheinung tritt und nicht mehr die Aufgabe hat, eine bestimmte Gesellschaftsordnung zu repräsentieren (wie noch das Ballett am Hofe Ludwigs XIV.), ist von Anfang an mit dem konfrontiert, was nicht zu ihm gehört: Dem Nicht-Tanz. Auf Fragen, die jeweils eine Festlegung choreographischer und tänzerischer Praktiken auf unterschiedliche Epochen voraussetzen würden, werden hier deshalb keine Antworten gesucht. Gefragt werden soll dagegen, was genau es ist, das gerade als Nicht-Tanz fixe Tätigkeitsformen und als NichtChoreographie fixe Formsprachen verunsichert, wenn die Körper innerhalb einer offenen Praxis tätig werden, die sich nicht anhand vorgefertigter Schemata fassen lässt. Obwohl im Verlauf dieser Arbeit zwei Begriffe – Ästhetik einerseits und Biopolitik andererseits – im Zentrum stehen, wird versucht, sie nicht direkt auf die analysierten Stücke anzulegen, sondern ihnen auf Umwegen näherzukommen. Die Frage ist dann, wie sie in diesem Kontext funktionieren könnten, nicht aber, dass sie notwendigerweise irgendetwas mit ihm zu tun haben, womit gesagt ist, dass auf einem gewissen methodischen Abstand zwischen den Stücken und den über sie angestellten Überlegungen bestanden wird: Es könnte sein. In Parables for the Virtual findet Brian Massumi eine klare Formulierung, um den allen Schematisierungen innewohnenden Widerspruch zu benennen. „If you apply a concept or system of connection between concepts, it is the material you apply it to that undergoes change, much more markedly than do the concepts. The change is imposed upon the material by the concepts’ systematicity and constitutes a becoming homologous of the material to the system. This is all very grim. It has less to do with ‚more to the world‘ than ‚more of the same.‘ It has less to do with invention than mastery and control.“26
Prinzipiell sei davon ausgegangen, dass Choreographie in jedem einzelnen der besprochenen Stücke anders gedacht wird und deshalb keine bestimmte Idee von Choreographie als Schablone dienen kann, die sich dann gleichermaßen auf ganz unterschiedliche Phänomene anlegen lässt. Zwar wird durchgehend die Frage leitend sein, wie choreographische Praktiken innerhalb des im Folgenden skizzierten ästhetisch-biopolitischen Feldes verortet werden können, aber kein allgemeingültiges Konzept vermeintlich zeitgenössischer Choreographie aus ihnen abgeleitet. Might not postmodern cool be another form of theatrical ideology? What does it speak for? What links the waning of our ability or desire to see emotional bodies and the erasure of labor- and class-related issues at century’s close?“ – Mark Franko, The Work of Dance – Labor, Movement, and Identity in the 1930s, Hanover: Wesleyan University Press, 2002, S. 6 f. 26 Brian Massumi, Parables for the Virtual – Movement, Affect, Sensation, Durham&London: Duke University Press, 2002, S. 17.
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Wenn versucht wird, unterschiedliche Tanzpraktiken vor dem Hintergrund der Ästhetik – als eines besonderen Sensoriums (rezeptionsästhetisch) und nicht länger autonomen Tätigkeitsbereichs (produktionsästhetisch), die beide Ende des 18. Jahrhunderts entstehen – und in Bezug auf das von Foucault im selben Zeitraum angesiedelte Erstarken biopolitischer Macht- und Wissensformen zu skizzieren, sei damit nicht unterstellt, Ästhetik und Biopolitik bedingten sich gegenseitig oder sogar, dass die eine Ursache der anderen wäre. Ebenso wenig soll behauptet werden, dass mit der Öffnung ihrer Verfahrensweisen, die anhand von Noverres Briefen über die Tanzkunst und über die Ballette beschrieben wird, Choreographie eine eindeutige Richtung einschlägt. Es geht darum zu demonstrieren, dass das Problem des Lebens als Lebendiges sowohl für ästhetische als auch für biopolitische Fragestellungen zentral ist, gerade weil es keine eindeutigen Richtungen zulässt. Während es, wie zu zeigen sein wird, im Kontext der Biopolitik jedoch um eine Optimierung der Lebendigkeit der Körper im Rahmen eines einheitlich kalkulierten Lebens geht, wird ihre Praxis innerhalb der Ästhetik in der Schwebe gelassen. Der Ästhetik im Allgemeinen wie den unterschiedlichen choreographischen Praktiken im Besonderen wohnt dabei von Anfang an die Tendenz inne, die ihnen eigenen Spannungen aufzulösen und sich vollends mit der Idee eines bestimmten Lebens zu identifizieren, das deshalb erneut mit einer fixen Form zusammenfallen würde. Insofern können die unbestimmten Körper der Ästhetik und ihr Tanz von neuen biopolitischen Macht- und Wissensformen vereinnahmt werden. Eben dieser Berührungspunkt zwischen beiden ist es, um den bereits viele der Überlegungen Noverres in seinen Briefen kreisen und den Rancière den Knoten der Ästhetik nennt, um damit die ungelöste Spannung zwischen Leben und Lebendigem im ästhetischen Regime zu betonen. In einem längeren Interview mit Peter Hallward bringt er den sehr ambivalenten Bruch um 1800 auf den Punkt. „What is the kernel of the aesthetic revolution? First of all, negatively, it means the ruin of any art defined as a set of systematisable practices with clear rules. It means the ruin of any art where art’s dignity is defined by the dignity of its subjects – in the end, the ruin of the whole hierarchical conception of art which places tragedy above comedy and history painting above genre painting, etc. To begin with, then, the aesthetic revolution is the idea that everything is material for art, so that art is no longer governed by its subject, by what it speaks of: art can show and speak of everything in the same manner. In this sense, the aesthetic revolution is an extension to infinity of the realm of language, of poetry. It is the affirmation that poems are everywhere, that paintings are everywhere. So, it is also the development of a whole series of forms of perception which allow us to see the beautiful everywhere. This im-
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plies a great anonymisation of the beautiful […] The whole paradox of an aesthetic regime of art is that art defines itself by its very identity with non-art.“27
Das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit steht unter ästhetischen Gesichtspunkten unter demselben paradoxen Stern. Im Folgenden wird vor diesem Hintergrund (1.) herausgearbeitet, wie sich Körper in ihrem Vermögen denken lassen und welche Konsequenzen das auf choreographische Konzepte hat, (2.) gezeigt, dass sich Choreographie und Tanz vor dem Hintergrund des Lebens als Lebendigem und auf einem affektiv wirksamen Kräftefeld verortet seit Noverre mit dem Problem sowohl der Ästhetik als auch der Biopolitik konfrontiert sehen und in diesem Moment ein wichtiger Bruch mit vorangegangenen Ideen von Choreographie stattfindet sowie (3.) die lebendige Tätigkeit von Körpern in Bezug auf offene Verhältnisse zwischen Formen und Tätigkeiten stark gemacht.28 Was dabei auf dem Spiel steht, ist Choreographie als Produktionsweise und als spezifischer Ausdruck unter diese Produktionsweise subsumierter Inhalte. Louis Althusser denkt in seiner späten Phase des aleatorischen Materialismus jede Form als kontingenten Zusammenhang der Tätigkeit ihrer Konstituenten. „Eine Produktionsweise ist eine Kombination, weil sie eine Struktur ist, die eine Serie von Elementen in eine Einheit zwingt. In der Produktionsweise ist die Art und Weise, in der die Struktur über ihre Elemente herrscht, bestimmend dafür, welche spezifische Ausprägung sie annimmt.“29
Entgegen einer solchen Herrschaft der Struktur über ihre Elemente sollen manche Praktiken im sogenannten zeitgenössischen Tanz nicht auf ein fixes Modell bezogen werden, damit es als Analysematrix auf sehr unterschiedliche und singuläre 27 Peter Hallward, Politics and aesthetics: An interview, ANGELAKI – journal of the Theoretical Humanities, Volume 8, Number 2, August 2003, S. 205 f. 28 Wobei ich damit ein ähnliches Anliegen verfolge wie Bojana Cveji, wenn sie in ihrer Dissertation das Aufbrechen der traditionellen Fesselung des tanzenden Körpers an von der Choreographie vorgeschriebene Bewegungsabläufe in den Fokus ihrer Untersuchungen rückt: „The ideas of choreography are inventions of the body and/or movement in performance, as well as of time that is coextensive with the body and movement in performance. The idea which constituted modern dance in the first decades of the twentieth century is the synthesis between the body and movement under two operations: subjectivation of the dancer through (emotive) self-expression, and objectivation of movement through the physical expression of the dancing body.“ – Bojana Cveji, Choreographing Problems: Expressive Concepts in European Contemporary Dance, Unveröffentlichtes Manuskript, S. 20. 29 Louis Althusser, Materialismus der Begegnung, Berlin/Zürich: diaphanes, 2010, S. 56.
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Stücke Anwendung finden kann, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und im Rahmen dieser Arbeit nur zu instrumentellen Zwecken zusammengestellt sind. Es geht bei den eingeschobenen Stückanalysen nicht um die Veranschaulichung einer Theorie durch mehr oder minder passende Beispiele. Deshalb werden die Stückanalysen Parabeln genannt und unterbrechen in der Funktion von Einschüben den Argumentationsfluss der Kapitel. Durchweg geht es bei allem um den vermögenden Körper, der seine Singularität unter ästhetischen Gesichtspunkten bewahrt, innerhalb seiner biopolitischen Vereinnahmung jedoch Gefahr läuft, sie zu verspielen. Ein Leben, das sich in der ästhetischen Erfahrung zeigt und gleichzeitig Gefahr läuft, gerade deshalb von biopolitischen Apparaten funktionalisiert zu werden.
Parabel I: Mette Ingvartsens/Jefta van Dinthers It’s in the air „Denn der Mensch kann sich seines eigenen Potenzials zu existieren, zu schaffen und aus sich selbst zu entspringen nur bewusst werden, solange dieses nicht realisiert ist. Potentialität ist demnach eine zeitliche Konstellation, die unabhängig vom Handeln besteht und nicht in eine Aktion übersetzt wird. Potenzialität zeigt sich nur dann, wenn sie nicht verwirklicht ist: wenn das Potential einer Sache oder einer Person Möglichkeit bleibt.“
1
BOJANA KUNST/WAS WIRD NICHT GESCHEHEN?
Auf der Mitte der Bühne, zwischen mehreren Podesten auf beiden Seiten, wo die Zuschauer Platz genommen haben, befinden sich zwei riesige Trampoline. Mette Ingvartsen und Jefta van Dinther betreten den Raum und die geräumigen Flächen der elastischen Netze, mit denen sie bespannt wurden. Sobald sie auf ihnen zum Stehen gekommen sind, passiert zunächst sonst nichts. Sie stehen einfach still. Zumindest ist das der erste Eindruck, den die Zuschauer haben und der bald korrigiert werden muss. In einem im Rahmen der Vorbereitung entstandenen Selbstinterview schreibt Ingvartsen über ihren und van Dinthers Ausgangspunkt für das gemeinsam erarbeitete Stück: „It started as a very simple physical desire, a nearly childlike passion arising through the remembrance of how the body can feel almost supernatural by the very fact of extending its capacity to jump.“2 Zwar zeichnen sich die Fähig1
Bojana Kunst, Was wird nicht geschehen?, in: Sigrid Gareis/Krassimira Kruschkova
2
Mette Ingvartsen, On IT’S IN THE AIR, in: „Everybodys Self-Interviews“, everybodys
(Hrsg.), „Tanz und Performance der Zukunft“, Berlin: Theater der Zeit, 2009, S. 178. publications, 2008, S. 55.
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keit der Körper zu springen und die Lust daran zu Beginn des Stückes noch nicht direkt ab, eben weil das Springen selbst ausbleibt, doch sind sie sehr bald schon nicht mehr dort, wo sie sein sollten. Sie stehen zwar auf den Trampolinen, sind zugleich aber auch über sich, unter sich, neben sich. In der Tat passieren viele Dinge gleichzeitig und zunächst fast unmerklich. Von Anfang an beginnen sowohl ihre Körper als auch die Oberflächen der Trampoline in Schwingungen zu geraten. Stehen die beiden Performer also wirklich nur still auf ihnen? Schließen sich Stillstand und Bewegung in diesem lang gezogenen Moment, der den Anfang des Stückes bildet, gegenseitig aus? Dem ist nicht so. Es gibt, das wird im Verlauf von It’s in the air, das 2008 im Essener PACT Zollverein produziert wurde, eine Form ungerichteter Bewegung, die den Stillstand selbst erfüllt und das stille Stehen bald als stille Bewegtheit erfahrbar werden lässt. Denn noch während sie stehen, findet bereits, an der Schwelle des Wahrnehmbaren, eine subtile Bewegung statt, die schwer zu registrieren ist, weil sie nicht, was sehr typisch wäre für den Tanz und woran die meisten im Publikum gewöhnt sind, in den Raum hineingeht, markante Positionsänderungen und stilisierte Figuren hervorbringt und konturierte Posen von den bewegten Übergängen dazwischen abgrenzt, sondern sich über einige Minuten, zu Beginn des Stücks, vielmehr im Körper der Performer abspielt, ohne dabei direkt auf den Raum hingerichtet oder an die Zuschauer adressiert zu sein. Das Moment dieses permanenten Übergangs erinnert an Massumis Privilegierung eines unbestimmten körperlichen Potentials gegenüber dessen Festsetzung auf bestimmten Positionen. „When a body is in motion, it does not coincide with itself. It coincides with its own transition: its own variation. The range of variations it can be implicated in is not present in any given movement, much less in any position it passes through. In motion, a body is in an immediate, unfolding relation to its own nonpresent potential to vary. That relation, to borrow a phrase from Gilles Deleuze, is real but abstract.“3
Eine Richtung der stummen Bewegung ist zunächst nicht zu erkennen, dennoch ereignet sie sich in ihrer Intensität innerhalb der scheinbaren Bewegungslosigkeit, steigert sich, überträgt sich von Moment zu Moment und wächst an von Vibration zu Vibration. Die Netze der Trampoline geraten mehr und mehr in Schwingung, obwohl die beiden Körper auf ihnen keinen Impuls erkennen lassen, der all das auslösen würde; weder beugen sie ihre Knie noch heben ihre Füße vom Boden ab zunächst. Es ist nicht zu erkennen, wo genau die Bewegung herkommt, sondern nur, dass sie immer weitere Teile des Raums affiziert und auf eine unbestimmte, geradezu subliminale Weise auflädt mit dem Potential für etwas: Den Raum zwischen den beiden Performern ebenso wie den Raum zwischen ihnen und den Zuschauern. 3
Massumi, Parables for the Virtual, S. 4.
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Abbildung 1: Mette Ingvartsens/Jefta van Dinthers It’s in the air (2008)
Pressephoto: Peter Lenaerts.
Wobei: Im eigentlichen Sinne handelt es sich für eine lang gezogene Weile gar nicht um die Ausführung einer aktuellen Bewegung, wenn man unter der Ausführung aktueller Bewegungen den Bezug auf ein im Vorhinein feststehendes Bewegungsmuster versteht, innerhalb dessen sich die Tätigkeit tanzender Körper entfalten könnte, sondern um das Entfalten eines Potentials und eines Vermögens der Körper zur Ausführung von Bewegungen, um virtuelle Bewegungen also, welche kontinuierlich spürbarer werden für die Zuschauer und die zuallererst noch in aktuellen Bewegungen resultieren könnten, sich aber nicht in ihnen verwirklichen. John Protevi schreibt über das deleuzianische Konzept der Virtualität, die immer mit dem Aktuellen als etwas aktuell Gegebenem zusammenhängt, ohne jemals mit ihm zusammenzufallen, was sicherlich auch für eine in It’s in the air sehr wichtige, affektiv wirksame Ebene zutrifft: „The virtual is a purely differential field, composed of differential elements, differential relations, and singularities. The actual is a set of stable substances endowed with sets of extensive properties and locked into stereotypical behavior patterns.“4 Die qualitativen Transformationen, die Ingvartsen und van Dinther zunächst generieren, bestehen eher in einer kurz bevorstehenden denn einer aktuell stattfindenden Aktivität ihrer Körper.5 Sie wirken wie etwas, das aktuell stattfindet, eben 4
Protevi, Political Affect, S. 11.
5
Die wiederholte Verwendung des deleuzianischen Konzepts der qualitativen Transformation im Rahmen dieser Arbeit wurde maßgeblich durch die Dissertation von Petra Sabisch inspiriert, in der sie Resümee zieht, indem sie eine wichtige Frage stellt: „This
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weil es kurz bevorsteht. Oder wie etwas, das kurz bevorsteht, weil es aktuell stattfindet. Oder wie die Unmöglichkeit, zwischen Stattfinden und Bevorstehen zu unterscheiden. Sie eröffnen eher ein Vermögen, tätig werden zu können als aktuelle Tätigkeit. Wie funktioniert das? Wie wird das produziert? Was man nicht sieht, sondern nur spürt, weil es sich an der Schwelle der bewussten Wahrnehmung ereignet, ist eine vermittels der Technik des Body Mind Centering (BMC) initiierte, minimale Anspannung und Erschlaffung ihrer Muskeln, die dazu führt, dass Bewegung entsteht, wo eigentlich keine sein sollte. Ingvartsen und van Dinther stehen und stehen gleichzeitig nicht. Nutzen die Tänzer ihren Atem, um ihn nach unten abzuleiten und so das Netz und ihre Körper darauf in Schwingung zu versetzen? Weit davon entfernt, dass sich solche Fragen beantworten ließen, steht zunächst nur fest, dass die beiden Körper nicht einfach auf den Netzen stillstehen, sondern auf ihnen seicht vibrieren, zusammen, synchron und fast so, als könnten sie im nächsten Moment plötzlich nicht mehr da sein, weil sie von der Entladung des aufgestauten Potentials, sich bewegen zu können, weit davon geschleudert worden wären. Was heißt das für das Verhältnis zwischen der Choreographie und den tanzenden Körpern? Traditionellerweise ist Choreographie gerade jene Form, durch die Körper nicht nur in Bewegung versetzt werden, sondern sich dadurch auch im wahrsten Sinne des Wortes festlegen, feststellen und manchmal sogar festsetzen lassen müssen innerhalb einer bestimmten Bewegung, in bestimmten Haltungen, auf bestimmten Positionen im Raum, vor allem aber auch in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Sobald sie nämlich von einer choreographischen Form, die dann ihre Tätigkeit vereinnahmt, in diesem Sinne erfasst werden, sind sie auch auf ihre Möglichkeiten innerhalb eines gegebenen Bewegungsmusters verwiesen und dahingehend begrenzt, sich in vorgeschriebenen Formen aktualisieren zu müssen. Was dabei verloren geht ist etwas, das es nur zwischen ihnen gibt, das niemandem gehört und das niemand wirklich steuern kann: Ein zunächst unbestimmtes Potential, ein Vermögen der Körper zu etwas, das nichts Bestimmtes ist, eine nur potentielle Gemeinschaft der Körper, die, sobald gemeinsame Haltungen, Positionen und Anteile von einer choreographischen Ordnung festgelegt werden, von dieser Abstand nimmt und sich zurückzieht. Dieses Etwas der Körper ist es, das während It’s in the air in den Vordergrund rückt und erfahrbar wird. Für die Zuschauer wird mit der Zeit immer deutlicher erkennbar, dass die beiden, an der Grenze zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit, auf und ab gehen frame, choreography’s passe-partout, highlights a radical question concerning the delirious circumstances of current art production: how can choreography produce qualitative transformations of the sensible rather than quantifiable products of representation?“ – Petra Sabisch, Choreographing Relations – Practical Philosophy and Contemporary Choreography, München: e_podium, 2010, S. 243.
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auf den Trampolinen, während sie gleichzeitig regungslos dastehen, obwohl sich etwas in ihnen regt und immer weiter um sich greift. Später geraten auch ihre Arme in leichte Schwingungen, ein Impuls, der sich bis in die Fingerspitzen hinein fortsetzt und sie bald schon vor- und zurückpendeln lässt, anscheinend von einem gemeinsamen Impuls getragen. Nach einigen weiteren Minuten jedoch wird klar, dass sich zwischen Ingvartsen und van Dinther etwas verändert. Durch die Synchronizität ihres Auf- und Abgehens hindurch zeichnet sich etwas ab, das komplexer ist als eine synchronisierte Tätigkeit von Körpern im Raum. Denn nicht immer ist ihr Auf und Ab wirklich synchron. Es kommt zu kontinuierlichen Verschiebungen zwischen ihnen, zu einer permanenten Variation des Verhältnisses ihrer jeweiligen Schwingungen und Vibrationen auf den Oberflächen der Trampoline, die wirkt, als würden sich ihre Körper gegenseitig affizieren und etwas zwischen sich kommunizieren: Unterschiedlich synkopierte Tempi und Zeiteinheiten, die ununterbrochen ineinander übergehen, ohne sich auf ein gemeinsames Maß zu beziehen, sondern die nur einer ihnen immanenten Modulation folgen. Zwar wird diese Modulation bei beiden gleichmäßig größer und setzt sich stets weiter in den Raum hinein fort, während sie paradoxerweise nach innen, auf den eigenen Körper, gerichtet ist. Nichtsdestotrotz bleibt in jedem Moment unersichtlich, wohin genau sie geht und welche Gestalt sie annehmen wird. Was passiert, ist nicht ausgestellt für einen Zuschauerblick, der allzu gerne nach einer klaren Grenze zwischen unbewegten Figuren und bewegten Übergängen dazwischen sucht. Vielmehr hat jeder einzelne Zuschauer im Publikum das Gefühl, mit seiner Wahrnehmung zwischen Bewegung und Stillstand und zwischen der Bildung und Auflösung konturierter Schemata des Körpers zu oszillieren, ohne jemals einen der beiden extremen Pole dabei zu erreichen. Im Fokus ist deshalb dasjenige Moment, in dem Bewegung ansetzt, ohne vollends entwickelt zu sein, das Moment, in dem Bewegung im Körper als unbestimmte Bewegung entsteht, weil er von einem anderen Körper affiziert wird. Das Gefühl des ‚Drinnenseins‘ in der unbestimmten Zone zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen der Bildung und der Auflösung einer Kontur – dort, wo der Körper am wenigsten greifbar ist, weil ein anderer Körper gerade auf ihn einwirkt –, wird immer stärker, bis zu dem Punkt, an dem die Füße der beiden Performer plötzlich vom Boden abheben. Wenn dies passiert, traut man seinen Augen nicht, meint man doch, zum ersten Mal im Leben zu begreifen, dass der menschliche Körper zu so etwas Unglaublichem in der Lage ist: Einfach um ein paar wenige Zentimeter vom Boden abzuheben, führt dann zu einer auch für die Zuschauer sehr einschneidenden, ganz konkreten, physischen Zustandsveränderung ihrer eigenen Körper. Nie jedoch gibt es wirklich einen gleichmäßigen Puls des Auf- und Absteigens in It’s in the air. Was in der Luft liegt, bleibt ungreifbar. Ständig synkopieren sich einzelne Sprungsegmente und Zeiteinheiten, die Ingvartsens und van Dinthers
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ebenso wie die der vielen Zuschauerkörper, aus denen das Publikum im Raum besteht und die zunehmend angesteckt werden von dem, was auf den Trampolinen passiert. Dadurch entsteht der Eindruck, dass alle an diesem Abend auf eine sehr ungewöhnliche Weise aufeinander bezogen sind, nicht aber derart, dass einer der Performer die Bewegungen des anderen einfach nachahmen und kopieren würde und das Publikum seinerseits das Bild eines bestimmten, fertigen Bewegungsmusters und einer gesetzten Körperordnung genießen könnte, sondern so, dass Ingvartsen und van Dinther unzählige, winzig kleine, qualitative Transformationen bzw. nur Bestandteile von potentiellen, impliziten Qualitäten des aktuellen Geschehens aufgreifen, variieren und zurückspielen. Die Zuschauer spüren dabei mehr das Intervall zwischen den aktuellen Aufs und Abs als dass sie einen kontinuierlichen Wechsel zwischen Bewegungen einerseits und Figuren andererseits vor Augen haben könnten. Transformiert und als überaus nuancenreich erfahrbar wird derart der Übergang zwischen dem Körper als unbewegter Pose und dem Körper als bewegtem Übergang zwischen Posen. Zwar ist das Setting aus zwei Trampolinen, zwei Performern und ihren Sprüngen darauf als apparatives Dispositiv gegeben, was aber innerhalb dieses Dispositivs geschieht, ist mehr als das, woraus es offensichtlich besteht.6 Denn die vielschichtigen Nuancen, welche Ingvartsen und van Dinther im Verlauf des Stücks ebenso durchlaufen wie produzieren, machen aus ihrer Tätigkeit mehr als ihr Verhältnis zu einer bereits gegebenen choreographischen Form, die im Vorhinein feststehen würde. Es sieht im Gegenteil so aus, als würde die Tätigkeit ihrer Körper die Form, in der sie sich befinden, in actu hervorbringen. Diese ‚bloße‘ Form und diese Art generierender Praxis sind auch für die Zuschauer eng verbunden mit einer spezifischen Lust am Entstehen von Formen und deren Verhältnis zu einer lebendigen, nicht vollends bestimmten, Tätigkeit von Körpern.7 Die Lust, welche die Zuschauer 6
Anders als Foucault definiert Giorgio Agamben ein Dispositiv durch seine reglementierende Funktion, also dadurch, dass es die Tätigkeit von Lebewesen auf bestimmte Formen bezieht und beschränkt. Resultat von Reglementierung und Widerstand wäre dann das Subjekt. Lebendige Tätigkeit ist im Gegensatz zu Dispositiven das sie übersteigende Moment: „Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu im Stande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Redeweisen der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern. […] Subjekt nenne ich das, was aus der Beziehung, sozusagen dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht.“ – Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv?, Berlin/Zürich: diaphanes, 2008, S. 26 f.
7
In Kapitel 5 werde ich näher auf diese der ästhetischen Erfahrung zugrunde liegende Lust an der Genese von Formen eingehen, die eng mit dem um 1800 aufkommenden Problem des Lebens als Lebendigem sowie mit Kants und Schillers Überlegungen zum Schönen zusammenhängt.
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empfinden, hat nichts damit zu tun, dass sie sich die Körper, deren Tätigkeit sie beiwohnen, in einer bereits fertigen choreographischen Form befindlich vorstellen würden, sondern im Gegenteil damit, dass sie ihnen zugucken, während sie Formen hervorbringen und aus ihrer Tätigkeit heraus entwickeln, wobei simultan weitere, nicht aktualisierte, Formen an der Grenze des aktuell Gegebenen spürbar werden.8 It’s in the air besteht aus einer fast einstündigen Transduktion von Formen: Somit ist die Lust der Zuschauer eng verbunden mit der Lust der Performer auf der Bühne, woraus sich eine gemeinsame Lust daran ergibt, der Emergenz von Formen beizuwohnen. Was Deleuze über die Idee des Körpers bei Spinoza und sein Vermögen (potentia) schreibt, ist eine Tendenz, die dem Stück von Anfang an innewohnt, sich jedoch in dessen Verlauf immer mehr entfaltet: „Bei Lust hingegen expandiert unser Vermögen, setzt sich zusammen mit dem Vermögen des anderen und vereinigt sich mit dem geliebten Gegenstand.“9 Diese ‚Vereinigung‘, die wohl eher eine Auffächerung der Erfahrung und eine Multiplizierung der subliminalen Komponenten ist, aus denen sie zusammengesetzt wird, hat einen sehr starken Einfluss auf die Rezeptionshaltung der Zuschauer. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer ist dadurch weniger auf den einzelnen Körper auf der Bühne gerichtet als vielmehr auf das, was zwischen ihnen einerseits und zwischen beiden und dem Publikum andererseits passiert. Insofern ist das, wovon Deleuze spricht, vor dem Hintergrund von It’s in the air im eigentlichen Sinne keine ‚Vereinigung‘ mit dem Gegenstand im Sinne einer Identifikation mit einem bestimmten Körper, sondern der Wechsel der Wahrnehmung der Zuschauer hin zu einem Feld unterschwelliger Nuancen und qualitativer Transformationen zwischen den Körpern und weg von einzelnen und bereits konturierten ‚Gegenständen‘ in diesem Feld. In den Vordergrund der Aufmerksamkeit rückt dasjenige Moment, in dem sich einzelne Körper gegenseitig affizieren und deswegen die Frage, wie dadurch ihr Vermögen, auf nicht im Vorhinein bestimmte Weise tätig zu werden und als generatives Potential immer weiter ansteigt. Peter Hallward hat in seinem Out of this World – Deleuze and the Philosophy of Creation das hervorbringende Moment der Transduktion sehr treffend beschrieben: „A creating doesn’t operate upon the creature from a position external to it, like a transitive cause upon its effect. Creation is precisely the immanent combination of both creature and creating: the creating is more ‚internal‘ to the creature than any actual inside.“10 8
Insofern entspricht die ästhetische Lust dem, was Deleuze ‚Begehren‘ nennt, welches ihm zufolge auf „die Konstitution eines Immanenzfeldes oder eines ‚Körpers ohne Organe‘ verweist, der sich nur durch Intensitätszonen, Schwellen, Gradienten, Ströme definiert.“ – Gilles Deleuze, Lust und Begehren, Berlin: Merve, 1996, S. 31.
9
Ders., Spinoza – Praktische Philosophie, Berlin: Merve, 1988, S. 133.
10 Peter Hallward, Out of this World – Deleuze and the Philosophy of Creation, London/New York: Verso, 2006, S. 28.
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Zwar sehen wir zunächst nur, was offensichtlich passiert, nämlich dass bsp. einer der beiden Tänzer nach einer Weile langsam beginnt, von einer frontalen in eine seitliche Position uns gegenüber überzugehen, mit jedem neuen Sprung ein winzig kleines bisschen, so dass wir nicht sicher sein können, ob der Körper vor uns in einem bestimmten Augenblick frontal, seitlich oder in der scheinbar unendlichen Bandbreite dazwischen im Verhältnis zu uns steht, weil gleichzeitig sehr viel mehr passiert – mit den Körpern vor uns ebenso wie mit unseren eigenen. Gerade deshalb aber werden Intervalle spürbar, die weit über das hinausgehen, was wir in einfache Schemata der Wahrnehmung von Bewegung fassen können und womit wir bestimmte Körper identifizieren, weil sie sich darunter und jenseits davon abzeichnen, nahezu subliminal. Hallward schreibt über derart intensiv und virtuell konzipierte Bewegungen: „If the actual is sustained by the interest of action then virtual insight will require the paralysis of action and the dissolution of the actor. If the actual is sustained by the coordination of the body that links sensations and actions in an organic ‚sensory-motor-mechanism‘, then access to the virtual will require the dislocation of this mechanism.“11
Das komplette Verhältnis zwischen dem Bild tanzender Körper, das wir uns machen können und den Kräften, die zu seiner Entstehung als Bild beitragen, dreht sich um. Nicht nur zwischen dem, was wir unter Bewegung und Ruhe oder unter der gegebenen Kontur und der Auflösung dieser Kontur eines Körpers verstehen, sondern auch zwischen dem, was offensichtlich die Aktivität oder die Passivität tänzerischer Tätigkeit ausmacht. Alles wird nach und nach zu einem einzigen Übergang, weder auf der einen noch auf der anderen Seite unserer bewussten Wahrnehmung, sondern wortwörtlich in the air, dazwischen. Immer weiter wächst das Potential unmerklicher, zunächst nicht auf die Bildung von Figuren ausgerichteter, virtueller Bewegungen an und trägt die Körper irgendwann in den Raum hinein, nach oben und unten und zu den Seiten weg, ohne dass sie direkt auf eine der Richtungen abzielen würden, sondern eher in sich selbst schwingen, dabei aber alle Richtungen gleichzeitig beinhalten. Obwohl Ingvartsen und van Dinther nach einer Weile nicht nur zwischen verschiedenen Positionen im Raum changieren, sondern auch unterschiedliche Körperhaltungen (Stehen, Sitzen, Knien, Liegen – in allen denkbaren Variationen) ineinander übergehen lassen, wirkt dieser kontinuierliche Übergang so, als wären sie auf allen Positionen und in all den Körperhaltungen gleichzeitig, während sie in keiner von ihnen sind. Es scheint, als wäre das Vermögen ihrer Körper, diese Positionen zu durchlaufen und jene Körperhaltungen einzunehmen, nie aktuell mit ihnen identisch, sondern immer mehr als das, was sich gerade vor unseren Augen 11 Ebd., S. 34.
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abspielt, genau deshalb, weil es als Vermögen der Körper ‚in der Luft‘ schwebt, ohne von all den Bestimmungen und Festlegungen in diesem Sinne choreographisch vereinnahmt werden zu können. Was eher spür- als wirklich sichtbar wird in den Intervallen zwischen den aktuell stattfindenden Bewegungen, die wir benennen und kennzeichnen können, ist etwas, das zuallererst zu ihnen hinführt, seinerseits aber virtuell bleibt und mehr ist als das, was sicht- und sagbar wird in einem bestimmten Augenblick. Besonders deutlich wird dies in der zweiten Hälfte des Stücks, wenn die beiden Tänzer zum ersten Mal mit ihren Händen nach den Netzen der Trampoline greifen und sich daran festhalten. Man könnte meinen, der Griff ihrer Hände würde sie positionieren, aber dem ist nicht so. Sie fahren fort mit dem Abprallen vom Boden, als würde es nichts geben, das sie halten könnte, auch nicht der kontrollierte Zugriff auf die gegebene, greifbare Welt um sich herum. Aber nicht nur die Hand des immer ungewisser werdenden Körpers hat keine feste Funktion mehr. Auch an der Stelle, wenn sie die Trampoline wechseln und dann auf einem der beiden zusammenkommen und sich umarmen (zum ersten Mal wird in jenem Moment eine deutliche Referenz auf die Tradition des Duetts hergestellt), ist diese Umarmung in ihrer Codierung nicht allzu sehr herausgehoben aus dem immer höher steigenden Auf und Ab der Sprünge, runter zu den Trampolinen und hoch und wieder weg von ihnen, innerhalb derer sie sich ereignet. Vielmehr wirkt die Bewegung zweier Körper, die für einen kurzen Moment darin mündet, dass sie sich in den Armen halten, eher nebensächlich und unbedeutend im Vergleich zu den zahllosen anderen, nach wie vor fast unmerklichen, affektiven Zustandsveränderungen, die sich überall auftun. Auch ihr Festhalten aneinander kann den sich immer weiter entziehenden Boden unter ihnen nicht stillstellen oder festsetzen und ihn durch die Etablierung einer identifizierbaren Situation als Hintergrund ausschließen. Der Hintergrund, der immer vordergründiger wird und vor dem sich das Ausstrecken der Arme der beiden Körper ebenso wie ihre Umarmung abzeichnet, ist alles andere als klar umrissen, sondern viel zu komplex, um in einem einzelnen Bild, einer einzelnen Bestimmung des Körpers oder einer bestimmten Situation, welche die Körper auf eine bestimmte Art verbinden könnte, aufzugehen. Was nicht länger nur unterschwellig passiert, sondern ins Zentrum der Wahrnehmung rückt, schleudert die Körper höher in die Luft und weiter weg von jeder Stillstellung oder eindeutigen Bewegung ihrer selbst als jedes Trampolinnetz es könnte. Es öffnet sie gegenüber weiteren, virtuellen Körpern, die sie in sich bergen und die nun in eine unlösbare Spannung mit dem treten, was aktuell gegebenen ist. In It’s in the air passiert etwas, sowohl mit den Körpern der Performer als auch mit den Körpern der Zuschauer, das man nicht einfach in kinetische Raster fassen kann und das mit qualitativen Transformation am Rande der Wahrnehmungsschwelle zu tun hat. Weder geht es, wie es vielerorts in der Choreographie der 1990er Jahre der Fall war, um eine Auseinandersetzung mit der repräsentativen Verfassung von
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Körpern unter semiotischen oder ‚poststrukturalistischen‘ Gesichtspunkten12 noch um die naive Rückkehr zu einem unbekümmerten Genuss kinästhetischer Konzepte des Körpers aufgrund seiner vermeintlich ‚natürlichen‘ Bewegungsstrukturen.13 Ingvartsen schreibt über ihre und van Dinthers Perspektive auf die zutiefst problematische Beziehung zwischen Choreographie als Form und Tanzen als Tätigkeit: „We go from the notion that the body needs the body to know what it is capable of doing and that it is only through experimenting with the force of the body itself that its powers can be uncovered. […] We don’t think that these two approaches can ever be entirely distinguished, but we need to separate them in order to work, to define the specificities of our method, which for this work starts from the body and its movements working outward towards structure and composition rather than the other way around.“14
Worum es geht, sind zwei diametral entgegengesetzte Arten, Körper und/in Bewegung zu denken. Bewegung kann einerseits aktuell ausgeführte und extensive Bewegungen meinen und auf das verweisen, was im Verhältnis zwischen einer cho12 Beispielsweise in Jérôme Bels Shirtology (1997), The Last Performance (1998), Xavier le Roy (Konzept und Umsetzung: Xavier le Roy, 2000) oder in Xavier le Roys Giszelle (2001) geht es eher um das Spiel mit unterschiedlichen Codierungen des Körpers und seine Konzeptualisierung als kulturell bereits konstituierter Text als um einen affektiven, unbestimmten Körper. Im Gegensatz zum Machtwissen (potestas) der Choreographie wenden sich Ingvartsen und van Dinther in It’s in the air dem Vermögen (potentia) tanzender Körper zu. 13 In Kapitel 2.1. werde ich mich André Lepeckis berechtigter Kritik an einer von dem amerikanischen Tanzkritiker John Martin geprägten Definition der Metakinesis widmen. Im Gegensatz zur Metakinesis Martins geht es bei den intensiven Bewegungstransformationen in It’s in the air weniger um ein ihnen gemeinsames Kontinuum, in dem extensive Posen und deren codierte Ausdrucksformen bestimmte Inhalte kommunizieren und das auf ein bestimmtes ethos der Körper verweist, sondern im Gegenteil um das, was darunter liegt: Einzelne Mikro-Wahrnehmungen, unzusammenhängende Ereignisse und intensive Momente, auf denen jede extensive Bewegung beruht. Deleuze schreibt hierzu in Differenz und Wiederholung: „Sie setzt ein Gewimmel von Differenzen voraus, einen Pluralismus von freien, wilden oder ungezähmten Differenzen, einen im eigentlichen Sinn differentiellen, ursprünglichen Raum und eine differentielle, ursprüngliche Zeit, die über die Vereinfachungen der Grenze oder des Gegensatzes hinweg fortbestehen. Damit Kräftegegensätze und Formgebungen Gestalt annehmen, ist zunächst ein tieferes reales Element notwendig, das sich als eine formlose und potentielle Mannigfaltigkeit definiert und bestimmt.“ – Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München: Fink, 1992, S. 76. 14 Ingvartsen, On IT’S IN THE AIR, S. 56.
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reographischen Form und der Tätigkeit von Körpern möglich ist. Andererseits meint Bewegung als intensiv gedachte das Vermögen der Körper, dass sie unabhängig von sie bestimmenden Positionen und Schrittfolgen bereits in virtueller Bewegung und nicht einfach die passive Materie sind, als die sie lange Zeit über gedacht wurden.15 Körperlichkeit wird in It’s in the air weder als Effekt diskursiver Einschreibungen noch naiv als ‚natürliche‘ in dem Sinne gedacht, dass bestimmte extensive Bewegungsmuster ihr inhärent wären und einfach realisiert werden müssten deshalb. Vielmehr ist es ein Körper virtueller Bewegungen, der in It’s in the air als unbestimmte Ausdrucksmaterie vorgestellt wird, weil Bewegung als lebendige zunächst offen und eher ein Vermögen für aktuelle Bewegungen als eine gegebene Lebensform in Bewegung ist. Dies wird besonders deutlich, wenn Ingvartsen und van Dinther eine Bewegungsphrase zitieren, die aus einem typischen Stück der Tradition des modern dance stammen könnte und darin besteht, dass sie sich am Boden abrollen und in einer feierlichen Pose wieder zum Stehen kommen. Weil sie dabei jedoch diese eine, kurze Phrase in zahlreiche kleine Blöcke aufteilen und durch kontinuierliches Abspringen von den und erneutes Aufsetzen auf den Trampolinen unterbrechen, berauben sie sie ihrer Richtung. Mit jedem neuen Aufsetzen oder Abspringen könnte es deshalb überallhin weitergehen, und die Körper könnten in jedem der so entstehenden Intervalle in eine ganz andere Bewegungsqualität versetzt werden. Diese nicht vollends greifbare, qualitative Transformation von Körpern (die ein der ästhetischen Erfahrung eigenes Moment darstellt, gleichzeitig aber auf biopolitische Machtformen verweist, wie noch zu zeigen sein wird), ist stark inspiriert von einem filmischen Verfahren, das maßgeblich von dem österreichischen Experimentalfilmer Martin Arnold geprägt wurde. Arnold verwendet in vielen seiner Filme ein spezielles Verfahren, welches auf eine kontinuierliche Variation des Intervalls zwischen den einzelnen Bildern abzielt. Er bedient sich dabei durchgehend Material aus dem narrativen Kino, wählt daraus einzelne, prägnante und kurze Szenen aus und dehnt diese extrem in die Länge, indem er jedes einzelne Frame in unterschiedlichen Tempi vor- und zurückscratcht. Was dadurch produziert wird, ist eine extrem verstörende Qualität, die den Eindruck erweckt, hinter die Oberfläche der ursprünglichen Szene vorzudringen. Zwar verlieren die Bilder nicht unbedingt ihre narrativen Eigenschaften, doch wird das Augenmerk von den funktionalen Strukturen des einzelnen Bildes weggelenkt und auf das gerichtet, was den eigentlich kontinuierli15 In Kapitel 3.1. und Kapitel 3.2. wird es um zwei wichtige Gründerfiguren traditioneller Verständnisse von Choreographie, Thoinot Arbeau und Raoul-Auger Feuillet, gehen und gezeigt, inwiefern bei ihnen das Verhältnis zwischen Materie und Form hylemorphisch verfasst ist. Die hylemorphische Auffassung von Körpern in Bewegung wirkt bis heute in unterschiedlichen Kontexten weiter.
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chen Fluss zwischen den einzelnen Frames zusammenhält: Das Intervall zwischen den Bildern. In dieser Hinsicht ist die von Gilles Deleuze getroffene Unterscheidung zwischen dem senso-motorisch geprägten Bewegungs-Bild und dem sogenannten Zeit-Bild sehr aufschlussreich. Denn während Zeit im ersten Fall immer bestimmten funktionalen Schemeta und damit einer festgestellten Bewegung und ihren Mustern untergeordnet wird, befreit sie sich im zweiten Fall und öffnet sich gegenüber einem Virtuellen, wie es in Arnolds Filmen ebenso wie in It’s in the air erfahrbar ist. „Das Zeit-Bild impliziert nicht die Abwesenheit von Bewegung, sondern die Umkehrung der Hierarchie; nicht mehr die Zeit ist der Bewegung untergeordnet, sondern die Bewegung der Zeit. Nicht mehr die Zeit ergibt sich aus der Bewegung, ihrer Norm und ihren berichtigten Irrungen, sondern die Bewegung als falsche und ‚abweichende‘ Bewegung ergibt sich nun aus der Zeit. Das Zeit-Bild ist direkt geworden, und im gleichen Maße hat die Zeit neue Aspekte entdeckt, ist das Abweichen der Bewegung nichts zufälliges mehr, sondern ihr wesentlich, hat die Montage einen neuen Sinn bekommen.“16
Was Deleuze hier anspricht, ist nicht nur eine Befreiung der Zeit von der geregelten, gezählten und bestimmten Bewegung, sondern auch ein Erscheinen der virtuellen innerhalb der aktuellen Bewegung. In Arnolds Filmen wird dies deutlich, wenn eine einzige Sekunde des originalen Filmmaterials in so viele Einzelbestandteile zerlegt wird, dass die ursprüngliche Szene sich gegenüber einem ihr zuvor äußerlichen Potential öffnet. Wenn bsp. in Passage à l’acte (1993)17 eine Familie, noch nicht vollständig als solche versammelt, am Tisch sitzt und im Hintergrund die Tür aufgeht, weil eines der Kinder verspätet den Raum betritt, verwandelt sich die Szenerie radikal aufgrund des hereinbrechenden Intervalls zwischen den einzelnen Frames. Was aufgrund des Scratching-Verfahrens passiert, ist nicht nur, dass die Tür nicht einfach aufgeht, sich also in den Raum hinein bewegt, um Platz zu machen für den kleinen Körper, der durch sie hindurchtreten will. Vielmehr gibt es ein Zittern in der kontinuierlichen Bewegung, die sich innerhalb der Szene zuvor im Hintergrund ereignet hat. In winzig kleinen Schritten geht die Tür nun auch gleichzeitig Schritt für Schritt und Bild für Bild zu, während sie sich im gleichen Moment öffnet. Der kleine Körper des fehlenden Sohnes tritt ebenso herein wie er heraustritt.
16 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild – Kino 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 347. 17 Auf http://www.youtube.com/watch?v=drDPbKquQVw findet sich eine Online-Version der Arbeit. – Zugriff am 14.9.2010.
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Abbildung 2: Martin Arnolds Passage à l’acte (1993)
Martin Arnold. Filmstill.
Obwohl das unmerkliche Vor und Zurück und das damit zusammenhängende Rotieren auf der Stelle der Körper im Hintergrund des Bildes am deutlichsten wird, passiert das Gleiche doch auch vorne, dort, wo die Familie am Tisch sitzt sowie auf der Ebene des Tons. Jede einzelne Silbe rollt vor und zurück, ständig die Geschwindigkeit wechselnd. Alle noch so subtilen Geräusche sind bis in die kleinste Nuance hinein aufgefächert, und fast unmerklich bewegen sich die Köpfe oder Hände der Eltern und der Schwester auf dem Tisch, wie von einem seichten Zittern ergriffen, hin und her. Das Standbild wirkt wie ein tableau vivant, welches an seinen Rändern ausfranst und immer mehr den Eindruck erweckt als würde alles, was vermeintlich steht, in Bewegung sein und alles, was vermeintlich in Bewegung ist, gleichzeitig eingefroren werden. Bewegung findet nicht mehr in einem bereits konstituierten Raum statt, sondern der Raum als solcher wird entgrenzt aufgrund überall hervorbrechender, winzig kleiner Bewegungsereignisse, die ihrerseits wirksam und konstitutiv werden. Zeit verläuft nicht länger linear, sondern entfaltet sich entlang unzähliger Blöcke und Intervalle: Von den akustischen Frequenzen der einzelnen Stimmen, welche zwischen bis in kaum wahrnehmbare Tiefen heruntergepitchtem Gedröhne und schrillen Klangfetzen changieren, bis hin zum zitternden Zeigefinger des Vaters, alles verliert an eindeutiger Richtung und klarer Codierung. Das Bild als Gesamtes zerfällt in seine einzelnen Momente, die isoliert voneinander
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jeweils in sich selbst ruhen. Das um sich greifende Zittern, das sie als isolierte Blöcke auseinander treibt, erfasst nicht nur die einzelnen Körper, sondern auch den Bildrahmen als Ganzen und hebt ihn gleichsam als in sich geschlossenen aus den Fugen, indem es ihn seinen Bestandteilen gegenüber öffnet. Ingvartsen und van Dinther sind von diesem filmischen Verfahren insofern inspiriert, als dass sie es in eine ihnen eigene tänzerische Strategie hinein übersetzen, von der It’s in the air kontinuierlich durchzogen wird. Seit Fertigstellung des Stücks und noch im Verlauf einer anderen Produktion spricht Ingvartsen von transdance18, um auf das Transformative des Bewegungsloops, der bereits im Stück mit van Dinther zum Einsatz kommt, hinzuweisen, der die Bewegung als gerichtete Bewegung von sich selbst abbringt und dazu führt, dass sie, anstatt sich eindeutig im Raum und auf ihn hin auszurichten bzw. von ihm eine Richtung eingeprägt zu bekommen, ihrerseits eine Vielzahl potentieller und virtueller Richtungen in Erscheinung bringt, ohne dabei eindeutig in eine bestimmte Richtung umzukippen. Der transdance lässt somit, genauso wie die experimentellen Kurzfilme von Arnold, zuallererst Tendenzen sichtbar werden. Tendenzen, die im einzelnen Körper wie im Verhältnis zwischen den Körpern versteckt liegen und zu Tage treten, indem sich die Wahrnehmung von offensichtlichen Bewegungsmustern ab- und unterschwelligen Intervallen zuwendet. Was die Bewegung der Körper demnach hervorbringt, sind die Intervalle und Abstände zwischen ihnen und die fast unwahrnehmbaren Mikro-Ereignisse, aus denen sie bestehen und die sie permanent zwischen sich übertragen. Zwar lassen sie sich als solche nicht sehen, wohl aber affektiv spüren. Ingvartsen und van Dinther verkörpern keinen ihrer Tätigkeit vorangehenden Stil. Ebenso wenig lässt sich sagen, sie bedienten sich einer bereits bestehenden Technik.19 Stil und téchne ergeben sich im Gegenteil, darin ihrer herkömmlichen Definition vollständig zuwiderlaufend, als singuläre Resultate aus dem, was die beiden Performer im wahrsten Wortsinn vor den Augen des Publikums ent-wickeln. Dies wirft eine Reihe von Fragen bezüglich des Verhältnisses zwischen Cho18 Ich beziehe mich hier auf das Online-Projekt Where is my Privacy?, das sie 2009 mit Manon Santkin und Sirah Foighel Brutmann erarbeitet hat und das im Internet ist: http://www.youtube.com/watch?v=pSYMTOJs7zc. – Zugriff am 23.1.2011. Transdance konnotiert sicherlich auch Félix Guattaris Idee des transduktiven Zeichens und verwandelt sie in das Konzept einer choreographischen Transduktion. 19 Aus dem vorangegangenen Kapitel der vorliegenden Arbeit geht hervor, dass unter téchne seit Aristoteles ganz basal die hylemorphische Annahme zu verstehen ist, es gäbe ein System feststehender Regeln, das auf jeden Einzelfall anwendbar sei. Rancière hingegen betont, dass im ästhetischen Regime keine Adäquatheit mehr zwischen posis und aísthesis gegeben ist, téchne also nicht mehr im aristotelischen Sinne zwischen Form und Materie vermitteln könne.
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reographie als Form und Tanz als Tätigkeit sowie deren Wirkung auf die Zuschauer auf: Worauf ist die Aufmerksamkeit der Zuschauer gerichtet? Womit identifiziere ich mich als einzelner Zuschauer, sollte ich mich überhaupt identifizieren? Mit einem der Performer? Mit beiden? Mit der Bewegung, der ich eine Stunde lang zuschaue, weil sie in mir ein mögliches eigenes Handeln wachruft, indem sie mein Bewegungsgedächtnis und meine eigenen, in ihm enthaltenen Schemata anspricht, wie es der Kognitionswissenschaftler Alva Noë bezüglich der ihm zufolge immer aktiven Rezeption von Tanz für ganz unterschiedliche choreograhische Praktiken vorschlägt?20 Mir ist es, als ich der Präsentation des Stücks am 26. Mai 2009 im Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm beigewohnt habe, eher so gegangen, dass ich, obwohl sich die Tätigkeit der Performer auf der Bühne in ihrer Qualität nur graduell – und meistens fast unmerklich – veränderte, trotzdem den Eindruck hatte, unterhalb der offensichtlichen, von mir bewusst erlebten Form, bestehe sie aus unzählbaren Variationen und Elementen, die meiner Wahrnehmung zwar entgehen, auf die ich aber paradoxerweise gerade deshalb aufmerksam werde. Derart wurden unzählige Details als feine Nuancen und Verschiebungen innerhalb der bewussten Form spürbar. Ich war mir sicher, dass mehr zu sehen ist als das, was ich offensichtlich sehe. Etwas, das meinem schematischen Sensorium nahezu entgeht, einfach deshalb, weil es zu kleinteilig ist, um allzu voreilig gerahmt und begrifflich erfasst werden zu können, aus dem aber das kontinuierliche Auf und Ab der Körper auf den Trampolinen ebenso hervorgeht wie das, was sich zwischen ihnen und mir ereignet. Etwas, das ich aber dennoch affektiv spüren kann und das danach verlangt, Begriffe dafür zu finden, obwohl ihm kein bereits gegebener Begriff entspricht. Spätestens dann, wenn die Sprünge auf den Trampolinen immer größer werden und sich bald auch die Körperhaltungen Ingvartsens und van Dinthers verändern, passiert so viel am Rande des bewussten Sehens, etwas, das sich eigentlich nur spüren lässt, dass es schwer wird, von einer einzigen, kontinuierlichen Bewegung zu sprechen. Eher zerfällt diese, wie auch Ingvartsen ihre Motivation für das Stück und den Fokus ihrer Aufmerksamkeit während des Probenprozesses skizziert, in „micro-perceptions that lie inbetween“21 und „in/visible forces that condition the movements of the body“22. So ging es auch mir, als ich dem Stück zugeschaut habe. Nicht direkt auf die Form einer bestimmten Bewegung allein war meine Aufmerksamkeit gerichtet, sondern auf intensive Momente, die zwischen den einzelnen extensiven Bewegungen wirken und sie zuallererst generieren. Doch was könnten diese Momente sein? Woher kommen sie und worin resultieren sie? Haben sie etwas
20 Vgl. Alva Noë, Action in Perception, Massachusetts/London: The MIT Press, 2006. 21 Ingvartsen, On IT’S IN THE AIR, S. 58. 22 Ebd., S. 59.
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mit den Körpern der Performer zu tun? Mit meinem eigenen Körper? Mit etwas zwischen unseren Körpern? Abbildung 3: Mette Ingvartsens/Jefta van Dinthers It’s in the air (2008)
Photo: Wolfgang Kirchner. Sommerszene Salzburg.
Nach einer Weile hat sich die anfangs noch unmerkliche Vibration der beiden derart intensiviert, dass sie jetzt hoch in der Luft sind und weit zurückgeworfen werden von den Trampolinen. Die Trampoline und die Gesetze der Schwerkraft sind sicherlich die physikalische Ursache für das, was passiert. Dagegen ergibt sich das, was den Titel von It’s in the air derart mehrdeutig werden lässt und die Körper in vielerlei Hinsicht in die Schwebe bringt, aus etwas anderem: Dieser Analyse wurde nicht ohne Grund ein längeres Zitat der slowenischen Performancetheoretikerin Bojana Kunst vorangestellt. In ihrem Aufsatz mit dem Titel Was wird nicht geschehen? fragt sie, wie sich der Begriff des Potentials23 von dem der Möglichkeit24 unter-
23 In Bezug auf Spinozas Begrifflichkeiten wurde bereits Vermögen (potentia) von Macht (potestas) unterschieden und ersteres mit dem Tanz als Tätigkeit, zweitere dagegen mit der Choreographie als Form in Verbindung gebracht. Vor diesem Hintergrund verweist das Vermögen des Körpers auf sein nicht einfach begrifflich und schematisch festlegbares Potential, der Begriff der Möglichkeit dagegen auf das, was dem Körper innerhalb einer gegebenen choreographischen Struktur eben möglich ist, also bedingt wird von Parametern wie Stil und Technik, die ihn dann subsumieren, indem sie ihn entsprechend ausdrücken. Sein Vermögen allerdings kennt keine fixen Kategorien, während die Möglichkeit immer eine ist ‚im Rahmen von...‘. Daraus ergibt sich, dass es in Bezug auf vermögende Körper keinen Sinn macht, von Möglichkeit zu sprechen, weil das Vermögen
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scheidet. Sie unternimmt diesen Versuch anhand einer Reihe von Beispielen, deren erstes eine Begegnung ist, die sie in einer U-Bahn in Manhattan hatte. Dort bekam sie das Gespräch zwischen zwei jungen Männern mit, die sich gerade über ein gescheitertes Vorstellungsgespräch unterhielten. Derjenige von ihnen, der abgelehnt wurde, äußert die Vermutung, dass wohl sein Potential nicht richtig erkannt worden sei, sonst wäre er angenommen worden und hätte den Job bekommen. Daraufhin antwortet ihm der andere, dass er sich beim nächsten Mal einfach besser präsentieren müsse. Kunst weist nun darauf hin, dass die beiden wohl eher über Möglichkeit als über Potentialität gesprochen haben, denn im Gegensatz zum Potential, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es immer über die Schwelle seiner Aktualisierung hinausgeht, eben weil es im Sinne von Deleuze mit dem Virtuellen zusammenhängt, verweisen Möglichkeiten auf diejenigen Momente, in denen Potentiale sich verflüchtigen, indem sie verwirklicht werden, weil was aktuell ist, benennbar und eindeutig bestimmbar sein muss. Das Potential des unglücklichen Mannes, der, exemplarisch für viele andere in der neoliberalen Welt, immer noch auf Arbeit wartet, ist also nicht erkannt worden von seinen möglichen Arbeitgebern, weil es als solches allgemein nicht erkannt werden kann, ebenso wenig wie das Vermögen eines tanzenden Körpers, der aus sich selbst heraus tätig ist, vollends von einer als fixes Regelwerk verstandenen Choreographie angeeignet werden kann. Trotzdem ist es gerade der Konflikt zwischen diesem Potential und den Möglichkeiten, in denen es überall aufgehen soll und denen es allerorten subsumiert wird, der auf ein altes, schon von Karl Marx in seinem frühen Nachdenken über Die entfremdete Arbeit aufgeworfenes, Paradox verweist: des Körpers und jede Art im Vorhinein feststehender Rahmung sich notwendigerweise gegenseitig ausschließen. 24 Deleuze unterscheidet zwischen einer ‚Aufteilung des Raumes‘ und einer ‚Aufteilung im Raum‘, wobei der Begriff der Möglichkeit dann immer einen bereits aufgeteilten Raum voraussetzt, während das Potential bzw. Vermögen des Körpers im Gegenteil aktiv an einer Aufteilung im Raums teilhat: „Selbst wenn es sich um den Ernst des Lebens handelt, würde man von einem Spielraum, von einer Spielregel sprechen, im Gegensatz zum Raum wie zum nomos der Seßhaftigkeit. Einen Raum ausfüllen, sich in ihm aufteilen, ist sehr verschieden von einer Aufteilung des Raums. Jenes ist eine umherschweifende und gar ‚wahnsinnige‘ Verteilung, in der sich die Dinge über die ganze Ausdehnung eines univoken und ungeteilten Seins hinweg ausbreiten. Es teilt sich nicht das Sein gemäß den Erfordernissen der Repräsentation auf, vielmehr verteilen sich in ihm alle Dinge in der Univozität der bloßen Präsenz (das All-Eine). Eine derartige Verteilung ist eher dämonisch als göttlich; denn die Besonderheit der Dämonen besteht darin, dass sie in den Zwischenräumen zwischen den Aktionsfeldern der Götter wirken, über die Barrieren oder Umzäunungen springen und die Besitztümer in Unordnung bringen.“ – Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 60.
62 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung.“25
In It’s in the air geht es um Tanz als die lebendige Tätigkeit vermögender Körper, die gerade nicht in diesem Sinne verwirklicht wird. Ein spezifischer Zustand der Körper zieht sich trotz aller Variationen und Synkopierungen wie ein roter Faden durch das gesamte Stück. Im Auf und Ab und im Ab- und Aufprallen der Körper auf die und von den Trampolinen ist es eine gewisse Affizierung, zwischen den beiden Tanzenden ebenso wie zwischen ihnen und den Zuschauern, die nie wirklich greifbar oder vollständig benennbar wird, gleichzeitig aber dazu führt, dass sie modifiziert werden von dem, was zwischen ihnen stattfindet. Diese permanente Modifikation der im Raum versammelten Körper berührt, betrifft und ändert ein bestimmtes Verhältnis der Körper zu einer Schwelle. Der Schwelle nämlich, an der ihre eigene Tätigkeit einsetzt und ihr eigenes Vermögen sich mit der Affizierung anderer Körper zusammensetzt, die Schwelle, an der schier potentielle und einfach mögliche Bewegungen aufeinanderprallen, mögliche Bewegungen diesseits und potentielle Bewegungen jenseits der Schwelle. Diese Schwelle und das letztlich permanent modifizierte Tätigkeitsvermögen der Körper sind weit mehr als das, was einfach zu sehen ist. Es ist nur lustvoll zu spüren. Zwar resultiert jede Bewegung immer auch in einer anderen bzw. setzen sich die einzelnen Sprünge kontinuierlich ineinander fort, nie jedoch erschöpfen sie sich in einer Möglichkeit, die aktuell gegeben wäre. Jedes neue Aufsetzen eines der Körper auf einem der Trampoline und jeder darauf folgende Sprung in die Luft verändern das Verhältnis zwischen dem, was er aktuell tun könnte und dem, was er unabhängig davon virtuell kann. Das Tätigkeitsvermögen der beiden ist deshalb nicht einfach als feste Größe innerhalb eines choreographischen Rahmens gegeben, sondern seinerseits in einer kontinuierlichen Variation begriffen. Am deutlichsten zeichnet sich diese qualitative Transformation ab, wenn die beiden zur Mitte des Stücks hin in sehr hohe Sprünge geraten und bis zu einer physikalischen Grenze gelangen, an der es, allein aufgrund der Gesetze der Schwerkraft, nicht möglich ist, noch höher zu springen. Nun gibt es jedoch, einige Meter über dem Boden und hoch in der Luft, genau in dem Augenblick, wenn die Gravitation sie schon wieder in Richtung der Trampoline zurückzieht, Momente, die über jede Form von Möglichkeit hinausgehen. Während nämlich die Schwerkraft auf sie einwirkt, spannen sich Ingvartsen und van Dinther gleichzeitig an, und für den Bruchteil einer Sekunde entsteht der Eindruck, die Zeit würde anhalten und 25 Karl Marx, Die entfremdete Arbeit, in: ders./Friedrich Engels, „Ergänzungsband: Schriften – Manuskripte – Briefe bis 1844. Erster Teil“, Berlin: Dietz, 1968, S. 511 f.
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sie könnten aus der Kette einfacher Aktionen und Reaktionen innerhalb der Rahmung des Möglichen ausbrechen. Sie ‚stehen‘ dann sozusagen in der Luft, und ihr eigenes Vermögen verbindet sich mit den Kräften, welche ihr kontinuierliches Auf und Ab bedingen. Aber auch in anderen Momenten zeichnet sich eine solche qualitative Transformation der Körper ab, dann vor allem, wenn die beiden langsam von einer Körperhaltung in eine andere umkippen, aber so unmerklich und an der Schwelle der bewussten Wahrnehmung, dass der Eindruck entsteht, sie wären weder hier noch dort, sondern in einem Bereich dazwischen und nicht wirklich zu lokalisieren. Genau dann geraten sie ebenso in Konflikt mit dem, was sie bedingt wie die Zuschauer mit dem, was sie innerhalb des offensichtlichen Bewegungsablaufs für möglich halten, weil in diesen winzigen Augenblicken etwas passiert mit den Körpern, das sie aus dem Rahmen herausfallen lässt. In It’s in the air geht es um ein Potential, ein Vermögen der Körper, welches umso wirksamer ist, je mehr es sich nicht aktualisiert in einer Subsumption der Körper unter bestimmte Bewegunsgsmuster. Es wird keine Form von Bewegung ausgestellt, der sich eine individuelle choreographische Handschrift zuordnen ließe. Die Bewegung in It’s in the air schwebt vielmehr, genau wie die beiden Tänzer, selbst in der Luft. Sie ist nicht das Ergebnis einer Bearbeitung einzelner Tänzerkörper durch den starken Willen eines Choreographen, der sich zur Meisterschaft berufen fühlt und sich mit einem neuen Stück seinem ganz eigenen Stil und seiner perfektionierten Technik einen Schritt näher glaubt. Sie ist aber auch nicht allein das einfache Ausbleiben ihrer selbst, nicht nur ein „small dance“26, wie ihn der amerikanische Tanzwissenschaftler André Lepecki manchen Praktiken der 1990er Jahre zuschreibt als zentrales Anliegen, um sich der Ontologie des Tanzes als modernistisch gedachtes Medium zu verweigern. Vielmehr verwandelt sich die in It’s in the air ausbleibende extensive Bewegung in ihr eigenes intensives Potential, das – losgelöst von jeder bestimmten choreographischen Form – die Körper nicht dort zeigt, wo sie sein sollten, wenn der klassische Choreograph sie sich als Material denkt, das es zu bearbeiten gilt, sondert dort, wo sie nicht sind und nie sein werden im Sinne eines Bezugs auf ihnen äußerliche Rahmungen und Strukturen. Weil sie bereits in virtueller Bewegung sind, bevor sie in eine bestimmte Bewegung versetzt werden, sind sie nicht einfach der Stoff, aus dem Choreographien gebaut werden, sondern in der Schwebe, zwischen ihrer eigenen Physikalität und den Gesetzen der Schwerkraft ebenso wie zwischen ihrem Eigensinn als lebendige Körper und jeder Art umrissener Figur und codierten Ausdrucks, die sie artikulieren könnten. Worum es in It’s in the air letztlich geht, sind die Intervalle zwischen den offensichtlichen und benennbaren Bewegungen und der unbestimmten Lebendigkeit 26 Vgl. André Lepecki, ‚Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt‘ – Die vibrierende Mikroskopie der Ruhe, in: Gabriele Brandstetter/Hortensia Völkers (Hrsg.), „ReMembering the Body“, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2000.
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der Körper. Das Lebendige ist dabei immer mehr als das, was sich in Dispositive einfügen lässt und etwas, das nie in einer bestimmten choreographischen Form aufgehen kann. Hierher rührt eine prinzipielle Lust, nicht nur die der beiden Performer, sondern auch die der Zuschauer, die ebenso wie sie spüren, dass sie eigenen Wahrnehmungsschwellen näher kommen und den Bereich von vorgefertigten Schemata und Ordnungsmustern verlassen. In der Erfahrung dieser Lust drückt sich etwas aus, das eng mit einem Tätigkeitsvermögen zusammenhängt, dem der Performer ebenso wie dem der Zuschauer. Ein Vermögen, welches sich ganz im Sinne Spinozas zunächst als Vermögen zur Praxis manifestiert: „Wenn der Geist sich selbst und sein Tätigkeitsvermögen betrachtet, so empfindet er Lust; und umso mehr, je deutlicher er sich und sein Tätigkeitsvermögen vorstellt.“27 In der Tat geht es hier, kantianisch gesprochen, um eine bloße Form, die entsteht und lustvoll erfahren wird, wenn Körper ihr Tätigkeitsvermögen ausspielen innerhalb eines Prozesses, „bei dem man fühlt, dass trotz des Fehlens eines bestimmten Begriffs die Vorstellung dieses Gegenstands eine Form hat, die für eine mögliche Erkenntnis vorteilhaft ist.“28 Anhand dieses Stückes zeigt sich, wie stark die Konfusion ist, wenn heute nach einer allgemeinen Definition von Choreographie gefragt wird. Choreographie meint hier nämlich nichts, das dem Vermögen der Körper äußerlich wäre. Vermögende Körper sind choreographisch tätig in It’s in the air, weil sie durch eine formgebende Praxis hindurch generativ Formen entfalten.
27 Spinoza, Ethik, S. 371. 28 Rodolphe Gasché, Schematisieren ohne Begriff – Einbildungskraft und schöne Form, in: Avanessian/Hofmann/Leeb/Stauffacher (Hrsg.), Form – Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis, S. 35. Vgl. auch ders., The Idea of Form – Rethinking Kant’s Aesthetics, Stanford: Stanford University Press, 2003. Gasché leitet sein Buch über die heutige Relevanz von Kants Schönem mit der Bemerkung ein, dass es in ihm um das Problem einer noch nicht domestizierten Natur und den Umgang mit Objekten der Welt ginge, für welche Begriffe fehlten: „Given that nature is defined by Kant as the domain of objectivity, and hence of what can possibly be known, nature in the wild stands as cognitively undomesticated nature. Vice versa, things – including artifacts – for which no determined concepts are available, and whose purpose cannot be made out, are similar to things found in uncharted nature. [...] The Kantian investigation into what constitutes aesthetic judgements is an aesthetics because these judgements are grounded in and determined by affects caused within the judging subject. In other words, whenever the subject successfully judges wild things of nature or nature at its wildest, this judgement is accompanied by an animating feeling of pleasure.“ – Ebd., S. 2 f.
2. Choreographie und Tanz zwischen Form und Lebendigkeit
In Vorwegnahme der folgenden Fragestellungen soll zunächst ein Dissens zwischen André Lepecki und Gerald Siegmund über das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz geschildert werden. Beide fassen, im weitesten Sinne von ‚poststrukturalistischen‘ Theorien inspiriert, Tanz als Tätigkeit von Körpern perspektivisch auf ein ihnen gemeinsames Verständnis von Choreographie als Schrift hin bezogen auf und sind primär an den Spielräumen interessiert, die in diesem Modell zwischen Schrift und Bewegung möglich werden. Deshalb wird zunächst exemplarisch herausgearbeitet werden, inwiefern eine bei beiden dominierende, textuell geprägte, Definition von Choreographie gewisse Fragen über den Tanz als Tätigkeit aufwirft, andere aber auch ausblendet. Auf produktions- ebenso wie rezeptionsästhetischer Ebene wird in späteren Kapiteln an Denkbewegungen Lepeckis und Siegmunds angeknüpft, zugleich aber auch das Augenmerk von deren Fragestellungen weg- und auf zwei für diese Arbeit zentrale Probleme gerichtet, die seit der Wende um 1800 und bis heute, auf verschiedene und jeweils spezifische Weise, im sogenannten zeitgenössischen Tanz auf dem Spiel stehen: Das der Ästhetik und das der Biopolitik. Beide hängen eng miteinander zusammen. Deshalb werden sie, unter dem Gesichtspunkt von Jacques Rancières ästhetischem Regime der Kunst einerseits und Michel Foucaults Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität andererseits, herausgekehrt. Zunächst aber soll anhand von Lepeckis und Siegmunds Standpunkten exemplarisch gezeigt werden, inwiefern ein von ‚poststrukturalistischen‘ Textmodellen inspiriertes Nachdenken über zeitgenössischen Tanz zwar viele interessante Problemfelder eröffnet, aber Choreographie und Tanz als zwei bereits bestimmte Pole einer unbestimmten Zone dazwischen festlegt. In dieser Arbeit dagegen wird es – vor dem Hintergrund ästhetischer und biopolitischer Fragestellungen – darum gehen, Choreographie und Tanz als fixe Pole selbst in Frage zu stellen.
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Während Siegmund, von Denkbewegungen der lacanianischen Psychoanalyse geprägt, Choreographie als den Körper zugleich hervorbringendes und einschränkendes Gesetz bestimmt, unternimmt Lepecki, aus der Richtung einer deleuzianisch informierten Theorie kommend, eine prinzipielle Kritik am Begriff der Choreographie. Für ihn gibt es eine nahezu ungebrochene Traditionslinie von Thoinot Arbeau über Raol-Auger Feuillet bis hin zu Jean Georges Noverre, in welcher Bewegung zwar unterschiedlich auf Schrift bezogen, dieser aber im Rahmen eines choreographischen Vereinnahmungsapparats immer unterworfen bleibt. Pointiert formuliert lässt sich sagen, dass Siegmunds Überlegungen aus der Perspektive der Choreographie als Gesetz unternommen werden, Lepecki dagegen, obwohl er sich nicht direkt auf ihn bezieht, implizit für einen spinozistisch verstandenen Körper das Wort ergreift, der aus seiner tätigen Begegnung mit ihn erfüllenden Affektionen heraus sein Vermögen ausspielt. Die Antwort auf die Frage, was ein Körper alles kann, fällt bei beiden interessanterweise ähnlich aus, obwohl sie sich ihr auf geradezu entgegengesetzten Wegen nähern: Im Falle von Siegmund als Anwalt eines spielerischen Abstands zwischen Körper und Gesetz, im Falle von Lepecki indirekt als Anwalt eines vermögenden Körpers und seiner ‚freudigen Affekte‘, deren Potential im Sinne Spinozas darin besteht, sich von jeder Form choreographischer Vereinnahmung zu befreien.1 Beide haben dabei eine, wenn auch eine jeweils eigene, ontologische Auffassung von Choreographie gemeinsam. Für beide ist ein bestimmtes Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz (und daran anschließend eine bestimmte Positionalität des Körpers innerhalb dieses Verhältnisses) bereits gegeben. Im Folgenden sei deshalb zunächst untersucht, welcher Fokus durch eine textuelle Herangehensweise an die Praktiken heutiger Tanzschaffender und das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz gesetzt wird und welche Möglichkeiten des Nachdenkens sich daraus ergeben, aber auch, welche Probleme dann ausgeklammert werden.
2.1 A NDRÉ L EPECKI
ALS
A NWALT
DES VERMÖGENDEN
K ÖRPERS
Für Lepecki, der sein Exhausting Dance – Performance and the politics of movement mit der längeren Kritik an einem, vor allem in Amerika teilweise noch heute 1
In Kapitel 8 werde ich mich eingehender der Philosophie Spinozas – von der das Denken Deleuzes (und implizit auch das Lepeckis) stark beeinflusst ist – widmen und deren Nähe zu ästhetischen Problemen untersuchen. Freudige Affekte sind Affektionen des Körpers, die sein Tätigkeitsvermögen steigern und ihn Ursache seiner selbst werden lassen im Gegensatz zu traurigen Affekten, die es vermindern und ihn äußerlich verursachen. Vermittels freudiger Affekte gelingt es Körpern, zu adäquaten Ideen und Gemeinbegriffen zu gelangen, zu dem also, was ihnen gemeinsam ist: Ihr generisches Vermögen, formgebend tätig zu sein.
C HOREOGRAPHIE UND T ANZ ZWISCHEN F ORM UND L EBENDIGKEIT | 67
geläufigen, modernistischen Verständnis von Tanz einleitet, kann dessen traditionelle Definition derart zusammengefasst werden: „[...] dance ontologically imbricates itself with, is isomorphic to, movement.“2 Bewegung ist für Lepecki allerdings sehr viel mehr als das ideologische Zentrum modernistischer Tanzauffassungen wie bsp. der John Martins, der in den 1930er Jahren glühender Verehrer des modern dance war und mit dessen Konzept der Metakinesis er sich länger auseinandersetzt.3 Bewegung liegt nicht nur essentialistischen Festschreibungen von Tanz zu2
André Lepecki, Exhausting Dance – Performance and the politics of movement, London/New York: Routledge, 2006, S. 2.
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John Martin fasst das Konzept der Metakinesis, auf dem Lepecki seine Annahme eines ästhetischen Kontinuums im essentialistisch gedachten modern dance aufbaut, derart zusammen: „Movement, then, in and of itself is a medium for the transference of an aesthetic and emotional concept from the conciousness of one indivual to that of another. This should not be as strange as an idea as it seems to be. Back as far as Plato, and perhaps farther, it has been toyed with by the metaphysical philosophers. Kinesis is the name they gave to physical movement; and in an obscure footnote in Webster’s Dictionary – so common a source of reference as that! – we find that there is correlated with kinesis a supposed psychic accompaniment called metakinesis, this correlation growing from the theory that the physical and the psychical are merely two aspects of a single underlying reality.“ – John Martin, The modern dance, New York: Dance Horizons, 1972, S. 13. Diese ‚Realität‘ folgt Martin zufolge jedoch nicht einer eindeutig codierten semiotischen Logik, sondern beruht auf einer „unified entity, a substance“ (ebd., S. 7), die in kontinuierlicher Veränderung begriffen, dabei aber stets auf sich selbst rückbezogen wäre: „Nevertheless, there is a great similarity throughout the dance field – that is, of course, the modern dance field. The mistake that is made is looking for a standard system, a code such as characterised the classic dance. The modern dance is not a system; it is a point of view. This point of view has been developing through the years, and it is by no means an isolated development. It has gone hand in hand with the development of points of view on other subjects.“ – Ebd., S. 20. Das Prinzip der Metakinesis findet seine operative Basis weniger in einem semiotisch codierten Körper, bei dem eine lesbare ‚emotion‘ aus der ‚motion‘ folgen würde, sondern beide sind Martin zufolge isomorph und hängen zusammen auf der Ebene einer angenommenen Einheit der Produktion und Rezeption von Bewegung. In Kapitel 7 dieser Arbeit wird deswegen untersucht, was die Annahme einer solchen metakinetischen Unmittelbarkeit von Körpern für die Vereinnahmung des Tanzes durch biopolitische Prozeduren mit sich bringt. Schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sie die tanzenden Körper fixen Subjektpositionen zuschreibt und sie im Sinne Louis Althussers einem allen gemeinsamen Bewegungskontinuum unterwirft, welches zwischen Bühne und Publikum adäquat und synchron übertragen würde, indem sowohl die Tätigkeit der Tanzenden als auch die derer, die ihnen dabei zuschauen, als zwei Seiten eines einheitlichen Prozesses angesehen und interpelliert werden als Bestandteile
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grunde. Sie ist auch das zentrale Moment im Herzen der Moderne selbst. Für Lepecki setzt nämlich mit der Moderne, die für ihn im 16. Jahrhundert beginnt, ein „Sein-zur Bewegung“4 der Welt insgesamt ein, an dem Choreographie maßgeblich beteiligt ist, weil durch sie der Körper in ein „flow or a continuum of movement“5 eingebettet wird. Deshalb sucht Lepecki nach small dances, um die Welt in ihnen zu entschleunigen und zugleich den vermögenden Körper von seiner ihm durch die Choreographie aufgebürdeten kinetischen Signifikanz zu befreien. An Thoinot Arbeaus Orchésographie aus dem Jahre 1589 macht er die Verschränkung von Beschleunigung und gleichzeitiger Vertextlichung des Körpers – er spricht von einer „linguistic materiality of the body“6, die im zeitgenössischen Tanz aufs Spiel gesetzt würde – fest: „Much of my argument in this book turns around the formation of choreography as a peculiar invention of early modernity, as a technology that creates a body disciplined to move according to the commands of writing. The first version of the word ‚choreography‘ was coined in 1589, and titles one of the most famous dance manuals of that period: Orchésographie by Jesuit priest Thoinot Arbeau (literally, the writing, graphie, of the dance, orchesis). Compressed into one word, morphed into one another, dance and writing produced qualitatively des somit einheitlichen Bewegungsflusses der biopolitischen Gemeinschaft. Mark Franko weist auf das vereinnahmende Moment der Metakinesis hin, wenn er schreibt: „John Martin theorized the empathetic process of this transferal as metakinesis, and Louis Althusser theorized the ideological process of self-recognition as interpellation. The theories of the American dance critic and the French Marxist philosopher are complementary. Just as metakinesis implies transfer of identity, so interpellation implies visceral address.“ – Franko, The Work of Dance, S. 59. Yvonne Hardt wiederum argumentiert bezüglich der den verschiedenen Strömungen des ‚modernen‘ (Ausdrucks)Tanzes zur Zeit der Weimarer Republik zugrundeliegenden Annahmen geradezu analog zu Frankos auf Amerika gerichtetem Blick: „Durch diese Setzung eines schwingenden, fließenden Rhythmus ist es möglich, nicht nur die Disziplinierungsmomente dieser Schulung auszublenden, sondern diesen Rhythmus simultan als Verbindungsglied aller zu einer Gemeinschaft zu begreifen. […] Die Simultanität von individuellem Ausdruck und kollektivem Empfinden prädestinierte den Rhythmus dafür, in die verschiedensten Utopien einbezogen zu werden und als die Basis gemeinschaftlichen Handelns und Fühlens zu fungieren.“ – Yvonne Hardt, Politische Körper, Münster: LIT, 2003, S. 41. 4
Vgl. Lepecki, Exhausting Dance, S. 7. Lepecki entlehnt den Begriff ‚being-towardsmovement‘ einem 1987 im deutschen Original erschienenen Essay: Vgl. Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987.
5
Lepecki, Exhausting Dance, S. 1.
6
Ebd., S. 4.
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unsuspected and charged relationalities between the subject who moves and the subject who writes. With Arbeau, these two subjects become one and the same. And through this not too obvious assimilation, the modern body revealed itself fully as a linguistic entity.“7
In ihrem Aufbau den platonischen Dialogen durchaus ähnlich, geht es in Arbeaus Orchésographie von 1589 um eine Begegnung zwischen dem Mathematiker, Priester und Tanzmeister Arbeau und seinem Schüler, dem Juristen Capriol. Arbeaus zentrales Problem, das in allen Dialogen durchgehend verhandelt wird, ist die Tatsache, dass Tänze verloren gehen und vergessen werden, wenn man sie nicht aufschreibt. Aber nicht nur deshalb entwickelt er eines der ersten Notationssysteme, sondern auch, um die darin überlieferten Tänze, welche allesamt eine gesellschaftliche Funktion haben, gleichzeitig zu erhalten und zu verbreiten. Es geht ihm in erster Linie darum, Gesellschaftstänze, die lange vor ihrer Niederschrift in einem Notationssystem schon praktiziert worden sind und jetzt festgehalten werden sollen, adäquat in ihre schriftliche Form zu übersetzen und ein Regelwerk für den Tanz aufzustellen, damit er seinen Teil zur gesellschaftlichen Ordnung beitragen kann.8 Bewegung hat es auch vorher schon gegeben, und der Körper auf den Parketten des 16. Jahrhunderts war sicherlich nie einfach bedeutungslos, sondern in lokale wie überregionale soziale Kontexte eingebettet. Doch schließt Lepecki von den Dialogen zwischen Arbeau und seinem Schüler Capriol auf eine allgemeine Verfassung der Moderne als (1.) Unterwerfung des Körpers unter den signifikanten Code von Choreographie im Allgemeinen und (2.) Beschleunigung eben dieses Codes und damit vieler Tanzpraktiken bis heute. Ihm geht es in diesem Zusammenhang vor allem um eine Kritik an der vollständigen Identifizierung des Vermögens tanzender Körper mit signifikanter Bewegung, die ihnen von der Choreographie vorgeschrieben wird und um die Ablehnung jeder Symmetrie zwischen der Tätigkeit eines Körpers und dem choreographischen Gesetz der Schrift. In diesem Kontext wird für ihn die Frage nach der Zeitlichkeit des Tanzes zentral. Indem Lepecki den vermögenden Körper als sich der Choreographie gegenüber entziehenden begreift und Tanz als den Pol definiert, dessen Aktivität jede choreographische Feststellung übersteigt, geraten ihm jedoch wichtige historische Einschnitte aus dem Blick. Deshalb kann er zu der Aussage kommen, dass sich seit Arbeau das problematische Verhältnis zwischen Körper und Text 7 8
Ebd., S. 7. Dass diese schriftliche Form bei Arbeau genau genommen eine graphische und diagrammatische Form, also nicht unbedingt eine sprachlich-linguistische in diesem Sinne ist, darauf geht Lepecki nicht ein. Sein Schriftbegriff umfasst jede Form der Notation von in der Zeit vergehender körperlicher Aktivität. In späteren Kapiteln will ich mich in diesem Kontext mit einem gravierenden Unterschied zwischen Arbeaus und Feuillets Aufschreibesystemen und anderen choreographischen Praktiken befassen.
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bzw. zwischen Bewegung und Sprache bis hin zu Jean Georges Noverres Briefen über die Tanzkunst aus dem Jahre 1760 kontinuierlich fortsetze. Zwar funktioniere bei Noverre nicht mehr „a semiotic symmetry between writing and dancing“9, aber er beklage diesen Bruch laut Lepecki eher als dass er ihn einfordere: „From the moment the question of dance’s presence began to be formulated as temporal paradox, dance was transformed into hauntology and taxidermy – and choreography cast as mourning“10, schreibt er dazu in einem Aufsatz mit dem Titel Inscribing Dance. Der Geschichte der Choreographie seit Arbeau und bis hin zu Noverre würde deswegen das Problem des sich in der Zeit seiner Festschreibung entziehenden Körpers innewohnen und sich mit Noverre in eine Qualität der Trauer, die der Choreographie seitdem eigen wäre, verwandeln, weil Tanz dann nicht mehr innerhalb eines Notationssystems festgehalten werden kann, sondern jede Choreographie in diesem Sinne stets übersteigt: „Mourneful lament emerges the moment writing and dancing become inextricably bound to each other not by a pacific symmetry between word and motion, but by the means of a newfound distancing from each other.“11 Lepecki erwähnt in diesem Zusammenhang den ersten Brief Noverres, in dem er in der Tat beklagt, dass die Namen vieler Ballettmeister der Vergangenheit unbekannt seien, weil ihre Werke nicht überliefert werden konnten.12 Ob daraus allerdings geschlossen werden muss, dass Choreographie mit Noverre in ihre Phase der Klage und Trauer eintreten würde ist fraglich, bedenkt man manche der Aussagen, die er in späteren Briefen macht und die dieser Annahme widersprechen. So lehnt er die zu seiner Zeit noch weitestgehend übliche – und gerade in Paris durch die Vormachtstellung der Académie Royale de Danse praktizierte – Methode des Schreibens von Bewegungen strikt ab, welche innerhalb des von Pierre Beauchamp und Raoul-Auger Feuillet begründeten Systems gepflegt wurde, demzufolge Choreographie allein die Komposition anhand einer Form der Notation meint, die stattfindet, bevor es überhaupt erst zum Arrangement tanzender Körper im Raum durch den Ballettmeister kommt.13
9
Andrè Lepecki, Inscribing Dance, in: ders. (Hrsg.), „Of the presence of the body“, Middletown: Wesleyan University Press, 2004, S. 126.
10 Ebd., S. 127. 11 Ebd., S. 129. 12 Vgl. ebd., S. 125. 13 Sibylle Dahms weist darauf hin, dass im 18. Jahrhundert das französische Wort ‚Chorégraphie‘ etwas völlig anderes bezeichnete als heute und dem Tanzen als Tätigkeit oft nur das auf Papier geschaffene Werk eines Compositeurs zugrunde lag: „Zwar gab es zu Noverres Zeit den Terminus ‚Chorégraphie‘; gemeint war damit jedoch die schriftliche Aufzeichnung von Tanz in der damals gebräuchlichen Beauchmap-Feuillet-Tanznotation.“ – Dahms, Der konservative Revolutionär, S. 104.
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„Yes, sir, choreography deadens the imagination, weakens and stifles the talents of the composer who makes use of it. He is tedious, apathetic, and incapable of invention. Instead of being the creator he was, or could be, he becomes or is nothing but a plagiarist; he produces nothing new and his whole merit is limited to disfiguring the productions of others.“14
Lepeckis aus den Dialogen zwischen Arbeau und Capriol abgeleitetes Verständnis von Choreographie als dem Tanz sowie von Schrift als Bewegung von außen eingeprägte Form richtet seinen Fokus allein auf die Zeitlichkeit des Tanzes, ein Problem, das, wie später gezeigt sei, für Noverre keines war, sondern Lepeckis ‚poststrukturalistischer‘ Lektüre seiner Briefe geschuldet ist. Dabei vermischt er zwei Ebenen, wenn er seinen Choreographiebegriff zu konturieren versucht: Er unterscheidet nicht zwischen Techniken der Notation einerseits und der Produktion und Rezeption von Tanz andererseits. Dass Tanz keine Spuren hinterlässt, wenn er nicht in irgendeinem Medium dokumentiert wird und Noverre deshalb nach Möglichkeiten der Überlieferung sucht, muss nicht unbedingt heißen, dass er deshalb auch die Zeitlichkeit und den Entzug im Vollzug des Tanzes als Tätigkeit problematisiert. Laut Lepecki jedoch ist dies der Fall. Demnach läuteten seine Reformen einen wichtigen Bruch und eine Ära ein, in der es fortan um die Asymmetrie von Schrift und Bewegung gehen würde: „Thus, his letters inaugurate writing as mournful performance within choreographic imagination – a performance in which writing announces and indicates dance’s ungraspable excess.“15 Es lässt sich das genaue Gegenteil behaupten. Noverre klagt keineswegs über das zerbrochene Band zwischen Schrift und Bewegung bzw. Choreographie und Tanz, vielmehr bejaht er, voller Freude und in für seine Zeit typisch euphorischen Worten, die aufgelöste Symmetrie zwischen beiden und das Potential des ‚Lebens‘ selbst, Formen hervorbringen zu können, die kein (Notations)System im Vorhinein zu bestimmen in der Lage ist: „Words will become useless, everything will speak, each movement will be expressive, each attitude will depict a particular situation, each gesture will reveal a thought, each glance will convey a new sentiment; everything will be captivating, because all will be a true and faithful imitation of life.“16 Insofern steht er, unter ästhetischen und biopolitischen Gesichtspunkten betrachtet, Lepeckis Privilegierung des Tanzes als (neue) Formen generierende Tätigkeit, entgegen einer als fixe Form verstandenen Choreographie, sehr viel näher als er glaubt. Weil Lepecki jedoch seinen Fokus auf die dem Tanz eigene Zeitlichkeit und das Vermögen des Körpers, Schrift zu durchkreuzen, legt, ist es für ihn vor allem wichtig danach zu fragen, wie heute in dem, was zeitgenössischer Tanz genannt wird, mit diesem Problem umgegangen werden kann. Kontinuierlicher und signifi14 Noverre, Letters, S. 141. 15 Lepecki, Inscribing Dance, S. 126. 16 Noverre, Letters, S. 53.
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kanter Bewegung, die er einer modernistischen Auffassung von Choreographie zuordnet und gleichzeitig auf die Urszene der westlichen Tanzgeschichte in den Dialogen zwischen Arbeau und Capriol zurückprojiziert, stellt er die vor allem seit den 1960er Jahren im Umfeld des Judson Church Theatre und dann wieder verstärkt in den 1990er Jahren praktizierten small dances des zeitgenössischen Tanzes gegenüber und lässt dabei unerwähnt, dass es auch Noverre bereits um still-acts gegangen ist, als er den Körperhaltungen, Raumwegen und Schrittfolgen der BeauchampFeuillet-Schule seine tableaux vivants entgegenhielt. „As it will become clear in all the works discussed in this book, the insertion of stillness in dance, the deployment of different ways of slowing down movement and time, are particularly powerful propositions for other modes of rethinking action and mobility through the performance of still-acts, rather than continuous movement.“17
Die still-acts des Tanzes durchkreuzen für Lepecki allesamt drei fundamentale Merkmale von Choreographie, die durch die Etablierung einer Symmetrie zwischen Bewegung und Schrift für ihn von Beginn an eine Allianz mit der modernen Beschleunigung der Welt eingegangen sei: In der kritischen Auseinandersetzung mit (1.) „the dead master’s voice“, (2.) „the solipsistic nature of the dance studio“ und (3.) „the hauntological force of the choreographic“18 sieht er deshalb die Aufgabe künstlerischer Strategien. Choreographie und die Idee des Choreographischen19 überhaupt sind für ihn mit einem ‚Vereinnahmungsapparat‘ verbunden, der das Potential des Tanzes – welchen er auf Seiten eines spinozistisch gedachten Körpers ansiedelt – absorbiert, indem er ihn der Zeit und dem ihm eigenen Werden entreißt und als senso-motorisch konstituierten Körper aufschreibt.20 Auf einer allgemeine17 Lepecki, Exhausting Dance, S. 15. 18 Ebd., S. 16 f. 19 In Kapitel 8 werde ich den alternativen Begriff des Choreographischen entwickeln, den ich im Gegensatz zu Lepecki, der die beiden Begriffe synonym verwendet, dem der Choreographie kontrastierend gegenüberstellen will, weil im Choreographischen kein strikter Gegensatz zwischen Form und Tätigkeit besteht, sondern es sich bei ihm um eine formgebende Praxis der Körper handelt. Das Choreographische ist mit den ästhetischen Umbrüchen um 1800 verwoben, umschifft aber ihre biopolitische Vereinnahmung. 20 In einer von Lepecki in THE DRAMA REVIEW herausgegebenen Serie mit dem Titel Dance and Philosophy hat er selbst einen einleitenden Artikel veröffentlicht, in dem er sein rein negatives Verständnis von Choreographie und deren Kritik in Bezug auf das Konzept des Vereinnahmungsapparats von Deleuze und Guattari pointiert zusammenfasst. Dabei bedient er sich der spinozistischen Unterscheidung zwischen Vermögen (potentia) und Macht (potestas), deren zwei Seiten er einerseits dem Tanz und andererseits der Choreographie zuweist: „To see choreography as an apparatus – moreover, to see it
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ren Ebene verweist Choreographie für ihn zugleich auf die Macht des Staates, der sich das Vermögen des Körpers aneignet und nutzbar macht. Dabei vereinfacht Lepecki aus polemischen Gründen jedoch sehr stark und lässt außer Acht, dass sich zwischen der Geburtsstunde der Choreographie in Arbeaus Dialogen und den heutigen Praktiken, in ihrer vollen Diversität, unzählige Brüche ereignet haben. Gibt es überhaupt ein unveränderliches Wesen der Choreographie als Schrift? Redet Noverre, sollte er wirklich den Zustand der Choreographie – „to block dance’s selferasure by the means of documentation“21 – beklagen und betrauern, noch von derselben Schrift wie seine Vorgänger seit Arbeau? Oder ist im Falle Noverres das Verhältnis zwischen Tanz und Choreographie bereits so beschaffen, dass es gar nicht mehr in Begriffen von Schrift und Signifikanz gedacht werden kann? Welche Gemeinsamkeiten, vor allem aber auch welche Unterschiede, bestehen zwischen textlichen, graphischen, photographischen und filmischen Aufschreibesystemen? Wie verändern jene jeweils grundlegend choreographische Konzepte ebenso wie Auffassungen von dem, was in Bezug auf sie als Tanz vorgestellt werden kann? Obwohl Lepecki viele interessante und aufschlussreiche Beobachtungen macht, ist seine Annahme eines ästhetischen Kontinuums der Moderne fraglich. Lepecki überbetont das Problem der Zeitlichkeit des Tanzes und den Entzug des tanzenden Körpers, um seine Kritik an der Choreographie als Vereinnahmungsapparat und damit verbundenen Auffassungen von Tanz als mit dem Schreiben identischer Tätigkeit und deren ständiger Beschleunigung hervorzuheben. In diesem Zusammenhang zeigt er die Grenzen eines von Jacques Derridas Konzept der Spur inspirierten Verständnisses von Choreographie auf. Denn wenn seit Noverre zunächst keine Symmetrie mehr zwischen Schrift und Tanz gegeben ist und sich der Körper deshalb seiner Fassung in Zeichen entzieht, dann stellt das Konzept der Spur (als differénce und differánce zugleich22) erneut eine Symmetrie as an apparatus that captures dance only to distribute its significations and mobilizations, its gestures and affects, within fields of light and fields of words that are strictly codified – is to delimit those hegemonic modes of aesthetically perceiving and theoretically accounting for dance’s evolutions in time. The casting of dance as ephemeral, and the casting of that ephemerality as problematic, is already the temporal enframing of dance by the choreographic. […] Dance, once it falls prey to a powerful apparatus of capture called ‚choreography‘, loses many of its possibilities of becoming. Which is to say that dance loses its powers (pouissance) as it is submitted to the power (pouvoir) of the choreographic.“ – André Lepecki, Choreography as an Apparatus of Capture, in: THE DRAMA REVIEW 51:2 (T194), Summer 2007, New York University and Massachusetts Institute of Technology, 2007, S. 120 ff. 21 Lepecki, Inscribing Dance, S. 133. 22 Derrida sieht im Tanz einer nicht namentlich genannten Tänzerin um die Wende ins 20. Jahrhundert die Kraft zur Subversion jeder logozentrisch gedachten Schrift. In einem In-
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her, indem die logozentrisch verfasste Sprache selbst in Bewegung versetzt wird innerhalb dieses exorbitanten „new regime of perception“23, also Schritt hält mit den Körpern, die ihr gegenüber derart nicht länger entzogen seien. „With Derrida, dance finally finds a form of writing that is in harmony with dance’s current ontological status. Perhaps not since the seventeenth century has the harmonization of writing and dance had so complete a model. The return to symmetry derives from the acknowledgement that both writing and dancing participate in the same notion of the trace: that which will always be already behind at the moment of its appearance.“24
Diese Beobachtung ist sicherlich richtig, führt die Dinge allerdings wieder sehr eng auf eine angebliche Urszene der Choreographie als Implementierung der Differenz einer Schrift in den Körper hin zusammen. Seit Arbeau wird jene dann als Text vorgestellt, der sich in den Körper einschreibt und ihn gleichzeitig in Bewegung terview denkt er so den sich entziehenden (weiblichen) Körper als Spur: „The most innocent of dances would thwart the assignation à résidence, escape those residences under surveillance; the dance changes place and above all changes places. In its wake they no longer can be recognized. The joyous disturbance of certain women’s movements, and of some women in particular, has actually brought with it the chance for a certain risky turbulence in the assigning of places within our small European space.“ – Jacques Derrida/Christie V. McDonald, Choreographies, in: Ellen W. Goellner/Jacqueline Shea Murphy (Hrsg.), „Bodies of the text“, New Brunswick: Rutgers University Press, 1995, S. 145. Auf Derridas problematische Privilegierung einer immer bereits markierten differénce/differánce gegenüber dem immanenten und affektiv wirksamen Zusammenhang von Körpern weist Daniel W. Smith hin: „But although Derrida refuses to assign any content to this transcendence, what he retains from the tradition is its formal structure: différance is that which is never present as such, is absolutely other, discernible only through its trace, whose movement is infinitely deferred, infinitely differing from itself, definable, at best, in terms of what it is not.“ – Daniel W. Smith, Deleuze and Derrida, Immanence and Transcendence, in: Paul Patton/John Protevi (Hrsg.), „between Deleuze & Derrida“, New York: Continuum Press, 2003, S. 54. Vor diesem Hintergrund wird Lepeckis Hinweis, Derridas Konzept der Spur als ‚Unter-scheidung‘ und ‚Aufschub‘ zugleich korrespondiere mit einem Eintreten der Choreographie in ihre Phase der Klage und Trauer, überaus deutlich. Dann weist die Dekonstruktion aber auch keinen Weg nach draußen, und es ist gut möglich, dass Derrida in dem eben zitierten Interview über eine der Gründerinnen der Tanzmoderne spricht, wenn er die Kraft dessen, was sich dem logozentrischen Hausarrest gegenüber verweigere, heraufbeschwört. Dann verbleibt er im Phantasma der Tanzmoderne. 23 Lepecki, Inscribing Dance, S. 128. 24 Ebd., S. 133.
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setzt. Was bei Arbeau und seinen Nachfolgern wie Raoul-Auger Feuillet noch als symmetrisches Verhältnis zwischen Schrift und Körper gedacht werden kann, kippt so gesehen zwar in den Briefen Noverres in Asymmetrie um, steht aber nach wie vor in der gleichen Tradition. Lepecki setzt ein ästhetisches Kontinuum voraus, in dem Choreographie das Festschreibende und Tanz das ihr entgegengesetzte Flüchtige bezeichnet und nimmt an, dass es bis heute in den von ihm kritisierten, auf metakinetische Weise verfassten, Stücken als kontinuierliche Bewegung auf die Zuschauer einwirkt. Dabei beachtet er in seinen Ausführungen nicht, dass die (künstlerische) Moderne nicht im 16. Jahrhundert beginnt, sondern – gerade bezogen auf den Tanz – erst, wenn die Praktiken des Tanzes sich von ihrer gesellschaftlichen Funktion emanzipieren und zu Kunstformen werden. Choreographie ist dann nicht länger als feste Größe gegeben, sondern wird in ihrem vermeintlichen Wesen als regelmäßige Schrift aufs Spiel gesetzt. Außerdem blendet Lepecki vollkommen die Frage aus, wie man sich Tanz als Tätigkeit, losgelöst von jeder Form, vorstellen kann. Zwar gibt er an, welche der dem von ihm angeprangerten (Bewegungs)Kontinuum inhärenten Tendenzen revidiert werden sollten, entwickelt daraus aber kein positives Konzept von Choreographie. Für ihn gibt es nur ein Werden des Tanzes, nicht aber ein Werden der Choreographie selbst, weil diese als Vereinnahmungsapparat nicht im Körper verortet werden kann, sondern sich ihm immer nur von außen hinzugesellt, indem sie sich sein Vermögen aneignet und seine Kräfte in einem metakinetischen und signifikanten Gefüge unter Hausarrest stellt. – In späteren Abschnitten der vorliegenden Arbeit soll deshalb, trotz dieser Relativierung von Lepeckis Abwertung der Choreographie überhaupt, von seinen Überlegungen stark inspiriert, danach gefragt werden, inwiefern es auch ein Werden der Choreographie geben kann. Hierfür wird der Begriff des Choreographischen entwickelt und vorgeschlagen werden, dass es in ihm weniger um temporale Entzüge des tanzenden Körpers gegenüber der Schrift denn um dessen offene Tätigkeitsformen und ein ihm selbsteigenes Vermögen geht.25 25 Unter Choreographie wäre dann eine feste Größe zu verstehen, ein poetisches Regelwerk, das Lepecki zu Recht als Vereinnahmungsapparat kritisiert. Das Choreographische dagegen, welches innerhalb der Ästhetik denkbar wird, deren Entstehen ich im 18. Jahrhundert verorte und an Noverres Briefen festmache, ist eng mit einem den Körpern eigenen Vermögen verbunden. Während Choreographie in diesem hylemorphischen Sinne eine aktive Form ist, die sich in als passives Material gedachte Körper einschreibt und deren Vermögen auf das Einüben ihnen äußerlicher Mechanismen reduziert, operiert das Choreographische entlang qualitativer Transformation. Eine fixe Beziehung zwischen Ausdrucksformen und Ausdrucksmaterien, wie sie etwa in der barocken Affektenlehre Voraussetzung war, ist dann nicht länger gegeben. Dahms weist auf diesen bereits mit Noverre stattfindenden Bruch hin: „Die Befreiung des Körpers von solchen Accesoires eines
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Fast hat es den Anschein, Lepecki würde einen wichtigen Aspekt der gemeinsamen Philosophie von Deleuze und Guattari willentlich übersehen haben, wenn er Choreographie und Tanz derart binär einander gegenüberstellt, nämlich dass der organlose Körper nicht der „Feind der Organe“, sondern nur einer „bestimmten Organisation der Organe“ ist: „Den organlosen Körper erreicht man nie, man hat ihn immer nur angestrebt, er ist eine Grenze.“26 Vor diesem Hintergrund sei daran erinnert, dass schon im Anti-Ödipus verschiedene Körperkonzepte voneinander unterschieden werden. Im Kapitel Primitive, Barbaren und Zivilisierte machen Deleuze und Guattari eine Übercodierung des Körpers an der Figur des Despoten fest, wobei jene historische Gesellschaftsformationen ins Spiel bringt, in denen die Tätigkeit von Körpern einer souveränen Macht subsumiert ist. Die Wunschproduktion schreibt sich hier auf dem einheitlich gedachten Körper des Despoten ein. „Alle codierten Ströme der primitiven Maschine werden bis zu jener Öffnung geleitet, wo die despotische Maschine sie übercodiert. Die Übercodierung ist jene die Essenz des Staates ausmachende Operation, die in einem seine Kontinuität und seinen Bruch mit den alten Formationen regelt: der Schrecken vor Wunschströmen, die nicht codiert sind, aber auch die Einrichtung einer neuen übercodierenden Einschreibung, die den Wunsch […] zur Sache des Herrschers gerinnen lässt.“27
Demnach beziehen Lepeckis vom Konzept der Wunschproduktion inspirierte Ausführungen zum Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz den Vereinnahmungsapparat ausschließlich auf die despotische Übercodierung, blenden jedoch aus, dass ihr eine dem Kapitalismus eigene Decodierung der Ströme gegenübersteht. Der Übergang von der despotischen Übercodierung zur Decodierung der Ströme im Sinne von Deleuze und Guattari hat mit einem grundlegenden Wandel in der Auffassung von Choreographie zu tun, den sowohl Lepecki als auch Siegmund an Noverres Briefen über die Tanzkunst von 1760 festmachen. Wenn es nämlich nicht mehr Aufgabe des Choreographen ist, Körper in bestimmte Körperhaltungen, Raumwege und Schrittfolgen sowie in ein Netz von bestimmten Zeichen einzuspannen, sondern sie als unbestimmte Ausdrucksmaterien zu denken und ihrem Eigensinn und ihrer Lebendigkeit zu folgen, um daraus immer neue Formen zu gewinnen, wenn Körper wegen ihrer dynamis eher als transformierende Kräfte denn als anhand im Vorhinein feststehender Regeln zu formende Materie verstanden werden, dann vereinnahmt Choreographie seit Noverre den Tanz ebenso wie sie ihn ästhetischen Codes, den es nunmehr zu überwinden galt, erschien ihm zurecht als eine der vordringlichsten Aufgaben und als wichtigste Voraussetzung zur Entfaltung neuer ästhetischer Konzepte.“ – Dahms, Der konservative Revolutionär, S. 87. 26 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin: Merve, 1992, S. 206. 27 Dies., Anti-Ödipus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 256.
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von einem bestimmten Formenkatalog befreit: „Die generalisierte Decodierung der Ströme im Kapitalismus hat die Codeströme nicht minder als die anderen auch befreit, deterritorialisiert, decodiert – so daß die automatische Maschine sie immer mehr in ihren Körper oder in ihre Struktur als Kräftefeld interiorisiert hat“ 28, wie es Deleuze und Guattari formulieren. Mit der Asymmetrie zwischen Choreographie als schriftlicher Form und Tanz als lebendiger Tätigkeit, die sich laut Lepecki seit Noverre abzuzeichnen beginnt, verliert, was bei Arbeau noch unter Choreographie verstanden wurde, nämlich das Festsetzen von Körperhaltungen, Schritten und Positionen im Raum, zunehmend an Bedeutung gegenüber dem Vermögen der Körper, jeden fixen Katalog zu überschreiten. Von ‚Klage‘ oder ‚Trauer‘ ist hier keine Spur. Dieses den Körpern eigene Vermögen nennen Deleuze und Guattari Begehren. Es ist ihre Fähigkeit, aus sich selbst heraus Anordnungen und Gefüge zu konstruieren, die jeden im Vorhinein absteckbaren Rahmen übersteigen. Doch hat auch die Wunschproduktion eine ihr immanente Grenze: „Erstens, die Wunschproduktion steht an der Grenze der gesellschaftlichen Produktion; die decodierten Ströme stehen an der Grenze der Codes und Territorialitäten; der organlose Körper steht an der Grenze des Sozius.“29 Aus einer anderen Perspektive zieht Gerald Siegmund eine Grenze zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit. Für ihn verweist sie auf ein Bezogensein des tanzenden Körpers auf das symbolische Gesetz der Sprache, zu der analog er Choreographie denkt. Obwohl seine Position ebenso wie die Lepeckis das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz als ein bestimmtes Verhältnis feststellt, erliegt er doch nicht der Annahme, die Tätigkeit des Tanzes ließe sich denken, ohne eingebettet zu werden in einen positiven und produktiven Begriff von Choreographie.
2.2 G ERALD S IEGMUND ALS A NWALT K ÖRPER UND G ESETZ
DES
A BSTANDS
ZWISCHEN
Siegmund vertritt eine andere Position, legt Choreographie aber ebenso ontologisch fest wie Lepecki. Während in Lepeckis deleuzianisch geprägtem, rein negativem Verständnis von Choreographie (der gegenüber allein der Tanz vermögender Körper als positives Element steht) diese den Mangel in Form eines in seiner Signifikanz festgestellten Bewegungskontinuums in ein volles Begehren des tanzenden Körpers einführt, ist der Mangel für Siegmund, der wiederum stark in lacanianischen Mustern denkt, gerade konstitutiv für das Verhältnis zwischen Choreographie
28 Ebd., S. 299. 29 Ebd., S. 225.
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und Tanz.30 Beide verbindet dabei ihre Kritik an der modernistischen Idee von Tanz als ‚reiner‘, expressiver und letztlich vermittels Improvisation gewonnener Bewegung, wobei Siegmund deren Genealogie nicht innerhalb eines sich seit den Dialogen zwischen Arbeau und Capriol entfaltenden kinästhetischen Kontinuums verortet, sondern dem so verstandenen Tanz Choreographie als etwas ihm gegenüber Inkommensurables entgegensetzt. In Das Andere des Tanzes: Choreographische Verfahren als Verfahren des Schreibens, einem Aufsatz, den er mit dem Hinweis Jérôme Bels beginnt, er fertige seine Stücke am Schreibtisch an und nicht zusammen mit den Tänzern im Studio, hebt er deshalb die Alterität von Partituren hervor, deren Materialität eine Differenz zu der des Körpers markiere und meint, „dass Tanz erst dann möglich wird, wenn Choreographie als nicht-körperliche Ordnung dessen Voraussetzung ist.“31 „Dieses Andere des Tanzes, das ich als Choreographie bezeichnen möchte, schlägt sich zum einen in Scores nieder, mit denen sich die Tänzer und Tänzerinnen in der Umsetzung auseinandersetzen müssen. Zum anderen dient es im Arbeitsprozess als ein Allgemeines, das Vergleiche und Begegnungen möglich macht, ohne sich direkt in einer Form der Notation niederzuschlagen. Die Auseinandersetzung mit der Schrift und dem Schreiben lässt sich [...] mit unterschiedlichen Akzentuierungen als ein Verhaken der Körper in der Sprache und ihren Zeichen begreifen, das ihren Tanz leitet, ohne dass sie dabei in der Sprache aufgehen könnten.“32
Während Lepecki das Vermögen der Körper auf der Seite des Tanzes ansiedelt und Choreographie als einen Vereinnahmungsapparat denkt, der sie nur abschöpft und 30 In seiner Habilitationsschrift mit dem Titel Abwesenheit – Eine performative Ästhetik des Tanzes arbeitet Siegmund vornehmlich mit lacanianischen Begriffen, um das politische Potential der Choreographie als Abstandnahme des Körpers vom Gesetz des Anderen bei gleichzeitigem Bezug darauf stark zu machen: „Zwischen tanzendem Körper, zuschauender Menge und dem Anderen als dem, der jedem Körper fehlt, als Ideal und sprachliches Gesetz, auf das sich jeder Körper bezieht, entspinnt sich eine Kommunikation. Deshalb ist der tanzende Körper, auch wenn er ein Solo tanzt, nie allein. Er tanzt vor und für ein Publikum, dem sein Tanz Freude bereitet und das ihn mit seinen Projektionen und Wünschen belegt. Im Gegenzug führt er das Publikum mit seinem tanzenden Körper, der imaginäre Körper produziert, mit hin zu jenem Anderen, den er mit seinem verführerischen Tanz beschwört.“ – Gerald Siegmund, Abwesenheit – Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript, 2006, S. 171. 31 Ders., Das Andere des Tanzes: Choreographische Verfahren als Verfahren des Schreibens, in: Isa Wortelkamp (Hrsg.), „Bewegung lesen, Bewegung schreiben“, Berlin: Revolver, 2012, S. 125. 32 Ebd., S. 117.
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in ihnen äußerlichen Formen anordnet, bringt Siegmund zufolge Choreographie den Tanz zuallererst hervor. Während für Lepecki seit Arbeau über Feuillet und bis hin zu John Martin die Codierung des tanzenden Körpers und dessen Sein-zur-Bewegung eng miteinander verwoben sind, stehen für Siegmund dessen kinetische Beschleunigung und die Signifikanz einer symbolischen Ordnung im Gegensatz zueinander. Beide verbindet jedoch eine Sympathie für die Aufbruchsstimmung mancher Choreographinnen und Choreographen der 1990er Jahre und deren Ablehnung des Tanzens um einer energetisch geprägten Auffassung von Tanz willen. Am vehementesten opponieren sie hinsichtlich ihrer Lesarten historischer Konzepte von Choreographie, was sehr deutlich wird an Siegmunds Privilegierung von Scores oder apparativen Strukturen33 sowohl als Alterität als auch Bedingung der Möglichkeit tänzerischer Praxis. Vor diesem Hintergrund stellt er sogar The Daily Wake (1962) von Elaine Summers und Locus (1975) von Trisha Brown in den Kontext schriftlich geprägter Verfahren und verbindet sie mit Feuillets Notationspraxis, um aus strategischen Gründen Gemeinsamkeiten zwischen manchen seit den 1960er Jahren geläufigen Vorgehensweisen anhand von tasks und den „Prinzipien einer vorbürgerlichen und vormodernen Zeit“34 zu konstatieren. „In gewissem Sinn stehen all diese Versuche, mit Schrift zu arbeiten, im Gegensatz zu dominanten Verfahren der Moderne, die den Tanz gerade aus der Immanenz des Lebens heraus zu denken und zu realisieren suchten. Bewegung und damit Tanz war, verkürzt gesagt, ein prinzipiell energetisches, fließendes Phänomen, das aus körperlichen Impulsen und Gesetzen resultiert, die bearbeitet und choreographisch gestaltet wurden. Dagegen steht hier Choreographie als etwas eminent Nicht-Körperliches und in diesem Sinne Totes, Nicht-Lebendiges, dass differenziell strukturiert und zeichenhaft ist.“35
Aus diesen Aussagen ergeben sich zugleich Parallelen und Abstoßungspunkte für den in der vorliegenden Arbeit entwickelten Ansatz und das später mit dem alternativen Begriff des Choreographischen problematisierte, bipolare Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit. Einerseits ist Siegmunds Absetzung von oft vitalistisch fundierten und eigentlich immer energetisch motivierten Produktionsweisen der sogenannten Tanzmoderne bedingungslos zuzustimmen, andererseits schränkt sein Choreographiekonzept entsprechende Praktiken auf eine bestimmte Idee von Partituren und Aufgaben ein und lässt die qualitativen Unter33 Vgl. ders., Apparatus, Attention and the Body: The Theatre Machines of Boris Charmatz, in: André Lepecki/Jenn Joy (Hrsg.), „Planes of Composition. Dance, Theory and the Global“, London/New York/Calcutta: Seagull Books, 2009. 34 Vgl. ders., Das Andere des Tanzes, in: Wortelkamp (Hrsg.), „Bewegung lesen, Bewegung schreiben“, S. 126. 35 Ebd., S. 125 f.
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schiede zwischen deren Verwendung seit dem Judson Church Theatre und der Beauchamp-Feuillet-Notation unerwähnt. Während es sich bei jener nämlich um eine normative Poetik handelte, in der Tanz graphisch als ein fixes Vokabular an Körperhaltungen, Raumwegen und Schrittfolgen festgelegt war und es stets um die Repräsentation der höfischen Ordnung in Versailles ging, steht bei verbal strukturierten tasks oft gerade die Annahme im Vordergrund, dass alles und jeder sowohl zu deren sujet werden als auch Performer sein kann. Während Feuillet keinen Spielraum zwischen Vorschrift und Ausführung erlaubt, steht – wie Siegmund richtig betont36 – die (ästhetische) Erfahrung genau jener Differenz im Zentrum vieler Partituren, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Jedoch ist zu fragen, inwiefern Siegmunds Modell, obwohl er ebenso wie sein Kollege choreographische Praktiken radikal öffnen will, die Grenze zwischen einem Innen und einem Außen der Choreographie implizit schließt, weil er sie als das Andere der Körper denkt, nicht aber als ihnen inhärente Tätigkeitsform. Für ihn steht ein differenzielles Vermittlungsverhältnis zwischen der Materialität tanzender Körper und ihrer nichtkörperlichen Form im Fokus. So entwickelt er sein zentrales Konzept der Abwesenheit vor dem Hintergrund des gespaltenen Subjekts, welches Jacques Lacan innerhalb der Psychoanalyse postuliert hat. „Aus dieser Abwesenheit heraus, die das Subjekt in Bewegung setzt, um dem Körper seinen Platz in der symbolischen Ordnung der Kultur mit ihren Gesetzen zu suchen, resultiert der Tanz. Der tanzende Körper bewegt sich in der symbolischen Ordnung, die das Theater repräsentiert, stets innerhalb der Dimension der Sprache und doch zugleich ortlos auf sie hin. [...] Der Bühnentanz bringt demnach jene drei psychischen Instanzen ins Spiel, die Jacques Lacan als symbolisch, imaginär und real bezeichnet hat. Diese erzeugen drei verschiedene Körper, die den begehrenden Körper ausmachen. Zwischen den drei Registern kommt es jedoch zu keiner Deckung. Der Abstand zwischen den einzelnen Instanzen und ihre oft paradoxe Verstricktheit erzeugen Leerstellen und blinde Flecken, die die tanzenden Subjekte auszeichnen.“37
36 Vgl. ebd., S. 114. 37 Ders., Abwesenheit, S. 43 f. Dabei ist Siegmunds Lesart des begehrenden Körpers bei Lacan demjenigen Körper unähnlich, den Jens Kastner innerhalb der Kategorien des ästhetischen Blicks beschreibt: „Der ästhetische Blick ist nicht bloß einer, der auf Kunstwerke geworfen wird. Er vereint vielmehr die von allen Notwendigkeiten und Zwecken befreiten Sichtweisen auf die Welt. Es geht um Betrachtungen und Anschauungen, die sich, gerade weil sie nicht instrumentell sind und keiner Sache dienen, in besonderen Effekten niederschlagen.“ – Kastner, Der Streit um den ästhetischen Blick, S. 11. So wäre nach der lacanianischen Figur des großen Anderen zu fragen, die Siegmund ebenfalls zu einer Komponente seines Modells macht und die dem entspricht, was Kant als das Gute
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In einem längeren Aufsatz über William Forsythes Performance-Installation Human Writes aus dem Jahre 2006 widmet sich Siegmund der Frage, inwiefern die Eingliederung des Körpers in ein gesellschaftliches Gesetz unmittelbar mit einem bestimmten Verständnis von Choreographie zusammenhängt.38 Anhand des Habeas gerade aus seiner ästhetischen Urteilskraft ausschließt. Vgl. hierzu Kapitel 5.2. dieser Arbeit. 38 In seiner frühen Studie Sacher-Masoch und der Masochismus geht Deleuze auf die Problematik des Gesetzes und dessen Entkopplung vom Guten – welches bei Platon letztlich noch im eigentlichen Sinne gesetzgebend war – seit Immanuel Kants transzendentalem Subjekt ein: „Das Gesetz ist nur eine sekundäre, abgeordnete Instanz, die von einem höchsten Prinzip, dem Guten, abhängig ist. Wenn die Menschen wüßten, was das Gute ist, oder ihm entsprechen könnten, brauchten sie keine Gesetze. Das Gesetz ist nur Statthalter des Guten in einer Welt, die mehr oder weniger von ihm verlassen ist. Das bedeutet, daß im Hinblick auf die Folgen Gehorsam gegenüber den Gesetzen ‚am besten‘ sein soll, wobei dies Beste als Abbild des Guten gilt. […] Kant sagt selbst, daß das Neue seines Vorgehens darin bestehe, das Gesetz nicht mehr vom Guten abhängig sein zu lassen, sondern im Gegenteil das Gute vom Gesetz. […] Denn mit diesem Gesetz, das durch nichts bestimmt ist als seine reine Form, das an sich weder Inhalt noch Objekt hat und nicht spezifiziert ist, hat es die Bewandtnis, daß man weder weiß noch wissen kann, was es ist. Es ist wirksam, ohne erkannt zu sein. Es definiert einen Bereich der Irre, in dem man schon schuldig ist und die Grenzen schon überschritten hat, bevor man es überhaupt kannte: wie Ödipus.“ – Gilles Deleuze, Sacher-Masoch und der Masochismus, in: Sacher-Masoch, „Venus im Pelz“, Frankfurt am Main: insel, 1980, S. 231 ff. Randy Martin geht bezüglich dieser Problematik und ihres Verhältnisses zur Choreographie sogar so weit, einen direkten Zusammenhang zwischen Staatstechniken und der Rolle des Signifikanten innerhalb einer Politik des tanzenden Subjekts zu sehen: „The ability to organize an entire symbolic domain under the authority of a single signifier is also consonant with what is here being called the state. That the dance technique class bears relations of authority that are stated as such cannot account for how technique itself comes into being within the space of the studio.“ – Martin, Critical Moves, S. 158. Daraus schließt er: „But, paradoxically, improvement within a technique is marked by greater fluency in its repetition, the pleasures of dance being sustained through the ease with which the dancer moves through the inaugurating commands of a phrase to make it her own. When this pleasure is identified with the law, the name of technique, the affective consequences are something akin to a nationalism in which the civic movements of a population credit their own capacity to a state account.“ – Ebd., S. 165. In Kapitel 5.2. werde ich zeigen, inwiefern Kant, im Gegensatz zum Verhältnis zwischen Gesetz und abwesendem Guten, um das es in seiner Kritik der praktischen Vernunft geht, in seiner Analytik des Schönen aus der Kritik der Urteilskraft eher ein Aussetzen des Gesetzes denkt. Über die lacanianische Lesart de Sades merkt Jan Völker an: „Lacan liest de Sade als stringenten Kantianer, der
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Corpus-Aktes aus dem Jahre 1679 macht er zunächst und in Hinblick auf Giorgio Agambens Konzept des ‚nackten‘ Lebens auf eine Grundbedingung der Menschenrechte aufmerksam. Nur weil jeder Mensch seinen eigenen Körper besitzt, kann er vor dem Gesetz erscheinen. Von Beginn moderner Rechtsauffassungen an gibt es eine Spaltung des Körpers in ‚nacktes‘ und ‚politisches‘ Leben, die ihn zugleich ins Gesetz ein- wie auch aus ihm ausschließt. Siegmund überträgt diesen Gedanken auf das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz und sieht zwei entgegengesetzte Arten, wie es dergestalt beschaffen sein könnte. Entweder als „(Über)Erfüllung einer Einschreibung des Körpers ins Gesetz“39 oder als „Herausfallen des Körpers aus dem Gesetz“40. Dabei teilt er mit Lepecki denselben Referenzpunkt. Anhand von Arbeaus Orchésographie beschreibt Siegmund, was auch er „Urszene der Choreographie“41 nennt. Die gesellschaftliche Funktion des Tanzes in Arbeaus Verständnis ist es, auf der Siegmund seine folgenden Schlussfolgerungen gründet. Er zieht eine Analogie zwischen dem Verhältnis des einzelnen Körpers zur Choreographie einerseits und dem Verhältnis des ‚nackten‘ Lebens zum Gesetz andererseits. „Mit Agamben kann man daher sagen, dass auch das choreographische Gesetz einen Körper voraussetzt, den es, habeas corpus, zugleich ein- und ausschließt. Das Gesetz kümmert sich um diesen Körper, weshalb er auch nicht in einer einfachen Geste der Umkehr aus ihm ausgeschlossen werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung kann man die Anrufung
die notwendige subjektive Bejahung der Befolgung einer objektiven Notwendigkeit (des moralischen Gesetzes) aufweist. [...] Es wäre zu zeigen, dass dieser angedeutete, vor allem lacanianische Rezeptionsstrang in der Folge konsequent zum einen auf eine Akzentuierung des Erhabenen setzt, als ‚Verkörperung‘ dieses Sprungs und dessen Aufklaffen im Subjekt selbst, zum anderen auf das damit einhergehende politische Problem setzt.“ – Völker, Ästhetik der Lebendigkeit, S. 234. Lacan selbst fragt in seinem Kant mit Sade bezüglich des Objekts der ästhetischen Lust, „wieso Kant meinen kann, dieses Objekt entziehe sich jeglicher Bestimmung im Rahmen der transzendentalen Ästhetik“. – Jacques Lacan, Kant mit Sade, in: ders., „Schriften II“, Olten/Freiburg: Walter, 1975, S. 143. Das ästhetische Aussetzen von Bestimmung hat wichtige Konsequenzen für das Denken des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit sowie téchne als Vermittler zwischen beiden, weil sie in der ästhetischen Erfahrung nicht länger durch eine im Vorhinein bestehende Instanz aufeinander bezogen gedacht werden können: Hier gibt es keinen großen Anderen. 39 Gerald Siegmund, Recht als Dis-Tanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes, in: Forum Modernes Theater, Bd. 22/1, Tübingen: Gunter Narr, 2007, S. 78. 40 Ebd., ebd. 41 Ebd., S. 81.
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des Körpers durch das Gesetz und nach den Erfordernissen des Gesetzes im Tanz noch weiter denken.“42
Ziel der Choreographie bei Arbeau ist sicherlich die Gewährleistung eines gemeinsamen symbolischen Raumes der Gesellschaft. Der Jurist und Tanzschüler Capriol möchte die von Arbeau notierten Tänze lernen, weil er sich, durch sie vermittelt, den Frauen zum Zwecke der Heirat zuwenden und allgemein einen ‚richtigen‘ gesellschaftlichen Umgang pflegen kann. Abbildung 4: Human Writes, eine Performance-Installation von William Forsythe und Kendall Thomas (2006)
Yoko Ando. Photo: Dominik Mentzos.
Siegmund erwähnt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Metaphern, die in den Dialogen zwischen Arbeau und Capriol auftauchen und alle gemeinsam haben, dass sie auf einen dem symbolischen Raum entgegengesetzten, tierischen Körper, welcher eben durch den Tanz gesellschaftsfähig würde, verweisen: Da ist die Rede von der „Hammelschulter“, dem „feigen Schweineherz“ oder dem „Kopf eines Esels“43, die einem tierischen Leben, in dem es nach Arbeau keinen gesellschaftlichen Körper geben kann, im Gegensatz zum menschlichen, die Fähigkeit zur Sprache aberkennt. Ohne choreographisches Gesetz ist kein menschlicher Körper denkbar, so Siegmund: „Dieser neue Körper ist ein allgemeiner, gesellschaftlicher Körper, der jedem offen steht, der kein Schweineherz und keinen Eselskopf haben will. […] Das Gesetz der Choreographie
42 Ebd., S. 82. 43 Vgl. ebd., ebd.
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Daraus schließt er, hierin wiederum Lepecki extrem entgegengesetzt, dass Choreographie seit ihrer Geburtsstunde in den Dialogen zwischen Arbeau und Capriol eng mit dem Recht auf einen gesellschaftlich anerkannten Körper zusammenhängt. Ohne choreographisches Gesetz gibt es laut Siegmund keinen politischen Körper, argumentiert er in Bezugnahme auf Agambens Unterscheidung zwischen bios und zoë. An dieser Stelle tut sich jedoch ein Problem auf. Sicherlich stimmt seine Analyse des Verhältnisses zwischen Choreographie und Tanz im Falle von Arbeaus Orchésographie und ebenfalls in Bezug auf jegliche Tanzpraxis, die an eine gesellschaftliche Funktion gebunden ist. Aber indem er – vor dem Hintergrund von William Forsythes Tanzinstallation Human Writes und im Hinblick auf ein bestimmtes Verständnis von Körper und Gesetz – allgemeine Aussagen daraus ableitet, geraten ihm in seinem Aufsatz Recht als Dis-Tanz Einschnitte und Verschiebungen aus dem Blick, die sich im Verlauf der Tanzgeschichte ereignet haben. Zwar ist sicherlich immer, wenn man ein einzelnes choreographisches Werk in Betracht zieht, ungeachtet von dessen spezifischer Herstellungsweise, Technik und Methode, ein bestimmtes Verhältnis des einzelnen Körpers zur Choreographie im Sinne eines konkreten Produktionszusammenhangs und deshalb die Frage gegeben, ob der Körper darin vollends aufgeht (was für Siegmund heißt, dass die Aufführung in diesem Fall meistens als schlecht, weil „zu mechanisch“45 empfunden wird) oder einen Abstand dazu ausspielt. Offen bleibt jedoch, ob man daraus schließen muss, dass dieses Verhältnis zugleich auch ein Verhältnis des (Bühnen)Körpers zum symbolischen Raum und zum Gesetz der Gesellschaft beinhaltet. Der symbolische Raum, in dem Arbeau nach Wegen suchte, die in ihm zelebrierten Gesellschaftstänze in einem Notationssystem festzuhalten, hat nichts zu tun mit dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich Jean Georges Noverre bewegte und dieser wiederum nichts mit den Erfahrungsräumen, mit denen die Choreographinnen und Choreographen des 20. und 21. Jahrhunderts konfrontiert waren und sind. Roberto Esposito weist in seiner 44 Ebd., ebd. Lacan selbst schreibt: „Sowie der Dritte hereinkommt, sowie er in das narzißtische Verhältnis eintritt, eröffnet sich die Möglichkeit einer realen Vermittlung, die im Wesentlichen von der Person getragen wird, die im Verhältnis zum Subjekt eine transzendente Person darstellt, mit anderen Worten, ein Bild von einer Meisterschaft (maîtrise), vermittels derer sein Begehren und seine Erfüllung sich symbolisch realisieren lassen können. In diesem Moment taucht ein weiteres Register auf, welches entweder das des Gesetzes oder das der Schuld ist, gemäß dem Register, in welchem es erlebt wird.“ – Jacques Lacan, Namen-des-Vaters, Wien: turia+kant, 2006, S. 39. 45 Siegmund, Recht als Dis-Tanz, S. 86.
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Auseinandersetzung mit Foucaults Begriff der Biopolitik auf eine wichtige Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Natur bzw. Leben und dem Raum der Politik darin hin, die dazu führt, dass mit Agamben von ‚nacktem‘ Leben zu sprechen im Zusammenhang mit Machtformationen, die nicht länger primär auf souveräne Instanzen bezogen sind, deren paradoxes Moment unterbelichtet. „The idea of the impossibility of a true overcoming of the natural state in that of the political emerges in opposition to the modern conception derived from Hobbes that one can preserve life only by instituting an artificial barrier with regard to nature, which is itself incapable of neutralizing the conflict (and indeed is bound to strenghten it). Anything but the negation of nature, the political is nothing else than the continuation of nature at another level and therefore destined to incorporate and reproduce nature’s original characteristics.“46
Vor diesem Hintergrund ist Agambens strikte Trennung zwischen der politischen Form des bios und der angeblichen Formlosigkeit des zoë überaus problematisch, weil es ‚nacktes‘ Leben nur aus der Perspektive eines bereits aufgeteilten und konstituierten politischen Raumes geben kann. Aus dessen eigener Perspektive jedoch hat es immer bereits eine ihm eigene Form, obwohl diese nicht als solche anerkannt sein mag im Sinne des etablierten Gesetzes. Auch hier wieder stehen potentia und potestas im Sinne Spinozas einander gegenüber. Mag es im Fall von Arbeau Korrespondenzen zwischen den Positionen und Schritten der Tänzer auf dem Parkett und einer allgemeingültigen gesellschaftlichen Ordnung geben, so sind diese seit der Wende um 1800, in deren Rahmen sich Choreographie als Kunstform und ‚schöne‘ Kunst auszudifferenzieren beginnt, nicht mehr vorausgesetzt. Mit Paolo Virno lässt sich dann eine Tendenz zum Exodus der Körper aus souverän bestimmten Tanzräumen heraus konstatieren. „Das Weggehen verändert die Rahmenbedingungen, statt sie als unveränderlichen Horizont hinzunehmen; es verändert den Kontext, in den ein Problem eingelassen ist, statt dieses angehen und sich dabei für die eine oder andere vorgegebene Alternative entscheiden zu müssen. Kurz, exit ist eine unvoreingenommene Erfindung, die die Spielregeln ändert und die gegnerische Orientierung gehörig durcheinanderbringt.“47
Anhand von Siegmunds Modell lässt sich plausibel machen, wie innerhalb historisch gegebener Macht- und Wissensformationen Widerstand stattfindet, weil Körper nie mit ihnen deckungsgleich sind. Da Choreographie für ihn letztlich ein Dispositiv und die Bedingung der Möglichkeit von Tanz darstellt – sei es in Form der 46 Roberto Esposito, Bios – Biopolitics and Philosophy, Minneapolis/London: University of Minnesota Press, S. 17. 47 Virno, Grammatik der Multitude, S. 72 f.
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Sprache oder aufgrund apparativer Strukturen –, fokussiert er die (ästhetische) Differenz zwischen Körpern und nicht-körperlichen Formen, kann aber nicht erklären, wie solche Gefüge transformiert werden. Siegmund thematisiert das generative Vermögen der Körper nur implizit und fragt nicht danach, welche Potentiale außerhalb gegebener Verhältnisse von Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit bestehen. Die hier verfolgte These lautet dagegen, dass Choreographie, sobald sie um 1800 als Kunstform auftritt, jede Form symbolischer Ordnung eher zersetzt als sich in Bezug zu ihr setzt. Darauf geht Siegmund auch ein, wenn er gegen Ende seines Aufsatzes betont, dass der tanzende Körper am Hof von Ludwig XIV. zwar eine gesellschaftliche Ordnung verkörperte, es nach dem Ende souveräner Machtformationen jedoch darum geht, „ihn in ein neues Verhältnis zum sprachlichen Gesetz“48 zu bringen. Dieser Choreographiebegriff fußt auf Lacans Unterbewusstem, das strukturiert sei wie eine Sprache, welche wiederum aus differenziellen Elementen besteht, die durch ihren Unterschied zu anderen markiert und in einen offenen Verweisungszusammenhang eingebettet sind, dessen Außen sich in ihm als unzugängliches Reales zeigt. Entweder der Körper artikuliert seinen spielerischen Abstand zum Gesetz in dessen Sphäre oder er bleibt als realer Rest unartikuliert. Dabei folgt Siegmund mit Agamben der Logik souveräner Macht, an deren politischem Anfang die Staatslehre von Thomas Hobbes und dessen Zurückweisung des Naturrechts zugunsten des gemeinschaftlichen Körpers einer konstitutionell verankerten Souveränität steht. Mit Agamben vertritt er eine Position, an der Virno Kritik übt, weil er das generische Moment der Körper und die Konstituierung anderer und neuer Formen nicht ausreichend zur Sprache bringt. „Die Ontogenese, also die Entwicklung des einzelnen menschlichen Seins, zeigt den Übergang von der Sprache als öffentliche, interpsychische, zur Sprache als singularisierende, intrapsychische Erfahrung. Nun, meines Erachtens vollzieht sich dieser Prozess, wenn das Kind bemerkt, dass sein Sprechen, als Akt, nicht allein von der bestimmten Sprache abhängt (die aus vielerlei Gründen einer ‚Umwelt‘ im zoologischen oder amniotischen Sinn ähnelt), sondern in Beziehung steht mit einem generischen Sprachvermögen, mit der Potentialität, etwas zu sagen (was niemals deckungsgleich mit der einen oder anderen Sprache im ‚geschichtlichnatürlichen‘ Sinn ist).“49
48 Siegmund, Recht als Dis-Tanz, S. 84. 49 Virno, Grammatik der Multitude, S. 78 f. Völker zufolge bildet jenes generische Moment letztlich das Herz der Ästhetik: „Die generische Natur, die der Mensch ist und denkt, verweist nicht auf Formen aristotelischer Verwirklichung, sondern auf Formen als Verwirklichung des Besonderen, lebendige Formen. Ästhetisch kann der Mensch diese seine Natur ausdrücken.“ – Völker, Ästhetik der Lebendigkeit, S. 165.
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In dieser Hinsicht ist es wichtig festzustellen, dass es bei Arbeau, darin nimmt er Hobbes’ Logik vorweg, nur zwei Alternativen gibt: Entweder der Körper tanzt die von der choreographischen Schrift festgelegte Schrittfolge oder er hat ‚Schweineherz‘ und ‚Eselskopf‘ und ist deshalb nicht gesellschaftsfähig. Die Frage ist dann, was außerhalb des vom Gesetz der Choreographie souverän gesetzten Raumes liegt. Gibt es dort wirklich nur ‚tierisches‘ Leben?50 Kann der Körper deshalb allein als in die Choreographie eingeschlossener und zugleich aus ihr ausgeschlossener gedacht werden, nämlich als zoë ohne ihm eigene Form, welchem die Form eines gemeinschaftlichen bios gegenüberstünde? Eine solche Alternative würde unterstellen, dass er nur als gesellschaftlicher Körper konzeptualisiert werden kann, wenn er sich im souveränen Raum einer schon konstituierten Choreographie bewegt und sich auf deren Regeln hin ausrichtet.51 Was hingegen seit Noverre zum wichtigen Bestandteil der Praxis des Choreographierens gehört, ist das Operieren in und mit dem vom souveränen Raum geordneter Schrittfolgen ausgeschlossen und plebejischen Raum. Dieser Raum wird in Noverres Briefen nicht als Raum unartikulierter Laute beschrieben, sondern als Raum, in dem sich das noch nicht choreographisch bestimmte Potential des Lebens im Sinne einer dynamis entfaltet. Deshalb geht es seit Noverre nicht mehr um die Alternative zwischen der bedeutenden Schrift der Choreographie und einem Außen des ‚tierischen‘ Körpers, sondern gerade um den paradoxen Raum dazwischen, um die Grenze, an der, wie Siegmund in Abwesenheit schreibt, das Imaginäre, das Reale und das Symbolische als für ihn maßgebende Register in der Schwebe zueinander gehalten werden. Dieser Grenze wendet er sich zu, wenn er in seiner Habilitationsschrift von der „ästhetischen Betrachtung von Tanz als Bühnenkunstform“52 spricht. Aber seine lacanianische Sichtbrille zeigt ihm zwei Alternativen, die – im Falle der Ästhetik – aus den Lücken innerhalb des Symbolischen resultieren.
50 Siehe hierzu Jacques Derridas Kritik an Lacans Trennung des Menschen vom Tier. Laut Lacan mangele es nämlich den Tieren am Signifikanten, eine Vorstellung, mit der sich Derrida länger auseinandersetzt, um zu zeigen, dass auch die Grenze zwischen der Welt sprachlicher Wesen und dem Reich der vermeintlich Sprachlosen, respektive „der Übergang vom Imaginären zum Symbolischen als Übergang von der tierischen zur menschlichen Ordnung“ nicht gefeit ist vor der Dekonstruktion. Vgl. Jacques Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien: Passagen, 2010, S. 189. 51 Letztlich entspricht die Frage, die ich an Siegmunds Choreographiekonzept richte, derjenigen, die Deleuze (viel zu spät) an Foucaults Machtbegriff adressierte: Wie kommt es zur Transformation von Macht- und Wissensgefügen, wenn sie die Bedingung der Möglichkeit noch von Widerstand sind? – Vgl. Deleuze, Lust und Begehren. 52 Siegmund, Abwesenheit, S. 38.
88 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Dies führte in Teilen der Tanzmoderne seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer Fülle veränderter imaginärer Körperbilder, die sich auf die vermeintliche Natürlichkeit der Bewegung in dem Sinne beziehen, dass sie den Sitz der Bewegung im biologischen Körper (und nicht mehr in der Geometrie des symbolischen Raums) und seinen physiologischen Voraussetzungen suchen. Am Ende dieses Weges, der noch nicht zu Ende beschritten ist und der sich aufgrund der aller Orten beklagten Krise des Symbolischen (der Ordnung, der Werte, der Moral, der Politik, an die niemand mehr so recht glauben will) zusehends radikalisiert, wartet die Figur des Monsters. Die Choreographie verhindert, dass Capriols Körper zu einem hybriden, monströsen Körper, halb Mensch, halb Tier wird.“53
Auch wenn man diesen Beobachtungen zustimmt, muss man daraus nicht wie Siegmund die Schlussfolgerung ziehen, dass auf der anderen Seite des choreographischen Gesetzes das Monster wartet und hier das politische Leben vom natürlichen vollends dissoziiert wäre.54 Er kann das nur annehmen, indem er seinen Untersuchungen einerseits einen souveränen Machtbegriff und anderseits einen rein biologischen Lebensbegriff zugrunde legt, die beide bezüglich der Choreographie mit Noverre prekär werden. Dabei stützt er sich auf Agambens strikte Trennung zwischen bios und zoë und blendet aus, dass Foucaults Idee der Biopolitik sehr viel ambivalenter ist. Foucault zufolge lässt sich mit ihr keine Grenze zwischen Leben und Politik ziehen. Das Leben als affektiv wirksames Kräftefeld und Potential betritt die Politik, und die Politik arbeitet auf ihrer anderen Seite, indem sie direkt in Lebensprozesse eingreift. Auch Georges Canguilhem weist auf eine fundamentale Monstrosität hin, die auf dieser Grenze zwischen Politik und Leben angesiedelt ist. „Indem das Monster die Stabilität, an die uns das Leben gewöhnt hat – nur gewöhnt, und doch haben wir aus der Gewohnheit ein Gesetz gemacht –, als prekär offenbart, weist es der spezifischen Wiederholung, der morphologischen Regelmäßigkeit oder der erfolgreichen Strukturierung einen Wert zu, der umso größer ist, als er nun in seiner Kontingenz erscheint.“55
Im Anschluss daran würde Foucault Agamben ebenfalls mit folgender Aussage widersprechen: „Das Problem dieser neuen gouvernementalen Rationalität ist also nicht so sehr oder allein die Erhaltung des Staates in einer allgemeinen Ordnung, sondern die Erhaltung eines bestimmten Kräfteverhältnisses, die Erhaltung, die Un-
53 Ders., Recht als Dis-Tanz, S. 84 f. 54 Vgl. ebd., ebd. 55 Georges Canguilhem, Die Monstrosität und das Monströse, in: ders., „Die Erkenntnis des Lebens“, S. 311.
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terhaltung oder Entwicklung einer Kräftedynamik.“56 Streng genommen macht der Begriff des ‚nackten‘ Lebens, wie Agamben ihn innerhalb der Unterscheidung zwischen bios und zoë einführt, im Zusammenhang mit Foucaults Untersuchungen zur Gouvernementalität und den ihr eigenen Sicherheitsdispositiven nur Sinn, wenn man Macht bezüglich der biopolitischen Wende weiterhin als souveräne Form denkt. Diese Variante jedoch stellt Foucault selbst in Frage. „Wir haben hier, glaube ich, einen wichtigen Bruch: Während das Ziel der Souveränität in sich selbst liegt und sie ihre Instrumente in Gestalt des Gesetzes aus sich selbst ableitet, liegt das Ziel der Regierung in den Dingen, die sie lenkt; es ist in der Vollendung, der Maximierung oder Intensivierung der von ihr gelenkten Vorgänge zu suchen, und anstelle der Gesetze werden verschiedenartige Taktiken die Instrumente der Regierung bilden.“57
Seit dem späten 18. Jahrhundert und denjenigen Brüchen, die von Foucault als Übergänge von souveränen zu biopolitischen Machtformen beschrieben wurden, ist es schwierig, eine klare Trennung zwischen ‚gesellschaftlichem‘ Leben und ‚tierischem‘ (Arbeau) bzw. ‚nacktem‘ (Agamben) Leben aufrechtzuerhalten. In der vorliegenden Arbeit wird deshalb zu zeigen versucht, inwieweit sich dieser grundlegende Bruch auch in Noverres Briefen über die Tanzkunst und über die Ballette ablesen lässt und dass Choreographie seitdem eher innerhalb affektiv wirksamer Kräftefelder denn anhand fester Gesetze und Schrittfolgen operiert. Deshalb soll, in Bezug auf ein in diesem Kontext virulentes, alternatives Konzept von Choreographie, gerade für einen Bereich jenseits der Bindung des Körpers an einen bereits konstituierten Formzusammenhang plädiert werden. Sowohl innerhalb der Ästhetik als auch im Kalkül der Biopolitik wird der Körper nicht durch seinen Abstand zu einer im Vorhinein festgelegten Instanz bestimmt, sondern tritt als ein noch nicht bestimmter Körper in Erscheinung. Ihm geht keine Form voraus, sondern seine Form bildet sich zuallererst als Choreographie ebendieser Bestimmbarkeit, die eine doppelsinnige Bestimmbarkeit des Körpers darstellt, weil er es ist, der sich selbst gegenüber bestimmbar wird. Das bedeutet, Choreographie kann in diesem Falle nicht wie bei Siegmund als „Ermöglichung von Subjektivität“58 durch Abstandnahme zu einer dieser vorangehenden Größe gedacht werden, sondern ist seit der ästhetischen und biopolitischen Wende – wenn man von der Beobachtung einzelner Stücke auf einen größeren gesellschaftlichen Kontext schließt – eng mit der Entkörperung des souverän gedachten Gesellschaftskörpers und damit der Durchlöcherung der Grenzen zwischen Kultur, Natur, Mensch und Tier verbunden. Sie setzt Subjektivie56 Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung – Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 429. 57 Ebd., S. 150. 58 Siegmund, Recht als Dis-Tanz, S. 86.
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rungsprozesse in Gang, ohne sie dabei auf im Vorhinein markierte Elemente zu beziehen.59 Agambens Konzept des ‚nackten‘ Lebens, auf das Siegmund sich im Verlauf seines Aufsatzes wiederholt beruft, ist deshalb problematisch, weil seine Unterscheidung zwischen zoë und bios einen wichtigen Aspekt von Foucaults Analyse, auf der er immerhin aufbauen will, unterbelichtet.60 Für Foucault hängt der Übergang von souveränen zu gouvernementalen Macht- und Wissensformen im 18. Jahrhundert eng mit einem Wechsel von Disziplinar- zu Sicherheitsdispositiven zusammen, einem Wechsel, der sich ablesen lässt an Arbeaus und Feuillets Verständnis von Choreographie einerseits und dem Noverres andererseits. In beiden Fällen lassen sich grundsätzlich andere Auffassungen des Verhältnisses zwischen Choreographie und Tanz zeigen. Choreographie kann seit Noverre nicht mehr als VorSchrift einer gesellschaftlichen Ordnung gedacht werden. Foucault selbst sagt über die im 18. Jahrhundert aufkommenden Formen der Macht und des Wissens, dass sie sich grundlegend von souveräner Gesetzesmacht unterscheiden. Es sei deshalb zunächst ein längerer Abschnitt aus seiner Geschichte der Gouvernementalität zitiert, in dessen Verlauf er sich interessanterweise eines lacanianischen Vokabulars bedient. „Anders gesagt, das Gesetz verbietet, die Disziplin schreibt vor und die Sicherheit hat – ohne zu untersagen und ohne vorzuschreiben, wobei sie sich eventuell einiger Instrumente in Richtung Verbot und Vorschrift bedient – die wesentliche Funktion, auf eine Realität zu antworten, so daß diese Antwort jene Realität aufhebt, auf die sie antwortet – sie aufhebt oder ein59 Derart argumentiert auch Guattari in seiner durchaus polemischen Kritik am lacanianischen Modell: „So Lacan created a theory of the subject of the second articulation, the subject that talks under the constraint of writing, economies of flow, the despotic referent (resonant double articulation – the Oedipus – and reasoning-signification). But not of the subject of the unconscious: for the very good reason that there is no subject of the unconscious […], and the unconscious doesn’t speak, or discuss things. It works in its own way, it fouls around, doodles. It doesn’t give a shit! The unconscious is not ‚structured like a language.‘ It’s annoying, but it’s true!“ – Félix Guattari, The Anti-Oedipus Papers, Los Angeles: Semiotext(e), 2006. S. 186. 60 Auf dieses Problem weist Thomas Lemke hin: „Die Lektüre von Agambens Büchern führt zu einem überraschenden Ergebnis. Denn paradoxerweise bleibt der Autor gerade jener juridischen Perspektive und dem binären Code des Rechts verpflichtet, die er so vehement kritisiert und deren desaströse Konsequenzen er überzeugend aufzeigt. […] Einerseits konzipiert er das Politische als souveräne Instanz, die kein Außen kennt, das mehr wäre als eine ‚Ausnahme‘, andererseits erschöpft sich in seiner Darstellung die Souveränität völlig in der dezisionistischen Bestimmung des Ausnahmezustandes und der todbringenden Aussetzung ‚nackten Lebens‘.“ – Thomas Lemke, Biopolitik, Hamburg: Junius, 2007, S. 84.
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schränkt oder bremst oder regelt. Diese Steuerung im Element der Realität ist, denke ich, grundlegend für die Sicherheitsdispositive. Man könnte noch sagen, daß das Gesetz im Imaginären arbeitet, da das Gesetz nun einmal nur imaginiert und sich nur ausdrücken kann, indem es sich all die Dinge vorstellt, die getan werden könnten und nicht getan werden dürfen. Es imaginiert das Negative. Die Disziplin arbeitet gewissermaßen komplementär zur Realität. Der Mensch ist böse, der Mensch ist schlecht, er hat schlechte Gedanken, schlechte Neigungen usw. Im Inneren des Disziplinarraumes bildet man das Komplement dieser Realität, der Vorschriften, der Verbindlichkeiten, und das umso künstlicher und umso beengender, als die Realität ist, was sie ist, und als sie hartnäckig und schwer zu bezwingen ist. Und schließlich versucht die Sicherheit im Unterschied zum Gesetz, das im Imaginären arbeitet, und zur Disziplin, die komplementär zur Realität arbeitet, in der Realität zu arbeiten, indem sie durch und über eine ganze Serie von Analysen und spezifischen Dispositionen die Elemente der Realität wechselseitig in Gang setzt.“61
Was hier deutlich wird, gerade in Bezug auf ein hylemorphisches Verständnis von Choreographie, ist der Umstand, dass sie mit dem Aufkommen des Lebensbegriffs während des 18. Jahrhunderts nicht mehr, wie noch im Falle von Arbeau und Feuillet, als aktive Form angesehen werden kann, die sich eine passive Materie unterordnet, also als Gesetz, das die Körper in sich einschließt oder als gesellschaftliches Modell, dem entsprochen oder das verfehlt werden könnte, sondern dass es nun eine Wechselwirkung zwischen beiden gibt, die jede Feststellung des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit zutiefst verunsichern muss. Denkt man dagegen wie Siegmund das Verhältnis zwischen beiden in Begriffen des Imaginären, des Realen und des Symbolischen, verpflichtet man Choreographie auf ihre gesetzgebende Funktion und Tanz auf das Ausspielen seines Abstands dazu, ohne das Moment der Genese dazwischen ausreichend in den Blick zu bekommen. Stark an Siegmunds Thesen ist jedoch, dass er, im Gegensatz zu Lepecki, Choreographie positiv und produktiv denkt, wie niemand sonst bisher das ihr inhärente, den Tanz hervorbringende, Moment thematisiert und sie somit zu einem immer hegemonial umkämpften Raum macht. Diese bedeutende Komponente des Siegmundschen Modells wird den später im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Begriff des Choreographischen ein wenig prägen, obwohl dafür plädiert sein soll, das Positive und die Produktivität im Verhältnis zwischen Formen und Tätigkeiten anders zu fassen denn in lacanianischen Termini, deren doch sehr strukturalistische Logik und die daraus resultierende Analogiebildung zwischen Sprache und Choreographie ihre Grenzen hat. Siegmund zufolge ist es primär ein symbolisches Register, auf das sich der tanzende Körper bezieht. Es stellt sich deshalb die Frage, inwieweit Lacans Signifikantenmodell hinreicht bezüglich der Beschreibung choreographischer Prak61 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 76.
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tiken, die gerade mit affektiven Qualitäten und qualitativen Transformationen von Körpern operieren, welche noch nicht signifikant belegt und codiert sind und deshalb auch nicht, der Analogie zufolge, den tanzenden Körper auf eine symbolische Ebene beziehen, sondern eher davon abbringen. Demgegenüber wird später bezüglich des Choreographischen das Konzept des Affekts und der affektiven Wirksamkeit der lebendigen Tätigkeit von Körpern hervorgehoben, vermittels derer es zur Formung dessen kommt, was noch keine Form hat und sich als solches auch nicht auf feststehende Größen oder ein bereits bestimmtes Vokabular bezieht, dennoch aber auf dem Weg ist zur Form hin.62 Es ist das Motiv des Lebens, welches um 1800 innerhalb der Choreographie zum Problem wird, das auf Körper außerhalb des choreographisch bestimmten Raumes und seiner Körperhaltungen, Raumwege und Schrittfolgen verweist, deren Sprechen etwas artikuliert, obwohl ihm keine Sprache entspricht.
2.3 E INE A LTERNATIVE
ZWISCHEN
Ä STHETIK
UND
B IOPOLITIK
„Leben heißt ausstrahlen und das Milieu ausgehend von einem Bezugszentrum organisieren, das selbst nicht auf etwas bezogen werden kann, ohne seine ursprüngliche Bedeutung zu verlieren.“
63
G EORGES CANGUILHEM/DAS LEBENDIGE UND SEIN MILIEU
Sowohl Lepecki als auch Siegmund unterstellen, beide auf ihre Weise, eine gewisse Ontologie des Verhältnisses zwischen Choreographie und Tanz. Für Siegmund ist Choreographie Gesetz und mit dem großen Anderen der (symbolischen) Ordnung der Gemeinschaft verbunden, für Lepecki verweist sie auf ein bestimmtes Verständnis der ‚Moderne‘ als Epoche der Beschleunigung und ist deshalb Klage ebenso wie Trauer über den Moment, der sich in der Zeit entzieht. Bei Siegmund wird Tanz politisch, wenn der Körper seinen Abstand gegenüber dem choreographischen Gesetz ausspielt und somit verhindert, dass Gesetz und Leben zusammenfallen. Bei Lepecki ist Tanz politisch, wenn er Stilleben im Sinne von still-acts des Lebendigen ausstellt und als slow dance der Beschleunigung eine Verlangsamung gegenüberstellt. Beide unterstellen jedoch unterschwellig ein ethos der Gemeinschaft, in der Choreographie als Praxis auftaucht und damit im Sinne Andrew Hewitts eine 62 Vgl. hierzu Stefan Hölscher, Beautiful Affects in Choreography, in: Gabriele Brandstetter/Gabriele Klein (Hrsg.), „Dance [and] Theory“, Bielefeld: transcript, 2012. 63 Georges Canguilhem, Das Lebendige und sein Milieu, in: ders., „Die Erkenntnis des Lebens“, S. 266.
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bestimmte soziale Choreographie, innerhalb derer Tanz als Tätigkeit dann als Einübung in die und Widerspiegelung der sozialen Ordnung verstanden wird. „Because choreography takes as its material the human body and its relation to other human bodies, an examination of social choreographies is particularly suited to a presentation of the ways in which political and aesthetic moments shade into each other and delineate themselves with respect to each other.“64
Lepecki und Siegmund setzen implizit voraus, dass es bereits vor der Produktion und Einübung des Tanzes als Tätigkeit einen Zusammenhang zwischen den Seinsweisen choreographischer Formen und dem ethos als Aufenthalt der Körper in einem bestimmten gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang gibt: Einerseits in einer als Beschleunigungsprozess verstandenen Moderne, andererseits im symbolisch geteilten Raum einer gemeinsamen (Tanz)Sprache, die zwar niemand erreicht, auf die hin aber alle abzielen in ihrer Tätigkeit. In beiden Fällen lässt sich im Sinne der zentralen These aus Social Choreography sagen, man habe es bei choreographischen Praktiken immer mit einer Einübung in gemeinschaftliche Zusammenhänge zu tun. „[W]e might think of choreography in terms of ‚rehearsal‘; that is, as the working out and working through of utopian, but nevertheless ‚real‘, social relations. My argument is that discourses around dance […] have tended to recognize choreography as a form that not only examplifies a certain ideological relation of aesthetics to politics but also reflects on and/or performs that relation.“65
Versteht man Tanz dagegen als zunächst unbestimmte Tätigkeit und Choreographie ebenso offen als immer singuläre Form, die aus dieser Tätigkeit resultiert und nicht von ihr zu trennen ist, dann kommt ein dritter Begriff ins Spiel: Die Praxis der Körper, die gedacht werden kann entweder im Rahmen ihrer Reglementierung durch Poetiken und Regelbücher (unter dieser Perspektive werden im nächsten Kapitel die Schriften Arbeaus und Feuillets zur Choreographie befragt) oder als entregelte und als Vermögen der Körper, Formen zu produzieren, die in einen Dissens zu bereits gegebenen Formen treten. Seit Noverre steht diese Richtung auf dem Spiel. Insofern gibt es eine Schnittmenge zwischen den Positionen Lepeckis und Siegmunds. Beide treffen sich nämlich am Punkt der Ästhetik. Es sind der Ästhetik seit Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft inhärente Fragestellungen, die im Diskurs Lepeckis und Siegmunds implizit mitschwingen. Es hat den Anschein, als 64 Andrew Hewitt, Social Choreography, Durham&London: Duke University Press, 2005, S. 13. 65 Ebd., S. 17.
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würden sowohl Siegmund, der von einer spielerischen Abstandnahme zum Symbolischen Lacans aus denkt, als auch Lepecki, über seinen spinozistisch verstandenen Körper, auf diesen Punkt hinzielen. Das Problem wäre dann, dass beide zugleich Recht und Unrecht haben. Denn im ästhetischen Zustand fangen, wie Rancière in vielen seiner Texte bemerkt, die stummen Dinge genauso an zu sprechen wie die Sprache stumm wird. Die Körper, die in ihrer Stummheit zu sprechen beginnen, drücken paradoxerweise etwas aus, das nicht bereits ‚sprachlich‘ strukturiert ist, sondern das die Frage zum Problem werden lässt, was überhaupt unter Sprache zu verstehen sei. Keine aktive Form (die Choreographie) kann mehr einer passiven Materie (der Tätigkeit der Körper) eingeschrieben werden, sondern beide stehen in einer nicht feststellbaren und unbestimmten Wechselwirkung. Zwar zielt Lepecki auf diese Unbestimmtheit, wenn er bemerkt, dass „the identification of an intimicy between the inability of the language of speech and the inability of the language of vision, their isomorphic co-impossibilities, points towards the outlining of a new ontolinguistic regime of sensibility that casts movement and presence as absence“66, denkt sie aber leider nur negativ, sobald er sie auf Choreographie bezieht. Hier hingegen soll vorgeschlagen werden, das offene Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz mit Rancière unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten, wobei unter Ästhetik keine wissenschaftliche Theorie der Choreographie als Kunst verstanden wird, sondern eine Frage ohne Antwort, eine ungelöste Spannung oder, wie Rancière es nennt, „der Knoten, durch den Denkweisen, Praktiken und Affekte eingesetzt und mit einem ‚eigenen‘ Territorium oder Gegenstand ausgestattet werden.“67 In der ästhetischen Erfahrung löst sich, wie zu zeigen sein wird, jedes ethos eines gesellschaftlichen Zusammenhangs auf. Indem sie die Gemeinschaft von sich selbst entfernt, erzeugt Ästhetik einen ihr eigenen Dissens innerhalb jedes symbolisch konstituierten Raumes. Dieser dagegen ist nach Rancière immer durch Konsens geprägt: „Nur bedeutet Konsens viel mehr: Es bedeutet eigentlich eine Weise symbolischer Strukturierung der Gemeinschaft, die das beseitigt, was den Kern der Politik ausmacht, nämlich den Dissens.“68 Den folgenden Kapiteln sollen demnach, aus den bisherigen Ausführungen abgeleitet, mehrere Fragen vorangestellt werden. (1.) Was ist unter dem Begriff des Lebens zu verstehen, wenn man ihn auf Rancières ästhetisches Regime einerseits und Foucaults Analyse des Aufkommens der Biopolitik um 1800 andererseits bezieht? Wie verhält sich die Lebendigkeit tanzender Körper zu bestimmten Ideen des Lebens?
66 Lepecki, Inscribing Dance, S. 129. 67 Jacques Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen, 2007, S. 14. 68 Ebd., ebd.
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(2.) Wie ist das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz beschaffen, sobald Choreographie weder als Notationsverfahren noch als fixes Regelwerk (normativ im Sinne einer Poetik) gefasst wird? Siegmund kommt gegen Ende seiner Abwesenheit zu dem Schluss: „Tanz, wie er hier verstanden wird, geht nicht mehr davon aus, dass es ‚den Tanz‘ gibt. Die Arbeiten, die hier vorgestellt und diskutiert wurden, funktionieren innerhalb der Grenzen des Theaters und seiner Gesetze, um dessen Grenzen abzuschreiten und zu verschieben.“69 Wie aber sind die Grenzen und Gesetze dessen, was unter Choreographie und Tanz zu verstehen sei, entstanden? Diesen Poetiken ist das folgende Kapitel gewidmet. Insofern bedeutet der Exodus der Körper aus den Poetiken des Tanzes um 1800 auch eine Öffnung dessen, was Lepecki unter dem Namen kinästhetisches Kontinuum so treffend kritisiert, wenn man es als Effekt normativer Regelwerke für die Produktion und Rezeption von Tanz versteht, die das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit seit den Dialogen zwischen Arbeau und Capriol immer wieder auf unterschiedliche Weisen festgestellt haben.
69 Siegmund, Abwesenheit, S. 452.
3. Zwei Poetiken des Tanzes
Von Poetiken wird im Folgenden in Bezug auf den Tanz gesprochen, weil es in den Schriften von Thoinot Arbeau und Raol-Auger Feuillet explizit darum geht, im Namen der Choreographie Regelwerke für die Wirkung, den Wert, die Aufgaben, die Funktionen und für spezifische Ausdrucksmittel und Inhalte des Tanzes aufzustellen. Genau wie die Poetiken innerhalb der Dichtkunst seit Aristoteles stellen die Poetiken des Tanzes diesen zunächst fest und garantieren eine Adäquatheit zwischen der Produktion (posis) und Rezeption (aísthesis) bestimmter Formen. Sie konzeptualisieren Choreographie als fixes Verfahren zur Reproduktion von Bewegungsmustern, die sich dann innerhalb technisch geregelter Abläufe herstellen lassen.1 Dabei hängen spezifische Herstellungsweisen (produktionsästhetische Probleme) eng mit Wahrnehmungsweisen von Bewegung (rezeptionsästhetischen Problemen) zusammen. Denn was innerhalb der Produktion von Bewegung als geregeltes Verfahren gelten kann, verweist immer auch auf einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang, mit dem es als Verfahren korrespondieren soll. Der choreographische Körper wird innerhalb einer jeden Poetik deshalb als Nahtstelle zwischen posis und aísthesis gesehen. In ihm treffen sich festgestellte Herstellungsund Wahrnehmungsformen. In diesem Zusammenhang wird auch die Metapher des
1
Womit die Tätigkeit von Körpern wie anderswo auch im Vorhinein konstituierten Formen subsumiert wird: „Alle großen und kleinen Formen, wie sie im Laufe der Geschichte der Künste entstanden sind, Versmaße, Stile, Genres, Manieren, perspektivische Konstruktionsanweisungen, Ikonographien, Allegoresen, Vorschriften der Akademien etc. waren in der Epoche vor dem ästhetischen Regime mit einem imperativen Set von Anwendungsregeln verbunden, [...] das festlegte, welche Form für welches Sujet in welcher Kombination mit anderen Formen zu welchem Anlass wann und in welcher Gesamtordnung zur Erzielung welcher darstellerischer, affektiver oder politischer Wirkung zu verwenden war.“ – Markus Klammer, Jacques Rancière und die Universalität der Gleichheit, in: Robnik/Hübel/Mattl (Hrsg.), „Das Streit-Bild“, S. 203.
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Körpers als Schrift wichtig. Vom Körper als geschriebenem oder schreibendem lässt sich nämlich nur sprechen, wenn man ein adäquates Verhältnis zwischen aktiven Formen und passiven Materien unterstellt. Jenes hylemorphische Verhältnis wiederum setzt voraus, dass es einerseits die wortwörtliche Choreo-graphie gibt und andererseits das Tanzen als dieser ent-sprechende Tätigkeit. In ihrem wechselseitigen Bezug und ihrem symmetrischen Zusammenwirken konstituieren beide, wie Jean-Noël Laurenti in Bezug auf deren Perfektionierung innerhalb der Zeremonien der souveränen Ordnung des französischen Königshofes unter Ludwig XIV. festgestellt hat, eine selbstidentische Auffassung von Gemeinschaft. „For when an aristocracy claiming to represent a particularly perfect type of humanity begins to enact the ceremonies of the court as a performance staged for its own benefit and for the rest of the world, the ball then becomes one of the domains in which this more perfect humanity consecrates its mastery: not only over the body, but also over more conceptual objects, through the modeling of movement and the organization of space. […] This mastery extends equally, no doubt, to social relationships, represented through the spatial relations between the partners, and between each individual or each couple and the public.“2
Tanzen vollzieht sich dann anhand festgelegter Formen des Körpers und in einem durch poetische Regeln bestimmten Raum oder auf einer klar umrissenen Fläche. Die Form des Raumes und der Körper in ihm ist so als gemeinschaftliche Form doppelt festgelegt. Sie reguliert ebenso, auf der Seite des Tanzes als Tätigkeit, den einzelnen Körper in Bewegung und die Bewegung der Körper zusammen wie sie die Wahrnehmung von Bewegung auf der anderen Seite festlegt. Dies bewirkt sie, indem sie die Unterscheidung zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Bewegungen ins Auge derer einführt, die der öffentlichen Aufführung von Tanz zuschauen. Während Arbeau allerdings nur von Gesellschaftstänzen spricht und deshalb die zentralen Charakteristika von Rancières ethischem Regime zugleich erfüllt und zur Geburtsstunde der Choreographie macht, lässt sich Feuillet eher dem poetischen/repräsentativen Regime zuordnen, da in ihm eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung nicht mehr von allen direkt verkörpert werden soll, sondern nachgeahmt wird, dabei aber dennoch als ethos im Sinne eines Aufenthalts und einer Seinsweise der Körper bestehen bleibt.3 Für eine zunächst unbestimmte Praxis vermögender Körper und das Ausspielen ihrer Lebendigkeit ist in einem solcherart einheitlich gedachten Lebenszusammenhang kein Platz. 2
Jean-Noël Laurenti, Feuillet’s Thinking, in: Laurence Louppe (Hrsg.), „Traces of Dance – Drawings and Notations of Choreographers“, Paris: Editions Dis Voir, 1994, S. 100.
3
Zur Logik der drei Regime Rancières vgl. das folgende Kapitel. Das ästhetische Regime entregelt die im ethischen und poetischen/repräsentativen Regime geltenden Poetiken.
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3.1 A RBEAU
UND DAS
D ER P RIESTER
L EBEN
UND SEIN
DER GETAKTETEN
G EMEINSCHAFT :
A NWALT
Die 1589 im französischen Langres zum ersten Mal publizierte Orchésographie von Thoinot Arbeau wurde interessanterweise gegen dessen Willen gedruckt und der Nachwelt hinterlassen. Trotzdem können die in ihr enthaltenen Dialoge zwischen dem Priester Arbeau und seinem Schüler, dem Anwalt Capriol, als Geburtsstunde der Choreographie angesehen werden. Der Herausgeber Jehan des Preyz schreibt aber im Vorwort: „I have printed them in their entirety to offer you despite the fact that the said Sieur Arbeau forbade me to do so, saying that such things as he had scribbled merely to kill time did not merit printing, much less presentation to you.“4 Trotzdem haben sie die Nachwelt deutlich geprägt. Die Gespräche zwischen Arbeau und Capriol kreisen zentral um den Gesellschaftstanz in seinen verschiedenen Ausprägungen und seine Bedeutung für das gemeinschaftliche Leben, sowohl in Bezug auf den Krieg zwischen Staaten als auch im Kontext der zwischengeschlechtlichen Werbung und Heiratsvermittlung. Erst zur Mitte des 17. Jahrhunderts soll der Tanz am Hofe Ludwigs XIV. als theatrale Form isoliert werden, zunächst ist er noch fest mit verschiedenen Alltagspraxen verwoben, und es gibt keinen Unterschied zwischen Gesellschaftstanz und Bühnentanz, weder im Hinblick auf seine soziale Einbettung noch bezüglich der technischen Fähigkeiten, die gefordert sind, um ihn ausführen zu dürfen: Erst später kommt es an der Pariser Académie Royale de Danse zur Herausbildung einer verfeinerten Technik. Tanz gehört, so werden ihn Arbeau und Capriol in ihren Wortwechseln definieren, zur Erziehung guter Menschen für einen geordneten und wohl proportionierten Staat. Damit legen sie gleichsam den Grundstein für eine Auffassung von Choreographie als schriftlicher Form und den Körper als Text, die später auch Pierre Beauchamp und Raoul-Auger Feuillet vertreten werden. Dorion Weickmann weist vor diesem Hintergrund auf einen wichtigen Zusammenhang zwischen der Vertextlichung des Körpers und dessen Einfügung in ein einheitlich gedachtes Körpergefüge hin. „Freilich bedarf es harter Arbeit, um die ‚Chorégraphie‘ so flüssig wie einen Text lesen zu können. Im Grunde aber hat ihr Autor nichts anderes im Sinn als die Bewegung des Körpers in eine schriftliche Form, in einen Text zu verwandeln. Mit der ‚Chorégraphie‘ erreicht die Tanztheorie ein bisher unbekanntes Abstraktionsniveau: Hier existiert keine Bewegung für
4
Thoinot Arbeau, Orchesography, New York: Dover Publications Inc., 1967, S. 10. Ich zitiere im Folgenden aus der englischen Übersetzung von Mary Stewart Evans.
100 | V ERMÖGENDE K ÖRPER sich, sondern nur als Bruchstück eines größeren Ganzen. Dieser Gesamtheit haben sich alle Teilelemente unterzuordnen.“5
Arbeau will verschiedene Tänze, die er in jungen Jahren selbst meistern konnte, niederschreiben und bedient sich zu diesem Zweck einer seit Platons Dialogen geläufigen Textform, der des Gesprächs zwischen Meister und Schüler, in welcher die Fragen des Schülers in erster Linie dazu dienen, die Erklärungen des Meisters in Richtung einer Präzisierung seines im Vorhinein festgelegten Standpunktes zu lenken. Insofern ist der Dialog nur bedingt ein Austausch. Viel eher handelt es sich beim platonischen Dialog um einen geordneten Wechsel rhetorischer Fragen und daraus abgeleiteter Antworten. Für Widersprüche oder gegenteilige Ansichten ist hier kein Platz, es geht im Gegenteil darum, eine einzige Argumentationskette kontinuierlich zu entfalten. Arbeau bedient sich einer eindeutigen Verbindung von sprachlichem und graphischem Material, denn seine Ausführungen sind nicht nur mit dem musikalischen Notationssystem, an dem er das den von ihm aufgezeichneten Tänzen eigene Taktmaß illustriert, durchsetzt, sie enthalten auch zahlreiche Darstellungen von dazu passenden Körperhaltungen. Diese Körperhaltungen sollen Capriol Schritt für Schritt in den Gesellschaftstanz einführen und treiben laut Weickmann eine „Vereinheitlichung des Körperbildes“6 als primäres Anliegen der Choreographie schon während ihrer Geburtsstunde voran. Arbeaus Methode ist in vielerlei Hinsicht eine didaktische, und wenn sein Schüler an manchen Stellen zu viele Schritte auf einmal nehmen will, wird er vom Lehrer zurückgehalten. Das Verhältnis zwischen beiden ist insofern ein ungleiches, als dass es Capriol immer nur möglich wird, an einem bestimmten Punkt neue Schritte zu lernen, nämlich dann, wenn er die dazu erforderliche Anzahl anderer, ihnen vorangehender, Schritte bereits kennt. Das Lernen von Tanz wird deshalb dem Lernen einer Sprache analog gesetzt, weil in beiden Fällen der Weg von einzelnen Vokabeln über die Grammatik bis hin zu einem gekonnten Umgang damit beschritten werden muss.7 Wie in der Sprache geht es auch beim Tanz am Ende darum, sich richtig artikulieren zu können, indem 5
Dorion Weickmann, Der dressierte Leib – Kulturgeschichte des Balletts (1580–1870), Frankfurt am Main: Campus, 2002, S. 79. Obwohl es bei Arbeau noch um eine Vereinnahmung tänzerischer Tätigkeit durch „sprachliche Signifikanten“ gehe, im Notationssystem von Feuillet hingegen um deren Regulierung anhand „symbolischer Kürzel“, hätten beide gemeinsam, eine Vertextlichung des Körpers anzustreben. – Vgl. ebd., ebd. Zu den disziplinierenden Aspekten traditioneller Auffassungen von Choreographie vgl. auch Rudolph zur Lippe, Vom Leib zum Körper – Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Hamburg: Rowohlt, 1988.
6
Weickmann, Der dressierte Leib, S. 59.
7
Vgl. ebd., S. 151.
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man sich ein Regelgefüge aneignet, während man sich ihm unterordnet, erklärt Arbeau seinem Schüler Capriol. „You are restless, as I can well understand, to begin to perform the five steps but it cannot be helped, you must have patience to listen to how all the movements are executed. Because, you know in the art of grammar the pupil first amasses nouns, verbs and other components of speech and then learns to link them together with congruity. So it is in the art of dancing, you must first learn a variety of separate movements and then by means of the music you will be given, together with the tabular arrangements of movements, you will grasp it all.“8
Capriol studiert Jura in Paris, ist aber vor Jahren bereits von Arbeau in die Wissenschaft der Zahlen und die Kunst des Rechnens eingeweiht worden.9 Nun kehrt er nach Langres zurück, um das Tanzen zu lernen. Obwohl er sich seit seiner letzten Begegnung mit dem alten Priester auf vielen Gebieten weiterentwickelt hat, fehlt es ihm doch an Wissen über diese ihm so wichtige Disziplin: „But, without a knowledge of dancing, I could not please the damsels, upon whom, it seems to me, the entire reputation of an eligible young man depends.“10 Auf dieses Anliegen antwortet Arbeau zunächst, dass er es nachvollziehen könne und unterstütze, weil „naturally the male and female seek one another and nothing does more to stimulate a man to acts of courtesy, honour and generosity than love.“11 Für ihn ist Tanz essentiell wichtig in einer „well ordered society“12, denn vermittels des Tanzes können sich die Körper einander annähern „to ascertain if they are shapely or emit an unpleasant odour as of bad meat.“13 Capriol versteht nun, warum richtiges Tanzen so wichtig ist für die Verfassung des Staates. Im Folgenden wird Arbeau ihm beibringen, dass immer Musik benötigt wird, wenn die Körper in der geordneten Bewegung einander näher kommen und ihm dabei die wichtigsten Elemente seiner Kunst aufzeigen. Zuallererst geht es um „to jump, to hop, to skip, to sway, to stamp, to tiptoe, and to employ the feet, hands and body in certain rhythmic movements“14. Capriol wünscht sich daraufhin, dass Arbeau einen Weg finden möge, die Verkettung dieser Elemente so aufzuschreiben, dass „a pupil, by following your theory and precepts, even in your absence, could teach himself in the seclusion of his own chamber.“15 Weil der Tanz, wie Arbeau 8
Arbeau, Orchesography, S. 84.
9
Vgl. ebd., S. 11.
10 Ebd., S. 11. 11 Ebd., S. 12. 12 Ebd., ebd. 13 Ebd., ebd. 14 Ebd., S. 14. 15 Ebd., S. 15.
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ihn beschreibt, zur Gesundheit der Jungen wie der Alten beiträgt und deren Körper sowohl in der Zeit als auch im Raum für die Gemeinschaft tauglich macht, sollte jeder ihn lernen und als Schema gebrauchen, um in die gemeinsame Zeit und den gemeinsamen Raum einzutreten. Wer die Schritte und Haltungen richtig beherrscht, darf deshalb von sich behaupten, in der gemeinschaftlichen Körperordnung seinen Platz zu haben. Wer sie dagegen nicht ausführen kann, ist noch nicht ganz Mensch geworden. Weiter oben wurden bereits die Metaphern des ‚Eselskopfes‘ und der ‚Hammelschulter‘ erwähnt, die Arbeau verwendet, um den gesellschaftlichen Raum der durch die Choreographie tauglich gemachten Körper von einem anderen, ihm fremden Raum abzugrenzen, in dem das Gesetz nicht herrscht und die Körper noch nicht in der richtigen Form sind. Vor diesem Raum hat Capriol Angst, zu ihm will er nicht gehören, denn ähnlich seines Studiums der Juristerei drückt die Choreographie Körper auf bestimmte Weise aus und bestimmt ihren Inhalt. Sie setzt eine Grenze und den Unterschied zwischen einem Bereich der Ordnung und einer unbestimmten Zone, in welcher die Körper – wie Siegmund gezeigt hat – monströs und unmenschlich zu werden drohen: „Do not tantalize me by delaying any longer to grant my request to learn how the movements of the dance are performed, in order that I may master them and not be reproached for having the heart of a pig and the head of an ass [...]“16, wird der Anwalt den Priester bitten. Capriol möchte die Kunst des Tanzes beherrschen, weil er so zur Gemeinschaft gehören kann und weil das Territorium, welches die menschliche Gemeinschaft von der Zone niederen, tierischen Lebens trennt, ein choreographisch bestimmtes ist. Wer sich in ihm richtig zu bewegen weiß, der taugt etwas, wer nicht, der taugt nichts. Im Verlauf seiner weiteren Argumentation bringt Arbeau den Tanz sogar in die Nähe der Gesundheit, denn beim Tanzen merke man auch, ob jemand die Gicht oder defekte Gliedmaßen habe oder einfach nur unverschämt ungezügelte Bewegungen auf dem Parkett vollführe. Auch in diesem Fall sind die entsprechenden Körper nicht Teil der gut geordneten Gemeinschaft, und von jemandem, der nicht dazu gezählt werden darf, kann gesagt werden „that he danced his wedding away“17. Wer seinen Körper nicht richtig in Bewegung zu versetzen weiß, der bleibt allein zurück. Die individuelle wird ebenso wie die kollektive Gesundheit an dem richtigen Maß zwischen Ordnung und Bewegung festgemacht, an einem Maß, das sich nicht nur im menschlichen Miteinander, sondern überall im Kosmos finden lasse, denn „all things have a natural desire for movement“18. Dabei muss auch zwischen verschiedenen Gesundheiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Umgebungen unterschieden werden. Während bestimmte Tänze für junge Mädchen angemessen 16 Ebd., S. 17. 17 Ebd., S. 18. 18 Ebd., ebd.
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sind, „since they are not free to take walks, or go here, there and everywhere about the town“19, und sich auf kleine, private Räume beschränken, geht es im Falle des Militärmarsches darum, ein gegebenes Territorium auszuweiten und deshalb auch eine ausreichend große Anzahl an Instrumenten und Tanzenden zum tänzerischen Akt hinzuzuzählen. „The sound of these various instruments serves as signal and warning to the soldiers, to break camp, to advance, to retreat, and gives them heart, daring and courage, both to attack the enemy and to defend themselves with manful vigour. Now, without them, the men would march in confusion and disorder, which would place them in peril of being overthrown and defeated by the enemy. This is why our Frenchmen are instructed to make the rankers and bondsmen of the squadrons march to certain rhythms.“20
Die Schläge, nach denen beim Militärmarsch die Zeit strukturiert wird, können doppelte oder dreifache sein und in langsamem, mittlerem oder schnellem Tempo gespielt werden. Immer jedoch gilt, dass sich die Tanzenden nach dem von ihnen gegebenen Zeitmaß zu richten haben und ihre Bewegungen synchron auf die Musik abstimmen müssen, denn „if three men are walking together and each one moves at a different speed they will not be in step, because to be so they must all three march in unison, either quickly, moderately or slowly.“21 Arbeau zeigt daraufhin mögliche Variationen für den Trommelrhythmus anhand des musikalischen Notationssystems auf und kommt später auf die richtige Verhältnismäßigkeit zwischen Trommelschlägen und Pausen zu sprechen. Weil mit dem ersten Schlag immer der linke Fuß abgesetzt werden muss und der rechte mit dem fünften, ist es nicht angebracht, den Klöppel zu schnell auf die Trommel zu wirbeln, weil sonst die Bewegung der Füße nicht nachkommen kann „and a soldier might bring his feet down on notes other than the first and fifth.“22 Capriol will, nachdem er alles Nötige über die militärischen Tänze erfahren hat, endlich wissen, wie er sich richtig auf den gesellschaftlichen Parketten außerhalb des Krieges bewegt, und Arbeau weist ihn zunächst darauf hin, dass in diesem Rahmen schon die Aufforderung zum Tanz choreographisch geregelt ist. „In the first instance, when you have entered the place where the company is assembled for the dance you will choose some comely damsel who takes your fancy, and, removing your hat or bonnet with your left hand, proffer her your right to lead her out to dance. She, being sensible and well brought up, will offer you her left hand and arise to accompany you. Then, 19 Ebd., ebd. 20 Ebd., S. 20. 21 Ebd., ebd. 22 Ebd., S. 34.
104 | V ERMÖGENDE K ÖRPER in the sight of all, you will conduct her to the end of the room and give notice to the musicians to play a basse dance.“23
Was aber wäre, wenn die Jungfrauen es ablehnen würden, mit ihm zu tanzen, fragt Capriol danach und denkt, dann zutiefst verletzt zu sein. Arbeau antwortet ihm jedoch, dass jede Frau, die eine solche Aufforderung ablehnt, dumm sein muss, denn wer sich in der Nähe des Parketts aufhält, der will tanzen und muss deshalb einer entsprechenden Bitte stattgeben. Die Gesellschaftstänze sind also ähnlich geordnet wie die des Militärs, nur dass es hier, sowohl in musikalischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die Bewegungen der tanzenden Körper, sehr viel mehr Variationen der Grundelemente gibt. Zwar unterscheiden sie sich im Einzelnen voneinander, aber, so Arbeau, wenn man die Schritte einer Pavane und die Methode des richtigen Schreitens auf dem Parkett kennt, kann man auch alle anderen schnell lernen.24 Die Melodien der verschiedenen Pavanen unterscheiden sich ebenfalls. Manche werden nur instrumental gespielt, andere auch gesungen, sie alle aber beruhen auf der gleichen Anzahl von Takten. Die Zählung bzw. rhythmische Verrechnung der Takte ist es, die sowohl dem Militär- als auch dem Gesellschaftstanz sein Maß gibt. Insofern hat die Tatsache, dass Capriol, bevor er zu Arbeau nach Langres zurückkehrt, um dort das Tanzen zu lernen, schon in seiner Jugend bei ihm Rechnen gelernt hat, eine doppelte Bewandtnis. Denn wie bei den arithmetischen Verfahrensweisen geht es auch in der Choreographie darum, die Vielfalt möglicher Ausprägungen der Welt anhand eines einheitlichen und idealen Modells auszurichten. Ebenso ist die Orchésographie das Anlegen eines geometrischen Maßes an die Körper und deren Einpassung in ein harmonisch und organisch verfasstes ethos der Gemeinschaft. Deshalb kann Arbeau Capriol antworten, wenn er nach den ungewöhnlichen und unregelmäßigen Schreittänzen fragt: „They contain no movements unlike those in the common basse dance, and differ only in that they are longer or shorter, or else of the same length but with the movements differently arranged, than the common basse dance.“25 Anschließend hält er es nicht für nötig, auf die unregelmäßigen Varianten einzugehen, weil sie sowieso nur selten verwendet würden und wenn, dann oft von Leuten, die, weil sie sie beherrschten, die große Mehrheit auf dem Parkett nur verwirren wollten. Später kommen die beiden auf die Galliard-Tänze, die Capriol unbedingt lernen will, zu sprechen. Auch hier gilt, dass „when the melodies are familiar to a dancer and he sings them in his head as the musician plays them he cannot fail to dance well.“26 Es ist stets ein bestimmtes Maß gegeben im Verhältnis zwischen der Art, 23 Ebd., S. 52. 24 Vgl. ebd., S. 75. 25 Ebd., S. 75. 26 Ebd., S. 94.
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wie die Tanzenden die Musik in ihren Köpfen denken und der Weise, wie sie daraufhin den Rest ihres Körpers, vom Kopf aus, auf die gemeinschaftliche Raumzeit hin richten, bevor die Musik überhaupt gespielt wird. Die richtige Verbindung aus dem Ertönen der Instrumente, bestimmten Vorstellungen im Kopf und der Ausführung der entsprechenden Körperbewegungen ist es, die einen geordneten Gesellschaftskörper konstituiert – von den Kriegstänzen der Soldaten auf dem Schlachtfeld bis hin zur Galliard. Obwohl es auch unzählige Varianten der Galliard-Tänze gibt, werden sie, genau wie alle anderen, indem sie in der musikalischen Tabulatur als Notenwerte festgehalten sind, bestimmbar und einer allgemeinen Regelmäßigkeit zugewiesen. Die Regelmäßigkeit der Notenwerte muss, darum geht es in der Orchésographie, sowohl als ideale Ordnung der Gemeinschaft als auch als Maßnahme am einzelnen Körper angesehen werden. „You will remember what I told you about a dancer’s action only attaining beauty when the movements of his feet are in perfect time with the beats of the music“27, wie Arbeau das adäquate Verhältnis zwischen Takt, Körperhaltung und dem kollektiven Arrangement von Körpern in Raum und Zeit zusammenfasst. Außerdem muss dieses Maß im wahrsten Wortsinn verkörpert werden und in Fleisch und Blut übergehen. Nur wenn die choreographische Ordnung verinnerlicht ist und es keinen Abstand zwischen ihr und den Tanzenden gibt, gehen sie in ihr auf. Die absolute Unterwerfung unter das choreographische Gesetz und den Platz darin muss aussehen wie der vollständige Besitz des eigenen Körpers. Es darf nicht passieren, dass man zwar die einzelnen Schritte und Bewegungen richtig und im Takt ausführt, dabei aber wirkt, als müsse man sich anstrengen. Ebenso wenig sollte man Seiten des Körpers zeigen, die nicht der choreographischen Gemeinschaft zugewandt sind, denn „when you dance in company never look down at your feet to see whether you are performing the steps correctly. Keep your body and head errect and appear selfpossessed. Spit and blow your nose sparingly, or if needs must turn your head away and use a fair white handkerchief.“28 Man muss, wenn man nach Arbeau richtig tanzen will, die Bewegung sein. Darin besteht, wie später vor dem Hintergrund von Jacques Rancières drei Regimen gezeigt werden soll, die Nähe bestimmter, von Arbeaus Schlüsselszene inspirierter Auffassungen von Choreographie zu einem Aufenthalt und zu einer Seinsweise der Gemeinschaft als mit sich identischer und zu einer souverän gedachten Gesellschaftsordnung, die keinen Abstand der Körper untereinander und zum durch das Gesetz abgesteckten Raum und zur regelmäßig geordneten Zeit zulässt. Insofern bereitet Arbeau das Parkett für Jahrhunderte der choreographischen Vereinnahmung tanzender Körper bis hin zur sogenannten Moderne vor. In Bezug auf die politischen Implikationen des später an der Pariser Académie Royale de 27 Ebd., S. 110. 28 Ebd., S. 118.
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Danse von Pierre Beauchamp und Raol-Auger Feuillet entwickelten Notationssystems und des Interesses Ludwigs XIV. daran schreibt Weickmann: „Zielstrebig ging er an die Institutionalisierung neuer Akademien und Forschungsstätten. Sie alle dienten vor allem einem Ziel: die Kontrolle, Kodifizierung, ‚Reglementierung und Vereinheitlichung des Wissens‘ voranzutreiben, welche die Machtproduktion des Staates unterstützte.“29 Die zwei Figuren, die in der Orchésographie von 1589 in einen für bestimmte Auffassungen von Choreographie sehr folgenreichen Dialog treten, um das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit zu verhandeln, sind eigentlich ein und dieselbe Figur: Arbeau (der Priester) und sein Schüler Capriol (der Anwalt) verkörpern beide gleichermaßen ein souverän bestimmtes Territorium; ein Territorium zwar, das in Bewegung ist und gehalten werden soll – insofern ist Lepeckis Ausführungen bedingungslos zuzustimmen –, das aber immer auch ein ‚gesundes‘ Maß einhält und abgegrenzt ist von einer unbestimmten Zone außerhalb, in der die Körper Gefahr laufen, tierische Körper zu werden oder üble Gerüche anzunehmen, wie Siegmunds Untersuchungen wiederum demonstrieren. Obwohl das Motiv der Unregelmäßigkeit und Unzählbarkeit an manchen Stellen im Gespräch auftaucht, wird es doch immer an feststehende Regeln und Maßeinheiten zurückgebunden, die als allgemeingültige die Räume und Zeiten des Tanzes in einem fixen Rahmen halten. Choreographie wird deshalb als souveräne Form verstanden, weil sie vorschreibt, ohne selbst be- oder umgeschrieben werden zu können von den tanzenden Körpern. Sie richtet sich nicht nur auf ein umgrenztes Territorium und an vollends bestimmte Körper und reguliert deren Haltungen, Raumwege, Schrittfolgen und Positionen, sie schließt sogar jede Unbestimmtheit aus. Es darf keine Unbestimmtheiten geben hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Takt, Melodie und Schritt, zwischen den Körpern der einzelnen Tänzer und zwischen dem Raum, in dem getanzt und dem Raum, in dem nicht getanzt und von dem aus dem Tanz zugeschaut wird. Innerhalb der Orchésographie werden all diese Bereiche in einer einzigen Sphäre aufgehoben und zur Seinsweise einer gesunden, ordentlichen und gut getanzten Verfassung der Gemeinschaft der Körper erklärt. Entlang einer hylemorphischen Unterscheidungslinie zwischen aktiven und passiven Anteilen am Ganzen ordnet Arbeau Takt, Melodie, Haltungen und Schrittfolgen als aktive Gestaltungskräfte den jeweiligen Räumen und Körpern als rein passiv verstandenen, zu formenden, Materien zu. Ob im Krieg oder auf dem gesellschaftlichen Parkett: Beschrieben werden die Körper und ihr Verhältnis zueinander, nicht aber bringen sie ihrerseits choreographische Formen hervor. Feuillet wird diese Auffassung des tanzenden Körpers als rein passives, zu imprägnierendes Blatt Papier noch radikalisieren, bevor um 1800 ein tiefer Bruch mit der hylemorphischen Auffassung von Choreographie als aktiver Form, die einer passiven Materie 29 Weickmann, Der dressierte Leib, S. 37.
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gegenübersteht, geschieht. Zunächst aber gibt es nichts, mit dem zu rechnen wäre, das nicht schon im Tabulatorensystem notiert ist oder dort zumindest notiert werden könnte. Nur außerhalb der guten Gesellschaft ereignen sich in diesem Sinne falsche Schritte, die Arbeau aber als Fehlschritte und mögliche Eigensinnigkeit der Körper nicht interessieren: „In the towns nowadays the galliard is danced regardless of rules, and the dancers are satisfied to perform the five steps and a few passages without any orderly arrangement so long as they keep the rhythm, with the result that many of their best passages go unnoticed and are lost.“30 Wichtig für ihn ist allein, sein choreographisches Territorium gegen solche Fehlschritte abzusichern, um die souveräne Herrschaft über den symbolischen Raum zu bewahren. Solange die Dörfer dabei marginale Dörfer bleiben und die Fehlschritte die Orchésographie des hegemonialen Raumes nicht betreten, stellen sie keine Gefahr dar. Jeder Körper, der sich in Arbeaus symbolischem Raum aufhält, darf in diesem Sinne nur ein einziger Körper sein – ohne Abweichung von sich selbst und monströse Fortsätze – und muss die Schritte ausführen, die ihm angemessen sind. Als solcher ist er ein rein passiver Körper ohne die Fähigkeit, seinerseits Formen zu produzieren und mit dem gemeinschaftlichen Raum zu konfrontieren. Er tanzt gut und würdevoll, wenn er sich dem Studium der Choreographie mit derselben Leidenschaft widmet wie dem Studium der Juristerei: Indem er ihre Gesetze empfängt, verinnerlicht und anschließend lückenlos verkörpert. So endet der Dialog zwischen Arbeau und Capriol mit dem Ratschlag des Priesters, Capriol möge es mit der Juristerei genauso halten wie mit dem Tanz: „And when you have danced with your mistress return to the great pool of your studies to be enriched thereby, as I pray God may grant you the grace.“31 Arbeau setzt bis zum Ende der Dialoge einen bestimmten Schüler voraus. Einen gelehrigen Körper, der dieselben Tänze schätzt wie er, der die gleichen Erfahrungen machen wird wie er sie früher gemacht hat und der sich seiner Orchésographie weniger im Sinne einer Auslegung, Interpretation und Übersetzung widmet als vielmehr in Form einer Exegese und eines Gebets vor Gott, der den Kosmos ebenso harmonisch geordnet hat wie die gute Gemeinschaft und die Schritte der Körper unter seinen Sternen. Der Tanz als exegetische Tätigkeit hat sich demzufolge an einem kanonischen Regelwerk an Rhythmen, Körperhaltungen, Schrittfolgen und Raumpositionen auszurichten. Jene Subjektivierungsweise wird um 1800 prekär werden. Harun Maybe macht die dann entstehende Art von Subjektivität an einer völlig anderen Lesehaltung fest. Das Subjekt fällt für ihn um 1800 zunächst aus jedem fixen Kanon heraus: „Seine Lektürehaltung ist durch das einsame, stille Lesen von vielen verschiedenen Büchern und nicht mehr durch das intensive, laute Lesen in einem kanonischen Buch
30 Arbeau, Orchesography, S. 77. 31 Ebd., S. 195.
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bestimmt.“32 Welche Auswirkungen hat dies für die souverän gedachte Choreographie? Bevor versucht wird, diese Frage zu beantworten, sei zunächst beschrieben, inwieweit Feuillet den choreographischen Kanon der Schritte und Positionen auf die Spitze treibt, indem er das von Arbeau begründete ethos tanzender Körper in Richtung der repräsentativen Nachahmung einer feudalen Gesellschaftsordnung steuert, zugleich aber auch an seine Grenzen führt: Womit es auf die unbestimmte Lebendigkeit der Körper trifft, die affektiv zwischen ihnen wirksam ist und mit Jean Georges Noverre souveräne Formen zusammenbrechen lässt.
3.2 F EUILLET : S CHRITTE
MACHEN AUF DEM WEISSEN
B LATT P APIER
„Hier flottieren keine eigenständigen Geschichten mehr in der Geschichte, wie Atome im leeren Raum, um einer ‚Begegnung‘ stattzugeben, die auch nicht statthaben könnte. Alles ist bereits im Voraus vollendet, die Struktur geht ihren Elementen voraus, reproduziert sie und damit zugleich sich selbst.“
33
LOUIS ALTHUSSER/MATERIALISMUS DER BEGEGNUNG
Susan Leigh Foster weist darauf hin, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Systematisierung choreographischer Methoden im 17. Jahrhundert und dem zeitgleichen Erstarken der sogenannten Chorographie gibt. In der Chorographie, welche sich aus der Geographie heraus entwickelt hat, geht es um das Erstellen von Karten einzelner Territorien, auf denen nicht nur landschaftliche Merkmale wie Flüsse, Berge, Seen und Hügelketten festgehalten werden, sondern auch die kulturellen Eigenheiten eines bestimmten Gebiets in dessen kartographische Darstellung mit einfließen sollen, dabei aber immer auf den einheitlichen Körper des Souveräns, welcher den Landschaften sein Gesicht einprägt, bezogen bleiben. Foster schreibt über die Gemeinsamkeit zwischen Choreographie und Chorographie, dass beide die Materie, der sie bestimmte Formen einschreiben, zunächst als ‚value-free‘ ansehen und davon ausgehen, dass sie eine ‚blank slate‘ zum Zwecke der Katalogisierung, Verschriftlichung und Bestimmung durch eine ihr externe Instanz bereitstellen würde.
32 Harun Maye, Volk ohne Oberhaupt. Regierungskünste des Lesens um 1800, in: ders./Balke/Scholz, „Ästhetische Regime um 1800“, S. 104. 33 Althusser, Materialismus der Begegnung, S. 54.
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„Establishing a commanding viewpoint from which to survey a designated territory, they also reinforced claims of ownership of a specific landmass. […] The chorographies thus conveyed a process of sweeping away, eradicating even, all the features of a land and then reinstating them methodically in order of their importance. […] Chorographic maps reinforced this notion of a blankness onto which various features were located by depicting the landscape as if seen at a distance from a very tall hill.“34
Ob Körper oder Landschaften: Chorographie und Choreographie kennen ebenso wenig einen Eigensinn der Körper wie der Räume oder der Materie, die deshalb ihrer Vereinheitlichung auf der geschriebenen Karte und ihrer Subsumption unter souveräne Formen nicht entgehen können. Eigentlich ist Pierre Beauchamp (1631– 1705), der an der von Ludwig XIV. gegründeten Académie Royale de Danse lehrte und forschte und deshalb maßgeblich zur strengen Akademisierung von Choreographie im 17. Jahrhundert beigetragen hat, Erfinder des für die Geschichte des Balletts so einschneidenden Notationsverfahrens, aber Raoul-Auger Feuillet sollte es schließlich in Buchform veröffentlichen, weshalb es auch zu einem kurzen gerichtlichen Streit zwischen beiden kam. In der Tanzwissenschaft spricht man heute einfach von der sogenannten Feuillet-Beauchamp-Notation. Feuillet leitet seine 1700 in Paris erschienene Schrift, die 1706 von John Weaver unter dem Titel Orchesography, or, The Art of Dancing35 ins Englische übersetzt wurde, mit einer Katalogisierung derjenigen Parameter ein, die für ihn Choreographie – sowohl als Notationsverfahren als auch als vorgegebene Form, an der sich Tanz als Tätigkeit zu orientieren hat – und geregelte Bewegungen von Körpern im Raum ausmachen. Er beschreibt diese Formen als feste Elemente, aus denen sich eine jede Komposition zusammensetzt: „Dancing is composed of Positions, Steps, Sinkings, Risings, Springings, Capers, Fallings, Slidings, Turnings of the Body, Cadence or Time, Figures, &c.“36 Im Anschluss an diese Aufzählung folgt eine Reihe weiterer Präzisierungen zu den 11 Elementen des choreographischen Handwerks. (1.) Positionen sind Platzierungen der Füße im Tanz, (2.) Schritte sind Bewegungen der Füße von einem Platz zum anderen, (3.) Senkungen sind Beugungen der Knie, (4.) Erhebungen finden nach den Beugungen statt und erheben den ganzen Körper, (5.) Sprünge sind Erhebungen weg vom Boden, (6.) Kapriolen finden statt, 34 Susan Leigh Foster, Chorography and Choreography, in: Nicole Haitzinger/Karin Fenböck (Hrsg.), „Denkfiguren – Performatives zwischen Bewegen, Schreiben und Erfinden“, München: e_podium, 2010, S. 72 ff. 35 Die Feuillet-Zitate dieses Kapitels entstammen durchgehend John Weavers Übersetzung. Das französische Original trägt den Titel Chorégraphie ou l’art de décrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs. 36 Raol-Auger Feuillet, Orchesography, or, The Art of Dancing, Gloucestershire: Dodo Press, 2007, S.1.
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wenn im Sprung ein Bein an das andere schlägt, (7.) Fälle kommen vor, wenn der Körper sich aus seiner angemessenen Balance herausbewegt und deshalb aufgrund seines eigenen Gewichts fällt, (8.) Gleitungen werden in der Bewegung ausgeführt, wenn ein Fuß dabei über den Boden gleitet, (9.) Drehungen bewegen den Körper auf der Stelle zu der einen oder anderen Seite hin, (10.) Kadenz oder Zeit ist das richtige Verstehen der unterschiedlichen Maßeinheiten und die Beobachtung der bemerkenswertesten Stellen in der Partitur, (11.) Figuren sind Trakte, die durch die Bewegungen des Tänzers in Raum und Zeit gebildet werden. Damit getanzt werden kann, muss zuvor gewährleistet sein, dass der Raum, in dem getanzt wird, mit dem Blatt Papier, auf dem die Choreographie niedergeschrieben ist, übereinstimmt. Der Tanzraum und die in ihm tanzenden Körper werden von Feuillet als Material gedacht, dem kein Eigensinn und keine ihm eigene Dynamik zukommt, wohingegen Choreographie als vermittels bestimmter Elemente komponierte Form die Aufgabe hat, diese Materie sowohl in Bewegung zu setzen als auch im Vorhinein festgelegten Regeln zu unterwerfen. Jean-Noël Laurenti betont, dass der Körper zu diesem Zweck zunächst in voneinander abgegrenzte Qualitätsmerkmale und codierte Zeichen unterteilt werden muss. „This is how the paradox of fixing movement will be resolved. Choreographic movement can only be fixed because analysis has allowed for isolation of that which repeats in the multiplicity of occasions: a lexicon, an alphabet. At the same time, the fixed code can always be different, since each production arising from this language becomes a particular act of speech.“37
Somit wird Choreographie, auf dem Höhepunkt ihrer hylemorphischen Konzeptionalisierung, als aktive Form problem- und widerstandslos einer rein passiv vorgestellten Materie eingeschrieben und Tanzen als Ausführung von kleinen Schritten und großen Trakten im Raum verstanden. Tanz als Tätigkeit ist dann nichts weiter als das Einüben eines Normenkatalogs, dessen Formimperativ Folge zu leisten ist. Der Raum wiederum ist insofern ein geometrisch unterteilter Raum, als dass die Wege, die die Tanzenden in ihm beschreiten, ihn zugleich als geordnetes Ganzes aus Linien, Kreisen, Spiralen und anderen Mustern erscheinen lassen. Diese Geometrie ist ein Maß, an dem Feuillet nicht nur die Haltung, Position und Funktion des einzelnen Körpers in Bezug auf die anderen bestimmt, sondern auch ein Bild, dem die Gesamtheit der Körper entspricht und das wahrgenommen werden kann, wenn man ihnen von außen dabei zuschaut. Vor diesem Hintergrund unterstreicht Claudia Jeschke die Bedeutung des Balletts für die politische Ordnung des französischen Königshofes. Was später mit Noverres Körpern und deren Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden, als ‚Handlung‘ und Pantomime in Erscheinung
37 Laurenti, Feuillet’s Thinking, S. 94.
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tritt, weicht hier noch der Unterordnung tänzerischer Tätigkeit unter ein einziges sujet, nämlich der Verherrlichung der souveränen Macht des Königs. „Das Verständnis von dramatischer Handlung im Hofballett spiegelt also das vorgefertigte Bild eines Idealzustands wider; die Aktionen sind undynamisch, sie wiederholen, d.h. in diesem Fall: beschwören des Königs Vorstellung von Welt. Einzelaspekte dieser Gesamtheit wie z.B. die Erfahrung von Natur sind dieser Sicht verpflichtet. Die Hofballette haben zunächst eine primär rituelle Funktion, die sich durch den realen, konkreten irdischen Machtzuwachs des Königs, der die Beschwörung einer zukünfigen Potenz immer weniger benötigt, zum Zeremoniell veräußerlicht.“38
Schrift und Tanz verhalten sich deshalb, wie Lepecki es in Bezug auf Arbeau formuliert, weiterhin symmetrisch zueinander. Zum einen, weil Tanz als Tätigkeit nur im Rahmen einer Performanz der zuvor auf Papier niedergeschriebenen Ordnung zu denken ist, zum anderen, weil die Materie – des gemeinschaftlichen Raumes zwischen den Körpern ebenso wie der einzelnen Körper – nur als dasjenige thematisiert wird, was sich im Rahmen der Choreographie und ihrer fixen Elemente zu erkennen gibt und als bereits konstituierter Inhalt ausdrücken lässt. Hierauf weist Weickmann hin. „Feuillet konzipiert eine Tanzschrift, welche die einzelnen Schritte chronologisch über das im Raum zurückzulegende Bodenmuster projiziert. Die Fortbewegung wird auf diese Weise in einen Text verwandelt, der sich jedem Sprachkundigen erschließen soll. Die normative Festlegung der Körpersprache erreicht mit der ‚Chorégraphie‘ ein völlig neues Niveau: Einerseits wird der Leib zur abstrakten Textur, zum quasi architektonischen Gebilde, das allein bewegungsökonomische Gesetze zusammenhalten; andererseits erleichtert die ‚Chorégraphie‘ eine Vereinheitlichung der Körpersprache über Regional- und Ländergrenzen hinweg, eine Möglichkeit, die Arbeaus orchésographische Formeln allenfalls vorbereitet haben.“39
Zwischen der aktiven Form der Choreographie und der passiven Materialität der Körper gibt es bei Feuillet nichts zu entdecken – die Lebendigkeit der Körper wird gegenüber der Idee eines bestimmten Lebens zurückgestellt; nichts also nicht in dem Sinne, das etwas fehlt, sondern insofern, als dass es keinen Abstand zwischen den papierenen Einschreibungen und der physis des Tanzraums samt der Körper, die in ihm tanzen, gibt. Die Praxis der Körper ist ein Derivat der graphischen Zei38 Claudia Jeschke, Vom Ballet de Cour zum Ballet d’Action – Über den Wandel des Tanzverständnisses im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert, in: Volker Kapp (Hrsg.), „Le Bourgeouis gentihomme“, Paris/Seattle/Tübingen: Biblio 17/Vol. 13, 1991, S. 189. Zum späteren Wechsel um 1800 vom ‚Sujet‘ zur ‚Handlung‘ vgl. ebd., S. 223. 39 Weickmann, Der dressierte Leib, S. 152.
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chen, aus denen die Choreographie als Notationsverfahren besteht, und sie sind tänzerisch tätig, ohne ihre Lebendigkeit oder ihren Eigensinn ins Spiel bringen zu können. Der Choreograph als Kompositeur ist derjenige, der graphische Anordnungen von Zeichen auf dem Papier einträgt. Der Rest ist Sache des Ballettmeisters und seines Arrangements der Körper im Raum. Die Art und Weise, wie nach Feuillet die Schrift der Notation zur wortwörtlichen Körperschrift wird, welche die Körper graphisch bestimmt, lässt sich sehr gut anhand seiner geometrischen Auffassung des Raumes beschreiben. „The Stage or Dancing-Room, I shall represent by an Oblong, as in the Figure A B C D, of which the upper end is A B, the lower end C D; the right side B D, and the left side A C.“40 Abbildung 5: Feuillets Tanzraum.
Feuillet. Orchesographie.
Dieses Rechteck grenzt zunächst den Tanzraum zu allen vier Seiten von demjenigen Raum ab, in dem nicht getanzt wird. Es setzt ein Territorium, in dem Choreographie als Gesetz der Schritte und Positionen im Raum wirksam werden kann und richtet dieses Territorium auf eine Richtung hin aus, von der her dem Tanz zugeschaut wird. Nachdem Feuillet den einzelnen choreographischen Elementen graphische Repräsentanten zugeordnet hat, kommt er an späterer Stelle auf das genaue Verhältnis der Seiten des Papiers, auf denen sie eingezeichnet sind, zum Tanzraum zu sprechen. Dabei zeigt sich, dass die graphische Darstellung der Elemente eine Übersetzung verschiedener körperlicher Haltungen und Relationen der Teile des Körpers untereinander ist, das Papier als Ganzes jedoch den Raum nicht in eine andere Form übersetzt, sondern umgekehrt als dessen Modell gedacht wird. Jede Seite der notierten Choreographie ist eine rechteckige, deckungsgleiche Karte, die in einer Relation adäquater Entsprechung zum Raum steht und nicht nur, wie die graphischen Übersetzungen der Körperhaltungen, in einer durch arbiträre und dem Eigensinn der Körper gegenüber indifferente Zeichen vermittelten Relation.
40 Feuillet, Orchesography, S. 2.
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„You must understand, that each page, on which the Dance is descibed, represents the Dancing-Room; and the four sides of the Page, the four sides of the Room, viz. the upper part of the Page, represents the upper end of the Room; the lower part, the lower end; the right side of the Page the right side of the Room; and the left side, the left, as you may see by the following Figure, of which A B C D represent the Room, and E F G H, the Page. E F shew the upper part of the Page, as C D do the lower end; F H the right side of the Page, as E F do the upper end of the Room G H the lower part, as B D the right side of the Room; and E G the left side of the Page, as A C the left side of the Room.“41
Im Folgenden wird Feuillet darauf hinweisen, dass man, wenn man die niedergeschrieben Tänze korrekt ausführen will, das Notationspapier stets in derselben Ausrichtung in Bezug auf den Tanzraum halten muss, so dass – „whether the Dance have any Turning in it or not“42 – die Koordinaten seiner Geometrie nicht durcheinander geraten. Die tanzenden Körper müssen sich permanent in Bezug setzen zum Raum, welcher im Notationsbuch als geometrisches Gesetz niedergeschrieben steht. Auch wenn sie sich durch Drehungen in ihrer physis in ein anderes Verhältnis zu ihm begeben, sollen sie stets die gleichen Koordinaten und die richtige Ausrichtung im Auge behalten, denn „it will be difficult to turn, unless the Book turns also; yet this must be absolutely avoided; for if the Book moves out of its Scituation, it will be impossible to comprehend the Steps therein describ’d; wherefore, for the better observation of this, I shall give you the following Rules.“43 Feuillet wird nun beschreiben was zu tun ist, wenn sich eine Seite des Papiers durch eine Drehung des tanzenden Körpers im Raum im Verhältnis zu ihm verschieben würde. Wenn man bsp. eine Vierteldrehung nach rechts vollführen will, muss man zuerst die linke Hand an das obere Ende des Tanzbuches und dann die rechte Hand an das untere anlegen, um danach, während man sich dreht, die linke Hand an sich zu ziehen, während man die rechte von sich wegführt. Derart gewährleistet der Tanzende, dass die graphische Niederlegung seiner Bewegungen, während er sich bewegt, nicht ihre Proportion zum Raum ändert, in dem die Bewegung stattfindet. Am Ende einer Vierteldrehung nach rechts wird man deswegen von der linken Seite aus auf die entsprechende Seite im Buch gucken. Eine halbe Drehung wird ähnlich vollzogen, nur dass am Ende nicht beide Hände wieder gleich weit vom Torso entfernt sind, sondern ihm nun die linke näher als die rechte ist und man deshalb das Buch verkehrt herum hält. Noch komplizierter wird es, wenn die Choreographie dem Tanzenden, der sie einstudiert, eine Dreivierteldrehung auf dem Parkett vorschreibt. Dann ist er gezwungen, seine Arme zuvor zu verschränken. Die linke Hand hält dann die obere rechte Seite des Buches und die rechte Hand die un41 Ebd., S. 43. 42 Ebd., S. 44. 43 Ebd., ebd.
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tere linke Seite, wobei sich die Überkreuzung der Arme auflöst, wenn die Drehung richtig vonstatten geht. Ebenfalls ist im Falle der Drehungen während der Einstudierung einer Choreographie festgelegt, in welcher Reihenfolge die Hände an die Seiten des Buches gelegt werden sollen: „[...] and it may serve for a general Rule, that in turning to the Right, you first remove your left Hand; and in turning to the Left, you remove your Right.“ 44 Abbildung 6: Feuillets Tanzbuch im Tanzraum.
Feuillet. Orchesographie.
Bestimmt ist in Feuillets choreographischer Methode zusätzlich das Verhältnis zwischen einzelnen Schritten und Positionen. Er weist den Tanzenden an, seine Aufmerksamkeit immer dem nächstfolgenden Schritt zu widmen und sich dabei der jeweils aktuellen Position bewusst zu sein. Es geht, was den Fokus während des Tanzens betrifft, allein um die momentane Haltung, in der man sich befindet und den Wechsel in eine andere, die sich an diese anschließt: „[C]ontinue moving, observing exactly to perform that Step which is nearest to the place where you are, and to follow always the same Rule as well in moving forwards, backwards, and sideways, as in moving round.“45 Somit geht die Ausführung der Bewegung im Raum ähnlich vonstatten wie sie als graphische Notation vom Papier abgelesen wird, nämlich Schritt für Schritt und von einer Position zur nächsten. Vor dem Hintergrund des als rechteckig bestimmten Ganzen des Tanzraums zeichnet sich Laurenti zufolge jede einzelne Bewegung in ihrer abgegrenzten Nachbarschaft sowohl zu den räumlich neben ihr stattfindenden Bewegungen als auch zu den zeitlich hinter oder vor ihr liegenden Bewegungen als festgestellte Relation der Teile dieser Choreographie zueinander ab: „The copy’s finish no doubt tells us a great deal about the person who made it or had it made, but this type of information does not affect the code, 44 Ebd., S. 45. 45 Ebd., ebd.
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which leaves no room for the spontaneity of the choreo-author or the copyist: everything must be elaborated, mediated.“46 Wie sehen die einzelnen Haltungen, Positionen und Schritte im Raum genau aus? Feuillet hat zuvor detailliert beschrieben, wie er sich die Elemente der Tänze vorstellt. Zunächst gibt es verschiedene Raumlinien, die Trakte, in die der Tanz eingeschrieben werden soll.47 Jede dieser Linien „serves for two Ends, the first to direct the Steps and Positions, and the other to represent the Figure of the Dance.“48 Es gibt vier verschiedene Trakte: Entweder der Raum wird vertikal, horizontal, kreisförmig oder diagonal abgemessen, wobei es sein kann, dass die tanzenden Körper in einem Moment auf mehrere Trakte verteilt werden oder unterschiedliche Trakte einzeln aufeinander folgen in einer einzigen Choreographie. Immer gilt, dass sie die wortwörtliche Grundlage für die Haltungen und Positionen bilden, welche auf ihnen eingenommen werden können. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Feuillet den Körper von seinen Füßen und deren Platzierung auf dem Boden des Tanzraums aus denkt.49 Vermittels der Haltung seiner Füße positioniert sich ein Körper im Tanzraum, und es gibt zehn verschiedene Arten, wie man auf den Trakten zum Stehen kommen kann, während man ihnen folgt. Zunächst unterscheidet Feuillet zwischen zwei generellen Positionen, die er „true“ und „false“ nennt.50 ‚Richtige‘ Positionen sind die, bei denen die Füße gleichermaßen und mit gleichmäßig nach außen gerichteten Fußspitzen auf dem Boden abgesetzt werden, ‚falsche‘ diejenigen, bei denen entweder beide oder eine der Fußspitzen nach innen gerichtet sind. Die fünf ‚richtigen‘ Positionen werden sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als die fünf Grundpositionen auch noch im romantischen Handlungsballett erhalten, und ihre Einübung ist bis heute zentraler Bestandteil eines jeden ‚klassisch‘ genannten Ballettunterrichts. Unter diese allgemeinen Kategorien subsumiert Feuillet alle zehn möglichen Fußhaltungen. In der ersten berühren sich die Fersen beider Füße, während ihre Spitzen um 45 Grad nach außen geneigt sind, in der zweiten wird ein Abstand zwischen den Fersen eingehalten, während die Spitzen im selben Winkel weggeneigt sind, in der dritten berührt die Spitze eines Fußes die Ferse des anderen (während 46 Laurenti, Feuillet’s Thinking, S. 96. 47 ‚Einschreiben‘ ist hier nicht als Metapher zu verstehen, denn die Trakte durchziehen das Ganze der Choreographie und halten ihre Elemente in Bezug auf dieses Ganze zusammen. Entlang der Tanzlinien wird es nach Feuillet deshalb überhaupt erst möglich, Bewegungen im Raum auszuführen, und auf ihnen unterwerfen sich tanzende Körper der choreographischen Schrift. 48 Feuillet, Orchesography, S. 3. 49 Vgl. hierzu auch Claudia Jeschke, Tanzschriften – Ihre Geschichte und Methode, Bad Reichenhall: Comes, 1983. 50 Vgl. Feuillet, Orchesography, S. 6.
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sie voreinander platziert sind), in der vierten sind sie ebenso, aber mit einer kleinen Distanz dazwischen, zueinander gestellt, und in der fünften der ‚richtigen‘ Positionen sind die Füße gekreuzt, so dass die Ferse des einen im direkten Gegensatz zur Spitze des anderen steht. Im Falle der fünf ‚falschen‘ Positionen werden die fünf ‚richtigen‘ gewissermaßen invertiert: In der ersten berühren sich die Fußspitzen, während die Versen jeweils um 45 Grad nach außen geneigt sind, in der zweiten werden sie in derselben Relation gehalten, wobei „there being the distance of a Foot’s Length between the Toes“51, in der dritten stehen beide Füße parallel, während einer nach außen und der andere nach innen deutet, in der vierten sind beide Füße hintereinander platziert und zeigen nach innen, so dass die Spitze des einen auf die Verse des anderen gerichtet ist, und in der fünften überkreuzen sich die Füße wieder. In diesem Falle zeigen sie jedoch, im Gegensatz zur fünften ‚richtigen‘ Position, nach innen. Entlang dieser zehn Positionen bestimmt Feuillet die Schritte, die er zwar für „almost innumerable“52 hält, zugleich aber auf fünf – „which serve to express the different Figures the Leg makes in moving“53 – und ihre jeweilige Inversion reduziert. Er unterscheidet (1.) den geraden, flachen, (2.) den offenen, (3.) den kreisförmigen oder runden, (4.) den wellenden und (5.) den stampfenden Schritt. Der gerade Schritt findet auf einer Linie vorwärts oder rückwärts statt, mit dem offenen öffnen sich die Beine (entweder eines nach innen und das andere nach außen, beide nach außen oder beide seitwärts), beim runden vollzieht ein Fuß mit seiner Bewegung eine kreisförmige Figur (entweder nach außen oder nach innen gerichtet), beim wellenden richtet sich die Fußspitze, während der Fuß in der Luft ist, nacheinander zur einen und anderen Seite, und im Falle des stampfenden Schritts schlägt ein Fuß gegen den anderen, bevor er wieder auf dem Boden abgestellt wird. Die Positionen und Schritte der Füße determinieren bis zu einem gewissen Grad die gesamte restliche Haltung des Körpers. Überhaupt spricht Feuillet vom Körper im Sinne der physis als Gesamtheit nicht vollständig definierter Teile gar nicht, sondern nur von Markierungen, durch welche die Trakte, Schritte und Positionen vermittels spezifischer Körperhaltungen unterstrichen werden können: „To a Step may be added these following Marks, viz. Sinking, Rising, Springing or Bounds, Capers, Falling, Sliding, holding the Foot up, Pointing the Toes, placing the Heel, turning a quarter Turn, a half Turn, a three quarter Turn, and a whole Turn.“54 Alle Markierungen der Körperhaltungen im Raum richten sich nach drei verschiedenen Zeitmaßen: Entweder nach der gewöhnlichen Zeit, die wie bei Arbeau durch einzelne, gleichmäßige Pulse strukturiert wird, nach der Zeit des Dreiviertel- oder der 51 Ebd., S. 9. 52 Ebd., S. 11. 53 Ebd., ebd. 54 Ebd. S. 14.
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des Viervierteltakts.55 Zwischen Raumrichtungen, Schritten und zeitlich aufeinanderfolgenden Figuren muss ein harmonisch und hierarchisch gegliedertes Verhältnis gegenseitiger Regulierung bestehen. „I shall now add, that when in Dancing, several Steps are to be perform’d in the same place, the Tract is then only to be respected as the conductor of the Step, and not in relation to the Figure; but where the Steps move continually from one place to another, then the Tract is to be observ’d, not only for the Description of the Steps, but also for the Figure of the Dance.“56
Alle Elemente verweisen demnach auf ein einziges raumzeitliches Kontinuum, in dem sich die Linien, Schritte und Figuren zwar kreuzen, nie aber gegenseitig stören oder aus dem Gleichgewicht bringen dürfen. Die Choreographie hat zu gewährleisten, dass alles, was im Tanzraum passiert, dessen im Vorhinein notiertem geometrischen Modell gehorcht. Die Bewegungen sind gezählt, bevor sie stattfinden, ebenso die Zeit, in der sie sich ereignen: „On the Top of each Page, on which your Dance is describ’d, you must brick down as many Bars of the Tune, as there are Bars or Measures in the Dance.“57 Deshalb kann Weickmann zu dem Schluss kommen, dass sich die Körper bei Feuillet in „Bausteine eines Textes, der den Monarchen verherrlichte – in staatstragende Metaphern“58 verwandeln und dabei jeder ihnen eigenen Lebendigkeit beraubt werden. Sowohl für Arbeau als auch für Feuillet ist Choreographie eine Methode, die als fester Katalog möglicher Elemente innerhalb des Tanzes von Tanzmeistern auf ihre Schüler übertragen wird. Jemand, der die Regeln der Choreographie bereits kennt, bringt sie jemandem bei, der sie nicht kennt und deshalb Schritt für Schritt lernen muss. Ein Meister des Tanzes kann nur werden, wer sich nach langen Jahren der Arbeit durch die Form der Notation gearbeitet hat und sie am Ende angemessen verkörpert. Eine kreative Schöpfung nicht bereits konstituierter Formen anhand affektiver Zusammenhänge von Körpern, die Noverre später fordern wird, gibt es nicht. Insofern korrespondiert, wie Sibylle Dahms bemerkt, Feuillets geometrisch motivierte Auffassung von Choreographie vollkommen mit der barocken Affektenlehre eines Claude-François Ménestrier. „Das strenge Regelwerk der auf einem streng rationalistisch geprägten Bezugssystem basierenden barocken Affektenlehre und der damit zusammenhängenden Rhetorik hatte für das geometrisch genau bestimmte und reglementierte Hofballett Relevanz besessen. […] Menest-
55 Vgl. ebd., S. 100. 56 Ebd., S. 108. 57 Ebd., S. 113. 58 Weickmann, Der dressierte Leib, S. 34.
118 | V ERMÖGENDE K ÖRPER riers Nachahmung der Natur bedeutet also etwas völlig anderes als die von Noverre rund 80 Jahre später erhobene Forderung der Naturnachahmung.“59
Nachgeahmt und repräsentiert wird bei Feuillet ebenso wie bei Ménestrier ein fixes Modell der Natur und des Körpers, basierend auf einer Poetik der Tanzkunst, die ihn auf bestimmte Weise ausdrückt und zugleich eine Poetik der guten Gemeinschaft ist, welche mit Arbeau ihren Lauf nimmt und sich im Falle von Feuillet in die Perfektionierung eines Vorbildes verwandelt, das die maîtres de ballet der westlichen Welt bis heute an die Körper ihrer Schüler anlegen können, um sie in lesbare Körper zu verwandeln, in signifikante Körper, denen sie die choreographische Form, die zugleich eine gemeinschaftliche Form ist, einschreiben. Genau wie das rechteckige Notationspapier, das mit dem rechteckigen Raum, in dem getanzt wird, deckungsgleich zu sein hat, und ebenso wie die souverän regierte Gesellschaft bis zur französischen Revolution, ist auch die souveräne Machtausübung des maître de ballet auf seine Schüler konzipiert: Er unterwirft ihre Körper restlos dem geometrisch verfassten, abgegrenzten Territorium der Tanzschrift. Choreographie steht als Formzusammenhang fest, bevor der Tanz lebendiger Körper einsetzt, deren Tätigkeit deshalb keine Formgebung sein kann. Feuillet perfektioniert, was sich mit Arbeau als Choreographie angedeutet hat: Die Verwandlung des Körpers in Text, seine Unterordnung unter die Schrift und seine Übereinstimmung mit den graphischen Symbolen auf dem Notationspapier. Choreographie bleibt mit ihm ein hylemorphisches Verfahren, das als aktive Bestimmung einer nur passiv aufnehmenden Materie angesehen wird. Die lebendige Tätigkeit tanzender Körper wiederum bleibt auf ein möglichst perfektes Einüben bereits feststehender Formen reduziert. Gleichzeitig verwandelt sich die Materie vermittels geometrischer Verfahren in einen vermessenen Raum, in dessen Maßen sowohl die Richtungen als auch die Körper vollständig aufgehen sollen. John Weaver, der Tanzmeister aus London, dessen englische Übersetzung von Feuillets Poetik 1706 erschien, hat dies bereits in seinem Vorwort und in Bezug auf Arbeau, dem er zunächst dankt, die Methode der Choreographie erfunden zu haben, festgestellt. Aber Feuillet und der eigentliche Erfinder der in seinem Buch festgehaltenen choreographischen Verfahrensweisen, Pierre Beauchamp, wollen in Weavers Augen weiter gehen als Arbeau. Arbeau hat nur den Anfang gemacht. „[...] yet it is nothing but an imperfect rough Draugt, nor if it confin’d to Dancing, since it treats besides of beating the Drum, playing on the Pipe, and the like. But not withstanding this blind hint of Arbeau, to do Justice to Mons. Beauchamp, we must attribute to him the in-
59 Dahms, Der konservative Revolutionär, S. 59 f.
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vention of this Art, who in all Probability, could no more see the former Book, than Mons. Feuillet.“60
Weaver zufolge gründen Beauchamp und Feuillet, nachdem Arbeau Gesellschaftstänze normativ festgehalten hatte, den Tanz als Kunstform, deren Aufgabe in der repräsentativen Nachahmung einer feststehenden Natur und eines bestimmten ethos der Körper bestehe. Der antike Tanz, den Weaver sich zum Vorbild nimmt, hat in seiner Vorstellung mehr als „Motion, Measure, and Figur“, denn er „express’d the Passions and Actions of Mankind, was a sort of silent Poetry, and the Painting, tho’ without Colours, so expressive, as to touch and charm every Beholder.“61 Welche Menschen jedoch sind mit dieser Menschheit gemeint? Was genau soll ausgedrückt werden? Wer wird ein- und wer ausgeschlossen? Bei Beauchamp und Feuillet kommen ebenso wie bei Arbeau keine vermögenden Körper ins Spiel. Die Funktionalisierung des Körpers entspricht bei ihnen dessen Ausdrucksfähigkeit, weil er für sie keine unbestimmte Ausdrucksmaterie ist, sondern nur das ausdrücken kann, was in der Poetik des Tanzes bereits codiert und niedergeschrieben ist. Hierauf folgt mit Noverre die Öffnung fixer Formen qua unbestimmtem Affekt. Noverre befindet sich, was zu zeigen sein wird, an einem wichtigen Wendepunkt: Indem er in seinen Briefen über die Tanzkunst ein grenzenloses Ausdrucksvermögen der Materie und der Körper selbst proklamiert, wird ein bis dahin fixes Verhältnis zwischen Choreographie als ‚aktiver‘ Form und der unter sie subsumierten Tätigkeit ‚passiver‘ Körper außer Kraft gesetzt. Zugleich wird die Unterscheidung zwischen Aktivem (auf Seiten der Choreographie) und Passivem (auf Seiten des Tanzes) überhaupt prekär. Deshalb soll nun anhand von Jacques Rancières drei Regimen – des ethischen, des poetischen/repräsentativen und des ästhetischen – ein anderes Verständnis von Choreographie vorbereitet werden, das bis heute und in ganz unterschiedlichen Ausprägungen zwischen ästhetischen und biopolitischen Tendenzen oszilliert.
60 Vgl. Feuillet, Orchesography, PREFACE von John Weaver (Übersetzer des Traktats ins Englische). 61 Ebd., ebd.
4. Drei Regime bei Jacques Rancière
Rancière unterscheidet in seinem Nachdenken zum Verhältnis von Politik und Ästhetik zwischen dem ethischen Regime der Bilder, dem poetischen/repräsentativen Regime der Künste im Plural und dem ästhetischen Regime der Kunst im Singular. Diese drei Regime sind zwar von historischen Konstellationen inspiriert, sollen aber nicht im Sinne einer chronologischen Reihenfolge von Epochen gedacht werden, sondern können sich unter Umständen sogar in einem einzigen Werk überlagern. Das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehende ästhetische Regime löst zwar das poetische/repräsentative Regime der Künste ebenso wie das ethische Regime ab, darf aber nicht als deren Nachfolger gedacht werden, sondern enthält weiterhin Aspekte der anderen beiden. Das ästhetische Regime ist ein ambivalentes Regime, denn einerseits besteht seine zentrale Tendenz darin, ein bestimmtes Leben und die Repräsentation bestimmter Formen aufzulösen, gleichzeitig aber fällt es immer wieder auf Merkmale der anderen beiden zurück oder faltet sie gleichsam in sich ein, indem es die ihnen inhärenten Hierarchien egalisiert. Jan Völker kommt aufgrund der Gemeinsamkeiten zwischen den drei Rancièrschen Regimen in seiner Ästhetik der Lebendigkeit zu dem Schluss: „Das ethische Regime liegt richtig in der Orientierung an der Gemeinschaft, aber dies kann nur die in sich unbestimmte Gemeinschaft der Beliebigen sein. Das repräsentative Regime lag richtig, die Bedeutung der Repräsentation zu unterstreichen, aber dies kann nur die Repräsentation jedes Beliebigen sein, die Repräsentation nicht des Gegebenen sondern des Nicht-Gegebenen.“1
Auch sind die drei Regime nicht im strengen Sinne als episteme – wie die historischen Formen a priori der Denksysteme Michel Foucaults – konzipiert, bei dem eines das andere ablöst und damit zugleich einen historischen Einschnitt markiert, mit
1
Völker, Ästhetik der Lebendigkeit, S. 257.
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dem es nicht möglich ist, bestimmte Verhältnisse zwischen Sichtbarem und Sagbarem zu denken.2 Sie sind keine Diskursformationen oder unterschiedlichen symbolischen Ordnungen, wohl aber implizieren sie unterschiedliche Konzeptualisierungen der Ordnungen von Körpern. Diese Körperanordnungen nennt Rancière Aufteilungen des Sinnlichen. Der Begriff des Sinnlichen mag zunächst verwirrend erscheinen, weil er ihn in vielen seiner Texte verwendet, er jedoch nur selten ausreichend definiert wird. Das Sinnliche ist den Formen der Aufteilung nicht einfach als das Sinnliche entgegengesetzt, sondern besteht bereits aus aufgeteiltem Sinn. Es ist nicht das Sensorische als dasjenige, was sich, nach Kant, im Schema der Anschauung zeigt. Es ist bereits Ergebnis der produktiven Einbildungskraft und hängt mit
2
In zahlreichen Interviews präzisiert Rancière diesen in seinen Entwürfen aus der Aufteilung des Sinnlichen nur angedeuteten Punkt, sehr explizit im Gespräch mit Sudeep Dasgupta anlässlich des Erscheinens der Übersetzung von Le partage du sensible ins Niederländische: „It’s not that I want to replace concepts with better concepts. What is bad about those categories for me is that they rely on an idea of historical necessity. In the case of the three regimes I try to define three forms of function. But this does not mean: three historical ages. The aesthetic regime is the regime in which all forms can coexist. At the same time, the aesthetic regime is defined by a specific form of aesthetic experience. But basically, this regime is of coexistence.“ – Sudeep Dasgupta, Art is going elsewhere. And politics has to catch it. An interview with Jacques Rancière, Krisis – Journal for contemporary philosophy, 2008, Issue 1, S. 73. Ähnlich äußert er sich in einem Interview mit Gabriel Rockhill, dem Herausgeber und Übersetzer von Le partage du sensible ins Englische: „I always try to think in terms of horizontal distributions, combinations between systems of possibilities, not in terms of surface and substratum. Where one searches for the hidden beneath the apparent, a position of mastery is established. […] I would say that my approach is a bit similar to Foucault’s. It retains the principle from the Kantian transcendental that replaces the dogmatism of truth with the search for conditions of possibility. At the same time, these conditions are not conditions for thought in general, but rather conditions immanent in a particular system of thought, a particular system of expression. I differ from Foucault insofar as his archeology seems to me to follow a schema of historical necessity according to which, beyond a certain chasm, something is no longer thinkable, can no longer be formulated. The visibility of a form of expression as an artistic form depends on a historically constituted regime of perception and intelligibility. This does not mean that it becomes invisible with the emergence of a new regime.“ – Jacques Rancière/Gabriel Rockhill, The Janus-Face of Politicized Art: Jacques Rancière in Interview with Gabriel Rockhill, in: Jacques Rancière, „The Politics of Aesthetics“, New York: Continuum Press, 2004, S. 49 f.
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der Synthese der Verstandesbegriffe zusammen.3 An einer Stelle beschreibt Rancière diesen Komplex bezüglich der Malerei. „Man muss das Sinnliche vom Sensorischen unterscheiden. Das Sensorische definiert – oder könnte definieren – eine reine Information oder einen reinen, von einem Sinn produzierten Stimulus. Das Sinnliche ist ein aufgeteilter Sinn (sens): Sinn in Verbindung mit Bedeutung (sens), Sichtbares als Sagbares artikuliert, was interpretiert, evaluiert wird usw. Die Aufteilungen des Sinnlichen modifizieren nicht unsere Wahrnehmungen der Farben als sensorische Informationen. Aber die Farbe ist genau immer mehr als die Farben. Die Farbe schreibt sich in eine Verteilung des Sinnlichen ein, in der sie in Beziehung zu etwas anderem als sich selbst gesetzt wird: zu dem Strich oder der Zeichnung.“4
Allerdings lässt sich eine Aufteilung des Sinnlichen weit über den Kontext der Sprache und den Sinn der Wörter hinaus – gerade bezogen auf das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz – als eine bestimmte Synthetisierung und Verrechnung des Sensorischen begreifen, als das Anlegen eines Maßes an die qualitativen Transformationen von Körpern im Raum. Somit erfordert eine Aufteilung immer auch die Erscheinung der Körper als bestimmte Körper und verbindet sie mit einem ethos und einem logos der Gemeinschaft, die dieses Sinnliche ebenso primär konstituiert wie sekundär bewohnt. Unter ethos sind sowohl der Aufenthalt und die Seinsweise als auch „die Lebensweise, die diesem Aufenthalt entspricht“5 zu verstehen, am logos partizipiert, was innerhalb des ethos als artikulierte Sprache anerkannt wird. Das ethos bestimmt deshalb als Aufenthalt der Körper die Verteilung des logos zwischen ihnen und legt die Verhältnismäßigkeit intelligibler Formen zur sinnlichen Materie innerhalb der Aufteilung des Sinnlichen fest. Durch das ethos werden Teile und Anteile ebenso einander zugewiesen wie anteillose Teile innerhalb einer Festlegung des Sensorischen markiert: „Die Gesellschaft besteht dabei 3
Gilles Deleuze macht in einem Seminar über Kants Idee des Schemas und die Synthese der Anschauung am 4. April 1978 in Vincennes deren produktiven Aspekt stark, indem er sich auf das Reich der Tiere und deren Schemata bezieht: „But really the spatio-temporal dynamism of an animal, that is really – I can’t say its rule of production – but it’s something productive, it’s the way in which it produces a spatio-temporal domain in experience in conformity with its own concept. The lion is Kantian, all the animals are Kantian. What is the schema of the spider? It’s the web, and its web is the way it occupies space and time. […] I would say that the schema of an animal is its spatio-temporal dynamism.“ – http://www.webdeleuze.com/php/texte.php?cle=65&groupe=Kant&langue=2. – Zugriff am 13.1.2011. In Kapitel 5.2. dieser Arbeit werden Kants Begriffe Einbildungskraft und Verstand geklärt.
4
Rancière, Ist Kunst widerständig?, S. 43.
5
Ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 128.
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aus Gruppen, die Weisen spezifischen Tuns verschrieben sind, aus Plätzen, wo diese Tätigkeiten ausgeübt werden, aus Seinsweisen, die diesen Tätigkeiten und diesen Plätzen entsprechen.“6 Im ethischen Regime der Bilder wird einerseits alles, was nicht bereits seinen Ort als Prätendent zugewiesen bekommen hat und deshalb als Lärm verstanden wird, kategorisch ausgeschlossen. Andererseits werden die Körper ohne Abstand dazu mit ihren Positionen und Funktionen im Raum und in der Zeit identifiziert. In ihm gibt es nur ein durch die Einschreibung einer aktiver Form in eine passive Materie vollends bestimmtes Kontinuum, das sich in einem Handeln ausdrückt, welches die Choreographie eines aus rechtmäßigen Prätendenten bestehenden Lebens offenbart.7 Die choreographische Ordnung legt fest, wer die Kompetenz für welche Tätigkeiten hat und wo und wie diese Tätigkeiten angemessen ausgeführt werden. Jeder ist, je nach Fähigkeit, zu einer Aufgabe innerhalb der ethisch verfassten Gemeinschaft bestimmt. Sie ist deshalb eine bestimmte Zählung und Verrechnung ihrer Teile und Anteile, welche die Aufteilung des Sinnlichen bilden. Dies macht Rancière in Das Unvernehmen, seinem Hauptwerk zum Verhältnis zwischen Politik und Philosophie, am Beispiel der Behandlung der Plebejer durch die Patrizier auf dem Berg Aventin bei Rom während der Sezession deutlich. „Es gibt Politik, weil der Logos niemals einfach die Rede ist, weil er immer untrennbar die Rechnung ist, die von dieser Rede gemacht wird: die Rechnung, durch welche eine lautliche Aussendung als Rede verstanden wird, fähig, das Rechte auszusprechen, während eine andere nur als Lärm wahrgenommen wird, der Freude oder Schmerz, Zustimmung oder Revolte sig6
Ders., Zehn Thesen zur Politik, Berlin/Zürich: diaphanes, 2008, S. 32.
7
Um zu verdeutlichen, inwieweit sich Rancières Lebensbegriff von dem Foucaults unterscheidet, sei kurz eine Äußerung Rancières hierzu zitiert: „Unter dem Begriff des Lebens lassen sich sehr verschiedene, wenn nicht entgegengesetzte Dinge verstehen. Das Leben ist die Entfaltung einer Kraft – biologisch, historisch, ontologisch – und es ist im Gegensatz dazu alltägliches Leben, in seiner Entgegensetzung zu den Ausnahmesituationen der politischen Aktion, des künstlerischen Werks usw. In den Begriffen der Aufteilung des Sinnlichen bedeutet dies, eine bestimmte Verknotung, eine bestimmte Verteilung dieser verschiedenen ‚Leben‘ zu betrachten. Zum Beispiel beansprucht das aristotelische Paradigma für das dramatische Gedicht ein bestimmtes Leben – jenes des organischen Körpers mit funktionellen Gliedern, die harmonisch verteilt sind – und verwirft ein anderes: das Leben als einfache Abfolge von Ereignissen, dem die Tragödie eine Verkettung konstruierter Handlungen gegenüberstellt. Es ist klar, dass diese Bewertung des Lebens als Form des Gedichts und diese Entwertung des Lebens als sein Inhalt selbst die Hierarchie zweier Arten von Leben übersetzen: Das Leben derer, die handeln und das Leben derer, die nichts tun als zu leben. Das ‚Leben‘ definiert also eine bestimmte symbolische Physiologie des sozialen Körpers.“ – Ders., Ist Kunst widerständig?, S. 47.
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nalisiert. […] Die Position der unbeugsamen Patrizier ist einfach: es gibt keinen Ort, um mit den Plebejern zu diskutieren, aus dem einfachen Grund, weil diese nicht sprechen. Und sie sprechen nicht, weil sie Wesen ohne Namen sind, ohne Logos, das heißt ohne symbolische Einschreibung im Gemeinwesen. Sie leben ein rein individuelles Leben, das nichts überträgt, außer das Leben selbst, reduziert auf seine Reproduktionsfähigkeit. Derjenige, der ohne Namen ist, kann nicht sprechen.“8
Rancière unternimmt mit dieser Szene eine Umwendung der Erzählung von Titus Livius, setzt allerdings mit Pierre-Simon Ballanches Version aus dem Jahre 1829 einen anderen Akzent. Er betont damit die Kontingenz der Aufteilung des politischen Raumes und des als bios anerkannten Lebens. Denn nur aus Sicht der Patrizier lässt sich sagen, die Plebejer hätten keine Sprache und wären im Sinne Agambens zoë – ‚nacktes‘ Leben. Für Rancière hingegen sind sie Sinnbild des demos, das Volk, das nicht in seiner Zählung aufgeht und als supplementäres nie mit dem ethos der Gemeinschaft zur Deckung kommt. Der politische Raum setzt bereits eine Aufteilung des Sinnlichen voraus und nicht umgekehrt. Jeder politischen Ordnung liegt eine „erste Ästhetik“ zugrunde, durch die festgelegt wird „was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.“9 Die Hierarchie des Lebens beruht zuallererst auf einer Einteilung, Verteilung und Zuteilung des Lebendigen, bevor ein bestimmtes Leben als gemeinschaftliche Raumzeit verstanden werden kann. Völker fasst die Konsequenzen dieser ethischen Aufteilung des Sinnlichen für Kunstpraktiken treffend zusammen. „Der Zusammenhang von Kunst und Leben war nicht unterbrochen, sondern Kunst war Ausdruck einer Form des Lebens. Kunst war Teil des Lebens selbst, Kunstobjekte verkörperten die Form des Lebens. In diesem Sinn kommt die Begrifflichkeit des Lebens bei Rancière zunächst derjenigen von der Aufteilung des Sinnlichen sehr nahe. Leben in seinem gewöhnlichen Verständnis ließe sich als praktischer Zusammenhang der Aufteilungen des Sinnlichen verstehen. Und in der Antike sind Kunstobjekte Teil des einen und allgemeinen Lebens. Im ästhetischen Regime repräsentieren Kunstobjekte im Gegensatz dazu einen Split zwischen Kunst und Nicht-Kunst, oder, anders gesagt, Kunstobjekte repräsentieren einen Split in der Konzeption des Lebens, in der Kunst ein Teil des Lebens war.“10
8
Ders., Das Unvernehmen – Politik und Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 34f.
9
Ders., Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b_books, 2006, S. 26 f.
10 Völker, Ästhetik der Lebendigkeit, S. 258.
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Der logos ist zunächst nichts weiter als ein gemeinsames Sprachvermögen: Auch die Plebejer müssen sprechen können, um die Befehle der Patrizier zu verstehen. Weil sie aber aus Sicht der Patrizier keinen Anteil daran haben, sieht Rancière an diesem Punkt einen Widerspruch. Würden die Plebejer, weil sie nur unartikulierte Laute von sich geben, keine sprachlichen Lebewesen sein, könnten sie auch nicht die an sie gerichteten Befehle befolgen. Aus diesem Grund setzt jede Ordnung der Körper zuallererst deren Gleichheit voraus, verrechnet sie dann allerdings mit einer ungleichen Aufteilung. Diese Verrechnung der Körper nennt Rancière Polizei. „Die Polizei ist keine gesellschaftliche Funktion, sondern eine symbolische Konstitution des Sozialen. Das Wesentliche der Polizei ist nicht die Repression und auch nicht die Kontrolle über das Lebendige. Ihr Wesentliches ist eine gewisse Aufteilung des Sinnlichen. Man nenne Aufteilung des Sinnlichen das allgemeine inbegriffene Gesetz, das die Formen des Teilhabens bestimmt, indem es zuerst die Wahrnehmungsweisen festlegt, in die sie sich einschreiben. Die Aufteilung des Sinnlichen ist die Zuschneidung der Welt und der Welten. […] Diese Aufteilung ist im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen: einerseits das, was trennt und ausschließt, andererseits das, was teilnehmen lässt. Eine Aufteilung des Sinnlichen ist die Art und Weise, nach der sich im Sinnlichen ein Verhältnis zwischen einem geteilten Gemeinsamen und die Einteilung exklusiver Anteile bestimmt. Diese Einteilung, die von ihrer sinnlichen Evidenz her die Einteilung der Anteile und Teile vorwegnimmt, setzt selber eine Aufteilung dessen, was sichtbar ist und was nicht, dessen, was sich vernehmen lässt und was nicht, voraus.“11
Im ethischen Regime der Bilder gibt es keinen Abstand zwischen dem ethos als der Anordnung der Körper im Raum und deren Fähigkeiten und Vermögen. Sie entsprechen den Positionen, die ihnen vom logos zugewiesen werden. Deshalb gehen sie gänzlich in dem ihnen von ihren Aufgaben vorgeschriebenen Bewegungskontinuum auf. Gewissermaßen besitzen ihre Beschäftigungen sie. „Die Ethik ist also das Denken, das die Identität zwischen einer Umwelt, einer Seinsweise und einem Tätigkeitsprinzip herstellt.“12 Rancière verwendet häufiger das französische Wort occupé in seiner Doppeldeutigkeit: Es verweist zugleich auf den Besitz und die Beschäftigung. Was heißt das für das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit? Nach den vorigen Ausführungen kann dem ethischen Regime die Geburtsstunde der Choreographie in Arbeaus Orchésographie zugeordnet werden, während Feuillets Tanzraum, der mit dem Notationspapier identisch ist, zwar Aspekte von dessen Logik enthält, die Körper ihr ethos hier aber nicht mehr direkt verkörpern, sondern anhand eines fixen Regelwerks nachahmen, womit er bereits 11 Rancière, Zehn Thesen zur Politik, S. 31. 12 Ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 128.
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dem poetischen/repräsentativen Regime angehört. Das hylemorphische Verständnis von Choreographie als Poetik und Vor-Schrift ist ein zutiefst ethisches. Ihm zufolge kann es keine Teile geben, die nicht bereits gezählt sind und deswegen entweder an der choreographischen Verrechnung der Schritte und Positionen im Raum Anteil haben oder als plebejischer Lärm von ihm ausgeschlossen sind. Dieser Lärm ist keine Sprache, weil Choreographie demnach eine souveräne Zählung und Verrechnung ist, ein Bewegungskontinuum, das die Körper vollends der Souveränität seiner Arithmetik unterwirft.13 Im ethischen Regime repräsentiert Tanz nicht eine gesellschaftliche Ordnung, er ahmt nicht – wie im Fall der an der Académie Royale de Danse gelehrten Hofballette – deren symbolischen Raum nach, sondern er erfüllt 13 Souveränität meint demzufolge nicht nur, wie bei Michel Foucault, eine Machtform, welche der biopolitischen Macht darin entgegengesetzt ist, dass ihr Gegenstand ein Territorium ist, während in jener das Leben selbst in den Fokus rückt und jedes Territorium entgrenzt, sondern bezeichnet vor allem die hylemorphische Einprägung einer aktiven Form in eine passive Materie. Das hat weitreichende Auswirkungen darauf, wie sich jeweils das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz denken lässt. Symptomatisch in diesem Zusammenhang ist Feuillets weißes Blatt Papier, auf dem die Tänze eingetragen werden und das mit einem als weißes, unbeschriebenes Blatt gedachten Körper korrespondiert, der als passive Materie die aktive Form der Choreographie empfängt. Das Leben ist hier identisch mit seiner Form, und die Körper gehen vollständig in der choreographischen Gemeinschaft auf. Ein ganz anderes Verständnis dieses Verhältnisses zeigt sich dagegen in Noverres Briefen über die Tanzkunst, denn dort ist es gerade der Überschuss eines unbestimmten Lebens, mit dem der Choreograph arbeiten muss. Die passive Materie wird dann aktiv. Damit ist ein adäquates Verhältnis zwischen posis und aísthesis nicht länger haltbar: „Undouptely the variations of nature’s productions are infinite; their variety is immense and incomprehensible. If you rarely find two men alike, if the resemblance in feature and form of two twins be admired as a lusus naturae, what would be my surprise if I saw at the Opéra twelve faces alike!“ – Noverre, Letters, S. 85. Hiermit wird auch ein bestimmtes Verständnis von Souveränität, wie Rancière es kritisiert, zum Problem: „Der Begriff der Souveränität strebt nämlich, insbesondere noch in seiner Konzeptualisierung gemäß Hobbes, ein genau entgegengesetztes Ziel an: Durch ihn soll die polizeiliche Konstitution der Gemeinschaft vor der politischen Subjektivierungsweise geschützt werden. Die Definition des Souveräns – was auch immer seine spezifische Verkörperung sein mag – schließt jede Recht und Unrecht ins Spiel bringende Instanz als mit der Gemeinschaft im Widerspruch stehend aus. Die Tautologie der Souveränität wird gerade durch diese Ausschließung konstituiert. Aber sie kann selbst wiederum nur auf der Grundlage einer Voraussetzung konstituiert werden, die sie gleichzeitig zerstört – der Voraussetzung von der Gleichheit eines jeden mit einem jeden anderen.“ – Jacques Rancière, Gibt es eine politische Philosophie?, in: ders./Alain Badiou, „Politik der Wahrheit“, turia+kant, 2010, S. 109 f.
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ihn. Die Körper können nicht zu den darin für sie vorgesehenen Aufenthaltsorten in Distanz treten. Sie identifizieren sich vollständig mit ihrer Seinsweise: „Der gute Staat ist derjenige, in dem die Ordnung des Kosmos, die geometrische Ordnung, die die Bewegung der göttlichen Sterne regiert, sich im Temperament eines Organismus offenbart“14, wie Rancière für dieses Regime das Verhältnis der Körper zu ihrer choreographischen Form beschreibt. Die prinzipielle Gleichheit der Körper, welche die vorausgesetzte Grundlage jeder ungleichen Aufteilung des Sinnlichen ist, kann nicht als Dissens des Sinnlichen mit sich selbst ins Spiel gebracht werden. Es gibt eine einzige Form für alle Körper, und kein Körper kann in Abstand zu ihr treten. Jeder Fehlschritt innerhalb der choreographischen Ordnung würde nur als Lärm verstanden werden. Kann man bezüglich des ästhetischen Regimes Peter Hallwards pointierte Zusammenfassung von Rancières philosophischem Ausgangspunkt, „everyone thinks, everyone speaks“15, um die Aussage erweitern, dass auch jeder tanzt, so trifft dies im ethischen sowie im poetischen/repräsentativen Regime nicht zu. Nur diejenigen tanzen, die sich an die niedergeschriebene Schrittfolge halten und deshalb keinen ‚Eselskopf‘ und keine ‚Hammelschulter‘ haben (Arbeau), nur diejenigen tanzen, die das Notationspapier richtig und deckungsgleich mit dem Tanzraum halten (Feuillet). Jeder Schritt eines jeden Körpers gehorcht in beiden Fällen dem Gesetz der Gemeinschaft. Im poetischen/repräsentativen Regime der Künste im Plural dagegen ist zwar ein Bereich von Tätigkeiten vom Gesetz der Gemeinschaft abgesondert, aber die einzelnen derart definierten Künste müssen den Regeln der wahrscheinlichen Darstellung folgen. Jede Kunst hat bestimmten Verfahren zu gehorchen, die sie weiterhin an ein ethos binden, den logos bestimmten Positionen und Funktionen gemäß verteilen, ‚richtige‘ von ‚falschen‘ Wegen unterscheiden und festlegen, wie bestimmte sujets jeweils nachgeahmt und repräsentiert werden müssen. Dergestalt imitiert der Tanz bei Feuillet, obwohl er sie nicht mehr unmittelbar auf den gesellschaftlichen Parketten verkörpert, weiterhin eine harmonisch und organisch gedachte Gemeinschaft, deren Form gegeben ist, bevor die Tätigkeit der Körper ins Spiel kommen kann. Erst mit dem ästhetischen Regime der Kunst im Singular wird eine souveräne Überdeterminierung der Praxis vermögender Körper ausgesetzt. Deshalb ist nun das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit gegenüber seinem Außen geöffnet. Der Lärm zuvor anteilloser Körper trägt eine Vielzahl von Sprachen in den logos hinein und zersetzt das ethos. Alles und jeder gehört potentiell zum Choreographischen, womit Choreographie als Zählung und Verrechnung
14 Ders., Das Unvernehmen, S. 79. 15 Peter Hallward, Jacques Rancière and the Subversion of Mastery, Paragraph, Vol. 28, Issue 1, S. 26.
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prekär und Tanz als das Erscheinen zunächst unbestimmter Körper denkbar wird. 16 Plebejische Fehlschritte durchlöchern zuvor arithmetisch geordnete Schrittfolgen, und Choreographie kann sich nicht nur von ihrer repräsentativen Funktion befreien, sondern tritt in einen prinzipiellen Dissens zu jeder Form des harmonisch und organisch gegliederten Gesellschaftskörpers. Weil es keine Regeln gibt, die eine Adäquatheit zwischen bestimmten Herstellungsweisen (posis) und deren Rezeption (aísthesis) sichern würden und weil es keinen verbindlichen Bezug zwischen bestimmten Formen und bestimmten Materialien gibt, setzt Ästhetik Neuanordnungen des Sinnlichen und transduktive Prozesse des Sensorischen in Gang. Innerhalb des ästhetischen Regimes erscheinen mehrere Welten in der einen Welt, mehrere Gemeinschaften in der einen Gemeinschaft und mehrere Körper in jedem einzelnen Körper. Jede Zählung und Rechnung der Körper verwandelt sich in Verzählungen und Verrechnungen, weil sie ständig um supplementäre Teile ergänzt werden, die nicht in einer Welt, einer Gemeinschaft und einem Körper aufgehen können: „Es gibt einen Sinn in dem, was keinen Sinn zu haben scheint, es gibt ein Rätsel in dem, was sich scheinbar von selbst versteht, und was wie ein harmloses Detail aussieht, enthält eine gedankliche Sprengladung.“17 Weil die drei Regime keine sich gegenseitig ablösenden episteme im Sinne Foucaults sind, können sie als Denkweisen von Gemeinschaft und des Verhältnisses zwischen Choreographie und Tanz auch ineinander und in einem einzigen Werk enthalten sein. Später soll dieses Problem in Bezug auf Noverres Briefe über die Tanzkunst aus dem Jahre 1760 untersucht werden, zunächst seien aber wichtige Merkmale der Regime festgehalten: (1.) Platons Staat, in dem es keine Kunst gibt, sondern nur Trugbilder, welche die Identität der Gemeinschaft mit ihrem Bild stören und als solche nicht gewollt sind, (2.) die Poetik des Aristoteles, die den Künsten ihr Feld eröffnet, zugleich aber auch eine Adäquatheit zwischen posis und aísthesis sicherstellt und spezifische Herstellungsweisen in ihre eigenen Schranken verweist sowie an gemeinschaftliche Wahrnehmungsformen bindet und garantiert, dass eine als gegeben angesehene (gesellschaftliche) Natur immer nur nachgeahmt wird und schließlich (3.) das dem ästhetischen Regime eigene Sensorium, das laut Rancière erstmals in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft und Friedrich Schillers 16 Die erstaunliche Parallele zwischen Rancières Konzept eines immer supplementären Anteils der Anteillosen und Foucaults späten Überlegungen zur parrhesia ist überdeutlich, obwohl Foucaults Platonlektüre und seine positive Aufwertung eines (individuellen) ethos fundamental von Rancière abweichen: „Was die parrhesiastische Äußerung auszeichnet, liegt gerade darin, daß unabhängig vom Status und von allem, was die Situation codieren oder bestimmen könnte, der Parrhesiastiker derjenige ist, der seine eigene Freiheit eines sprechenden Individuums geltend macht.“ – Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012, S. 92 f. 17 Jacques Rancière, Das ästhetische Unbewußte, Berlin/Zürich: diaphanes, 2006, S. 8.
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darauf beruhendem Konzept des Spieltriebs zum Problem wird, sind zwar mit historischen Ereignissen verbunden, jedoch löst Rancière sie von ihrer Position innerhalb einer faktischen Geschichte und fiktionalisiert sie, um unterschiedliche Aufteilungen des Sinnlichen und die damit verbundenen Erfahrungsmodi zu konzeptualisieren. Rancières Regime sind deshalb in erster Linie unterschiedliche Denkweisen der Gemeinschaft und des Zusammenseins von Körpern.18 Sie sind mit dem Denken von Positionen von Körpern im Raum und in der Zeit verknüpft und gewissermaßen Konstellationen des ihnen Gemeinsamen, aber auch dessen, was innerhalb dieses Gemeinsamen ausgeschlossen wird. Sie unterscheiden sich grundlegend darin, wie in ihnen mit dem Ausgeschlossenen jeweils umgegangen, aber auch darin, wie ihr Inneres konstituiert wird: Während das ethische Regime keine Politik zulässt, weil es alles, was nicht in den bereits konstituierten Raum der souveränen Machtausübung passt, als unartikulierten Lärm ausschließt, besteht das ästhetische Regime gerade aus denjenigen plebejischen Fehlschritten, die jede geordnete Schrittfolge von sich selbst entfernen und das Gemeinsame als strittiges Gemeinsames entregeln.19 Rancière spricht in diesem Zusammenhang von einem Dissens zwischen Polizei (als Prinzip der Identität) und Politik (als der Identität entgegengesetztem Prinzip der Subjektivierung), welcher ihm zufolge die Körper von der choreographischen Souveränität entfernt. „Eine politische Subjektivierung ist das Erzeugnis dieser vielfältigen Bruchlinien, durch die die Individuen und die Vernetzungen von Individuen den Abstand zwischen ihrer Stellung als 18 Der Begriff ‚Gemeinschaft‘ wurde bisher nicht und wird weiterhin nicht in einem soziologischen Sinne dem der Gesellschaft entgegengesetzt werden, meint also nichts Ursprüngliches oder Natürliches. Vielmehr gibt es nach Rancière im ästhetischen Regime immer zwei Gemeinschaften gleichzeitig, und zwischen ihnen ereignet sich ein Dissens, um den es eigentlich geht: Auf der einen Seite eine Gemeinschaft der festen Positionen, Tätigkeiten und Funktionen, eine Gemeinschaft der Ungleichheit, auf der anderen Seite eine Gemeinschaft der Gleichen, die nie Ziel sein kann, sondern um deren Verifizierung vermittels ästhetischer Operationen es gerade geht. 19 Der um 1800 entstehende ästhetische Diskurs zersetzt die souveräne Ordnung: „Hingegen ist es wahr, dass die moderne Geschichte der politischen Formen mit den Veränderungen verbunden ist, die die Ästhetik als Aufteilung des Sinnlichen und als Diskurs über das Sinnliche erscheinen lassen. Die moderne Erscheinung der Ästhetik als autonomer Diskurs, der eine autonome Aufstückelung des Sinnlichen diktiert, ist die Erscheinung eines Wertschätzens des Sinnlichen, das sich von jedem Urteil über seinen Gebrauch trennt, und somit eine Welt virtueller Gemeinschaft – geforderter Gemeinschaft – als Überblenden einer Welt der Befehle und der Aufteilungen definiert, die jedem Ding seinen Gebrauch gibt.“ – Rancière, Das Unvernehmen, S. 69.
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mit einer Stimme begabter Tiere und der gewaltsamen Begegnung der Gleichheit des Logos subjektivieren. Der Unterschied, den die politische Unordnung in die polizeiliche Ordnung einschreibt, kann sich also, in erster Analyse, als Unterschied einer Subjektivierung zu einer Identifizierung ausdrücken. Sie schreibt einen Namen des Subjekts als unterschieden von jedem identifizierten Teil der Gemeinschaft ein.“20
Was mit dem ästhetischen Regime erscheint, ist eine fundamentale Gleichheit der Körper und damit die radikale Kontingenz einer jeden Aufteilung des Sinnlichen, in die nun eine „Flut der Menschen und der Dinge, die Flut von überflüssigen Körpern“21 eindringt. Während die Körper in den anderen beiden Regimen an ihre Plätze und Funktionen innerhalb einer harmonisch und organisch gedachten Gemeinschaft und an ihre jeweiligen Identitäten gebunden sind, entfernen sie sich, indem sie sich subjektivieren, im ästhetischen Regime von jedem Platz und jeder Funktion. Deshalb kollidiert die polizeiliche Anordnung von Körpern mit Politik, welche laut Rancière zwar keine spezifischen, ihr eigenen Gegenstände hat, aber eine ungleiche Aufteilung des Sinnlichen mit der Gleichheit der Körper konfrontiert. Indem sie das Vermögen aller, das jedem durch den logos gegeben ist, gegen dessen ungleiche Distribution in Form bestimmter Funktionen und Positionen stellen, verdoppeln die Körper das Sinnliche und dessen Sinn. Jeder Körper tanzt potentiell. Überall ist Tanz. Alles kann Tanz werden: Was dabei auf dem Spiel steht, ist eine radikale Gleichheit vermögender Körper. Mit Noverre werden die körperlichen Vermögen (potentia) – die Affizierbarkeit und unbestimmte Ausdrucksfähigkeit von Körpern – ins Zentrum choreographischer Aufmerksamkeit rücken. Im ästhetischen Regime stehen seit der Wende um 1800 die Perforation des souverän bestimmten Tanzraums, seine Durchsetzung mit Fluchtlinien und seine Entkörperung durch Subjektivierungen auf dem Spiel. Dabei geht es um eine radikale Gleichheit des Lebendigen und einen „demokratischen Aufstieg des beliebigen Lebens“22, der jede bereits konstituierte choreographische Gesellschaftsordnung (potestas) über ihre Grenzen hinausführt. Plebejische Momente und plebejische Fehlschritte betreten seitdem die Choreographie, bringen aber auch die Gefahr mit sich, in ein biopolitisches Kalkül umzuschlagen.
20 Ebd., S. 48 f. 21 Ders., Politik der Literatur, Wien: Passagen, 2008, S. 56. 22 Ebd., S. 22.
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4.1 D AS
ETHISCHE
R EGIME
DER
S CHRITTE
UND
UND SEINE
P OSITIONEN
IM
G EOMETRIE R AUM
Im ethischen Regime befinden sich Sinnlichkeit und Sinn im Konsens, und es gibt keinen Einfluss der Körper auf ihre choreographische Form. Insofern trifft auf es zu, was Hartmut Böhme und Sabine Huschka als Geburtsstunde des Begriffs der Choreographie im antiken Griechenland bezeichnen: „Man darf geradezu sagen, dass der Urakt der Kulturerzeugung die Choreographie ist – also der Versuch einer Mimesis des supralunaren Tanzes der Sterne, die gewissermaßen das Göttliche und Schöne als Modell für die Einrichtungen der Bewegungen der irdischen Körper vorgeben.“23 Dieser Zustand der Körper findet sich in einem längeren Dialog aus Platons Der Staat widergespiegelt, auf den sich Rancière selbst in seinen Ausführungen zum ethischen Regime zwar nicht direkt bezieht, der aber ein in diesem Regime gegebenes Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz expliziert. Es handelt sich dabei um einen längeren Wechsel von Fragen und Antworten zwischen Sokrates und Glaukon über das Problem der Bewegung von Körpern im Raum. Zuvor haben die beiden überlegt, wie der ideale Staat zu hüten sei. Sie haben festgestellt, dass kein Körper mit mehr als einer Aufgabe vertraut sein darf, denn „die typische Aufgabe eines jeden Wesens sei, was entweder nur es allein oder es am besten von allen sonst vollbringen kann.“24 Um diese Forderung zu begründen, wird eine Analogie zwischen dem organisch gedachten menschlichen Körper und dem ebenfalls organisch verfassten Staat hergestellt. Hier wie dort seien bestimmte Organe an bestimmte Funktionen innerhalb des Ganzen gebunden, und keinem Organ ist es gestattet, seine Kompetenzen überschreiten, sondern es muss sich allein auf seine spezifische Aufgabe konzentrieren. Eine wichtige Konsequenz der von Platon konzeptualisierten Aufteilung des Sinnlichen betrifft den Besitz und die Beschäftigung derart dienstbar gemachter Körper: „Denn die Arbeit, meine ich, will nicht warten, bis der Betreffende sich Zeit nimmt, sondern es ist unumgänglich, daß der Ausführende sie mit vollem Ernst und nicht wie eine Nebensache betreibt.“25 Vermittels einer Fabel über die Durchsetzung der menschlichen Seelen mit Gold, Silber, Eisen oder Erz legt Sokrates Glaukon gegenüber fest, wer für welche Aufgabe vorgesehen sei: „[D]ie Gottheit, die euch formte, hat allen, welche die Veranlagung zum Regieren mitbekommen haben, bei ihrer Erschaffung Gold beigemischt; deshalb stehen sie auch an der Spitze der Wertskala. Alle die Helfer haben Silber im Blut; Eisen aber und Erz die Landwirte
23 Böhme/Huschka, Prolog, in: Huschka (Hrsg.), „Wissenskultur Tanz“, S. 13. 24 Platon, Sämtliche Werke, Essen: Phaidon, 1998, S. 441. 25 Ebd., S. 450.
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und wer sonst körperlich arbeitet.“26 Anhand der Beschaffenheiten der Seelen, die seinen perfekten Staat bewohnen, macht Platon die Positionen der Körper im gemeinschaftlichen Raum und ihre innerhalb der bereits fertigen Ordnung zu erfüllenden Aufgaben fest. Die choreographische Ordnung setzt voraus, dass niemand den Platz verlässt, der seinem Körper zugeschrieben ist und alle mit ihnen entsprechenden Beschäftigungen betraut sind. Die Seinsweisen der Körper müssen mit ihrem Aufenthalt im Sinne des ethos deckungsgleich sein, ansonsten sieht Platon das Gemeinwohl in Gefahr: „Nun gebietet die Gottheit zuerst und vor allem den Regierenden, über nichts so gut zu wachen und auf nichts so sorgfältig aufzupassen als auf den Umstand, welche dieser Metalle den Seelen ihrer Kinder beigemischt sind.“27 Es gibt schon eine Aufteilung des Sinnlichen als bestimmte Verteilung und Unterteilung der Körper, bevor sie von ihren Fähigkeiten Gebrauch machen dürfen. Was die Körper vereint, ist zugleich das, was sie trennt. Ihr gemeinsamer Raum ist zugleich ein Raum, der jeden auf seinen Platz verweist und die Ordnung der Orte und Schritte bereits regelt, bevor sie stattfinden. Die ethische Aufteilung kennt keine Neuanordnungen ihrer Elemente, weshalb Platon den Eltern rät, darauf zu achten, dass ihre Kinder stets dort sind, wo sie von der Choreographie festgeschrieben wurden. „Werden ihnen Nachfahren geboren, die Erz oder Eisen mitbekommen haben, dann sollen sie ohne jegliches Mitgefühl die jeweilige Veranlagung respektieren und sie zu den Handwerkern und Landwirten bringen. Hat aber einer von ihnen Gold oder Silber, müssen sie dies respektieren und sie teils zum Herrscheramt, teils zum Amt des Regierungsgehilfen hinleiten.“28
Die Plätze, die Platon den Körpern zuweist, schreiben ihnen nicht nur spezifische Funktionen zu und vor, sie bestimmen ebenfalls, was ihrer Modalität zu fühlen und zu denken entspricht. Die kollektive Harmonie der organischen Gemeinschaft kann auch dann gefährdet werden, wenn die Körper beginnen, Dinge zu fühlen und zu denken, die nicht den Metallen in ihrer Seele entsprechen. Dieses Problem beinhaltet eine bestimmte Idee von Bewegung im Staat Platons. Im vierten Buch lässt er Glaukon zunächst eine rhetorische Frage stellen, bevor Sokrates sie beantwortet. „‚Ist es möglich‘, fragte ich, ‚daß ein und derselbe Gegenstand im gleichen Sinne gleichzeitig stehenbleibt und sich bewegt?‘ ‚Auf keinen Fall!‘
26 Ebd., S. 479. 27 Ebd., ebd. 28 Ebd., ebd.
134 | V ERMÖGENDE K ÖRPER ‚Wir wollen uns noch genauer verständigen, damit wir nicht irgendwann später in Streit geraten. Sollte nämlich jemand von einem, der steht, aber die Hände und den Kopf bewegt, behaupten, er stehe gleichzeitig still und bewege sich, dürfen wir eine solche Definition nicht billigen wollen; es muß vielmehr heißen: ein Teil von ihm steht still, andere Teile sind in Bewegung. Verhält es sich so?‘ ‚Ja!‘ ‚Wollte er also scherzend und witzelnd hinzufügen, auch die Kreisel würden zugleich völlig stillestehen und sich bewegen, wenn sie mit der Spitze auf dem gleichen Punkt aufsetzen und rotieren [...], oder jeweils andere Körper, die sich auf der gleichen Stelle drehen, vollführten das Gleiche, so würden wir dies zurückweisen. Denn es sind nicht die gleichen Teile, die still verharren oder sich bewegen. Vielmehr könnten wir sagen, sie ständen aufrecht und andere drehen sich: mit den aufrechten stehen sie still, sie neigen sich nach keiner Seite, mit den runden bewegen sie sich im Kreise. Sobald sie sich im Drehen nach rechts oder links nach vorne oder hinten neigen, so hätte der Gegenstand in keinem Sinne einen Stillstand.‘“29
Platon definiert den Zustand von Körpern in identitären Kategorien. Entweder sie sind in Bewegung oder stehen still. Anhand eines Körpers, der insgesamt stillsteht, obwohl seine Teile sich bewegen, macht er klar, dass man die Unterscheidung zwischen Bewegung und Stillstand auch dann aufrechterhalten muss, wenn beide gleichzeitig gegeben sind; in diesem Falle sind es einzelne Elemente, die sich bewegen, nicht aber der Körper als Ganzer. Immer ist eine Identität (der stehende Mensch) gegeben, von der aus ihr subsumierte Komponenten (dessen Arme über dem Kopf) vorgestellt werden, womit Materie definiert und ihr Ort und ihre Funktion in Bezug auf entsprechende Formen determiniert werden kann: „Denn wir stellten fest, ein und derselbe Gegenstand könne nicht mit ein und denselben Teilen in derselben Zeit und Beziehung das Entgegengesetzte ausführen.“30 An dieser Aussage lässt sich sowohl Platons Auffassung vom kollektiven Körper der Gemeinschaft als auch sein Verständnis der einzelnen Körper darin ablesen. Wie Kreisel müssen sie trotz der Bewegung ihrer Teile stillstehen in ihrer Bestimmung. Jede Tätigkeit schreibt sich in die Form eines bereits gegebenen Ganzen ein. Deshalb darf es in Platons Gemeinschaft keine Künste als eigenständige, losgelöste Tätigkeitsformen geben. Zwar spricht er von Dichtern in seinem Staat, sie sind aber nur geduldet, wenn sie in ihren Werken das organisch gegliederte Ganze der ethischen Gemeinschaft unmittelbar verkörpern: „Sollen wir also nur unsere Dichter beaufsichtigen und sie nötigen, in ihren Dichtungen einen guten Charakter wiederzugeben oder bei uns überhaupt nicht zu dichten – oder müssen wir auch die anderen Meister ihres Faches unter Aufsicht stellen und sie daran hindern, diesen Charakter, minderwertig, zügellos, devot und von schlechtem Erscheinungsbild, bei 29 Ebd., S. 491. 30 Ebd., S. 493.
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der Abbildung von Lebewesen, ihren Bauten, oder bei irgendeinem anderen kunstgewerblichen Erzeugnis darzustellen?“, lässt Platon Sokrates an einer Stelle im dritten Buch rhetorisch fragen, um dann festzustellen: „Sonst wachsen uns ja die Staatswächter in der Bilderwelt verwerflicher Lebensweise auf wie auf einer schlechten Wiese, weiden und laben sich täglich in kleinen Zügen an dem vielen Schädlichen ihrer Umwelt und häufen sozusagen unvermerkt in ihrem Inneren einen Riesenhaufen von einzigartiger Abscheulichkeit.“31
Platons Staat kennt keine Künste. Er kennt nur Bilder als richtige Bilder des ethos der funktional gedachten Körperordnung. Interessanterweise wird im 19. Jahrhundert Carlo Blasis seine auch dem heutigen (klassischen) Balletttraining noch zugrundeliegende Auffassung von Technik legitimieren, indem er sich auf Platons Idee des gut geordneten Staates bezieht und darauf hinweisen, dass Unterhaltung und Unterweisung voneinander abhingen und beide ebenso wichtig seien für die Tätigkeit tanzender Körper wie bereits zuvor für Thoinot Arbeau, als er die Geburtsstunde der Choreographie einleitete. „Plato, the gravest philosopher of antiquity, did not consider music and dancing as mere amusements, but as essential parts of religious ceremonies, and military exercises.“32 Daraus schließt er: „I shall now conclude by remarking that dancing, besides the amusement it affords, serves to improve our physical, and even to animate our moral powers; gives relief in certain diseases, affords a cure in others, promotes the harmony of society, and is a most requisite accomplishment for all who have the happiness to possess a good education.“33
Bezüglich choreographischer Praktiken des 20. Jahrhunderts und der Moderne wiederum hat Inge Baxmann in Mythos: Gemeinschaft – Körper und Tanzkulturen in der Moderne gezeigt, dass es innerhalb der historischen Avantgarden (im amerikanischen modern dance ebenso wie im deutschen Ausdruckstanz) eine tiefgreifende Affinität zu ethischen Gemeinschaftsauffassungen im Sinne Rancières gibt, weil sie alle gemeinsam haben, Gemeinschaft „vermittels liturgischer Techniken“34 unmittelbar verkörpern zu wollen. Die Metakinesis John Martins kann als symptomatisch für eine solcherart beschaffene, kinetische Vision des kollektiven Körpers gelten.
31 Ebd., S. 470. 32 Carlo Blasis, The Code of Terpsichore, Hampshire: Dance Books, 2008, S. 25. 33 Ebd., S. 28. 34 Vgl. Inge Baxmann, Mythos: Gemeinschaft – Körper und Tanzkulturen in der Moderne, München: Fink, 2000, S. 256.
136 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Die neue Sinneskultur bewegte sich zwischen totalitärer Festschreibung von Sinnes- und Lebensordnungen und der Eröffnung neuer Wahrnehmungsspielräume. Die Projekte der Avantgarde zirkulierten zwischen Taylorisierung der Bewegung, Normalisierung der Massen und der Suche nach metaphysischen Fundierungen für eine gemeinschaftsstiftende Gesamtvision von Kultur.“35
Innerhalb einer solchen ‚Gesamtvision‘ darf es nach Platon keine abweichenden Körper geben. Genau wie diejenigen Körper, die sich mehr als einer Tätigkeit widmen oder die Körper, die sich gleichzeitig bewegen und stillstehen oder gleichzeitig an mehreren Orten sind, dürfen Trugbilder der ethischen Logik zufolge nicht zirkulieren. „Im Prinzip wurde der platonische Befehl durch die Beförderung der techné gestützt“36, beobachtet Rancière. Worin das ethos ‚falsch‘, weil nicht vermittels der gültigen techné, wiedergegeben wird, das muss ausgeschlossen werden aus dem Staat, weil es die Ordnung seiner Schrittfolgen gefährdet. In dieser „choreographischen Form der Gemeinschaft, die singend und tanzend ihre Einheit stiftet“37, sind die Körper durch ein allen gemeinsames ethos auf ihre Plätze und Funktionen innerhalb des ungleich verteilten logos verwiesen. Ebenso wenig wie sich die Handwerker in Platons Staat um die gemeinsamen Angelegenheiten kümmern können, weil sie nicht die Zeit haben, sich mit etwas anderem als mit ihrer Arbeit zu befassen, kann ein Körper dort sein, wo ihn das Gesetz nicht vorsieht.38 Jede Tätigkeit trägt ihren Teil zum Ganzen der Gemeinschaft bei, alle Bilder sind Teile des einen, einzigen Bildes und das, was Aristoteles später als eigenen Bereich der Künste abgrenzen wird, geht hier restlos in seiner pädagogischen Funktion auf, gute Mitglieder des Staates heranzuziehen. Somit ist Choreographie im wahrsten Wortsinn das Gesetz eines ungeteilten kollektiven Körpers, in dem alle Schritte und Positionen entweder bereits enthalten oder zwangsläufig ausgeschlossen sind. Choreographie und Tanz können im ethischen Regime nur das Einschwingen in einen den Körpern gemeinsamen Rhythmus bzw. – mit John Martin gesprochen39 – in die ein bestimmtes Leben mit sich vereinende Metakinesis 35 Ebd., S. 255. 36 Rancière, Der Philosoph und seine Armen, S. 116. 37 Ders., Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 28. 38 Vgl. ebd., S. 26. 39 Zur Erinnerung: Zentral für John Martins Tanzmoderne und deren im Sinne Rancières ethische Verfasstheit ist die Idee eines gemeinschaftlichen und universalen Sensoriums, in dem Bewegung und Ausdruck auf produktions- wie rezeptionsästhetischer Ebene synchron verlaufen und deshalb eine Adäquatheit zwischen posis und aísthesis gewährleistet ist: „A few minutes ago it was said that the discovery of movement as the substance of dance in the same sense that sound as the substance of music, was one of the four important discoveries of the modern dance. The second of these discoveries is that of me-
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meinen: „In seiner dem Theater und dem geschriebenen Gesetz feindlichen Gesellschaft empfahl Platon, die Babys ohne Unterlass zu schaukeln.“40 Die Körper können niemals anderswo sein als dort, wo sie kraft des choreographischen Gesetzes sein sollen, nämlich in ihrem Teil des Bildes. Allein von der richtigen Verkörperung des ethos hängen das Recht oder die Verbote bestimmter Tätigkeiten ab. „Die Polemik Platons gegen die Trugbilder der Malerei, der Dichtung und des Theaters ist nicht zuletzt auch Teil dieses Regimes. Platon ordnet nicht, wie man es häufig hört, die Kunst der Politik unter. Diese Unterscheidung ist für ihn bedeutungslos. Kunst existiert für ihn nicht, er kennt nur Künste im Sinne von Tätigkeitsformen. Und genau diese Künste unterteilt er in wahrhafte Künste, das heißt in Kenntnisse, die auf der Nachahmung eines Modells zu bestimmten Zwecken basieren, und in Trugbilder der Kunst, die einen bloßen äußeren Schein nachahmen.“41
Herstellungsweisen (posis) und Wahrnehmungsformen (aísthesis) sind deckungsgleich. Als Therapeutik und Ritual soll der Tanz in Platons Staat Zusammenhalt stiften und sich in die allgemeine Aufteilung der Tätigkeiten innerhalb der Polis einschreiben. Die Seinsweise der Bilder ist eng mit der Beschäftigung der Körper in Raum und Zeit verknüpft und betrifft deren Besetzung durch eine allgemeine Form. Keinen Fall darf es geben, der vom ethos abfällt und keinen Körper, der seinen Ort verlässt und sich der ihm zugeordneten Funktion entledigt. Es ist letztlich das Kontinuum der Gemeinschaft als harmonisch zusammenwirkender Organismus, welches von Trugbildern gefährdet wird, wenn sie etwas in dessen Rahmen hineinholen, das darin nicht vorgesehen ist: „Theater und Versammlung sind zwei zusammenhängende Formen derselben Aufteilung des Sinnlichen, zwei Formen der Andersheit, die Platon verdammen muss, um seinen Staat als organisches Leben der Gemeinschaft zu errichten.“42 Die geometrische Ordnung des ethisches Regimes sieht eine einzige und ‚natürliche‘ Lebensform vor, in der die Körper anhand fixer Regeln vollends gezählt und ihre Schritte verrechnet sind. Weil für Platon die Richtigkeit der Rechnung feststeht, kennt er keine Politik im Sinne Rancières. Aus demselben Grund fürchtet er die frei zirkulierenden Körper der Schrift, welche keinen festen Adressaten hat und in ihrem stummen Sprechen das gemeinschaftliche Gewebe bedroht.
takinesis. Nobody invented it, it has always been true.“ – Martin, The modern dance, S. 14. 40 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 33 f. 41 Ebd., S. 36 f. 42 Ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 36.
138 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Es ist bekannt, dass die Schrift bei Platon nicht nur die schlichte Materialität des Zeichens ist, das auf einen materiellen Träger geschrieben wird, sondern ein spezifischer Status des Sprechens. Sie ist für ihn der stumme logos, das Sprechen, das weder anders sprechen kann, als es spricht, noch aufhören kann zu sprechen: das weder über das Rechenschaft ablegen kann, was es ausspricht, noch diejenigen unterscheiden kann, an die sich zu wenden angemessen ist oder nicht. Dieser stummen und zugleich geschwätzigen Sprache wird eine agierende Sprache entgegengesetzt, eine Sprache, die von einer zu übermittelnden Bedeutung und einer hervorzurufenden Wirkung begleitet wird.“43
Die choreographische Ordnung Platons kennt keinen Anteil der Anteillosen. Sie kennt nur die Anteile ihrer Prätendenten an einem bereits konstituierten Ganzen, welches das Gute des Staates und sein kollektiver Körper sind. Jede davon abfallende, lebendige Form würde Körper in sie einführen, die Platon nicht geometrisch anordnen kann. Sie würde Subjektivierungsformen in die Identität des Gemeinschaftskörpers einführen. Politik als diese „Vielheit von sinnlichen MikroEreignissen, die die Angleichung eines sinnlichen Körpers an einen symbolischen Körper unterbricht“44, bleibt im ethischen Regime aus. Die Politik der Kunst, welche laut Rancière mit dem ästhetischen Regime denkbar wird, ist hier nicht möglich. Sie würde bedeuten, die Bestimmungen von Orten und Körpern zu ändern, indem man sie zuallererst bestimmbar macht. Was aber bereits bestimmt ist, kann nicht bestimmbar sein. Platon zufolge vermag ein Körper nicht mehr als das, was sein fixer Anteil am logos ihn sein lässt. Ebenso wenig gibt es, genau wie noch bei Aristoteles, eine Unberechenbarkeit des affektiven Vermögens unbestimmter Körper.
4.2 D AS
POETISCHE / REPRÄSENTATIVE
DIE NATÜRLICHE
O RDNUNG
DER
R EGIME
DER
K ÜNSTE
UND
K ÖRPER
Platons Schüler Aristoteles, an dem Rancière sein poetisches/repräsentatives Regime festmacht, grenzt spezifische Tätigkeitsformen als nachahmende Tätigkeiten von anderen ab und weist den Künsten eine ihnen eigene sinnliche Sphäre mimetischer Aktivität zu. Die Tätigkeiten, die er als Künste identifiziert, sind zwar nicht dazu verpflichtet, direkt zum Aufbau und Erhalt der Gemeinschaft beizutragen (wie noch bei Platon), werden aber als technische Erfindungen gedacht, die festgelegte Affektformen produzieren: Im Fall der Tragödie Furcht und Mitleid, wie er es in seiner dem Theater gewidmeten Poetik beschreibt. Allerdings setzt Aristoteles eine
43 Ders., Das ästhetische Unbewußte, S. 25 f. 44 Ders., Ist Kunst widerständig?, S. 66.
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notwendige Äquivalenz zwischen den Produktionsregeln der Künste (posis) und den allgemeinen Gesetzen der menschlichen Sinnlichkeit (aísthesis) voraus. Hierin steht er seinem Lehrer Platon noch sehr nah. Denn die menschliche Sinnlichkeit korrespondiert für ihn mit dem System sozialer Hierarchien, Plätze und Aufgaben. Für ihn gibt es repräsentierbare und nicht repräsentierbare Dinge, höhere und niedere sujets und diesen entsprechende künstlerische Formen sowie eine Hierarchie innerhalb der Künste und Genres selbst, deren bekannteste wohl die Scheidung der Tragödie für die ‚höheren‘ von der Komödie für die ‚niederen‘ Themen ist. Zwar befreit Aristoteles die Künste von „der üblichen Legitimierung der Kunstprodukte durch ihre Gebrauchsfunktion wie auch von der Rechtsprechung der Wahrheit über die Diskurse und Bilder“45. Allerdings sind die derart abgesonderten Künste (die erst später, im 18. Jahrhundert, ‚schöne Künste‘ genannt werden) nach wie vor strengen Regeln unterworfen, um zu gewährleisten, dass posis und aísthesis – und mit ihnen die menschliche und die gesellschaftliche Natur – in ihrem adäquaten Verhältnis zueinander erhalten bleiben. Prinzipiell begreift Aristoteles, genau wie Platon, das Denken weiterhin als Handeln, also als aktive Form, die sich in eine passive Materie einschreibt, wobei jede Einschreibung nach bestimmten Regeln zu verfahren hat, um mit dem Bereich künstlerischer Tätigkeiten identifiziert zu werden. Aristoteles leitet seine Poetik ein, indem er ankündigt, alle Dichtungen nach ihren Gattungsmerkmalen sortieren zu wollen: „[W]elche Wirkungen eine jede hat und wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht, und ebenso auch von den anderen Dingen, die zu demselben Thema gehören, wollen wir hier handeln [...].“46
Innerhalb der dramatischen Gattungen werden handelnde Menschen nachgeahmt, und weil diese „entweder gut oder schlecht“47 sind, schließt Aristoteles daraus, dass sich auch die sujets unterschiedlicher Gattungen anhand dieser Parameter sortieren lassen müssen. Deshalb lokalisiert er den künstlerischen Wert der Tragödie über dem der Komödie. Bei beiden sei der eigentliche Gegenstand der Nachahmung nicht ein einzelner Mensch, sondern die Handlung, die sich zwischen Menschen entfaltet. Es werden weniger Charaktere nachgeahmt als vielmehr ein gemeinschaftliches Gewebe, in dem sie sich befinden. Dieses größere räumliche Gewebe und seine Entfaltung in der Zeit bilden im Gegensatz zum Epos ein geordnetes Ganzes mit Anfang, Mitte und Ende:
45 Ders., Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 37. 46 Aristoteles, Poetik, Stuttgart: Reclam, 1982, S. 5. 47 Ebd., S. 7.
140 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt.“48
Im Gegensatz zum Geschichtsschreiber soll der Dichter sich nicht mit dem wirklich Geschehenen befassen, sondern mit dem, was geschehen könnte. Weil die Dichtung den „Regeln der Wahrscheinlichkeit“49 gehorcht, wertet Aristoteles sie, im Gegensatz zur Geschichtsschreibung, „als etwas Philosophischeres und Ernsthafteres“50 auf. In ihr kann Allgemeines artikuliert werden, in der Historie nur das Besondere. Während es die Historie mit einer zufälligen Aufeinanderfolge von Ereignissen zu tun hat, ordnet die Dichtung Ereignisse harmonisch an und bezieht sie auf ein bestimmtes Kalkül der Empfindungen, die sie im Publikum hervorrufen will. Dies fasst er bezüglich der von ihm privilegierten Tragödien zusammen: „Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles.“51 Des Weiteren grenzt Aristoteles die Kriterien der Dichtung von Wahrheitskriterien ab. Weil sie es mit geordneten Fiktionen und kalkulierten Affekten zu tun hat, gelten in ihrem Fall andere Maßstäbe als für die Geschichtsschreibung oder das „Handlungsgefüge“52 des Epos. An diesem Punkt setzt Rancière an. Denn im Gegensatz zu Platon befragt Aristoteles die unterschiedlichen Tätigkeitsformen, die er dem Feld der Künste subsumiert, nicht mehr nach ihrer Übereinstimmung mit einem bestimmten Original oder ihrem Wahrheitsgehalt als Bilder, gleichzeitig jedoch unterwirft er sie weiterhin feststehenden Modellen: „Auf diese Weise ist das Prinzip der äußeren Begrenzung eines Bereichs, der aus Nachahmungen besteht, gleichzeitig ein normatives Prinzip des Einschlusses.“53 Aristoteles setzt, indem er unterschiedliche Künste und Gattungen anhand von Tätigkeitsformen (auf produktionsästhetischer Ebene) und Wirkungen (auf rezeptionsästhetischer Ebene) klassifiziert, Kriterien voraus, die es ihm erlauben, sowohl die Künste und Gattungen untereinander als auch gute von schlechten Nachahmungen zu unterscheiden. Er ordnet spezifische Sehweisen und Urteilsformen umgrenzten Gebieten zu, indem er sie, wie Rancière es formuliert, ihren jeweils eigenen mimetischen Regelmäßigkeiten unterwirft.
48 Ebd., S. 25. 49 Ebd., S. 29. 50 Ebd., ebd. 51 Ebd., S. 33. 52 Ebd., S. 59. 53 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 37 f.
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„Mimesis ist nicht das Gesetz, das die Kunst dem Gebot der Ähnlichkeit unterwirft. Mimesis ist vor allem die Falte innerhalb der Tätigkeitsformen und der sozialen Beschäftigungen, die die Künste sichtbar macht. Sie ist kein künstlerisches Verfahren, sondern ein Sichtbarkeitsregime der Künste. Ein solches Sichtbarkeitsregime ist das, was den Künsten Autonomie verleiht, aber im gleichen Zug die Autonomie nur im Zusammenhang mit einer generellen Ordnung der Tätigkeitsformen und der Beschäftigungen formuliert.“54
Die Sichtbarkeit des Theaters und der Choreographie, die nach Aristoteles Teil dramatischer Strukturen ist, besteht seinem Modell zufolge in einer Ausstellung von Fiktionen, die ihrerseits im Gegensatz zu den Fakten der Geschichte stehen. Zwar privilegiert er fiktionale Handlungen gegenüber den zufällig aneinander gereihten Ereignissen der Historie, legt der Dichtung aber zugleich auf, die Beschreibung von Details gegenüber der Erzählung vernachlässigen und die Handlung über die einzelnen Charaktere stellen zu müssen. Einer Auffassung des Lebens als potentiell überbordende Fülle lebendiger Körper setzt er deswegen die geordneten Handlungsabläufe eines einzigen und einheitlich verfassten Lebens entgegen, dessen Ausdruck unterwirft er dem Gesetz der wiedererkennbaren Zusammenstellung seiner Teile und die Zusammenstellung der Teile wiederum einer Fabel als dem harmonischen Ganzen der Nachahmung. Das Ganze schließlich denkt er als Ganzes der Aufeinanderfolge von Ursachen und Wirkungen im dramatischen Kontinuum. Was der dramatischen Dichtung und jeder Form von Choreographie, die von ihr inspiriert ist, ihre Form gibt, ist nach aristotelischer Logik nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern auch die angemessene Proportion der Fabel und der sich darin entwickelnden Figuren und Körper. Nur weil die dramatische Handlung fiktional von der faktischen Geschichte abgetrennt ist, kann sie der Unordnung einer empirischen Wirklichkeit ihr organisch gegliedertes Gewebe gegenüberstellen. Die Fabel – das will Aristoteles durch Peripetien und kathartische Momente gewährleisten – hat keine Auswirkungen auf den Bereich der Tätigkeitsformen außerhalb der Künste. Sie kann die Wirklichkeit zwar widerspiegeln, nicht aber eine Neuanordnung des Sinnlichen in ihr vornehmen. Die Fiktion ist keine Lüge oder Unwahrheit, hat aber auch nichts mit der Wahrheit historischer Wirklichkeit zu tun. Deshalb gehorcht sie anderen Gesetzen als die Tätigkeiten, von denen das gemeinschaftliche Gewebe außerhalb des Bereichs der Künste konstituiert wird. Sie kann nicht anhand der Kriterien von Wahrheit oder Unwahrheit beurteilt werden, weil sie einer bestimmten Anordnung wahrscheinlicher Kausalität gehorcht, die als Fiktion von der Geschichte der Fakten strikt getrennt ist. Was mit dem ästhetischen Regime zu zahlreichen Ambivalenzen und Unentscheidbarkeiten führt, weil sich in ihm die „Ratio der Fakten“ und die „Ratio der Fiktionen“55 vermischen, ist hier eine klar 54 Ebd., S. 38. 55 Ebd., 58.
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gezogene Grenze, die ebenso den kontinuierlichen Zusammenhang zwischen künstlerischen Herstellungsweisen (posis) und gemeinschaftlichen Seinsweisen (aísthesis) sichert wie verhindert, dass sich eine bestimmte Gemeinschaft ins Unbestimmte hinein öffnet, wenn vermögende Körper die ihnen zugewiesenen Funktionen und Ausdrucksschemata durcheinanderbrächten, falls alles sprechen und expressiv sein würde. „Dazu gehören die Aufteilungen zwischen Darstellbarem und Nichtdarstellbarem, die Unterscheidung der Gattungen je nach Dargestelltem, die Kriterien, nach denen die Ausdrucksformen den Gattungen und mithin den dargestellten Gegenständen zugewiesen werden, die Verteilung der Ähnlichkeiten nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit, Angemessenheit oder Entsprechung, die Unterscheidungs- und Vergleichskriterien zwischen den Künsten etc.“56
Die hierarchischen Regeln innerhalb der voneinander abgegrenzten Bereiche der Künste korrespondieren mit einer „umfassenderen hierarchischen Aufteilung der Gemeinschaft“57: Erst mit dem ästhetischen Regime der Kunst im Singular wird diese Aufteilung in ihren Grundfesten erschüttert, weil dann eine Lebendigkeit der Körper und ein ungeregeltes Lebendiges erscheinen, die weder auf Seiten der posis noch auf der Ebene der aísthesis in einem bereits konturierten Rahmen gehalten werden können. Aristoteles muss, genau wie Platon, eine solche überbordende Gleichheit vermögender Körper ausschließen. Er kann die ästhetische Messung, die auf paradoxe Weise zwei Unmessbarkeiten aneinander messen würde, nicht durchführen, nämlich auf der einen Seite die radikale Gleichheit sprechender Wesen und auf der anderen Seite die Verteilung von deren Körpern im ungleichen Raum der ethischen Gemeinschaft. Der in sich geschlossene Bereich der Künste bleibt insofern hermetisch, als dass es den in ihm stattfindenden Tätigkeiten nicht gestattet ist, eine Veränderung der Anordnung von Körpern zu bewirken. Während Platon und Aristoteles die Gemeinschaft der Körper organisch denken, bricht die Idee eines derart harmonischen Ganzen mit dem ästhetischen Regime auseinander. Mit dem Ausspielen des Vermögens (potentia) und der „Literarizität“58 der Körper setzen Entkörperungen des bereits gegliederten Ganzen (potestas) und eine der Kunst im Singular eigene Politik ein. Es kommt dann zu einer Enthierarchisierung aller erdenklichen sujets und, bezogen auf das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit, zu einem Spiel des plebejischen Moments der Körper. Ihre Fehlschritte betreten das souveräne Parkett.
56 Ebd., S. 38. 57 Ebd., S. 39. 58 Ebd., S. 62.
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4.3 D AS
ÄSTHETISCHE
R EGIME
CHOREOGRAPHISCHEN
DER
K UNST
UND SEINE
F EHLSCHRITTE
Sind sowohl das ethische Regime der Bilder als auch das poetische/repräsentative Regime der Künste im Plural dadurch geprägt, dass in ihnen nach bestimmten Regeln aktive Formen einer passiv gedachten Materie eingeschrieben werden und bezogen auf das Tanzen als Tätigkeit Choreographie die einseitige Imprägnierung einer (‚natürlichen‘) Ordnung der Dinge in die Körper und den gemeinschaftlichen Raum zwischen ihnen meint, gerät diese Aufteilung des Sinnlichen mit dem ästhetischen Regime der Kunst im Singular in einen Dissens, weil hier die Formen der Entsprechung von Sinn und Sinnlichkeit nicht mehr funktionieren. Eine „Sprache des Lebens“59, die sich von jeder im Vorhinein feststehenden Rationalität der Handlung löst, lässt die Zeichen frei zirkulieren und eine andere Gemeinschaft innerhalb der aufgeteilten Gemeinschaft sichtbar werden. „Die menschliche Natur und die gesellschaftliche Natur hören auf, füreinander zu bürgen. Die schöpferische Aktivität und die sinnliche Empfindung begegnen einander ‚frei‘, wie die zwei Stücke einer Natur, die von keiner Hierarchie der aktiven Intelligenz über die sinnliche Passivität mehr zeugt. Dieser Abstand der gesellschaftlichen [Hervorh. d.A.] Natur zu sich selbst ist der Ort einer noch nie da gewesenen Gleichheit. Diese Gleichheit ist in eine Geschichte eingeschrieben, die als Ausgleich für den Verlust ein neues Versprechen gibt.“60
Gleichheit manifestiert sich in mehrerlei Hinsicht. Sie ist im Bereich der Kunst, die Rancière v.a. bezüglich der um 1800 entstehenden Literatur beschreibt, eine Gleichheit der sujets als „Verfügbarkeit jedes Wortes und jedes Satzes für das Weben eines beliebigen Lebens“61, eine „Demokratie der stummen Dinge“62 und eine „molekulare Demokratie der Zustände der vernunftlosen Dinge“63. Mit der Gleichheit tritt die reine Kontingenz einer jeden Aufteilung des Sinnlichen in Erscheinung, und zuvor entgegengesetzte Pole kommen in einen Zustand der Schwebe. Während die aktive Form stumm wird, beginnt die passive Materie zu sprechen, während die Schrift Materie wird, scheint der Materie eine Schrift innezuwohnen. Einerseits insistiert jetzt eine „Macht der Bedeutung, die jedem stummen Ding inhärent ist“64, andererseits gibt es eine unabschließbare „Feinabstimmung der
59 Ders., Politik der Literatur, S. 38. 60 Ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 23. 61 Ders., Politik der Literatur, S. 41. 62 Ebd., ebd. 63 Ebd., ebd. 64 Ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 59.
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Sprachmodi und Bedeutungsebenen“65 auf eben jene stummen Dinge, die nie deckungsgleich mit dem sein können, was sie bedeuten. Allerdings besteht Rancière darauf, dass mimesis und Repräsentation im ästhetischen Regime nicht einfach verschwinden. Vielmehr werden sie exzessiv und befreien sich von jeder Proportion, weil sie an keine allgemeingültigen Regeln mehr gebunden sind. Auch hierin ist er Foucault sehr nah, der bereits in einer Vorlesung vom 29. Februar 1984 festgestellt hatte: „Die modere anti-platonische und anti-aristotelische Kunst: Reduktion, Entblößung des Elementaren der Existenz; ständige Ablehnung, Verwerfung jeglicher schon gesicherten Form.“66 Indem es kein fixes Modell mehr gibt für die natürliche und gesellschaftliche Natur der Körper, kennt deren mimesis keine Grenzen, und das Spiel der Ähnlichkeiten verlässt den Rahmen, der ihm in den anderen Regimen vom ethos gesetzt wird. Das ästhetische Regime besteht in der „Abschaffung eines geordneten Ganzen von Beziehungen zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, Wissen und Handeln, Aktivität und Passivität.“67 Allgemeines Gesetz und besonderer Fall treten auseinander, und das Verhältnis der Körper untereinander in Raum und Zeit öffnet sich gegenüber ihrem Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden, weil nicht länger eine Adäquatheit zwischen posis und aísthesis gegeben ist. Was mit der Aufteilung der Körper im Sinnlichen zum Problem wird, ist eine bestimmte Idee des Lebens, welches nun nicht länger hierarchisch organisiert und organisch gedacht werden kann.68 Wenn jede Aufteilung des Sinnlichen immer auch eine Aufteilung des Lebens und des Lebendigem in ihm ist, gerät diese Aufteilung der Modi, in denen sich das zuvor als Einheit gedachte Leben befindet, in Unordnung und wird von qualitativen Transformationen durchzogen. Mit Georges Canguilhem lässt sich sagen, dass sich dann, unter ästhetischen ebenso wie unter biopolitischen Gesichtspunkten, „die Erkenntnis des Lebens durch unvorhersehbare Umkehrungen vollziehen muss, in der stetigen Bemühung, ein Werden zu begreifen, dessen Sinn sich unserem Verstand niemals so klar offenbart wie dann, wenn es ihn aus der Fas-
65 Ebd., ebd. 66 Foucault, Der Mut zur Wahrheit, S. 248. 67 Rancière, Das ästhetische Unbewußte, S. 19. 68 Terry Eagleton sieht an genau diesem Punkt Gemeinsamkeiten zwischen dem zentralen Problem der Ästhetik und einer unorthodoxen Idee des Kommunismus. Durchaus im Sinne einer Auflösung des Hylemorphismus und des adäquaten Verhältnisses zwischen Materie (Produktivkräften) und Form (Produktionsverhältnissen) schreibt er: „It is less a matter of discovering the expressive forms ‚adequate to‘ socialism, than of rethinking that whole opposition – of grasping form no longer as the symbolic mould into which that substance is poured, but as the ‚form of the content‘, as the structure of a ceasless self-production.“ – Eagleton, The Ideology of the Aesthetic, S. 215.
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sung bringt.“69 Die Verfahrensweisen jedoch, denen das Lebendige innerhalb des biopolitischen Kalküls unterzogen wird, unterscheiden sich radikal von der Art, wie die Ästhetik es denkt. Die Identifizierung von Kunst im Singular im ästhetischen Regime erfolgt nicht wie im poetischen/repräsentativen Regime der Künste im Plural „durch die Unterscheidung der Tätigkeitsformen“70, sondern „durch die Unterscheidung einer für die Kunstwerke charakteristischen sinnlichen Seinsweise“71. Das Sinnliche der Kunstwerke wird von einer „heteronomen Macht bewohnt, von der Macht eines Denkens, das sich selbst fremd geworden ist.“72 Es setzt ein paradoxes Sensorium in Gang, den ästhetischen Zustand73, der durch die Kollision traditioneller Gegensätze gekennzeichnet ist: Wissen und Nichtwissen, logos und pathos, Intention und Nichtintendiertes sowie – bei Friedrich Schiller, neben Immanuel Kant die zentrale Referenzfigur Rancières für dieses Regime –, die „doppelte Suspendierung der Aktivität des Verstandes und der Passivität des Sinnlichen“74. Das Ineinanderfallen der Gegenteile ist Rancière zufolge mit einem umfassenderen gesellschaftlichen Kontext verbunden. Nicht nur die Produktion von Kunst wird im ästhetischen Regime von jeder Regelhaftigkeit und Hierarchie ihrer Gegenstände und Gattungen befreit. Indem die Aktivität des Denkens nicht länger einer passiven, sinnlichen Materie und die gemeinschaftliche Choreographie den Körpern eingeprägt werden, sind auch Herrschaft und Knechtschaft, also diejenigen Klassen, die herrschen und diejenigen, die beherrscht werden, in einen neutralen Zustand und in ihre Schwebe versetzt. 69 Georges Canguilhem, Das Experimentieren in der Tierbiologie, in: ders., „Die Erkenntnis des Lebens“, S. 70. 70 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 39. 71 Ebd, ebd. 72 Ebd, ebd. 73 Später werden Kants Theorie des Schönen aus der Kritik der Urteilskraft (Kapitel 5.2.) und Schillers darauf beruhende Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen und das darin ausgeführte Konzept des Spieltriebs (Kapitel 5.1.) einer eingehenden Analyse unterzogen. Deshalb sei an dieser Stelle nur kurz vorweggenommen, dass sich Rancière zwar zentral auf ein heutzutage vielen obsolet erscheinendes ‚idealistisches‘ Denken beruft, es aber in einen direkten Zusammenhang mit der Entregelung einer organischen Hierarchie des Lebendigen stellt, die Ende des 18. Jahrhunderts, nach der Enthauptung des französischen Königs und dem Ende seiner souveränen Macht, einsetzt. Was sich im Schönen letztlich zeigt und was Michel Foucaults Analyse des Aufkommens der Biopolitik zur selben Zeit ebenso entgegensteht wie bis zu einem bestimmten Grad mit ihr koinzidiert, ist eine Erfahrung des Lebens als „unbegrenzte Bestimmbarkeit“, die im ästhetischen Zustand nach Schiller „durchscheint“. – Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart: Reclam, 2000, S. 81. 74 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 39.
146 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Die Herrschaft der ‚Form‘ über die ‚Materie‘ ist die Herrschaft des Staates über die Massen, die Herrschaft der Klasse der Intelligenz über die Klasse der Empfindungen, der Kulturmenschen über die Naturmenschen. Wenn das ästhetische ‚Spiel‘ und der ästhetische ‚Schein‘ eine neue Gemeinschaft begründen, dann deshalb, weil sie die sinnliche Widerlegung dieser Opposition zwischen intelligenter Form und sinnlicher Materie sind, welche wiederum eigentlich der Unterschied zweier Menschheiten ist.“75
Der selbstständige Schein und das freie Spiel der Kunstwerke setzen eine Gleichheit nicht nur ihrer sujets frei, sondern richten sich an niemand bestimmten mehr. Ihre Erfahrbarkeit steht allen offen, und jeder ist eingeladen, an der von ihnen eröffneten Gemeinschaft der Gleichen teilzunehmen. Rancière macht sein zentrales Anliegen an Johan Joachim Winckelmanns Beschreibung des Torsos von Belvedere deutlich. Für ihn stellt diese Statue einen Körper dar, der, weil er keinen Kopf und keine Arme mehr hat, nicht länger der Aufteilung von aktiven und passiven Teilen gehorcht und deshalb kein im Sinne Platons harmonisch gegliederter Organismus mehr ist. An einer Stelle überträgt er das von dem verkrüppelten Torso aufgeworfene Problem sogar direkt auf das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit. „Dies wäre das Prinzip des modernen Tanzes: Den Ausdruck des ‚lebendigen Körpers‘ beiseite schieben, um die Fähigkeiten und Möglichkeiten anderer Körper frei zu setzen, indem man die Bruchlinien zwischen dem funktionalen Körper, dem expressiven und dem unbestimmten Körper erforscht. Der Torso mag aus vollkommen zufälligen Gründen zerstückelt worden sein. Doch was nicht zufällig ist, was einen historischen Wendepunkt markiert, ist die Gleichsetzung des Produkts der Zerstückelung mit der Vollkommenheit der Kunst. […] Das ästhetische Regime beginnt mit der Auflösung der Idee von Perfektion, eine Auflösung, die von Kants Analytik des Schönen in Begriffe gebracht worden ist.“76
Während in der organisch gedachten Gemeinschaft am Kopf des Torsos die herrschende Klasse und die von ihr der passiven Materie eingeschriebene aktive Form und an seinen Armen die Arbeit des rein reproduktiven Lebens der beherrschten Klasse abgelesen werden können, ist Winckelmanns Torso von jeder sozialen Choreographie der Körper im Sinne Andrew Hewitts entbunden. Ohne Gliedmaßen befiehlt er weder eine Handlung noch gehorcht er einem Befehl; weil die Statue ebenfalls kein Gesicht hat, drückt sie auch kein bestimmtes Gefühl aus, und weil sie keinen Mund hat, verkündet sie keine Botschaft.
75 Ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 41 f. 76 Ders., Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268.
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Abbildung 7: Torso von Belvedere
Photo: Jean-Pol Grandmont. Wiki-Commons.
Laut Rancière drückt der Torso deshalb „eine spezifische Schönheit aus, die Schönheit der unmittelbaren Einheit der Gegensätze, jene Schönheit, die entsteht, wenn der uneingeschränkte Ausdruck des Lebens mit der Abwesenheit jeglichen Ausdrucks zusammenfällt.“77 Was ist hier unter ‚Ausdruck des Lebens‘ zu verstehen? In Platons Staat sind die Körper, weil sie auf ihren Plätzen bleiben, bestimmten Fähigkeiten und Aufgaben verschrieben sind und sich ihre Blicke nicht von den 77 Ders., Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 80. In einem Aufsatz mit dem Titel Lebhaft, ohne Ausdruck, den Rancière 2004 für die Pariser Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma verfasst hat, erwähnt er gleich zu Beginn den Satz aus einer Hindemith-Sonate und die Anweisung des Komponisten, seine Partitur „lebhaft, ohne Ausdruck“ zu spielen. – Ders., Und das Kino geht weiter, S. 109. Interessanterweise entdeckt Brian Massumi, aus einer eher deleuzianisch geprägten Perspektive, das gleiche paradoxe Verhältnis zwischen Ausdruck und Ausdruckslosigkeit und die unbestimmte Zone dazwischen, wenn er sich mit Walter Benjamins Überlegungen zum Schönen befasst: „Life again unlimited, its semblance no longer under sentence to express a general truth or personal feeling. Art at the highest degree of the ‚expressionless‘. Bare activity of expression. […] A smallest totality, explosively produced: a totally singular dynamic unity. Benjamin’s ‚expressionless‘ is what was here called ‚pure expression‘: an intensity expressing an experiential event that is wholly and only its own self-floating occurence.“ – Brian Massumi, Semblance and Event, Massachusetts: MIT Press, 2011, S. 222.
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Tätigkeiten, die ihre Arme ausführen, loslösen können, in ihrer harmonischgeometrisch gedachten Gesamtheit der Ausdruck einer einzigen, vollends bestimmten Idee des Lebens. Diese fixe Form eines einheitlich gedachten Lebens ist die Menge aller aktiven Formen, die dort der passiven Materie und den Körpern eingraviert sind. Sie wird nach Rancière in Winckelmanns Torso ausgesetzt. Der uneingeschränkte Ausdruck des Lebens kann in ihm mit der Abwesenheit jeglichen Ausdrucks zusammenfallen, weil er nichts Bestimmtes ausdrückt. Sein Inhalt und damit das Leben sind bestimmbar, darin der Gemeinschaft gleich, für die er steht. In dem vom ausdruckslosen Ausdruck freigesetzten Sensorium manifestiert sich „der Bruch mit dem Schema der Adäquatheit, dem gemäß die Verteilung der Lebensverhältnisse oder Betätigungen genau der Körper-Verteilung und der Verteilung der körperlichen Ausstattung, die diesen Verhältnissen und Betätigungen angepasst sind, entspricht.“78 Was mit dem Schema der Adäquatheit nicht mehr gegeben ist, ist das Gemeinsame der Gemeinschaft. Deshalb begründet die Statue einen Dissens im Herzen des ästhetischen Regimes. In Das Unbehagen in der Ästhetik spricht Rancière von der grundlegenden Konfusion, die diesen Dissens bildet: Einerseits ist das ästhetische Sensorium vom Alltagssensorium abgesondert, andererseits können seine Grenzen auch nicht mehr klar gezogen werden. Es ist zugleich heteronom und autonom. Es verspricht eine Gemeinschaft, die keiner bestimmten Anordnung von Körpern im Raum entspricht und deren Tätigkeiten nicht mehr voneinander getrennt sind, kann dieses Versprechen aber nur aufgrund seiner Trennung gegenüber jeder verkörperten Gemeinschaft geben. Im ästhetischen Sensorium sind deshalb zwei Gemeinschaften miteinander verknotet. Eine der aufgeteilten und voneinander getrennten Körper und eine Gemeinschaft, in der alles seine gleiche Gültigkeit gegenüber allem anderen geltend macht. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie sich dieser Knoten zwar lösen lässt, damit aber auch der ästhetische Zustand als solcher abgeschafft würde. Entweder wird Kunst im ästhetischen Regime in neue Lebensformen hineingetrieben, ihre Konfusion also in Richtung der Heteronomie aufgelöst, oder sie schottet sich als autonome unbedingt vom Alltagssensorium ab, indem sie reine Negation jeder Form des Lebens bleibt. „Die erste identifiziert die Formen der ästhetischen Erfahrung mit den Formen eines anderen Lebens. Sie verleiht der Kunst die Zweckmäßigkeit des Aufbaus neuer Formen gemeinsamen Lebens, folglich ihre Selbstabschaffung als getrennte Wirklichkeit. Die andere umgrenzt hingegen das politische Versprechen der ästhetischen Erfahrung gerade in der Trennung der Kunst, in dem Widerstand ihrer Form gegen jede Umwandlung in eine Form des Lebens.“79
78 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 81. 79 Ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 55.
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Im ersten Fall wird das vom Kunstwerk versprochene Leben realisiert und das ästhetische Sensorium als vom Alltagssensorium getrenntes in einem neuen ethos aufgelöst, im zweiten ist das Versprechen selbst und mit ihm jede nur mögliche Emanzipation untersagt, womit das autonome Werk eine unmögliche Lebensform begründet. Was derart im ästhetischen Regime der Kunst auf dem Spiel steht, ist eine sowohl von ihrer einseitigen Bestimmung durch intelligible Formen als auch durch bloße Materie losgelöste Lebendigkeit vermögender Körper, ein singuläres Leben, das sich im Kunstwerk als sein emanzipatorisches Versprechen zeigt.80 Als solches ist es nicht einfach nur Utopie, sondern verändert die Schemata, in denen das Sensorische erscheint, indem es eine Genese in die Aufteilung des Sinnlichen einführt. Leben kann dann nicht mehr einfach vermittels vorgegebener Regeln dargestellt werden. Der aristotelischen Äquivalenz zwischen posis und aísthesis setzt Rancières ästhetisches Regime ein „Vermögen des Tuns“81 entgegen, dessen qualitative Transformationskraft er anhand der Figur des Genies bei Kant beschreibt. „Das Werk hat sein eigenes Produktionsgesetz und ist selber sein Beweis. Aber gleichzeitig wird die bedingungslose Produktion mit einer absoluten Passivität gleichgesetzt. Das kantsche Genie fasst diese Dualität zusammen. Es ist die aktive Macht der Natur, die ihr eigenes Vermögen jeder Norm und jedem Modell entgegensetzt oder vielmehr selber zur Norm wird. Und zugleich ist das Genie jemand, der nicht weiß, was er tut, und der unfähig ist, sich darüber Rechenschaft abzulegen.“82
Wird das Vermögen der Körper ausgespielt, hat dies auch weitreichende Konsequenzen für ihr Verhältnis zueinander und zu choreographischen Poetiken, die im ethischen und im poetischen/repräsentativen Regime noch mit einem souveränen Raum korrelieren. Jede Form souveräner Macht über die Körper wird brüchig, weil aus ihrer verlorenen natürlichen Ordnung resultiert, dass sie an keine Orte und Funktionen mehr gebunden sind. Johann Frederik Hartle macht dies in Bezug auf Schillers Beschreibung des Kopfes der Juno Ludovisi deutlich. „So wie die unwillkürlichen Atome der griechischen Statue zu sprechender Materie werden, so werden es jenseits eines Souveränitätsparadigmas auch die sozialen Atome, die keiner ein80 Dieses Moment gesteht der Ästhetik aus marxistischer Perspektive auch Terry Eagleton zu: „Yet if the aesthetic thus suggests the form of a wholly different social order, its actual content, as we have seen, would seem no more than an indeterminate negation, brimming with nothing but its own inexpressible potential.“ – Eagleton, The Ideology of the Aesthetic, S. 111. 81 Rancière, Das ästhetische Unbewußte, S. 20. 82 Ebd., ebd. Zur Deklination des Genies im Femininum vgl. Jacques Derrida, Genesen, Genealogien, Genres und das Genie – Das Geheimnis des Archivs, Wien: Passagen, 2006.
150 | V ERMÖGENDE K ÖRPER deutig politisch semantischen Logik gehorchen. Politisch bedeutet das nicht weniger, als dass der Lärm (oder das Schweigen) unqualifizierter politischer Rede in das Feld der legitimen Artikulation eintritt.“83
Alles und jeder wird, wie Hartle es formuliert, „potentiell intelligibel“84 und das Souveränitätsparadigma aufgelöst, weil die „Trennung von Aktivität und Passivität, von Kopf und Hand“85 nicht mehr greifen kann. Anhand der „literarischen Entkörperung“86 demonstriert Rancière eine wichtige Konsequenz hieraus für das Leben im Sinne einer gemeinschaftlichen Form von Körpern. „Der Mensch ist ein politisches Tier, weil er ein literarisches Tier ist, das sich durch die Macht der Worte von seiner natürlichen Bestimmung ablenken lässt. Diese Literarizität ist gleichzeitig Ursache und Wirkung der Zirkulation von im ‚wortwörtlichen Sinne‘ literarischen Aussagen. Aber diese Aussagen besetzen die Körper und lenken sie in dem Maße von ihrer Bestimmung ab, in dem sie selbst keine Körper – im Sinne von Organismen –, sondern Quasi-Körper – Wortblöcke – sind, die ohne einen legitimen Vater, der sie bis zu einem adäquaten Adressaten begleiten würde, zirkulieren. Sie stellen auch keine Kollektivkörper her, vielmehr versehen sie die imaginären Kollektivkörper mit Bruchlinien, Linien der ‚Entkörperung‘.“87
Während sich die Körper sowohl im ethischen als auch im poetischen/repräsentativen Regime mit ihren Positionen innerhalb eines bereits konstituierten Ganzen identifizieren, setzen im ästhetischen Regime multiple ‚Entkörperungen‘ des ethos ein. Wichtig dabei ist der Gegensatz zwischen Identifikation und Subjektivierung. Rancière unterscheidet zwischen politischem Unvernehmen und literarischem Missverständnis. Zwar bezeichnen beide die Zersetzung des organisch gedachten Kollektivkörpers, während politisches Unvernehmen aber mit Gruppenprozessen zusammenhängt, meint das literarische Missverständnis einen ästhetischen Zustand des einzelnen Körpers, der zwar Entfernungen von den alltäglichen Plätzen, Beschäftigungen und Funktionen motiviert, aber nicht unbedingt mit ihnen einhergehen muss. Die Politik der Kunst ist nicht intendier- bzw. steuerbar und besteht zunächst nur in einer Neuanordnung von Subjektivität.
83 Johan Frederik Hartle, Die Trägheit der Juno Ludovisi, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 256. 84 Ebd., S. 255. 85 Ebd., S. 257. 86 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 63. 87 Ebd., S. 62 f.
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„The politics of literature, or the politics of art, is not aimed at the constitution of political subjects. It is much more oriented at the reframing of the field of subjectivity as an impersonal field. In a certain way, the political interpretation of the uncanny in terms of effects is always a kind of negotiation. Art is going elsewhere. And politics has to catch it. The problem is not what artists have to do to become political; the question has to be reversed: what do political subjects have to do with art?“88
Politisches Unvernehmen hat immer mit Gruppenprozessen zu tun, die Rancière am Motiv der Plebejer festmacht, die den Patriziern zeigen, dass auch sie sprechende Wesen sind. In beiden Fällen geht es um die „Demonstration eines Abstands des Sinnlichen zu sich selbst“89, welche die Zählung und Verrechnung bloßstellt, auf der jedes ethos als Aufenthalt und Seinsweise der Körper und die Verteilung des logos zwischen ihnen beruhen. Obwohl literarische Missverständnisse nicht unbedingt zu kollektiven Subjektivierungen führen, haben sie mit ihnen gemeinsam, einen Abstand zwischen den Körpern, ihren Wörtern und den Dingen herauszufordern. In ihnen äußert sich, darin sind sie kollektiven Subjektivierungen verwandt, der Streit über eine Zählung der Körper und Wörter, ein Rechenfehler, der in einer gegenteiligen Auffassung vom Ganzen und darin besteht, ihm ein anderes, mit ihm unvereinbares Ganzes gegenüberzustellen: „Es genügt nicht mehr zu sagen, dass es ein Missverständnis einfach deshalb gibt, weil einer der Partner die Haltungen oder die Worte des anderen schlecht deutet. Das Missverständnis besteht zwischen dem Fleisch zweier Körper.“90 Literarische Missverständnisse entstehen, weil sich das Ganze im ästhetischen Regime nicht mehr als organische Einheit denken lässt, sondern entkörpert wird und sich so die Hierarchisierung des Lebendigen auflöst. Im ästhetischen Regime hat man es mit einem „Überschuss im Verhältnis der Körper zu den Wörtern“91 zu tun, der nicht statistisch ist, sondern die zerbrochene Harmonie zwischen der „Zählung der Körper und de[n] Zählungen der Wörter und Bedeutungen“92 meint. „Der literarische Dissens arbeitet mit den Maßstabsveränderungen und der Natur der Individualitäten, mit der Dekonstruktion der Beziehungen zwischen den Zuständen der Dinge und den Bedeutungen. Dadurch unterscheidet er sich von der Arbeit der politischen Subjektivierung, die mit Worten neue Kollektive gestaltet.“93
88 Dasgupta, Art is going elsewhere, S. 75. 89 Rancière, Zehn Thesen zur Politik, S. 35. 90 Ders., Politik der Literatur, Wien: Passagen, 2008, S. 48. 91 Ebd., S. 57. 92 Ebd., ebd. 93 Ebd., S. 59 f.
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Bezogen auf Tanz als Tätigkeitsform lässt sich anstatt von literarischen Missverständnissen von choreographischen Fehlschritten sprechen. Im Gegensatz zu dem Arbeaus Orchésographie zugrundeliegenden ethos, das eng mit dem Einhalten von Schritten und Positionen im Raum und mit der Vorstellung eines Bildes der guten choreographischen Gemeinschaft zusammenhängt, öffnet sich Choreographie mit dem ästhetischen Regime gegenüber dem Raum außerhalb des bereits arithmetisch bestimmten Raumes, der Vielzahl lebendiger Körper außerhalb des einen, bereits festgelegten und gezählten Lebens. Dabei steht die Praxis der Choreographie vor drei Alternativen: An zwei extremen Polen identifiziert sie sich entweder auf heteronome Weise mit einer neuen ethischen Lebensform, die sie zu realisieren versucht (was im Falle des biopolitischen Umschlags der Ästhetik geschieht) oder sie zieht sich als autonome und erhabene Form vollends in sich zurück.94 Dazwischen spielt sie, im Bereich der Ästhetik, wenn sie die Spannung zwischen ihrer heteronomen und ihrer autonomen Tendenz bewahrt und zu keine Seite hin auflöst, das Vermögen der Körper innerhalb einer lebendigen und offen bleibenden Praxis aus. Lässt Ästhetik die gemeinsame Lebensform der Körper als unbestimmte Form in der Schwebe, macht sie, wie im Folgenden anhand von Jérôme Bels Stück Véronique Doisneau gezeigt sei, auf ihre Weise Politik: „Die Politik hat keinen ihr eigenen Gegenstand, aber ihr Einsatz ist die Verifikation von Gleichheit“95, bemerkt Rancière. Das bedeutet für die choreographischen Fehlschritte, dass sie Choreographie als feststehendes Regelwerk perforieren und die Körper nicht nur von ihren Positionen und Funktionen entfernen, sondern auch ihr Verhältnis untereinander aufs Spiel setzen. „Eine ästhetische Gemeinschaft meint zunächst eine dissensuelle Gemeinschaft, d.h. ein Beziehungsnetz, das von einer Trennung zwischen Sinn und Sinnen strukturiert wird. Diese Trennung besteht wiederum aus drei Trennungen: eine Trennung zwischen den Beziehungen, aus denen das Werk besteht, und den sozialen Beziehungen, die seine Herstellungsbedingun-
94 Es wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung, dieses Oszillieren zwischen Heteronomie und Autonomie im sogenannten zeitgenössischen Tanz zu untersuchen. Was die autonome Tendenz betrifft, sei bsp. auf die manieristischen Choreographien von V.A. Wölfl oder auch die jüngeren Arbeiten von William Forsythe, u.a. Heterotopia (2007), verwiesen. Viele der Choreographen, deren Karriere in den 1990er Jahren begann, beschäftigen sich eher mit dem emanzipatorischen Potential der Choreographie, und es macht nicht nur aus polemischen Gründen Sinn, manche ihrer Arbeiten ‚schön‘ zu nennen, vielleicht als Antwort auf die eher ‚erhabenen‘ 1980er Jahre. 95 Vgl. Rancière, Das Unvernehmen, S. 43.
D REI R EGIME BEI J ACQUES R ANCIÈRE | 153
gen ausmachen, eine weitere Trennung in der Textur des Werks und zuletzt eine Trennung der Zeiten.“96
Es gibt keine Poetiken, entlang derer sich ästhetische Gemeinschaften des Dissenses herausbilden würden. Ihnen ist aber gemeinsam, sich um Werke zu versammeln, die den ästhetischen Knoten, aus dem sie gestrickt sind, weder zur Seite neuer ethischer Lebensformen noch zur Seite einer in sich abgeschotteten, erhabenen Erfahrung auflösen. Zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit spielt sich ein Streit darüber ab, was Choreographie und Tanz überhaupt sind. Gemeinschaften des Dissenses bringen ein emanzipatives Potential auf die Bühne, weil sie das Vermögen der Körper provozieren, ihre Aufgaben und Plätze verlassen, ihre Beschäftigungen und Funktionen überschreiten und aus dem Bild des einen, einheitlichen Lebens heraustreten zu können als lebendige Körper. In ihnen geht es um Körper ohne Orte und ohne Bestimmung.
96 Ders., Bild, Beziehung, Handlung: Fragen zu den Politiken der Kunst, in: Michaela Ott/Harald Strauß (Hrsg.), „Ästhetik und Politik. Neuaufteilungen des Sinnlichen in der Kunst“, Hamburg: textem, 2008, S. 36.
Parabel II: Jérôme Bels Véronique Doisneau „Spuren des Diskurses von oben oder Echos der Stimmen von unten zeigen den Punkt an, von dem aus ein kritischer Diskurs befragt werden kann: denjenigen, an dem die Redeeinsätze die Machteinsätze sind.“
1
JACQUES RANCIÈRE/WIDER DEN AKADEMISCHEN MARXISMUS
Dem französischen Choreographen Jérôme Bel, der seit den 1990er Jahren durch Stücke wie Nom donne par l’auteur (1994), Jérôme Bel (1995), Shirtology (1997), The last performance (1998), Xavier le Roy (2000) und The show must go on (2001) u.a. neben Xavier le Roy zu einem der seinerzeit wohl einflussreichsten und wichtigsten Vertreter dessen aufsteigen konnte, was heute zeitgenössischer Tanz genannt wird, gelingt es in seinem Stück Véronique Doisneau aus dem Jahre 2004, innerhalb des institutionalisierten Balletts eine dissensuelle Gemeinschaft der Trennung im Sinne Rancières zu produzieren. Dies geschieht, indem sich seine Kollaborateurin im Verlauf der Aufführung von ihrer Position und ihren Funktionen innerhalb der Pariser Oper distanziert. Dabei kommt das im vorangegangenen Kapitel skizzierte Spannungsfeld zwischen (ethischer) Identifizierung und (ästhetischer) Subjektivierung ins Spiel, wobei Doisneau nicht nur einen Abstand zwischen sich und dem Feld erzeugt, in dem sie interveniert, sondern auch zwischen den Zuschauern und der Institution des Theaters insgesamt. Wenn Rancière in einem 1975 in der deutschen Übersetzung im Merve-Verlag unter dem Titel Wider den akademischen Marxismus erschienen Text noch ein „angehaltenes Fließband, eine verspottete Autorität, ein zerstörtes System der Aufteilung verschiedener Arbeitsfunk-
1
Ders., Wider den akademischen Marxismus, Berlin: Merve, 1975, S. 60.
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tionen“2 herbeiwünscht als Folge von 1968, dann hält Bel 2004 auf besondere Weise das Fließband des Balletts an und entfernt dessen Körper von ihrer Anordnung in bestimmten choreographischen Formen. Derart konfrontiert er sie mit der rigiden Realität des institutionalisierten Balletts – mit seiner hierarchischen Beschaffenheit ebenso wie mit den ihm inhärenten Ausschlussmechanismen. Dabei wird deutlich, dass es unzählige Körper hinter dem nur scheinbar einheitlichen Ballettkörper gibt, die in Erscheinung treten, wenn er nicht länger einem funktionalen Modell und einer definitiven Ausdruckspallette gehorcht, weil er sich vermittels einer offenen Praxis subjektiviert, anstatt sich mit einem bestimmten Körper zu identifizieren. Nachdem sich der eiserne Vorhang vor den zahlreichen Rängen im großen Saal der Opéra National de Paris3 geöffnet hat, betritt eine einzelne Tänzerin den leeren Bühnenraum. Ballettschuhe und Tutu trägt sie unterm Arm, eine Wasserflasche hält sie in der anderen Hand. Ihre Haare sind jedoch geschlossen und zusammengesteckt, fast, als würde sie wie eine anständige Ballerina auf einen wichtigen Tanzabend vorbereitetet sein. Trotzdem kündigt sich an diesem Punkt schon an, was später expliziter werden soll: Die Sichtbarmachung dessen, worin ethische Identifizierungen begründet sind, nämlich in einer „Aufteilung der Beschäftigungen, auf der die Verteilung der Bereiche beruht, in denen bestimmte Handlungen möglich sind“4. Doisneau trägt abgehärtete Spitzenschuhe und wünscht den zahlreichen Zuschauern zunächst einen schönen Abend. Unter ihnen sind wohl nicht ganz so viele, die gekommen sind, weil ihnen Jérôme Bel als zeitgenössischer Choreograph der 1990er-Generation ein geläufiger Name ist – und die dieses Haus ansonsten wohl eher nicht betreten hätten – wie Stammgäste, die es gewohnt sind, hier romantische Handlungsballette in großer Besetzung zu sehen. Die Frau auf der Bühne stellt sich als Véronique Doisneau vor. Sie sei verheiratet und habe zwei Kinder, eines von ihnen sechs, das andere zwölf Jahre alt. Sie selbst sei 42. Der erste Moment großer Verwunderung kommt auf, wenn sie bemerkt, Spitzenschuhe und Tutu noch immer unterm Arm, dieser Abend sei ihr letzter Auftritt an der Pariser Oper. Die anschließende Pause nutzt sie, um ihren Blick über die zahlreichen Ränge des dunklen Halbrunds vor ihr schweifen zu lassen und darauf hinzuweisen, dass diejenigen, die weiter weg säßen, oft den Eindruck hätten, sie sähe aus wie die französische Schauspielerin Isabelle Huppert. Jetzt geht sie, den Blick noch immer suchend auf den geräumigen Zuschauersaal vor ihr gerichtet, einige Schritte rückwärts und sagt, dass, als sie 20 Jahre alt gewesen sei, sie sich einer Wirbelsäulenoperation unterzogen habe, in deren Verlauf der beschädigte Wir2
Ebd., S. 10.
3
Ich beziehe mich hierbei auf einen Mitschnitt der Aufführung in der Opéra National de Paris, dessen erster Teil eines insgesamt vierteiligen Videostreams zu finden ist auf http://www.youtube.com/watch?v=OIuWY5PInFs. – Zugriff am 12.3.2010.
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Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 67 f.
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bel entfernt worden wäre. Deshalb hätte sie seitdem eigentlich nie wieder tanzen sollen. Wieder macht sie eine Pause. Sie erklärt, dass sie innerhalb der Hierarchie der Pariser Oper ein Sujet sei, also sowohl im corps de ballet als auch Solistenrollen tanzen könne. Sie verdiene ungefähr 3.600 Euro im Monat, was umgerechnet rund 23.000 Francs ergäbe. Trotzdem sei sie kein Star geworden, dieser Wunsch wäre nie in ihr aufgekommen. Dafür sei sie nicht talentiert genug und physisch zu fragil. Während ihre Aufgabe innerhalb des corps de ballet darin besteht, peripherer Teil der chorischen Gesamtanordnung zu werden und darin zu verschwinden, tritt sie als Solistin aus der Menge der Körper heraus. Die Pariser Oper kennt innerhalb der streng hierarchischen Ordnung der Tänzer neben den sujets noch quadrilles und coryphées, denen es beiden vergönnt ist, aus dem Ensemble hervorgehoben zu werden. Der Begriff Sujet konnotiert außerdem, wenn Doisneau ihn in einem Stück von Bel verwendet, den des ‚Subjekts‘ im Sinne ideologiekritischer Diskurse, etwa desjenigen Louis Althusssers. In Ideologie und ideologische Staatsapparate definiert Althusser Ideologie als „das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“5 – in die Terminologie Rancières übersetzt also als ethos im Sinne einer Seinsweise und einer Okkupierung identitärer Positionen durch die Körper darin – und widmet sich deren Konsequenzen für die seiner Ansicht nach ideologische Idee des Subjekts. „Diese Erkenntnis aber muß man erreichen, wenn man – obwohl man in der Ideologie und aus der Ideologie heraus spricht – einen Diskurs entwerfen will, der mit der Ideologie zu brechen versucht und riskiert, der Beginn eines wissenschaftlichen Diskurses (ohne Subjekt) über die Ideologie zu sein.“6
Doisneau dagegen hat bisher gerade als Subjekt, auch in diesem Sinne, gesprochen und wird es weiterhin tun. Trotzdem etabliert sie einen Abstand zwischen sich und dem streng hierarchischen System der Pariser Oper und ihren Aufgaben innerhalb des corps de ballet, indem sie die Althussersche Trennung zwischen Ideologie und Wissenschaft aufhebt, weil sie sich subjektiviert und so von einer bestimmten Identität loslöst. Als Privatperson nutzt sie den öffentlichen Raum der Bühne. Jedoch nicht, um Privates in ihm auszustellen, sondern um die Grenze zwischen dem, was hier möglich und dem, was unmöglich ist bzw. das, was zuallererst als Privates vom Öffentlichen unterschieden wird, ihre eigene Arbeit und deren Situiertheit innerhalb einer Aufteilung des Sinnlichen nämlich, die hinter den von ihr erwarteten, imaginären Ballettkörpern steht, vor den Augen der Zuschauer zu verhandeln.
5
Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg/Westberlin: Ver-
6
Ebd., S. 142.
lag für das Studium der Arbeiterbewegung, 1977, S. 133.
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Abbildung 8: Jérôme Bels Véronique Doisneau (2004)
Photo: Icare.
Als Sujet ergreift sie das Wort und trennt die im Saal der Pariser Oper versammelte Gemeinschaft von sich selbst, indem sie egalitäre Subjektivierungen provoziert. Insofern beweist sie, dass keine wissenschaftliche Erkenntnis im Sinne Althussers nötig ist, um Emanzipationsprozesse in Gang zu setzen, sondern dass auch sie als ‚interpelliertes‘ Subjekt innerhalb des institutionalisierten Balletts es vermag, ihre Position, die der Zuschauer und daher das Verhältnis zwischen sich und ihnen aufzubrechen. Im Verlauf des Stücks rückt nachdrücklich die Frage in den Vordergrund, wo die Grenze zwischen ‚imaginären Verhältnissen‘ und ‚realen Existenzbedingungen‘ verläuft, denn Fiktionen sind während der folgenden Stunde nicht einfach von Fakten zu unterscheiden: Ein Umstand, mit dem Doisneau permanent ringt, weil sie keine ideologische Struktur ‚hinter‘ dem System des Balletts kritisiert. Vielmehr sucht sie sich andere Plätze in ihm und entspricht nicht dem Platz, der ihr darin eigentlich zugewiesen wurde. Indem sich ihr Sprechen zwischen den Plätzen bewegt, erzeugt sie Bruchlinien innerhalb des Balletts und öffnet seine Körper gegenüber einer Vielzahl weiterer Körper, die normalerweise von ihm ausgeschlossen werden. Ein Treffen mit Rudolph Nurejew, einem der erfolgreichsten Tänzer des klassischen Balletts, sei fundamental für sie gewesen. Er hätte alles verstanden und die Idee hinterlassen, allein durch die Beherrschung der Sprache des Tanzes könne Emotion entstehen. Vor allem hätte er den Sinn von Bewegung zu respektieren gelehrt und gewollt, sie nicht nur zu interpretieren. Nebenbei liebe sie es, die zweite Variation des pas de trois de sombre im dritten Akt von Marius Petipas Bayadère
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zu tanzen. Kaum hat sie das gestanden, stellt sie Tutu und Wasserflasche auf dem Boden ab, begibt sich in den hinteren Teil der Bühne und tanzt ihren eben angekündigten Part eines pas de trois. Weil sie allein ist und die beiden anderen Körper, die eigentlich hinzukommen müssten, fehlen, wird ihr Part an investierter Arbeit innerhalb des teils abwesenden Arrangements umso sichtbarer. Als einzige auf der Bühne geht Doisneau durch alle Figuren und Schritte hindurch und summt leise, obgleich verstärkt durch einen Mikroport, die dazugehörige Melodie mit überakzentuiertem Rhythmus vor sich hin, als müsse sie ihre Bewegungen noch einstudieren und an der musikalischen Partitur ausrichten. Während der Aufführung in der Opéra National de Paris gibt es vom begeisterten Stammpublikum sofortigen Szenenapplaus, nach dessen Verklingen sie sich an der Bühnenrampe positioniert. Sie ist körperlich erschöpft und außer Atem. Über die Lautsprecher hört man ihre Erschöpfung, deshalb stützt sie sich kurz auf ihren Knien ab und nimmt einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Dann sagt sie, die Ballette, die sie immer bevorzugt getanzt hätte, wären die der Choreographen Marius Petipa, George Balanchine, Rudolph Nurejew und Jerome Robbins gewesen. Diejenigen, die sie am unliebsten interpretiert hätte, wären diejenigen von Maurice Bejart und Roland Petit. Wieder macht sie eine längere Pause, in der sie ihren Blick durch das Publikum schweifen lässt, um anschließend festzustellen, dass sie auch von Merce Cunningham gelernt habe, nämlich in Stille zu tanzen und dabei aufmerksam gegenüber den Rhythmen anderer Tänzer zu sein. Sie werde jetzt eine Szene aus seinem Stück Points in Space zeigen. Sie zieht ihre Spitzenschuhe aus und wechselt sie gegen die bequemeren, weicheren Ballettschuhe, um anschließend die Bühne zunächst zu verlassen. Als sie zurückkehrt, entsteht der Eindruck, sie habe auch ihren Körper gewechselt, unterscheidet sich Cunninghams Handschrift doch sehr von dem, was sie zuvor präsentiert hat. Bestimmte ihr Teil des pas de trois aus Bayadère ihren Körper noch als einen für das klassische Ballett typisch nach oben ausgerichteten, in sich ruhenden und den Raum nach Prinzipien der euklidischen Geometrie harmonisch umfassenden, so wirkt er jetzt fragmentiert und multidimensional gerichtet, wie zuvor jedoch technisch und stilistisch eindeutig reguliert. Typisch für die Experimente mit anderen Raum- und Zeitstrukturen, die Cunningham, gemeinsam mit dem Komponisten John Cage, während der 1960er und 1970er Jahre durchgeführt hatte, zeigt der Ausschnitt aus Points in Space einen für die zentral strukturierte Guckkastenarchitektur der Pariser Oper sehr ungewöhnlich aufgeteilten Körper in einem durch seine Bewegungen ebenso ungewöhnlich aufgeteilten Raum. Aufgrund der Diskrepanz zwischen körperlicher und räumlicher Beschaffenheit verändert sich an dieser Stelle auch der Modus des Zusammenseins von Doisneau und den Zuschauern. Ihr Tanz tritt nicht nur wie zuvor als an bestimmten Formen ausgerichtete Tätigkeit in Erscheinung, sondern wird erfahrbar
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als Arbeit und als künstlerische Praxis im Sinne Rancières, die „nicht das Außen der Arbeit, sondern deren ‚deplazierte‘ Form der Sichtbarkeit“7 ist. Ihre Bewegung ist jetzt nicht mehr, wie noch die aus Petipas Bayadère, kontinuierlich und fließend strukturiert, sondern in ihrer Qualität abgehackt und unterbrochen. Immer wieder stoppt sie einen bestimmten Impuls, teilweise sogar mitten in einer Drehung, um ihm eine andere, unvorhersehbare Wendung zu geben. Ihr Torso dient nicht mehr als vertikale Achse, sondern knickt ständig zur Seite hin weg. Diesmal ist es ganz still im Saal, Doisneau begleitet ihren Tanz nicht durch eine mitgesummte Melodie. Aber wenn am Ende des Solos das Licht ausgeht, gibt es wieder Applaus, der jedoch kürzer und verhaltener ausfällt als der nach dem Ausschnitt der Choreographie von Marius Petipa. Sie wechselt erneut ihre Schuhe. Wieder ist ihr schwerer Atem aufgrund der Verstärkung durch das Mikroport im ganzen Saal zu hören. Sie hätte wirklich gerne Männerrollen getanzt, zum Beispiel die des Abderame in Raymonda oder die Rolle des Melancholischen in Balanchines Four Temperaments. Aber ihr größter Traum wäre es immer gewesen, Giselle zu verkörpern. Nachdem sie das zugegeben hat, steht sie auf und zieht sich ein Tutu an, das bis dahin neben der Wasserflasche auf dem Boden lag. Erneut verlässt sie die Bühne, und man hört nur noch ihre Stimme, die leise die Melodie des romantischen Balletts aus dem 19. Jahrhunderts summt. Eine Mischung aus Melancholie und Freude ist daraus zu entnehmen. Sie kommt auf die Bühne zurück, nun ganz in Weiß und als Giselle, in deren Rolle sie geschlüpft ist. Sie tanzt eine Weile ihren Part eines Duetts, bevor sie darauf hinweist, dass hierzu eigentlich ein Partner gehöre. An einer späteren Stelle wird sie unterstreichen, dass sie jetzt gehoben werden müsse. Als sie am Ende des Auszugs aus Giselle den Saal verlässt und das Licht kurz dunkel wird, schallt der Applaus des Pariser Publikums dröhnend. Viele der Zuschauer sind begeistert, weil sie eine gute Giselle gegeben hat. Sie kehrt zurück zur Bühnenrampe und erzählt, dass sie immer von großen Ballerinen inspiriert worden sei: Yvette Chauviré (Frankreichs wohl berühmteste Ballerina, die eine Zeit lang auch die Leitung der Pariser Oper innehatte und Coach von Sylvie Guillem war), Natalia Makarova (die sowohl im American Ballet Theatre in New York als auch im Royal Ballet in London als Solistin gearbeitet hatte) und Dominique Khalfouni (bevor sie u.a. für Roland Petit und Mikhail Baryshnikov tanzte, hatte sie ihre Ausbildung an der Ballettschule der Pariser Oper absolviert). Heute bewundere sie Céline Talon. Sie finde sie erhaben in der Giselle-Inszenierung von Mats Ek. Kaum hat sie ihre Bewunderung gestanden, setzt sie sich, mit dem Rücken zum Publikum gewandt und im entspannten Schneidersitz, nahe der Bühnenrampe auf den Boden. Das Licht geht aus, und eine zweite Tänzerin – Céline Talon? Niemand kann das zunächst wissen – betritt die Bühne, in ein den 7
Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 67.
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Stücken Mats Eks eigenes, legeres Kostüm gekleidet, um ein Solo der Giselle des schwedischen Choreographen zu präsentieren. Das Publikum sieht beide Frauen gleichzeitig: Véronique Doisneau, die ebenso wie es selbst der anderen zusieht und die Unbekannte, die, auch wenn es noch so unwahrscheinlich ist, Céline Talon sein könnte. Es entsteht der Eindruck, Doisneau träume davon, einem Tanz zuschauen und an dem teilhaben zu dürfen, was ihr Tanzen als Arbeit für die Zuschauer produziert. Jetzt sieht sie von außen, was sie ansonsten für den Blick anderer verkörpern soll: Einen Körper, der gleichzeitig rezipiert und als Tätigkeit produziert wird. Unabhängig von ihrem Wunsch, die Giselle tanzen zu wollen, ist sie in diesem Moment ihrerseits Zuschauerin, wie jeder im Publikum mit ihren eigenen Augen. Dadurch bekräftigt sie eine ihr und dem Publikum gemeinsame Erfahrung, aber nur, weil die andere Tänzerin im Hintergrund stellvertretend für sie arbeitet und ihr den freien Blick auf etwas ermöglicht, das ansonsten sie zur Schau stellen würde. Sie subjektiviert sich auf einen potentiellen Körper hin, ohne sich dabei mit ihm zu identifizieren. Somit tritt ein dem Zuschauen eigenes, emanzipatives Vermögen in den Vordergrund, welches Rancière bereits den Arbeitern des 19. Jahrhunderts bescheinigt. „Indem sie sich zu Zuschauern und Besuchern machten, erschütterten sie die Aufteilung des Sinnlichen, die verlangt, dass diejenigen, die arbeiten, nicht die Zeit haben, ihre Schritte und Tritte vom Zufall lenken zu lassen, und dass die Glieder eines Kollektivkörpers keine Zeit haben, sich Formen und Abzeichen der Individualität zu widmen. Das bedeutet das Wort Emanzipation: das Verwischen der Grenze zwischen denen, die handeln, und denen, die zusehen, zwischen Individuen und Gliedern eines Kollektivkörpers.“8
War Doisneau, während sie vor den Augen anderer tanzte, diejenige, die ihre Blicke auf sich richtete und für kurze Zeit um etwas versammelte, das durch ihren Tanz hergestellt wurde, zeigt sich nun, dass Mats Eks Giselle nicht nur ein imaginärer Körper ist, den sie sich wünscht und den sie für die Zuschauer verkörpern könnte, sondern zunächst das Produkt der Arbeit eines anderen. Es bleibt offen, was dieser Körper letztlich ausdrückt: Indem die Zuschauer Doisneau zuschauen sehen, sehen sie in ihr zugleich auch ihr eigenes Zuschauen und entfernen sich so von ihrer herkömmlichen Position innerhalb der Institution des Theaters. Insofern verläuft keine stabile Grenze zwischen den ‚imaginären Verhältnissen‘ und den ‚materiellen Produktionsbedingungen‘ Althussers, sondern beide werden zum Gegenstand einer dissensuellen Trennung. Verschoben wird dadurch eine bestimmte Verteilung der Orte, der Blicke, der Reden, des Wünschens und der Macht, eine Arbeitsteilung im Sinne Rancières, denn „dadurch, daß die Arbeiter wieder an8
Ders., Der emanzipierte Zuschauer, in: ebd., Wien: Passagen, 2009, S. 30.
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fangen, die Rede an ihre Repräsentanten zu richten“9, demonstrieren sie eine prinzipielle Gleichheit zwischen sich und denen, die ihnen ihre Aufgaben und Plätze innerhalb des Balletts zuweisen. Transformiert wird also eine Arbeitsteilung zwischen Doisneau als Sujet der Pariser Oper und denen, die sich in ihr als bürgerliches Publikum versammeln. In diesem Moment, weil ihr Körper nicht mehr der tänzerischen Arbeit unterworfen ist, sondern selbst zuschaut, wirkt sie, diejenige, deren tänzerische Tätigkeit ansonsten darin besteht, anderen das Zuschauen möglich zu machen, als wäre sie nicht nur Produzent, sondern auch Adressat dessen, was es auf der Bühne zu sehen gibt. Es scheint, als würde der weder nur faktische noch einfach fiktive Körper Céline Talons auch Doisneaus eigener, potentieller, aber nicht verwirklichter Körper sein. Was Rancière über die Erfahrung französischer Arbeiter des 19. Jahrhunderts schreibt, gilt auch für sie im Jahre 2004 in der Opéra National de Paris. „Die emanzipierten Arbeiter formten hic et nunc einen anderen Körper und eine andere ‚Seele‘ für diesen Körper – den Körper und die Seele derer, die keiner spezifischen Beschäftigung angepasst sind, die Fähigkeiten des Fühlens und des Sprechens, des Denkens und des Handelns bewerkstelligen, die keiner besonderen Klasse angehören, die jedem Beliebigen gehören.“10
Dass gerade das Opernhaus und sein Ballett jedem Beliebigen gehören sollen, mag man aufgrund der institutionellen Verfestigung des Balletts am Hof Ludwigs XIV. und in der ehemals in eben diesem Haus angesiedelten königlichen Akademie, bevor es zahlreichen Reformen unterzogen wurde, nicht recht glauben. Trotzdem gesteht Doisneau im Anschluss, dass sie am Schwanensee die Szene möge, wenn 32 weibliche Tänzerinnen aus dem corps de ballet als Gruppe vereint tanzen. Allerdings gäbe es innerhalb der Szene lange Momente der Bewegungslosigkeit und gehaltene Posen, in denen sie zu ‚menschlichem Dekor‘ würden, um die Solisten als Stars hervorzuheben. Diese Augenblicke wären für die Mitglieder des corps de ballet, sie selbst einbegriffen, die schrecklichsten. Sie wolle dann schreien und die Bühne verlassen. Jetzt zeigt sie, wofür sie allerdings, wie sie vorher erklärt, eine Aufnahme der Ballettmusik benötige und deshalb einen Tontechniker namens Bruno um deren Einspielung bittet, den zweiten Akt aus Schwanensee. Sie geht in Position und nimmt eine Pose ein, die zum imaginären Mittelpunkt der Bühne hinzeigt. Obwohl sie allein ist und die 31 weiteren, für diese Szene eigentlich benötigten, Tänzerinnen fehlen, kommt dennoch die Vorstellung eines geschlossenen Kreises auf, der das Zentrum umgibt, auf dem die Solisten in diesem Moment stehen 9
Ders., Wider den akademischen Marxismus, S. 77.
10 Ders., Die unglücklichen Abenteuer des kritischen Denkens, in: ders., „Der emanzipierte Zuschauer“, S. 54.
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müssten. Sie unterbricht kurz, um Bruno schroff anzuweisen, die Musik doch bitte ein wenig lauter zu drehen, damit die Szene richtig funktioniere. Dann nimmt sie wieder ihre Pose ein. Den Kopf wehmütig zur Seite abgeneigt und der Bühnenmitte zugewandt, geht sie langsamen Schrittes einen Teil des Runds ab, und man versteht sofort, dass dieser Part aus dem Schwanensee wohl nicht derjenige ist, der in ihr den Wunsch ausgelöst hat, Tänzerin werden zu wollen. Hat sie zuvor nicht als diejenige gesprochen, die den Tanz als Tätigkeit ausführt, sondern nur als Zuschauerin, die sie in diesem Moment war? Mag sie Gruppenszenen, wenn sie ihnen zusieht, aber nicht, wenn sie selbst einer der 32 Körper ist, die das Kreisrund um die Solisten herum formen? Momentan wirkt Doisneau wie ein vom Bild abgeschnittener Teil des Rahmens. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Szenen, als sie entweder selbst tanzte oder dem Solo der anderen zuschaute, ist nun ihr eigenes Wünschen nicht mehr zu erkennen, und es wird offensichtlich, wie sehr das romantische Handlungsballett bis heute mit seinen Ursprüngen am königlichen Hof Ludwigs XIV. verbunden ist. Welchem Blick ist ihr Körper gewidmet? Von wo aus soll er gesehen werden? Sicher nicht von einer Vielzahl emanzipierter Augen. Hat sie bisher die Tendenz romantischer Ballette vermieden, dekorative Gruppenarrangements zu favorisieren, die den einzelnen Körper zur Komponente einer lebendigen Bildrahmung für die Solisten darin machen, begibt sie sich jetzt in die Rahmung hinein. In der vorangegangenen Szene ist sie als Individuum in Erscheinung getreten. Sie hat ihr Leben – als Mutter zweier Kinder, als Bewohnerin und Bürgerin der Stadt Paris, als angestellte Tänzerin der Pariser Oper – als ein Leben vorgestellt und dessen Gleichheit gegenüber den Zuschauern demonstriert. Ihre Gleichheit hat Doisneau ausgespielt, indem sie als sprechendes Wesen aus unterschiedlichen choreographischen Körperordnungen, Stilen und Techniken herausgetreten ist und sich nicht mehr mit ihnen identifiziert, sondern auf einen unbestimmten Körper hin subjektiviert hat. Anschließend aber gesteht sie, dass sie trotzdem die großen Gruppen und Vereinigungen der Tänzer im Schwanensee möge, zumindest in ihrer Rolle als Zuschauerin. Was diese Vereinigungen für den einzelnen Körper bedeuten, wird im Folgenden offensichtlich. Keine Spur der bis hierhin erlebten, emanzipativen Wortergreifungen ist noch zu erkennen. Noch demütigender wird der Schwanensee für sie, wenn sie sich, auf der Spitze stehend, in Arabesken zum von der Musik vorgeschriebenen Rhythmus um die eigene Achse zu drehen beginnt, ihr ausgestreckter Finger dabei aber offensichtlich nur die Funktion hat, in Richtung der Bühnenmitte zu zeigen, als würden die 32 Mitglieder des corps de ballet jene nicht nur umgeben, sondern durch ihre eigenen Drehungen um die Solisten herum zuallererst erzeugen. Ein trauriges Gesamtbild deutet sich an: Die ästhetische Gemeinschaft der Trennung, die das Stück bisher getragen hat, verwandelt sich in eine ethische Gemein-
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schaft, welche sich in ihrer kreisrunden Identität wiederfindet. Doisneaus Körper geht vollends in seiner Bestimmung auf, eine Komponente im imaginären Zirkel um die abwesenden Solisten herum zu sein. Am Ende der Schwanensee-Sequenz gibt es frenetischen Szenenapplaus aus dem Publikum. Diesmal verbeugt sich Doisneau jedoch nicht, sondern hält ihre Position. Die Titelmelodie aus Tschaikowskis Ballettmusik setzt ein und bricht abrupt ab, wenn sie gesteht, dass sie es liebe, die Zuschauer nach einer Aufführung Klatschen zu hören. Abbildung 9: Jérôme Bels Véronique Doisneau (2004)
Photo: Anna Van Kooij.
Sofort präsentiert sie ein paar Gänge zur Bühnenrampe mit exemplarischen Verbeugungen am Ende, was zur Folge hat, dass sich zwei Parteien im Publikum bilden. Insgesamt ist die Stimmung im Saal halb belustigt, halb aufgebracht. Den einen gefällt die bittere Ironie, nach der für die Mitglieder des abwesenden corps de ballet erniedrigenden Gruppenszene zu sehen, wie sich eine einzelne Ballerina trotzdem dafür bedankt. Die anderen geben laut empörte Buh-Rufe von sich. Sie sind zutiefst verletzt in ihrem bürgerlichen Selbstverständnis als Besucher der Pariser Oper. Wenn sich der Vorhang senkt, hört man weiterhin die beiden Parteien, die sich mit begeistertem Applaus einerseits und Gebuhe andererseits gegenseitig zu übertönen versuchen. Das Stück, das Jérôme Bel im Jahre 2004 gemeinsam mit Véronique Doisneau an der Opéra National de Paris entwickelt und premiert hat, fand nicht ohne Grund an dem prestigeträchtigen Ort der französischen Metropole statt. Nachdem Ludwig
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XIV. bereits 1661 die Académie Royale de Danse hatte gründen lassen, um dort die Mitglieder seines höfischen Balletts auszubilden und den Tanz streng akademischen Regeln zu unterziehen, wurde seiner Akademie 1713 die Tanzschule der Pariser Oper angegliedert. Feuillets Notationssystem ging hier aus den von Pierre Beauchamp entwickelten Methoden hervor und wurde 1700 erstmals publiziert. Dergestalt entwickelte sich das Ballett mit seinen fünf fundamentalen Grundpositionen, das zunächst eine reine Tanzeinlage innerhalb von Opernaufführungen war, als eigenständige Sparte heraus und wurde in strikte Poetiken ebenso der Notation wie der Ausführung gefasst. Im Verlauf der französischen Revolution sollte es zu einschneidenden Veränderungen auf institutioneller Ebene kommen. Der Adel zog sich aus der Oper zurück, und bis heute gilt die Opéra National de Paris als Sinnbild bürgerlichen Selbstverständnisses, aber unter umgedrehten Vorzeichen. Im Verlauf ihrer wechselhaften Geschichte war die Pariser Oper Ort ebenso der Konservierung und Restauration wie des Aufbruchs und der Emanzipation. Während Jean Georges Noverre hier unter schwierigen Umständen mit den königlichen Strukturen zu ringen hatte und ihm viele Steine in den Weg gelegt wurden, als er durch seine Arbeit am Haus11 dem höfischen Ballett neue Formen entgegenzuhalten versuchte, wird hier heute einerseits ein traditionelles Repertoire gepflegt, es aber andererseits auch Jérôme Bel ermöglicht, mit einer Tänzerin des Ensembles zu arbeiten. An diesem Problem setzt Véronique Doisneau an. Der ursprünglich emanzipatorische Impuls hinter den Reformen des Balletts, welchem mit Noverre die Geste des Loslösens vom höfischen Tanz innewohnte, ist heute zu einer konservativen Kraft geworden. Im Ballet geht es, zumindest größtenteils im Programms dieses Hauses und in der Erwartungshaltung des Publikums, nicht mehr um eine Neuaufteilung von Fähigkeiten und um die Befreiung von institutionellen Restriktionen. Was Bel und Doisneau aufzeigen, sind solche Ambivalenzen innerhalb des bürgerlich sedimentierten Balletts. Als Sujet der Opéra National de Paris beweist Doisneau, dass sie mehr vermag als sich darin zu erschöpfen, ihre Aufgaben innerhalb des corps de ballet zu erfüllen und dass sogar der Solist als Ideal hierarchischer Ballettstrukturen dem zwischen allen Körpern gleichermaßen verteilten Vermögen nicht nähersteht als andere, obwohl er aus dem Ensemble herausragt und bestimmte Stile und Techniken virtuos meistern kann, sondern, genau wie alle anderen, ein Arbeiter des Balletts ist, dessen lebendige Tätigkeit auf das Einüben und Ausführen bestimmter Formen beschränkt bleibt. Demgegenüber besteht der vermögende Körper, den Doisneau mit den institutionellen Machtverhältnissen in einen Dissens setzt, darin, ungeahnte Fähigkeiten zu entwickeln und die Plätze, die entsprechenden Subjekten zugewiesen werden, zu überschreiten. Das Vermögen der Körper auszuspielen heißt, anhand von Subjektivierungen neue Körper, andere Affekte und 11 Vgl. Dahms, Der konservative Revolutionär.
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andere Leidenschaften zu entwickeln. Um 1800 trug Noverre dazu bei, die zuvor von der höfischen Ordnung vorgeschriebenen Rahmungen zu entgrenzen, indem er neue Empfindungen und andere, eher affizierende und affizierbare denn geometrisch verfasste, Körper erfand. Bel und Doisneau beweisen, dass Choreographinnen und Choreographen im ästhetischen Regime manchmal das Bestreben innewohnt, jedes um ein getanztes Kreisrund versammelte Leben zu entkörpern und lebendige Formen hervorzubringen. Sie beweisen, dass es eine ästhetische Gemeinschaft der Trennung gibt, die seit der Wende um 1800 auf dem Spiel steht, wenn die ethische Logik choreographischer Ordnungen von den Bruchlinien unbestimmter Körper durchzogen wird, die sich subjektivieren. Für Rancière hängen, wenn er über Schiller nachdenkt, Emanzipation und Ästhetik eng miteinander zusammen. „Schillers ‚ästhetischer' Zustand will mit einer bestimmten Vorstellung von Kunst die Vorstellung einer Gemeinschaft zerstören, die auf dem Gegensatz zwischen denen beruht, die denken und entscheiden und denen, die zur materiellen Arbeit bestimmt sind, indem er den Gegensatz zwischen aktivem Verstand und passiver Sinnlichkeit aussetzt.“12
Auch Doisneau setzt diesen Gegensatz aus, wenn sie das Wort ergreift. Im Folgenden wird deshalb untersucht, inwiefern der ästhetische Zustand im Denken Schillers und Kants mit dem Denken eines singulären und offen bestimmbaren Lebens und der lebendigen Tätigkeit von Körpern zusammenhängt und die Frage gestellt werden, warum, nachdem sie innerhalb der Ästhetik den Raum souveräner Haltungen, Positionen, Wege und Schrittfolgen verlassen haben, vermögende Körper gerade deshalb bis heute Gefahr laufen, von biopolitischen Macht- und Wissensformen vereinnahmt zu werden.
12 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 68.
5. Wie das biopolitische Kalkül mit dem Versprechen der Ästhetik Ernst macht „Aber an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde zum einen durch die kantische Philosophie, zum anderen durch die Herausbildung von Biologie, Ökonomie und Sprachwissenschaft die Frage aufgeworfen: Was ist der Mensch? Von dem Tage an, da Leben, Arbeit und Sprache nicht mehr Attribute einer Natur sind, sondern selbst zu Naturen werden, die ihre Wurzeln in ihrer je spezifischen Geschichte haben und an deren Schnittpunkt der Mensch sich selbst, nämlich als naturiert, d.h. zugleich als gehalten und als enthalten, entdeckt, – von dem Tage an entstehen empirische Wissenschaften von diesen Naturen, die eigentlich je spezifische Wissenschaften von deren Produkt, also vom Menschen, sind.“
1
G EORGES C ANGUILHEM / D ER T OD DES M ENSCHEN ODER ENDE DES COGITO?
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die Frage, inwiefern das Aufkommen der Ästhetik als besonderes Sensorium (rezeptionsästhetisch) und offene Praxis (produktionsästhetisch) im späten 18. Jahrhundert mit dem korreliert, was Foucault die Herausbildung der Biopolitik nennt. Obwohl beide eine historische Konstellation und einen Einschnitt bilden, sei allerdings nicht behauptet, dass es einen direkten 1
Georges Canguilhem, Der Tod des Menschen oder Ende des Cogito?, in: Marcelo Marques (Hrsg.), „Der Tod des Menschen im Denken des Lebens“, Tübingen: edition diskord, 1988, S. 42.
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Zusammenhang zwischen ihnen gibt. Vielmehr soll der Annahme gefolgt werden, dass sie indirekt an einer ihnen gemeinsamen Problematik partizipieren. Ästhetik und Biopolitik vereint der Bezug auf das Motiv des Lebens, aber wie mit dem Leben als Motiv umgegangen wird, vor allem in der Erfahrung des Schönen bei Immanuel Kant und Friedrich Schiller, ist sehr verschieden vom Kalkül der Biopolitik. Die These dieses Kapitels lautet: In der Erfahrung des Schönen wird jedes Kalkül, welches immer mit einem spezifischen Interesse und einer Unterordnung der Lebendigkeit der Körper unter bestimmte Zwecke verbunden ist, suspendiert. Weil das biopolitische Kalkül als die Operationsweise einer neuen Macht- und Wissensformation jedoch die Freisetzung von Potentialen voraussetzt und entgrenzte Praktiken zum Gegenstand hat, ist Biopolitik ohne vermögende Körper nur schwer möglich. Umgekehrt jedoch, das wäre die zweite These, die es zu entwickeln gilt, sind sehr wohl vermögende Körper denkbar, deren offene Praxis nicht von der Biopolitik anhand ihrer Logik der Selektion und Kombination vereinnahmt wird. Zwar lassen sich mit Friedrich Balke zahlreiche Parallelen zwischen Rancières ästhetischem Regime und Foucaults Prognosen einer ebenfalls um 1800 entstehenden neuen Machtwissensformation herstellen, trotzdem muss deshalb nicht von einem „intimeren Zusammenhang zwischen moderner Polizeigewalt und ästhetischer Revolution“2 ausgegangen werden. Balke kann Ästhetik und Biopolitik nur miteinander identifizieren, weil er Foucaults alleinige Fokussierung von Machtverhältnissen Rancières Denken der Gleichheit überstülpt. „Das politische Regime, wie es Foucault ausgehend von der Entstehung einer postdisziplinären Regierungstechnik rekonstruiert, in deren Mittelpunkt die ‚absolut neue politische Figur‘ der Bevölkerung steht, also einer ‚grenzenlosen‘ Vielheit, die sich den Techniken der disziplinären Dekomposition hartnäckig entzieht, setzt in der Tat ein ‚Denkregime‘ voraus, dessen Eigenart darin besteht, ‚die Identität einer bewußten Entwicklung und einer unbewußten Produktion, einer gewollten Handlung und eines ungewollten Prozesses, kurz, die Identität eines logos und eines pathos zu sein.‘ […] Die Bewegung jedenfalls, die Rancière für das ästhetische Regime beschreibt, charakterisiert zugleich unübertroffen die Bewegung einer neuen Politik der kollektiv-anonymen Lebensphänomene, der Foucaults Analyse auf die Spur kommen wollte. [...] Dass alle Individuen aufgrund von ‚Begierden‘ handeln, Begierden, so Foucault, ‚gegen die man nichts tun kann‘, gegen die auch ein Souverän nichts tun kann, indem er ihr sein ‚Nein‘ entgegensetzt, führt im biopolitischen Regime zu einer Anerkennung der ‚Welt des nackten, unsinnigen Leben-Wollens‘. Die vermeintliche ‚Asozialität‘ dieses Leben-Wollens verhindert aber gerade nicht, dass sie in das Kalkül von Maßnahmen und Anordnungen eintritt, die die Eigenliebe anregen und begünstigen, so dass sie entgegen der mo2
Friedrich Balke, Die große Hymne an die kleinen Dinge. Jacques Rancière und die Aporien des ästhetischen Regimes, in: ders./Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 20.
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ralischen Erwartung wohltuende Wirkungen hervorbringt. Weit davon entfernt also, die Körper der Untertanen bloß zu disziplinieren und die Gestaltung ihrer Beschäftigungen in den diversen institutionellen Einschließungsmilieus zu bestimmen, muss die politisch-polizeiliche Ordnung schließlich sogar dem Drängen des ‚Anteils der Anteillosen‘ stattgeben – was nicht bloß heißt, der Stimme der Unterprivilegierten, die bislang von der politischen Bühne ferngehalten wurden, Gehör zu verschaffen, sondern die ‚Natur‘ ihrer unbewussten Produktionen bzw. die Anarchie ihrer Begierden in das Kalkül der Macht einzubeziehen.“3
Balkes Analysen zum ästhetischen Regime und dessen Allianz mit Foucaults Prognosen über die Biopolitik blenden aus, dass es innerhalb der Ästhetik gerade nicht um ein Kalkül der Macht, sondern zunächst nur um die Erosion bereits gegebener, hylemorphischer Verhältnisse zwischen Formen und Tätigkeiten geht. Die Relation zwischen Ästhetik und Biopolitik ist keine wechselseitiger Verursachung oder eindeutiger Korrespondenz. Was beide verbindet, ist das Problem des ‚Lebens als Lebendiges‘4, welches um 1800 in die Diskurse der Lebenswissenschaften ebenso wie in die Ästhetik Einzug erhält. Jedoch sei zu zeigen versucht, dass es innerhalb dessen, was Rancière unter dem paradoxen Knoten der Ästhetik versteht, gerade um die Suspension von Kalkülen und das Versprechen anderer und neuer Lebensformen geht, während Biopolitik mit dem Spiel Ernst macht und die Lebendigkeit der Körper einem einheitlichen Leben, einer konsensuellen Gemeinschaft, einer bestimmten Funktionalität und selektiv-kombinatorischen Prozessen zuführt, also erneut ein ethos zu etablieren versucht. Was dagegen in der Ästhetik auf dem Spiel steht, ist die Spannung zwischen einem immer singulären Leben und seiner Form. Über solche, der ästhetischen Praxis inhärente, lebendige Formen schreibt Brian Massumi: „Eine ästhetische Handlung befreit diese kontrastive Intensität aus dem Schatten der Instrumentalität beziehungsweise des funktionales Ziels der Aktion. Sie bringt die kontrastive Intensität des aktiven Potentials in die trügerische Gegenwart als solche, als einzigartig und ohne einen anderen Wert als den eigenen. Die ästhetische Handlung dehnt die kreative Spannung des Kontrasts aus, welche das Auftauchen jeder Handlung charakterisiert. Sie verlängert den Aufschub des Einschnitts, die Regung der Interferenz und die Resonanz, gibt diesem Dauer, so dass er die Schwelle der Wahrnehmbarkeit überschreitet und bewusst als Potential gefühlt wird. Dies verhindert, dass ein ‚Terminus‘ – wie eine Reflexhandlung zu einem Reiz – nur ein automatischer Vorwärtsschub zum Ende hin ist. Die Lösung wird aufgeschoben. Die sich im Spiel befindlichen Termini bleiben virtuelle Enden.“5 3
Ebd., S. 35 f.
4
Vgl. Muhle, Eine Genealogie der Biopolitik.
5
Brian Massumi, Ontomacht – Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve, 2010, S. 88 f.
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Trotzdem beobachtet Rancière bezüglich seines ästhetischen Regimes eine Ambivalenz und gesteht immerhin, dass es die Tendenz aufweist, in eine ‚Ur-Ethik‘6 umschlagen zu können, wenn der ästhetische Knoten zur Heteronomie hin aufgelöst wird, indem sich bestimmte künstlerische Praktiken mit neuen Lebensformen identifizieren. Jenes Umkippen der ästhetischen Gemeinschaft der Trennung in biopolitische Figuren einer getanzten Bevölkerung bildet seit der Wende um 1800 eine große Gefahr im Bereich der Choreographie: Spätestens innerhalb der sogenannten Tanzmoderne hat die Tendenz zur Heteronomie dort unterschiedliche Reinkarnationen wichtiger Charakteristika des ethischen Regimes hervorgebracht. Demgegenüber hat der unlösbare Knoten der Ästhetik sehr viel mit etwas zu tun, das Balke ‚offene Objekte‘ nennt und das sich nur schwer anhand der Logik von Selektion und Kombination bestimmten Stilen und Techniken einverleiben lässt: „Offene Objekte verstehe ich dabei als ontologisch unsichere Dinge, von denen eine tiefe Verstörung ausgehen kann, weil sie eine Herausforderung für die gewöhnlichen Praktiken der Auswahl, Einordnung und Bewertung von Dingen darstellen.“7 Insofern rückt die Lebendigkeit der Körper innerhalb der Ästhetik zwar ebenso in den Mittelpunkt wie in der Biopolitik, wird hier jedoch von keiner bestimmten Lebensform vereinnahmt, sondern verweist auf eine dissoziierende Kraft, welche die Körper laut Balke „gleichsam außerhalb der symbolischen Ordnung platziert und ihre soziale Adressierbarkeit – als bestimmte Dinge mit bestimmten Eigenschaften und bestimmten Verwendungsmöglichkeiten – auf fundamentale Weise stört“8. Im Gegensatz dazu gibt es der biopolitischen Logik zufolge kein Außen der Macht- und Wissensformationen. Jenseits jeder téchne jedoch bewohnt ein Leben innerhalb der Ästhetik gerade die Grenze zu diesem Außen.
5.1 S CHILLERS S PIELTRIEB
UND DAS
V ERKNOTEN
DER
G EGENSÄTZE
„[D]er Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit.“
9
KARL MARX/DIE ENTFREMDETE ARBEIT
Rancière macht seine Konzepte der dissensuellen Gemeinschaft und des diese begründenden ästhetischen Sensoriums an Johann Joachim Winckelmanns Torso von 6
Vgl. Rancière, Was bringt die Klassik auf die Bühne?, in: Ensslin (Hrsg.), „Spieltrieb“, S.
7
Friedrich Balke, Torso, Henkel, Hybride. Das Leben der Dinge, in: Maria Muhle/Kathrin
8
Ebd., S. 92.
9
Marx, Die entfremdete Arbeit, S. 517.
37. Thiele (Hrsg.), „Biopolitische Konstellationen“, Berlin: August, 2011, S. 87.
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Belvedere fest, in dem für ihn ein Leben mit der Abwesenheit seines codierten Ausdrucks zusammenfällt.10 Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, inwieweit er dabei Schillers Begriff des Schönen, verstanden als „unbegrenzte Bestimmbarkeit“11 des Lebens, folgt und inwiefern diese Bestimmbarkeit ebenfalls Auswirkungen hat auf eine andere Auffassung des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit, indem so ein unbestimmter Körper von bestimmten Funktionalisierungen seines Ausdruckspotentials entbunden wird.12 Die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen Schillers antworten auf das historische Ereignis der französischen Revolution, die 1789 begonnen hatte und bis 1799 andauern sollte. Aus den 1793 an den Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg geschriebenen Briefen hervorgegangen und 1795 in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen erstmals erschienen, handelt es sich bei deren letztlicher Kompilation um eine kritische Auseinandersetzung mit dem in seinen Augen gescheiterten Sturz des Souveräns. Zwar war mit dem Sturm auf die Bastille und der Enthauptung Ludwigs XVI. die symbolische Ordnung der souveränen Herrschaft des Königs über das Volk abgeschafft worden, Schiller fürchtet jedoch das Heraufziehen einer neuen Herrschaftsform. Er selbst hat jahrelang in Armut und schwer erkrankt gelebt und kann seit 1791 – dank eines dreijährigen herzoglichen Stipendiums – seine Studien von Immanuel Kants kurz zuvor erschienener Kritik der Urteilskraft (1790) aufnehmen. Was er bald schon versucht, am Ende aber aufgibt, ist die Entwicklung eines ‚objektiven‘ Begriffs des Schönen, also an dem Punkt weiterzugehen, an dem Kant seiner Ansicht nach gescheitert ist. Vor allem geht es ihm um eine Revidierung der Fehler der französischen Revolution und um die Suche nach einer anderen Staatsverfassung, die zuallererst auf der ästhetischen Erziehung der Menschen gegründet sein soll, auf einem „bloß möglichen“13 Ideal der Gesellschaft.14 Mit dem Sturz des 10 Vgl. Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 80. 11 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 81. 12 Vgl. Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268. 13 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 13. 14 Dass sich auf dem Ideal des Schönen keine wirkliche Staatsverfassung gründen lässt, die der souveränen Macht der monarchistischen Ordnung, welche mit der französischen Revolution gestürzt wurde, nachfolgen könnte, stellt Schiller sehr doppeldeutig erst am Ende seiner Abhandlungen fest, wenn er schreibt: „In dem ästhetischen Staate ist alles – auch das dienende Werkzeug ein freyer Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse unter seine Zwecke gewalttätig beugt, muß sie hier um ihre Beistimmung fragen. Hier also in dem Reiche des ästhetischen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte; und wenn es wahr ist, daß der schöne Ton in der Nähe des Thro-
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monarchistischen Systems sieht er zugleich die Frage virulent werden, wie sich jetzt eine neue Gemeinschaft denken lassen kann. „Eine Frage, welche sonst nur durch das blinde Recht des Stärkeren beantwortet wurde, ist nun, wie es scheint, vor dem Richterstuhle reiner Vernunft anhängig gemacht, und wer nur immer fähig ist, sich in das Centrum des Ganzen zu versetzen, und sein Individuum zur Gattung zu steigern, darf sich als ein Beysitzer jenes Vernunftsgerichts betrachten, so wie er als Mensch und Weltbürger zugleich Parthey ist, und näher oder entfernter in den Erfolg sich verwickelt sieht.“15
Zusammen mit der souveränen Macht in Frankreich verschwindet zu Schillers Zeit die durch eine Adäquatheit zwischen aktiver Form und passiver Materie gegebene ‚Natur‘ des Menschen. Schiller sieht in diesem historischen Moment die von der Souveränität entbundene Masse der Menschen als zuvor so nie dagewesenes lebendiges Potential der Körper aufkommen und stellt sich die Frage, welche neue Form sie annehmen können. Gleich im vierten Brief lehnt er jede Staatsverfassung ab, die nur „durch Aufhebung der Mannigfaltigkeit Einheit zu bewirken im Stand ist.“16 Er sucht nach einem neuen Verhältnis und einem Gleichgewicht zwischen Form und Materie, das er in der politischen Realität seiner Zeit nicht finden kann und deshalb im Bereich des Ästhetischen vermutet. Dabei verwickelt er Politik und Ästhetik in einen unentwirrbaren Knoten. Indem er durch sein Konzept des freien Scheins jede gesellschaftliche Ordnung mit ihrer eigenen Kontingenz konfrontiert, hat dies politische Konsequenzen, und die ‚Freiheit‘ der französischen Revolutionäre wird in ihrer Verwirklichung als Herrschaft einer aktiven Form über eine passive Materie kritisiert: „Aber eben deswegen, weil der Staat eine Organisation seyn soll, die sich durch sich selbst und für sich selbst bildet, so kann er auch nur in so ferne wirklich werden, als sich die Theile zur Idee des Ganzen hinauf gestimmt haben.“17 Im 11. Brief unterscheidet Schiller zwischen Person und Zustand als zwei antagonistines am frühesten und am vollkommensten reift, so müßte man auch hier die gütige Schickung erkennen, die den Menschen oft nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealische Welt zu treiben.“ – Ebd., S. 123. Der ‚schöne Staat‘ als solcher muss unrealisiert bleiben, so ist zumindest Rancières Lesart der Briefe Schillers zu verstehen, die dessen politische Ästhetik von Vorwürfen u.a. des reaktionären Idealismus freizumachen versucht. Nichtsdestotrotz verweist Schillers ‚schöner Staat‘ eher auf das Sprechen dienender Werkzeuge als auf die Sprache derjenigen, die sich ihrer bedienen, also im Sinne Rancières auf das Sprechen jener anteillosen, supplementären Körper, die innerhalb der Aufteilung des Sinnlichen keinen Platz haben. 15 Ebd., S. 10 16 Ebd., S. 16. 17 Ebd., S. 17.
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schen Kräften, die den Menschen ausmachen und sein Leben zwischen sich aufspannen. Während die Person in der Zeit verharrt und ihr Form zu geben versucht, changiert die Materie unaufhörlich zwischen verschiedenen Zuständen der Zeit. Beide hängen voneinander ab und gehen auseinander hervor, denn ebenso wenig kann die Zeit die Person begründen, „weil vielmehr umgekehrt die Zeit in ihr anfangen, weil dem Wechsel ein Beharrliches zum Grund liegen muß“18, wie die Person Grundlage der Zeit sein kann, denn etwas „muß sich verändern, wenn Veränderung sein soll“19. Die Person versucht der Zeit ein bleibendes Gesetz einzuprägen und sie sich zu unterwerfen, die Zeit aber besteht aus einer reinen Aufeinanderfolge loser Zustände, durch die jedes Gesetz umgestürzt und einem Fluss unaufhörlicher Veränderung anheimgegeben wird. Obwohl beide aufeinander angewiesen sind, lassen sie sich zunächst nicht miteinander vereinbaren. Schiller zufolge ist der einzelne Körper hin und her gerissen zwischen seinem Vermögen, Form zu geben und einer Kraft der Materie, von der er permanent affiziert wird. „Seine Persönlichkeit, für sich allein und unabhängig von allem sinnlichen Stoffe betrachtet, ist bloß die Anlage zu einer unendlichen Aeusserung; und solange er nicht anschaut und nicht empfindet, ist er noch weiter nichts als Form und leeres Vermögen. Seine Sinnlichkeit, für sich allein und abgesondert von aller Selbstthätigkeit des Geistes betrachtet, vermag weiter nichts, als daß sie ihn, der ohne sie bloß Form ist, zur Materie macht, aber keineswegs, daß sie die Materie mit ihm vereinigt.“20
Wenn der Mensch nur empfindet, ist er „nichts als Welt, wenn wir unter diesem Namen bloß den formlosen Inhalt der Zeit verstehen“21, im anderen Fall ist er einem weltlosen Gesetz unterworfen. Sein Leben ist als Lebendiges von zwei Richtungen her bedroht: Entweder verliert es jede Form und wird zur reinen Aufeinan18 Ebd., S. 44. 19 Ebd., ebd. Die von Schiller postulierte Dialektik zwischen ‚Person‘ und ‚Zustand‘, die eine Dialektik zwischen Vermögen und Kraft ist, bezieht sich implizit auf die Idee der Genese Kants, deren ‚Schönheit‘ Deleuze in einem Seminar vom 4. April 1978 in Vincennes hervorhebt: „In the same way that the sublime threatens at each instant to overwhelm the imagination’s act of synthesis, the operation of symbolism and symbolisation threatens at each instant to overwhelm this other act of imagination which is the schema. So much so that between symbolism and the sublime, there will obviously be all sorts of echoes, as if they brought about the emergence of a sort of ground [fond] which is irreducible to knowledge, and which will testify to something else in us besides a simple faculty of knowing. Feel how beautiful it is.“ – http://www.webdeleuze.com/php/texte.ph p?cle=65&groupe=Kant&langue=2. – Zugriff am 13.1.2011. 20 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 45. 21 Ebd., S. 46.
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derfolge von Zuständen oder es gefriert zur reinen, nicht länger affizierbaren Form. Im 12. Brief geht Schiller näher auf dieses Problem ein und übersetzt es in die Denkfigur zweier widerstreitender Triebe. Beide streben in entgegengesetzte Richtungen, haben aber gemeinsam, wenn sie die Oberhand über den anderen gewinnen, den Körper vollends zu bestimmen und seine Lebendigkeit in ihrem jeweiligen Bezirk einzusperren. Den sinnlichen Trieb siedelt er auf der Seite der Materie an und konstatiert ihm, er strebe nach durch Empfindungen vollends ausgefüllten Momenten in der Zeit. „Da alles, was in der Zeit ist, nacheinander ist, so wird dadurch, daß etwas ist, alles andere ausgeschlossen. […] Indem der Mensch das Gegenwärtige empfindet, ist die ganze unendliche Möglichkeit seiner Bestimmungen auf diese einzige Art des Daseyns beschränkt.“22 Solange er von dem, was ihn affiziert, beherrscht wird, ist der Mensch keine Person und wird von den Veränderungen der Zeit mitgerissen. Seine Stimmung wird ihm zur Bestimmung. Doch droht auch Gefahr durch den Formtrieb, der ebenfalls die Tendenz hat, ihn zu determinieren. Diese Bestimmung besteht darin, die Zeit und mit ihr die Veränderung vollends aufzuheben und einem unveränderlichen Gesetz zu unterwerfen, also die Person von jeder Zustandsveränderung abzukoppeln. Der Formtrieb zielt darauf ab, „daß das Wirkliche nothwendig und ewig, und daß das Ewige und Nothwendige wirklich sey; mit anderen Worten: er dringt auf Wahrheit und Recht.“23 Schiller geht davon aus, dass sich der Konflikt zwischen sinnlichem Trieb (den er an anderer Stelle auch Stofftrieb24 nennt) und Formtrieb als Konflikt zwischen singulärem Fall und allgemeinem Gesetz fassen lässt, weil durch diesen allein beliebige Fälle produziert werden, durch jenen dagegen nur unveränderliche Gesetze. Im 13. Brief unterstreicht er, dass sich die Tendenzen der beiden Triebe zwar grundsächlich widersprechen, sie aber eigentlich „von Natur“25 aus nicht entgegengesetzt sind, weil sie unterschiedliche Objekte haben. Obwohl der sinnliche Trieb Veränderung zwischen einzelnen Zuständen fordert, fordert er doch keine Veränderung der Person; und obwohl der Formtrieb auf Beharrlichkeit dringt, will er doch mit der Person nicht zugleich auch deren qualitative Transformationen fixieren und stillstellen. So nähert er sich dem Kern seines Versuchs einer Definition des Schönen im Sinne einer wechselseitigen Subordination und Koordination26 zwischen 22 Ebd., S. 47. 23 Ebd., S. 48. 24 Es sei an dieser Stelle an Marx’ Überlegungen zum Menschen als Gattungswesen und das oszillierende Verhältnis seiner Arbeit zur ‚anorganischen‘ Materie erinnert: „Der Arbeiter kann nichts schaffen ohne die Natur, ohne die sinnliche Außenwelt. Sie ist der Stoff, an dem sich seine Arbeit verwirklicht, in welchem sie tätig ist, aus welchem und mittels welchem sie produziert.“ – Marx, Die entfremdete Arbeit, S. 512. 25 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 50. 26 Vgl. ebd., ebd.
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sinnlichem Trieb und Formtrieb: „Sie sind also einander von Natur nicht entgegengesetzt, und wenn sie demungeachtet so erscheinen, so sind sie es erst geworden durch eine freie Übertretung der Natur, indem sie sich selbst misverstehn, und ihre Sphären verwirren.“27 Obwohl er im 14. Brief den Spieltrieb als vermittelnde Instanz zwischen den beiden Hälften der zerbrochenen menschlichen Natur einführen wird, geht er zunächst davon aus, dass ein dritter Grundtrieb, der zwischen beiden vermitteln könnte, ein „undenkbarer Begriff“28 sei. Es kommt, gerade weil kein fixer Begriff zwischen ihnen vermitteln kann, darauf an, beide möglichst weit auseinanderzuhalten, also auf Seiten des sinnlichen Triebs „dem empfangenden Vermögen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt zu verschaffen“29 durch eine weitestgehende Öffnung der Affizierbarkeit des Körpers und gleichzeitig dem Form27 Ebd., ebd. In einem Brief an Christian Gottfried Körner vom 1. Dezember 1788 schreibt Schiller: „Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachteilig zu seyn, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren schon zu scharf mustert. Eine Idee kann, isolirt betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich seyn, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig; vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein sehr zweckmäßiges Glied abgeben: – alles dies kann der Verstand nicht beurtheilen, wenn er sie nicht so lange festhält, bis er sie in Verbindung mit diesen anderen angeschaut hat. Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen.“ – http://www.wissen-imnetz.info/literatur/schiller/briefe/1788/178812011.htm. – Zugriff am 16.1.2011. Das Motiv der Stadt, mitsamt ihren Mauern und Wachen, gibt ein sehr zutreffendes Bild für Kants transzendentales Subjekt ab. Ebenso verweisen die hereinstürzenden Ideen auf das, was die Erfahrung des Schönen ausmacht, nämlich auf freudige Affekte und einen daraus resultierenden Übergang zu mehr Tätigkeitsvermögen, der in Kapitel 8 der vorliegenden Arbeit bezüglich der Philosophie Spinozas skizziert werden wird. Am 23. Februar 1793 fragt Schiller in einem anderen Brief: „Was wäre also Natur in dieser Bedeutung? Das innere Princip der Existenz an einem Dinge, zugleich als der Grund seiner Form betrachtet; die innere Nothwendigkeit der Form. Die Form muß im eigentlichsten Sinne zugleich selbstbestimmend und selbstbestimmt seyn; nicht bloße Autonomie, sondern Heautonomie muß da seyn. […] Darum stört uns jede sich aufdringende Spur der despotischen Menschenhand in einer freyen Naturgegend; darum jeder Tanzmeisterzwang im Gange und in den Stellungen, darum jede Künsteley in den Sitten und Manieren; darum alles Eckige im Umgang, darum jede Beleidigung der Naturfreiheit in Verfassungen, Gewohnheiten und Gesetzen.“ – http://www.wissen-im-netz.info/literatur/schiller/briefe/179 3/179302231.htm. – Zugriff am 16.1.2011. 28 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 50. 29 Ebd., S. 52.
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trieb als „dem bestimmenden Vermögen die höchste Unabhängigkeit von dem empfangenden zu erwerben, und auf Seiten der Vernunft die Aktivität aufs höchste zu treiben.“30 Ideal wäre deshalb, ein produktives Potential zu entfalten, es aber gleichzeitig mit dem Formtrieb zu konfrontieren, also sowohl das empfangende als auch das bestimmende Vermögen des Körpers ins Spiel zu bringen. Weder darf dem empfangenden Vermögen das bestimmende untergeschoben werden, der Formtrieb also dem sinnlichen Trieb vorgreifen, noch jener diesem beigemischt werden, der Stofftrieb also nicht so weit bestimmend sein, dass er den Formtrieb mit sich fortreißt und den unaufhörlichen Veränderungen in der Zeit überlässt. Im besten Fall sollen beide Vermögen in einem Gleichgewicht stehen, so dass sich die Lebendigkeit des Körpers weder in ihren ‚Zuständen‘ verliert noch in der fixen ‚Person‘ eingefroren wird, sondern dem Gegensatz von aktiven und passiven Kräften enthoben ist und zwischen beiden oszilliert, weil er weder vom Gesetz zur reinen Form noch von der Empfindung zur reinen Zeit gemacht wird. Was Schiller später lebende Gestalt31 nennt und was Rancière zu seiner Aussage inspiriert, dass im ästhetischen Zustand der volle Ausdruck des Lebens mit der Abwesenheit jedes bestimmten Ausdrucks koinzidiere32, nimmt hier erste Konturen an. Indem Schiller eine Wechselwirkung zwischen beiden Trieben einführt, konturiert er seine Idee des Schönen, mit der die Lebendigkeit des Körpers als etwas Bestimmbares und als Potential in Erscheinung tritt, weil sie weder durch den Stoff- noch durch den Formtrieb bestimmt ist. Im 14. Brief soll klar werden, warum der dritte Trieb, welcher diese Zone der vollen Bestimmbarkeit des Lebens konstituiert, von Schiller Spieltrieb genannt wird.33 Mit ihm können vom Leben keine universalen Begriffe 30 Ebd., ebd. 31 Vgl. ebd., S. 58. 32 Vgl. Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 80. 33 Christoph Menke merkt an, dass der Begriff des Spiels von Herder dazu verwendet wird, „das Wirken von Kräften von der Ausübung von Vermögen zu unterscheiden“ und dabei ein Spiel der Kräfte bezeichne, welches der Ausbildung von Vermögen gegenüberstehen würde. Bei Kant und Schiller dagegen meine Spiel noch „diesen Unterschied selbst, also das Verhältnis zwischen Kraft und Vermögen“ als eines, das die Vermögen gegenüber Kräften öffnet. – Christoph Menke, Kraft – Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, S. 137. An anderer Stelle bedient sich Menke einer Dialektik zwischen Vermögen und Kraft, wobei er, im Gegensatz zu Kant und Schiller, die Kräfte gegenüber den Vermögen privilegiert: „Da der Mensch aus nichts als selbstwirkenden Kräften besteht und diese Kräfte die ‚Basis‘ seiner ‚Seele‘ ausmachen, ist alles, was wir denken, wollen und tun können, selbst nichts als Ausdruck von Kräften. […] Kräfte sind niemals nur individuelle Vermögen, sondern umgekehrt: individuelle Vermögen sind das Resultat der Aneignung, der Verinnerlichung mir vorweg existierender Kräfte. […] Nimmt man diese beiden Aspekte des Kraftbegriffs zusammen, so gilt, daß
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gebildet werden. Es kann dann nicht in Begriffen aufgehoben werden, weil der Bereich zwischen Stoff- und Formtrieb einer des reinen Potentials des Lebendigen als Singuläres bleiben muss. Schiller bringt die Konsequenzen daraus auch für universale Vorstellungen vom Menschen und alles, was er vermag, gleich zu Beginn seisubjektive Akte, die und wie sie die Ästhetik beschreibt, stets (‚expressive‘) Entfaltung eigener Vermögen durch (‚iterative‘) Aufnahme und Verwandlung vorausgesetzter Potentiale sind.“ – Ders., Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion: Zur Genese und Dialektik der Ästhetik, in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hrsg.), „Falsche Gegensätze – Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 35. Daraufhin konstatiert er: „Im Medium des Schönen wirken die Kräfte ‚frei‘; das heißt, nicht gerichtet auf einen bestimmten vorgegebenen Zweck. Diese Freiheit stellt sich nach außen als gesteigerte Intensität dar: Das freie Wirken der Kräfte in den ästhetischen Vollzügen erscheint als intensiveres Wirken der Kräfte, als Wirken intensiverer Kräfte. […] In der ästhetischen Selbstreflexion erfahren wir das Wirken von Kräften, indem wir es selbst vollziehen; aber wir erkennen nicht die Existenz, Beschaffenheit und Ergebnisse von Kräften.“ – Ebd., S. 46 f. Im Kontrast zu Menkes Verständnis des Spiels als Spiel von Kräften möchte ich mit Andrea Kern Spiel als Spiel zwischen der Bildung von Vermögen auf Seiten des Subjekts und dem Wirken ihm äußerlicher Kräfte stark machen, also den ‚tätigen‘ gegenüber dem ‚erleidenden‘ Aspekt des Spiels betonen (vgl. hierzu Kapitel 8 dieser Arbeit über Spinozas ‚freudige Affekte‘). In diese Richtung zielt Kern, wenn sie das Verhältnis von Vermögen und Kräften beschreibt: „Die Pointe von Kants Theorie des Schönen liegt aber genau darin: Daß wir in der ästhetischen Erfahrung etwas erfahren, was aus der Perspektive der philosophischen Reflexion niemals Inhalt einer konkreten Erfahrung sein kann, sondern schlechterdings als unerfahrbar gilt. Im ästhetischen Spiel erfahren wir somit etwas, was aus der Perspektive der philosophischen Reflexion gar kein sachhaltiger Gedanke ist, nämlich daß die Welt der Gegenstände unserem Erkennen prinzipiell zugänglich ist und es also in der Welt keinen Gegenstand geben kann, der unserer Erkenntnis prinzipiell versperrt, verschlossen oder überhaupt unzugänglich ist.“ – Andrea Kern, Ästhetischer und philosophischer Gemeinsinn, in: dies./ Sonderegger (Hrsg.), „Falsche Gegensätze“, S. 109. Schiller selbst äußert sich sehr im Sinne Spinozas, obwohl er sich nie eingehender mit dessen Philosophie beschäftigt hat, wenn er am 8. Februar 1793 die Erfahrung des Schönen als Übergang zu mehr Tätigkeitsvermögen beschreibt: „Wir verhalten uns gegen die Natur (als Erscheinung) entweder leidend oder thätig, oder leidend und thätig zugleich. Leidend: wenn wir ihre Wirkungen bloß empfinden; thätig: wenn wir ihre Wirkungen bestimmen; beides zugleich, wenn wir sie uns vorstellen. Es gibt 2erley Arten sich die Erscheinungen vorzustellen. Entweder wir sind mit Absicht auf ihre Erkenntniß gerichtet: wir beobachten sie; oder wir lassen uns von den Dingen selbst zu ihrer Vorstellung einladen. Wir betrachten sie bloß.“ http://www.wissen-im-netz.info/literatur/schiller/briefe/1793/179302081.htm. – Zugriff am 17.1.2011.
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nes Briefes enthusiastisch auf den Punkt: „Es ist im eigentlichen Sinne des Worts die Idee seiner Menschheit, mithin ein unendliches, dem er sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen.“34 Nicht nur vermittelt der Spieltrieb zwischen den beiden Hälften der zerbrochenen ‚Natur‘ des Menschen, er ist auch darauf hin ausgerichtet, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Seyn, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.“35 Während der sinnliche Trieb, für sich allein genommen, bestimmt werden und sein Objekt von der Zeit empfangen und der Formtrieb selbst bestimmen und sein Objekt hervorbringen will, empfängt der Spieltrieb paradoxerweise so, wie er selbst hervorbringt und bringt hervor, wie er selbst empfängt. In ihm sind die von Schiller angenommenen antagonistischen Kräfte derart wieder vereint, dass „Form in die Materie und Realität in die Form“36 gesetzt wird. Im Spieltrieb zeigt sich deshalb das allen Körpern gemeinsame Vermögen, sich auf nicht im Vorhinein festgelegte Weise auf die Welt zu beziehen. Allerdings bezieht der Spieltrieb keine be34 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 55. Shaviro weist aus einer deleuzianischen Perspektive darauf hin, dass es beim Schönen, wie Kant es zuallererst entwickelt (Kapitel 5.2.), letztlich um das Singuläre als Universelles im Gegensatz zum einem Allgemeinen untergeordneten Besonderen geht. Die nie erreichbare ‚Menschheit‘ Schillers verweist in ihrem zutiefst anti-ethischen Gestus so besehen auf eine Zone, die von jedem Gesetz befreit ist und als solche auch, wie zu zeigen sein wird, das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit ent-setzt: „The beautiful is composed of examples that nevertheless cannot be reduced to rules. Instances of the beautiful are examples in themselves, but not examples of anything. They are copies for which there is no original, or secondaries for which there is no primary. You can point to them as examples; but you cannot point to that of which they are examples. Each is a singularity: an instance that can be emulated, but not imitated.“ Steven Shaviro, Beauty lies in the Eye, in: Brian Massumi (Hrsg.), „A Shock to Thought – Expression after Deleuze and Guattari“, London/New York: Routledge, 2002, S. 13. Darauf aufbauend argumentiert Shaviro, dass Konzepte wie die grund- und bodenlosen ‚Mächte des Falschen‘ oder die Idee der Virtualität, welche Deleuze, in Anknüpfung an Nietzsches Radikalisierung Kants, v.a. in Differenz und Wiederholung entwickeln wird, eine tiefe Affinität zur ästhetischen Erfahrung des Schönen aufweisen: „It is a new conception of universality. We must will, not the event’s generalizability as law of reason, but its singular return, that is to say its literal infinite repetition. […] The sensus communis would be seen as the cultivation and sharing of the highest possible degree of singularity, rather than as something generalizable into a ‚community‘. Aesthetic Ideals are what Deleuze elsewhere calls Powers of the False. They are modes of the virtual, as projected by the imagination.“ – Ebd., S. 17. 35 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 57. 36 Ebd., S. 58.
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stimmte Fähigkeit auf keine bestimmte Welt, sondern lässt beide sich auf zunächst unbestimmte und je singuläre Weise gegenseitig affizieren. Im 15. Brief führt Schiller den Begriff des Lebens ein, um sowohl das Konzept der lebenden Gestalt als auch das der im ästhetischen Zustand gegebenen Schönheit weiterzuentwickeln.37 Das Leben außerhalb des Spieltriebs ist für ihn „alles materiale Seyn, und alle unmittelbare Gegenwart in den Sinnen“38 und als solches Gegenstand des sinnliches Triebes. Dagegen ist der Gegenstand des isolierten Formtriebs die Gestalt, welche „alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich faßt.“39 Was heißt es also, wenn der Spieltrieb eine lebende Gestalt als sein Objekt haben soll? Die lebende Gestalt ist für Schiller das Ideal der Schönheit und als solches „weder auf das ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen.“40 Er führt sogar einen durch den Bildhauer bearbeiteten Marmorblock als Beispiel dafür an, dass auch leblose Materie zur lebenden Gestalt werden kann und weist darauf hin, dass der Mensch, „wiewohl er lebt und Gestalt hat“41, nicht unbedingt lebende Gestalt ist. Es bedarf eines besonderen Sensoriums, damit Schönheit in lebender Gestalt erfahrbar wird.42 An dieser Stelle ist er jedoch 37 Schillers Begriff des Lebens unterscheidet sich an dieser Stelle grundsätzlich von demjenigen Rancières: „Solange man beim Leben als Objekt des sinnlichen Triebs verbleibt, verbleibt man in der Hierarchie von aktiv und passiv. Mit dem Spieltrieb hat man es mit einer lebendigen Kraft zu tun, die die Verteilung der Leben ent-regelt. Dies ist also eine sich neu bestimmende Konfiguration der Beziehung zwischen dem Leben und den künstlerischen Formen. Diese Konfiguration instituiert eine separate Sphäre des Lebens für die ästhetische Erfahrung (da ja das Spiel aus der Opposition des Intellektuellen zum Sinnlichen hervorgeht), aber sie entfernt im Gegenzug jede Unterscheidung zwischen den Produktionen der Künste und den Produktionen anderer Sphären der Erfahrung (da es keine Hierarchie der Leben mehr gibt, die den Inhalt der Kunst bestimmte).“ – Rancière, Ist Kunst widerständig?, S. 47 f. 38 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 58. 39 Ebd., ebd. 40 Ebd., S. 59. 41 Ebd., ebd. 42 Inwieweit Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen in erster Linie als eine längere Auseinandersetzung mit und als ein Ringen um Verständnis von Kants Kritik der Urteilskraft anzusehen sind, soll im nächsten Kapitel untersucht werden. Im Zusammenhang mit der Frage, ob Schönheit Schiller zufolge eher eine objektive Eigenschaft spezifischer Objekte ist oder durch eine subjektive Betrachtung derselben zustande kommt, sei hier auf einen am 25. Oktober 1794 an seinen Freund Körner gerichteten Text verwiesen: „Das Schöne ist kein Erfahrungsbegriff, sondern vielmehr ein Imperativ. Es ist gewiß objektiv, aber bloß eine notwendige Aufgabe für die sinnlichvernünftige Natur;
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noch sicher, die Qualität der Schönheit habe mehr mit den Eigenschaften eines Gegenstands als mit einem Verhältnis zwischen ihm und seinem Betrachter zu tun. „Solange wir über seine Gestalt bloß denken, ist sie leblos, bloße Abstraktion; solange wir sein Leben bloß fühlen, ist es gestaltlos, bloße Impression. Nur indem seine Form in unsrer Empfindung lebt, und sein Leben in unsrem Verstande sich formt, ist er lebende Gestalt, und dieß wird überall der Fall sein, wo wir ihn als schön beurteilen.“43
Die lebende Gestalt bewahrt das Lebendige als etwas zwischen den Körpern, etwas, das sie sich gegenseitig affizieren lässt und ihre Formen qualitativ transformiert. Zwischen sinnlichem Trieb und Formtrieb unentschieden aufgespannt gelangt der einzelne Körper zur vollsten Potenz, indem er sich in doppelter Hinsicht nicht in einer bestimmten Form realisiert: Weder macht ihn der Spieltrieb vollständig zur Gestalt, unterwirft ihn also keinem unveränderlichen Gesetz, noch opfert er ihn der reinen Veränderung seiner Zustände. Weil der Körper in doppelter Hinsicht nicht bestimmt wird im Schönen, tritt er als bestimmbarer in Erscheinung. Die Stimmung der Schönheit besteht nach Schiller darin, dass durch sie ein Gleichgewicht zwischen Gesetz und Fall bzw. zwischen Universalität und Singularität hergestellt wird und somit Menschen wie Dinge „von den Fesseln jedes Zwecks, jeder Pflicht, jeder Sorge“44 befreit sind. Dies macht er am Kopf der Juno Ludovisi deutlich, einer Statue, aus deren Gesichtszügen ihm zufolge „mit der Neigung auch alle Spuren des Willens“45 ausgelöscht wurden. Sie stellt deshalb ein Ideal des schönen Körpers dar, weil sich in ihr aktiver Formtrieb und passiver sinnlicher Trieb gegenseitig im Gleichgewicht halten und weder der eine noch der andere die Oberhand gewinnt. „Es ist weder Anmuth noch ist es Würde, was aus dem herrlichen Antlitz einer Juno Ludovisi zu uns spricht; es ist keines von beyden, weil es beydes zugleich ist. Indem der weibliche Gott unsre Anbetung heischt, entzündet das gottgleiche Weib unsre Liebe; aber indem wir in der gewöhnlichen Erfahrung aber bleibt sie gewöhnlich unerfüllt, und ein Objekt mag noch so schön sein, so macht es entweder der vorgreifende Verstand augenblicklich zu einem vollkommenen oder der vorgreifende Sinn zu einem bloß angenehmen. Es ist etwas völlig subjektives, ob wir das Schöne als schön empfinden, aber objektiv sollte [Hervorh. d.A.] es sein.“ – Ebd., S. 208. Schiller berührt hier ein weiteres Paradox, auf das vor ihm schon Kant gestoßen ist. Denn der Gemeinsinn besagt, dass man allen anderen Menschen die Beistimmung in ein ästhetisches Urteil über das Schöne ‚ansinnen‘ muss, hierfür aber keine objektiven Regeln zur Verfügung hat. Das Schöne und der Dissens im Sinne Rancières hängen deshalb eng zusammen. 43 Ebd., S. 59. 44 Ebd., S. 63. 45 Ebd., ebd.
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uns der himmlischen Holdseligkeit aufgelöst hingeben, schreckt die himmlische Selbstgenügsamkeit uns zurück. In sich selbst ruhet und wohnet die ganze Gestalt, eine völlig geschlossene Schöpfung, und als wenn sie jenseits des Raumes wäre, ohne Nachgeben, ohne Widerstand; da ist keine Kraft, die mit Kräften kämpfte, keine Blöße, wo die Zeitlichkeit einbrechen könnte. Durch jenes unwiderstehlich ergriffen und angezogen, durch dieses in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat.“46
Abbildung 10: Juno Ludovisi
Photo: Marie-Lan Nguyen. Wiki-Commons.
Kaum hat Schiller anhand der Juno Ludovisi beschrieben, wie Schönheit als lebende Gestalt aus dem Gleichgewicht zwischen Form- und Stofftrieb hervorgeht, weist er erneut darauf hin, dass sie als Ideal nie erreicht werden kann, weil in der Erfahrung immer eine „Schwankung des Gleichgewichts“47 gegeben ist. Im 19. Brief vertieft er dieses Problem und denkt den Formtrieb vor seinem Kontakt mit der sinnlichen Materie als Zustand des menschlichen Geistes unabhängig von aller Bestimmung als reine Bestimmbarkeit. Weil ihm als in sich isoliertem und leerem keine Eindrücke durch die Sinne gegeben wären, wäre er zunächst grenzenlos. Da nichts gesetzt sein würde, könne nichts ausgeschlossen werden in diesem „Zustand der
46 Ebd., ebd. f. 47 Ebd., S. 64.
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Bestimmungslosigkeit“48 und seiner „leeren Unendlichkeit“49. Darauf stellt Schiller sich vor, was passiert, wenn der menschliche Geist seine Isolation verlässt und durch den Kontakt mit der sinnlichen Welt zur wirkenden Kraft wird. Sobald er sich dort aktualisiert, ist seine Unendlichkeit verloren, und Raum und Zeit sind begrenzt: „Wir gelangen also nur durch Schranken zur Realität, nur durch Negation und Ausschließung zur Position oder wirklichen Setzung, nur durch Aufhebung unsrer freyen Bestimmbarkeit zur Bestimmung.“50 Derart kommt die Frage auf, wie es möglich ist, in Kontakt mit der sinnlichen Welt und deren Bestimmungen – welche den menschlichen Geist nun affizieren – zu bleiben und gleichzeitig zu einer unbegrenzten Bestimmbarkeit zurückzukehren. Jedoch soll keine leere, durch einen in sich isolierten Formtrieb bedingte, Bestimmungslosigkeit erreicht werden, sondern eine volle Bestimmbarkeit, indem die Materie festgehalten und gleichzeitig von ihren Bestimmungen gelöst wird. Während die vom Stoff losgelöste Form Bestimmungslosigkeit war, geht es jetzt darum, die Schönheit der lebenden Gestalt als Bestimmbarkeit der Materie im Sinne einer ihr innewohnenden Mannigfaltigkeit potentieller Formen herauszustellen. Joseph Vogl hat das zentrale Problem Schillers auf erhellende Weise beschrieben. „Im einundzwanzigsten Brief über die ästhetische Erziehung unterscheidet Schiller nämlich zwei Formen der Unbestimmtheit bzw. der Bestimmbarkeit: eine ‚Bestimmungslosigkeit aus Mangel‘, als ‚leere Unendlichkeit‘; und eine ‚ästhetische Bestimmungsfreiheit‘, eine Bestimmungslosigkeit aus Überschuss, als ‚erfüllte Unendlichkeit‘. Die erste ist bestimmbar, weil überhaupt nicht bestimmt, sie ist schrankenlos, weil passiv und ohne Realität. Die zweite aber ist bestimmbar, weil nicht ausschließend bestimmt, und das heißt: Sie kann alle möglichen Bestimmungen umfassen, ohne dass eine einzelne davon ausgewählt und favorisiert wird, sie ist schrankenlos, weil unendlich bestimmt – also ein Zustand ‚höchster Realität‘. In der raum-zeitlichen Welt der Erscheinungen operiert dieser Zustand als Unterbrechung, als Lücke oder ‚Null‘, wie Schiller sagt, weil er jede bestimmte Wirkung aussetzt und jede Begrenzung annulliert. […] Das Aufgebot des ‚ganzen Vermögens‘ ist hier synonym mit einem Zaudern, das im Vorfeld der Entschließung, vor jedem Übergang zur Tat in einer gewissen Unerträglichkeit kulminiert.“51 48 Ebd., S. 74. 49 Ebd., ebd. 50 Ebd., ebd. 51 Joseph Vogl, Wallensteins Lage, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 196. In Differenz und Wiederholung, das von Vogl übersetzt wurde, schreibt Deleuze, darin bemerkenswerterweise Schillers Überlegungen zum Schönen sehr nah: „Die Indifferenz hat zwei Aspekte: den undifferenzierten Abgrund, das schwarze Nichts, das unbestimmte Lebewesen, in dem alles aufgelöst ist – aber auch das weiße Nichts, die wieder ruhig gewordene Oberfläche, auf der unverbundene Bestimmungen
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Diesen Zustand und das durch ihn freigesetzte Vermögen der Körper nennt Schiller in seinem 22. Brief erstmals und in Bezug auf Kants Kritik der Urteilskraft ‚ästhetisch‘ und denkt ihn sowohl auf der Ebene der Produktion als auch hinsichtlich der Rezeption als deren freie Tätigkeit und als die Generierung von Formen innerhalb ihrer offenen Praxis. Die den Körpern im ästhetischen Zustand gegebene, volle Bestimmbarkeit hält sie mit der sinnlichen Welt in Kontakt, realisiert sie jedoch nicht als bestimmte Körper, sondern setzt das Verhältnis selbst zwischen ihrer Tätigkeit und der Form, die sie annimmt, aufs Spiel. Deshalb ist der ästhetische Zustand mit einer Erfahrung der eigenen Lebendigkeit verbunden. „Ein Mensch kann uns durch seine Dienstfertigkeit angenehm sein; er kann uns durch seine Unterhaltung zu denken geben; er kann uns durch seinen Charakter Achtung einflößen; endlich kann er uns aber auch, unabhängig von diesem allen und ohne daß wir bey seiner Beurtheilung weder auf irgendein Gesetz, noch auf irgendeinen Zweck Rücksicht nehmen, in der bloßen Betrachtung und durch seine bloße Erscheinungsart gefallen. In dieser letzten Qualität beurteilen wir ihn ästhetisch.“52
Indem der ästhetische Zustand das Verhältnis zwischen Tätigkeiten und Formen öffnet, hebt er die Herrschaft einer aktiven Form über die passive Materie und damit eine hylemorphische Idee des Lebens auf. Was Schiller in seinem 24. Brief „edel“ nennt, ist etwas, „welches die Gabe besitzt, auch das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch die Behandlungsweise in ein Unendliches zu verwandeln. Edel heißt jede Form, welche dem, was seiner Natur nach
wie vereinzelte Glieder treiben, Kopf ohne Hals, Arm ohne Schulter, Augen ohne Stirn. Das Unbestimmte ist völlig indifferent, ebenso unbestimmt aber sind frei treibende Bestimmungen im Verhältnis zueinander. Vermittelt die Differenz zwischen diesen beiden Extremen? Oder ist sie nicht das einzige Extrem, der einzige Moment von Präsenz und Präzision? Die Differenz ist jener Zustand, in dem man von DER Bestimmung sprechen kann.“ – Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 49. 52 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 81 f. Foucault nähert sich in seinen Überlegungen zur parrhesia, obgleich aus einer anderen Richtung kommend als Rancière vermittels seiner Beschäftigung mit Schiller, ebenfalls dem Zusammenhang von Lebensformen und Körperpraktiken an, wenn er seine ethische Ästhetik der Existenz entwickelt, die er dann allerdings weit über das Feld der Kunst hinaus in Richtung einer Selbststilisierung ausdehnt: „Diese mögliche Untersuchung der Existenz als schöne Form wurde auch durch die bevorzugte Untersuchung jener ästhetischen Formen verdeckt, die mit dem Ziel entworfen wurden, den Dingen, den Substanzen, den Farben, dem Raum, dem Licht, den Tönen und den Wörtern Form zu verleihen.“ – Foucault, Der Mut zur Wahrheit, S. 213.
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bloß dient (bloßes Mittel ist), das Gepräge der Selbstständigkeit aufdrückt.“53 Edel ist eine Form, die das Lebendige nicht in einer bestimmten Idee des Lebens einschließt, sondern potentiell unendlich viele weitere Formen enthält. Mit Massumi lässt sich deshalb auch von einer ästhetischen Praxis sprechen, die sich spekulativ auf das Leben bezieht und Formen generativ hervorbringt: „Relieved of the immediate imperative to terminate in the world sensuously, free to range as openly as words are wont to do, the thought-movements initiated by speculation in its imaginative usage are enabled to invent world-lines, previously unheard-of and never before seen.“54 Auch bei Schiller ist der ästhetische Zustand eng mit einem singulären Leben verbunden, das gerade durch das Kontingent-Werden seiner Form zur lebenden Gestalt gelangt und sich nicht anhand eines Kalküls berechnen lässt. „Es ist ausdrücklich bewiesen worden, daß die Schönheit kein Resultat weder für den Verstand noch den Willen gebe, daß sie sich in kein Geschäft weder des Denkens noch des Entschließens mische, daß sie zu beyden bloß das Vermögen ertheile, aber über den wirklichen Gebrauch dieses Vermögens durchaus nichts bestimme.“55
Gegen Ende seiner Briefe, wenn er aus der Schönheit der lebenden Gestalt den freien Schein ableitet, grenzt er ihn von den Eigenschaften bestimmter Objekte ab, revidiert also manche vorangegangene Aussage. Jetzt hat das Schöne nichts mit den Objekten selbst zu tun, sondern bezeichnet das Verhältnis zwischen Körpern. Es impliziert eine gegenseitige Affizierung und qualitative Transformation zwischen Subjekt und Objekt. Bezüglich des freien Scheins fordert Schiller, er dürfe nicht verwirklicht werden, sich also als aktive Form eine passive Materie unterwerfen, sondern müsse die Lebendigkeit der Körper zwischen Form und Stoff in der
53 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 94. Terry Eagleton sieht hier Parallelen zum späteren Denken von Karl Marx: „Just as Schiller, towards the conclusion of his Letters on the Aesthetic Education of Man, speaks of how human society is born for pragmatic ends but evolves beyond such utility to become a delightful end in itself, so Marx finds the lineaments of such ‚aesthetic‘ bonding at the heart of the politically instrumental. [...] If production is an end in itself for capitalism, so is it also, in a quite different sense, for Marx.“ – Eagleton, The Ideology of the Aesthetic, S. 204. Jene marxistisch geprägte Lesart des Schönen findet sich noch bei Antonio Negri: „This production which determines the event of beauty, this production of beauty, is labour which has been liberated from command.“ – Antonio Negri, Letter to Massimo on Beauty, in: ders., „Art&Multitude“, Malden: Polity Press, 2012, S. 49 f. 54 Massumi, Semblance and Event, S. 147. 55 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 91.
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Schwebe halten, denn wenn der Dichter „seinem Ideal Existenz beilegt, und eine bestimmte Existenz damit bezweckt“56, verfehlt er den freien Schein, „indem er entweder sein Dichterrecht überschreitet, durch das Ideal in das Gebiet der Erfahrung greift, und durch die bloße Möglichkeit wirkliches Daseyn zu bestimmen sich anmaßt, oder indem er sein Dichterrecht aufgiebt, die Erfahrung in das Gebiet des Ideals greifen lässt, und die Möglichkeit auf die Bedingungen der Wirklichkeit einschränkt.“57
Der durch den Spieltrieb freigesetzte, freie Schein darf sich weder heteronom mit einem bestimmten Leben identifizieren noch autonom von ihm abspalten. Vielmehr muss er das Leben als Mannigfaltigkeit des Lebendigen zwischen Formtrieb und sinnlichem Trieb aufspannen. Mit dem Spieltrieb lässt sich keine gesellschaftliche Ordnung der Körper begründen, durch ihn wird vielmehr jede Ordnung des Lebens mit ihrer eigenen Kontingenz konfrontiert. Darum paradoxerweise kann, mit Rancière gesprochen, im freien Schein der Ausdruck des Lebens mit der Abwesenheit jeglichen Ausdrucks zusammenfallen, weil weder Inhalt noch Ausdruck vor ihrer Begegnung miteinander als Möglichkeiten oder Prätendenten einer bereits bestehenden Formsprache gegeben wären. Was bedeutet das für das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit? Lässt sich der schöne Körper als lebende Gestalt und freier Schein überhaupt mit der durch Arbeau und Feuillet überlieferten Konzeption von Choreographie als poetischem Regelwerk vereinbaren? Wozu führt, aufgespannt zwischen der Ausübung von Vermögen und dem Wirken von Kräften, weder poetisch funktionalisiert noch einem im Vorhinein gegebenen Ausdrucksmodell entsprechend58, die Lebendigkeit der Körper, wenn sie ausgespielt wird? Inwieweit lässt sich behaupten, Choreographie sei seit Ende des 18. Jahrhunderts in den ästhetischen Knoten verwickelt und kippe seitdem immer wieder in Ur-Ethik und in ein biopolitisches Kalkül hinein um, wenn sie ihn aufzulösen versucht? Schillers Schönheit jedenfalls schließt Fixierungen von Stil und Technik sowie hylemorphische Verständnisse des Körpers aus: Auf etwas Ähnliches wie diesen freien Schein, in dem nichts Bestimmtes ausgedrückt wird, will vielleicht auch Gerald Siegmund innerhalb seines lacanianischen Modells der Abwesenheit hinaus, wenn er über die Zuschauer des Stücks Con forts fleuve des französischen Choreographen Boris Charmatz aus dem Jahre 1999 schreibt:
56 Ebd., S. 110. 57 Ebd., S. 111. 58 Vgl. Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268.
186 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Was er oder sie wahrnimmt, sind nicht in erster Linie Personen mit wiedererkennbaren Körperbildern und -schemata, sondern körperliche Energien und Zustände. Sie werden entsubjektiviert, indem sie auf ihr ungenutztes und noch unbestimmtes Potential an Energie zurückgeworfen werden, und skulpturalen Objekten angenährt, die uns auf unheimliche Art und Weise begegnen.“59
Unheimlich ist am ästhetischen Zustand vor allem, dass mit ihm keine Adäquatheit zwischen posis und aísthesis mehr gegeben ist und so jedes Wiedererkennen verhindert wird. Haben sich demgegenüber, weil sie neue, fixe und universell gültige Stile und Techniken hervorgebracht haben, modern dance und Ausdruckstanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der (biopolitischen) Idee eines ethischen Lebens identifiziert? Dorion Weickmann jedenfalls trennt nicht allzu scharf die sogenannten ‚modernen‘ Techniken von den sogenannten ‚klassischen‘, weil es bei beiden um eine Anpassung der Lebendigkeit vermögender Körper an bestimmte Verfahren gehe. „Für die Ballettmeister des 17., 18. und 19. Jahrhunderts wie für die Schöpfer des modern dance ist der Körper ein Instrument, das beherrscht werden muß, um sich nicht von ihm beherrschen zu lassen. Die Vorstellung, den Trieben und Bedürfnissen des Leibes ausgeliefert zu sein, scheint ihnen unerträglich.“60
Um Antworten auf die oben aufgelisteten Fragen zu finden, soll zunächst in Immanuel Kants Analytik des Schönen aus seiner Kritik der Urteilskraft, durch die Schillers Überlegungen zum Spieltrieb maßgeblich inspiriert wurden, dem Motiv des Gemeinsinns nachgegangen und Foucaults Analyse der Biopolitik weiter ausgeführt werden, bevor untersucht wird, inwieweit sich, ebenfalls im späten 18. Jahrhundert, der herkömmlicherweise dem Handlungsballett zugeordnete Choreograph Jean Georges Noverre in seinen Briefen über die Tanzkunst mit dem Problem der Lebendigkeit der Körper und ihrem Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden, konfrontiert sieht. Deswegen, zumindest was seine theoretischen Überlegungen zur Choreographie betrifft, steht er sowohl an der Schwelle zum ästhetischen Regime als auch der Logik des biopolitischen Kalküls sehr nah. Mit Noverre verwandelt sich das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit auf beiderlei Weise, wenn er prophezeit, dass in Zukunft alles sprechen und expressiv sein werde.
59 Siegmund, Abwesenheit, S. 224. 60 Weickmann, Der dressierte Leib, S. 159.
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5.2 K ANTS S CHÖNES , DIE BESTIMMBARE
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DER
K ÖRPER
UND IHR
G EMEINSINN
Immanuel Kant gilt nicht gerade als sonderlich am Körper interessierter Philosoph. Ihm ist im Gegenteil sogar vorgeworfen worden, diesem gegenüber allein Verachtung zu zeigen.61 Während seiner kritischen Periode verschließt er das Noumenale, dessen von uns unabhängige Existenz er nicht bestreitet, während er davon ausgeht, dass wir nur die in den reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit gegebenen und durch die Verstandeskategorien gefilterten Erscheinungen der Dinge erfahren, niemals jedoch zu den Dingen-an-sich vorstoßen würden.62 Demnach wären Körper – unser eigener ebenso wie die uns äußerlichen – Objekte der Erfahrung und letztlich Phänomene, in deren Tiefe wir zunächst nicht eindringen können. Allerdings lässt sich argumentieren, dass Kant den Körper, obwohl nicht explizit von ihm die Rede ist in seiner Analytik des Schönen, dort implizit durchaus problematisiert als etwas, das mehr ist als nur ein Ding-für-uns oder eine unter Begriffe gebrachte Anschauung. Indem er das Schöne zentral an die Erfahrung einer Lust kop-
61 Vgl. hierzu exemplarisch Hartmut Böhme/Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft – Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983. Patrick Grüneberg hat demonstriert, dass solche Anschuldigungen Kants auf einer Reihe von Missverständnissen beruhen: Vgl. ders., Kennt Kants Kritik der reinen Vernunft den menschlichen Körper?, in: Antje Stache (Hrsg.), „Das Harte und das Weiche: Körper – Erfahrung – Konstruktion“, Bielefeld: transcript: 2006. 62 Die Anhänger einer sehr heterogenen und innerhalb der letzten Jahre unter dem Label Spekulativer Realismus international bekannt gewordenen Bewegung gehen zu Recht davon aus, dass Kant deshalb der Urvater des Korrelationismus von Subjekt und Objekt sei und eine Leitunterscheidung eingeführt habe, die bis heute fortwirke und noch reproduziert würde etwa in Lacans Abspaltung des Symbolischen vom Realen oder in Derridas Denken der Spur: „Finally, with Derrida the mediation of language becomes allencompassing, as the phenomenal realm of subjectivity becomes infested with linguistic marks. Throughout this process, any possibility of a world independent of the humanworld correlate is increasingly rejected (as is nicely symbolized by Heidegger’s famous crossing-out of the word ‚Being‘). This general anti-realist trend has manifested itself in continental philosophy in a number of ways, but especially through preoccupation with such issues as death and finitude, an aversion to science, a focus on language, culture, and subjectivity to the detriment of material factors, an anthropocentric stance towards nature, a relinquishing of the search for absolutes, and an acquiescence to the specific conditions of our historical thrownness.“ – Levi R. Bryant/Nick Srnicek/Graham Harman, Towards a Speculative Philosophy, in: dies. (Hrsg.), „The Speculative Turn – Continental Materialism and Realism“, Melbourne: re.press, 2011, S. 4.
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pelt und davon spricht, dass in ihr unser „Lebensgefühl“63 positiv affiziert würde, wirft er die Frage auf, ob es nicht etwas zwischen Körpern geben muss, das sie qualitativ transformiert und dabei nicht in einem einzelnen Erfahrungshorizont aufgehen kann, obwohl es ihn gleichsam modifiziert. Derart erinnert uns das Schöne daran, dass unsere Erfahrung von etwas produziert wird, das außerhalb ihres Rahmens liegt. Steven Shaviro bemerkt hierzu: „The object touches me, but for my part I cannot grasp it or lay hold of it, or make it last. I cannot dispel its otherness, its alien splendor.“64 Der folgenden Lektüre von Kants Überlegungen zum Schönen liegt also die Annahme zugrunde, dass vermögende Körper in seiner Analytik zwar nicht direkt thematisiert werden, sie aber indirekt motiviert wird von deren affektiven Modifikationen untereinander. „Daher muß der Schulname Ästhetik vermieden werden, weil der Gegenstand keinen Unterricht der Schulen verstattet“65, schreibt Kant aufgrund seiner Abwendung von Alexander Gottlieb Baumgarten in einer Randnotiz seiner Reflexionen zur Anthropologie. Wolfgang Wieland unterstreicht deshalb, dass es ihm in seiner Kritik der Urteilskraft um das genaue Gegenteil dessen geht, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit bisher als Poetik bezeichnet wurde. Kant zufolge ist das Wort Ästhetik weder als regelgeleitete Produktionsweise der Künste noch im Sinne einer ethisch verfassten „ersten Ästhetik“66 Rancières zu verstehen. Ästhetik, wie Kant sie höchstens mit einer Theorie des Sinnlichen identifiziert, muss im Gegenteil jede gegebene Aufteilung des Sinnlichen und damit jede Adäquatheit zwischen posis und aísthesis zutiefst verunsichern. Das Sinnliche, verstanden zunächst nur als permanente Affizierung des Subjekts67 und qualitative Transformation seiner Zustände, welches unter ästhetischen Gesichtspunkten und hinsichtlich der Urteilskraft zum Problem wird, konfrontiert Subjektivität auf rezeptionsästhetischer Seite 63 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders., „Sämtliche Werke Band 2“, Essen: Mundus, 2000, S. 44. 64 Shaviro, Without Criteria, S. 4. 65 Zitiert nach der Akademie-Ausgabe des Nachlasses in Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl – Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 2001, S. 43. Wieland bemerkt demnach: „Vom 19. Jahrhundert ab bis in unsere Gegenwart verwendet man den Ausdruck ‚Ästhetik‘ zumeist in der Bedeutung, von der Kant sich ausdrücklich distanziert.“ – Ebd., S. 46. Des Weiteren unterstreicht er bezüglich der bloßen Form des Erkennens, die in der reflektierenden Urteilskraft auf dem Spiel steht: „Darin drückt sich keine Option für ein bestimmtes Stilideal aus. Kant gibt der Kunst keine inhaltlichen Leitlinien vor. Obwohl von ihr nicht ausschließlich der Geschmack in Anspruch genommen wird, will er lediglich eruieren, was es ist, wodurch gerade dieses Vermögen herausgefordert wird.“ – Ebd., S. 225. 66 Vgl. Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 26. 67 Vgl. Wieland, Urteil und Gefühl, S. 52 f.
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mit einem autonomen Sensorium und verweist auf produktionsästhetischer Seite auf einen nicht länger autonomen Tätigkeitsbereich der Kunst im Singular. Kant eröffnet in seiner Analytik des Schönen eine Unentscheidbarkeitszone, in der nicht länger eine Trennlinie zwischen Kunst und Nicht-Kunst, respektive Choreographie und Nicht-Choreographie, gezogen werden kann. Die Grenze zwischen beiden wird im Schönen kontingent, weil die durch es provozierte Urteilsstruktur nicht in einer ethisch verfassten ‚ersten Ästhetik‘ begründet ist, sondern in immer singulären Prozessen des Urteilens selbst zuallererst generiert wird anhand der Reflektion auf die bloße Form des Erkennens.68 Wolfgang Wieland kommt deshalb zu dem Schluss, Kant entwerfe in seiner Dritten Kritik „keine Prinzipien, die geeignet wären, die Betätigung des hinter diesem Urteil stehenden Vermögens zu regulieren und Wege aufzuzeigen, auf denen sich die Resultate dieser Tätigkeit auf bündige Weise begründen und gegen mögliche Irrtümer sichern lassen. Umgekehrt will sie einsichtig machen, warum jede Hoffnung vergeblich ist, jemals Prinzipien aufzufinden, die es erlauben, Geschmacksurteile zu begründen und sie in eine systematische Wissenschaft von den Gegenständen der Welt einzufügen, die den Geschmack herausfordern.“69
Was bisher als die Öffnung des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit herausgearbeitet wurde und woraus Schiller seine Konzepte des freien Scheins und der lebenden Gestalt entwickelt, wenn er annimmt, im Spiel öffne sich der Formtrieb gegenüber ihm vom sinnlichen Trieb gegebenen, beliebigen Stoffen, ist bei Kant die „Unmöglichkeit, geeignete Anlässe von Geschmacksurteilen als solche unter inhaltlich bestimmte Begriffe oder gar in ein System zu bringen“70. Durch das sinnliche Vermögen der Körper wird so der Ruin der Logik des poetischen/repräsentativen Regimes eingeleitet. „Diese Untersuchungen sind nicht geeignet, einen ihren sicheren Gang aufnehmende Wissenschaft von der durch den Geschmack erschlossenen Welt zu ermöglichen, die durch überprüfbare Begründungen gesicherte Ergebnisse erzielen könnte. Deswegen kann die ‚Kritik der Urteilskraft‘ – in der Metaphorik der ersten Kritik ausgedrückt – mit ihren eigenen Mitteln noch nicht einmal ein ‚Wohnhaus‘ errichten.“71
68 Vgl. Gespräch mit Rodolphe Gasché, ‚Kants Ästhetik, denke ich, eröffnet eine Möglichkeit, noch die Experimente der zeitgenössischen Kunst zu beurteilen‘, in: Avanessian/Hofmann/Leeb/Stauffacher (Hrsg.), „Form – Zwischen Ästhetik und künstlerischer Praxis“. 69 Wieland, Urteil und Gefühl, S. 31 f. 70 Ebd., S. 320. 71 Ebd., S. 41 f.
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Ohne Wohnhaus betreten wir den wild wuchernden Garten der noch nicht domestizierten Natur, ein Außen, für dessen Mannigfaltigkeit wir noch keine Begriffe haben.72 Alles werde sprechen und alles werde expressiv sein, prophezeit Noverre der Choreographie zur gleichen Zeit, und Kant konstatiert gegen Ende seiner Analytik des Schönen: „Es gibt weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik, noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne Kunst. Denn was die erstere betrifft, so würde in ihr wissenschaftlich, d.i. durch Beweisgründe, ausgemacht werden sollen, ob etwas für schön zu halten sei oder nicht; das Urteil über Schönheit würde also, wenn es zur Wissenschaft gehörte, kein Geschmacksurteil sein. Was das zweite anlangt, so ist eine Wissenschaft, die als solche schön sein soll, ein Unding. Denn wenn man in ihr als Wissenschaft nach Gründen und Beweisen fragte, so würde man durch geschmackvolle Aussprüche (Bonmots) abgefertigt.“73
Gilles Deleuze, der bekanntermaßen kein Freund der Philosophie Kants war und ihm vorwarf, die Welt vor einen „Gerichtshof der Vernunft“74 zu zerren und sie einer Unterwerfung zuzuführen, „die um so scheinheiliger ist, als man uns den Titel von Gesetzgebern verleiht“75, widmet dessen Konzept des Schönen jedoch einige fast wohlwollend klingende Worte: „Wenn wir die materielle Fähigkeit der Natur betrachten, schöne Formen zu erzeugen, können wir daraus nicht notwendigerweise die Unterwerfung dieser Natur unter eines unserer Vermögen schließen, sondern nur ihre unabsichtliche Übereinstimmung mit allen unseren Vermögen zusammen.“76 Daran anschließend führt er seine Beobachtungen derart fort, dass man, trotz ansonsten gravierender Unterschiede im Denken beider, meinen könnte, seinen letzten Text, Die Immanenz: ein Leben, in Kants Dritter Kritik vorweggenommen zu sehen. „Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: der Verstand selbst sieht seine Begriffe auf unbestimmte Weise erweitert; die Einbildungskraft findet sich vom Zwang des Verstandes befreit, dem sie noch im Schematismus ausgesetzt war; sie wird fähig, die Form frei zu reflektieren. Die Übereinstimmung der Einbildungskraft als frei und des Verstandes als unbestimmt ist also nicht mehr einfach vermutet: sie ist in gewisser Weise durch das Schönheitsinteresse [Kant selbst spricht selbstredend nicht von ‚Interesse‘ in diesem Zusammenhang – Anm. d.A.] beseelt, belebt, erzeugt. Die freien Materien der sinnlichen Natur symbolisieren die Ideen der 72 Vgl. Gasché, The Idea of Form. 73 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 135. 74 Gilles Deleuze, Brief an einen strengen Kritiker, in: ders., „Unterhandlungen 1972 – 1990“, S. 15. 75 Ebd., ebd. 76 Ders., Kants kritische Philosophie, Berlin: Merve, 1990, S. 113.
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Vernunft – so erlauben sie es dem Verstand, sich zu erweitern, der Einbildungskraft, sich zu befreien. Das Schönheitsinteresse zeugt von einer übersinnlichen Einheit aller unserer Vermögen, als einem ‚Vereinigungspunkt im Übersinnlichen‘, aus dem sich die freie formale Übereinstimmung oder ihre subjektive Harmonie ergibt. Die übersinnliche, unbestimmte Einheit aller Vermögen und die freie Übereinstimmung, die sich daraus ableitet, sind die tiefsten der Seele.“77
Gleich zu Beginn der Analytik des Schönen grenzt Kant das Geschmacksurteil vom Erkenntnisurteil ab. Während der Verstand beim Erkenntnisurteil eine qua Einbildungskraft produzierte Anschauung begrifflich rahmt, wird deren bloße Form im Geschmacksurteil durch die Einbildungskraft auf das Subjekt und dessen Gefühl der Lust oder Unlust bezogen. Das Erkenntnisurteil ist objektiv, weil es in ihm zur Festlegung von Objekten und zur Subsumption der Mannigfaltigkeit des anschaulich Gegebenen unter Begriffe kommt, das ästhetische Urteil dagegen subjektiv, weil es in ihm allein um das Subjekt und eine positive Affizierung von dessen „Lebensgefühl“78 durch ein freies Spiel79 der Erkenntniskräfte geht. Hierzu merkt Wie-
77 Ebd., S. 112 ff. In den später verfassten Tausend Plateaus werden Deleuze und Guattari für die Ausformulierung ihres philosophischen Konzepts des organlosen Körpers durchaus ‚schöne‘ Anleihen machen: „Kurz gesagt, zwischen einem bestimmten Typus des oK und dem, was auf ihm vor sich geht, gibt es ein ganz besonderes Verhältnis von Synthese a priori, bei der irgend etwas zwangsläufig auf eine bestimmte Weise produziert wird, von dem man aber nicht weiß, was es sein wird: eine unendliche Analyse, bei der das, was auf dem oK produziert wird, schon Bestandteil der Produktion dieses Körpers ist, also schon in ihm enthalten oder auf ihm vorhanden ist, allerdings um den Preis unendlich vieler Übergänge, Teilungen und Neben-Produktionen. […] Die Organe verteilen sich auf dem oK. Aber sie verteilen sich dort eben unabhängig von der Form des Organismus, die Formen werden kontingent, die Organe sind nur noch produzierte Intensitäten, Ströme, Schwellen und Gradienten. […] Es handelt sich keineswegs um einen zerstückelten oder zerstörten Körper oder um Organe ohne Körper. Der oK ist das glatte Gegenteil. Es gibt weder zerstückelte Organe im Verhältnis zu einer verlorenen Einheit, noch eine Rückkehr zum Undifferenzierten im Verhältnis zu einem differenzierbaren Ganzen. Es gibt eine Verteilung von intensiven organischen Prinzipien mit ihren positiven unbestimmten Artikeln, im Inneren eines Kollektivs oder einer Mannigfaltigkeit, in einem Gefüge und maschinellen Konnexionen entsprechend, die auf einem oK wirksam sind.“ – Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 209 + S. 225. 78 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 44. Jan Völker merkt hierzu an: „Wenn Begriffe das Gerüst des Denkens sind, dann führen diese ‚Veranderungen‘ Leben in den Begriff ein. Sie führen Leben und ‚Veranderung‘ damit auch in die Natur ein, die für Kant transzendental nichts anderes ist als das Gesamt der Begriffe. Die Belebung durch den Geist ist also
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land an: „Es gibt nichts, was von Haus aus gänzlich unfähig wäre, ein Tätigsein der reflektierenden Urteilskraft einzuleiten.“80 Das Geschmacksurteil über das Schöne trägt nichts zur Erkenntnis eines Objekts bei, sondern hält vielmehr die „gegebene Vorstellung im Subjekte gegen das ganze Vermögen der Vorstellungen […], dessen sich das Gemüt im Gefühl seines Zustandes bewusst wird.“81 Damit öffnet sich im Schönen die bloße Form des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt. Die ungelöste Spannung zwischen einer gegebenen Vorstellung und den in dieser nicht gegebenen, weiteren und potentiellen Vorstellungen des Objekts ist es, die das gesteigerte Lebensgefühl im ästhetischen Zustand Kant zufolge ausmacht.82 Im Anmehr als eine reine Animierung, sie ist zugleich rückwirkend Veränderung der Natur selbst.“ – Völker, Ästhetik der Lebendigkeit, S. 187. 79 Zum ästhetischen Spiel in der nachkantianischen Philosophie vgl. Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels – Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000. 80 Wieland, Urteil und Gefühl, S. 374. 81 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 45. 82 Dadurch werden, ganz im Sinne von Deleuze, ein a-personales und prä-individuelles transzendentales Feld und die in ihm zunächst unbestimmte Beziehung zwischen Subjekt und Objekt affirmiert. Auch Canguilhem unterstreicht die immer offene Beziehung und den deshalb nicht definierten Bereich zwischen Subjekt und Objekt bei Kant: „Das transzendentale Subjekt des Denkens ist, ebenso wie das transzendentale Objekt der Erfahrung, ein X.“ – Canguilhem, Der Tod des Menschen oder Ende des Cogito?, in: Marques (Hrsg.), „Der Tod des Menschen im Denken des Lebens“, S. 43. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle näher auf die kosmologische Philosophie Alfred North Whiteheads einzugehen, der bekanntermaßen in seinen späten Jahren zu dem Schluss kam, die von ihm postulierte Kreativität des Universums wäre schön zu nennen. Dennoch soll kurz Prozeß und Realität erwähnt werden, in dem er seine ‚Kritik des reinen Empfindens‘ entwickelt und sich zunächst von Kant absetzt, dann aber dessen Ästhetik durchaus wohlwollend begegnet: „Für Kant taucht die Welt aus dem Subjekt auf; für die organistische Philosophie taucht das Subjekt aus der Welt auf – eher ein Superjekt als ein Subjekt. Das Wort ‚Objekt‘ bezeichnet daher ein Einzelwesen, das eine Potentialität darstellt, ein Bestandteil im Empfinden zu sein; und das Wort ‚Subjekt‘ bezieht sich auf das Einzelwesen, das durch den Empfindungsprozess konstituiert wird und diesen Prozeß einschließt. Der Empfindende ist die Einheit, die aus seinen eigenen Empfindungen auftaucht; und Empfindungen sind die Einzelheiten des Prozesses, der zwischen dieser Einheit und ihren vielen Daten vermittelt.“ – Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987, S. 175 f. Später gesteht er Kant zu: „Daher wird Kants ‚transzendentale Ästhetik‘ in der organistischen Philosophie zu einem verzerrten Fragment dessen, was sein Hauptthema hätte sein können.“ – Ebd., S. 218. Denn im Falle des Schönen gilt: „Daher kommt es im Empfinden aufgrund der unendlichen Komplexität des Empfunde-
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schluss an diese Feststellung trennt er das Schöne sowohl vom Angenehmen als auch vom Guten. In beide mischt sich eine Art von Interesse am Objekt, während die Erfahrung des Schönen in einem interesselosen Wohlgefallen am freien Spiel der eigenen Vermögen besteht. Das Urteil über das Schöne darf sich nicht auf die Existenz des Gegenstands und muss sich – ihm gegenüber völlig gleichgültig – allein auf das Vermögen zur Bildung von Vorstellungen im Subjekt beziehen. Das ist beim Angenehmen und Guten nicht der Fall. Beide sind mit einem spezifischen Interesse verbunden. Das Angenehme als das, „was den Sinnen in der Empfindung gefällt“83 schränkt das Vermögen des Subjekts ein und richtet es auf den Zweck hin aus, Vergnügen am Objekt zu finden. Es erzeugt deshalb die Neigung, sich im Genuss des Objekts jeglichen Urteilens entbinden und demnach gar nicht mehr begrifflich verfahren zu wollen. Das mit dem Schönen verbundene Gefühl wird dadurch verunmöglicht, weil es auf das Subjekt selbst und sein Vermögen, Begriffe zu bilden, bezogen ist, obwohl es nicht auf bereits bestimmten Begriffen gründet und sich auch nicht aus ihnen ableiten lässt. Ähnlich, aber auf entgegengesetzte Weise, verhält es sich mit dem Guten als dem, „was vermittels der Vernunft, durch den bloßen Begriff, gefällt“84. Das Interesse, welches sich ins Wohlgefallen am Guten mischt, besteht darin, Mittel für ihnen äußerliche Zwecke zu suchen und so Körper zu funktionalisieren: „Um etwas gut zu finden, muss ich jederzeit wissen, was der Gegenstand für ein Ding sein solle, d.i. einen Begriff von demselben haben.“85 Das Gute ist den Prinzipien der (praktischen) Vernunft unterworfen und kann zwar auch mittelbar angenehm sein, ist aber zunächst durch seine Ausrichtung auf Nützlichkeitskriterien gekennzeichnet, die das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt durch bestimmte Begriffe festlegen. Das Wohlgefallen am Schönen hingegen hängt zwar von der Reflektion auf die bloße Form ab, in der ein Gegenstand gegeben ist und führt zur Bildung von Begriffen, wird jedoch von keinem fixen Begriff bedingt, weil in ihm die Spannung zwischen einer gegebenen Vorstellung im Subjekt und den darin nicht gegebenen, weiteren und nur potentielnen nicht zu einem viciösen Regreß. Kant hebt in seiner transzendentalen Ästhetik die Lehre hervor, daß in der Anschauung ein komplexes Datum als eines angeschaut wird.“ – S. 288. Whitehead kommt sogar zu dem Schluss: „Solange keine Komplexität besteht, führen idealtypische Verschiedenheiten zu physischen Unmöglichkeiten und dementsprechend zur Verarmung. Eine komplexe Beschaffenheit ist erforderlich, um Verschiedenheiten als folgerichtige Kontraste ins Spiel zu bringen. Nur aufgrund der Kategorien der subjektiven Einheit und der subjektiven Harmonie begründet der Prozeß die Eigenschaft des Produkts, und enthüllt umgekehrt die Analyse des Produkts den Prozeß.“ – Ebd., S. 465 f. 83 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 46. 84 Ebd., S. 47. 85 Ebd., S. 48.
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len Vorstellungen aufrecht und so die Spannung zwischen Einbildungs- und Verstandeskraft erhalten bleibt. „Daher könnte man von dem Wohlgefallen sagen, es beziehe sich in den drei genannten Fällen auf Neigung oder Gunst oder Achtung. Denn Gunst ist das einzig freie Wohlgefallen. Ein Gegenstand der Neigung und einer, welcher durch ein Vernunftgesetz uns zum Begehren auferlegt wird, lassen uns keine Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen.86
Einer der wichtigsten Aspekte von Kants Ästhetik besteht darin, dass es keine Kriterien gibt, nach denen im Vorhinein entschieden werden könnte, was zur Steigerung des Lebensgefühls beitragen kann und was folglich schön zu nennen sei. Veranlasst jedoch etwas die ästhetische Lust, sind wir auf belebende Weise affiziert, und unser Vermögen ist gegenüber dem Wirken von Kräften auf unsere Körper gesteigert. Einen Gegenstand der ästhetischen Lust machen kann man sich aus allem. Allerdings hängt das interesselose Wohlgefallen am Schönen nicht nur mit den Vorstellungen eines einzelnen Körpers zusammen, sondern muss sich zugleich auf die (dissensuelle) Gemeinschaft aller beziehen. „Denn das, wovon jemand sich bewusst ist, dass das Wohlgefallen an demselben bei ihm ohne alles Interesse sei, das kann derselbe nicht anders als so beurteilen, dass es einen Grund des Wohlgefallens für jedermann enthalten müsse. Denn da es sich nicht auf irgendeine Neigung des Subjekts (noch auf irgendein anderes überlegtes Interesse) gründet, sondern da der Urteilende sich in Ansehung des Wohlgefallens, welches er dem Gegenstande widmet, völlig frei fühlt, so kann er keine Privatbedingungen als Gründe des Wohlgefallens auffinden, an die sich sein Subjekt allein hängt, und muss es dafür als in demjenigen begründet ansehen, was er auch bei jedem anderen voraussetzen kann; folglich muss er glauben, Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.“87
Weder kann der Beitritt anderer ins Geschmacksurteil eines Körpers durch Begriffe und objektive Regeln herbeiargumentiert werden (sonst wäre sein Gegenstand das Gute) noch kann sein Urteilen nur mit persönlichen Neigungen zu tun haben (sonst wäre sein Gegenstand das Angenehme). Trotzdem muss der ästhetische Zustand, in dem sich ein Körper befindet, dessen Urteilsstruktur vom Geschmack geleitet wird, in seiner subjektiven und singulären Qualität zugleich jeden Körper einbeziehen. Sein Geschmacksurteil ist kein Urteil, das auf durch Gesetzeskraft verordnete Geselligkeit zielt, weil in ihm das Gegenteil einer universalen Bestimmung der Körper
86 Ebd., S. 50. 87 Ebd., S. 51.
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postuliert wird. Die „Beistimmung von jedermann“88 kündigt sich dennoch als „allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes“89 an: Mitteilungsfähig ist demnach nicht das, worin sich die Steigerung seines Vermögens äußert, sondern das Vermögen des Körpers selbst, der auf schöne Weise affiziert wird. Aus seiner allgemeinen Mitteilungsfähigkeit resultiert die Lust am Schönen, das heißt, sie ist nicht Ursache, sondern Wirkung seiner Mitteilungsfähigkeit. Warum also wird das Vermögen des Körpers im Schönen als mitteilungsfähig erfahren? Wie ist ein Gemeinsinn zu verstehen, der die Körper nicht innerhalb bestimmter, ethischer Formen anordnet, sondern ihnen eine bloße, bestimmbare Form überhaupt erst zur Erfahrung bringt? Weil die Vorstellungskräfte des Körpers im Geschmacksurteil im freien Spiel sind, schränkt sie kein bestimmter Begriff auf eine feststehende Erkenntnisregel ein. Eine bestimmte Vorstellung, in der ein Gegenstand normalerweise gegeben ist, besteht aus „Einbildungskraft für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in der Anschauung“90 und „Verstand für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt“91. Das freie Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand bildet nach Kant deshalb einen subjektiven Zustand, der sich allgemein mitteilt, weil „Erkenntnis, als Bestimmung des Objekts, womit gegebene Vorstellungen (in welchem Subjekte es auch sei) zusammenstimmen sollen, die einzige Vorstellungsart ist, die für jedermann gilt.“92 Insofern deutet Kant mit seiner Reflektion auf die bloße Form des Erkennens ein allen Körpern gleichermaßen inhärentes Vermögen zur offenen Praxis an und folglich eine Praxisform, die nicht anhand im Vorhinein gegebener Verfahren operiert, sondern ihre Regeln im Vollzug zuallererst generiert. Deshalb gibt es eine schöne Praxis, die sich nicht nur, wie Christoph Menke vorschlägt, negativ und als Unterbrechung von Praxis denken lassen muss: „Die ästhetische Lust entstammt der Erfahrung: Wir können erkennen – wir können können, wir haben praktische Vermögen. Nach Kant unterbricht die ästhetische Belebung der Kräfte die Ausübung der Praxis nur, um dem Subjekt zur Erfahrung zu bringen, daß es das Vermögen zur Ausübung der Praxis hat.“93 88 Ebd., S. 56. 89 Ebd., ebd. 90 Ebd., S. 57. 91 Ebd., ebd. 92 Ebd., ebd. 93 Menke, Kraft, S. 96. Obwohl Menke an anderer Stelle „die ästhetischen Dinge des Geschmacks als unregulierbare, der Theorie und ihrem begrifflich-diskursiven Wissen prinzipiell entzogene“ versteht und vermutet, das ästhetische Subjekt verfahre „ohne Leitung der Tradition, aber auch ohne Leitung einer allgemein definierten Methode, ja, selbst ohne Leitung eines bereits gegebenen, also vorgegebenen Begriffs“, kommt er aufgrund seiner Überblendung Baumgartens und Kants dennoch zu dem Schluss, es bestehe ein
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Demgegenüber das Schöne eher als besonderen Modus der Praxis denn als deren Unterbrechung zu verstehen bedeutet, wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit bisher in Bezug auf das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit gezeigt wurde, eine offene Bestimmbarkeit der Praxis von Körpern in den Vordergrund zu stellen. Unter ästhetischen Gesichtspunkten wird die Frage virulent, wie die Beziehung zwischen Tätigkeit und Form anders beschaffen sein kann denn als bereits gegebene Matrix, an der sich Praxis zu orientieren hat. So gesehen besteht eine nicht allzu entfernte Verwandtschaft zwischen dem bestimmbaren, dissensuellen Formzusammenhang der Körper im ästhetischen Gemeinsinn Kants und der Lesart des general intellect aus Karl Marx’ Maschinenfragment mancher Denker in der Tradition der italienischen Autonomia und des Postoperaismus.94 Paolo Zusammenhang zwischen Ästhetik und dem, was Foucault in Überwachen und Strafen Disziplinarmacht nennt: „Indem die Ästhetik das Subjekt als gewordenes, oder genauer: als gemachtes beschreibt, wiederholt sie also nur die neue soziale Realität disziplinärer Herrschaft. Die Ästhetik ist eine Theorie und Praxis der Prozeduren der Disziplinierung – der Übung, der Kraftsteigerung und -koordination, der Prüfung –, die im Zentrum der sozialen Disziplinen stehen. [...] Das ästhetische Subjekt hat seine sinnlichen Kräfte ganz in eigene Vermögen verwandelt: Indem sich seine sinnlichen Kräfte in völliger Freiheit entfalten, stimmen sie von selbst mit der Gesetzmäßigkeit der sozialen Normen zusammen, denen sie in der Szene der Disziplinierung von außen unterworfen waren.“ – Ders., Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum, in: ders./Juliane Rebentisch, „Kreation und Depression – Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2010, S. 227 ff. Weil Menke von der Unterscheidung zwischen Kraft und Vermögen einen anderen Gebrauch macht als dies in der vorliegenden Arbeit geschieht und Vermögen für ihn mit Konditionierung verbunden ist, während Kraft die Bedingung der Ausbildung des Subjekts qua Vermögen ist, kann er davon ausgehen, ästhetische Erfahrung sei eine Unterbrechung der Praxis. Hier hingegen sei dafür plädiert, Ästhetik als eine offene Praxisform und als Genese der Körper zu denken. Vgl. dazu auch Ludger Schwarte, Vom Urteilen, Berlin: Merve, 2013: „Das Urteil ist abgeschlossen, wenn es die Wirklichkeit durch seinen Vollzug verändert und nicht nur kommentiert.“ – Ebd., S. 27. 94 „Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind.“ – Marx, Grundrisse, S. 594. Daran anschließend weist Marazzi auf ein Problem hin, mit dem sich vermögende Körper bzw. deren general intellect heute konfrontiert sehen: „Tatsächlich ist die menschliche intellektuelle Ressource der wahre Ursprung des Werts, aber sie liegt brach, solange sie nicht eingefangen und zum Eigentum des Unternehmens gemacht wurde.“ – Marazzi, Der Stammplatz der Socken, S. 79. Hier zeigt sich wieder der Konflikt zwischen
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Virno schreibt über die Virtuosität der Körper, an der alle und jeder gleichermaßen teilhaben, was sich bereits in Kants ästhetischem Gemeinsinn vorweggenommen findet. „Der general intellect muss buchstäblich als Intellekt im Allgemeinen verstanden werden. Es versteht sich von selbst, dass der Intellekt-im-Allgemeinen eine ‚Partitur‘ nur im weiten Sinn darstellt. Es handelt sich klarerweise nicht um eine spezifische Komposition (sagen wir etwa die Goldberg-Variationen von Bach), gespielt von einem unvergleichlichen Könner (nehmen wir Glenn Gould), sondern genau gesagt um ein schlichtes Vermögen, um ein Vermögen, durch das jede Komposition möglich wird (und auch jede Erfahrung). Die virtuose Ausführung, die nie ein Werk zum Ergebnis hat, kann in diesem Falle nicht einmal von einem solchen ausgehen. Sie besteht darin, den Intellekt als Haltung anklingen zu lassen. Ihre einzige ‚Partitur‘ ist als solche die Möglichkeitsbedingung aller Partituren.“95
Unter diesem Gesichtspunkt wird später gefragt werden, inwieweit sich Rancières eher rezeptionsästhetisch orientierte Überlegungen bezüglich seines ästhetischen Regimes um eine stärkere produktionsästhetische Facette erweitern lassen. Denn wenn Rancières Idee der ästhetischen Gemeinschaft der Trennung mit dem Vermögen aller Körper zusammenhängt, hat dies Konsequenzen nicht nur auf der Ebene ästhetischer Objekte und Produkte, sondern auch und gerade hinsichtlich der Praktiken und Tätigkeitsweisen, die zuallererst zu ihnen hinführen. Das aber sicherlich nicht, wie er selbst nicht müde wird zu betonen, im Sinne einer neuen Adäquatheit zwischen posis und aísthesis. Weil das Subjekt im ästhetischen Geschmacksurteil das Objekt durch keinen bestimmten Begriff erkennt, öffnet es sich gegenüber seinem Vermögen, das Objekt auch anders erkennen zu können und damit dessen potentiellen Bestimmungen durch es. Das allgemeine Vermögen der Körper in der Erfahrung des Schönen besteht darin, allen anderen den Beitritt in die Bestimmbarkeit der gemeinsamen Form „anzusinnen“96, weil jeder das Vermögen besitzt, Begriffe auf Anschauungen zu beziehen, ohne dabei im Vorhinein feststehenden Regeln zu folgen. Andrea Kern beschreibt jenes Moment in Kants Analytik des Schönen anhand seiner Wirkungen auf die Fähigkeit eines jeden, Anschauungen und Begriffe frei miteinander zu vergleichen, ohne sie aufeinander abzugleichen.
Macht (potestas) und Vermögen (potentia) im Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit. 95 Paolo Virno, Exodus, Wien: turia+kant, 2010, S. 44 f. Das Vermögen der Körper lässt sich nicht einfach in dem general intellect äußerlichen Strukturen ‚aufheben‘, sondern nur innerhalb ihrer Praxis in actu ins Spiel bringen. 96 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 56.
198 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Daß die Vermögen miteinander im Spiel sind, bedeutet daher nicht einfach, daß sie nicht in einer endgültigen Bestimmung des Gegenstands resultieren, sondern daß sie gar keine Bestimmung des Gegenstands unternehmen, weil sie vielmehr sich selbst reflektieren. Das Urteil über das Schöne ist nach Kant das Urteil einer freien Urteilskraft, und dies heißt nicht, daß die Urteilskraft die gegebene Vorstellung in einer anderen Weise als gewöhnlich auf Begriffe bezieht, sondern es heißt, daß sie sie auf etwas anderes bezieht: nämlich auf ihr Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen.“97
Die ästhetische Urteilskraft, die sich im Geschmacksurteil auf dem unbestimmten Vermögen der Körper gründet, ist deshalb allgemein, weil sich alle Körper darin gleich sind, unabhängig von bestimmten Regelsystemen, an denen sie sich dabei im Vorhinein orientieren dürften, freie – nicht anderswo denn in einer singulären Urteilsstruktur verankerte – Urteile fällen zu können.98 Jeder beliebige Gegenstand wird bestimmbar in der Erfahrung des Schönen. Die Lust schöner Körper kann nicht objektiv sein deswegen, weil sie dann zur Bestimmung würde, indem sie deren Vorstellungskräfte einem Regelwerk unterwürfe und einem begrifflichen Zweck zuordnete. Ebenfalls kann sie nicht nur subjektiv sein, weil sie dann bloß angenehm und mit einem anderen Interesse verbunden wäre – dem Genuss. Im Schönen zeigt sich letztlich eine reine „Form der Zweckmäßigkeit“99, in der das Verhältnis zwischen der Mannigfaltigkeit in der Anschauung und der Einheit aller möglichen Begriffe gegenüber nicht bereits gegebenen, also nicht begrifflichen, sondern intensiven, potentiellen Bestimmungen geöffnet wird. Dadurch kommt es zur „Belebung der Erkenntniskräfte“100 innerhalb einer Erfahrung, die „sich selbst stärkt und reproduziert“101 . Die bloße Form des Mannigfaltigen in der Beurteilung des Schönen muss offen bleiben als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“102 , wie Kant es nennt. Sie ist eine rein supplementäre Einheit, das also, was im Vorgestellten selbst nicht vorgestellt wird und deshalb die Grenzen des Erkenntnisvermögens entregelt: „In der Beurteilung einer freien Schönheit (der bloßen Form nach) ist das Geschmacksurteil rein. Es ist kein Begriff von irgendeinem Zwecke, wozu das Mannigfaltige dem gegebenen Objekt dienen und was dieses also vorstellen solle, vorausgesetzt; wodurch die Freiheit der Einbildungskraft, die in Beobachtung der Gestalt gleichsam spielt, nur eingeschränkt werden würde.“103 97
Andrea Kern, Schöne Lust – Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant,
98
Vgl. hierzu auch Hannah Arendt, Das Urteilen, München/Zürich: Piper, 1985.
99
Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 60.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 58.
100 Ebd., S. 61. 101 Ebd., S. 62. 102 Ebd., S. 65. 103 Ebd., S. 68.
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Außerdem darf das Geschmacksurteil, obwohl es als subjektiv allgemeines allen anderen Körpern angesinnt wird, allein auf einem „selbsteigene[n] Vermögen“104 gegründet sein. Es darf kein feststehendes Modell nachahmen, sondern muss vom Subjekt selbst auf singuläre Weise hervorgebracht werden. Das heißt, wie Kern hervorhebt, dass der ästhetische Gemeinsinn keinem „gemeinschaftlichen Maße“105 gehorcht. „Wenn ich mich in meinem Urteil über das Schöne auf einen Gemeinsinn berufe, dann heißt dies im Unterschied zur Berufung auf objektive Begriffe nicht, daß ich mein Urteil damit auf einen Maßstab beziehe, der sich außerhalb meines Urteilens befindet, sondern es heißt umgekehrt, daß ich mein Urteilen damit auf einen Maßstab beziehe, der in meinem Fühlen und Urteilen selber liegt.“106
104 Ebd., S. 70. Wieland merkt hierzu an: „Die bestimmende Urteilskraft subsummiert ein Besonderes unter ein bereits gegebenes Allgemeines. Der ‚bloß‘ reflektierenden Urteilskraft ist dagegen ‚nur‘ ein Besonderes gegeben, zu dem sie ein passendes Allgemeines erst noch finden soll. Auf eine derartige vorgängige Leistung ist aber gerade die bestimmende Urteilskraft in den meisten Fällen als auf eine Voraussetzung ihrer eigenen Tätigkeit angewiesen.“ – Ders., Urteil und Gefühl, S. 142 f. Interessanterweise geht auch Jean-François Lyotard, dessen Privilegierung des Erhabenen bekanntermaßen von Rancière an vielen Stellen heftigen Polemiken unterzogen wird, in seinen Kant-Lektionen auf dessen selbsteigenes Vermögen als etwas ein, das kein Subjekt voraussetzt, sondern es nur verspricht: „Ich betrachte diesen singulären und wiederkehrenden, aber immer wieder ‚neuen‘ Einklang, der jedes Mal zum ersten Mal in Erscheinung tritt, als Entwurf eines ‚Subjekts‘. Jedesmal, wenn eine Form die reine Lust des Gefühls des Schönen bereitet, ist das, als ob die Dissonanzen, die das Denken teilen – die der Einbildungskraft und die des Begriffs –, phasengleich zu verlaufen begönnen und wenn nicht einer vollkommenen Konsonanz, einem friedlichen Ehestand, so doch einem wohlwollenden und sanften Wetteifern Raum gäben, wie es Verlobte vereint. [...] Das Subjekt wäre die vollendete Einheit der Vermögen. Doch der Geschmack resultiert nicht aus dieser Einheit. Und in diesem Sinne kann er nicht von einem Subjekt empfunden werden. Er resultiert aus der Verlobung der beiden Vermögen und kündigt so die Geburt eines vereinten Paares an. Es gibt keine Subjektivität (dieses Paar), die reine Gefühle empfinden würde, es gibt dieses reine Gefühl, das ein Subjekt verspricht. In der Ästhetik des Schönen ist das Subjekt ‚im Geburtszustand‘.“ – Jean-François Lyotard, Die Analytik des Erhabenen – Kant-Lektionen, München: Fink, 1994, S. 30 f. 105 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 72. 106 Kern, Ästhetischer und philosophischer Gemeinsinn, in: dies./Sonderegger (Hrsg.), „Falsche Gegensätze“, S. 87.
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Dieses Ausschlusskriterium für das Schöne und seine Priorisierung eines affektiven gegenüber einem ‚vernünftelnden‘ Urteilen macht Kant am Kontrastbeispiel der „Normalidee“107 deutlich. Will man nämlich die Normalgröße eines Mannes aus tausend gegebenen Menschen ableiten, muss man die Körper möglichst vieler Männer übereinander legen, um zu einer mittleren Größe zu gelangen, „die sowohl der Höhe als auch Breite nach von den äußersten Grenzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist. Und dies ist die Statur für einen schönen Mann.“108 Ein solches gemeinschaftliches Maß jedoch hat rein gar nichts mit Kants Verständnis des Schönen zu tun. Zum Schönen kann man nicht durch arithmetische Verfahrensweisen gelangen; die Normalidee ist kein subjektiv Allgemeines und wird nicht innerhalb einer singulären Urteilsstruktur zuallererst hervorgebracht. Es verhält sich genau umgekehrt: Sie muss vorausgesetzt sein in der Erfahrung von Proportionen. Erst durch sie werden proportionale Regelmechanismen überhaupt möglich. Kant zufolge ist das gemeinschaftliche Maß der Normalidee darum nicht schön, sondern „bloß schulgerecht“109. Das Problem des Schönen besteht darin, dass es zwar die Beistimmung aller ins Geschmacksurteil provoziert, hierfür aber keine Regel angegeben werden kann. Zwar gibt es einen Grund, der allen gemeinsam ist (die lustvolle Steigerung des ‚Lebensgefühls‘ durch ein freies Spiel der Vermögen), der Grund selbst lässt sich aber nicht bestimmen. Er ist weder der gemeinsame Genuss des Angenehmen noch die gemeinsame Unterwerfung unter das Gesetz des Guten. Vielmehr ist das im ästhetischen Gemeinsinn gegebene Gemeinsame, das Vermögen zum Gemeinsamen, nur die Idee eines Gemeinsamen. Geschmacksurteile haben nicht wie Erkenntnisurteile ein bestimmtes objektives Prinzip zugrunde liegen, sind also nicht unbedingt notwendig. Ebenfalls sind sie nicht einfach ohne alles Prinzip, also nicht wie jene über das Angenehme bloß auf subjektive Empfindungen bezogen und deswegen überhaupt nicht notwendig. Ihre relative Notwendigkeit besteht darin, dass in ihnen die Vorstellung eines Körpers 107 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 72. Kants Normalidee, von der er das Schöne abgrenzt, verweist im Zusammenhang dieser Arbeit auf ein Verständnis von Choreographie als bestimmte Form, nach der sich die lebendige Tätigkeit tanzender Körper zu richten hat. Wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, entwickeln sowohl Arbeau als auch Feuillet im Sinne Kants Normalideen tanzender Körper. Auch der im 19. Jahrhundert erstarkende Kult um die Grazie hat nichts mit dem Schönen zu tun, sondern mit einer Normalidee von Choreographie. Im Gegensatz dazu wird es bei dem in Kapitel 8 entwickelten Konzept des Choreographischen um das zentrale, vom Schönen aufgeworfene, Problem gehen, nämlich im Sinne Wielands um singuläre Beispiele einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann und um einen Modus der Urteilskraft, der zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine zuallererst noch sucht. Vgl. Wieland, Urteil und Gefühl. 108 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 72. 109 Ebd., S. 73.
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nicht durch die Verstandeskraft auf bestimmte Begriffe eingeschränkt, sondern die Verstandeskraft der Einbildungskraft nachgeordnet wird. Leander Scholz formuliert dies so: „Die Analytik des ‚Schönen‘ in der Kritik der Urteilskraft führt im Gegensatz zur Subsumption eines bestimmenden Urteils zu einer negativen Urteilsstruktur. Die vier Momente, durch die Kant das ‚Schöne‘ beschrieben sieht, ergeben sich aus der Zurückweisung aller Formen des Bestimmens, die sich in der Tafel der Verstandeskategorien in der Kritik der reinen Vernunft aufgelistet finden.“110
Kants ästhetischer Gemeinsinn ist Ergebnis subjektiver Geschmacksurteile und basiert auf einem allgemein mitteilbaren Gefühl der Lust, das den Anlass gibt, anderen ihren Beitritt in es anzusinnen. Dies impliziert eine objektive Dimension, Kant aber verbleibt im Subjekivismus: „Also nur unter der Voraussetzung, dass es einen Gemeinsinn gebe (wodurch wir aber keinen äußeren Sinn, sondern die Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntniskräfte verstehen), nur unter Voraussetzung, sage ich, eines solchen Gemeinsinns kann das Geschmacksurteil gefällt werden.“111 Kant stößt hier auf ein Problem, das er nie objektiv lösen wird: Jede Form von Erkenntnis und Urteil, zu dem Körper in der Lage sind, muss allgemein mitteilbar sein. Also muss laut Kant jeder singuläre Gemütszustand – als das Verhältnis der Erkenntnis- zu den Vorstellungskräften, das es überhaupt erst ermöglicht, Urteile zu fällen – ebenfalls allgemein mitteilbar sein. Weil das Verhältnis der Erkenntnisund Vorstellungskräfte ständig variiert, kann der Gemeinsinn keine allen gemeinsame Proportion haben und nicht begrifflich gefasst werden, sondern zeigt sich allein subjektiv als gesteigertes ‚Lebensgefühl‘ und als bestimmbares Verhältnis einer gegebenen Vorstellung zu allen in ihr nicht gegebenen, weiteren und nur potentiellen Vorstellungen, als Vermögen von jedermann also, Vorstellungen auf Erkenntniskräfte zu beziehen überhaupt. „Die unbestimmte Norm eines Gemeinsinns wird von uns wirklich vorausgesetzt; das beweist unsere Anmaßung, Geschmacksurteile zu fällen. Ob es in der Tat einen solchen Gemeinsinn als konstitutives Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung gebe oder ein noch höheres Prinzip der Vernunft es uns nur zum regulativen Prinzip mache, allererst einen Gemeinsinn in uns zu höheren Zwecken hervorzubringen; ob also Geschmack ein ursprüngliches und natürliches oder nur die Idee zu einem noch zu erwerbenden und künstlichem Vermögen sei, sodass ein Geschmacksurteil mit seiner Zumutung einer allgemeinen Beistimmung in der Tat nur eine Vernunftforderung sei, eine solche Einhelligkeit der Sinnesart hervorzubringen, und das Sol110 Leander Scholz, Technik, Kraft und Ästhetik des Urteilens: Kants Phänopolitik, in: ders./Balke/Maye (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 85. 111 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 75.
202 | V ERMÖGENDE K ÖRPER len, d.i. die objektive Notwendigkeit des Zusammenfließens des Gefühls von jedermann mit jedes seinem besonderem, nur die Möglichkeit, hierin einträchtig zu werden bedeute, und das Geschmacksurteil nur von der Anwendung dieses Prinzips ein Beispiel aufstelle: das wollen und können wir hier noch nicht untersuchen, sondern haben für jetzt nur das Geschmacksvermögen in seine Elemente aufzulösen, um sie zuletzt in der Idee eines Gemeinsinns zu vereinigen.“112
Das Geschmacksurteil stärkt das Beurteilungsvermögen von Körpern. Die freie Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft verfährt nicht einfach reproduktiv und nach vorgegebenen Assoziationsregeln, sondern dissoziativ, produktiv und selbsttätig, „als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen“113 . Zwar ist sie dabei weiterhin an eine Form des vorgestellten Objekts gebunden, öffnet die gegebene Form jedoch durch eine „freie und unbestimmt-zweckmäßige Unterhaltung der Gemütskräfte“114 gegenüber ihrem Potential für weitere Formen. Kant macht dieses freie Spiel der Formen anhand eines anderen Kontrastbeispiels klar, indem er zunächst die Zweckmäßigkeit geometrischer Gestalten beschreibt. Die regelmäßige Gestalt eines Zirkels, eines Würfels oder eines Quadrats können nur als Illustrationen ihnen vorangehender Begriffe vorgestellt werden. In einem Urteil über sie ist nicht nur die Einbildungskraft der Verstandeskraft subsumiert und die Mannigfaltigkeit der Anschauung in einer Einheit aufgehoben, sondern sie können als regelmäßig geometrische Erscheinungen gar nicht anders vorgestellt werden denn als Korrelate bereits bestimmter Begriffe. Bei der Beurteilung regelmäßiger Gestalten hat man es mit einer Beurteilung durch den Verstand, nicht aber durch den ästhetischen Geschmack zu tun, weil hier das Mannigfaltige der Einbildungskraft in der Einheit des Verstandes und in einem schon bestimmten Zweck aufgeht. Deswegen missfallen, so Kant, die Unregelmäßigkeit eines Zimmers, dessen Wände schiefe Winkel haben, ein wild wachsender englischer Garten oder einäugige Tiere (und damit eher monströs wuchernde denn harmonisch-organisch gegliederte Körper), weil sie zweckwidrig sind, zwar dem Verstandesurteil (über das Gute), sind aber deshalb nicht nicht schön. Im Gegenteil: Die Regelmäßigkeit eines Gegenstandes ist nur Bedingung, ihn in einen Begriff und somit „in eine einzige Vorstellung zu fassen und das Mannigfaltige in der Form desselben zu bestim-
112 Ebd., S. 77. 113 Ebd., S. 78. Deleuze hebt jenes Moment des Schönen bei Kant, an dieser Stelle nicht ohne Ironie, bewundernd hervor: „Einmal sagt Kant sogar, daß die Einbildungskraft bei ihrem Urteil ‚ohne Begriff schematisiert‘. Diese Formulierung ist eher brillant als exakt.“ – Gilles Deleuze, Die Idee der Genese in Kants Ästhetik, in: ders., „Die einsame Insel – Texte und Gespräche 1953–1974, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 86. 114 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 79.
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men“115, schließt aber ein Urteil über das Schöne geradezu aus. Im Geschmacksurteil nämlich darf die Einbildungskraft nicht dem Verstand dienen, sondern dieser wird jener nachgestellt. Somit befreit sich in der Erfahrung des Schönen die Vorstellung von jedem Zweck und wird als reiner Entwurf potentieller Formen zur formalen Zweckmäßigkeit in sich selbst, „bis zur Annährung zum Grotesken“116. Im Geschmacksurteil gelangt das Vermögen der Einbildungskraft zu höchster Potenz, indem das Mannigfaltige und dessen potentielle Einheiten in einer unlösbaren Spannung gehalten und deshalb eine „lange Unterhaltung mit der Betrachtung“117 des letztlich unbestimmten Verhältnisses zwischen Körpern in Gang gesetzt werden. Kern bringt die Pointe von Kants Analytik des Schönen auf den Punkt. „Das, was uns im ästhetischen Spiel als zweckmäßig erscheint, ist dabei nicht die Zweckmäßigkeit einer bestimmten Bedeutung, sondern die Zweckmäßigkeit der gegebenen Bedeutung als solcher. Daß es nicht die Zweckmäßigkeit einer bestimmten Bedeutung sein kann, ergibt sich schon allein daraus, daß das ästhetische Spiel kein Tun ist, bei dem wir die Bedeutung des Gegenstands bestimmen, sondern ein Tun, bei dem wir jedes Bestimmen der Bedeutung des Gegenstands wesentlich zurückhalten, weil wir in einer Situation ästhetischer Unent115 Ebd., ebd. 116 Ebd., ebd. Zum Begriff des Grotesken sei an dieser Stelle auf Susanne Foellmers Ausführungen über das Motiv des Grotesken im zeitgenössischen Tanz hingewiesen. Foellmers Fragen sind durchaus in den paradoxen Knoten im Herzen von Rancières ästhetischem Regime verwickelt, obwohl ihre eigenen Antworten darauf aus einer anderen Richtung kommen: „In der Rede über theatrale Ereignisse, etwa in Self unfinished, tritt bisweilen ein Körper auf, der überpräsent, da unteilbar erscheint – und mithin dennoch wieder einen Grundstein zur Fragmentierung, aber eben auch zur Er-Findung von Bildern legt. Ist also der Versuch, über das Materielle, das Wuchernde, das sich im Aufschub, zwischen den Zeichen Befindende zu reden, zum Scheitern verurteilt? Können Körper auf der Bühne ihrer Belegung durch Bedeutungen und Bilder nicht entrinnen?“ – Susanne Foellmer, Am Rande der Körper – Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz, Bielefeld: transcript, 2009, S. 39. Exemplarisch lässt sich an Foellmers Problemstellung aufzeigen, inwiefern Fragen der heutigen Tanzwissenschaft ins ästhetische Regime Rancières eingeschrieben sind. Weil Foellmer an dieser Stelle jedoch, darin einer überwiegenden Mehrzahl ihrer Kollegen folgend, in erster Linie aus semiotischer Perspektive über den Körper nachdenkt, kann es in ihren Ausführungen nur um ein mehr oder weniger an Präsenz oder Absenz gehen, das in zeitgenössischen Tanzproduktionen aufs Spiel gesetzt würde. In der vorliegenden Arbeit soll dahingehend argumentiert werden, dass ein Auseinanderfallen des fixen Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit wesentlich das ästhetische Regime ausmacht. Es geht dann um Intelligibles in der Materie und Sinnliches in der Form. 117 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 79.
204 | V ERMÖGENDE K ÖRPER scheidbarkeit sind. Es ist nicht diese oder jene Bedeutung, sondern die gegebene Bedeutung überhaupt, von der wir die Vorstellung haben, sie sei für unser Vermögen des Verstehens vorherbestimmt.“118
In die Terminologie Rancières übersetzt, geht es bei der Anschauung des Mannigfaltigen um den Einbruch der Kontingenz in eine Aufteilung des Sinnlichen und das Auseinanderbrechen einer bereits bestimmten Form der (gemeinschaftlichen und konsensuellen) Erfahrung, wie sie im ethischen und im poetischen/repräsentativen Regime noch als Adäquatheit zwischen posis und aísthesis gedacht werden kann. Was sich in Kants Beschreibung des Schönen artikuliert, ist die Unmöglichkeit einer durch Regeln festgelegten Proportion zwischen einer Aufteilung und dem in ihr gegebenen Sinnlichen, die mit denjenigen Umbrüchen korreliert, durch welche Leander Scholz zufolge um 1800 eine „Erosion der symbolischen Ordnung“119 in Gang gesetzt wird und ein „Bereich der bestimmten Unbestimmtheit“120 an deren Grenze entsteht. Jedes Verhältnis zwischen Aufteilung und Sinnlichem nähert sich im Geschmacksurteil, um Kant in diesem Punkt noch einmal zu zitieren, dem „Grotesken“121 an. Im ästhetischen Regime geht es um eine Genese und um ein freies Spiel der Formen, die sich zwischen Vermögen und Kräften bilden. Konkreter: Die Körper öffnen sich gegenüber einem ihnen nie aktuell gegebenen Potential. 122 Ge118 Kern, Schöne Lust, S. 306. 119 Scholz, Technik, Kraft und Ästhetik des Urteilens, in: ders./Balke/Maye (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 97. 120 Ebd., ebd. 121 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 79. 122 Shaviro unterstreicht diesen wichtigen ontogenetischen Aspekt der Analytik des Schönen: „Kant famously writes in the First Critique that ‚thoughts without concepts are empty; intuitions without concepts are blind‘ […]. This is supposed to mean that intuition and concepts must always go together. But now, in the Third Critique, he discovers the actuality of contentless thoughts and blind intuitions. For rational ideas are precisely thoughts that no content can fill; and aesthetic ideas are intutions that admit no concept. Once we leave the realm of the understanding, we discover a fundamental asymmetry between concepts and intuitions, such that each of them exceeds the power of the other. In the Second Critique, we are obliged to affirm – and indeed to live by – certain concepts, even though we know them to be undemonstrable. But at least we still have concepts, and the will that legislates these concepts is still, ultimately, our own. The Third Critique goes much further, as it dispenses with concepts altogether, as well as with an active, originary self. Aesthetic ideas are no more moral than they are conceptual. Beauty is felt, rather than comprehended or willed. Intuition is decoupled from thought.“ – Shaviro, Without Criteria, S. 10. An dieser Stelle sei an den Abstand zwischen den drei lacanianischen Registern des Realen, Imaginären und Symbolischen er-
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meint sein kann hiermit ebenso wenig das von der Biopolitik kontrollierte und optimierte Leben im Sinne Foucaults wie Agambens ‚nacktes‘ Leben und seine Subsumption unter eine neue, biopolitische Form souveräner Macht. Beim Schönen geht es um ein singuläres Leben, ein Leben, das die Affizierbarkeit von Körpern und ihr Vermögen als ihre eigene Lebendigkeit an der Grenze des bereits choreographisch bestimmten Raumes adressiert. Demzufolge denkt Rancière Kants Gemeinsinn und den Dissens der Körper eng zusammen. „Wir wissen, wie bei Kant die Allgemeinheit des ästhetischen Als-Ob von der Tatsache gekennzeichnet wird, dass die begriffsfreie Allgemeinheit meines Urteils der Übereinstimmung der Anderen nicht bedarf, sondern sie im Gegenteil verlangt. Auf gleiche Weise setzt die Konstitution des demokratischen Sinnlichen eine Gemeinschaft, die eine Gemeinschaft des Anspruchs und nicht der Übereinstimmung ist. Aber sie schließt in die gemeinschaftliche Konstitution auch ihre Zurückweisung ein. Das gemeinschaftliche Sinnliche, das von ihr geschaffen wird, unterscheidet sich insofern von jedem Konsensuellen.“123
innert, den Gerald Siegmund mit einer spezifisch ästhetischen Erfahrung im zeitgenössischen Tanz zusammenbringt (Kapitel 2.2.). Genau deshalb, weil in seinem Modell die Register nicht einfach ein innerhalb der symbolischen Ordnung positioniertverschobenes Subjekt hervorbringen, sondern es in der Schwebe lassen und seine Konturen öffnen, indem dessen körperliche Affekte ins Spiel kommen, ist es ästhetisch. Sonst wäre es, nach einem orthodoxen Lacanianismus gedacht, nur ein Effekt von Signifikantenketten und als solches nicht weiter relevant für eine ästhetische Erfahrung. Deren affektive Qualität dagegen beschreibt Shaviro anhand von Kants Schönem so: „For there, Kant proposes a subject that neither comprehends nor legislates, but only feels and responds. The aesthetic subject does not impose its forms upon an otherwise chaotic outside world. Rather, this subject is itself informed by the world outside, a world that […] ‚fills the being before the mind can think.‘“ – Ebd., S. 13. 123 Jacques Rancière, Demokratie und Postdemokratie, in: ders./Badiou, „Politik der Wahrheit“, S. 134 f. Ein Vergleich zwischen einer solchen Lesart des Schönen bei Kant und Foucaults Ausführungen zur parrhesia ist nicht allzu weit hergeholt. Immerhin nimmt Foucault in seiner Vorlesung vom 12. Januar 1983 an, dass „dasjenige, was die parrhesia ausmacht, darin besteht, daß die Einführung oder der Einbruch der wahren Rede eine offene Situation bestimmt oder vielmehr die Situation öffnet und eine Reihe von Wirkungen ermöglicht, die gerade nicht bekannt sind, und zwar gleichgültig, was der gewöhnliche, vertraute, gleichsam institutionalisierte Charakter der Situation ist, in der sie sich vollzieht. Die parrhesia bringt keine codierte Wirkung hervor, sondern eröffnet ein bestimmtes Risiko. [...] In einem gewissen Sinne ist die parrhesia also das Gegenteil des Performativen, wo die Äußerung von etwas in Abhängigkeit von einem allgemeinen Code und von einem institutionellen Umfeld, in dem die performative Äu-
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Hier berühren sich Kants Überlegungen zum Schönen und das, was Deleuze in Differenz und Wiederholung ein „Zu-Grunde-Gehen“124 der Formen nennt und was er als Problem bereits in einem früheren Aufsatz mit dem Titel Die Idee der Genese in Kants Ästhetik (1963 fast zeitgleich mit seiner Monographie über Kant erschienen) anklingen lässt. Was Kant laut Deleuze innerhalb seiner Ästhetik vollzieht, ist eine Erweiterung seiner Philosophie weg von einer alleinigen Kritik der Bedingungen der Möglichkeit des Denkens hin zur Erfahrung der Genese der Realität seiner Produktion.125 Genese ist deshalb ein wichtiges Moment der Ästhetik Kants, weil sie dazu führt, dass die Vermögen von Körpern aus den sie bestimmenden Rahmungen heraustreten und beginnen, ihrerseits Rahmungen zu erzeugen. In der ästhetischen Erfahrung wird jede Gesetzgebung außer Kraft und gerade deshalb eine Genese von neuen – nicht im Vorhinein durch Gesetze geregelten und bedingten – Formen in Gang gesetzt. Beim Schönen geht es letztlich, weil die Körper auf keine ihnen äußerliche Bedingung verwiesen sind, nicht um mögliche Formen oder eine Fülle des nur Möglichen, sondern um potentielle Formen, indem Relationen nicht mehr auf Terme begrenzt, sondern, wie Deleuze hervorhebt, als Relationen erfahrbar werden. ßerung hervorgebracht wird, ein völlig bestimmtes Ereignis hervorruft.“ – Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen, S. 88 f. 124 „Unter ‚Zu-Grunde-Gehen‘ muß jene Freiheit des nicht-vermittelten Grundes verstanden werden, jene Entdeckung eines Untergrunds hinter jedem anderen Untergrund, jener Bezug des Untergrunds zum Unbegründeten, jene unmittelbare Reflexion des Formlosen und der höheren Form, die die ewige Wiederkunft ausmacht.“ – Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 96. 125 Auf dieses zentrale Verdienst von Kants Ästhetik weist auch Daniel W. Smith in seinem Vorwort zur englischen Übersetzung von Deleuzes Aufsatz hin und nimmt Kant vor seinen nachkantianischen Kritikern in Schutz: „In 1789, Salomon Maimon had argued that the critical philosophy could not succeed in its aims with Kant’s method of conditioning, but needed to be transformed through a method of genesis. Deleuze will suggest that Kant had already foreseen this Maimonian objection, and tried to respond to it in the Critique of Judgment, showing that every accord of the faculties finds its genesis in their a priori discord. […] Within the context of Deleuze’s oeuvre, then, ‚The Idea of Genesis‘ can be read in two different registers: it functions as both a complement to Kant’s Critical Philosophy and an important precursor to Difference and Repetition. It not only provides a major rereading of the Critique of Judgment, but analyzes a number of issues – including the problem of genesis and the doctrine of the faculties – that will become crucial in Deleuze’s later thought.“ – Gilles Deleuze, The Idea of Genesis in Kant’s Aesthetics, in: ANGELAKI – journal of the theoretical humanities, Volume 5, Number 3, December 2000, S. 58. Zur Fortwirkung v.a. Kants Dritter Kritik im Denken von Deleuze vgl. auch Edward Willatt/Matt Lee (Hrsg.), Thinking Between Deleuze and Kant – A Strange Encounter, New York: Continuum Press, 2009.
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„Die Einbildungskraft befreit sich von der Vormundschaft des Verstandes und der Vernunft. Aber sie wird nicht ihrerseits gesetzgebend: auf einer noch tieferen Ebene gibt sie das Signal zu einer Tätigkeit der Vermögen, derart, daß jedes einzelne fähig werden muß, sich selbst frei zu entfalten. In zweierlei Hinsicht führt uns die Kritik der Urteilskraft in ein neues Element ein, das gleichsam das Grundelement ist: zufällige Übereinstimmung der sinnlichen Gegenstände mit allen unseren Vermögen, statt einer notwendigen Unterwerfung unter eines der Vermögen; unbestimmte freie Harmonie der Vermögen untereinander, statt einer bestimmten Harmonie unter der Vorherrschaft eines von ihnen.“126
Diese ‚freie Harmonie der Vermögen‘ führt zu einer qualitativen Transformation der Bedingungen der Möglichkeit von in eine Realität der Produktion der Erfahrung. Erfahrung ist dann nicht mehr Resultat ihres Kontakts mit einer bereits fertigen Welt, sondern bringt Welt aktiv hervor, weil sie an einer Natur partizipiert, welche ebenso wenig wie sie selbst feststeht, sondern sich dem Körper als Kräftespiel zeigt und ihn ebenso affiziert wie ihrerseits von ihm affiziert wird. Nochmal Deleuze: „Das heißt also, daß die innere Übereinstimmung unserer Vermögen untereinander eine äußere Übereinstimmung der Natur mit ebendiesen Vermögen impliziert. […] Wie Kant sagt: nicht die Natur erweist uns eine Gunst, sondern wir sind so beschaffen, daß wir sie günstig aufnehmen.“127 Das Konzept des Schönen, welches Kant vor Schiller herausarbeitet, ist folgenreich für das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit. Choreographie kann, wenn sie sich mit dem Problem der Genese konfrontiert sieht, nicht mehr als bereits feststehende Form gedacht werden. Hylemorphische Auffassungen von Choreographie, welche sie anhand bestimmter Techniken und Stile festzustellen versuchen, geraten mit dem Schönen ins Wanken, weil sich der ästhetische Körper nicht auf einen ihm vorausgehenden Formzusammenhang bezieht. Massumi spricht im Zusammenhang der Ontogenese – die er jeder Ontologie kontrastierend gegenüberstellt und in der alle fixen Formen einem universalen Zu-Grunde-Gehen zugeführt werden – von einem going-on together der Ereignisse zwischen Subjekt und Objekt. „In the end (or more precisely, in the never-ending) the pragmatic truth is not fundamentally defined by a functional fit between a will and a way, or a propositional correspondence between subjective perceptions and a self-same object. Rather, it has to do with a ‚selfsupporting‘ of experience brinking, on a roll to really-next effects. What we experience is less our objects’ confirmed definitions, or our own subjectivity, than their going-on together – their shared momentum. […] The surprise answer to the question of what distinction sub-
126 Deleuze, Die Idee der Genese in Kants Ästhetik, S. 86. 127 Ebd., S. 94.
208 | V ERMÖGENDE K ÖRPER jects’ and objects’ shared movement makes is: virtual-actual. ‚As yet‘ (on the crest) subject and object are undetermined.“128
Diese Genese lebendiger Körper denkt Deleuze zufolge bereits Kant als grundlosen Grund des ästhetischen Urteilens und als „den Rohstoff, der in die natürliche Bildung des Schönen eingreift: die flüssige Materie, deren einer Teil sich absondert oder verflüchtigt und deren Rest sich plötzlich verfestigt (Kristallisierung).“129 Tätigkeiten und Formen können dann nicht voneinander getrennt werden. Was Deleuze Kristallisierung130 nennt, ist bei Kant die Schaffung einer neuen Natur durch das Genie.131 Denn der „Künstler“, so Deleuze über Kant, „erzeugt die Materie seines 128 Massumi, Semblance and Event, S. 36 f. 129 Deleuze, Die Idee der Genese in Kants Ästhetik, S. 96. 130 Interessanterweise wird Deleuze in seinen späteren Untersuchungen zum Kino vermittels eben jenes Konzepts der Kristallisierung das senso-motorisch bestimmte Bewegungs-Bild vom in mehrerlei Hinsicht schön zu nennenden Zeit-Bild abgrenzen. – Vgl. Deleuze, Das Zeit-Bild. Gilbert Simondon verwendet das Motiv der Kristallbildung bezüglich seiner Untersuchungen zur Individuation: „Sie würde die Aktivität an der Grenze des Kristalls erfassen, der in Bildung begriffen ist. Eine solche Individuation ist nicht die Begegnung einer Form und einer Materie, die als getrennte und im Vorhinein konstituierte Zustände vorgängig existierten, sondern eine Auflösung, die aus dem Inneren eines metastabilen Systems hervorgeht, das reich an Potentialen ist. […] Jedoch verdoppelt sich die Individuation gemäß dem grundlegenden Modus des Werdens in einer fortwährenden Individuation, die das Leben selbst ist. Das Lebende bewahrt in sich eine Aktivität andauernder Individuation. Es ist nicht allein Ergebnis der Individuation, wie der Kristall oder das Molekül, sondern Schauplatz (théâtre) der Individuation. […] Zu sagen, das Lebende sei problematisch, heißt, das Werden als eine Dimension des Lebenden zu betrachten: Das Lebende ist demgemäß das Werden, das vermittelnd wirkt. Das Lebende ist die wirkende Kraft (agent) und der Schauplatz (théâtre) der Individuation oder vielmehr eine Folge eintretender Individuationen, die von Metastabilität zu Metastabilität fortschreiten.“ – Gilbert Simondon, Das Individuum und seine Genese, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hrsg.), „Struktur, Figur, Kontur – Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften“, Berlin/Zürich: diaphanes, 2007, S. 34 ff. 131 In dieser Arbeit spielt der eher erläuterungsbedürftige und historisch belastete Begriff des Genies bei Kant keine entscheidende Rolle. Gemeint ist hiermit letztlich eine Idee des Künstlers, die innerhalb der Dritten Kritik zwischen Natur- und Kunstschönem vermittelt. Jan Völker bringt es auf den Punkt: „Über das Genie zeigt sich die Bestimmung des Unbestimmten als Ausdruck der Natur, der zugleich die Natur rückwirkend geändert haben wird. Genialisch ist die Natur im Menschen, wo sie sich von sich selbst unterscheidend ausdrückt.“ – Völker, Ästhetik der Lebendigkeit, S. 250. Ich ziehe es im Kontext meiner Untersuchungen vor, mich auf Momente der Erfahrung des Schönen
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Werks, er erhebt seine Einbildungskraft zu einer freien schöpferischen Funktion durch die Erfindung einer anderen Natur“ und „paßt seine befreite Einbildungskraft seinem unbestimmten Verstand an“132. Im Falle des Schönen wird Ontologie zu Ontogenese. Nachdem Kant das Schöne vom Angenehmen und Guten abgegrenzt und bewiesen hat, dass sich in seiner Erfahrung eine Lust vollzieht, deren alleiniger Grund das allen Körpern gleichermaßen gemeinsame, unbestimmte Vermögen selbst ist, wird die Zweckmäßigkeit ohne Zweck des Schönen klar als Bestimmbarkeit der gemeinsamen Form von Körpern, die sich außerhalb des choreographisch geregelten Raumes befinden, in dem anhand bestimmter Stile und Techniken festgelegt wird, was in ihm nur möglich ist. Die choreographischen Fehlschritte der Körper, die ihnen unzählige Wege durch eine schöne Praxis eröffnen, führen sie weg von ihrer Funktionalisierung durch geregelte Ausdrucksmodelle und hin zum Unbestimmten, welches sich außerhalb befindet. Dies lässt sich mit Jean-Luc Nancy auch aus einer anderen Perspektive formulieren, denn für ihn bezeichnet das Schöne „tatsächlich nichts anderes als die Qualität einer Fremdheit bezüglich der ganzen Ordnung der Ursachen und Zwecke, der Gründe und Absichten, der Funktionen und Handlungen, der Organismen und Mechanismen. Das ‚Schöne‘ benennt immer die Störung eines Gegebenen, das Eindringen eines Übermaßes, eine Unbequemlichkeit und eine Unangepasstheit [...].“133
Es sei jetzt ausgeführt, warum die Ästhetik in Noverres Briefen über die Tanzkunst gerade deswegen in den Fokus des biopolitischen Kalküls gerät, das mit ihrem Spiel Ernst machen will und darum bemüht ist, die Genese von Formen durch die Tätigkeit vermögender Körper einem Mechanismus der Selektion und Kombination zu unterziehen, um sie innerhalb eines Stils nutzbar zu machen.
bei Kant zu konzentrieren, um herauszustellen, inwiefern durch sie das lange Zeit über hylemorphisch verstandene Verhältnis zwischen Form und Materie bzw. Choreographie und Tanz mit Kants Ästhetik zum Problem wird. 132 Deleuze, Die Idee der Genese in Kants Ästhetik, S. 100 f. 133 Jean-Luc Nancy, Befremdliche Fremdkörper, in: ders., „Ausdehnung der Seele“, Berlin/Zürich: diaphanes, 2010, S. 56. Auch Derrida gesteht aus dekonstruktivistischer Sicht eine Affinität seines eigenen Denkens zum Schönen Kants. – Vgl. Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien: Passagen, 1992.
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5.3 N OVERRES
TABLEAUX VIVANTS IM
V ISIER
DER
B IOPOLITIK
„The hired body, built at a great distance from the self, reduces it to a pragmatic merchant of movement proffering whatever look appeals at the moment.“
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SUSAN LEIGH FOSTER/DANCING BODIES
Wenn Jean Georges Noverre sich bezüglich seiner Idee von Choreographie der Metapher des Gemäldes135 bedient, tut er dies nicht im Hinblick auf die aristotelische Unterscheidung zwischen höheren und niedrigeren sujets. Er sucht nach immer singulären und nie endgültigen (sinnlichen) Verbindungen, die posis und aísthesis einzugehen vermögen, ohne dabei deckungsgleich zu werden. Noverres Natur ist genauso unbestimmt wie die Erfahrung des Schönen bei Schiller und Kant und provoziert neue Verhältnisse zwischen Sicht- und Sagbarem.136 Aufgrund der Vielfalt der Bilder und durch die Nuancen innerhalb jedes einzelnen Bildes hindurch versucht er dem, was er zwar immer wieder Natur nennt, wovon er aber keine klare Vorstellung hat, näher zu kommen und eine „ungeheure Galerie“137 des Lebens auf die Bühne zu bringen. Zwar spricht er in seinem ersten Brief vom Ballett als Gemälde, worauf er damit aber abzielt, sind die durchlässig gewordenen Grenzen seiner tableaux vivants sowie der Rahmen der Leinwand und damit die prekäre Trennlinie zwischen bereits etablierten choreographischen Verfahren und den Potentia134 Foster, Dancing bodies, in: Crary (Hrsg.), „Uncorporations“, S. 494. 135 Vgl. Noverre, Letters, S. 9. 136 Ebenfalls impliziert sie die später von Marx entwickelte Vorstellung der Natur als Fabrik und Produktionsstätte: „Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist. Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist Teil der Natur.“ – Marx, Die entfremdete Arbeit, S. 516. In Abenteuer der Ideen entwickelt Whitehead ein Noverre ebenso wie Marx nahes Naturverständnis: „Die Natur ist plastisch, obgleich jeder herrschenden Bewußtseinslage eine ‚Natur‘ entspricht, die der weiteren Entfaltung des Lebens unerbittlich Grenzen setzt. [...] ‚Natur und Mensch‘ ist eine falsche Dichotomie. Die Menschheit ist derjenige Faktor innerhalb der Natur, der ihre Plastizität in intensivster Form erkennen läßt. Und Plastizität bedeutet das Gleiche wie die Herausbildung neuer Gesetze.“ – Alfred North Whitehead, Abenteuer der Ideen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S. 189 f. 137 Pierre Tugal, Jean Georges Noverre – Der grosse Reformator des Balletts, Berlin: Henschel, 1959, S. 77.
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len, die sich noch auf dem Weg zur Form hin befinden. Alles kann die Bühne betreten. Letztlich geht es Noverre darum, seinen Bildrahmen auf das ganze Leben auszuweiten und die Körper in ihrer Lebendigkeit in die choreographische Galerie hereinzuholen. „In what nation on earth is everyone alike? Is not everything different? Has not everything in the universe a different shape and colour? Does a tree put fourth two exactly similar leaves, or flowers, or fruits? Undouptely the variations of nature’s productions are infinite; their variety is immense and incomprehensible. If you rarely find two men alike, if the resemblance in feature and form of two twins be admired as a lusus naturae, what would be my surprise if I saw at the opera twelve faces alike! […] Where there is no diversity of expression in the features, everything languishes and nature groans under a deathly and disagreeable mask.“138
Indem für Noverre alles gleichermaßen expressiv wird und zu sprechen beginnt, treibt er im Sinne Rancières zwar zunächst Tendenzen des poetischen/repräsentativen Regimes auf die Spitze, leitet aber im selben Moment dessen Zusammenbruch ein. Nur auf den ersten Blick besteht ein Gegensatz zwischen Winckelmanns gleichzeitig gefeiertem Torso von Belverede und dessen verkrüppelter Gestalt und der euphorischen Begrüßung eines Körpers, dessen Nuancen selbst sprechen und expressiv sein sollen. Denn wenn alle Ausdrucksmaterien gleichermaßen Formen hervorzubringen vermögen, ohne dabei einem ihnen äußerlichen Code zu folgen, wenn alles intelligibel ist, kann auch nichts mehr auf privilegierte Weise zum sujet choreographischer Verfahren werden. Zwar feiert Noverre die Lebendigkeit der Körper, grenzt sie jedoch nicht von etwas ab, das ihr gegenüber weniger lebendig wäre. Das mit seinen tableaux vivants virulent werdende Problem besteht gerade darin, dass Choreographie in ihnen nicht mehr als Form dem Tanz als Tätigkeit gegenübergestellt werden kann, sondern den Körpern in ihrer wechselseitigen Affizierbarkeit und einem ihnen immanenten Beziehungsgeflecht zu folgen hat. „Words will become useless, everything will speak, each movement will be expressive, each attitude will depict a particular situation, each gesture will reveal a thought, each glance will convey a new sentiment; everything will be captivating, because all will be a true and faithful imitation of life.“139
Noverre setzt deshalb mit Rancière „die Fähigkeiten und Möglichkeiten anderer Körper“140 in den zu seiner Zeit weiterhin maßgeblich durch die rigiden Regeln der 138 Noverre, Letters, S. 85. 139 Ebd., S. 53. 140 Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268.
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Académie Royale de Danse geprägten, übercodierten Ballettkörper ein und decodiert ihn vermittels seiner nicht vollends katalogisierbaren Affekte, die ihn ebenso entfunktionalisieren wie eines bestimmten Ausdrucks entledigen. Zwar ist der Körper, nach dem Noverre in seinen Briefen sucht, nicht wortwörtlich verkrüppelt wie der Torso Winckelmanns. Ebenso wenig wie dieser jedoch gehorcht er einem funktionalen Modell, sondern ist durch sein Vermögen zu affizieren und affiziert zu werden und durch seine nicht feststellbare Lebendigkeit gekennzeichnet. Indem sich das tableau vivant dem zuwendet, was außerhalb seines Rahmens liegt und die lebendige Tätigkeit der Körper dort zu malen beginnt, wo sie zuvor keinen Platz hatte, füllt sich die Leinwand mit der Mannigfaltigkeit des Lebens. Insofern hat Noverres Körper, an dem alles spricht und alles expressiv sein soll, genau wie Winckelmanns Torso, keine Gliedmaßen und keinen Kopf mehr, weil seine Gliedmaßen und sein Kopf nicht innerhalb eines Ausdrucksschemas festgelegt sind. Ein solcher Körper ist ein Körper im Sinne Spinozas, über den der Autor schreibt: „Unter Affekte verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Affektionen. Wenn wir also die adäquate Ursache einer dieser Affektionen sein können, verstehe ich unter Affekt eine Handlung, im anderen Fall ein Leiden.“141
Die Vorstellung von Choreographie als Schrift akzeptiert Noverre nicht. Während sein Konkurrent Angiolini davon überzeugt ist, dass pantomimische Ballette nach dem durch Beauchamp und Feuillet überlieferten Aufschreibesystem festgehalten werden müssen, um der Nachwelt nicht verloren zu gehen142, verwirft er Notation prinzipiell. Er geht davon aus, dass Choreographie, wenn ‚das Leben selbst‘ in ihrem Inneren arbeitet, sie sich also gegenüber ihrem Außen öffnet, Formen hervorbringen wird, die zu komplex sind, um innerhalb eines immer begrenzten Vokabulars festgehalten werden zu können. „There Sir, such was choreography formerly. Dancing was simple and not complicated, consequently the method of writing it was simple, and one could learn it very easily. But, nowadays, the steps are complicated, they are doubled and trippled, their inter-mixture is prodicious, it is then very difficult to note them in writing, and still more difficult to decipher them.“143
141 Spinoza, Ethik, S. 255. 142 Vgl. Laura Carones, Noverre and Angiolini: Polemical Letters, in: Dance Research, Vol. V/1, 1987, S. 47. 143 Noverre, Letters, S. 132 f.
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Anschließend verfällt er gerade nicht, wie Lepecki meint, in ‚Klage‘ oder ‚Trauer‘, sondern konstatiert, dass ein Schreiben von Bewegungen nur die Vorstellungskraft des Choreographen schwächen würde. Jener soll, anstatt im Vorhinein fest- oder vorzuschreiben, der unvorhersehbaren Tätigkeit von Körpern in ihrer Lebendigkeit folgen. „I repeat, Sir, and I maintain it, that nothing is more pernicious than a system which limits our ideas, or which does not permit us to have any, unless one is able to protect oneself from the danger in giving way to them. Enthusiasm, taste, imagination, knowledge – these are preferable to choreography. These are what inspire a profusion of novel steps, figures, pictures, and attitudes. These are the inexaustible sources of that immense variety which distinguishes the true artist from the recorder of dances.“144
Noverre begrüßt euphorisch die Unmöglichkeit, die immense Vielfalt der einer unausschöpfbaren Quelle entnommenen Formen in einem Notationssystem festzuhalten oder vermittels Poetiken zu regeln und bejaht die überbordende Fülle einer nicht feststellbaren Natur und der durch sie dem menschlichen Körper gegebenen, potentiell unendlichen, Ausdrucksformen. Auch an diesem Punkt unterscheidet sich die seinem ballet en action zugrundeliegende mimesis von der Nachahmung, wie Angiolini sie, sehr viel strenger als er, im Gefolge von Aristoteles denkt. Noverres Verständnis von Nachahmung bezieht sich auf eine eher als Produzent denn als Produkt verstandene Natur.145 Der pantomimische Tanz hat keine ihm vorausgehenden Modelle zu imitieren. Sein einziges Modell ist das einer rahmenlosen Leinwand, auf der die eigentlich unsichtbaren körperlichen Affekte und die Art und Weise, wie sie die Körper modifizieren und neue Formverbindungen eingehen lassen, eingetragen werden sollen. Jene affektiv wirksame Natur setzt voraus, dass es keine feststehenden Ausdrucksmodelle gibt, die ihr angemessen wären. Sie lässt sich in kein Maß einfügen, sondern produziert aus sich heraus eine Mannigfaltigkeit ihr eigener Formen, die durch den tanzenden Körper sprechen sollen: „I desire that regularity be found even in irregularity“146 , fordert Noverre. Körper sind ungeahnter Empfindungen fähig. Wie schon Franz Hilverding geht es ihm nicht um ein Setzen von Schritten und Positionen im Raum, sondern um die Empfindungen zwischen Körpern, die sie qualitativ transformieren. Noverre will mehr als nur eine Erweiterung der choreographischen Aufmerksamkeit von den Füßen und Beinen auf die Arme und den ganzen Körper. Derart löst sich mimesis von ihrer repräsentativen Funktion und vervielfacht sich, weil sie sich von jedem Modell löst und – in ihren 144 Ebd., S. 142. 145 Bezüglich der Umstellung von einer natura naturata auf eine natura naturans um 1800 vgl. Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft, Berlin/Zürich: diaphanes, 2008, S. 329 ff. 146 Noverre, Letters, S. 14.
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sujets ebenso wie in den choreographischen Verfahren – gegenüber potentiell allem öffnet, darin ihrer Quelle, einer produktiven Natur, gleich. Die Pantomime Noverres ist wortwörtlich eine Pan-tomime: Sie ahmt, so Tugal, potentiell alles nach147, steht auf keinem festen, durch eine verbindliche Poetik geregelten, Grund mehr und entspricht dem, was der Soziologe Gabriel Tarde als erfinderische Nachahmung durch ‚Mode‘ von der repetitiven Nachahmung durch ‚Gebrauch‘ unterscheidet. „Es gibt keinen Menschen mehr, der in allem nachgeahmt wird. Und jener, der am stärksten nachgeahmt wird, ist unter gewissen Aspekten auch Nachahmer von einigen wenigen Menschen, die ihn nachahmen. Die Nachahmung wurde also durch die allgemeine Verbreitung spezialisiert und gegenseitig.“148
Für Noverre umfasst sie „both the beauties and the defects of nature“149, weswegen der Choreograph ihm zufolge angehalten ist „to take his models from all ranks, callings, and conditions of society.“150 So beginnt der stumme Körper zu sprechen. Sein Sprechen übersteigt in seiner Sichtbarkeit jede bereits existierende Sprache und seine Aufschreibung in einem (graphischen) Notationssystem. Natur ist kein Gemälde, sondern in Bewegung: Erst durch das Malen lebendiger Körper auf der Leinwand wird sie zum Bild, das mit Noverre nicht mehr poetisch geregelten Gesetzmäßigkeiten gehorchen kann. Er läutet für das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz ein, was Maria Muhle dem ästhetischen Regime insgesamt konstatiert. 147 Vgl. Tugal, Jean Georges Noverre, S. 55. 148 Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009, S. 249. Tardes Zeitalter der Mode weist vielerlei Ähnlichkeiten mit Rancières ästhetischem Regime auf, während sein Begriff des Gebrauchs der Logik der ethischen und poetischen/repräsentativen Regime verwandt ist: „Die neugierigen Zeiten wollen also nur Künstler der Einbildungskraft und die liebenden und gläubigen Zeiten Künstler, die von ihrem Glauben und ihrer Liebe durchdrungen sind. [...] Diese doppelte Energiequelle versiegt oder wird schwächer für den Menschen im Zeitalter der Neuerungen, in denen sich die Nachahmung vom Erbe löst und sich so die Verbindungen zwischen den Verwandten, Vorfahren und Nachkömmlingen angesichts der Verbindungen zwischen einander Fremden verwischen.“ – Ebd., S. 365. 149 Noverre, Letters, S. 40. Carlo Blasis wird das genaue Gegenteil einfordern: „In the productions of the fine arts, we expect to see the beauties, not the defects, of their great model – Nature, imitated.“ – Blasis, The Code of Terpsichore, S. 514. Seinem Hauptwerk stellt er programmatisch voran: „To render yourself capable of sacrificing before the shrine of Terpsichore, partially renounce every pleasure but that which the goddess affords.“ – Ebd., S. 51. 150 Noverre, Letters, S. 40.
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„Das Ende der Repräsentation ist derart als Ende einer normativen Ordnung der Darstellung zu lesen, die das Auftreten, die Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten bestimmter Sujets, Personen und Dinge in bestimmten Formen und zu bestimmten Zeiten reguliert: Es handelt sich dabei um eine Aufhebung oder ein In-der-Schwebe-Halten der geordneten Beziehung zwischen der dargestellten Wirklichkeit und den Bildern und Worten, die sie darstellen, aus der eine allgemeine Abbildbarkeit resultiert.“151
Eine unendliche Vielfalt der Natur liefert den getanzten Gemälden ihr Darstellungsmaterial und bedeckt die choreographische Leinwand mit Farben und Formen. Genau darin besteht, wie Noverre von Tugal zitiert wird, die Handlung seiner Ballette: „Die Handlung ist nichts anderes als die Pantomime. Daher muß alles beim Tänzer malen, alles muß sprechen; jede Geste, jede Stellung, jede Arm- und Handhaltung muß einen Ausdruck für sich haben.“152 Laura Carones weist darauf hin, dass die narrativen Aspekte seines Schaffens (zumindest in dem, was er in seinen Briefen fordert) auch in dieser Hinsicht nicht mit denen des aristotelischen Dramas zu verwechseln sind. Im Gegensatz zu Angiolini beachtet er nicht den Imperativ der Einheit von Ort, Handlung und Zeit. Im Gegenteil fordert er Szenen, in denen die Anordnung der Körper keine dramatische Funktion im Sinne eines über einzelne tableaux vivants hinausgehenden Handlungszusammenhangs haben würde, sondern allein ihr immanentes Affizierungsgeflecht untereinander sichtbar machen soll.153 Handlung und Pantomime befinden sich deshalb in einem spannungsvollen Verhältnis. Dahms merkt hierzu an: „Noverre will sich nicht Regeln unterwerfen, die nicht für den Tanz gemacht wurden. Das pantomimische Ballett steht seiner Meinung nach nicht der dramatischen Gattung, sondern der Epik nahe. Seine engste Verbindung besteht jedoch zur Malerei und somit könne es nicht nach den Kriterien der Poetik des literarischen Dramas, sondern eher nach solchen der bildenden Kunst beurteilt werden.“154
Die tableaux vivants sind lebende Gemälde. In ihnen darf Leben nicht stillgestellt werden, sondern muss sich vermittels der Lebendigkeit der Körper zeigen. Vor diesem Hintergrund spricht Sabine Huschka in ihrem Aufsatz Szenisches Wissen im Ballet en Action auch von einer „eigenwilligen intermedialen Spannung zwischen
151 Maria Muhle, Ästhetischer Realismus, in: Robnik/Hübel/Mattl (Hrsg.), „Das StreitBild“, S. 178 f. 152 Tugal, Jean Georges Noverre, S. 61. 153 Vgl. Carones, Noverre and Angiolini, S. 52. 154 Dahms, Der konservative Revolutionär, S. 161.
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Sprache (Geste) und Bild (Bühnenraum)“155, die zu keiner der beiden Seiten einfach auflösbar wäre und gerade als Spannung, welcher der Körper unterzogen wird, zu einer „Medialisierung des Lebendigen“156 führt. Dies hat Konsequenzen nicht nur auf rezeptions-, sondern auch auf produktionsästhetischer Ebene. Die Aufgabe der Choreographie kann dann nicht mehr darin bestehen, der Tätigkeit der Körper hylemorphisch Haltungen, Raumwege und Positionen sowie Schrittfolgen vorzuschreiben, sondern ihre Form orientiert sich an deren Eigensinn und an einer ihnen eigenen Dynamik. Insofern wird die Frage virulent, wie sich demnach ein historisch durch Schrift geprägter Choreographiebegriff in Noverres Briefen über die Tanzkunst grundlegend wandelt, indem er sich vom Paradigma der Vor-Schrift löst, um sich einer offenen Praxis der Körper und einer unbestimmten Natur, welche zeitgleich in den Lebenswissenschaften auftaucht, anzunähern. „Mit dem Erfolg des Milieubegriffs gewinnt die Darstellung der kontinuierlichen und homogenen, unendlich ausdehnbaren Gerade oder Ebene, die weder eine bestimmte Gestalt noch eine privilegierte Position hat, die Oberhand über die Darstellung der Kugel oder des Kreises, das heißt über jene Formen, die weiterhin qualitativ definiert und, wenn man so sagen darf, an ein festes Bezugszentrum gebunden sind. Die Umstände und die Umgebung bewahren noch einen symbolischen Wert, während das Milieu aufhört, auf eine andere Beziehung zu verweisen als auf die einer durch Äußerlichkeit endlos verneinten Position.“157
Choreographie wohnt seitdem die Tendenz inne, sich ihrer poetischen Regelbarkeit gegenüber zu entziehen. Unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, wird sie in einen Knoten verstrickt, der das Komponieren anhand graphischer (Notations- und Regel-)Systeme überholt. „But nothing is so insipid and tedious as a work planned on paper; it always creates contention and trouble. [...] Sir, if you wish it, a masterpiece of writing, but loaded with so great an abundance and so confused a medley of lines, strokes, signs, and characters, that your eyes would be dazzled and all the information you expected to draw from it would be, as it were, obscured by the dark web of the plan.“158
155 Sabine Huschka, Szenisches Wissen im Ballet en Action, in: dies. (Hrsg.), „Wissenskultur Tanz“, S. 37. 156 Ebd., ebd. 157 Canguilhem, Das Lebendige und sein Milieu, in: ders., „Die Erkenntnis des Lebens“, S. 242 f. 158 Noverre, Letters, S. 140 f.
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Choreographinnen und Choreographen sind fortan auf die nicht gänzlich planbaren, lebendigen Tätigkeitsformen vermögender Körper angewiesen. Noverres tableaux vivants tendieren jedoch, genau wie das ästhetische Regime Rancières insgesamt, in zwei entgegengesetzte Richtungen: Sie können nämlich auch dazu beitragen, die Tätigkeit der Körper wieder in den vollends eingelösten Ausdruck eines bestimmten Lebens zu verwandeln und sie damit in eine Ur-Ethik hineinzutreiben. Ein solcher Rückfall findet laut Monika Woitas spätestens mit Carlo Blasis im 19. Jahrhundert statt. „Die Dominanz mathematischer Gesetzmäßigkeiten, die sich im Zeitalter des Barock als Objektivierung der Natur und des menschlichen Körpers durch Maß und Proportion manifestiert hatte, wird über einhundert Jahre später erneut zur Basis tänzerischer Gestaltung, wenn auch in modifizierter Form. Die von Blasis endgültig fixierte Bewegungstechnik zeigt sogar nahezu ähnliche Wirkungen, denn durch die Zwischenschaltung technischer Regeln erfolgt eine durchaus vergleichbare Entindividualisierung des tanzenden Menschen, der im Barock ebenso distanziert erscheint wie im klassisch-romantischen Ballett.“159
Dies wäre das Umkippen der Leinwand Noverres hinein in Heteronomie, die Identifizierung ihrer Inhalte mit neuen Lebensformen, die stattfinden wird auch noch in den zahlreichen Rufen nach einem ‚natürlichen‘ Körperausdruck im Rahmen der Reformen des 20. Jahrhunderts und ihrer sich selbst verkennenden (vitalistischen) Lebens-Techniken. Im Gegensatz zu seiner Auflösung in Heteronomie besteht der ästhetische Knoten darin, immer wieder aufs Neue die Türen und Fenster der „ungeheuren Galerie“160 des Lebens für das zu öffnen, was außerhalb der Grenze liegt, von der aus choreographische Fehlschritte die Leinwand betreten. Potentiell kann, wenn es keine feststehende téchne mehr gibt, die das Ausdruckspotential der Körper funktionalisiert, genau wie im Schönen Schillers und Kants, alles Gegenstand der Choreographie und jede Tätigkeitsform Tanz werden. Überspitzt formuliert lässt sich sagen, dass es einen ersten Ansatz tänzerischer ready-mades lange vor den Experimenten der Mitglieder des Judson Church Theatre in den 1960er Jahren bereits bei Noverre gibt, wenn er annimmt, dass Choreographinnen und Choreographen durch genaue Beobachtung ihrer Umwelt zur Quelle aller Erfindungen vordringen können: Der lebendigen Tätigkeit von Körpern, die um 1800 in der Ästhetik als ihr selbsteigenes Vermögen auf dem Spiel steht und in den Fokus eines biopolitischen Kalküls gerät. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ausführungen in erster Linie auf Michel Foucaults zwischen 1977 und 1979 gehaltene Vorlesungen über die Ge159 Monika Woitas, Im Zeichen des Tanzes – Zum ästhetischen Diskurs der darstellenden Künste zwischen 1760 und 1830, Herbolzheim: Centaurus, 2004, S. 31. 160 Tugal, Jean Georges Noverre, S. 77.
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schichte der Gouvernementalität konzentriert und erläutern, inwiefern sich ihnen zufolge Biopolitik als neue Macht- und Wissensform sowohl von der Disziplinarmacht als auch von der souveränen Macht unterscheidet, jedoch auch, warum sie anders gestaltet ist als das, was bisher über die Ästhetik gesagt wurde. Während es nämlich innerhalb der Ästhetik (1.) um ein „selbsteigenes Vermögen“161 der Körper und (2.) eine ihnen gemeinsame, offene Praxis geht, die sich nicht auf ihr vorausliegende Begründungen stützt – also weder von Macht noch von Wissen vollständig determiniert werden kann –, sondern ihre Struktur und ihr Verfahren in immer singulären Genesen hervorbringt und so (3.) deren bereits gemachte (ungleiche) Natur mit einer anderen (egalitären) Natur konfrontiert, zielt das biopolitische Kalkül zwar auf die von der Ästhetik freigesetzten Potentiale ab und selektiert und kombiniert die von vermögenden Körpern generierten Formen anhand bestimmter Stile und Techniken, bleibt dabei aber selbst unkreativ. Die diesem Kapitel vorangestellte These lautete: Wenn die Biopolitik mit dem ästhetischen Spiel Ernst macht, braucht sie Körper, deren Vermögen sie sich aneignen kann; umgekehrt aber brauchen vermögende Körper nicht unbedingt ein ihrer eigenen Urteilskraft und ihren Tätigkeitsformen gegenüber äußerliches Kalkül, obwohl sie sicherlich immer in Machtbeziehungen verstrickt sind. Die wachsende Zahl an Publikationen innerhalb und im Umfeld diverser Kunstszenen der letzten Jahre über verschiedene Zusammenhänge zwischen Kunst und Biopolitik162 muss deshalb nicht notwendigerweise als Symptom einer von vielen behaupteten Vereinnahmung ästhetischer Praktiken überhaupt durch den Kapitalismus oder sogar der Kulturrevolution von 1968 durch die (Kreativ)Wirtschaft verstanden werden.163 Im Gegenteil: Wenn wir im Auge behalten, dass es in Schillers Spieltrieb und bei Kant bezüglich seiner Urteilskraft gerade um selbsteigene Vermögen und eine Steigerung subjektiver Lebensgefühle geht, die Tendenz der Biopolitik aber, wie manche beobachten und immer mehr auch aus eigener Erfahrung berichten können, darin besteht, Subjektivitäten auszubrennen und sie ihrer Vermögen zu enteignen164 , lässt sich das Verhältnis zwischen Ästhetik und Biopolitik eher als Antagonismus denn im Sinne einer Allianz denken. 165 161 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 70. 162 Vgl. exemplarisch TEXTE ZUR KUNST: Life at Work, September 2010, Heft 79 sowie maska: Contemporary Art and New Social Paradigms I, Autumn 2011 und maska: Contemporary Art and New Social Paradigms II, Winter 2011. 163 Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH, 2003. 164 Vgl. Menke/Rebentisch, Kreation und Depression. 165 Aus meiner bisherigen Rede über die lebendige Tätigkeit von Körpern sollte ersichtlich geworden sein, dass ich das Verhältnis zwischen einer in der Ästhetik auf dem Spiel stehenden offenen Praxis und deren Vereinnahmung durch die Biopolitik geradezu ana-
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Es sei zunächst vorangestellt, dass hier nicht angenommen werden soll, souveräne Macht und Disziplinarmacht verschwänden vollends mit dem Aufkommen der biopolitischen Formation um 1800. Vielmehr wirken sie als Schichten innerhalb neuer Dispositive fort, werden aber überlagert von einer Dynamik, die in ihren spezifischen Charakteristika diametral dem entgegensteht, was vorige Logiken der Macht und des Wissens ausgezeichnet hatte. Obwohl Biopolitik Foucault zufolge ein sehr viel komplexeres Feld eröffnet, liegt der Fokus dieser Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz in erster Linie auf dem Motiv des biopolitischen Kalküls. Wenn nämlich ‚das Leben selbst‘ nicht mehr außerhalb der Choreographie (wie noch Arbeau und Feuillet sie als umzäuntes Terrain denken) verortet ist, sondern als ihr Herz zu arbeiten beginnt in Noverres Briefen über die Tanzkunst von 1760, geschieht dies den Analysen Foucaults zufolge nur, indem die Lebendigkeit der Körper einem Kalkül unterzogen wird, das zwar, um eine Formulierung Deleuzes und Guattaris zu paraphrasieren, mit der einen Hand deren Kräfte freisetzt, sie mit der anderen aber immer wieder einfängt und funktionalisiert zu bestimmten Zwecken und innerhalb spezifischer Ausdrucksmodelle.166 Weil das biopolitische Kalkül den tanzenden Körper dazu anregt, sein selbsteigenes Vermögen an Choreographinnen und Choreographen abzutreten, welche die Formen, die er hervorbringt, im Rahmen bestimmter Stile als Rohmaterial verwenden, also seine Genese Selektionen und Kombinationen unterziehen, um seine Tätigkeit anschließend anhand eines Stils zu vereinnahmen und in einem Arrangement anzuordnen, das rein gar nichts mit einer ihm und anderen Körpern gemeinsamen, offenen Praxis zu tun hat, ist Ästhetik primär, deren biopolitische Inanspruchnahme hingegen sekundär. Was Wolfgang Wieland über die instrumentelle Vernunft moderner Naturwissenschaften schreibt, trifft derart ebenfalls auf die immer bis zu einem gewissen Grad durch téchne und anhand einer ur-ethischen Logik geregelten Stile biopolitisch operierender Choreographie zu.
log denke zum bereits von Marx beschriebenen Verhältnis zwischen Arbeitskraft und Kapital. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Stuttgart: Kröner, 1957. 166 Vgl. Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus. Joseph Vogl fasst diese perfide Bewegung, die sich in zwei entgegengesetzte Richtungen gleichzeitig entfaltet, sehr treffend zusammen: „Politische Kybernetik stößt damit auf ein doppeltes Problem. Einerseits geht es darum, die deterritorialisierten Bewegungen zu reterritorialisieren, die decodierten Ströme zu recodieren und in der allgemeinen ‚Tendenz zum Verfließen‘ feste Punkte, Orte und Formen aufzufinden. […] Andererseits geht es darum, den Widerstreit in den Konstitutionsbedingungen des Regierens – wie er etwa durch die unterschiedlichen Steuerungsformen von Recht, Polizei und ökonomischer Funktion gegeben ist – aufzulösen und in eine gemeinsame Form, in eine gemeinsame Staats-Form zu transformieren.“ – Vogl, Kalkül und Leidenschaft, S. 282.
220 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Die Tragweite der verschiedenen Techniken einer Umgehung und einer Entlastung der Urteilskraft erfaßt man nicht, wenn man nicht die Konsequenzen in Rechnung stellt, die sich aus ihnen auch für die reale Welt selbst ergeben können, auf die sie angewendet werden. [...] Weil sich auch die Welt der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation im ganzen immer mehr den in ihrer Mitte entwickelten artifiziellen und metrischen Begriffen anpasst, werden in ihr immer umfangreichere Räume ausgespart, in denen die Urteilskraft entlastet und zugleich das mit ihrer Tätigkeit verbundene Risiko, ihr Ziel zu verfehlen, schon deswegen reduziert wird, weil sie sich immer weniger naturwüchsigen und immer häufiger bereits planmäßig vorpräparierten Situationen konfrontiert sieht.“167
Wie hängt demnach der von Susan Leigh Foster 1992 prognostizierte hired body mancher sogenannter zeitgenössischer Choreographinnen und Choreographen mit den historischen Umbrüchen um 1800 zusammen? Roberto Esposito hat in seiner Trilogie Communitas-Immunitas-Bios168 herausgearbeitet, inwiefern es in Foucaults Denken der Biopolitik einen Widerspruch gibt, der zu einander extrem entgegengesetzten Lesarten führt: Einerseits das zutiefst pessimistische Verständnis Giorgio Agambens, nach dem biopolitische Verfahrensweisen notwendigerweise nacktes Leben produzieren, indem sie die Lebendigkeit der Körper von ihr eigenen Formen trennen und einer perfiden Form der Souveränität unterwerfen; andererseits durchaus optimistische Herangehensweisen, allen voran die Antonio Negris und Michael Hardts, welche – nicht unbeträchtlich durch Marx’ Überlegungen zum Verhältnis zwischen lebendiger Arbeit und Kapital aus dem Maschinenfragment inspiriert – unterstellen, dass es ein neuer Modus biopolitischer Produktion sei, der als kollektive Produktion einer angenommenen Multitude die Macht des sogenannten Empire herausfordern könne. Esposito schlägt, um die Ambivalenzen des Konzepts der Biopolitik von Foucault zu umgehen, eine Alternative vor und spricht von affirmativer Biopolitik als einer Politik der Vielheit des Lebendigen, die er dem biopolitischen Kalkül über das Leben gegenüberstellt. „Dennoch darf Foucaults Diskurs nicht in Gänze übernommen werden – vielmehr habe ich selbst versucht, dessen unausgeführte und auch widersprüchliche Elemente ans Licht zu bringen, angefangen mit der niemals überwundenen Oszillation zwischen einer positiven, produktiven Lektüre des Verhältnisses von Politik und Leben und einer anderen, negativen und tragischen.“169 167 Wieland, Urteil und Gefühl, S. 180 f. 168 Vgl. Roberto Esposito, Communitas – Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin/Zürich: diaphanes, 2004, ders., Immunitas – Schutz und Negation des Lebens, Berlin/Zürich: diaphanes, 2004 und ders., Bios. 169 Roberto Esposito, Vom Unpolitischen zur Biopolitik, in: Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hrsg.), „Das Politische und die Politik“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2010, S. 98.
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Espositos affirmative Biopolitik steht den im Rahmen dieser Arbeit bisher herausgestellten Überlegungen zur Ästhetik durchaus nah, obwohl er konsequent nachkantianisch argumentiert. Trotzdem verweist sein Konzept der Biopotentialität auf ein Vermögen der Körper, wie es auch in der ästhetischen Erfahrung erscheint. „But, as the constitutive character of life itself, life is always already political, if by ‚political‘ one intends not what modernity wants – which is to say a neutralizing mediation of immunitary nature – but rather an originary modality in which the living is or in which being lives.“170
Foucault zufolge allerdings gibt es keine Biopolitik des Lebendigen im Sinne Espositos, sondern nur ein biopolitisches Kalkül, welches über es verhängt wird. Die Art und Weise, wie Foucault in seiner unter den Titeln Sicherheit, Territorium, Bevölkerung und Die Geburt der Biopolitik ins Deutsche übersetzten Vorlesungsreihe Ende der 1970er Jahre den Begriff der Macht verwendet, unterscheidet sich ebenso grundlegend von einem solchen Verständnis wie von seinen eigenen Verwendungsweisen des Machtbegriffs in vorangegangenen Untersuchungen. Sie unterscheidet sich deshalb von ihnen, weil das biopolitische Kalkül paradoxerweise zugleich positiv-produktiv und regulativ-vereinnahmend auf die lebendige Tätigkeit der Körper einwirkt. Gerade weil sie dem Kalkül eines einheitlich gedachten und im Sinne Rancières ethisch verfassten Lebens untergeordnet und die so freigesetzten Potentiale einer Fülle des nur Möglichen subsumiert werden, wird ihre generische Produktion auf einen ihr äußerlichen Zusammenhang verwiesen, der zwar nicht feststeht, deshalb jedoch umso wirksamer ist. Foucault verschiebt, um diesen perfiden Mechanismus und das perverse Verhältnis zwischen primärer Produktion und sekundärer Aneignung bzw. die Vereinnahmung des Vermögens von Körpern näher zu beschreiben, seinen Fokus auf das Motiv des Lebens, welches er um 1800 gleichermaßen als dynamischen Prozess und Gegenstand von Macht und Wissen aufkommen sieht.171 Während die souveräne Macht in erster Linie über Repression und Negation funktioniert (sie macht ster170 Ders., Bios, S. 81. 171 Vgl. Muhle, Eine Genealogie der Biopolitik, 2008. In Kapitel 2.2. wurde Agambens Idee des ‚nackten‘ Lebens infrage gestellt. Es sei auf einen weiteren Unterschied zwischen diesem Konzept und Foucaults Lebensbegriff hingewiesen: Für Foucault ist Leben nämlich nicht in ‚bloßes‘ und ‚politisches‘ Leben (zoë und bios) gespalten, sondern epistemologisch unbestimmt. Gerade als unbestimmte Arbeitskraft der Körper, so lässt sich mit Marx sagen, wird es durch Macht-Wissens-Konstellationen vereinnahmbar. Während es in der Ästhetik innerhalb einer den Körpern gemeinsamen Praxis bestimmbar wird, unterzieht es die Biopolitik ihrem Kalkül und verwandelt ungreifbare Potentiale in kalkulierbare Möglichkeiten.
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ben und lässt leben) und sich auf ein begrenztes Territorium bezieht, ist die Machtform, der er sich ab Mitte der 1970er Jahre zuwendet, eine positive, bejahende Macht, deren Territorium sich nicht so einfach bestimmen lässt, weil sie sich tendenziell auf alles Lebendige erstreckt. Während sich die souveräne Macht dadurch auszeichnet, dass sie durch Gesetze setzt, setzt die Biopolitik das als dynamischen Prozess verstandene Leben frei und unternimmt den Versuch, es in derselben Bewegung zu kalkulieren und nutzbar zu machen. Bereits in einer seiner Vorlesungen aus In Verteidigung der Gesellschaft äußerst sich Foucault bezüglich dieser grundlegenden Transformation der Macht und des Wissens um 1800. „Und ich denke, daß eine der nachhaltigsten Transformationen des politischen Rechts im 19. Jahrhundert darin bestand, dieses alte Recht der Souveränität – sterben zu machen oder leben zu lassen – zwar nicht unbedingt zu ersetzen, aber durch ein anderes, neues Recht zu ergänzen, durch ein Recht, das ersteres nicht beseitigt, sondern in es eindringt, es durchdringt, verändert und das ein Recht oder vielmehr eine genau umgekehrte Macht ist: die Macht, leben zu ‚machen‘ und sterben zu ‚lassen‘.“172
Schon im christlich geprägten Bild eines Hirten, der seine Schafherde weniger souverän beherrscht als sich geschmeidig einer ihr immanenten Bewegung anpasst, sei laut Foucault die Logik des biopolitischen Kalküls angelegt. Alain Brossat bezeichnet Biopolitik deshalb als eine „Betreuung aller möglichen und vorstellbaren Lebensaspekte der menschlichen Herde durch einen Hirten mit tausend Gesichtern, der aber koordiniert und umfassend agiert (also eine Art von ‚Gott‘, der dem Leben des Staates und der Gesellschaft immanent ist.)“173 In mehreren Vorlesungen zwischen 1977 und 1979 erwähnt Foucault, dass sich mit dem Entstehen biopolitischer Machtformen aus dem Geist des Pastorats die Polizeywissenschaft etabliert als eine Ordnungsinstanz, die zwar auf sie umgebende Prozesse einwirkt, aber weniger nach einem souveränen oder disziplinären Modell, indem sie sie unterbricht oder feststellt und die einzelnen Körper darin segmentiert, denn vielmehr, indem sie sich der dem Leben zugeschriebenen Dynamik anpasst und sie im Gegenteil noch fördert, immer jedoch nur so weit, „ohne daß das Ganze auseinanderbricht“174. Thomas Lemke bemerkt diesbezüglich, dass mit der Biopolitik „die scheinbar stabile Grenze zwischen Natur und Politik, die sowohl naturalistische wie politizistische Ansät-
172 Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 278. 173 Alain Brossat, Menschliches Pastorat oder ‚la vie bête‘, in: Muhle/Thiele (Hrsg.), „Biopolitische Konstellationen“, S. 30 f. 174 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 429.
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ze voraussetzen müssen, weniger Ausgangspunkt als Effekt politischen Handelns ist.“175 Das biopolitisch verfasste Leben soll gleichzeitig einheitliches Leben – also mit Rancière formuliert einem ethos als Aufenthalt und Seinsweise der Körper entsprechen – und prozesshaftes Leben sein. Dazu bedarf es eines raffinierten Kalküls, dessen Funktionsweise Foucault fast drei Jahre lang, in halb abgelesenen, halb improvisierten Vorlesungen, am Collège de France zu entschlüsseln versucht. In seiner Vorlesung vom 29. März 1978 präzisiert er die Figur der Polizey, die für ihn von großer Bedeutung ist: „Mit anderen Worten, die Polizei wird der Kalkül und die Technik sein, die die Schaffung einer flexiblen, aber dennoch stabilen und kontrollierbaren Beziehung zwischen der inneren Ordnung des Staates und dem Wachstum seiner Kräfte ermöglicht.“176 Später fasst er den Einflussbereich dieser neuen Machtform, eben weil sie sich eher auf das Vermögen der Körper denn auf bereits bestimmte Körper bezieht, noch weiter: „Der Gegenstand der Polizei ist ein gleichsam unendlicher Gegenstand.“177 Ihr Ziel ist die Integration der um 1800 freigesetzten Fähigkeiten und (Arbeits)Kräfte der Körper und ihre Funktionsweise deshalb eine zweischneidige, weil sie die Körper einerseits dazu anregt, die ihnen eigenen Potentiale weitestgehend zur Entfaltung zu bringen, gleichzeitig aber gewährleisten muss, dass deren Kräfte innerhalb einer einheitlichen Bewegung verbleiben. Um diesen Punkt zu präzisieren: (1.) Die Polizei kann die Körper nur dazu anregen, ihre Potentiale zu entfalten, was aber dann wie genau produziert wird, steht nicht in ihrer Macht. (2.) Sie bringt selbst nichts hervor, sondern eignet nur an, indem sie selektiert und kombiniert. Dabei kann Biopolitik nur mit Möglichkeiten rechnen, Potentiale als solche entziehen sich ihrem Kalkül. Als neue „Regierungskunst“178 hat sie fünf zentrale Sorgen: (1.) „die Zahl der Bürger“179, (2.) „die Bedürfnisse des Lebens“180, (3.) „die Gesundheit“ als notwendige Bedingung dafür, (4.) „daß die vielen Menschen, die aufgrund der Nahrungsmittel und den notwendigen Elementen, die man ihnen bereitstellt, mehr arbeiten“181 und zuletzt (5.) „de[n] Verkehr der Waren, der Produkte, die aus der Tätigkeit der Menschen hervorgegangen sind.“182 Aufgabe der Polizei ist es, Formen möglicher Koexistenz zwischen Körpern zu steuern, nutzbar zu machen und als Einheit zu erhalten, die sich ständig 175 Lemke, Biopolitik, S. 45. 176 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 451. 177 Ders., Die Geburt der Biopolitik – Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 21. 178 Ders., Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 459. 179 Ebd., S. 466. 180 Ebd., ebd. 181 Ebd., S. 467. 182 Ebd., S. 468.
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zentrifugal von sich selbst entfernt, nur um anschließend wieder zentripetal auf sich zurückbezogen zu werden. Claudia Blümle und Armin Schäfer unterstreichen, dass unter biopolitischen Gesichtspunkten die Gemeinschaft der Körper genau wie die einzelnen Körper darin organisch, also einer ethischen Logik gemäß, konzeptualisiert werden. „Um 1800 entsteht allmählich die neue Disziplin der Biologie, die einen Begriff des Lebens formuliert, der im Kern besagt: ein Lebewesen ist ein Organismus, dessen Teile in definierten Lage- und Funktionsbestimmungen stehen, in Wechselwirkungen treten und sich systemisch zu einer funktionalen Einheit schließen.“183
Während die souveräne Macht dadurch gekennzeichnet war, dass sie sterben machte und leben ließ, besteht die Tendenz der Biopolitik und die Aufgabe der sie stützenden Polizei darin, dass sie leben macht und sterben lässt. Bereits in Der Wille zum Wissen schreibt Foucault: „Hinter dem Gesetz steht immer das Schwert. Eine Macht aber, die das Leben zu sichern hat, bedarf fortlaufender, regulierender und korrigierender Mechanismen. Es geht nicht mehr darum, auf dem Feld der Souveränität den Tod auszuspielen, sondern das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren. Eine solche Macht muß eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstufen, als sich in einem Ausbruch manifestieren.“184
Sobald der Souverän und seine Todesdrohung verschwinden, erscheint die lebendige Figur der Bevölkerung und mit ihr ein potentiell gleiches, nicht hierarchisch gegliedertes Leben, dessen Äußerungen allerdings in ihrer Gesamtheit eingefangen, selektiert und kombiniert werden müssen innerhalb biopolitischer Ur-Ethik: „Die Gegenstände der Polizei sind die Dinge, die sich jeden Augenblick ereignen, während die Gegenstände des Gesetzes definitive und dauernde Dinge sind“185, konstatiert Foucault. Biopolitik fördert zwar die Lebendigkeit der Körper, das aber allein im Rahmen der Möglichkeiten bestimmter Kalküle. Obwohl der Lebensbegriff von Foucault nie definiert wird, verweist er, wie Virno betont, auf das marxistische Problem der Arbeitskraft von Körpern.186 Während sich das souveräne Gesetz um ein fest umzäuntes Territorium und die darin befindlichen Körper sorgt, wendet sich die Biopolitik ihrem nie vollends vorhersehbaren Vermögen zu und funktionalisiert sie für ihnen äußerliche Zwecke und auf ihren Bewegungsfluss als Herde hin. 183 Claudia Blümle/Armin Schäfer, Organismus und Kunstwerk, in: dies. (Hrsg.), „Struktur, Figur, Kontur“, S. 10. 184 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 171 f. 185 Ders., Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 488. 186 Vgl. Virno, Grammatik der Multitude.
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Maria Muhle betont, dass vom biopolitischen Kalkül anvisiertes Leben nicht nur Gegenstand der Politik ist, sondern zugleich zu deren funktionalem Modell würde. Die chiastische Verschränktheit von Politik und Leben besteht in diesem Wechselverhältnis: „Die Biopolitik bezieht sich in einer Weise auf das Leben, die die Dynamik des Lebens imitiert bzw. aufnimmt.“187 Sie beziehe sich derart auf das Leben als Lebendiges, weil sie sich auf das Leben in seiner dynamis beziehe. Abbildung 11: Jacques-Louis Davids Der Schwur im Ballhaus (1791)
Gemeinfrei. Versailles.
Die Ablösung taxonomischer Ordnungen durch die sich etablierenden Lebenswissenschaften um 1800 beschreibt Muhle anhand früherer Untersuchungen Foucaults aus Die Ordnung der Dinge. Innerhalb der Taxonomie war das ethos der Körper ohne ‚das Leben selbst‘ erklärt worden, im Rahmen der Lebenswissenschaften dagegen wird die ihm eigene dynamis zur Komponente von Kalkülen und erschwert eine stabile Subjekt-Objekt-Relation zwischen Untersuchendem und Gegenstand, womit es zu einer reziproken Imitation zwischen beiden kommt. „Die Herausbildung des Lebens als Lebendiges geht mit einer Abhebung des Lebens vom Sein einher, die sich in einer Reihe von Dichotomien artikuliert: Das klassische Sein war fehlerlos, ergoss sich in einem immensen Tableau und war immer im analysierbaren Raum der Repräsentation gegeben; das Leben ist im Gegensatz dazu ohne Randzone und Abstufung, es
187 Muhle, Eine Genealogie der Biopolitik, S. 11.
226 | V ERMÖGENDE K ÖRPER isoliert Formen, die sich in sich selbst verknüpfen, es zieht sich in das Rätsel einer ihm im Wissen unzugänglichen Kraft zurück, die lediglich in den Anstrengungen erfassbar ist, die sie hier und da unternimmt, um sich zu offenbaren und aufrechtzuerhalten.“188
Muhle beschreibt drei Etappen des Machtbegriffs bei Foucault, die bereits (1.) mit der souveränen Macht, (2.) mit der Disziplinarmacht und (3.) mit der Biopolitik verbunden wurden. Während das juridische Subjekt Gegenstand der Souveränität ist, rückt mit den Disziplinen der Körper des Individuums in den Vordergrund und mit der Biopolitik das Leben der Bevölkerung als einer mit sich selbst verrechenbaren Menge von Körpern. Schon die disziplinären Techniken fassen den Körper zwar nicht mehr als Teil einer unteilbaren Einheit (bezogen auf das Territorium des Souveräns) auf, sondern untersuchen dessen Kräfte, folgen aber nicht deren Entfaltung, sondern stellen sie im Vorhinein fest.189 Sie begreifen den Körper noch mechanisch und nicht anhand von dessen Lebendigkeit, indem sie ihn bereits gegebenen Formen subsumieren, anstatt seiner unvorhersehbaren Genese von Formen zu folgen. „Die Disziplinen des 18. Jahrhunderts beziehen sich als Mikrophysik der Macht auf einen Körper, der als Maschine funktionieren soll und sich durch die Kräfte von Aktion und Reaktion bestimmen lässt. Mit dem 19. Jahrhundert entsteht jedoch ein Begriff des Lebens als Lebendiges, der andere Machtmechanismen zeitigt, nämlich biopolitische, die auf die zugleich funktional-organische und von sich selbst abweichende Verfasstheit des Lebens zugreifen.“190
Diese neuen Techniken wird Foucault in seinen Vorlesungen zwischen 1977 und 1979 Sicherheitsdispositive nennen und sie in einer um 1800 entstehenden Formation aus Macht und Wissen verankern, welche versucht, ‚das Leben selbst‘ zu regieren, indem sie sich an es schmiegt und seine Dynamik in sich aufnimmt: Die liberale Gouvernementalität191, deren produktiven Bezug auf die lebendige Tätigkeit einer als Vielheit verstandenen Menge von Körpern Francesca Raimondi akzentuiert. 188 Ebd., S. 74. 189 Vgl. ebd., S. 178 f. 190 Ebd., S. 185. 191 In seiner Vorlesung vom 8. Februar 1978 geht Foucault auf den etymologischen Kontext des Wortes ein: „‚Gouverner‘ heißt, einer Straße folgen [suivre] oder einer Straße folgen lassen [faire suivre].“ – Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 181. Interessant an diesem Bild ist, dass die Straße, der gefolgt bzw. der folgen gelassen wird, bereits gebaut sein muss, um Körper derart regieren zu können. Im Gegensatz dazu stehen Schillers Spieltrieb und Kants Gemeinsinn: Sie lassen uns unbetretene Pfade beschreiten.
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„Was sich damit in der Tat ändert, ist der Umstand, das ein solches Recht nunmehr zum Medium dessen wird, was Foucault unter ‚Regierung‘ versteht. Es hört auf, als Begrenzung der Macht zu fungieren, um selbst zur Grundlage für den Einsatz einer Macht zu werden, die invasiv operiert und selbst als Mechanismus der Hervorbringung und damit zugleich Regulierung von lebendigen Potentialitäten fungiert. […] Das gouvernementale Recht stellt von der Ermöglichung auf die Verwirklichung solcher Potentialitäten um und hält damit die Subjekte an, diesen Prozess durch ihre Auskünfte möglichst zu optimieren.“192
Bezugsmodell und Gegenstand der Sicherheitsdispositive ist nicht nur ein dynamisch verstandenes Leben, sondern eine bestimmte Größe, anhand derer es sich regulieren lässt: Die Menge der Körper, von der vorausgesetzt sein muss, dass sie – „zugleich spezifisch als auch relativ“193 – mit sich selbst verrechnet werden und in der kalkulierten Bevölkerung aufgehen kann. Hierin zeigt sich erneut die Beziehungslogik zwischen Hirte und Herde im Pastorat. Die Sicherheitsdispositive können die Bewegungen der Körper nicht mehr vor- oder festschreiben, sondern müssen mit deren nicht im Vorhinein feststellbarer Tätigkeit und mit deren zunächst nur wahrscheinlichen Bewegungen rechnen: „Der Sicherheitsraum verweist also auf eine Serie möglicher [nicht potentieller! – Anm. d.A.] Ereignisse, er verweist auf das Zeitliche und das Aleatorische, ein Zeitliches und ein Aleatorisches, die in einen gegebenen Raum eingeschrieben werden müssen.“194 Zentrales Instrument zu diesem Zweck ist die Statistik, welche die Körper einem Wahrscheinlichkeitskalkül zuführt. Liberale Gouvernementalität besteht deshalb laut Muhle perfiderweise darin, „Natürliches als Lebendiges künstlich herzustellen“195 und zwar so, dass jeder Eingriff der Macht nicht als Eingriff einer Macht erscheint, sondern als ‚natürliches‘ Bestreben der Körper, sich in ihrer Lebendigkeit im biopolitisch choreographierten Raum zu verwirklichen. Worin besteht demnach die dynamis des Lebens? Foucault bezieht sich, so Muhle, zentral auf Studien seines Lehrers Georges Canguilhem, der zuvor das Konzept des normativen Lebens geprägt hatte.196 Canguil-
192 Francesca Raimondi, Agamben, Foucault und die Politik der Menschenrechte, in: Muhle/Thiele (Hrsg.), „Biopolitische Konstellationen“, S. 52 f. 193 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 504. 194 Ebd., S. 40. 195 Muhle, Eine Genealogie der Biopolitik, S. 259. 196 Dabei sucht er, wie es schon Kant in seiner Dritten Kritik im Anschluss an den Biologen Johann Friedrich Blumenbach tat, einen Mittelweg zwischen biologistischem Vitalismus und reduktivem Mechanismus, indem er Leben und Lebendiges innerhalb einer offenen Dialektik aufeinander bezieht: „Überträgt man den dialektischen Prozess des Denkens in die Wirklichkeit, kann man behaupten, dass der Forschungsgegenstand selbst, das Leben, die dialektische Essenz ist und dass sich das Denken dessen dialekti-
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hem geht davon aus, dass Leben zwischen der Bildung und Auflösung seiner Formen stattfindet. Ihm zufolge setzt es sich ununterbrochen selbst neue Normen, ist also normativ insofern, als dass es immer wieder gegebene Formen verwirft und durch passendere ersetzt, indem es sich neue Milieus schafft.197 Muhle zufolge übernimmt Foucault zwar Canguilhems Begriff der Norm, legt das generative Moment allerdings nicht ins Leben selbst, sondern von außen an es an. Die von ihm untersuchte Regierungstechnik funktioniert zwar nach dem Muster der Norm, im Gegensatz zu Canguilhem lässt er den Begriff des Lebens jedoch methodisch unbestimmt. Wenn man die Konsequenzen aus Foucaults späten Analysen zu Ende denkt, wird eine ästhetische Politik der Gleichheit, auf welche Rancière hinauswill, undenkbar, weil es biopolitisch betrachtet keine Lebendigkeit der Körper gibt, die dem über sie verhängten Kalkül und deshalb der (Bio)Macht entgehen könnte. Foucaults Macht- und Wissensdispositive kennen kein Außen, das Deleuze, aufgrund seiner diagrammatischen Lesart, in ihnen zu finden glaubt.198 Anders ist die ästhetische Erfahrung beschaffen: „Es zeigt sich, dass Ästhetik in vielschichtiger sche Strukturen zu eigen machen muss. Das Leben geht über die Gegensätze von Mechanismus und Vitalismus, Präformation und Epigenese hinaus und setzt sich bis in die Theorie des Lebens hinein fort.“ – Georges Canguilhem, Aspekte des Vitalismus, in: ders., „Die Erkenntnis des Lebens“, S. 153. 197 Canguilhems Begriff der Norm ist der rein juridisch gedachten, heteronormativen Matrix Judith Butlers diametral entgegengesetzt. Mit Lacan geht Butler davon aus, dass Körper unabhängig von einer symbolischen Einschreibung nicht denkbar sind: „Es muß einen Körper geben, der vor dem Gesetz zittert, ein Körper, dessen Angst vor dem Gesetz erzwungen werden kann, ein Gesetz, das den zitternden Körper erzeugt, der für seine Einschreibung vorbereitet ist, ein Gesetz, das den Körper zuerst mit Angst markiert, um ihn dann wiederum mit dem symbolischen Stempel des Geschlechts zu markieren.“ – Judith Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 147. 198 Vgl. Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992. In Lust und Begehren weist Deleuze auf die zentrale Differenz zwischen ihm und Foucault hin, nämlich dass es in seinem Denken, genau umgekehrt wie in dem seines Kollegen, ein Primat des Begehrens vor den Dispositiven der Macht gäbe: „Während der organlose Körper Ort oder Agens der Deterritorialisierung (und damit Immanenzebene des Begehrens) ist, vollziehen alle Organisationen, das gesamte System dessen, was Michel ‚BioMacht‘ nennt, Reterritorialisierungen des Körpers.“ – Deleuze, Lust und Begehren, S. 33 f. Was Deleuze die ‚Immanenzebene des Begehrens‘ nennt, ähnelt der ästhetischen Lust. Kants selbsteigenes Vermögen der Urteilskraft impliziert Deterritorialisierungen des Körpers, während das biopolitische Kalkül ihn reterritorialisiert, indem es ihm die Produkte seiner Genese enteignet.
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Ausgestaltung um das Konzept des Lebens kreist, ohne dass dieses mit einem biologisch gefassten Lebensbegriff zur Deckung zu bringen wäre.“199 Während die Lebendigkeit der Körper von den Polizey- und Lebenswissenschaften um 1800 innerhalb eines neuen ethos angeordnet wird, befreien sie sich zur selben Zeit im Bereich der Ästhetik von zuvor festgelegten Poetiken und sujets, weil im ästhetischen Regime die Adäquatheit zwischen posis und aísthesis zerbricht. Während Ästhetik den Körpern ein ihnen selbsteigenes Vermögen und eine ihnen gemeinsame, offene Praxis verspricht, unterzieht sie Biopolitik, wenn sie mit dem Spiel Ernst macht und den ästhetischen Knoten auflöst, Verfahren der Selektion und Kombination, indem sie alle Facetten ihrer Tätigkeit unter die Lupe nimmt und ihre freigesetzten Potentiale zu nur möglichen Inhalten stilistisch geregelter Ausdrucksschemata macht. Für die Ur-Ethik biopolitisch operierender Choreographie heißt dies, dass ihr Verhältnis als Form zum Tanz als Tätigkeit nicht durch die Erforschung der unbestimmten Zone zwischen bereits etablierten Funktionen und codierten Ausdrucksschemata des Körpers gekennzeichnet sein kann.200 Während es innerhalb der Ästhetik um ein Leben geht, dessen Schönheit darin besteht, dass es nichts Bestimmtes ausdrückt201, subsumiert Biopolitik die Tätigkeit tanzender Körper einem erneut ethisch verfassten Leben, worin sie der Souveränität festgelegter Schrittfolgen, Raumwege, Positionen im Raum und Körperhaltungen hylemorpischer Auffassungen des Körpers wiederum sehr verwandt ist. „Das Territorium nicht mehr befestigen und markieren, sondern die Zirkulationen gewähren lassen, die Zirkulationen kontrollieren, die guten und die schlechten aussortieren, bewirken, daß all dies stets in Bewegung bleibt, sich ohne Unterlaß umstellt, fortwährend von einem Punkt zum nächsten gelangt, doch auf eine solche Weise, daß die dieser Zirkulation inhärenten Gefahren aufgehoben werden.“202
Während Kunst im ästhetischen Regime ihre Wirkungen per definitionem nicht kalkulieren kann, operiert biopolitische Choreographie anhand eines Kalküls ihrer Wirkungen. Choreographie funktioniert dann zwar nicht als eine fixe téchne, wohl aber als flüssige Technik, die sich der Lebendigkeit ihres Materials und (im Sinne Virnos) der Arbeitskraft und dem Vermögen der Körper anschmiegt, um sich dasjenige anzueignen, was ihre Tätigkeit auf nicht vorhersehbare und nie vollends im Vorhinein planbare Weise hervorbringt. Biopolitische Choreographie, so lässt sich 199 Jan Völker, Ästhetisches Leben, in: ders./Avanessian/Menninghaus, „Vita aesthetica“, S. 55. 200 Vgl. Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268. 201 Vgl. ders., Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 80. 202 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 101.
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ein Gedanke Muhles übertragen, bezieht die Körper auf ihr eigenes Vermögen, dessen Produkte sie ihnen enteignet, um sie anhand bestimmter Stile zu selektieren und kombinieren. „Die Sicherheitsmechanismen verorten sich demnach nicht im Zugriff einer aktiven Macht auf ein passives Subjekt, sondern in jenen Prozessen, die von Foucault auch als natürliche Prozesse bezeichnet werden, die sich auf Wirklichkeitselemente beziehen. Die neue Ökonomie der Macht verweist die Bevölkerung nicht auf ein transzendentales Gesetz, einen Souverän oder eine disziplinäre Apparatur, sondern auf sich selbst: Die Wirklichkeit kann nur von derselben Wirklichkeit verändert werden.“203
Kalkuliertes Leben ist laut Muhle deshalb nicht nur Gegenstand der Biopolitik, sondern auch ihr Funktionsmodell, weil die Normativität der Biopolitik Foucaults mit der Normativität des biologischen Lebens im Sinne Canguilhems isomorph ist. Die um 1800 entstehenden Machtwissenskomplexe beziehen sich nicht mehr repressiv auf die Körper, sondern produktiv auf ihr generisches Vermögen. Während die souveräne Macht in den Geburtsstunden der Choreographie die Körper auf bestimmte Poetiken hin ausrichtete und nicht an ihrem unbestimmten Vermögen interessiert war (wie in der vorliegenden Arbeit im Kontext des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit bei Arbeau und Feuillet gezeigt wurde), setzen die Sicherheitsdispositive einerseits deren Potentiale frei, vereinnahmen sie aber andererseits für bestimmte Stile. Biopolitik findet mithilfe vermögender Körper statt und arbeitet nicht gegen sie.204 So gesehen ist eine frühe Version von Susan Leigh Fosters hired body schon in den ambivalenten Ereignissen um 1800 angelegt. Während bereits in den romantischen Balletten des 19. Jahrhunderts – und noch verstärkt im Rahmen zahlreicher Reformbewegungen des modern dance und des Ausdruckstanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts – biopolitische Festlegungen von Choreographie und Anordnungen ‚natürlicher‘ (Kollektiv)Körper aufkommen, gibt es in den Briefen Noverres einen kurzen Moment des Zögerns und Zauderns, in dem Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit, ohne Adäquatheit zwischen posis und aísthesis, in einer ungelösten Spannung stehen.205 203 Muhle, Eine Genealogie der Biopolitik, S. 259. 204 Lemke weist auf eine ironische Pointe dieses Machtgefüges hin: „Möglicherweise funktioniert ein Programm gerade deshalb, weil es die Probleme erst schafft, auf die es vorgeblich reagiert.“ – Thomas Lemke, Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden: VS Verlag, 2007, S. 61. 205 Vgl. Baxmann, Mythos: Gemeinschaft. In ihrer Studie schildert Baxmann zahlreiche Korrespondenzen zwischen der sogenannten Tanzmoderne und biologistischen Gemeinschaftsauffassungen, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ihre traurigen Höhepunkte zuzusteuern beginnen: „Die Spurensuche unterhalb der Kultur, die neue
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In der Erfahrung des Schönen wird jedes technisch geregelte Arrangement von Körpern ausgesetzt. Innerhalb einer offenen Praxis verbleibt ihre Lebendigkeit unentschieden und in einem Abstand gegenüber jeder möglichen Einheit des Lebens. Sobald jedoch in den romantischen Balletten des 19. Jahrhunderts ein als verwirklichte (Arbeits)Kraft gedachtes ethos die Bühne betritt und dergestalt Gesellschaft und Natur wieder miteinander verkittet werden, etabliert sich eine Ur-Ethik im Sinne Rancières. Für den ungelösten Knoten der Ästhetik dagegen gilt: „Die ästhetische Erfahrung hält sich von nun an zwischen einer Natur und einer Menschheit, d.h. auch zwischen zwei Naturen, zwei Menschheiten.“206 Ästhetik ist entkoppelt vom Zusammenhang zwischen Macht und Wissen, den Foucault bezüglich der Biopolitik gegeben sieht. 1977 führten Foucault und Rancière ein in der Zeitschrift Les Révoltes logiques veröffentlichtes Gespräch, in dessen Verlauf Foucault auf die Figur der Plebejer zu sprechen kommt. Seine Ausführungen, die auch Muhle an prominenter Stelle ihres Buches Eine Genealogie der Biopolitik erwähnt, seien hier in voller Länge zitiert, weil sie sowohl Aufschluss geben über die von ihm selbst implizierten Momente des Widerstands innerhalb der Biopolitik als auch einen wichtigen Unterschied zwischen seinem und Rancières Denken markieren. „Man darf die ‚Plebs‘ wohl nicht als den beständigen Boden der Geschichte begreifen, als das Endziel jeder Unterwerfung, als den niemals völlig erloschenen Herd aller Revolutionen. Die ‚Plebs‘ besitzt zweifelsohne keine soziologische Wirklichkeit. Es gibt jedoch immer etwas im Erfahrungsmodelle auch für den politischen Raum zutage fördern wollte, war zugleich motiviert durch Überlegungen, wie sich diese Energien kontrollieren und in sozial stabilisierende kulturelle Formen überführen lassen.“ – Ebd., S. 221. In Kapitel 7.1. werde ich anhand von Rudolf von Labans Die Welt des Tänzers und Doris Humphreys Die Kunst, Tänze zu machen exemplarisch demonstrieren, inwiefern der deutsche Ausdruckstanz ebenso wie der amerikanische modern dance fixe Formsprachen hervorbringen, die durchweg anhand eines biopolitischen Kalküls operieren, weil es in beiden um die Etablierung von Stilen qua flüssiger téchne geht. Während sie dem klassisch genannten Ballett ein ‚künstliches‘ Vokabular unterstellen, haben unterschiedliche Tanzbewegungen seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemeinsam, sei dies archetypisch motiviert wie bei Martha Graham oder basierend auf ‚kosmischen Rhythmen‘ wie bei Mary Wigman, ‚die Natur selbst‘ ausdrücken zu wollen. In diesen und anderen Fällen ist es eine Verkennung von téchne, aufgrund derer erneut ein hylemorphisches Verhältnis zwischen Form und Materie behauptet werden kann. Das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz ist dann ebenso überdeterminiert wie während des 19. Jahrhunderts im romantischen Ballett von Carlo Blasis. Zur Ästhetik des Zögerns und Zauderns vgl. Joseph Vogl, Über das Zaudern, Berlin/Zürich: diaphanes, 2008. 206 Rancière, Ist Kunst widerständig?, S. 16.
232 | V ERMÖGENDE K ÖRPER Gesellschaftskörper, in den Klassen, in den Gruppen und in den Individuen selbst, das in gewissem Sinne den Machtverhältnissen entgeht; etwas, das nicht der mehr oder weniger formbare oder widerspenstige Rohstoff, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine gegenläufige, befreite Energie ist. ‚Die‘ Plebs existiert zweifellos nicht, aber es gibt ‚etwas‘ Plebejisches. Es gibt etwas Plebejisches in den Körpern und den Seelen, es ist in den Individuen, im Proletariat, im Bürgertum, aber mit verschiedenen Erweiterungen, Formen, Energien und Ursprünglichkeiten. Dieser Teil des Plebs bildet weniger eine Außenseite im Verhältnis zu den Machtbeziehungen, sondern vielmehr ihre Grenze, ihre Kehrseite, ihren Nachhall; er reagiert auf jeden Vorstoß der Macht mit einer ausweichenden Bewegung; dadurch wird jede neue Bewegung des Machtgefüges motiviert.“207
Was Foucault, obwohl seine Analyse der Biopolitik keinen Ausweg aus den Dispositiven der Macht und des Wissens zulässt, anhand der Figur der Plebejer deutlich macht und was im Verlauf dieser Arbeit als selbsteigenes Vermögen und choreographische Fehlschritte der Körper behauptet wurde, entspricht Rancières a priori der Gleichheit, die nicht als Ziel zu erreichen ist, sondern als Ausgangspunkt verifiziert werden muss.208 Rancières Gleichheit der Körper kann ebenso wie Foucaults
207 Michel Foucault/Jacques Rancière, Mächte und Strategien, in: Michel Foucault, „Schriften III“, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 542. Alain Brossat merkt hierzu an: „Die Plebs ist also mit der Geschichte verbunden (mit der Wiederkehr des Verschwundenen und der Hervorbringung von Differenzen), insofern sie jene Gegenkraft ist, die die Macht hemmt, sie zersplittert und ihre Wirkungen stört – man könnte sagen, insofern sie die Unmacht ist. Tatsächlich ist die Macht weit davon entfernt, mit der Hervorbringung von Geschichte in eins zu fallen, ist sie doch im Gegenteil darum bemüht, die Geschichte zu verhindern.“ – Alain Brossat, Plebs, Politik, Ereignis, in: ders., „Plebs Invicta“, Berlin: August, 2013, S. 67 f. 208 Wobei sich Foucault zu Beginn der an Die Geschichte der Gouvernementalität anschließenden Veranstaltungsreihe, die in den beiden Bänden Die Regierung des Selbst und der anderen und Der Mut zur Wahrheit dokumentiert wurde, noch bevor er wieder das Motiv der parrhesia aufgreift und dann in seinen allerletzten Vorlesungen ausarbeitet, explizit auf Immanuel Kant bezieht, der den Grundstein für eine kritische Tradition gelegt habe, der auch er sich verpflichtet sieht. In einem aufgeklärten Selbstverhältnis, wie Kant es v.a. in seiner Dritten Kritik beschreibt, sieht Foucault dementsprechend die Bedingung für einen Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen: „Der Zustand der Unmündigkeit wird gerade durch diese Beziehung zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen charakterisiert. [W]oher rührt diese Überlagerung der Leitung der anderen über den Gebrauch, den wir von unserem eigenen Verstand oder Gewissen usw. machen könnten und sollten? Sie geht nicht auf die Gewalt einer Autorität zurück, sondern hat ihren Ursprung nur in uns selbst, in ei-
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Plebs in keinem bestimmten Leben aufgehen. Dagegen zielt das biopolitische Kalkül auf die Steuerung und Vereinheitlichung der körperlichen Prozesse ab, mit denen es operiert. Steven Shaviros Ausführungen zum Verhältnis zwischen Kants Analytik des Schönen und Deleuzes und Guattaris Konzept der inklusiven Disjunktion vertiefen diese Differenz zwischen Ästhetik und Biopolitik.209 In ihrem gemeinsam verfassten Anti-Ödipus kristallisieren Deleuze und Guattari heraus, was Deleuze in Die Logik des Sinns begonnen hatte, nämlich eine Beschreibung des Verhältnisses zwischen der ‚Tiefe körperlicher Gemische‘ und deren Quasi-Kausalität auf den Oberflächen ihrer Aufzeichnung.210 Für Deleuze ist die doppelte Kausalität der Körper ein unlösbares Problem. Zusammen mit Guattari ordnet er Produktion und Aufzeichnung in kantianischen Termini zwei Ebenen zu: Der konnektiven Synthese als Produktion von Produktion einerseits und der disjunktiven Synthese als Aneignung und Aufzeichnung dieser Produktion andererseits.211 Innerhalb der Biopolitik sollen Körper ununterbrochen frei zirkulieren, dabei aber gleichzeitig der einheitlichen Form eines als exklusive Disjunktion gedachten Lebens subsumiert werden. Demgegenüber versteht Shaviro die inklusiven Disjunktionen Deleuzes und Guattaris nicht als Vereinnahmung des Lebendigen (der Produktion von Produktion) durch eine von ihm getrennte Oberfläche (die Produktion der Aufzeichnung), bezüglich des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit also nicht als Vereinnahmungsapparat im Sinne Lepeckis, sondern als Ort des ästhetinem bestimmten Verhältnis zu uns selbst.“ – Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen, S. 52. 209 Vgl. Shaviro, Without Criteria. 210 In Logik des Sinns schreibt Deleuze: „Die Fragilität des Sinns ist leicht zu erklären. Das Attribut ist von anderer Natur als die körperlichen Qualitäten. Das Ereignis von ganz anderer Natur als die Aktionen und Passionen des Körpers. Doch es resultiert aus ihnen: Der Sinn ist die Wirkung körperlicher Ursachen und ihrer Mischungen. So daß er ständig in der Gefahr steht, von seiner Ursache erwischt zu werden. Er rettet sich und behauptet seine Irreduktibilität nur in dem Maße, wie das Kausalverhältnis die Heterogenität der Ursache und der Wirkung in sich aufnimmt: Bindung der Ursachen unter sich und Verbindung der Wirkungen untereinander. Das bedeutet, daß der unkörperliche Sinn als Ergebnis der Aktionen und Passionen des Körpers seine Differenz zur körperlichen Ursache nur insoweit bewahren kann, als er sich an der Oberfläche einer Quasi-Ursache anschließt, die ihrerseits unkörperlich ist. Genau dies haben die Stoiker gut erkannt: Das Ereignis unterliegt einer doppelten Kausalität, indem es einerseits auf die Körpermischungen als seine Ursache verweist, andererseits auf andere Ereignisse als seine Quasi-Ursache.“ – Gilles Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 125. 211 Vgl. Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus.
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schen Widerstands. Als eine nicht von ihren körperlichen Tiefen und kausalen Ursachen abgespaltene Praxis rückt er den organlosen Körper in die Nähe der Erfahrung des Schönen. Insofern sind Schillers und Kants Überlegungen zum Schönen den inklusiven Disjunktionen Deleuzes und Guattaris verwandt, weil, wie sich mit Muhle sagen lässt, unter ästhetischen Gesichtspunkten „die radikale Gleichheit das Leben in seiner radikalen Beliebigkeit ins Spiel bringt“212 und die lebendige Tätigkeit der Körper keiner ihnen äußerlichen Instanz untergeordnet wird, die sie unabhängig von einem ihnen selbsteigenen Vermögen aufteilt.213 Interessanterweise verwendet Foucault selbst den Begriff der Aufteilung, wenn er biopolitische Zirkulation beschreibt „auch als Form der Aufteilung, wobei das Problem ist: Wie muß etwas zirkulieren und wie darf es nicht zirkulieren?“214 Genauso verfährt Choreographie, wenn sie sich die Selektion und Kombination von (Roh)Material entlang bestimmter Stile zur Aufgabe macht: Sie verteilt die eigentlich offene Praxis von Körpern in einem als ‚natürlich‘ behaupteten Raum.215 Im Gegensatz dazu sind die choreographischen Fehlschritte der Körper Momente des Dissenses mit dem hired body. In der Schwebe ist in solchen, im besten Sinne ästhetischen, Praktiken, wie nun anhand von Yvonne Rainers Trio A demonstriert sei, jede Feststellung der Fähigkeiten vermögender Körper. Indem die unbestimmte Grenze zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie zum Oszillieren gebracht wird, emanzipieren sich Körper und öffnen sich gegenüber ihrem Vermögen, andere Körper sein und werden zu können. Der Körper als lebende Gestalt kann nur erfahren werden, weil er nicht als Inhalt eines ‚natürlichen‘ Ausdrucks funktionalisiert und unbestimmte Ausdrucksmaterie ist. 212 Muhle, Eine Genealogie der Biopolitik, S. 291. 213 Deleuzes Unterscheidung zwischen einer sesshaften Aufteilung des Raums und einer nomadischen Verteilung im Raum hilft hier weiter: „Möglicherweise hatte die Agrarfrage eine große Bedeutung für diese Organisation der Urteilskraft als Vermögen der Unterscheidung der Teile (‚einesteils und andernteils‘). Selbst unter den Göttern hat jeder sein Gebiet, seine Kategorie, seine Attribute, und sie alle verteilen unter den Sterblichen Grenzen und Anteile, die dem Schicksal gemäß sind. Ganz anders eine Verteilung, die man nomadisch nennen muß, ein nomadischer nomos, ohne Besitztum, Umzäunung oder Maß. Hier gibt es kein Aufteilen eines Verteilten mehr, sondern eher die Zuteilung dessen, was sich verteilt, in einem unbegrenzten offenen Raum, in einem Raum, der zumindest keine genauen Grenzen kennt.“ – Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 59 f. 214 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 100. 215 Vor diesem Hintergrund soll in Kapitel 7 ein von Randy Martin beschriebener, auch heute noch für viele Compagnien typischer, Probenprozess für produktionsästhetische Fragestellungen produktiv gemacht und gefragt werden, inwiefern gerade die ‚freie‘ Generierung von Material auf Seiten der Tänzer einer biopolitischen Logik folgt.
Parabel III: Yvonne Rainers Trio A
Die qualitativen Transformationen des Körpers, die Yvonne Rainer in Trio A produziert, haben ihre Singularität bis heute nicht eingebüßt. Zahlreiche Stücke und ein radikal anderes Nachdenken über das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit sind seitdem aufgekommen. Gerade diejenige Generation von Choreographinnen und Choreographen, die in den 1990er Jahren die internationalen Märkte betreten hat, ist maßgeblich vom Judson Church Theatre im Allgemeinen und dieser Arbeit im Besonderen beeinflusst worden. So sieht etwa Gerald Siegmund Parallelen sowohl zu Xavier le Roys Self Unfinished (1998) als auch zu seiner später gemeinsam mit Eszter Salamon entwickelten Arbeit Giszelle (2001)1, und Ramsay Burt spricht in Bezug auf die offenen Praktiken der Generation der 1990er insgesamt sogar von einem „Judson in Europe“2. Erstmals wurde das viereinhalbminütige Stück 1966 in der New Yorker Judson Church als Trio von Steve Paxton, David Gordon und Rainer selbst unter dem Titel The Mind is a muscle, Part 1 präsentiert und ist seitdem in unzähligen Versionen, auch in Form von reenactments mit Laien, aufgeführt worden. Hier geht es um die von Rainer getanzte Soloversion, welche 1978 von Sally Banes auf Video festgehalten wurde und als Stream im Internet frei verfügbar ist.3 Die geradezu schönen Momente des Stücks sind: (1.) Keine Bewegung wird gegenüber einer anderen akzentuiert. (2.) Die Bewegungen sind so aneinander gereiht, dass nichts einfach dem Impuls von etwas anderem entspringen kann. (3.) Jedes einzelne Element – Bewegungen, angedeutete Posen und Wechsel der Ausrichtung des Körpers – ruht als isolierter Block in sich und steht gleichzeitig in Resonanz mit anderen Elementen. (4.) Es gibt keinen besonderen Fokus. Ebenso wenig wird gewichtet zwischen Bewegungen, die den ganzen Körper betreffen und solchen, die nur ein Teil des Körpers ausführt. (5.) Rainer
1
Vgl. Siegmund, Abwesenheit, S. 405.
2
Burt, Judson Dance Theatre, S. 193.
3
http://www.youtube.com/watch?v=Ikaj6QFLZnU. – Zugriff am 18.3.2010.
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changiert permanent zwischen verschiedenen Ausrichtungen im Raum sowie zwischen stehenden, knienden und Positionen am Boden. (6.) Alles wird mit gleicher Gültigkeit behandelt und nichts zum Leitmotiv.4 In Trio A wird die von Foster am hired body demonstrierte Funktionalisierung des Körpers umgangen, weil dort Ausdruck weder durch téchne noch anhand eines bestimmten Stils festgelegt ist. Es gibt keine Phrasierungen, wie im Tanz in Amerika, vor allem seit den Reformen des modern dance einer Martha Graham oder Doris Humphrey, gegen den Rainer sich explizit wendete, bis dahin üblich, sondern die viereinhalb Minuten wirken im Gegenteil eher wie ein einziger, in sich ruhender, ‚träger‘ Bewegungsblock.
4
Bereits in ihrem früheren Gruppenstück Parts of Some Sextets (1965) hat Rainer versucht, die traditionelle Phrasierung des tanzenden Körpers aufzugeben und ihn kontinuierlichen Transformationen seiner Qualitäten zuzuführen. Dabei wurde sie stark inspiriert vom Schreibstil eines eher unbekannten Autors aus dem 19. Jahrhundert, dessen Text sie dann auch als Tonspur ihrem Stück zugrunde legen wird: William Bentleys Tagebücher bestehen aus völlig gleichgültigen Beschreibungen alltäglicher Mikro-Ereignisse. Er dokumentiert in ihnen die kleinsten Details dessen, was ihm zustößt und hält alles im selben kontinuierlichen Sprachfluss fest. Was er derart produziert, ist ein Modus ästhetischer Erfahrung, der von jeglicher Hierarchie seiner sujets entbunden ist und keine fixen Bezugspunkte mehr hat, denen er etwas anderes, sich selbst äußerliches, subsumieren könnte. Anstatt einer Subsumption von etwas unter etwas anderes zeigt sich in den Tagebüchern Bentleys eine bloße Erfahrungsform, die aus einer Genese dessen resultiert, was sich in ihr mit gleicher Gültigkeit zeigt und gerade deshalb alles mit allem anderen in Resonanz bringt und so ein Feld virtueller Beziehungen eröffnet. Vgl. Yvonne Rainer, Work 1961– 73, New York: The Presses of the Nova Scotia College of Art and Design and New York University, 1974, S. 55 ff. Vor diesem Hintergrund beschreibt Carrie Lambert-Beatty die kontinuierliche Transformation körperlicher Qualitäten in Rainers Nachdenken über Choreographie als Adaption jener literarischen Strategie für den Tanz: „The diary’s question is not ‚what matters‘? or ‚who am I?‘ but ‚what happened?‘ It tells us who died, what building burned, where Bentley strolled, with whom he ate, who came to him for counsel, who owed him money, to whom he owed. In Bentley’s diary Rainer had a veritable catalog of the everyday. […] By placing one thing after another without making emotional connections, Bentley helped Rainer recognize the nonexpressive tendency in the art of her milieu that she would pull out and develop in Parts of some Sextets. Moreover, his diary seems to have helped her create a specific attentive structure for her work: a spectatorship neither of pleasure nor of revulsion, but of noninvolvement.“ – Carrie LambertBeatty, Being watched – Yvonne Rainer and the 1960s, Massachusetts: The MIT Press, 2008, S. 99 + S. 103.
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Abbildung 12: Yvonne Rainer im Video zu Trio A (1978)
Video Data Bank, School of the Art Institute of Chicago. Videostill.
Warum hat gerade Trio A derart viele Spuren gezeitigt? Den zahlreichen Lesarten des Stücks soll hier eine weitere hinzugefügt und dabei von folgender These ausgegangen werden: Rainer setzt sich in Trio A mit dem Verhältnis zwischen dem Tanz als lebendiger Tätigkeit und der Choreographie als bloßer Form auseinander und schafft so einen paradoxen Ort, an dem sich im Sinne Rancières das Unmessbare ihrer Gleichheit einerseits und die Verteilung von Körpern innerhalb einer Aufteilung des Sinnlichen andererseits dennoch aneinander messen.5 Dies geschieht, indem sie eine Identifizierung mit modernen Stilen ebenso vermeidet wie mit einzelnen, ebenfalls immer nur angedeuteten, Figuren des Balletts. Deshalb operiert das kurze Stück an genau der Grenze zwischen dem (biopolitisch) funktionalisierten Körper und dem nicht aktualisierten Potential eines Körpers, der in den vorangegangenen Kapiteln der vorliegenden Arbeit als vermögender Körper der Ästhetik herauskristallisiert wurde. Was (auf rezeptionsästhetischer Seite) von den Zuschauern gesehen werden kann, resoniert deshalb mit dem, was (auf produktionsästhetischer Seite) tätig in sie investiert wird, weil Rainer die Pole von Choreographie und Tanz auf extreme Weise einander annähert und gleichzeitig eine Spannung zwi-
5
Vgl. Rancière, Gibt es eine politische Philosophie?, in: ders./Badiou, „Politik der Wahrheit“, S. 94.
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schen ihnen aufrechterhält. Carrie Lambert-Beatty zufolge wird dadurch Erfahrung selbst als Produkt körperlicher Tätigkeitsformen erkennbar und zwischen Tänzerin und Zuschauern aufs Spiel gesetzt. „It will connect the viewer’s experience to the dancer’s. Describing the work this way, she goes beyond mere analysis of her choreography, and produces a practical philosophy of self and other. For if I could see what you feel, I would share your experience, experience your being.“6
Trio A liegt ein sehr komplexer Score zugrunde, der jedoch eigentlich von jedem getanzt werden kann und der sich nicht ausschließlich an ausgebildete, in diesem Sinne technisch ‚virtuose‘, Tänzer richtet. Im Gegenteil wird während des Stücks deutlich, dass Virtuosität, wenn man unter ihr etwas anderes versteht als die Ausrichtung an einer téchne und die Erfüllung eines bestimmten Stils, die Fähigkeit eines jeden im Sinne Virnos bezeichnet: „Tatsächlich gibt es ein grundlegendes Modell der Virtuosität, die Erfahrung, die den Begriff begründet, nämlich die Tätigkeit des Sprechens: nicht die Tätigkeit eines gelehrten oder geschliffenen Sprechers, sondern die eines jeden Sprechers.“7 Der Score von Trio A ist zwar als Werk überliefert. Was aber diejenigen produzieren, die ihn ausführen, sind nicht Bewegungen, die auf einer möglichst perfekten Verkörperung von etwas basieren, sondern das Augenmerk zuallererst auf das Moment der Tätigkeit selbst richten. Obwohl Formen vollzogen werden, geht es nicht um deren Performanz, sondern um das singuläre Vermögen des Körpers, der sie zuallererst als solche begründet. Rainer hatte das zunächst nicht so intendiert: „Now I say anyone can master the style, or just about anyone. I didn’t have a concept of that possibility in 1966.“8 Zu Beginn des Stücks steht Rainer seitlich zum Publikum, beugt leicht ihre Knie und lässt dann, wobei ihr Gesicht auf die Rückwand der Bühne gerichtet ist, die Arme kreisförmig vor und zurück baumeln, so dass ihre Hände kurz und abwechselnd Bauch und Rücken berühren. Plötzlich bricht sie die Sequenz ab, dreht den gesamten Körper ein wenig in Richtung der Bühnenrückseite, streckt beide Arme in einem 90-Grad-Winkel von ihrem Torso ab und macht nun kreiselnde Bewegungen mit ihnen. Es folgen eine Serie angedeuteter Ausfallschritte, begonnener Drehungen auf der Stelle und unvollständige Reihen nie gänzlich eingenommener Posen. Jede Pose wird wie im wortwörtlichen Vorbeigehen gestreift und eher angedeutet als ausgeführt; die Posen treiben sämtlich wie Bruchstücke in dem kontinu6
Carrie Lambert, on being moved: rainer and the aesthetics of empathy, in: Sid Sachs (Hrsg.), „Yvonne Rainer: Radical Juxtapositions 1961–2002“, Philadelphia: The University of the Arts Press, 2003, S. 49.
7
Virno, Grammatik der Multitude, S. 48 f.
8
Rainer, Work 1961–73, S. 75.
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ierlichen Bewegungsfluss, der den viereinhalbminütigen Block bildet. Rainers Körperhaltungen erinnern teils an ‚klassische‘ Figuren wie etwa À la seconde (bei der das Spielbein zur Seite weggestreckt ist, welches sie aber schon wieder zurücknimmt, noch während sie es ansetzt), Battement (eine eigentlich auf den Boden schlagende Bewegung des Spielbeins, die sie eher darüber hinwegwischend ausführt), ein durch den Raum schnellendes Chassé (welches sie jedoch entschleunigt und so seines Akzents beraubt), ein En croix, eine Pirouette, ein den Körper erhebendes Relevé, eine Arabesque oder sogar die den Oberkörper nach vorne neigende Arabesque penchée aus dem Ballett. Welche Bewegungsvokabel auch immer Rainer jeweils anklingen lässt, zu keinem Zeitpunkt gibt es etwas, das sie als privilegierte Körperhaltung anstreben würde, und kein bestimmter Raumweg wird gegenüber einem anderen bevorzugt. Im Gegenteil: Es scheint, als wolle sie es vermeiden, sich stillstellen zu lassen in einer bestimmten Haltung oder auf einer bestimmten Position. Ihr Körper wirkt, als wäre er gleichzeitig alle zitierten Körper zusammen und keiner von ihnen. – Manche gestreifte Haltungen beziehen sich auf das Ballett, andere rufen einzelne Motive des modern dance wach, lassen unterschiedliche Figuren jedoch immer nur kurz aufscheinen in ihrem Kontrast zu anderen, weiteren Figuren. Wenn Rainer mit schaukelndem Kopf eine Diagonale durch den Raum zieht, kann man dabei an eine Martha Graham eigene Ausdruckspalette denken, welche jedoch, wie alles andere, von jedem bestimmten Ausdruck befreit wird. Immer changiert sie zwischen verschiedenen Figuren, so dass nie der Eindruck entstehen kann, ihr Körper würde einem stilistisch gerahmten Ausdrucksregime entsprechen. Vielmehr erforscht sie einen unbestimmten Körper, der weder einem funktionalen Modell gehorcht noch einer entsprechenden Expressivität folgt9, indem sie sich im Zickzack zwischen verschiedenen Zuständen ihres Körpers hindurchbewegt und so an Rancières Lesart von Schillers Juno Ludovisi erinnert, aus deren Gesicht aller Ausdruck verschwunden ist und die deshalb die Fülle des Lebens verspricht.10 Auf diese Weise produziert Rainer eine Gleichheit zwischen allen involvierten Elementen des Stücks und macht eine ihrer Tätigkeit zugrundeliegende Potentialität erfahrbar. Weder hebt sie bestimmte Posen gegenüber anderen hervor noch einzelne Posen gegenüber der Bewegung zwischen ihnen. Alles wird Selbstzweck. Bezüglich des Publikums stellt sich eine ähnliche Wirkung her: Die Zuschauer können sich nicht mehr mit einem (imaginären) Körper identifizieren, sondern changieren ebenso wie der Körper vor ihnen zwischen verschiedenen qualitativen Zuständen. Dies hat Sally Banes zu schreiben veranlasst, dass „the piece could be accessible to
9
Vgl. Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268.
10 Vgl. ders., Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 80.
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all, and rather than looking heroic, dancers looked like ordinary people.“11 Wenn man die ‚gewöhnlichen Leute‘ als etwas Beliebiges versteht, als alles, das als Intervall zum choreographischen sujet werden und eine vermögenden Körpern gemeinsame, ästhetische Lust steigern kann, die sich in Trio A vervielfältigt und überall gleichermaßen entzündet, indem Rainer sowohl Raum- wie Körperteile als auch Zeitpunkte einer egalitären Behandlung unterzieht, macht ihre Beobachtung durchaus Sinn. In A Quasi Survey of Some “Minimalist“ Tendencies in the Quantitatively Minimal Dance Activity Midst the Plethora, or an Analysis of Trio A schreibt Rainer: „What makes one kind of movement different from another is not so much variations in arrangements of parts of the body as differences in energy investment. It is important to distinguish between real energy and what I shall call ‚apparent‘ energy. The former refers to actual output in terms of physical expenditure on the part of the performer. It is common to hear a dance teacher to tell a student that he is using ‚too much energy‘. This view of energy is related to a notion of economy and ideal movement technique. Unless otherwise indicated, what I shall be talking about here is ‚apparent‘ energy, or what is seen in terms of motion and stillness rather than of actual work, regardless of the physiological or kinaesthetic experience of the dancer.“12
Ihr geht es darum, die investierte Energie des tanzenden Körpers und die konsumierte Energie auf Publikumsseite aneinander zu messen. Verschwindet herkömmlicherweise die tänzerische Arbeit, vor allem hinter den gehaltenen Posen als den Höhepunkten akzentuierter Phrasen, will sie in Trio A offensichtlich machen, was eigentlich nicht sichtbar ist: Das Verhältnis zwischen der Tätigkeit tanzender Körper und der Form der Choreographie einerseits und dem, was davon andererseits von den Zuschauern rezipiert wird. Indem Tanz als Tätigkeit und als Investition von Energie für die Zuschauer spürbar wird, wird deren Erfahrung grundlegend transformiert. Sie bekommen nicht mehr das Bild eines in sich abgeschlossenen (imaginären) Körpers vorgesetzt, in dem ihre Blicke aufgehen könnten, sondern befinden sich in einem Sensorium, das dem des tanzenden Körpers, der die Choreographie vor ihren Augen ausführt, näher kommt, ohne mit ihm deckungsgleich zu werden. Catherine Wood weist mithilfe Rancières auf jene Annäherung zwischen investierter und konsumierter Energie in Trio A hin. Wenn, so argumentiert sie, künstlerische Praktiken nach Rancière „intervene in the general distribution of ‚doing and making‘, and can therefore create the potential for change in modes of experi11 Sally Banes, Gulliver’s Hamburger – Defamiliarization and the Ordinary in the 1960s Avant-Garde, in: dies. (Hrsg.), „Reinventing dance in the 1960s“, Wisconsin: University of Wisconsin Press, 2003, S. 15. 12 Ebd., S. 64.
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ence“13, zeigt sich in Rainers Stück, dass „the ‚making‘ of the work is simultaneous with and dependent upon its ‚doing‘ as performance; it is process and action. Tautologically, the work (of art) is simultaneous with the work (effort) of its execution.“14 Insofern unterbricht Rainer ein gerade dem modern dance eigenes Wahrnehmungsschema, das weiter oben anhand von Lepeckis Kritik an John Martins Konzept der Metakinesis skizziert wurde, indem sie lebendige Tätigkeit nicht in ihr äußerlichen Formen aufgehen lässt, sondern das ihr zugrundeliegende Vermögen selbst in den Vordergrund stellt. Sie spielt, was im task von Trio A begründet liegt, mit einer offen bestimmbaren Zone zwischen Tätigkeit und Form, in der jeder beliebige Körper als virtuoser Körper erscheinen kann. Indem sie keiner téchne folgt, widerspricht sie der Logik des biopolitischen Kalküls und dessen einheitlichem Kontinuum. Die einzelnen Komponenten des viereinhalbminütigen Bewegungsblocks lassen sich nicht selektieren und kombinieren, weil sie indifferent gegenüber einem ihnen äußerlichen Zusammenhang sind. Demgegenüber behauptet Sally Banes, die Ablehnung traditioneller Vorstellungen von Technik im Kontext des Judson Church Theatre sei insgesamt motiviert durch ‚realistische‘ Imitationen des Alltagslebens, dem sich dessen Mitglieder seit den 1960ern zugewandt hätten. „Of course, the criticism of the 1960s that art now imitated life all too closely was nothing new. This reproach had been leveled at modern literature, visual arts, and theatre at least since the realist movement of the late nineteenth century, and in certain ways the 1960s generation of artists was involved in rediscovering a latter-day realism for a new technological age of mass culture and mass communication.“15
Nachahmung in diesem Sinne würde jedoch erneut eine Adäquatheit zwischen posis und aísthesis voraussetzen: Auch Democracy’s Body wäre ein ethischer Körper. Rainer dagegen subjektiviert den tanzenden Körper und entfernt ihn von einer nur möglichen Realisierbarkeit seines Potentials in einem bestimmten Stil. Das gelingt ihr vermittels mehrerer choreographischer Fehlschritte. In erster Linie vermeidet sie es zu jedem Zeitpunkt, Bewegungsimpulsen einfach zu folgen und dadurch dasjenige Moment, in dem sie zu Figuren würden, zu realisieren, sondern bricht alle möglichen Impulse bereits während ihres Entstehens ab. Sie spielt permanent mit einer Unbestimmtheit des Körpers, welche zwischen einzelnen Bewegungen und Figuren liegt und sie einander gleich macht. Mark Franko stellt diesbezüglich fest: „Trio A focuses ingeniously on avoiding a series of options con13 Catherine Wood, The Mind is a Muscle, London: Afterall Books, 2007, S. 27. 14 Ebd., ebd. 15 Banes, Gulliver’s Hamburger, in: dies. (Hrsg.), „Reinventing dance in the 1960s“, S. 18 f.
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fronted at each step, and on the formalization of negated options as a procedure.“16 Somit geraten nur potentielle Bewegungen in den Vordergrund, welche gerade nicht aktuell ausgeführt werden. Keine Position im Raum, keine Körperhaltung und keine Raumachse wird gegenüber den anderen priorisiert, und es entsteht der Eindruck einer virtuellen Verbundenheit von allem mit allem anderen – der Körperteile und ihrer Beziehungen untereinander ebenso wie der Blickachsen (der des Publikums auf die unterschiedlichen Bühnenbereiche ebenso wie der des tanzenden Körpers, welcher nie die Zuschauer fixiert, sondern ihnen immer ausweicht). Dient das Abrollen auf dem Boden herkömmlicherweise allein dem Abfedern der Energie eines zuvor stattgefunden Sprungs und ist deshalb Mittel für einen ihm äußerlichen Zweck, wird es in Trio A von seiner Funktion entbunden und nicht in eine energetische Hierarchie eingegliedert, weil es als bloße Form des Abrollens ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Was Carrie Lambert-Beatty an dem Stück als „funky but determinded clockwork“17 bezeichnet, verweist nicht nur auf den gleichförmigen Puls eines Uhrwerks und das Fehlen jeglicher ihm äußerlichen rhythmischen Struktur, die das Stück in unterschiedliche Phrasen, welche wiederum der energetischen Triangel aus attack, sustain und release gehorchen würden, unterteilte, sondern auch auf eine Qualität, die Rainer selbst als „smoothness of the continuity“ bezeichnet hat. „Another factor contributing to the smoothness of the continuity is that no one part of the series is made any more important than any other. For four and a half minutes a great variety of movement shapes occur, but they are of equal weight and are equally emphasized.“18
Indem jede Beugung des Raums und der Zeit unter eine andere Instanz als die kontinuierliche Transformation körperlicher Qualitäten, welche die viereinhalb Minuten durchzieht, ausbleibt, entsteht, sowohl innerhalb der Choreographie als auch in den Augen der Zuschauer, keine organische Einheit des Werkes. Weil es in dem Stück, in den Worten Lambert-Beattys, um eine „utter fusion of [the] actual and [the] apparent“19 und die „inseparability of lived and observed experience, or the inherence of the felt in the seen“20 geht, kann die Tätigkeit tanzender Körper keiner organischen Maßeinheit entsprechen. Im Gegenteil: Ihre Lebendigkeit geht nicht in
16 Mark Franko, Some notes on Yvonne Rainer, Modernism, Politics, Emotion, Performance, and the Aftermath, in: Jane C. Desmond (Hrsg.), „Meaning in motion“, Durham&London: Duke University Press, 1997, S. 296. 17 Lambert-Beatty, Being watched, S. 130. 18 Rainer, Work 1961–73, S. 67. 19 Lambert-Beatty, Being watched, S. 153. 20 Ebd., ebd.
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einer ethischen Form auf, sondern bewohnt deren Ränder und macht sie zur lebenden Gestalt im Sinne Schillers. Auf produktionsästhetischer Ebene ist ein weiterer Aspekt der Choreographie wichtig, nämlich Rainers Umgang mit dem Instrument der Metapher, um spezifische Bewegungsqualitäten zu generieren. Noch heute ist es oftmals üblich, seit Anna Halprin Ende der 1950er Jahre begann, während ihrer experimentellen Workshops in Kalifornien tasks einzusetzen, produktive Beziehungen zwischen verbalen Handlungsanweisungen und der Tätigkeit tanzender Körper herzustellen.21 Rainer verwendet im Rahmen von Trio A allerdings Metaphern, die auf leblose Objekte und Dinge verweisen, deren Übersetzbarkeit in körperliche Ausdruckspotentiale auf den ersten Blick nur schwer zu bewerkstelligen ist. Sie beschreibt eine Szene, in der ihr während einer Probe mit David Gordon, der in Trio A tanzen sollte, aufgefallen wäre, wie jener sich auf eine Weise bewegte, die nicht der von ihr gestellten Aufgabe entsprochen hätte. Sie fragte ihn daraufhin, welches Bild er vor Augen habe und er erklärte ihr, es sei das eines Fauns gewesen. Ihre Antwort: „Try thinking of yourself as a barrel.“22 Eine ähnliche Metapher hätte sie auch John Erdmann vorgeschlagen, nachdem dieser, der Barbara Lloyds Part in der Trio-Version tanzen sollte, meinte, sie hätte ihm nahegelegt, an einer bestimmten Stelle des Stücks ‚vogelartig‘ zu tanzen. Rainers Bild dagegen: „I re-taught it to him as ‚airplane-like.‘“23 Indem Rainer von organischen Kontexten abrückt und es vermeidet, Konstellationen aus einem organisch gedachten Leben in Metaphern für bestimmte Zustände des Körpers zu verwandeln, macht sie den Tänzern die Nachahmung schwerer. Bilder wie Fässer oder ein Flugzeug stellen den Körper in einen anorganischen Zusammenhang, in dem sich seine Qualitäten nicht anhand simpler Ähnlichkeitskriterien definieren lassen.
21 „For Ann, even a simple movement task, like repetitive walking, could become exciting to observe. There was no telling where it might lead if it were alowed to unfold naturally, free from anxities about making it look interesting to an audience.“ Janice Ross, Anna Halprin – Experience as Dance, Berkely/Los Angeles/London: University of California Press, 2009, S. 132. Rainer ist hiervon durchaus inspiriert, geht selbst jedoch in ihren späteren Arbeiten weiter, indem sie sich von Halprins Idee ‚natürlicher‘ Bewegungen in diesem Sinne vollends verabschiedet. Was bleibt, ist ihr Interesse an den Transformationen körperlicher Qualitäten, die allein tasks zu produzieren in der Lage sind: „When Yvonne Rainer commented on Ann’s use of task as simply a way to get at ‚the movement or the kinesthetic thing that the task brought about‘, Ann acknowledged this but also explained that she was moving toward selecting tasks so compelling that just executing them would occupy the performer’s full physical and emotional attention.“ Ebd., S. 174 f. 22 Rainer, Work 1961–73, S. 75. 23 Ebd., ebd.
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Im Gegensatz zum biopolitischen Kalkül, dem daran gelegen ist, Lebendiges mit der Idee eines erneut ethisch verfassten Lebens zu identifizieren, bewahrt Rainer die Grenzen und Spannungen zwischen heterogenen Stilen, ohne den ästhetischen Knoten in einen von ihnen hinein aufzulösen. Nie geht der Körper in Trio A in einem bestimmten Funktionsmodell auf und drückt deswegen nichts aus außer das ihm selbsteigene Vermögen, etwas ausdrücken zu können. Indem er, wie Franko schreibt, „both preserves the subject but removes her from the narcisticvoyeuristic relation“24, wird er vor dem hired body in Schutz genommen und zu freiem Schein, genau so, wie Schiller ihn denkt. Weder löst er sich im Stoff auf noch wird er von der Form vereinnahmt. Er ist frei zwischen beiden aufgespannt und spielt. Er spielt im Grenzgebiet zwischen seinem eigenen Vermögen, Formen hervorbringen zu können und deren Vereinnahmung durch ein biopolitisches Kalkül, dessen Selektionen und Kombinationen ausgesetzt werden. Dadurch wird im Sinne Rancières das Vermögen der Zuschauer erfahrbar als „die gleiche Fähigkeit der Mitglieder einer Gemeinschaft, ein Ich zu sein, dessen Urteil jedem anderen zugeschrieben werden kann und somit im Modus der Kant’schen ästhetischen Universalität eine Art neues Wir erschafft, eine ästhetische oder dissensuelle Gemeinschaft.“25 Innerhalb dieser Gemeinschaft geht es um einen Körper, „der zu etwas anderem als zum Beherrschtwerden berufen wäre.“26 Insofern gibt es, über eine nicht nur zeitliche Ferne hinweg, dennoch Berührungspunkte zwischen Yvonne Rainer und Jean Georges Noverre.
24 Franko, Some notes on Yvonne Rainer, in: Jane C. Desmond (Hrsg.), „Meaning in motion“, S. 298. 25 Jacques Rancière, Die Paradoxa der politischen Kunst, in: ders., „Der emanzipierte Zuschauer“, S. 77. 26 Ebd., S. 76.
6. Choreographie, Leben und Praxis in Noverres Briefen über die Tanzkunst „Das ästhetische Unbewusste, das vom ästhetischen Regime der Kunst nicht zu trennen ist, äußert sich in der Polarität dieser doppelten Bühne der stummen Sprache: einerseits die auf die Körper geschriebene Sprache, die durch die Arbeit einer Entzifferung und einer Neuschreibung in ihrer sprachlichen Signifikation wiederhergestellt werden muß; andererseits die taube Sprache einer namenlosen Macht, die sich hinter jedem Bewußtsein und jeder Signifikation verbirgt und der man eine Stimme und einen Körper geben muß, auch auf die Gefahr hin, daß diese anonyme Stimme und dieser phantomatische Körper das menschliche Subjekt auf den Weg des großen Verzichts mitreißen […].“
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JACQUES RANCIÈRE/DAS ÄSTHETISCHE UNBEWUSSTE
Indem der Körper von Noverre nicht mehr als in einen ‚menschlichen‘ und einen ‚tierischen‘ gespalten (Arbeau) oder als weißes, unbeschriebenes Blatt, dessen Eigendynamik unproblematisch bleibt (Feuillet), gedacht wird, sondern in seinen Briefen als aufsteigender Untergrund seinerseits zu sprechen beginnt, suspendiert er ein binäres Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz als im Vorhinein festgelegte Ausführung von Schritten und Positionen im Raum. Auf seinen Leinwänden wird die Grenze zwischen dem, was schon Gegenstand choreographischer Verfahren ist und dem, was noch nicht zu ihnen gehört, porös. In der Vielfalt ihrer Formen 1
Rancière, Das ästhetische Unbewußte, S. 31.
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und den Nuancen ihrer Expressivität ist die Tätigkeit der Körper zutiefst paradox: Noverres tableaux vivants implizieren eine nicht länger souveräne Rahmung des Lebens. Indem sich die Pan-tomime das Leben als Lebendiges zum Modell nimmt und potentiell alles nachahmt, hat sie kein Modell mehr, das sie einfach repräsentieren könnte. Dies gilt sowohl in Bezug auf (1.) die Körper und sujets, die innerhalb eines tableau vivants dargestellt als auch (2.) hinsichtlich der körperlichen Zustände, die expressiv sein können. Weil, so die Leitthese dieses Kapitels, mit Noverre Nicht-Choreographie ins Zentrum der Choreographie rückt, öffnet sie sich gegenüber einem nicht im Vorhinein feststellbaren Vermögen der Körper und operiert deswegen bis heute zwischen den Polen von Ästhetik und Biopolitik. Noverres Leben ist eine unausschöpfbare Quelle und Schauplatz unzähliger Tätigkeitsformen.2 Er legt zugleich den Grundstein für „etwas, das der Kunst eigen ist und eine neue Lebensform“3, da Choreographie für ihn zwischen dem offenen Rahmen der Leinwand und der Fülle des Materials, welches auf ihr Gestalt annehmen kann, vermittelt. Allerdings konstatiert Rancière der Ästhetik gerade aufgrund dieser Logik eine biopolitische Tendenz, wenn sie in Ur-Ethik umschlägt. Über die Theaterreformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und Meyerholds Biomechanik schreibt er: „Doch gerade diejenigen, die diese Utopie ablehnen, stoßen erneut auf dieselbe Spannung zwischen ästhetischer Neutralisierung und dem ur-ethischen Aktivismus. Dass Meyerhold Ostrowskis Figuren zu immer mehr gymnastischen Übungen anhält, dient nicht dazu, letztere schmackhaft zu machen, sondern ist eine Art und Weise, das Potential des klassischen Werkes in die Gegenwart zu entfalten und die Künstlichkeit der Fiktion mit der Ausübung einer vitalen Kraft gleichzusetzen. Doch auch die Demonstration dieser vitalen Kraft vollzieht sich im Medium mechanisierter Gesten. Die Biomechanik ist die erträumte Versöhnung zwischen der Indifferenz der Marionette und der Kraft eines neuen Lebens der Gemeinschaft, die mit dem Epos der Maschine gleichgesetzt wird.“4
Zwischen den ästhetischen und biopolitischen Strömungen, die Noverre freisetzt, besteht eine gravierende Differenz, die auch für unterschiedliche Verständnisse des Verhältnisses zwischen Choreographie und Tanz von Bedeutung ist. Wird das Vermögen der Körper anhand bestimmter Stile und Techniken funktionalisiert, keh-
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Vgl. hierzu Stefan Hölscher, Lebensform: Die Bild-Sätze Jean Georges Noverres, in: Irene Brandenburg/Nicole Haitzinger/Claudia Jeschke (Hrsg.), „Tanz&Archiv – Geste und Affekt im 18. Jahrhundert. Heft 4“, München: e_podium, 2013.
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Jacques Rancière, Schiller und das ästhetische Versprechen, in: Ensslin (Hrsg.), „Spiel-
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Rancière, Was bringt die Klassik auf die Bühne?, in: Ensslin (Hrsg.), „Spieltrieb“, S. 37.
trieb“, S. 39.
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ren alte Beziehungen zwischen ihnen in neuem Gewand wieder durch „die Aufhebung der Logik des freien ästhetischen Scheins durch seine Vollendung.“5 Wenn John Martin in den 1930er Jahren von einer überzeitlichen Metakinesis spricht, erscheint das von den Pionieren des modern dance bewohnte Bewegungskontinuum nicht als freier Schein eines bestimmbaren Lebens, sondern als erneut ethisches Leben: „Movement, then, in and of itself is a medium for the transference of an aesthetic and emotional concept from the conciousness of one indivual to that of another.“6 Der amerikanische modern dance ebenso wie der deutsche Ausdruckstanz haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diesen Weg beschritten, und in den 1980er Jahren gab es erneut einen gewaltigen Boom getanzter, dann hochbeschleunigter Lebensformen, gegen den sich später die Generation von bsp. Jérôme Bel, Xavier le Roy und Mårten Spångberg auflehnen sollte. Für die anhand bestimmter Stile und Techniken verfahrenden Selektions- und Kombinationsprozesse biopolitischer Choreographie gilt, was Massumi über die Aneignung des ‚Mehrwerts an Strömung‘ im Kapitalismus schreibt: „Bewegungen des Lebens, Kapital und Macht werden zu einem kontinuierlichen Vorgang: kontrollieren, registrieren, einspeisen, verarbeiten, rückführen, kaufen, produzieren – immer wieder und wieder.“7 Im Gegensatz dazu formuliert Rancière den Knoten, in den die Ästhetik das Leben verwickelt: „Aber ‚das Leben‘ ist nicht einfach der Begriff dessen, was das Lebendige vereint, es ist auch das Feld einer Differenzierung [...]“8. Obwohl oft angenommen wird – wozu wohl der feine Unterschied zwischen ballet en action und ballet d’action beiträgt –, Noverres Praxis wäre in erster Linie durch eine mimetische, letztlich durch die Poetik des Aristoteles inspirierte, Kunstauffassung motiviert, gibt es in seinen Briefen zahlreiche Stellen, die in ihrer Ambivalenz eine Festlegung dessen, was genau mimesis für ihn sei, erschweren. Eine geregelte Nachahmung von Gefühlen anhand feststehender Ausdruckspaletten jedenfalls stellt er zutiefst in Frage: „But how many different gradiations are there to contrive in that fear and that desire; what oppositions, what variations of light and shade to observe; so that from these two sentiments there result a multitude of pictures, each more animated than the other!“9 Was ist Nachahmung ihm zufolge, wenn Affekte nicht bereits codiert und nicht als feste Größen gegeben sind, bevor es zu ihrem Ausdruck qua Affektion des Körpers kommt?10 5
Ebd., S. 51.
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Martin, The modern dance, S. 13.
7
Massumi, Ontomacht, S. 50 f.
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Rancière, Ist Kunst widerständig?, S. 50.
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Noverre, Letters, S. 13.
10 Es sei an dieser Stelle betont, dass mit dem Begriff des Affekts das genaue Gegenteil dessen bezeichnet ist, was in der barocken Affektenlehre als bereits bestimmte Codierung des Körpers gemeint war. Zwar sind Gefühle Noverre zufolge konturiert, was jedoch de-
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Es wurde bereits gezeigt, inwieweit André Lepecki, weil er Choreographie als Schrift und weniger als Poetik versteht, zu dem Schluss kommen kann, sie würde mit Noverre in ihr Zeitalter der ‚Klage‘ und ‚Trauer‘ eintreten. Nun soll demonstriert werden, dass es nicht ein Entzug des Tanzes gegenüber der Choreographie als Schrift ist, der für Noverre zum Problem wird, sondern die Lebendigkeit der Körper und deren Vermögen, also ihr Tanz als Tätigkeitsform. Noverre, der 1727 geboren wurde und bis 1810 lebte, spricht nicht, wenn man unter Tanz eine Tätigkeit versteht, von deren Flüchtigkeit in der Zeit, sondern macht ‚das Leben selbst‘ und seine „inexaustible sources of that immense variety“11 zum Problem, die Quelle also, die der Choreographie zuallererst ihr Material liefert. Jenem Motiv widmet er sich zentral in seinen 1760 in erster Auflage auf Französisch erschienen Lettres sur la Danse et sur les Ballets, bevor er es 1807 in einer weiteren Serie von dann 62 Briefen unter dem Titel Lettres sur les Arts Imitateurs vertiefen wird.12 In beiden Werken geht es ihm um ein als unerschöpfliche Quelle gedachtes Leben, welches seine geordnete Übersetzung in Körperhaltungen, Positionen, Raumwege und Schrittfolgen nach im Vorhinein feststehenden Regeln übersteigt. Eine Asymmetrie ist also angelegt zwischen dem unbestimmten und gleich verteilten Vermögen der Körper einerseits und deren Tätigkeitsformen andererseits, nicht zwischen dem zeitlichen Entzug des Tanzes gegenüber der Choreographie als Schrift. Zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit kann bei Noverre kein poetisches Verhältnis mehr bestehen, das durch eine geregelte Beziehung zwischen posis und aísthesis garantiert wäre, sondern es öffnet sich gegenüber etwas ihm äußerlichen, nämlich der nicht bereits choreographierten Lebendigkeit der Körper und ihrer Praxis, welche im Kontrast steht zu dem, was in der ersten Ästheren Kontur zuallererst generiert, sind zunächst unbestimmte Affektionen. Der Affektbegriff wird hier durchweg im Sinne Spinozas verwendet. Diesbezüglich sei auf die von Gregory J. Seigworth und Melissa Gregg vorgeschlagene Definition hingewiesen: „Affect is born in in-between-ness and resides as accumulative beside-ness. Affect can be understood then as a gradient of bodily capacity – a supple incrementalism of evermodulating force-relations – that rises and falls not only along various rhythms and modalities of encounter but also through the throughs and sieves of sensation and sensibility, an incrementalism that coincides with belonging to comportments of matter of virtually any and every sort.“ – Gregory J. Seigworth/Melissa Gregg, An Inventory of Shimmers, in: dies. (Hrsg.), „The Affect Theory Reader“, Durham&London: Duke University Press, 2010, S. 2. 11 Noverre, Letters, S. 142. 12 Gotthold Ephraim Lessing gibt 1769, gemeinsam mit Johann Joachim Christoph Bode, eine Übersetzung der ersten Auflage der Briefe ins Deutsche heraus. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er allerdings nur die ersten 15 Briefe übersetzt und den Rest der Arbeit seinem Kollegen Bode überlassen. Vgl. Dahms, Der konservative Revolutionär.
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tik Rancières schon aufgeteilt und bestimmt ist als das, „was man sieht und was man darüber sagen kann“.13 Zur Formsprache der Choreographie merkt Noverre an: „The port de bras must be as varied as the different sentiments which dancing can express; set rules become almost useless; they must be broken and set aside at each moment, or, by following them exactly, the port de bras will be opposed to the movements of the soul, which cannot be limited to a fixed set of gestures. The passions can be varied and sub-divided at infinitum, and hence would require as many rules as there are modifications of them.“14
Vor diesem Hintergrund hat Christina Thurner zwar Recht, wenn sie feststellt, dass mit Noverre „Form und Inhalt von Bewegung neu so ineinander verschränkt sind, dass sich der äußerliche (körperliche) und der innere (seelische) Bewegungsverlauf im intendierten Ausdruck, einer emotiven Aussage treffen.“15 Die Frage ist nur, inwieweit derjenige Ausdruck, in welchem ‚körperlicher‘ und ‚seelischer‘ Bewegungsverlauf eines Körpers koinzidieren, im Vorhin codiert sein kann. Denn wenn Noverre vor dem Problem steht, der (produktiven) ‚Natur‘ zwar alle potentiellen Ausdrucksnuancen abschauen zu wollen, von ihr aber keine bestimmte Vorstellung hat, kann er nur, ganz im Sinne von Kants ästhetischem Gemeinsinn, einen Zusammenhang zwischen beiden voraussetzen, ohne sich dabei auf eine ihnen gemeinsame Form zu beziehen. Genau jenes paradoxe Moment ist es, das sein Schaffen als unlösbares Problem antreibt: Es muss eine Korrelation zwischen dem Eigensinn des Körpers und dem der ‚Seele‘ geben, eine einzige Natur, in der sich Ausdruck und Inhalt treffen, die aber selbst nicht feststeht.16 Eine Spannung zwischen beiden soll in seinen tableaux vivants deshalb sichtbar werden, weil, in Rancières Worten, „jeder gemeinsame Maßstab von nun an eine einzelne Produktion ist“ 17 und weil „diese Produktion nur möglich ist, wenn man sich mit der Maßlosigkeit der Vermischung in all ihrer Radikalität auseinandersetzt.“18 Deshalb verwirft Noverre, zumindest in den Forderungen, die er in seinen Briefen erhebt, auch Musik als Bindemittel einzelner Bilder seiner choreographischen Werke.
13 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 26 f. 14 Noverre, Letters, S. 100. 15 Christina Thurner, Beredte Körper – bewegte Seelen: Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten, Bielefeld: transcript, 2009, S. 13. 16 In Kapitel 8 wende ich mich Spinozas Konzept der Modi und deren Modifikationen zu. Es ist Spinozas Idee einer univoken Substanz, ohne welche auch die ästhetischen Umbrüche um 1800 nicht denkbar wären. Lessing ist bemerkenswerterweise ebenso fasziniert von Noverres Ballettreformen wie von der Philosophie Spinozas. 17 Jacques Rancière, Politik der Bilder, Berlin/Zürich; diaphanes, 2005, S. 53. 18 Ebd., ebd.
250 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „But what was compatible then is no longer so; the steps are multiplied, the movements are quick and follow each other in rapid succession, there are an infinity of enchaintements and variations of time; the difficulties, the sparkle, the speed, the indecisions, the attitudes, the diverse positions – all this, I say, cannot be harmonized with the grave music and uniform intonation which are the characteristics of the works of the old composers.“19
Was Körper innerhalb pan-tomimischer Ballette verbinden soll, sind zuerst ihre reich nuancierten Ausdrucksvermögen, die sich unter dem Auge des Choreographen immer weiter differenzieren und voneinander unterscheiden, ohne eine bereits feststehende, ihnen gemeinsame Form zu haben. Obwohl Noverre in seiner eigenen Praxis weit von dem entfernt ist, was heute zeitgenössischer Tanz genannt wird, hat er mit seinen Briefen ein Vermächtnis hinterlassen, das den Anfang eines Einschnitts bildet, aus dem manche Entwicklung der Gegenwart resultiert. Wenn Rancière schreibt, es gäbe innerhalb des ästhetischen Regimes nicht nur in der Malerei ein „Vermögen, das die Repräsentationsfläche durchbricht, um die pikturale Ausdruckskraft sichtbar zu machen“20 und die Fläche der Leinwand seitdem „ein Theater der Defiguration, ein Raum der Konversion, in dem die Beziehung der Worte und der sichtbaren Formen die noch zu erwartenden visuellen Defigurationen vorwegnimmt“21 wäre, gilt dies bereits für Noverres tableaux vivants. Ihr Vermögen besteht darin, „das Leben in seinem reinen Sich-ähnlich-Sein“22 von sich selbst zu entfernen und dissensuelle Aufteilungen des Sinnlichen zwischen Körpern zu provozieren. Noverres Pan-tomime zielt auf den Ausdruck dessen ab, wofür es noch keinen Ausdruck gibt und das ins Spiel zu bringen, was bisher in keiner Hierarchie eines geordneten und organisch gedachten Lebens erscheinen konnte. Dennoch sucht er, ohne dass sie einen gemeinsamen Maßstab hätten, nach einer den Körpern gemeinsamen Form. So beschreibt er folgende sujets denkbarer Rahmungen durch tableaux vivants. „Crowded streets, public walks, pleasure gardens, rural pastimes and occupations, a village wedding, hunting, fishing, harvesting and the vintage, the rustic manner of watering a flower, of plucking it and offering it to one’s beloved, of bird-nesting and playing a reed pipe, all will provide […] picturesque and varied pictures different in colour and character.“23
19 Noverre, Letters, S. 60. 20 Rancière, Politik der Bilder, S. 91. 21 Ebd., S. 104. 22 Ebd., ebd. 23 Zitiert nach Deryck Lynham, The Chevalier Noverre, London: Dance Books, 1972, S. 130.
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Viele Diskussionen sind schon geführt worden über vermeintliche Gegensätze wie bsp. das sogenannte ‚klassische‘ Ballett und das Aufkommen von modern dance und Ausdruckstanz im 20. Jahrhundert, deren Infragestellung wiederum durch die von Sally Banes dem postmodern dance zugeordneten Choreographinnen und Choreographen des Judson Church Theatre in den 1960er Jahren oder die zunächst von schlecht gesonnen Kritikern als ‚Konzepttanz‘ bezeichneten Arbeiten einer neuen Generation in den 1990er Jahren. Inwiefern treffen sich verschiedene Strömungen an Noverres Prophezeiung, dass in Zukunft alles sprechen und expressiv sein werde? Über die Bühnen der Gegenwart lässt sich sagen: Jeder tanzt, alle Tätigkeitsformen können Tanz werden und alles ist choreographisch verfasst. Wie also zusammen leben im ästhetischen Regime, wenn die Körper in ihm zentral auseinanderstreben, um sich gegenüber einem Leben zu öffnen, das nicht mehr einfach nur passiver Untergrund oder leeres Blatt ist? Rancière zufolge ist die Gemeinschaft der Körper im ästhetischen Regime eine dissensuelle und erscheint nur als Auflösung ihrer organischen Idee und in ihrer eigenen Entkörperung. Sie sei ein deleuzianisches Volk, das fehlt. „Die künstlerische ‚Stimme des Volkes‘ ist die Stimme eines kommenden Volkes. Doch das kommende Volk ist das unmögliche Volk, das zugleich das geteilte Volk des Protests und die kollektive Harmonie eines Volkes wäre, das entlang des Atems der Natur lebt, sei diese eine chaotische oder ‚chaosmotische‘ Natur. Einerseits entspricht die von der künstlerischen Praktik gewebte ‚Sinnesgemeinschaft‘ in der Gegenwart einer Reihe von Schwingungen der menschlichen Gemeinschaft; andererseits ist sie ein Monument, das als Ersatz oder Stellvertreter für ein kommendes Volk steht. Die paradoxe Beziehung zwischen dem ‚Getrenntsein‘ und dem ‚Zusammensein‘ ist zugleich eine paradoxe Beziehung zwischen der Gegenwart und der Zukunft.“24
Insofern sind auch die Affekte, nach denen Noverre sucht, Empfindungen, die noch fehlen. Sie aufzuschreiben und festzuhalten, sie in einem Notationssystem angemessen zu repräsentieren und der Nachwelt in schriftlicher Form zu hinterlassen, hält er für wenig sinnvoll. Denn das Leben, das er in seinen tableaux vivants darstellen und mit dem er die Fläche seiner choreographischen Leinwände bedecken will, ist diese offene Praxis der Körper. Eine Praxis zwar, die sich in Bilder übersetzen und in Form lebender Gemälde malen, aber nicht nach herkömmlichen Poetiken choreographieren lässt. Zwar gilt Noverre als Begründer des sogenannten Handlungsballetts, weil er, vor allem aufgrund seiner Briefe, aber auch durch sein umfangreiches künstlerisches oeuvre, seine Konkurrenten schon zu Lebzeiten in den Schatten stellte, trotz24 Rancière, Bild, Beziehung, Handlung, in: Ott/Strauß (Hrsg.), „ÄSTHETIK+POLITIK“, S. 35.
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dem war er nicht der erste, der über die Einführung expressiver Qualitäten ins Ballett des 18. Jahrhunderts nachdachte. Dieses Verdienst ist vielmehr Franz Hilverding, dem Lehrer von Gaspero Angiolini (1731–1803), Noverres wohl wichtigstem Gegenspieler, zuzuschreiben. Fast eine Generation zuvor hatte Hilverding Ballette geschaffen, in denen tänzerische ‚Handlungen‘ festgeschriebenen Bewegungsabläufen den Vorrang streitig machten. Schon in Hilverdings Stücken weichen in der Tradition Arbeaus und Feuillets favorisierte, regelmäßige Körperanordnungen expressiven, unregelmäßigen Arrangements von Körpern und deren nicht nach geometrischen Gesetzen regelbaren Beziehungen untereinander. Es geht dann nicht mehr nur um das Setzen von Positionen, Haltungen und Wegen im Raum, sondern, wie die amerikanische Tanzwissenschaftlerin Laura Carones schreibt, um das choreographische Vermögen des Körpers insgesamt: „The most striking qualities of Hilverding’s ballets were the dramatic motion, the use of asymmetry in the groups and a rendering of emotion through the movement of the entire body rather than the face and arms only.“25 Genau das bedeutet en action für Noverre. Insofern ist es wenig sinnvoll, hinsichtlich seiner Briefe von einer Poetik – im Sinne derjenigen von Aristoteles – des Tanzes zu sprechen, die in den Pantomimen Gestalt annehmen würde. Zwar lassen sich die Tanzschaffenden im 18. Jahrhundert teilweise von dessen Kriterien über Ort, Handlung und Zeit inspirieren. Es sind jedoch immer stumme Gesten, die letztlich ‚handeln‘ sollen, nicht die Worte dramatischer Charaktere wie im Sprechtheater. Handlung meint vor dem Hintergrund tanzender Körper kein handelndes Sprechen, sondern ihr Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden und die Kraft der Affekte, körperliche Formen hervorzubringen, die sich nicht im Vorhinein feststellen oder regeln lassen.26 Handlung setzt ein Beziehungsgefüge zwischen Körpern in Gang und modifiziert es vermittels expressiver Regungen zwischen ihnen. Sie werden nicht mehr, wie noch bei Arbeau und Feuillet, auf eine ihnen äußerliche Instanz bezogen, sondern sind auf ein ihnen immanentes Affekt-Geflecht verwiesen, indem sie ebenso auf andere einwirken wie von ihnen bewirkt werden. Gerade deshalb löst sich das ballet en action von feststehenden Formenkatalogen und öffnet sich gegenüber etwas, das sich nur schwer fixieren lässt: Dem Vermögen der Körper. Noverre und Angiolini knüpfen an den von Hilverding initiierten Aufbruch des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit an, gehen aber völlig unterschiedlich damit um. Angiolini hält sich in seinen Stücken streng an die aristotelische Vorgabe der Einheit von Ort, Handlung und Zeit und wirft No-
25 Carones, Noverre and Angiolini, S. 45. 26 Vgl. hierzu auch Stephanie Schroedter, Vom „Affect“ zur „Action“ – Quellenstudie zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cours bis zum frühen Ballet en Action, Würzburg: Königshausen&Neumann, 2004.
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verre vor, sie, im Gegensatz zu ihm selbst, in seinen Werken zu verletzen. Carones merkt über den Disput zwischen beiden an: „Noverre, on the contary, thought that the rules of the dramatic theatre could not apply to ballet. […] Angiolini was convinced that the pantomime ballet and drama were governed by the same principles, because both were created to depict a dramatic action; for him, ballet was simply ‚danced drama‘, whereas Noverre tended to compare the ballet d’action to painting rather than drama [...].“27
Noverre verwendet häufig umfangreiche Programmzettel, in denen er die Handlung seiner Stücke sprachlich schildert. Er erhofft sich, die Zuschauer würden, weil sie allein anhand dessen, was sie auf der Bühne sehen, noch keine Handlungsfäden erkennen, mit deren Hilfe narrative Strukturen aus seinen getanzten Gemälden herauslesen können. Das Verhältnis zwischen dem, was zu sehen ist und dem, was dargestellt werden soll, ist jedoch nur schwer zu bestimmen. Oft wurde die berühmte Eröffnungsstelle aus Noverres erstem Brief zitiert, in der er die Metapher des Gemäldes einführt, um den Lesern das Anliegen, welches er mit seinen tableaux vivants verfolgt, verständlich zu machen. Für den Ort, an dem sich das Ausdruckspotential der Körper entfalten soll, findet er das Bild einer mit Farbe zu füllenden Leinwand. „A ballet is a picture, or rather a series of pictures connected one with the other by the plot which provides the theme of the ballet; the stage is, as it were, the canvas on which the composer expresses his ideas; the choice of the music, scenery and costumes are his colours; the composer is the painter.“28
An diesem Punkt zeigt sich ein komplexer Knoten in Noverres Nachdenken über Choreographie. Wie weiter oben geschildert, entspricht die Leinwand des Malers, 27 Carones, Noverre and Angiolini, S. 46. 28 Noverre, Letters, S. 9. Deleuzes Bemerkung über die Schwierigkeit des Malers Francis Bacon gibt Aufschluss über ein Problem, vor dem auch Noverre steht, nämlich sein Verhältnis zur Leinwand bzw. Bühne, auf der die lebendige Tätigkeit der Körper nicht nur dargestellt werden, sondern sich auch entfalten soll, die aber nicht mehr einfach als leere Fläche gedacht werden darf, sondern bereits von Kräften bevölkert ist, bevor sie bemalt wird: „Man hört nicht genug auf das, was die Maler sagen. Sie sagen, der Maler sei schon in der Leinwand. Er begegnet dort allen figurativen und probabilitären Gegebenheiten, die die Leinwand okkupieren, prä-okkupieren. Es gibt auf der Leinwand einen Kampf zwischen dem Maler und diesen Begebenheiten. Es gibt folglich eine vorbereitende Arbeit, die ganz und gar zur Malerei gehört und dennoch dem Malakt vorausgeht.“ – Gilles Deleuze, Francis Bacon – Logik der Sensation, München: Fink, 1995, S. 62.
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an der sich der Choreograph ihm zufolge zu orientieren hat, nicht dem, was Aristoteles (und nach ihm Angiolini für seine Ballette) fordert. Die Leinwand Noverres hat keinen Rahmen. Sie beinhaltet zunächst keine Entsprechung zwischen ihren sujets und einer ethischen Aufteilung des Sinnlichen, sondern öffnet, was Jan Vöker in Bezug auf Kant und dessen Geniebegriff ‚Besonderung‘ nennt, nämlich „die Struktur des Besonderen in der Natur und die Besonderung in der Natur, ohne dass sich zugleich ‚sagen‘ ließe, was das Besondere ist, ohne dass es sich definieren ließe, ohne dass es sich anders denn als Öffnung der Begriffe der Natur (denn erst einmal ist Natur nichts anderes als das Gesamt der Begriffe) verstehen ließe. [...] So müsste man eigentlich sagen, dass sich der genialische Ausdruck in dem Moment, in dem er sich in einem Werk materialisiert, zugleich spaltet: auf der einen Seite ein regelhaften Werk, auf der anderen Seite das erste Werk seiner Regel, das rückwirkend die Gesetze der Natur umgeschrieben hat.“29
Noverres Leinwand ist noch kein Gemälde, sondern muss zuallererst zu einem werden. Auf der Bühne sollen die Körper zwar, wie Gerald Siegmund es formuliert, „wie die Körper auf der Leinwand der Maler sprechen.“30 Um das zu erreichen, muss jedoch ein jeweils singulärer Rahmen erfunden werden, um ihr Ausdrucksvermögen zu malen, ohne dass es feste Parameter geben würde, anhand derer dabei verfahren werden könnte. Noverre zufolge kann die Pan-tomime gerade nicht der „restraint of the narrow rules of drama“31 gehorchen. Pierre Tugal unterstreicht dessen Wunsch, dass die Praxis der Körper der Natur „in all ihren Nuancen“32 zu folgen habe, und er selbst verwirft in seinem zehnten Brief explizit eine regelhafte Einschränkung dessen, was auf der choreographischen Leinwand dargestellt werden könne. Anstatt einen Rahmen vorzugeben, hat sich Choreographie gegenüber einem potentiell unendlichen Nuancenreichtum der Körper zu öffnen, um ihn als solchen zum sujet lebender Gemälde zu machen. Durch seinen Ausdruck wird das Nachgeahmte zuallererst erfunden. Dabei geht es weniger um eine Feststellung körperlicher Ausdrucksmöglichkeiten als um die Erfindung des Körpers vermittels seiner Affektionen im Sinne dessen, was Brian Massumi in einem seiner jüngeren, explizit dem Problem der Ästhetik zugewandten Texte, semblance (Schein) des Körpers nennt und als solchen von seiner resemblance (Ähnlichkeit) mit bereits bestehenden Modellen abgrenzt. Nach Noverre soll, so lässt sich mit Massumi sagen, ein Schein bzw. Scheinen des Vermögens der Körper (potentia) über jeden Formzusammenhang, der im Vorhinein feststeht (potestas), ausgedrückt werden, etwas Unbestimmtes, das durchaus an Schillers Kon29 Völker, Ästhetik der Lebendigkeit, S. 200 f. 30 Siegmund, Abwesenheit, S. 49. 31 Noverre, Letters, S. 53. 32 Vgl. Tugal, Jean Georges Noverre, S. 62.
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zept des freien Scheins denken lässt und der Welt etwas hinzufügt, indem es generativ wirksam ist. Obwohl er in seinen Choreographien nach dem Ausdruck vermögender Körper sucht, weiß er nicht, wie jeweils die Regeln dafür beschaffen sein werden. Darin ist er Massumis Überlegungen zum affektiven Scheinen der Körper sehr nah. „If the world is made of expression, then there are aspects of it that are expressed without actually appearing. The concept of the semblance is a way of making this paradox productive. It is designed to deal with the paradox that, for example, what is seen with or through vision, without actually being seen in vision, is nevertheless perceptually felt, in effect. The semblance is the form in which what does not appear effectively expresses itself, in a way that must be counted as real.“33
Noverre geht es nicht darum, einen Katalog menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten zu erstellen und dann jeder poetisch fundierten Empfindung ihre passenden körperlichen Zeichen zuzuordnen, sondern den Körper zuallererst als Ausdruckspotential zu denken, dessen Affizierbarkeit und Empfindunsvermögen sich nicht vollends bestimmen lassen. Die Katalogisierung des expressiv gedachten Körpers sowie dessen poetische Regelung und die Subsumption von Ausdruckmaterien unter fixe choreographische Verfahren wird erst im 19. Jahrhundert von Carlo Blasis unternommen werden und dem romantischen Ballett ebenso wie dem noch heute ‚klassisch‘ genannten Ballettunterricht zu seiner Blütezeit verhelfen. Während Noverre an keiner Stelle seiner Briefe die Analogie des Vokabulars benutzt, um das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit zu fassen, eben weil für ihn potentiell alles expressiv sein und sprechen kann und weil in seinen Briefen die offene Praxis der Körper ihre selbsteigene Regel auf immer singuläre Weise hervorbringt, kehren später, mit Blasis, normative Körperkonzepte auf die Bühne zurück. „Were I to form a dancing school, I should immediately put into practice amongst my pupils the following method, which I believe would prove very useful, and which all masters might adopt without having any knowledge of drawing. I should compose a sort of alphabet of straight lines, comprising all the positions of the limbs in dancing, giving these lines and their respective combinations, their proper geometrical appellations, viz: perpendiculars, horizontals, obliques, right, acute, and obtuse angles, &c., a language which I deem almost indispensable in our lessons. These lines and figures, drawn upon a large slate and exposed to a number of scholars, would be soon understood and imitated by them, and the master would not then be compelled to hold a long demonstrative discourse to each of them separately.“34 33 Massumi, Semblance and Event, S. 22 f. 34 Blasis, The Code of Terpsichore, S. 96 f. Weickmann bemerkt über die Unterschiede zwischen Noverre und Blasis: „Allen seelenvollen Bekundungen zum Trotz, an denen es
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Das von Blasis geprägte (romantische) Ballett wird im 19. Jahrhundert und bis heute dessen Forderung Genüge tun, wie eine Sprache strukturiert zu sein, eine Sprache sogar, deren Ausdruck ebenso deutlich lesbar zu sein hat wie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte im Zeitalter der erstarkenden Industrialisierung. „Nature is generally content with very little gesticulation to explain her intentions; but those signs she does employ clearly express what passes within us, by their energy and propriety. The language of nature is simple, and if an actor will strive to imitate it, his Pantomime will triumph by such an effort.“35
Im Gegensatz dazu fordert Noverre in seinen Briefen die Öffnung der Kontur des Ausdrucks gegenüber einer potentiell unendlichen Bandbreite an Variationen und Schattierungen. Damit bringt seine Pan-tomime das poetisch geregelte, repräsentative Denken des Körpers der Ästhetik ebenso nah wie der Biopolitik. Zwar sind Choreographinnen und Choreographen fortan auf die offene Praxis der Körper und deren selbsteigene Vermögen angewiesen und die tableaux vivants ebenso strukturiert wie das Schöne bei Schiller und Kant, machen aber gerade deshalb die biopolitische Vereinnahmung nicht im Vorhinein feststellbarer Tätigkeitsformen möglich.
6.1 Ü BER H IRTEN
UND
S CHAFE
Laut Foucault bildet das Pastorat ein „Präludium der Gouvernementalität“36 und liegt derart biopolitischen Macht- und Wissensformen zugrunde. Zentral bezieht er es auf die Figur des Hirten, der im Gegensatz zum souveränen Herrscher Macht weniger vermittels Gesetzen und Vorschriften ausübt, sondern seine Herde zu auch bei Blasis nicht mangelt, neigt die danse d’ecole ganz offen einem Menschenbild zu, das den lebendigen, sterblichen, den widerständigen Körper und unbeherrschbaren Körper mit aller Macht zu bannen versucht. […] Die mechanische Genese der Gebärden – selbst in ihrer ‚natürlichen‘ Spielart – steht für Carlo Blasis unzweifelhaft fest. Seiner Ansicht nach füllt die Pantomime jene narrativen Lücken, die der Tanz nicht schließen kann. Anders als Noverre [...] setzt Blasis auf eine stereotype und unmißverständliche Gebärdensprache, um Sachverhalte zu übermitteln.“ – Weickmann, Der dressierte Leib, S. 124 + S. 128. Monika Woitas weist auf Blasis’ Bruch mit Noverres Prophezeiung hin, dass alles expressiv sein und sprechen werde: „Carlo Blasis schließlich markiert den Endpunkt eines Prozesses, in dem man die Vielfalt der Natur wieder zunehmend als chaotisch und verunsichernd empfindet.“ – Woitas, Im Zeichen des Tanzes, S. 45. 35 Blasis, The Code of Terpsichore, S. 185. 36 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 268.
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Techniken der Selbstregierung und der guten Lebensführung anleitet. Daher geht es ihm nicht darum, seine Schafe auf bestimmte Bewegungsmuster festzulegen, sondern im Gegenteil gerade darum, mit ihrer Unvorhersehbarkeit zu operieren, sie aber gleichzeitig in kalkulierbare Bahnen zu lenken. „Die Macht des Hirten ist eine Macht, die nicht auf ein Territorium ausgeübt wird, sondern eine Macht, die per definitionem auf eine Herde ausgeübt wird, genauer auf eine Herde in ihrer Fortbewegung, in der Bewegung, die sie von einem Punkt zu einem anderen laufen läßt. Die Macht des Hirten wird wesentlich auf eine Multiplizität in Bewegung ausgeübt.“37
Während das Ziel souveräner Macht in ihr selbst und in der Erhaltung und Absteckung ihres Territoriums liegt, widmet sich die pastorale Macht dem Vermögen der Körper, die sie lenkt, deren nie abschließbarer Anordnung und gegenseitiger affektiver Ansteckung. Geht es also, bezogen auf choreographische Konzepte, souveräner Macht um eine Einschränkung von Bewegungspotentialen, richtet das Pastorat sein Augenmerk auf etwas, das es nicht direkt vorschreiben oder per Gesetz steuern kann: Das Vermögen der Körper zu unvorhersehbaren Tätigkeitsformen. Deshalb ist das Pastorat als „Macht der Sorge“38 eine äußerst indirekte Form von Machtausübung. „Der Hirte kennt ein Ziel für seine Herde. Sie muß entweder zu guten Weidengründen geführt oder ins Gehege zurückgebracht werden.“39 Die dynamis herdenförmiger Körper ist ihnen zwar immanent, wird aber vereinnahmt von der Biopolitik. „Es ist eine Macht, die zu einem Zweck hinführt und als Vermittlung dieses Zwecks dient. Es ist also eine zielgerichtete Macht, eine Macht, die auf jene selbst gerichtet ist, auf die sie ausgeübt wird, und nicht auf die Einheit eines gewissermaßen höheren Typs, wie die Stadt, das Territorium, den Staat, den Souverän. […] Es ist schließlich eine Macht, die zugleich auf alle und jeden in ihrer paradoxalen Äquivalenz zielt und nicht auf die vom Ganzen geformte höhere Einheit.“40
Wodurch rückt dann Noverres Verständnis von Choreographie, obwohl er, wenn er prophezeit, dass in Zukunft alles sprechen und expressiv sein werde, in seinen Briefen deren ästhetisches Erscheinen zum Problem macht, die Körper gleichzeitig in die Nähe des biopolitischen Kalküls? Noverres Ideen unterscheiden sich zunächst von denen Arbeaus und Feuillets, indem mit ihm Choreographie von ihrer Funktion 37 Ebd., S. 187 f. 38 Ebd., S. 189. 39 Ders., Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft, in: Vogl (Hrsg.), „Gemeinschaften“, S. 69. 40 Ders., Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 193.
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entbunden wird, eine ethische Ordnung der Gemeinschaft entweder direkt zu verkörpern (Arbeau) oder indirekt zu repräsentieren (Feuillet). Er selbst hat die französische Revolution miterlebt und wurde sogar in seinem späteren Leben von deren Akteuren seines Besitzes enthoben. Obwohl er sich nicht sicher ist, was genau in seinen Tänzen nun wie genau nachgeahmt werden soll, obwohl er fordert, dass es ‚die menschliche Natur‘ sein soll, weiß er zumindest, dass es nicht mehr die souveräne Ordnung der Dinge sein kann. Auf diesen Umstand weist Gabriele Brandstetter in ihrem Aufsatz mit dem Titel Die Bilderschrift der Empfindungen hin. „Die Ausdrucksfähigkeit der Körpersprache wie auch die Komposition der durch den redenden Körper dargestellten Pantomime sind in je verschiedener Weise an das imitatio-Prinzip gekoppelt. War das höfische Ballett an der Repräsentation feudaler Ordnung orientiert, und ihm zugeordnet jene andere Kunstform politischer Repräsentation, die Architektur, so etabliert sich das ballet d’action als Kunstform des bürgerlichen Zeitalters in Analogie zur Malerei.“41
Was aber wird dann wie imitiert? Ist inventio für Noverre nicht wichtiger als imitatio? Weiter oben wurde zu zeigen versucht, dass hierin das zentrale Problem für sein Verständnis von Choreographie besteht. Potentiell kann, wenn man den Forderungen folgt, die er in seinen Briefen erhebt, alles imitiert werden im Rahmen dessen, was Tugal Pan-tomime nennt und was ‚Handlung‘ ihm zufolge ausmacht. Die vorige, geometrisch geregelte, Anordnung von Körpern wird en action versetzt. Jegliche Empfindung kann ausgedrückt werden, ohne dass eine ihr vorausliegende, angemessene Form des Ausdrucks in Form bereits bestimmter, codierter Gefühle gegeben sein müsste. In diesem Kontext schlägt Deryck Lynham vor, Noverres Verständnis von Imitation eher als creative synthesis denn als servile copy zu verstehen.42 Denn während sich unterwürfige Kopien auf konturierte Modelle beziehen und sie nur reproduzieren, produzieren kreative Synthesen etwas, das vorher so nicht da war. Deswegen ist Noverres Verständnis von Nachahmung der später von Gabriel Tarde entwickelten Nachahmung im Sinne einer „Fernwirkung eines Geistes auf einen anderen“43 und eines „Abdruck[s] zwischengeistiger Fotographie“44 sehr nah und verweist auf eine beiden gemeinsame, prozesshafte Natur unaufhörlicher Verwandlungen.
41 Gabriele Brandstetter, Die Bilderschrift der Empfindungen, in: Achim Aurnhammer/Klaus Manger/Friedrich Strack (Hrsg.), „SCHILLER und die höfische Welt“, Tübingen: Max Niemeyer, 1990, S. 81. 42 Vgl. Lynham, The Chevalier Noverre. 43 Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, S. 10. 44 Ebd., ebd.
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„Auch dieser Variantenreichtum, diese üppige, malerische Schöpfungskraft, diese launischen Stickereien, die die Natur unter ihrem strengen System von Gesetzen, Wiederholungen und jahrhundertealten Rhythmen wunderbar entfaltet, können nur eine Quelle haben: Die stürmische Originalität der unter dem jeweiligen Joch schlecht gebändigten Elemente, die tiefe, angeborene Vielfältigkeit, die sprudelnd und verändert an der jeweiligen Oberfläche der Dinge durch all diese gesetztlichen Übereinstimmungen hindurch wiedererscheint.“45
Das generative Moment der Körper und ihre Genese nicht im Vorhinein planbarer Formen haben ebenfalls Auswirkungen auf die Vorbildfunktion von Choreographinnen und Choreographen. Sie können nun nicht mehr anhand bereits fertiger Kompositionen verfahren, sondern müssen, wenn sie der pastoralen Logik folgen, die Praxis der Körper anhand ihrer individuellen Stile regulieren und ihnen diejenigen Materialien entnehmen, die mit ihrer jeweiligen Technik kompatibel sind. Gleich zu Beginn des zweiten seiner Briefe allerdings lehnt Noverre eine solche Vereinnahmung ab. „I cannot refrain, Sir, from expressing my disapproval of those maîtres de ballet who have the ridiculous obstancy to instist that the members of the corps de ballet shall take them as a modell and regulate their movements, gestures and attitudes accordingly. May not such a singular claim prevent the development of the executants’ natural graces and stiffle their innate powers of expression?“46
Ein paar Zeilen später präzisiert er diesen Punkt, indem er explizit fordert, es dürfe keine Regeln geben innerhalb der Pan-tomime, weil in ihr inventio wichtiger ist als imitatio. Indem der Choreograph nicht mehr mit einem Buch, in dem die Bewegungen und Schritte bereits notiert sind, den Probenraum betritt, sondern sich vom Eigensinn der Körper, aus denen sein Ensemble besteht, inspirieren lässt, verändert sich seine Funktion grundlegend. „Surely, to induce the figurants to copy so mediocre a model is to lead them astray. Is not a production marred when it is awkwardly executed? Moreover, is it possible to lay down fixed rules for pantomimic action? Are not gestures the offspring of feeling and the faithful interpreters of every mood? In these circumstances, a careful maître de ballet should act like the majority of poets who, having neither the talent nor the natural gifts necessary to declamation, have their works receited and rely entirely on the intelligence of the actors for their interpretation. They are present, you will say, at the rehearsals. I agree, but less to lay down precepts than to offer advice.“47 45 Ebd., S. 93 f. 46 Noverre, Letters, S. 15. 47 Ebd., ebd.
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Verlässt Noverre in seinen Briefen den schmalen Grat zwischen Ästhetik und Biopolitik? Was bezüglich des Verhältnisses zwischen Choreographie und Tanz bei Arbeau und Feuillet noch als dessen Regelung durch Poetiken erscheint, an denen sich die Tätigkeit der Körper auszurichten hat, wird mit Noverre gewissermaßen zu einer „Politik des Seinlassens“48 und ist darin ebenso in den ästhetischen Knoten verwickelt wie dem Kalkül vermögender Körper ausgesetzt. Gibt es deshalb eindeutige Tendenzen in eine der beiden Richtungen? Laut Balke besteht, wie bereits erwähnt, eine unheimliche Allianz zwischen Rancières ästhetischem Regime und Foucaults pastoraler Macht. „Während das Gesetz also vieles verbietet, aber auch manches erlaubt und während die Disziplin alles verbietet, was nicht explizit vorgeschrieben ist, praktizieren die Sicherheitsdispositive eine Politik des Seinlassens als Voraussetzung dafür, in komplexe Prozesse bzw. Naturvorgänge, die sich willkürlicher Eingriffe entziehen, dadurch zu intervenieren, dass man nicht die Zahl der Vorschriften und Verbindlichkeiten steigert, sondern sich auf das Spiel der Realität mit sich selbst einlässt, also an den ihr eigenen Mechanismen und Regelmäßigkeiten ansetzt, um bestimmte Effekte zu erzielen.“49
Was Balke jedoch allein als gleichzeitige Freisetzung und Kontrolle des Vermögens von Körpern durch ein biopolitisches Kalkül konstatiert, verweist Rancières Denken der Gleichheit zufolge im Gegenteil auf deren plebejische Fehlschritte, welche sich dem einheitlichen Leben einer ethisch geordneten Gemeinschaft, ihren unüberschreitbaren Positionen und der daraus resultierenden Aufteilung des Sinnlichen widersetzen.50 Noverres Konzeption von Choreographie lässt sich in ihrer Ambiva48 Vgl. Balke, Die große Hymne an die kleinen Dinge. Jacques Rancière und die Aporien des ästhetischen Regimes, in: ders./Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 33. 49 Ebd., ebd. 50 In einem Interview über den Zusammenhang zwischen seinem ästhetischen Regime und Foucaults Untersuchungen zur zeitgleich im 18. Jahrhundert aufkommenden Biopolitik äußert sich Rancière folgendermaßen: „As far as politics is concerned, it consists – and consists alone – in the set of acts that effectuate a supplementary ‚property‘, a property that is biologically and anthropologically unlocatable, the equality of speaking beings. This property exists in addition to every bios. There are two contrasting structurations of the common world: one that knows only of bios (from transmission through bloodlines to the regulation of population flows); and one that empowers artifices of equality, that is, forms enacted by political subjects which re-configure the common of a ‚given world‘. Such subjects do not confirm another type of life but configure a different world-incommon. In any event, the idea of the political subject, or of politics as a mode of life in which a singular living species unfolds its characteristically natural disposition, cannot be
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lenz an genau der Grenze ansiedeln, auf der ästhetische und biopolitische Fragestellungen eine Schnittmenge bilden. Einerseits können nach ihm Choreographinnen und Choreographen zu ‚Hirten‘ werden, die durch Anreize zur Selbstregierung die ‚Herde‘ ihrer Tänzer anhand bestimmter Stile und Techniken steuern, um sich anschließend das von ihnen produzierte Material vermittels einer Logik der Selektion und Kombination anzueignen, andererseits gibt es hinreichende Hinweise in seinen Briefen – seine eigene Praxis während des 18. Jahrhunderts sieht selbstverständlich ganz anders aus! –, die darauf hindeuten, dass er keiner pastoralen Kontrolle von Körpern das Wort reden will. Die Schnittmenge zwischen Ästhetik und Biopolitik wird gebildet von seinem Wunsch nach einem Ausdruck ‚des Lebens selbst‘ einerseits und dessen Umschlag in Ur-Ethik andererseits, nämlich dann, wenn das selbsteigene Vermögen und die offene Praxis der Körper von Hirtenchoreographen vereinnahmt werden. Die Ambivalenz des Umbruchs, den Noverre herbeiführt, lässt sich exemplarisch an zwei einander widersprechenden Aussagen demonstrieren, welche er in seinen Briefen über das eigene Schaffen trifft. In einer längeren Beschreibung seines Stücks Les Fêtes ou les Jalousies de Serail gibt er zu: „There, Sir, is a poor description of a series of scenes all of which really arouse interest. The moment when the noble lord makes up his mind, that when he leads away the favourite Sultana, the fight between the women, the group they form on the arrival of the Sultan, that sudden change, those contrasting feelings, that love of their own persons which all the women show and which they each express differently, are so many contrasts which I cannot make you feel. I am equally powerless in regard to the simultaneous scenes which I introduced in this ballet.“51
Seine hier eingestandene ästhetische Machtlosigkeit gegenüber den aufgefächerten, nuancenreichen, vielschichtigen und nicht kontrollierbaren Ausdrucksqualitäten der Bühnenkörper verwandelt sich in einer anderen Schilderung in das choreographische Kalkül ihres expressiven Potentials, welches ur-ethische Entwicklungen vorwegnimmt, die sich im 19. und 20. Jahrhundert vollends entfalten werden. In der folgenden Textstelle kann man daher sowohl den Versuch einer Katalogisierung tänzerischer Expressivität durch Carlo Blasis als auch François Delsartes spätere Kalkulation der menschlichen Gestensprache angekündigt sehen.
assimilated to what Foucault examines: that is, bodies and populations as objects of power.“ – Jacques Rancière, Biopolitics or Politics, in: Corcoran (Hrsg.), „DISSENSUS“, S. 92. 51 Zitiert nach Lynham, The Chevalier Noverre, S. 52.
262 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „To succeed one must study nature, the artist must follow nature step by step and be capable of appreciating the signs which the soul expresses on the features and in the eyes; he must learn to calculate the effects of the passions, the impression which each one of them traces on the face and in the gestures; it is they who are the faithful interpretors: they reveal all inner feelings.“52
Während der ästhetische Pol dadurch gekennzeichnet ist, dass an ihm zwischen Kunst und Nicht-Kunst, respektive zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie, keine Grenze mehr gezogen werden kann, weil Noverres Leinwand zunächst keinen Rahmen hat, der dem Akt des Malens auf ihr vorausgehen würde, kommt es am biopolitischen Pol zu einer erneuten Codierung der Körper, indem ihr Vermögen stilistisch und technisch vereinnahmt wird. Um ihr ästhetisches Potential im Spiel zu halten, müssen sie, die alle gleichermaßen sprechen und expressiv sein können, dem Kalkül des Hirtenchoreographen ihre choreographischen Fehlschritte entgegensetzen. In der Ästhetik entfernen sie sich von Stilen und Techniken, indem sie die Differenzen zwischen dem funktionalen, dem expressiven und dem unbestimmten Körper erforschen53, beim Pastorat dagegen geht es um ihre Verteilung in einem biopolitisch kontrollierten Raum. Weil Körper in ihm herdenförmig angeordnet werden, kann die Schönheit, welche aus dem Zusammentreffen beliebiger Materialien im Rahmen beliebiger Formen entsteht, nicht länger als deren Spannung erhalten bleiben.54 Der ästhetische Knoten wird dann aufgelöst und das unbestimmte Vermögen der Körper stilistisch und technisch geregelten Ausdrucksformen angepasst, indem ihre Praxis als deren Inhalt funktionalisiert wird. Noverre geht zwar noch nicht in Richtung der Biopolitik, öffnet ihr jedoch Tür und Tor, gerade weil er das poetische/repräsentative Regime überschreitet. – Während seiner Eröffnungsrede der Doppelkonferenz Dance, Politics, and Co-Immunity und Thinking – Resisting – Reading the Political nahm Rancière selbst im November 2010 Bezug auf die Folgewirksamkeit seiner Briefe. „The most significant example of that overturning is offered by the book of the French choreographer Jean-Georges Noverre, Letters on Dance and Ballets, a very influential book, first published in 1760. Noverre exactly overturned the Aristotelian opposition. The aristocratic ballet is a mere mechanical thing, he said, since it is mere physical performance. It tells no story, it conveys no emotions, it only speaks to the eyes. In order to become art, dance has to speak to the soul. It has to become pantomime, to create a language of mimicry and gestures, telling stories and expressing the situations and feelings of characters that look like those one 52 Zitiert nach ebd., S. 76. 53 Vgl. Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268. 54 Vgl. ders., Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 80.
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can meet in real life and in all conditions. This is also why any subject is good and the dancers and choreographer must study all sorts of movements, notably the movements of the workmen in the workshops, the peasants in the fields or the crowds in the streets or the markets.“55
Insofern korrespondiert das von Hilverding initiierte ballet en action und dessen Ausarbeitung durch die erbitterten Konkurrenten Angiolini und Noverre mit einem grundlegenden Bruch mit vorangegangenen Aufteilung des Sinnlichen, der sich um 1800 ereignet und bis heute fortwirkt. Auf dem Spiel steht seitdem nichts anderes als die offene Praxis ästhetischer Körper ohne gemeinsamen Maßstab, das Erscheinen „eines jeden sinnlichen losgelösten Atoms, durch das das Bild ins Wort gelangt, das Wort in den Pinselstrich und der Pinselstrich in die Vibration des Lichts oder der Bewegung“56, wie Rancière schreibt. Sind tanzende Körper zur Geburtsstunde der Choreographie bei Arbeau und auch noch Feuillet zufolge auf ihre Funktionen und Plätze innerhalb eines bereits konstituierten Raumes (potestas) verwiesen, wird jede Art von Positionalität in diesem Sinne mit Noverre prekär und ihr konstituierendes Vermögen (potentia) betritt die Bühne. Deswegen führt er choreographische Fehlschritte in den von Arbeau und Feuillet überlieferten, abgesteckten Raum ein und macht das Verhältnis selbst zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit zum Problem. Choreographische Fehlschritte weichen, wenn sie nicht pastoral vereinnahmt werden, von jeder gesellschaftlich hoffähigen Codierung ab, erschaffen andere und neue (affektive) Körper und überziehen das souveräne Territorium mit einer ungeheuren Vielfalt ungeahnter Empfindungen, zu deren Ausdruck sie bis dahin nicht für fähig gehalten wurden. Sie lösen jeden fertigen Katalog an Schrittfolgen auf und vervielfachen die Schritte ebenso wie deren Verbindungen untereinander. Sie haben mit Rancières literarischen Missverständnissen innerhalb seines ästhetischen Regimes gemeinsam, dass sie „die Funktionalität jener Gesten und Rhythmen in Frage stellen, die an die natürlichen Kreisläufe von Produktion, Reproduktion und Unterwerfung angepasst sind.“57 Was Rancière bezüglich der Literatur innerhalb des ästhetischen Regimes ‚Literarizität‘ der Körper nennt, gilt ebenfalls für die neuen Ausdrucksqualitäten und Empfindungen, die Noverre in seinen Briefen fordert, während er gleichzeitig Ge55 Ders., Doing or Not Doing – Politics, Aesthetics, Performance, in: Anneka Esch-van Kan/Stephan Packard/Philipp Schulte (Hrsg.), „Thinking – Resisting – Reading the Political“, Berlin/Zürich: diaphanes, 2013, S. 107. Zur Doppeltagung vom 11. bis 14. November 2010 in Gießen vgl. auch den Parallelband von Gerald Siegmund/Stefan Hölscher (Hrsg.), Dance, Politics, and Co-Immunity, Berlin/Zürich: diaphanes, 2013. 56 Rancière, Politik der Bilder, S. 56. 57 Ders., Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 62.
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fahr läuft, Choreographinnen und Choreographen fortan zu Hirten zu machen. Choreographische Fehlschritte, die er ‚dem Leben selbst‘ abgucken und auf der Bühne darstellen will, ohne bereits eine Form dafür zu haben, sollen, ähnlich den Aussagen der Literatur, die Körper besetzen und von ihrer Bestimmung innerhalb eines abgegrenzten Territoriums abbringen. Ihnen darin verwandt durchziehen sie den gesellschaftlichen Organismus mit Bruchlinien und entfernen ihn von sich selbst, indem sie ihn qualitativ transformieren. „Sie definieren Variationen von sinnlichen Intensitäten, körperlichen Wahrnehmungen und Fähigkeiten. Sie bemächtigen sich auf diese Weise irgendwelcher Menschen, schaffen Abstände, zeigen Nebenwege auf, verändern die Arten, Geschwindigkeiten und Bahnen, in denen diese Menschen mit ihren Lebensumständen verhaftet sind, auf Situationen reagieren und sich zu ihren Bildern bekennen.“58
Wenn jedoch die von Noverre proklamierte Literarizität der Körper und ihre choreographischen Fehlschritte von einer pastoralen Logik vereinnahmt werden, löst sich der ästhetische Knoten auf. Genau das soll ab dem 19. Jahrhundert geschehen. Mit dem Erstarken des romantischen Balletts verabschiedet sich Choreographie wieder von der Offenheit ihrer sujets und der Annahme, dass dem Ausdruckspotential der Körper keine fixe Form entsprechen kann, sondern es aus unendlich vielen Nuancen besteht. Blasis wird fordern: „The mode of representation should be clear, simple, and exact. It is not necessary to employ an infinity of gestures though even there are many ideas to be expressed, for this practice is only calculated to mislead the spectators; be rather brief and precise, and avoid long pantomimical narrations. Render your plot interesting at its commencement, and the final dénoument will then be expected with a pleasing impatience.“59
In der von Blasis begründeten Schule und bis in den Aufbau des Ballettunterrichts der Gegenwart hinein kommt es zu einer Institutionalisierung pastoraler Logiken. Sibylle Dahms konstatiert das letztendliche Verblassen der emanzipatorischen Ideen Noverres nach dessen Tod. In seinen letzten Lebensjahren nämlich klage er „vor allem das geistlose Virtuosentum sowie die pompöse und geschmacklose Ausstattung an. Aus den Darlegungen lässt sich das Eingeständnis des Scheiterns seiner Reformideen ablesen.“60 Was im 19. Jahrhundert – und noch vehementer während der sogenannten Tanzmoderne im 20. Jahrhundert – Gestalt annehmen wird, ist ein umfassendes Pastorat, in dessen Verlauf erneut adäquate Beziehungen zwischen 58 Ebd., ebd. 59 Blasis, The Code of Terpsichore, S. 243. 60 Dahms, Der konservative Revolutionär, S. 55.
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posis und aísthesis, hylemorphische Verbindungen zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit sowie bestimmte Codierungen der Expressivität der Körper vorherrschen. Weickmann unterstreicht Korrespondenzen zwischen diesem ur-ethischen Verständnis von Choreographie und den im 19. Jahrhundert stattfindenden Entwicklungen. „Das romantische Ballett fiel zeitlich mit dem französischen Protoindustrialismus zusammen. Die Leistungsanforderungen wurden zusehends rigider. […] Diese Disziplinierung, die einer Zerlegung des Leibes in funktionale Einheiten gleichkam, hatte das Ballett längst vollbracht.“61
Insofern lässt sich sagen, obwohl es immer wieder Ausnahmen gibt62, dass es in vielen Fällen zu einem Vergessen des ästhetischen Körpers und zu einer erneuten Schließung der Grenze zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie kommt, bevor sie die Mitglieder des Judson Church Theatre in den 1960er Jahren so radikal öffnen wie nie zuvor jemand bis dahin. Solange erobern größtenteils Hirtenchoreographen die Bühne. Indem die ‚klassischen‘ Balletttänzer nach Blasis (im Gegensatz zu Noverre) in einem ungleichen Verhältnis – zunächst zu ihren Lehrern, dann zu den Choreographen der Ensembles – stehen, reproduziert sich unaufhörlich, genau wie in vielen ‚modernen‘ Stilen und Techniken des 20. Jahrhunderts oder später noch anhand dessen, was Susan Foster den postmodernen „hired body“63 nennt, ein von Foucault im Verhältnis zwischen Hirten und Schafen kondensierter Machtwissenskomplex. Weil durch den Hirtenchoreographen erneut fixe Formsprachen, die er zwar nicht mehr vollständig voraussetzt, sondern dem Eigensinn Körper entnimmt, etabliert werden, verhindert er den unbestimmten Körper der Ästhetik. Im Gegensatz dazu fordert Noverre in seinen Briefen, trotz aller Ambivalenzen, Choreographinnen und Choreographen dürften ihren Tänzern nicht als Vorbild dienen, sondern müssten sie ihre selbsteigenen Vermögen praktisch entfalten lassen. Die offene Praxis der Körper verbindet seine Vorstellung von Tanz mit der Idee des Schönen, die Kant und Schiller, der als Karlsschüler durch seinen Französischlehrer Joseph Uriot von Noverres Schaffen unterrichtet war, parallel entwickeln. Indem Körper in Noverres Briefen andere Körper ebenso affizieren wie von ihnen affiziert werden, entspricht ihrem Vermögen keine Palette nur möglicher Expressionen, sondern ihr potentieller Ausdrucksreichtum entspringt ihnen gemeinsamen, nicht vor61 Weickmann, Der dressierte Leib, S. 48. 62 Vgl. hierzu exemplarisch Ramsay Burt, Alien Bodies, London/New York: Routledge, 1998, Hardt, Politische Körper, Susanne Foellmer, Valeska Gert – Fragmente einer Avantgardistin in Tanz und Schauspiel der 1920er Jahre, Bielfeld: transcript, 2006 und Franko, The Work of Dance, 2002. 63 Vgl. Foster, Dancing bodies, in: Crary (Hrsg.), „Uncorporations“.
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hersehbaren Tätigkeitsformen. Insofern ist Gabriele Brandstetters Annahme, dass es eine eindeutige Entwicklungslinie von „Noverres Pantomime zum romantischen Ballett, von Schiller zu Kleist über die Idee des ‚Antigraven‘“64 geben würde, zu hinterfragen. Schillers Konzept der lebenden Gestalt hat nichts mit dem Phantasma des Antigraven zu tun, wie es im Verlauf des 19. Jahrhunderts um sich greifen soll. Im Motiv des Antigraven zeigt sich vielmehr ein Umschlagen des freien Scheins in sein biopolitisches Gegenteil: Ein Zusammenfallen von Leben und Form im freien Flug der Körper.65 Für Noverre verweist das Schöne auf etwas anderes. Wie im ästhetischen Gemeinsinn Kants ist auch für ihn mit der Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst die Grenze zwischen Tätigkeiten weggefallen, die tänzerisch gestaltet wären und solchen, die es nicht seien. Demnach kann es keinen Regelmechanismus geben, anhand dessen sich festmachen ließe, wo Choreographie beginnt und wo sie aufhört. Noverre kann prophezeien, dass in Zukunft alles sprechen und expressiv sein werde, weil er eine prinzipielle Gleichheit der Vermögen aller Körper voraussetzt und sie viel eher als unbestimmte Ausdrucksmaterien sieht denn an ihrer Schwerelosigkeit interessiert ist.
6.2 V ON
DEN
V EREINNAHMUNGSAPPARATEN
ZUM
C HOREOGRAPHISCHEN
Noverre wendet sich gegen das von Beauchamp und Feuillet überlieferte System zur Generierung und Aufschreibung von Schrittfolgen. Er tut dies allerdings nicht nur in Ablehnung auf dem Papier entstehender Tanzentwürfe, weil er deren gemeinsame Entwicklung mit den Tänzern im Studio bevorzugt, sondern auch, weil er davon ausgeht, dass sich die Vielfalt potentieller Ausdrucksformen des Körpers nicht feststellen lässt. Er glaubt weder daran, Stücke anhand graphischer Darstellungsstrategien entwerfen zu können (Komposition) noch geht es ihm um eine Aufzeichnung dessen, was getanzt wird, wenn die lebendige Tätigkeit von Körpern ins Spiel gebracht werden soll (Notation). Dabei lenkt er seine Aufmerksamkeit weg 64 Brandstetter, Die Bilderschrift der Empfindungen, in: Aurnhammer/Manger/Strack (Hrsg.), „SCHILLER und die höfische Welt“, S. 91. 65 „Noverre sieht diese Entwicklung äußerst kritisch und macht seine Bedenken vornehmlich an zwei markanten Aspekten fest: Zum einen ortet er die speziell durch Auguste Vestris ausgelöste immense Ausweitung der Ballettechnik, die in ihrer sich abzeichnenden Verselbstständigung zum Selbstzweck, zu einem inhaltslosen Virtuosentum zu degenerieren drohe. [...] Die nunmehr massenhaft praktizierte Pirouettendreherei empfindet Noverre als Missbrauch eines ornamentalen Elements, das mit Geschmack und inhaltlichen Kriterien und Erfordernissen entsprechend angewendet werden müsse, nunmehr jedoch einer monotonen Gleichschaltung geopfert werde[.]“ – Dahms, Der konservative Revolutionär, S. 150 f.
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von einzelnen Schrittfolgen, Beinhaltungen und codierten Posen der Tanzenden und auf die Gesamtheit von Körpern und deren unregelmäßige Anordnung im Raum hin. Vor allem die Arme und das Gesicht sollen in ihrer affektiven Stummheit sprechen. Noverre geht es nicht nur um den einzelnen Körper, sondern, wie Sabine Huschka überzeugend dargelegt hat, immer auch um das Arrangement mehrerer Körper innerhalb eines Bildes und innerhalb einer Abfolge von Bildern.66 War das Erlernen des Tanzes seit der Gründung der Académie Royale de Danse am Hofe Ludwigs XIV. im Jahre 1661 strengen Regeln unterworfen worden und wurde dadurch bis Mitte des 18. Jahrhunderts in einen akademischen Rahmen eingefügt, bricht Noverre dieses starre System zunächst auf. Es ist erwähnenswert, dass die hierarchischen Machtstrukturen innerhalb der Pariser Ballettakademie ihm Zeit seines Lebens Probleme bereitet haben. Weder wurden seine Briefe über die Tanzkunst von ihr beachtet67 noch ermöglichte man es ihm dort später, seinen Vorstellungen gemäß zu arbeiten. Im Gegenteil, man legte ihm zahlreiche Steine in den Weg.68 Eigentlich macht es nur bedingt Sinn, bezüglich dessen, was ihm vorschwebt, von Choreo-graphie zu sprechen, denn seine Vorstellung tänzerischer Tätigkeit löst sich sowohl von der Metapher des Schreibens als auch von der des Einprägens von Formen in Körper und Räume anhand graphischer Modelle. Systematisch erstellte Notationen weichen bei ihm einer offenen Suche nach immer neuen, anderen Ausdruckspotentialen der Körper sowie affektiv wirksamen Verbindungen zwischen ihnen. Indem er in seinen Briefen eine produktive Konzeption der Natur entwickelt und jede fest umrissene Empfindungspalette in ihre zahlreichen Nuancen hinein auffächert und gegenüber unzähligen Schattierungen öffnet, bringt die Genese ‚des Lebens selbst‘, der er folgen will, bis dahin gültige Aufschreibesysteme – und damit einen lange dominierenden, hylemorphischen Begriff von Choreographie – in ernsthafte Schwierigkeiten. Wenn Huschka zufolge bei Noverre „sich nunmehr Zeichnen, Fühlen, Bewegen und Handeln vereinigen“69 und deswegen, wie sie noch einmal zitiert sei, der tanzende Körper „einer eigenwilligen intermedialen Spannung zwischen Sprache (Geste) und Bild (Bühnenraum)“70 zugeführt wird, ist es nicht leicht, ebendiese Spannung zwischen Sprache und Bild bzw. zwischen Sagbarem und Sichtbaren angemessen aufzuschreiben oder im Vorhinein zu regeln. Unter ästhetischen Gesichtspunkten bleibt die Grenze zwischen Choreogra-
66 Vgl. Huschka, Szenisches Wissen im Ballet en action, in: dies. (Hrsg.), „Wissenskultur Tanz“, S. 49. 67 Vgl. Lynham, The Chevalier Noverre, S. 56. 68 Vgl. ebd., S. 83. 69 Huschka, Szenisches Wissen im Ballet en action, in: dies. (Hrsg.), „Wissenskultur Tanz“, S. 36. 70 Ebd. S. 37.
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phie und Nicht-Choreographie eine „Medialisierung des Lebendigen“71 und als solche offen bestimmbar innerhalb einer den Körpern gemeinsamen Praxis. Dies gilt sowohl in Bezug auf den einzelnen Körper und seine Fähigkeit zu affizieren und affiziert zu werden als auch für die verschiedenen (affektiven) Beziehungen der Körper untereinander, in die sie nun eintreten. Denn, wie Huschka weiter ausführt, das lebende Gemälde markiert „gleichsam in einem Moment seiner Überschreitung die besondere Gattungsspezifik des Tanzes. Sein ästhetischer Vorzug gegenüber der Malerei liegt darin, eine Verlebendigung des Bildes statthaben zu lassen.“72 Das heißt, dass es bei Noverre etwas gibt, das wichtiger ist als das einzelne Bild (und der einzelne Körper), nämlich etwas, dass zwischen ihnen die größte Wirkung entfaltet und sie ebenso als einzelne wie ihre Beziehungen untereinander modifiziert. Ähnlich Schillers lebender Gestalt und seiner Idee des freien Scheins ist das tableau vivant dadurch geprägt, dass es weder zur Seite des tableaus noch zu der des vivants ausschlagen, sondern eine Unentschiedenheit zwischen Bild und Lebendigem und zwischen einzelner Geste und gesamtem Bühnenraum aufrechterhalten soll. Jenen Zwischenraum bezeichnet Noverre an einigen Stellen als Ausdruck ‚des Lebens selbst‘ oder eben als „inexaustible sources of that immense variety“73. Christina Thurner weist darauf hin, dass sich das Leben auf der Bühne nicht unmittelbar selbst darstellen kann, sondern immer nur „durch Zeichen und Gesten vermittelt“74. Diese Zeichen und diese Gesten sind jedoch nicht mehr konventionell abgesichert und codiert, weil keine Adäquatheit zwischen posis und aísthesis gegeben ist. Sie werden erfunden durch den Körpern eigene Tätigkeitsformen. Choreograpie besteht dann nicht mehr aus einem immer begrenzten Vokabular, ist also keine feststehende Sprache mehr, sondern befindet sich ebenso wie die tanzenden Körper in einer Genese, die jede nur mögliche Form übersteigt. Deswegen ist Noverres Natur nicht als Bild zu denken, sondern als unerschöpfliche Quelle, aus der Bilder entstehen. Die Genese von Formen verbindet sein Schaffen mit dem Aufkommen der Ästhetik zur selben Zeit. Auch das Schöne zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm zwar eine endgültige Bestimmung des Körpers durch ihm äußerliche Instanzen ausbleibt, deshalb aber nicht einfach ‚das Leben selbst‘ in Erscheinung tritt, sondern in der Schwebe und aufgespannt bleibt zwischen den Tätigkeitsformen der Körper. Deswegen wurde in diesem Kapitel der Vorschlag gemacht, aufgrund seiner Briefe in Noverre einen wichtigen Protagonisten der Wende um 1800 zu sehen. Sollte eine derartige Lesart stimmen, muss Günther Heeg widersprochen werden, wenn er be-
71 Ebd., ebd. 72 Ebd. S. 46. 73 Noverre, Letters, S. 142. 74 Christina Thurner, Wissen macht Augen oder wie der Diskurs den Blick lenkt, in: Huschka (Hrsg.), „Wissenskultur Tanz“, S. 233.
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hauptet, dessen getanzte Gemälde seien die Lebendigkeit der Körper durch ihren vollständigen Einschluss ausschließende Bilder. „Die Gemälde oder tableaux auf der Szene des Noverre’schen Handlungsballetts ‚sprechen‘ von dem, was die Handlung bewegt, vermöge der Anordnung aller Einzelteile des Körpers und der einzelnen Körper untereinander zu einer Gesamtgestalt, deren Sinn sich allein über die Komposition erschließt. Auf der Strecke bleibt bei dieser Sprachwerdung des Tänzerkörpers im Medium des tableau aber gerade das Sprach- und Ausdruckslose, das sich der verkörpernden Darstellung entzieht. So sehr jede körperliche Artikulation und Wahrnehmung der Bild-Gestalt bedarf, um als Ausdruck erkannt werden zu können, so sehr verflüchtigt sich in der Bild-Gestalt des Ausdrucks dessen Ursprung ‚aus Druck‘.“75
Nur wenn man von einer „vermeintlichen Wahrheit des stummen Körpers“76 bei Noverre ausgeht und sie als „Ideologie der Unmittelbarkeit“77 bezeichnet, kann man zu solchen Schlussfolgerungen kommen. In der vorliegenden Arbeit wurde bisher im Gegenteil zu zeigen versucht, dass die Körper der Ästhetik zwar in ihrer Stummheit sprechen, was sie ausdrücken aber nicht codiert ist. Ihre Lebendigkeit, nach der Noverre sucht, hängt eng mit der Vorstellung eines Lebens zusammen, das sich zunächst nur als Potential fühlbar macht und nicht in einem bestimmten Bild aufgehen kann, sondern sich an dessen immer offenen Rändern abspielt, indem es dessen Rahmen einem Außen gegenüber öffnet. Nachahmung und der damit zusammenhängende Ausdruck der Körper entstehen nicht ‚aus Druck‘, sondern werden zwischen ihnen, in ihren Bildern und der Abfolge der Bilder insgesamt multipliziert. Die Gesamtgestalt einer Ballettkomposition schließt das Sprach- und Ausdruckslose ebenso wenig aus wie sie es vollständig einschließt, sondern bringt zum sprechen und drückt aus, was eigentlich keine Sprache hat und ausdruckslos ist. Sie operiert in all ihren Teilen an genau der affektiv wirksamen Grenze zwischen vermögenden Körpern und affektiv wirksamen Kräften. Deshalb entsteht die Schwierigkeit eines adäquaten Aufschreibens und Komponierens solcherart beschaffener Stücke. „You do not make dancers move by writing in your study. The stage is the parnassus of ingenious composers; there, without seeking for them, they encounter a multitude of new things; there, everything is connected, everything is soulful, everything is drawn in lines of fire. One picture or situation leads naturally to another; figures connect together with ease and grace, the general effect is felt at once, because a figure which is elegant on paper ceases 75 Günther Heeg, TanzErfahrung zwischen Sprache und Bild, in: Huschka (Hrsg.), „Wissenskultur Tanz“, S. 27 f. 76 Ebd., S. 27. 77 Ebd., ebd.
270 | V ERMÖGENDE K ÖRPER to be so when performed; another which the onlooker will find elegant in a bird’s-eye view, will not proove so to the audience in the first circle and pit.“78
Wenige Absätze später vertieft Noverre dieses poetisch unlösbare Problem: „And all these qualities are not acquired by the deciphering or notation of a dance by choreography; a single moment determines the composition: the skill consists in seizing it and turning it to account.“79 Der einzelne Moment, der die Bestandteile des getanzten Gemäldes als lebende Gestalt zusammenhält, ist nach keinem ihm vorausgehenden Regelmechanismus choreographierbar. Gleich den Momenten des Schönen bei Schiller und Kant hält er als offen bestimmbarer die Dinge in der Schwebe und die Körper zwischen Geste und Bühnenraum aufgespannt. Er kontrastiert ein Konzept von Choreographie als Schrift mit deren affektivem Wirkungszusammenhang, welchen stilistisch oder technisch stillzustellen Noverre ablehnt. Die Lebendigkeit der Körper ist alles andere als unmittelbar. Sie setzt eine unendliche Kette an Vermittlungen in Gang und verbindet potentiell alles mit allem – in einem Modus, der nicht im Vorhinein planbar ist. Insofern bricht Noverre, indem er postuliert, dass in der Pan-tomime alles ‚beseelt‘ sein müsse, hylemorphische Ideen von Choreographie auf und lässt qualitative Transformationen der Körper denkbar werden. Wenn nach Kant im Schönen eine Vorstellung gegen weitere Vorstellungen gehalten wird, trifft dieser Zustand höchster Potenz auch auf das expressive Vermögen der Körper bei Noverre zu. Alles kann mimetischen Prozessen unterzogen werden und jeder Moment den höchsten Grad an Intensität beinhalten: Daher kann das Vermögen der Körper, welches im tableau vivant ins Spiel kommen soll, nicht innerhalb eines feststehenden Systems komponiert und festgehalten werden. Wenn sie nicht von der Biopolitik vereinnahmt werden, öffnen sich die Tätigkeitsformen der Körper seit Noverre gegenüber dem Choreographischen und mit ihm, so lässt sich mit Bojana Kunst sagen, auch einer offenen Praxis, welche sie qualitativ transformiert und in der jeder zugleich affiziert und affiziert wird von anderen. „It springs from the awareness that movement has to be grasped as belonging to other people’s movement, things, objects, worlds, as much as to the consciousness of the one who moves. Therefore, the trajectory of these bodies cannot happen in an empty space, but is always deeply embedded in the potentiality of the one who moves while being moved by the world at the same time. Since the trajectory of these moving bodies is always deeply embedded in the potentiality of being moved by the world, they cannot make their trajectory in an empty space. [...] What bodies do in daily life (how do they walk, move, stand, stop, sit etc.) opens an insight into the complex relationality between the movement of bodies and the ma78 Noverre, Letters, S. 140. 79 Ebd., ebd.
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teriality of the world. Situated within the world a body is not only a trajectory in space, but a heterogeneous composite of forces, tightly interwined with other forces of life. One of the main consequences of the exploration of everyday movement in dance was the acknowledgement that movement does not consist in an endless quantification and division. Segmenting and enumerating movement always served as the way to produce the other body, i.e. the perfect kinetic subject in the service of the state, the factory or the company. Movement here is closely related to qualitative change and alteration, to the ways in which bodies are being moved and how they move within the world/interact with the world.“80
Das Choreographische ist eine solche den Körpern gemeinsame Praxis. Es ist keine aktive Form, die einer passiven Materie eingeprägt würde. Vielmehr wird in ihm das Verhältnis zwischen Formen und Tätigkeiten für einen Bereich dazwischen durchlässig gemacht. Das Choreographische ist: (1.) Das Fehlen einer Poetik, (2.) die durchlässige Grenze zwischen dem, was choreographiert und dem, was choreographiert wird, (3.) seine potentiell unendliche Ausweitung auf beliebige Körper und sujets und (4.) die radikale Entgrenzung seiner Ausdrucksmaterien. Um zu verhindern, dass das Choreographische in eine ur-ethische Logik umkippt, ist es allerdings erforderlich, dass in den tableaux vivants Sagbares und Sichtbares in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen bleiben und nicht miteinander verschmelzen. Weder darf das tableau die Körper anhand bestimmter Stile und Techniken mit einem Sein-zur-Bewegung identifizieren und so zum Spektakel eines kinästhetischen Kontinuums werden (was Lepecki als Motiv der sogenannten Moderne treffend kritisiert) noch darf es sie stillstellen in den Bildern einer mit sich versöhnten, konsensuellen Gemeinschaft. Unter ästhetischen Vorzeichen muss das tableau als lebendiger Zusammenhang zwischen Körpern deren dissensuelle Verhältnisse provozieren. Dies schließt auch die Beziehung zwischen Bühne und Zu80 Bojana Kunst, Working Out Contemporaneity – Dance and Post-Fordism, in: Siegmund/Hölscher (Hrsg.), „Dance, Politics, and Co-Immunity“, S. 62. Kunst wurde an dieser Stelle in voller Länge zitiert, um herauszustellen, wie sehr unsere zeitgenössische Welt, in der alles mit allem anderen qua Affekt verbunden scheint, bereits mit Noverres Idee der tableaux vivants zum Problem wird. Wenn Bewegung nicht mehr als etwas gedacht wird, das extensive Punkte miteinander verkettet und sich in einem ihr gegenüber indifferenten Raum ereignet, sondern sich als intensive Bewegung spürbar macht, lässt sich, zumindest an dieser Stelle, mit Agamben auch von einer Inaktivität der Körper sprechen: „Art is inherently political, because it is an activity that renders inactive and contemplates the senses and habitual gestures of human beings and in so doing opens them up to a new potential use.“ – Giorgio Agamben, Art, Inactivity, Politics, in: Joseph Backstein/Daniel Birnbaum/Sven-Olov Wallenstein (Hrsg.), „Thinking Worlds – The Moscow Conference on Philosophy, Politics, and Art“, Berlin: Sternberg Press, 2008, S. 204.
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schauerraum ein: Was hier geschieht, darf von dort aus nicht von einem Blick erfasst werden, der sich seiner Position allzu sicher ist, sondern muss ihn perforieren und in einem Feld auffächern, das nirgends vereint ist und überall Abstände und Differenzen sichtbar macht zwischen dem, was es zu sehen gibt und dem, was sich darüber sagen lässt.
Parabel IV: Ivana Müllers While we were holding it together
In ihrem ersten Gruppenstück, produziert unter dem Label LISA im Jahre 2006, befasst sich die kroatische Choreographin Ivana Müller mit einem Problem, das auch für Noverre zentral war und das bisher als Spannungsverhältnis zwischen ästhetischen und biopolitischen Fragestellungen herausgearbeitet wurde: Dem Verhältnis zwischen Körper, Bild, Geste und Sprache sowie dem lebendigen Potential tätiger Körper dazwischen. While we were holding it together dauert eine Stunde und sechs Minuten und besteht aus einem einzigen tableau vivant. Die fünf Körper auf der Bühne halten permanent jeweils eine Pose, bis sie irgendwann vor Erschöpfung zu zittern beginnen. Von links nach rechts gesehen gibt es im vorderen Bildbereich einen sitzenden jungen Mann, der einladend seine Hand ausstreckt, dahinter eine stehende Performerin, die – fast abwehrend – einen Arm vor sich hält, daneben einen anderen Performer, der auch steht, dessen Unterarme aber in einer fragenden Geste beide nach oben weisen. Im rechten Bildbereich liegt eine junge Frau. Ihr Torso ist aufgerichtet, halb auf dem Boden, als würde sie im Aufstehen begriffen sein. Hinter ihr steht ein weiterer Tänzer mit geballter Faust. – In der dieser Untersuchung zugrundeliegenden Version des Stücks, das bisher in unterschiedlichen Besetzungen präsentiert wurde, einem Zusammenschnitt der Aufführungen in der Rotterdamse Schouwburg vom 25. und 26. Oktober 2006, ist es Jefta van Dinther (der bereits als Ko-Autor von It’s in the air vorgestellt wurde).1
1
Als Mitglieder der gesamten Besetzung werden insgesamt die folgenden Personen genannt, von denen jeweils fünf an einer Aufführung teilnehmen. Der Spiegelstrich trennt die jeweiligen Besetzungen für eine Figur des tableau vivants voneinander: 1. Katja Dreyer / 2. Sarah van Lamsweerde, 3. Pere Faura / 4. Ricardo Santana, 5. Karen Roise Killand / 6. Hester van Hasselt / 7. Anne Lenglet, 8. Stefan Rokebrand / 9. Jobst Schnibbe / 10. Gert Vaes, 11. Jefta van Dinther / 12. Bill Aitchison.
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Alle Körper scheinen aus unterschiedlichen Situationen ausgeschnitten und in ihrem zeitlichen Verlauf eingefroren zu sein, sie bilden, wie Helmut Ploebst in seiner Rezension vom 2. August 2007 schreibt, „ein Foto, das nie geschossen wird“2. Die Körperhaltungen der Tänzer konnotieren, wenn man sie einzeln und als stillgestellte Bilder betrachtet, alle mehr oder weniger bestimmte Semantiken. Allesamt sind sie als Alltagsgesten codiert. Aber in ihrer Gesamtheit und in den potentiellen Beziehungen, affektiven Wirkungen und Intervallen zwischen den Körpern, die sich gerade dann auftun, wenn die Kommentarebene der gesprochenen Sprache hinzukommt, werden die Dinge sehr viel komplizierter. Abbildung 13: Ivana Müllers While we were holding it together (2006)
Photo: Karijn Kakebeeke.
Während tableaux vivants Noverres Briefen zufolge als stumme Bilder sprechen und in ihrer Stummheit etwas bedeuten sollen, setzt Müller wortwörtlich und ohne die Hilfe eines erläuternden Programmheftes die Sprache ins Bild und lässt die Performer im Verlauf des Stücks den vielschichtigen Sinn des einen tableaus und der fünf Körper und ihrer Gesten darin sagen. Dabei stellt sich bald schon heraus, dass es nicht einen Sinn hinter der Anordnung der Körper und ihren Haltungen sowie hinter dem Beziehungsgeflecht zwischen ihnen gibt, sondern dass sich das Verhältnis zwischen Körper, Bild, Geste und Sprache äußerst prekär gestaltet und durch einen prinzipiellen Dissens zwischen diesen Ebenen in der Schwebe gehalten wird. 2
http://www.corpusweb.net/impulstanz-glossar-vol-2-m-z-6.html. – Zugriff am 8.7.2011.
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Zusätzlich noch gibt es an manchen Stellen kurze Musik- und Geräuscheinspielungen, die das Arrangement auf der Bühne ebenfalls von einem bestimmten Bezugszentrum entfernen und anderen Bestimmungen gegenüber öffnen. Von Anfang an nehmen die fünf Tänzer auf der Bühne ihre Posen ein. Bevor der erste Satz, der wie fast alle folgenden mit „I imagine“ beginnen wird, fällt, geht nach über zwei Minuten der Stille kurz das Licht aus, als wäre es der etwas längere Lidschlag eines Zuschauers, welcher der Szene nur kurz ihre Sichtbarkeit entziehen und sie auf der Netzhaut nachwirken lassen würde, um zu beweisen, dass es da draußen noch immer etwas zu sehen gibt, auch nachdem sich die Augen wieder geöffnet haben. Wenn die Bühne erneut beleuchtet ist, hat sich jedoch nichts an der Körperanordnung geändert. Die Posen bestehen unverändert fort, obwohl schnell erkennbar wird, dass alle der fünf Tänzer mit ihren Augen durch den Raum schweifen, ohne auch nur im Geringsten ihre Köpfe oder den Rest des Körpers folgen zu lassen. Allein ihre Blicke sind es, darin denen der Zuschauer gleich, die Bewegung in das ansonsten bewegungslose Arrangement bringen und anzeigen, dass die Körper in ihrer Ruhe dennoch von etwas zwischen ihnen bewegt werden. Die Performerin links im Bild wird, wenn es wieder hell ist, sagen: „I imagine we are standing in the middle of a forrest.“ Als würde es sich bei diesem Wald sowohl um einen der Bilder als auch der Wörter handeln, nehmen ab diesem Punkt zahlreiche verbale Rahmungen dessen, was gesehen wird, ihren Lauf und öffnen das lebende Gemälde vor den Augen der Zuschauer gegenüber einer unbestimmten Bestimmtheit. Während jedoch die Sätze durch den Raum wandern und ihn und die Körper in ihm aufgrund unterschiedlicher Bedeutungsschichten immer wieder neu konstituieren, ändert sich an den Körpern selbst zunächst nichts. Was choreographiert wird, ist eher das, was sich über die Körper denken und sagen lässt als ihr Arrangement selbst, welches schnell in aller Kontingenz zu Tage tritt. Bald ruft dieselbe Tänzerin aus: „I imagine a different position of my hand would have been a better choice.“ Die auf dem Boden liegende, halb aufgerichtete, Gestalt wird daraufhin bemerken: „I imagine I am the commander of a special military unit. We are overlooking the forrest.“ Ebenfalls gibt es explizite Bezugnahmen auf die Haltungen einzelner Körper, wenn der im rechten Bildrand stehende Jefta van Dinther behauptet „I imagine I am standing at the number 13 bus“ und daran anschließend die vor ihm auf dem Boden abgestützte Performerin erwidert „I imagine I have been run over by the number 13 bus“. Auf diese Weise gehen die Bedeutungsschichten über den Einzelnen hinaus, und es ergeben sich Ansätze narrativer Entwicklung. In eine narrative Richtung umkippende semantische Potentiale werden jedoch nie einfach linear weitergeführt, sondern brechen stets abrupt ab, indem sie von einem weiteren Ansatz, der ihnen nicht selten widerspricht, überlagert werden. Hat man sich also gerade darauf eingestellt, die Körper innerhalb einer durch die Wörter gegebenen visuellen Rahmung
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zu sehen, wird diese auf sprachlicher Ebene schon wieder relativiert oder sogar kontrastiert. Was dabei offen bleibt, ist dasjenige Moment, welches die fünf Körper auf der Bühne im Hier und Jetzt verbindet. Jeder einzelne Kommentar verändert ihr Arrangement als Ganzes, und die Kluft zwischen Sichtbarem und Sagbarem lässt sich nicht durch ihren Bezug auf eine allgemeingültige Instanz schließen. Sie bleibt bestehen als Kluft zwischen dem, was die Körper zeigen und dem, was – stets wieder von Neuem und von einem anderen Körper – über sie gesagt wird. Derart erscheinen die fünf unterschiedlichen Posen, trotz ihrer Klischeehaftigkeit, immer weniger als codierte Körperhaltungen, sondern verweisen in ihrer offenen Bestimmbarkeit auf eine Vielzahl an Situationen und Relationen der Körper untereinander. Mit der ersten Musikeinspielung ändert sich die Atmosphäre der Szene radikal. „I imagine snow is falling on us. Thick layers of snow“, hat die links außen stehende Performerin konstatiert, und sofort setzt eine minimalistische, traurige Melodie ein, die vom Geräusch stapfender Füße durch knirschenden Schnee überlagert wird. Der Soundtrack verebbt, und der vorne links im Bild sitzende Performer mit ausgestreckter Hand meint, er stelle sich die Gruppe vor, wie sie hier noch in dreihundert Jahren sitze und von einem Archäologen entdeckt würde. Dabei bewegen sich weiterhin, vom Mund abgesehen, nur seine Augen und tasten den Raum ab. Der in der Mitte Stehende wird dieses Szenario weiter ausmalen: „I imagine we are not that well preserved“, bevor van Dinther hinzusetzt „I imagine we were found in a third world country and then brought to the British Museum for professional restauration. Now we are brought to the permanent collection“, und ein dritter Körper antwortet „I imagine it would be much nicer to be in Louvre“. An dieser Stelle wird ein wichtiger Aspekt der Tradition der tableaux vivants thematisiert. In ihnen geht es schon bei Noverre darum, Leben als Lebendiges darzustellen und Empfindungen nicht nur Gestalt annehmen zu lassen, sondern sie zuallererst zu er-finden auf der affektiven Fläche einer alles umfassenden Leinwand. Insofern trifft dasjenige, was Martina Ruhsam in Müllers Stück sieht, bereits für ein Problem zu, mit dem sich Noverre zu seiner Zeit konfrontiert findet, nämlich dass die Körper auf der Bühne „aus der damaligen Gruppierung zu einer gemeinschaftlichen Truppe gelöst wurden, um, wie Puzzleteile eines vormaligen Puzzles, in Abstand zueinander und ohne gegenseitige körperliche Berührung, in der Leere der Posenhaftigkeit als Fragmente einer einst repräsentativ angestrebten Einheit repositioniert worden zu sein.“3
Macht Noverre, von der Malerei inspiriert, die Metapher des Gemäldes stark, um dort die Affekte von Körpern einzutragen und denkt deren Fläche zugleich als Ort, 3
Martina Ruhsam, Kollaborative Praxis: Choreographie, Wien: turia+kant, 2011, S. 50.
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an dem Körper, Bild, Geste und Sprache im Dissens aufeinandertreffen, indem seine lebenden Gemälde in ihrer Stummheit sprechen sollen, knüpft Müller daran mit ihrem Stück kritisch an, weist jedoch auf einen ambivalenten Aspekt hin. Obwohl sich Lebendigkeit malen lässt, indem sie ins Sichtbare und dessen stumme Sprache übersetzt wird, insistiert im Gemälde ein Moment, das sich seiner Rahmung entzieht. Das eine tableau vivant, aus dem While we were holding it together besteht, zeigt – darin Noverres bemalter Leinwand verwandt – zwar deshalb lebende Gestalten, weil seine Rahmung offen bleibt, deutet jedoch auch vollends gerahmte, tote Körper an, die einfach zu restaurieren und deshalb einem im Sinne von Boris Groys gedachten Archiv einverleibbar wären, wenn es keine lebendige Tätigkeit der Körper mehr gäbe, die es durchweben und offenhalten würde.4 Dann ginge es nicht länger um die Manifestation körperlicher Affektgeflechte in ihm, sondern um deren Einbalsamierung und Verwandlung in eine einheitliche, festgefügte Gestalt, ein tableau des morts im Sinne Günther Heegs.5 Als lebende Gestalt muss sich das tableau vivant seiner Sammlung verweigern und mit dem verschränkt bleiben, was es nicht ist, mit einem Außen, das seinen Rahmen übersteigt und gerade so als bestimmbaren Rahmen, dessen Grenzen immer wieder neu gezogen werden müssen, konstituiert. White we were holding it together. „I imagine we are not in the exhibition hall but stored in a large container“, sagt die Performerin rechts am Boden, und die in der Mitte stehende Gestalt mit den beiden nach vorne gestreckten Unterarmen gibt zu bedenken, dass sie sich vorstelle, alle wären als Einzelobjekte auf einer Auktion verkauft worden, weshalb die Versammlung hier und jetzt ihr letzter gemeinsamer Abend wäre. Nun wird eine weitere Variante des visuellen Narrativs deutlich. Weil nämlich die fünf Körper zwar ein gemeinsames tableau bilden, jeder von ihnen aber als einzelner eine Geste anbietet, 4
Es würde den Kontext dieser Arbeit sprengen, im Detail auf die gravierenden Unterschiede zwischen dem Kunstverständnis von Boris Groys und Rancières Denken des emanzipativen Potentials von Kunst einzugehen. In Bezug auf das von Groys entwickelte Konzept der Sammlung sei hier nur eine kurze Textstelle zitiert: „Die kürzeste Definition eines Raumes der modernen Sammlung wie auch dessen der modernen politischen Macht wäre also: er ist der Raum der Entropie. Diese Entropie der Kollektion ist allerdings genauso künstlich hergestellt wie die traditionelle hierarchische Ordnung. Der Begriff der Entropie ist in der Regel negativ besetzt, weil man glaubt, daß das Leben, wie schon gesagt wurde, eine Ordnung braucht und daß die Entropie jedes Leben zu vernichten droht. Aber gerade diese Bedrohung, d.h. die Präsenz des Todes inmitten des Lebens, macht die Faszination der Entropie und des entropisierten Raums aus, denn die Sammlung ist ja sowohl ein Ort des Todes wie auch der Ort, an dem man versucht, den Tod zu überwinden.“ – Boris Groys, Logik der Sammlung, München: Hanser, 1997, S. 44.
5
Vgl. Heeg, TanzErfahrung zwischen Sprache und Bild, in: Huschka (Hrsg.), „Wissenskultur Tanz“, S. 28.
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die unabhängig von den anderen auch für sich besteht, können die Bestandteile des Bildes isoliert und als eingefrorene aus ihrem Zusammenhang gelöst werden: „Three of us will be taken to Switzerland tomorrow“, befürchtet er deshalb im Anschluss, und ein anderer erwidert, sein Sammler lebe in Japan. Er wolle schon immer ein anderes Land besuchen. Daraufhin wird das Gesamtbild erneut einer anderen Lesbarkeit zugeführt und aus dem Kontext des Sammelns von Kunstwerken herausgenommen. Dies geschieht sehr abrupt, wenn der Performer in der Bildmitte meint: „I imagine we are standing in a minefield. We all heard a click, but we don’t know which one of us stepped on it.“ Später setzt, nach einem kurzen Black, eine Tonspur mit dem Geräusch zirpender Grillen ein. Wieder spielen die fünf Tänzer sprachlich verschiedene Bilder und Szenen durch, bevor der weibliche Körper, der links außen mit abgestrecktem Arm steht, sich direkt ans Publikum wendet: „I imagine you are all bourgeoise. This is a 19th century party in Rotterdam. We are showing you a series of tableaux vivants. We are wearing different costumes und you are guessing who we are. It is light, entertaining, and educational.“ War es während des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen Mode, Ratespiele zu veranstalten, um Bilder mit einem ethos als Aufenthalt und Seinsweise der Körper darin zu identifizieren, geht es Müller im Gegenteil darum, jede Identifizierung zu vermeiden und die Körper von ihren festen Positionen, innerhalb des Bildes ebenso wie innerhalb der Sprache, zu entfernen. Derart präsentieren die fünf Körper auf der Bühne im Folgenden mehrere Konstellationen innerhalb imaginärer Theater- oder Tanzaufführungen, in denen sich zu befinden sie behaupten, um danach wieder, auf sehr humorvolle Weise, Szenen aus dem Alltag zu schildern, in denen sich ihre Körper ebenfalls in den entsprechenden Posen befinden könnten. „I am zapping through the channels but there is nothing interesting to see“, beklagt sich irgendwann die links auf dem Boden abgestützte Frau. Sofort setzt Musik ein, die wie ein typischer Filmsoundtrack klingt und das Bild in die entsprechende Atmosphäre versetzt. Wieder ist es kurz dunkel, wieder folgen auf sprachlicher Ebene unterschiedliche Situierungen der Körper. Jetzt wird deutlich bemerkbar, dass alle fünf zu zittern beginnen und deshalb das Halten der Posen anstrengend für sie sein muss. Jefta van Dinther meint, er stelle sich vor, wie die Zuschauer auch mit geschlossenen Augen in der Lage wären, ihn in dieser Haltung zu sehen. Es folgen Einspielungen von Pferdegetrappel, einem Tennismatch und einer Motorsäge; alle haben sie gemeinsam, das tableau sich selbst gegenüber unähnlich werden zu lassen und von jedem bestimmten Sinn dahinter zu entfernen. Später wird man die Stimmen im Dunklen sprechen hören, überblendet vom Geräusch entfernt vorbeifahrender Autos. „I imagine it looks very dark in the forrest“, sagt eine, „We probably went the wrong way“ eine andere,
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„Now we are a little bit lost“ eine dritte, und eine vierte antwortet: „I imagine we are animals in the forest.“ An dieser Stelle stellt sich eine Verbindung zu Noverres Paradox des Ausdrucks her. Indem Noverre Ausdruck einerseits als affektiv wirksames Vermögen der Körper begreift, gleichzeitig aber auf eine Leinwand eintragen und sichtbar machen will, setzt er ihn ebenso ins Bild wie er ihn an dessen Grenzen situiert, von wo aus er die Körper in ihrer Gesamtheit modifiziert. Müller macht einfach das Licht aus. Der Wald, eines der zentralen Motive in While we were holding it together, erscheint deswegen nun eher als das unerschlossene Gebiet jenseits der Grenze dessen, was bereits auf einem Gemälde eingetragen ist denn als abgezäunter Bezirk, ganz im Sinne des ursprünglichen Bestrebens von Noverre, bevor sich seine Leinwand seit der Wende um 1800 und bis heute mit einer (Über)Fülle neuer Lebensformen bevölkert hat und – vor allem im 20. Jahrhundert – vielerorts in eins gefallen ist mit dem Ausdruck eines ur-ethischen Lebens und Körpern, die nicht länger die Bruchlinien des unbestimmten Körpers6 erforschen konnten, sondern pastoral von bestimmten Stilen und Techniken vereinnahmt wurden. Im Gegensatz dazu öffnet sich Müllers Leinwand gegenüber beliebigen Inhalten und Materialien, indem sie von einer Vielheit potentieller Beziehungsgeflechte durchzogen wird. In der zweiten Hälfte des Stücks wird das Zittern der Körper zunehmend intensiver. Was zuvor eine leichte Anspannung war, zeichnet sich mit der Zeit als physische Anstrengung ab. Weiterhin im Dunklen sind Feuerwerkskörper zu hören, deren Geräusch auch dann nicht verstummt, wenn das Licht wieder angeht und die rechts am Boden liegende Tänzerin meint, sie stelle sich vor, dies sei ihr Geburtstag. Musik kommt hinzu, wenn sie den hinter ihr stehenden Jefta van Dinther als ihren Bodyguard und Sekretär bezeichnet. Schritt für Schritt löst sich das tableau vivant in Kontingenz auf: „The guy in the back – he is in charge of the heavy labor and the dirty work. Look at him. So strong and dirty. There is something beautiful about his simplicity“, fährt sie fort. Aufgrund seiner ausgestreckten Unterarme ist das Zittern des Mannes im Hintergrund überdeutlich. Plötzlich beschleunigt das Stück. Nach einem weiteren Black rufen alle durcheinander, dass sie sich vorstellen würden wie sie tanzten, außer Kontrolle, schwitzend und ihre Beine in alle Richtungen werfend, höher und höher, gegeneinander prallend, eins mit dem Rhythmus, als würden sie fliegen, bis ihnen schwindlig würde. Obwohl all das nur innerhalb ihrer sprachlichen Äußerungen stattfindet, während die Körper weiterhin still und heftig zittern, meint man, die beschriebene Bewegung entfalte sich im Raum, vor allem, weil es danach eine ganze Serie weiterer Blacks und abrupt wechselnder Toneinspielungen gibt, nach denen sie – erstmals im Verlauf des Stücks – ihre Positionen im Raum vertauschen. Jedesmal, wenn das 6
Vgl. Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268.
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Licht angeht, sind sie auf einer jeweils anderen Position und in einer anderen Haltung, aber immer exakt anstelle des jeweils anderen Körpers. Später werden sie direkt thematisieren, was sie die ganze Zeit über nur angedeutet haben: „I imagine this body doesn’t belong to me“, „I imagine being in somebody else’s body“, „I imagine being in his body – so close to the audience and so close to her“, „I imagine my thoughts would change if I were in a different body“, „I imagine seeing no reason to move to another body. I am constructing something here and I want to continue“, „I imagine it would be nice to live somewhere else“. Abbildung 14: Ivana Müllers While we were holding it together (2006)
Pressephoto: Liesbeth Bernaerts, Ivana Müller und Driest Ontwerpen.
Jetzt wechseln plötzlich ihre Stimmen. Lippensynchron sprechen die Körper mit den Stimmen der anderen. Einzelne Sätze wiederholen sich, bald schon „I imagine we are all bourgeoise, looking at a tableau vivant“, nach dem eine lange Pause einsetzt, in der das Publikum sehen kann, wie sehr die Körper, aus denen das Bild besteht, physisch erschöpft sind. Später behauptet jemand, es handle sich hierbei um ein internationales Symposium über menschliche Anatomie: „You are looking at my body – my living body.“ Das ohrenbetäubende Geräusch der Rotorblätter eines Hubschraubers fadet ein, während das Licht im Saal dunkler wird. Im Dunklen hört man das Surren von Fliegen. Wenn es wieder hell ist, wiederholen sich die Ortsbeschreibungen vom Beginn des Stücks. Allerdings sind es jetzt jeweils andere Körper, die sie mit anderen Stimmen formulieren. Nach dem letzten Black ist die Bühne leer. Eingespielte Stimmen sind zu hören. Eine fragt: „Are we now only thoughts?“, eine andere antwortet „No, we are still an image“, woraufhin eine dritte meint „I wonder if the people in the audience are now travelling as well, silently, from one body to another“ und eine vierte überlegt „I wonder if they are here on stage, in one of us.“ Jemand stellt fest, dass dies die sechsundsechzigste Minute des Stücks sei und er noch immer, mit den vier anderen zusammen, vor den Zuschauern
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stehe, woraufhin eine letzte Stimme konstatiert: „I imagine we are in this all together.“ Mit Rancière lässt sich die These aufstellen, Müller setze auf ästhetische Subjektivierungen, die sie ethischen Identifizierungen der Körper entgegenhält. Das eine tableau vivant, von dem While we were holding it together zusammengehalten wird, verwandelt sich permanent in andere Bilder, wird modifiziert, nimmt miteinander unvereinbare, dissensuelle Bedeutungen an und gerät in Bewegung, indem das Sprechen der Tänzerinnen und Tänzer es durchdringt und jede nur mögliche Semantik mit ihr widersprechenden Semantiken konfrontiert. Metaphorisch betrachtet halten die Körper keine Positionen innerhalb des Bildes: Ohne eine Funktion zu haben, geht ihre Lebendigkeit über das hinaus, was sich ihr im Vorhinein als Möglichkeit zuschreiben ließe. Ihre Expressivität verweist auf etwas zwischen ihnen, das in keinem Rahmen aufgeht. Sie sind, darin denen in Jefta van Dinthers und Mette Ingvartsens It’s in the air ähnlich, nie dort, wo ein ethos sie vorsehen würde, sondern ständig abweichend von ihrem Platz innerhalb des Bildes. Sicht- und Sagbares lassen sich derart nicht deckungsgleich aufeinander abbilden. Immer klafft eine Lücke zwischen ihnen. Weder gehen die Gesten der Körper im Sichtbaren auf noch repräsentieren sie ein bestimmtes Sagbares. Vielmehr stellen sie anhand ihres Sprechens diese beiden Ebenen in ein dissensuelles Verhältnis zueinander. Die einzelnen Gesten sprechen durch unzählige Schichten hindurch, weil sie nicht in einem aktivistischen Exzess realisiert, sondern zurückgehalten werden. Was Rancière demnach mit Schiller die ‚Trägheit‘ der Juno Ludovisi nennt, lässt sich allerdings nicht mit Agambens messianischem Verständnis von ‚Untätigkeit‘ vereinen. „Nicht die Arbeit, sondern die Untätigkeit und die Entschöpfung sind insofern das Paradigma der kommenden Politik (wobei kommend nicht mit zukünftig verwechselt werden darf). […] Untätigkeit heißt nicht Trägheit, sondern katargesis – sie ist eine Tätigkeit, in der das Wie das Was vollkommen ersetzt hat, in der das formlose Leben und die unbelebte Form in einer Lebensform zusammenfallen.“7
Was bei Agamben erhabene Hoffnung auf eine kommende Gemeinschaft bleibt, in der ‚formloses Leben‘ und ‚unbelebte Form‘ eins würden, ist Rancière zufolge eher die schöne Konfrontation in actu zwischen einer Aufteilung des Sinnlichen und einer anderen Aufteilung des Sinnlichen. Zwar zeigt sich in Schillers Juno Ludovisi die Schönheit des uneingeschränkten Ausdrucks des Lebens als Abwesenheit jeglichen Ausdrucks8, vermittels einer den Körpern gemeinsamen Praxis ausgedrückt wird deswegen aber nicht ihre angeblich formlose Lebendigkeit, sondern ihre offen 7
Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve, 2003, S. 105.
8
Vgl. Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 80.
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bestimmbare, dissensuelle Form.9 Im Gegensatz zum Kalkül biopolitischer Stile und Techniken werden die Körper in While we were holding it together zu jeder ihrer Praxis äußerlichen Instanz in Abstand gebracht. Dieser Abstand und dessen Bruchlinien ereignen sich jedoch nicht wie bei Agamben in messianischer Erwartung. Sie sind im Sinne Rancières Ergebnis dissensueller Operationen und Neuanordnungen von Sinnbezügen innerhalb der Aufteilungen, die im Verlauf des Stücks getätigt werden. Körper, Bild, Geste und Sprache werden in ein gleichwertiges und gleichgültiges Verhältnis zueinander gestellt. Weder geht die Sprache im Bild auf noch jenes in der Sprache. Weder erschöpfen sich die Körper in ihrer Beschreibung noch in einer bestimmten Bildlichkeit, die sich daraus ergibt. Zwar versprechen ihre Gesten ein potentielles Leben, das aber immer nur in Bezug auf einen Dissens zwischen ihnen. Ihnen gemeinsame Formen werden einander gegenübergestellt, miteinander kontrastiert, gebildet und aufgelöst im Sprechen einzelner Körper, das deren Anordnung insgesamt modifiziert. Insofern ist ihnen nicht, wie Agamben vorschlägt, ihr Potential als solches gemeinsam, sondern das dissensuelle Verhältnis ihrer Tätigkeitsformen, welche im zwischen ihnen gleich verteilten Vermögen begründet liegen. Agamben dagegen schreibt: „Die Erfahrung des Denkens, um die es hier geht, ist immer Erfahrung einer gemeinsamen Potenz. Gemeinschaft und Potenz gehen restlos ineinander auf, weil die Inhärenz eines gemeinschaftlichen Prinzips in jedem Vermögen Funktion des notwendig potentiellen Charakters einer jeden Gemeinschaft ist. Unter Wesen, die immer schon verwirklicht, die immer schon diese oder jene Sache, diese oder jene Identität wären und ihre Potenz darin gänzlich erschöpft hätten, könnte es keine Gemeinschaft geben, sondern nur zufällige Übereinstimmungen und faktische Aufteilungen. Mit anderen kommunizieren können wir nur über das, was in uns wie in den anderen Potenz geblieben ist, und jede Mitteilung [communicazione] ist (wie Benjamin es für die Sprache geahnt hatte) vor allem Mitteilung nicht eines Gemeinsamen [comune], sondern einer Mitteilbarkeit.“10
Was in While we were holding it together eher auf dem Spiel steht als eine Mitteilbarkeit als solche, sind die dissensuellen Verhältnisse, die aus ihr resultieren. Mit Paolo Virno lässt sich auch von einer Logik des Witzes sprechen, welcher sich Müller bedient, um die Unmöglichkeit der Anwendbarkeit allgemeiner Regeln (im Sagbaren) auf besondere Fälle (im Sichtbaren) bloßzustellen. Virno zufolge handelt es sich beim Witz nämlich deshalb um eine innovative Handlung, weil durch ihn 9
Rancière unterzieht Agambens Philosophie einer eingehenden Kritik. Vgl. ders., Who is the Subject of the Rights of Man?, in: Corcoran (Hrsg.), „DISSENSUS“.
10 Giorgio Agamben, Lebens-Form, in: ders., „Mittel ohne Zweck – Noten zur Politik“, Berlin/Zürich: diaphanes, 2006, S. 18.
P ARABEL IV: I VANA M ÜLLERS W HILE WE WERE HOLDING IT TOGETHER | 283
„the prevalent belief-system of a community“11 und „the difference between signifier and signified“12 aufgeworfen werden. Müller setzt zwei Gemeinschaften gegeneinander: Eine ethische Gemeinschaft, in der Leben bereits bestimmte Form ist und eine als lebende Gestalt gedachte Gemeinschaft des Dissenses, in der die Beziehung zwischen beiden offen bleibt. Wird die Lebendigkeit der Körper nicht vollends gerahmt, zeigt sie sich als noch nicht aktualisiertes Potential zwischen ihnen. Sie zeigt sich als Potential aber nur, indem heterogene Aufteilungen des Sinnlichen miteinander kollidieren. Das macht bestenfalls sowohl das tableau vivant bei Noverre als auch Schillers Konzept der lebenden Gestalt aus: Beide lassen etwas Gegebenes in Bezug auf etwas in diesem nicht Gegebenes bestimmbar werden. Demgegenüber arbeitet, wie jetzt gezeigt sei, Biopolitik als choreographisches Produktionsverhältnis zwar mit dem Eigensinn vermögender Körper, identifiziert sie aber mit einem erneut organisch gedachten Ganzen.
11 Virno, Multitude – Between Innovation and Negation, S. 129. Demnach ließe sich sagen, auch dem Schönen mangele es nicht an Humor, handelt es sich bei ihm doch um eine Anschauung ohne Begriff oder um eine Mannigfaltigkeit, die sich weigert, unter bestimmte Begriffe gefasst zu werden. 12 Ebd., S. 130.
7. Biopolitik als Produktionsverhältnis
Schillers Spieltrieb und Kants Idee eines ästhetischen Gemeinsinns eröffnen laut Rancière unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten einen nicht länger besonderen Tätigkeitsbereich und gerade deshalb in rezeptionsästhetischer Hinsicht ein besonderes Sensorium der Kunst im Singular. Weil Potentiale innerhalb der Ästhetik freigesetzt werden, geraten sie in den Fokus biopolitischer Kalküle, deren Tendenz spätestens seit der sogenannten Tanzmoderne darin besteht, die offene Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst wieder zu schließen, indem sie die selbsteigenen Vermögen der Körper anhand von Stilen und Techniken vereinnahmen. Um zu schildern, was passiert, wenn Choreographie im ästhetischen Regime in Biopolitik umschlägt und ur-ethisch operiert, indem sie die Lebendigkeit der Körper zwar keiner bereits fertigen und fixen Poetik mehr unterordnet, dafür aber für ur-ethische Lebensformen funktionalisiert, sei nun ein von Randy Martin beschriebener Probenprozess wiedergeben. So soll herausgearbeitet werden, inwiefern auf produktionsästhetischer Ebene bis heute weite Teile der etablierten Tanzszene und viele größere Compagnien durch eine pastorale Logik geprägt sind. Einer der Gründe, warum sich in den 1990er Jahren eine Generation jüngerer Choreographinnen und Choreographen, die bald unter dem fraglichen Label ‚Konzepttanz‘ subsumiert wurde, von auf Improvisation und der Genese von Bewegungsmaterial beruhenden Produktionsweisen abwendete, ist darin zu sehen, dass sie nach neuen Wegen gesucht hat, den Eigensinn des Körpers, wie er unter ästhetischen Gesichtspunkten denkbar wird, von seiner biopolitischen Vereinnahmung zu befreien. Denn der Boom der 1980er Jahre hatte es in vielen Fällen mit sich gebracht, dass im Rahmen einer Anything Goes-Logik der unbestimmte Körper der Ästhetik in Formen eines letztlich doch wieder einheitlichen hired body und des sogenannten postmodernen Eklektizismus verschwunden war. Insofern verweist das ‚Konzeptuelle‘ in manchen Arbeiten seit den 1990ern auf eine Ablehnung des Tanzes um des Tanzens willen sowie der damit verbundenen Verkittung von posis und aísthesis und fragt danach, welche offenen Praktiken gefunden werden können, nachdem Tätigkeitsformen,
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scheinbar frei geworden von Regelwerken, nicht mehr in festgefügte Rahmen eingepasst sind. Während Rancière emanzipierte Zuschauer fordert, deren nicht kalkulierbare Vermögen ins Spiel kommen, indem sie „ihre eigene Übersetzung ausarbeiten, um sich die ‚Geschichte‘ anzueignen und ihre eigene Geschichte zu machen“1, sind die Zuschauer innerhalb biopolitischer Produktion auf die anonyme Masse des Publikums verwiesen. Rancière spricht, wenn sich innerhalb des ästhetischen Regimes erneut ein organisch gedachter Gemeinschaftskörper herausbildet, sogar von einem „ur-ethischen Paradigma“2, das sich ihm zufolge heute in vielen Bereichen ausbreitet. Ein Umkippen von Ästhetik in Ur-Ethik zeigt sich gerade im Tanzbereich und hat Auswirkungen ebenso auf die Produktionsverhältnisse zwischen Choreographen und Tänzern wie auf die Rezeptionshaltung des Publikums. Wenn das Potential (dynamis) der Körper in biopolitischen Stilen und Techniken entsprechenden Bewegungsformen (energeia) aufgeht, sieht man das nicht nur an den fertigen Stücken, sondern auch auf der Ebene des Produktionsprozesses im Sinne der wortwörtlichen rehearsals, von denen Andrew Hewitt annimmt, sie seien immer auch Einübungen in ideologische Zusammenhänge. „Instead, I will be suggesting the possibility of strategic reversals that locate social and political fantasies within an aesthetic practice that I call social choreography. This choreography is ideological by virtue of what it both produces and instills rather than for what it reflects. […] We might think of choreography in terms of ‚rehearsal‘: that is, as the working out and working through of utopian, but nevertheless ‚real‘ social relations.“3
Den Begriff ‚Ideologie‘ lehnt Rancière, wohl auch aus biographischen Gründen, strikt ab.4 Für seine an Schiller und Kant angelehnte Denkweise ist die Kritik an jeder Form des ethos zwar wichtiger als die Reflektion auf Produktionsverhältnisse, trotzdem lässt sich die Problematik einer apriorischen Gleichheit der Körper um diese Perspektive ergänzen.5 Wie weiter oben gezeigt wurde, besteht Ästhetik in 1
Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, S. 33.
2
Vgl. ders., Was bringt die Klassik auf die Bühne?, in: Ensslin (Hrsg.), „Spieltrieb“, S. 34.
3
Hewitt, Social Choreography, S. 16 f.
4
Vgl. hierzu Jacques Rancière, Althusser’s Lesson, London/New York: Continuum Press,
5
Damit bin ich nicht allein. Auch Christian Helmut Wenzel denkt Kants Analytik des
2011. Schönen produktionsästhetisch weiter und macht sie für ästhetische Evaluationen des Materials während des kreativen Prozesses fruchtbar: „The artist almost continuously evaluates his or her work during the process of creation by making judgments of taste, although these judgments do not have to be consciously or even explicitely made. The artist engages in a free play of his faculties while creating the work of art, stops or makes
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deren offener Praxis, weil ihre Lebendigkeit hier nicht in einem ethisch verfassten Leben aufgeht. Dies ist nicht so in choreographischen Verfahrensweisen, die auf einem biopolitischen Kalkül beruhen und die Tendenz haben, zu einer organisch gedachten Körperordnung zurückzukehren. Ein solches Umkippen von Ästhetik in Biopolitik beruht auf einer energetisch gesteuerten dynamis der Körper. Die Tänzer sind dann Produzenten von Material, der Choreograph ist dessen Arrangeur und das fertige Stück, hierin ist Lepecki zuzustimmen, das Bild einer sich mit ihrem Bewegungskontinuum identifizierenden, konsensuellen Gemeinschaft.6 Weil Choreochanges when finding the play to be disharmonious, and otherwise goes on, more or less encouraged by those continuous aesthetic evaluations on the way.“ – Christian Helmut Wenzel, An Introduction to Kant’s Aesthetics – Core Concepts and Problems, Malden: Blackwell Publishing, 2008, S. 100. Sebastian Egenhofer fasst sogar die Erfahrung von Werken selbst produktionsästhetisch: „In Umrissen hat sich auch gezeigt, wie sich die ästhetische Erfahrung zum so gefassten Werkgeschehen verhält, inwiefern ihre Struktur die ihres Gegenstandes (der auch nach Kant kein Gegenstand, sondern nur der ‚Anlass‘ der ästhetischen Erfahrung ist) reflektiert. Ihre Prozessualität, ihre Vollzugsweise, die Kant als das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand bestimmt hat, erfüllt jene Spanne oder Kluft des Nichtseins, die das Kunstwerk […] als Bezirk seines Erscheinens setzt oder voraussetzt. […] Institution, Träger, auch schon Medium sind Namen für den Ort, an dem der ästhetische Schein, dieser Gegenwartsspielraum, sich mit seinen Existenzbedingungen überkreuzt und diese so partiell erfahrbar werden lässt.“ – Sebastian Egenhofer, Produktionsästhetik, Berlin/Zürich: diaphanes, 2010, S. 223. Obwohl Egenhofer das Schöne gegenüber dem Erhabenen abwertet, meint er, die Gegenwart ästhetischer Erfahrung zeige sich als der „Effekt einer unauflöslich opaken Vergangenheit, die ihr vorausgeeilt ist und die sie als die Materialität der Situation umschließt und begrenzt.“ – Ebd., S. 163. Zwischen Kant und Spinoza vermittelt entwickelt Egenhofer einen nicht nur für seine Produktionsästhetik triftigen Formbegriff: „Form ist als Integral der Integrale bewegter Teile bestimmt, und sie gilt als eine Form, solange die kinetischen Grundverhältnisse ihrer Teile, die sie zugleich materiell mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten durchqueren mögen, wie beim lebendigen, sich selbstständig erneuernden Körper, eine relative Konstanz bewahren […].“ – Ebd., S. 58. 6
Hiermit verbunden ist eine Teilung geistiger und körperlicher Arbeit, über deren historische Wirkmächtigkeit Alfred Sohn-Rethel schreibt: „Vorauszuschicken ist, daß es selbstredend überhaupt keine menschliche Arbeit geben kann, ohne daß darin Hand und Kopf zusammen tätig sind. Arbeit ist kein tierartig instinktives Tun, sondern ist absichtsvolle Tätigkeit, und die Absicht muß die körperliche Bemühung, welcher Art diese auch sei, mit einem Minimum von Folgerichtigkeit zu ihrem bezweckten Ende lenken. Aber die wesentlichen Unterschiede liegen darin, ob das bezweckte Ende die Absicht des einzelnen ist, der sich körperlich bemüht, oder die Absicht mehrerer, die sich gemeinsam bemühen, oder aber eine bloße Teilabsicht, die vom einzelnen allein ausgeführt wird, aber
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graph, Tänzer und Publikum sich ineinander spiegeln und wechselseitig auf ihre Positionen verweisen, kann es in biopolitischen Produktionsverhältnissen nicht zu dem kommen, was im Schönen auf eine ihnen gemeinsame, konstituierende Praxis verweist. Ausdruckspotential wird dann weder für den Choreographen und die Tänzer noch für das Publikum zum Anlass generativer Erfahrung, in welcher Form (potestas) und die lebendige Tätigkeit (potentia) der Körper nicht länger als zwei getrennte Pole einander gegenüberstünden, weil erstere letzterer dann nicht mehr vorausginge, sondern als Tätigkeitsform aus ihr folgte. Vielmehr wird dynamis als nur möglicher Ausdruck einer ur-ethischen energeia funktionalisiert. Martin beschreibt in Performance as Political Act – The Embodied Self einen Probenprozess, der überall auf der Welt stattfinden könnte. Darin verortet er einen perfiden Machtmechanismus, der dem ungleichen Verhältnis zwischen Hirte und Schafen in Foucaults Pastorat entspricht und beweist, dass sich mit der Logik des biopolitischen Kalküls das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit sowie eine bestimmte Auffassung von téchne grundlegend wandeln. In der vorliegenden Arbeit ist anhand von Arbeau und Feuillet gezeigt worden, dass téchne einem hylemorphischen Verständnis von Choreographie zufolge als immer begrenztes Repertoire an Schritten, Positionen und Wegen im Raum sowie Körperhaltungen konzeptualisiert wird, eben als bereits gegebene Form, auf die sich Tanz als Tätigkeit zu beziehen hat. Die Tätigkeit des Tanzens meint in diesem Modell das Einüben im Vorhinein (durch die Komposition) festgelegter und (in der Notation) niedergeschriebener Elemente. Tanz reproduziert, wenn Choreographie als Form gedacht wird, einen ihm äußerlichen Rahmen, nicht jedoch sind die Körper derart tätig, dass sie Formen zuallererst hervorbringen. Demnach kann téchne als Einübung und angemessene Ausführung der Elemente verstanden werden, die dem Körper zwar äußerlich sind, ihn aber dennoch determinieren und an denen er sich dann abzuarbeiten hat. Im Verständnis von Choreographie, das Lepecki einer eingehenden Kritik unterzieht und bezüglich dessen Siegmund ein Recht auf Widerstand im Sinne einer Abstandnahme vom Gesetz7 fordert ist, wenn man es weiterdenkt, kein Platz für einen Körper, der choreographisch tätig wäre, weil seinem Vermögen in ihm keine konstituierende Rolle zukommt (im Sinne von potentia),
für ihn überhaupt kein bezwecktes Ende bedeutet, weil sie von anderen gesetzt worden ist. Je nachdem ändern sich die Verhältnisse zwischen Hand und Kopf für die Arbeit.“ – Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit – Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971, S. 95 f. Ich danke Florian Schneider dafür, mich auf dieses leider nahezu in Vergessenheit geratene Werk aufmerksam gemacht zu haben. 7
Vgl. Gerald Siegmund, Choreographie und Gesetz: Zur Notwendigkeit des Widerstands, in: Haitzinger/Fenböck (Hrsg.), „Denkfiguren“.
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sondern seine Tätigkeit von der im Vorhinein verfassten Choreographie (gedacht als potestas) auf ein begrenztes Repertoire verwiesen wird. Körper dagegen, die an der Produktion von Choreographie beteiligt sind, dabei aber gleichzeitig ihres selbsteigenen Vermögens enteignet werden, sind Zielscheibe eines Verfahrens, das heute von vielen Compagnien gepflegt wird: Der Improvisation und ihrer jeweiligen Techniken. In ihr sind die Entscheidungen des Choreographen, wie Martin es formuliert, „based upon real not imagined bodies, bodies she taps for their kinetic history.“8 Improvisation als die biopolitische Produktionsweise par excellence, in welcher Erscheinungsart sie auch begriffen wird, erfordert andere Verhältnisse zwischen Choreographie und Tanz.9 Verfahrensweisen, die auf Improvisation beruhen, zielen auf die dynamis eines Körpers ab, der eigensinnige, nicht im Vorhinein festlegbare, Formen erzeugt. Sie setzen dessen lebendige Tätigkeit voraus, subsumieren diese aber unter ein choreographisches Kalkül, das eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Choreograph und Tänzern etabliert. „The emphasis shifts from the choreographer’s own inventions to improvisations as the source of movement. The choreographic problem is now posed directly to the dancers and it is from their solutions that the choreographer must select. To use an industrial analogy, she turns from supervisor to rigorous inspector, selecting for passage only the choicest of the motional products. Her criteria are relative to our expression.“10
In biopolitischen Produktionsverhältnissen, die maßgeblich auf improvisatorischer Generierung von Bewegungsmaterial beruhen, obliegt dem Choreographen dessen 8
Randy Martin, Performance as Political Act – The Embodied Self, New York: Bergin&Garvey Publishers, 1990, S. 106.
9
Friederike Lampert unterscheidet in ihrer Dissertation sehr genau zwischen mehreren Graden der Improvisation, weist aber zugleich darauf hin, dass es reine Improvisation in diesem Sinne nicht gibt. Denn auch hier spielen verschiedene determinierende Faktoren wie das individuelle Körpergedächtnis der Tänzer, gesetzte Parameter, entlang derer improvisiert wird oder Proportionen zwischen etablierten Formen und offenen Spielräumen dazwischen innerhalb einer Bewegungssequenz eine entscheidende Rolle. Trotzdem setzen solche Verfahren immer nur mögliche Tätigkeitsformen und damit den kalkulierten Bezug auf die Eigensinnigkeit der Körper voraus. Lamperts Ausführungen beweisen, dass Improvisation problematisch ist, weil sie praktisch an die Instanz des Choreographen gekoppelt bleibt, der Material selektiert und kombiniert, während die Tänzer oft keine ästhetischen Evaluationen der von ihnen generierten Formen unternehmen können und meistens keinen Einfluss haben auf das Arrangement dessen, was sie hervorbringen. – Vgl. Friederike Lampert, Tanzimprovisation: Geschichte, Theorie, Verfahren, Vermittlung, Bielefeld: transcript, 2007.
10 Martin, Performance as Political Act, S. 106.
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Selektion und Kombination, den Tänzern jedoch dessen Herstellung. Insofern ist es weniger eine poetische Regelung der Tätigkeit von Körpern, mit welcher Hirtenchoreographen befasst sind, sondern die Steuerung von nicht vollständig planbaren Ereignissen, die sie in eine einheitliche Richtung leiten und im Rahmen stilistischer Möglichkeiten verkitten müssen. Im Pastorat verliert der Spiegel im Studio seine Vorrangstellung. Es liegt nun nicht mehr an den Tänzern, primär definierte Posen und Positionen zu verkörpern, sie betrachten sich – zumindest während der Arbeitsphasen, in denen es um die Generierung neuen Materials geht –, nicht mehr von außen, indem sie ihre Bewegungen mit feststehenden Bildern abgleichen, sondern sind damit befasst, ihren Blick auf affektive Selbstwahrnehmung umzustellen, auf die Momente, in denen Bewegungsimpulse in ihnen aufkommen, und einzuschätzen, welche potentiellen Qualitäten ihnen innewohnen und inwiefern sie, wenn ihnen nachgegangen wird, zu demjenigen Material passen, das im Rahmen eines bestimmten Stils möglich ist. Der Stil des Choreographen ist eine von allen internalisierte Instanz, welche die generative Tätigkeit der Körper lenkt. Die Tänzer kennen dessen Vorliebe für gewisse Abläufe und seine Bevorzugung einzelner Qualitäten gegenüber anderen, sie wissen, dass er zwar auch in der Reproduktion mancher Figuren besteht, jedoch ständig erweitert und variiert werden muss. Deshalb geht es auf der Probe weniger um das exakte Kopieren bereits verwendeter Mittel, sondern um die Weiterentwicklung eines dem Choreographen eigenen Stils, dessen Genese in der Geschichte der Compagnie verwurzelt ist. Diese permanente Modulation der Körper wird in vielen Compagnien über Improvisation erreicht, deren Struktur durch die Selektion und Kombination von Material durch den Choreographen gewährleistet wird. Improvisation bringt, wenn sie auf seinen individuellen Stil und auf eine pastorale Technik bezogen ist, subtil wirksame Machtbeziehungen mit sich und hat nichts mit einer größeren Ausdrucksvielfalt auf Seiten der Tanzenden zu tun. Im Gegenteil dient sie dem Choreographen dazu, immer neue Bewegungsmuster zu gewinnen, indem er die Tätigkeit seiner Tänzer zum Material degradiert und ihr Ausdruckspotential einem Rahmen des nur Möglichen eingliedert. In Martins Bericht gibt es keine Anzeichen für eine den Körpern gemeinsame, offene Praxis. Der Produktion von Material geht keine vom Choreographen formulierte Idee voraus, auf die sich die Tänzer beziehen könnten. Sie haben keine Möglichkeit, anders am Probenprozess teilzuhaben denn als fleißige Lieferanten für sie indifferenten Materials, wobei die Bandbreite an Bewegungen, die von ihnen gewonnen werden können, sehr begrenzt ist, weil sie anhand ihrer Kompatibilität und Kombinierbarkeit mit anderen Bewegungen gemessen werden.
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„Improvisation bounds time and space to free the dancer within them. Improvisation is the limit that permits limitlessless, the scarcity that creates abundance, the rules that invite breaking. The freedom is relative. The dancer soars, shifts, and stops, unaware of the structure that becomes a silent authority; transcending the rules obscures their constraint. The rule for selecting movement contained in these improvisations is that movement which cannot be apprehended in two or three tries by the group is excluded from the pool of possible movement. This rule, which becomes a social fact of the rehearsals, ultimately limits the distance the dance will travel from its technical roots.“11
Obwohl Martin nicht auf das Potential von anders denn über das Arrangement von Bewegung gedachte sujets eingeht, die Tanz anders als über die mit dem Stil des Choreographen kompatiblen Bewegungen und seine anpassungsfähige und flexible Form pastoraler Technik konzeptualisieren würden, macht er klar, dass Improvisation alles andere als die Erforschung des unbestimmten Körpers der Ästhetik ist. 12 Der Choreograph weiß selbst nicht, wie die Variation seines eigenen Stils vonstatten gehen soll. Vielleicht hat er zu Beginn des Probenprozesses ein bestimmtes Thema vorgegeben oder einzelne Bewegungsphrasen, mit denen er den Anfang machen will, seinerseits vorgetanzt. Auch kann es sein, dass er die Compagnie in kleinere Gruppen unterteilt hat, in Duos oder Trios von Tänzern, von denen er weiß, wie sie aufeinander reagieren und in welchem Radius möglicher Resultate ihre Improvisationen münden werden. Sein Kalkül setzt er jedenfalls durch, indem er die tanzenden Körper mit zu lösenden Problemen konfrontiert, in denen eine gewisse Bandbreite an Lösungen bereits implizit enthalten ist. Eine Reihe von Handlungsräumen sind in sie einkalkuliert, die folgen könnten, die den Tänzern nicht bewusst sind, vom Choreographen aber als solche intendiert wurden: „The problem only suggests a response; it does not prescribe a means of selection. The composite movement is actually a series of selections […]. The choreographer finds what could be imagined in setting up the problem – the body’s response.“13 Auf keinen Fall hat er zu Beginn seiner Arbeit mit den Tänzern eine Idee, ebenso wenig von der Form des gesamten Stücks wie von den einzelnen Szenen, Sequenzen und Phrasen, aus denen es bestehen wird. Sein Fokus liegt primär auf der Modalität, in der seine Tänzer auf von ihm gestellte Aufgaben reagieren. Gleichzeitig ist ein weiterer Aspekt Bestandteil seiner Überlegungen: Die Figur eines angeblich kohärenten Publikums, das bestimmte Erwartungen bezüglich seines Stils an ihn heranträgt, welche den Choreographen während der Proben eines 11 Ebd., S. 107. 12 Vgl. Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268. 13 Martin, Performance as Political Act, S. 107.
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neuen Stücks direkt vorantreiben und die er indirekt auf seine Tänzer überträgt. Letztlich fusionieren in seiner Vorstellung er, die Tänzer und das Publikum zu einem zwar nicht vollständig planbaren, aber doch unvermeidlich einheitlichen Zusammenhang. Daraus resultiert Martin zufolge die internalisierte Autorität auf Seiten der Tänzer, die zwar nicht wissen, welcher Form sie genügen sollen und bei der Genese neuer Bewegungen auf sich allein gestellt sind, jedoch Andeutungen, nur mögliche Qualitäten und Richtungen, in die das Stück gehen könnte, insofern verinnerlicht haben, als dass alles, was sie tun, dem Prinzip der Selbstüberwachung anhand ihnen nicht vollends bewusster Mechanismen geschieht. Ihr Material wird zwar scheinbar ‚frei‘ produziert, die Produktion aber wird dominiert von einer präventiven Kalkulation ihres Ausdrucksvermögens. Martin stellt fest: „The company is the raw material out of which the dance will be hewn. It is the social body that must speak the choreographer’s mind. Against the singularity of choreographic authority is the collectivity of the company that constitutes totality. The dance will develop in the dialogue between these two.“14 Weder die Autorität des Hirtenchoreographen noch die Kollektivität der Mitglieder seiner Compagnie sind in einer festgestellten Technik gegeben, die als Repertoire an Bewegungsmustern und Figuren gesichert wäre, sondern entwickeln sich vermittels einer anpassungsfähigen und flexiblen Technik. Die Trias aus Choreograph und Tänzern (auf produktionsästhetischer Seite) und der Erwartung eines einheitlich gedachten Publikums (auf rezeptionsästhetischer Seite), dem unterstellt wird, es verlange das immer Neue bei gleichzeitiger Erkennbarkeit der Compagnie über einen ihr zugewiesenen Stil, lässt Ästhetik in Ur-Ethik umschlagen. Zwar werden vermögende Körper aktiv an der Herstellung des Stücks beteiligt, gleichzeitig aber wird ihnen eine funktionale Einheit unterstellt, weil der Choreograph den Impulsen, die von seinen Tänzern kommen, keinen Eigensinn als ihren eigenen Sinn lässt. Bei der Generierung von Material geht es nicht um die Frage, welche Formen und Qualitäten ihm, unabhängig von einem bereits vorausgesetzten Stil, innewohnen. Die energeia der Compagnie wird nicht als etwas verstanden, dessen ästhetische Form wirklich offen wäre. „Each individual’s body is unique and singly formed. Yet each plays a functionally interdependent role in the changing whole. The choreographer set up the problem to discover the next step and now finds herself with the better part of the dance she sought. The dancers have gone not only beyond the problem but beyond the decision making process that generates (individual) problems. The dancers have embodied the choreographer’s aspiration and transformed her vision into a collective body. That body can express, develop, and retain things that the choreographer can never explain and perhaps not imagine, yet her assent to the pro-
14 Ebd., S. 98.
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cess is immediate. It is not amplyfying each individual expression within the logic of independence that a whole is constructed and reproduced.“15
Der Choreograph vereinnahmt die ‚lebendige Arbeit‘ seiner Tänzer und wird seinerseits von den Anforderungen eines anonymen Publikums gelenkt.16 Das Modell der Compagnie ist dergestalt die Miniatur eines ur-ethischen Lebens, in welchem auch die individuellen Biographien, Geschichten und das Körpergedächtnis der Tänzer verwertet werden: „In the interests of uniqueness, the choreographer must draw from those histories as well as break from them. She must create an inside to the rehearsal to which the rest of the world is an outside, while drawing from the riches of that world.“17 Während die Tänzer dazu aufgefordert sind, Material zu generieren, wissen sie nichts über dessen letztlichen Kontext im fertigen Stück. Ebenso wenig ist ihnen klar, inwieweit die Formen, die sie beisteuern, am Ende überhaupt verwertet werden. Sie sind Zulieferer eines ihnen nicht näher bekannten Unternehmens. Insofern gibt es in biopolitischen Verfahrensweisen keine Vermittlungsbasis zwischen dem Choreographen und seinen Tänzern, auf der sie – wie Siegmund die Notwendigkeit ihres Widerstands einfordert – mit dem Gesetz der Choreographie in Verbindung und in Abstand zu ihm treten könnten. Vielmehr entwickelt sich eine kalkulierte Einheit gerade zwischen Autorität und Kollektivität, indem die Intervalle zwischen den Körpern und deren gegenseitige Affektionen vereinnahmt werden, während die Tänzer selbst nicht wissen, wo die sie verbindende choreographische Form zu lokalisieren wäre und wie sie beschaffen ist. Wichtiger Bestandteil früher Arbeitsphasen ist es, Bewegungsphrasen, die ein anderer entwickelt hat, aufzugreifen, weiterzuentwickeln und wieder in den Kreislauf zurückzugeben. Überall im Studio finden solche einem Kalkül folgenden Übertragungen statt. Martin spricht von einem „mirror lying in ruin“18, um zu unterstreichen, dass es dabei nicht um eindeutig ausgerichtete mimetische Prozesse geht, in denen als solche wiedererkennbare Modelle nachgeahmt würden, sondern dass im Verborgenen bleibt, wer wen choreographiert, obwohl es immer der Choreograph ist, der eingreift, wenn es um die Selektion und Kombination des gewonnen Materials geht. Obschon er keine fixe Form im Vorhinein festlegt, sondern sie der dyna15 Ebd., S. 118. 16 Patricia Ticineto Clough weist darauf hin, dass Foucaults Überlegungen zur Biopolitik mit Marx’ Idee der realen Subsumption sehr verwandt sind, „where capital shifts its domain of accumulation to life itself, to preindividual bodily capacities, so that value is produced through modulating affect.“ – Patricia Ticineto Clough/Jean Halley (Hrsg.), The Affective Turn – Theorizing the Social, Durham&London: Duke University Press, 2007, S. 20. 17 Martin, Performance as Political Act, S. 98. 18 Ebd., S.99.
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mis der Körper anpasst, reguliert er einen nie wirklich offenen Spielraum, weil zu jedem Zeitpunkt feststeht, was mit seinem Stil kompatibel ist und was nicht und welche körperlichen Potentiale in ihm möglich sind, weil sie technisch integriert werden können. Zu jedem Zeitpunkt wissen die Tänzer, auch wenn er sie gerade nicht direkt beobachtet, weil er einer anderen Gruppe zugewandt ist, dass er derjenige sein wird, der schließlich entscheidet, welches Material im Stück bleibt und welches ‚rausfliegt‘. Die Form der Choreographie ist so der Tätigkeit des Tanzens zwar nicht mehr äußerlich, weil sie sich ihr anschmiegt, ihre Aufgabe ist es aber, mögliche Verbindungen herzustellen zwischen Bewegungen und Gruppierungen vorzunehmen zwischen Körpern, all das zu zählen und auszurichten am Maß eines kohärenten Bewegungsflusses. Während die Tänzer ‚drinnen‘ sind, wacht der Choreograph über die Grenze selbst zwischen dem ‚Innen‘ und dem ‚Außen‘ des Produktionsprozesses und entscheidet über dessen energeia. Diesbezüglich beschreibt Martin das zu einem späteren Zeitpunkt in die Proben gebrachte Metrum als Zeitmaß tänzerischer Tätigkeit. Im Gegensatz zur traditionellen Choreographie geht den Schritten der Tänzer deren Zählung nicht mehr voraus, sondern passt sich ihnen flexibel an. Schon nach der zweiten Woche wird das Metrum in den Probenprozess integriert und dient dem in Entstehung begriffenen Stück als Strukturelement, indem es verschiedene Bewegungsqualitäten miteinander verkittet. „These new acts of production occur on the terms and terrain of the piece itself. The counts represented the means of authority to take the dancers’ corporeal temporality and redefine it as an external metric. By subordinating all individual movement to a common metric, this initial authority renders all dancers dependent on a count system that belongs to none. It could thereby provide a basis for a totality that is beyond and yet belongs to all.“19
Wichtiger noch als die Metrik ist das allen gemeinsame Bewegungsvokabular. Obwohl es sich bei ihm nicht um ein Repertoire an Körperhaltungen, Positionen und Raumwegen handelt, ist es doch ein Vokabular, weil mit dem Stil des Choreographen neben privilegierten Bewegungsqualitäten auch bestimmte Konzepte von Choreographie verbunden sind, die zwar davon abhängen, was die Tänzer aus ihnen machen, allerdings auch ein Raster über den Probenprozess legen, anhand dessen die Genese von Material beschrieben, evaluiert, selektiert und kombiniert – also dynamis in energeia übersetzt – wird. „Although the dancers move in different ways and make diverse phrases, there is a common understanding and perspective on movement. Hence, the technique in its reflexivity connects the diversity of movement and makes it readily apprehendable. Technique itself embodies
19 Ebd. S. 101.
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something of authority. Its demand for the execution of movement also yields a unifying perspective on that execution.“20
Anstatt bereits gegebene Figuren nachzuahmen, liegt es an den Tänzern, mögliche Figuren zu produzieren und sie durch Beobachtung ihrer selbst und der anderen weiterzuentwickeln. Deshalb visieren ihre Improvisationen die einheitliche Form eines widersprüchlichen Gebäudes an, dessen Fundament steht, bevor sie die Baupläne zu ihm gestalten sollen. Sie bewegen sich innerhalb einer Form, die ihnen unbekannt ist und sind daran gehindert, ein verstehendes Verhältnis zu ihr aufzunehmen. Sie sind vollständig abgeschnitten von der ästhetischen Erfahrung dessen, was sie selbst hervorbringen und haben keine Möglichkeit, die Erzeugnisse ihrer Tätigkeit anders denn als pures Rohmaterial für etwas anderes, auf das sie selbst keinen Einfluss haben, zu betrachten, eine „formal unity to its object that takes for granted its internal relations of production.“ 21 Nachdem das Rohmaterial akkumuliert und in distinkte Phrasen unterteilt wurde, beginnt der nächste Produktionsschritt. Nun geht es darum, den unterschiedlich zusammengesetzten Sequenzen im Nachhinein spezifische Qualitäten zu attribuieren. Diese Qualitäten, welche das fertige Stück auszeichnen sollen, werden nicht aus dem heraus entwickelt, was einige Wochen lang, unabhängig davon, von der lebendigen Tätigkeit tanzender Körper generiert wurde. Ein neues Medium kommt hinzu: Sprache. Während das gesprochene Wort bei der Erzeugung von Rohmaterial sekundär war, wird es jetzt primäres Mittel, um zu bestimmen, in welche Richtung einzelne Phrasen gehen und welche Verbindungen sie mit anderen eingehen sollen. Sprache, welche hier getrennt ist von dem, worüber sie spricht, hat allein den Zweck, die Differenzen zwischen den Tänzern, mit denen der Choreograph bisher einzeln oder in Gruppen gearbeitet hat, miteinander kompatibel zu machen und sie in die organische Einheit des entstehenden Stücks einzufügen. Sie übernimmt nicht nur eine deskriptive, sondern auch eine regulative Funktion: „By regulating difference, words arbiter the means through which dancers attain synchrony. Yet the movement itself is not a difference. It is an unnamed sum, the concentration of a myriad of kinetic possibilities into a single response.“22 Martin zufolge rahmt Sprache zwar retrospektiv die Tätigkeit der Körper, wird aber nicht selbst konstitutiv an ihr beteiligt. Gesinnt sie sich einem Bewegungskontinuum, das aus sich selbst heraus – entlang den Anforderungen eines Stils und einer flexiblen Technik – operiert, nur von außen hinzu, hat sie rein gar nichts mit dem selbsteigenen Vermögen von Körpern zu tun: Im nächsten Kapitel soll deshalb mithilfe Spinozas Philosophie gezeigt werden, inwiefern das Gegenteil der Fall sein 20 Ebd., S. 102 f. 21 Ders., Critical Moves, S. 154. 22 Ders., Performance as Political Act, S. 108.
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müsste, wenn deren offene Praxis virulent würde und es darum ginge, Körper und Sprache als miteinander verzahnt zu verstehen innerhalb ihrer gegenseitigen Immanenz. Wenn Sprache dagegen die Übersetzung von dynamis in energeia nur indirekt reguliert, ohne direkt an ihr zu partizipieren, kann sie nicht dazu beitragen, das Choreographische zu gestalten, indem sie den egalitären Gemeinsinn der Körper ins Spiel bringt, sondern ist Instrument ihrer biopolitischer Kontrolle. „As independend as the dancers are in the nuts-and-bolts of creating and refining movement, they are still children of the choreographer’s conception. While they have expanded their task of execution to include conception, they do not direct that process. It is only through the completion of the dance that the dancers’ social totality and the dance’s structural one will be united and the performance of intent can be expressed demand.“23
Die Sprache der Tänzer bringt nichts hervor, sondern bezieht das Rohmaterial, das zuvor generiert wurde, auf das vorgestellte Ganze eines noch nicht fertigen Stücks, das nur der Choreograph vor seinem inneren Auge aufkommen sieht. Was darin aufgeht, wird aufgenommen, alles andere nicht: „The choreographer only names the movement’s effects (sympathetic) when it exists as a structural whole, when it has assumed some nascend identity for itself as movement.“24 Entgegen des Pastorats würden ästhetische Probleme von Anfang an ihre immer strittige Explikation durch eine gemeinsam geteilte Praxis der Körper erfordern.25 Dies hätte Konsequenzen in mehrerlei Hinsicht: Zunächst könnte nicht mehr einfach Bewegungsmaterial akkumuliert werden. Insofern erfordert der ästhetische Körper neue Konzepte, die er, nach Schillers und Kants Schönem, selbst hervorbringt, wenn er sich belebt fühlt durch ein offenes Spiel seiner selbsteigenen Vermögen. Biopolitische Produktionsverhältnisse von Choreographie hingegen beziehen Körper auf ihre Kompatibilität mit ihnen äußerlichen Stilen und Techniken. Zwar wird die Verbindung zwischen ihnen dann nicht als fixe Form gedacht, dennoch setzt sie eine bereits gegebene Einheit voraus und resultiert nicht aus ihren Tätigkeitsformen. Improvisierte Bewegung ist alles andere als ‚frei‘, sondern etabliert das Verhältnis zwischen Choreograph und Tänzern als eines, das Foucault im Kontext des Pastorats als die Beziehung zwischen Hirten und Schafen schildert. Insofern ist die Weide, zu der hin die Herde gelenkt werden muss, der letztliche Blick des Publikums auf den Prozess als Produkt. 23 Ebd., S. 116. 24 Ebd., S. 109. 25 Vgl. hierzu Cveji, Choreographing Problems. Obwohl Cveji Kant insgesamt abwertet, steht sie m.E. dessen Dritter Kritik nah. Vornehmlich anhand von Deleuzes Methode der Dramatisierung konzentriert sie sich eher auf die transzendentalen Ideen aus seiner Kritik der reinen Vernunft und liest sie gefiltert durch Deleuzes Differenz und Wiederholung.
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„In effect, the movement is technique. Legibility is achieved through a highly technical process, picking. The assumption is that when the movement is made coherent enough by unifying its form it will be read by the audience. These instructions appear tautological because they address only what is named in the choreographic process. On face value it appears that meaning in movement is attained through technique.“26
Dementgegen setzt Ästhetik weder Stil und noch Technik voraus, sondern bringt die Verbindungen zwischen den gleich verteilten Vermögen der Körper in ein nicht nach feststehenden Regeln regulierbares Spiel. Technik ist dann nichts ihnen äußerliches, sondern entwickelt sich prozesshaft zwischen ihnen.27 Sie ist ihren Tätigkeitsformen inhärent und wird nicht von außen an sie herangetragen. So lässt sich zusammenfassend über das biopolitische Kalkül sagen, was Martin zum Verhältnis zwischen Improvisation und Technik anmerkt. „Improvisation does not deconstruct but rather re-forms totality as it articulates its own interior landscapes through a sentience of the whole. Technical processes move towards a kinetic whole through the subordination of conscious reflexivities (learning steps, counting, and external authority) to their sentient expression. Both then are totalizing physical processes achieved through different means. At the same time the technical and improvisational produce different totalities: the former is a reflexive structure based upon synchronicity and replication of movement, and the latter is a vital structure permeated by a kinetic predicament […].“28
Mark Franko spricht von einer „universal subjectivity“29, die solche Verfahrensweisen reguliert. Sie ist Ergebnis eines Kalküls, welches die dynamis der Körper selbst funktionalisiert, indem sie deren energeia stilistisch steuert, um sich ihre Produkte anzueignen. Insofern ist das biopolitische Kalkül (1.) dem choreographischen Vereinnahmungsapparat Lepeckis nah, dessen Operationsweise Deleuze und Guattari als „magische Vereinnahmung“30 beschreiben, weil er „immer als schon geschehen
26 Martin, Performance as Political Act, S. 113. 27 Erin Manning schlägt in diesem Kontext alternativ den Begriff der technogenesis vor: „Technogenesis – ontogenesis of the bio-technological not as a technical additive to the biological but as an emphasis on originary technicity suggests a working vocabulary. Here, the body is posited not as a stable category but as a creative vector of experimental space-time.“ – Erin Manning, Relationscapes – Movement, Art, Philosophy, Cambridge: MIT Press, 2009, S. 66. 28 Martin, Performance as Political Act, S. 115. 29 Franko, Dancing Modernism/Performing Politics, S. xi. 30 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 591.
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und sich selbst voraussetzend“31 erscheint und verweist (2.) auf Rancières urethischen Umschlag der Ästhetik. Martin stellt lakonisch fest: „The difference between the experience the choreographer conceives and the audience consumes, and the one that the dancers perform, can best be communicated by tracing the dancers’ journey through the work.“32 Um diesen Widerspruch zu entschlüsseln, sollen jetzt zwei Vertreter der sogenannten Tanzmoderne zu Wort kommen. Anhand Rudolf von Labans Die Welt des Tänzers und Doris Humphreys Die Kunst, Tänze zu machen zeigt sich, warum Biopolitik als Produktionsverhältnis bis in unsere jüngsten Tage nachwirkt.
7.1 Z WEI U R -E THIKEN : B IOPOLITISCHE K ALKÜLE BEI R UDOLF VON L ABAN UND D ORIS H UMPHREY „Welcher Schatz zu heben ist aus dem Meer der sich ewig neu erzeugenden Formen, wo der Urquell des Lebens, die Bewegung, nicht mehr symbolisiert wird, sondern eurhythmisch lebt und sich selbst darstellt, das kann erst die Zukunft zeigen, wir können es nur ahnen. Der erste Schritt des Wiedererwachens ist getan, die Schicksalswende unserer Rasse, die seit Jahrtausenden ihre Glieder streckt, ist dieses Wiedererwachen. Der Tanz hat seinen Teil daran. Der Tänzer ist Pionier dieses neuen Morgens der Kultur. Wenn wir das ewige und höchste Symbol des Lebenswillens, die Bewegung, tänzerisch erfasst haben, dann haben wir das Leiden und den Streit zwischen Wollen, Gefühl und Verstand überwunden.“
33
RUDOLF VON LABAN/DIE WELT DES TÄNZERS „Viele moderne Tänze der Anfangszeit sind ein Beispiel für diese neue Einstellung zur Choreographie [...]. Hier dominierte das Ensemble. Es gab wohl eine zentrale Figur, aber die weitaus stärksten
31 Ebd, ebd. 32 Martin, Performance as Political Act, S. 124. 33 Rudolf von Laban, Die Welt des Tänzers – Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Verlag Walter Seifert, 1920, S. 127 f.
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und bedeutungsvollsten Bewegungen waren der Gruppe übertragen – ihre kollektive Kraft war es, die dem Tanz Ausdruck verlieh.“
34
DORIS HUMPHREY/DIE KUNST, TÄNZE ZU MACHEN
Anhand Rudolf von Labans Die Welt des Tänzers (1920) und Doris Humphreys Die Kunst, Tänze zu machen (1958) lässt sich exemplarisch demonstrieren, inwiefern eine ‚moderne‘ Entwicklung des ästhetischen Knotens in Ur-Ethik hinein das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit erneut verschließt, wenn sich entsprechende Praktiken mit neuen Lebensformen identifizieren. Obwohl es im Rahmen der sogenannten Tanzmoderne auch zum Erstarken des Solos als eines neuen Bühnenformats kommt, beschränken sich die folgenden Überlegungen auf Implikationen aus Labans und Humphreys Theorien für das Arbeiten zu mehreren und Gruppenstücke sowie deren Steuerung durch ein biopolitisches Kalkül. Zwar lehnen beide, darin der überwiegenden Mehrheit ihrer Kollegen und Zeitgenossen verwandt, ein poetisch geprägtes Verständnis von téchne ab und suchen nach dem ‚natürlichen‘ Ausdrucksvermögen von Körpern, funktionalisieren sie aber dennoch anhand spezifischer Stile. Deshalb subsumieren sie ihr generisches Vermögen anpassungsfähigen und flexiblen Techniken, welche zwar ihre formgebende Tätigkeit noch fördern, anstatt sie im Vorhinein einzuschränken, das aber immer nur innerhalb eines Spektrums nur möglicher Tätigkeitsformen, in dem die Grenze zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie wieder gezogen und Tanz als bestimmte Bewegungsform festgelegt ist. Die dynamis der Körper muss vollends in einer bestimmten energeia aufgehen; ihre Potentiale werden also restlos in stilistisch und technisch geregelte Akte verwandelt. In der Art, wie genau Laban und Humphrey jeweils die gesteuerte Übersetzung von dynamis in energeia denken, zeigt sich, dass die drei Regime Rancières nicht kategorial voneinander zu unterscheiden sind, sondern sich einzelne ihrer Tendenzen überlappen. Da Laban daran gelegen ist, ein einheitlich gedachtes Leben, das er mit einer überall überquellenden ‚Gebärdenkraft‘ der Natur identifiziert, direkt verkörpern zu wollen im Festtanz35, steht er der ethischen Logik und einer heteronomen Auflösung des ästhetischen Knotens etwas näher als Humphrey, die 34 Doris Humphrey, Die Kunst, Tänze zu machen, Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1999, S. 129. 35 „Die Tanzwissenschaft muß nun feststellen, was eine tänzerische Gebärde ist, und wie die Harmonie der Gebärdenfolgen auf den inneren Verwandtschaften ihrer Teile beruht. Es wird dadurch die Festkultur im allgemeinen und besonders die Tanzkunst neu belebt werden und wieder aufblühen“, schreibt er über die moderne Renaissance des antiken Festtanzes und das zentrale Anliegen seiner frühen Schriften zur Choreographie. – Laban, Die Welt des Tänzers, S. 65.
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sich in ihrem Traktat in erster Linie für den Kunsttanz36 ausspricht und eine indirekte Darstellung neuer Lebensformen fordert, womit sie teilweise entlang mancher Aspekte des poetischen/repräsentativen Regimes argumentiert. Trotzdem lassen sich sowohl Labans als auch Humphreys Theorien der Choreographie der Ur-Ethik zuordnen, weil sie ein biopolitisches Kalkül in den Vordergrund stellen. Beiden ist gemeinsam, dass sie Tanz im Medium stilistisch geregelter Bewegung von Körpern verorten, wobei Humphrey im Gegensatz zu Laban dazu tendiert, eine Autonomie der Tanzkunst zu fordern, sie also von anderen Praktiken abzuschotten. Dessen Überlegungen sind geradliniger. „Die Gebärdenkraft ist in allen, auch in den scheinbar ruhenden Dingen gebunden. Sie ist das Wesen der Dinge. Wir wissen nicht, was die Dinge, was wir sind. [...] Jede Zelle, jedes Atom hat Anteil an dem Wollen-Fühlen-Wissen der Gebärdenkraft; ja das Spiel der Atome und der allerkleinsten Teile, der Ionen und Elektronen, ist selbst – Gebärdenkraft. [...] Man kann zwar der Gebärdenkraft solche Wälle bauen, aber sie durchbricht dieselben mit elementarer Macht, zerreißt, zerstückelt sie zu Atomen, verbrennt sie. Die wesentliche Welt der Gebärdenkraft ist zerstörend, wenn man sich ihren Gesetzmäßigkeiten widersetzt.“37
Laban nimmt an, dass die tänzerische Verkörperung dieser überall wirksamen Gebärdenkraft „Verstandesarbeit, Gemütserregung und Körperbewegung“38 sowie deren „plastische Spannung“39 zueinander beinhaltet, also zwischen eigentlich antagonistischen Kräften im Menschen eine bewegte Einheit stiftet.40 Was bei Schiller und Kant noch als deren freies Spiel erscheint, ohne eine Form vorzugeben, wird für ihn zu einer idealen Form, an die sich das Kriterium der Perfektion anlegen lässt. Derart führt die Gebärde zur „Bejahung der Welt, die ohne Rätsel und ohne Zweifel das innere Gleichgewicht der Befriedigung gewährt, die man Vollerleben nennen kann.“41 36 Bezüglich des von ihr hauptsächlich behandelten Kunsttanzes stellt Humphrey gegen Ende ihres Buches fest: „Das Mindeste, was sich für ihn anführen lässt, ist, daß er ein Kind des 20. Jahrhunderts ist und sich aufrichtig darum bemüht, unsere Zeit, unsere innere Einstellung, unsere Träume widerzuspiegeln.“ – Humphrey, Die Kunst, Tänze zu machen, S. 255. 37 Laban, Die Welt des Tänzers, S. 77 ff. 38 Ebd., S. 20. 39 Ebd., S. 28. 40 Laban unterscheidet zwischen Verstandes- und Gemütserkenntnissen, die er begrifflichem Denken einerseits und sinnlichem Erfassen andererseits zuordnet. Körperbewegung, welche die ‚Gebärdenkraft‘ der Natur angemessen ausdrückt, vereint die anderen beiden Erkenntnisarten. Ihr wohnt „plastische Erkenntnis“ inne. – Vgl. ebd., ebd. 41 Ebd., ebd.
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Sabine Huschka merkt hierzu an: „Der Tanz stellt für Laban demnach eine organisch gewachsene Kunst dar, in welcher der antagonistische Funktionalismus der Körperbewegung auf die Ebene kristalliner Ordnung transformiert ist.“42 Interessanterweise bedient er sich wie Kant in seiner Dritten Kritik des Kristallmotivs, um zu beweisen, dass es einen universalen Zusammenhang zwischen Vorgängen auf der Ebene der anorganischen Materie einerseits und im Bereich des organischen Lebens von Pflanzen und Tieren bis hin zum Tanz des Menschen andererseits gibt. Allerdings richtet er sein Augenmerk weniger auf die Entstehung und Herausbildung unvorhersehbarer Formen, fasst Kristallisierung also nicht metaphorisch als das genaue Gegenteil mechanischer Vorgänge, also als Vermögen der Materie, sich unabhängig von ihr vorausliegenden Formen selbst zu organisieren auf, sondern versteht das Motiv des Kristalls wortwörtlich im Sinne einer geometrischen Form und als ideales Maß, an denen sich die Tätigkeit tanzender Körper zu orientieren hat. Dies tut er unter teleologischen Gesichtspunkten, indem er voraussetzt, dass eine anonyme Gebärdenkraft zwar bereits auf atomaren und molekularen Stufen wirkt, aber bereits dort auf ihren Ausdruck in den harmonischen Proportionen des menschlichen Körpers und dessen Bewegungsgesetze hinzielt. Diese Bewegungsgesetze setzen sich nicht anhand von Vorschriften durch, sondern müssen nur richtig erkannt werden von tanzenden Körpern, wenn sie ihre dynamis in energeia übersetzen: „Nicht Regeln, sondern Einsichten werden dem Verstand, dem Gefühl und dem Wollen geboten und anerzogen.“43 Insofern naturalisiert Laban sein Verständnis von Technik. Technik erscheint bei ihm, im Gegensatz zu den traditionellen Poetiken des Tanzes, nicht mehr bezüglich eines Regelwerks, an dem sich Körper auszurichten haben, um ihrem Naturzustand zu entfliehen und eine gesellschaftliche Form anzunehmen (Arbeau) oder als bestimmtes Repertoire an Körperhaltungen, Raumwegen und Schrittfolgen, das eine souveräne Ordnung der Dinge repräsentiert (Feuillet), sondern als das durch ein biopolitisches Kalkül gesteuerte Spektrum selbst, innerhalb dessen eine ur-ethische Anordnung von Körpern die Gebärdenkraft der Natur unmittelbar auszudrückt. Huschka vermutet, hierin verfolge Laban eine breiter angelegte Strategie: „Laban begriff sehr schnell, dass ein moderner Bühnentanz gegenüber der übermächtigen Tradition des Balletts nur Bestand haben könne, wenn er eigene Bewegungstechniken, Lehrmethoden und choreographische Systematiken entwickelte. Der zu ‚erobernde‘ Ausdruck im Tanz sollte daher in einem vermittelbaren Formenkanon münden, der im doppelten Sinn die Kommunizierbarkeit der Bewegung garantierte: Die Gebärde kommunizierte in der Eigen-
42 Sabine Huschka, Moderner Tanz – Konzepte, Stile, Utopien, Hamburg: Reinbek, 2002, S. 177. 43 Laban, Die Welt des Tänzers, S. 122.
302 | V ERMÖGENDE K ÖRPER schaft einer ‚universellen Sprache‘ das seelisch menschliche Moment und wird gleichzeitig mit einer eigens kommunizierbaren und lehrbaren Kodifizierung belegt.“44
Auf den Überlegungen, die er zu Kristallisierungsprozessen anstellt, beruhen sowohl Labans Raumharmonielehre als auch sein an die geometrische Figur des Ikasoeders angelehntes Modell des Tänzerkörpers, der den Mittelpunkt seiner Theorie bildet.45 Im Gegensatz zu Noverre ist Leben für Laban keine unausschöpfbare Quelle nie vorhersehbarer Tätigkeitsformen und nicht der gegenüber beliebigen sujets geöffnete Rahmen der choreographischen Leinwand, sondern eine vitalistische Kraft, die sich überall in Gebärden äußert und in kristalliner Form durch den Tanz hindurch spricht. Insofern setzt er eine eindeutige Korrespondenz zwischen natürlichen und künstlerischen Formen voraus. „Eine weitere merkwürdige Entdeckung ist, dass Formbildung, Wachstum und Bewegung aller Naturdinge vom Kristall über die Pflanze bis zum Tier denselben Raumspannungsgesetzen unterworfen sind, die der Mensch in seiner harmonischen Körperbewegung gebraucht. Die moderne Kristallographie hat diese Formbeobachtung des Tänzers als richtig nachgewie-
44 Huschka, Moderner Tanz, S. 166 ff. Sie betont ebenfalls, dass sich Laban dabei Elementen der Formsprache des Balletts bedient, jenes also nicht, wie manche seiner Zeitgenossen, ablehnt: „Die bewegungstechnisch wie räumlich streng kodifizierte Systematik des Balletts und seine seit dem 18. Jahrhundert verfeinerten Notationsschriften nutzt Laban als konzeptionelle Folie für die Ausarbeitung seiner eigenen Choreographieordnung.“ – Ebd., S. 170 f. 45 Diesen Aspekt gilt es zu unterstreichen. Laban stellt den individuellen Tänzerkörper und dessen Kinesphäre in den Mittelpunkt und nicht, wie es etwa in der Beauchamp-FeuilletNotation geschieht, den Raum, in dem sich tanzende Körper befinden: „Obwohl der Körper real in einen geometrischen Raum eintritt und die Bewegungen seiner Glieder auf die äußeren Eckpunkte des Modells gelenkt sind, gehorchen weder die Wege noch die Körperformen streng geometrisierten Formen, weswegen die geometrisch abgezirkelten Bewegungsrichtungen nicht zum Diktat des Körperschemas werden. Das geometrische Raummodell nimmt den Körper als ganze Gestalt zum Mittelpunkt, präziser eigentlich die Mitte des Körpers selbst. Somit wird der Körper zum Strukturmaß der Bewegungen, denn alle Bewegungsbahnen und Richtungsweisungen bleiben orientiert am Körperzentrum.“ – Ebd., S. 176. Auch an Labans Vorstellung des Raums lässt sich deutlich machen, dass souveräne und biopolitische Formen von Choreographie grundlegend voneinander unterschieden sind, weil die dynamis der Körper in erster keine Rolle spielt, während sie in letzter dazu angehalten sind, jene in ein stilistisch und technisch reguliertes Möglichkeitsspektrum hinein zu übersetzen, ihre energeia hier also nicht vorgeschrieben, aber anhand bestimmter Kalküle gesteuert wird.
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sen. Sie erklärt, daß der Aufbau der Kristallformen nach den gleichen Grundregeln geschieht, wie der Aufbau künstlerischer Harmonien in Tanzkunst, Musik, Sprechen und Denken.“ 46
Nicht alles kann sprechen und expressiv sein für ihn, sondern nur Tätigkeiten, die den universal gefassten ‚Gebärden‘ der Natur entsprechen. In seiner Ur-Ethik gibt es kein heautonomes Sensorium der Ästhetik im Sinne Rancières, weil er zwischen den Formen der Kunst und den Formen, in denen sich das Leben selbst direkt ausdrückt, keinen Unterschied macht. Indem er die Kristallform zur idealen Form und zur „Normalidee“47 erhebt und in einer für alle Körper gültigen Natur verankert, schränkt Laban ihr Ausdruckspotential erneut auf ein Modell ein und etabliert ein hylemorphisches Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit. Insofern schreibt sein Ikasoeder zwar nicht mehr einen Katalog von Körperhaltungen, Raumwegen und Schrittfolgen vor, begründet also keine Poetik des Tanzes, wohl aber eine flexible téchne und einen Stil, welche ein bestimmtes Möglichkeitsspektrum über die Tätigkeitsformen der Körper legen. Was Körper demzufolge ausdrücken können, ist ein kristallines Leben, dessen Gebärden nicht unbestimmt sind oder sich zuallererst auf dem Weg zur Form hin befinden würden, sondern die anhand vermeintlich ‚natürlicher‘ Mechanismen reguliert, selektiert und kombiniert werden. Laban unternimmt eine biopolitische Anordnung von Körpern, deren organische Relationen zueinander denen zwischen Atomen und Molekülen im Kosmos insgesamt entsprechen sollen. „Die weittragende Bedeutung der Erforschung des menschlichen Bewegungsausdrucks liegt nicht nur in der künstlerischen Neugestaltung des Bühnentanzes, sondern in der Tatsache, daß das geläuterte Abbild der Bewegungsgesetze, der Reigen, aus Gebärden besteht, die unser Erleben, Sein und Mitteilen bestimmen. Tanz und Tanzwissenschaft, die Wiedererweckung des plastischen Sinnes, die Ausgestaltung einer einheitlichen Welterkenntnis und damit die Klärung so mancher brennender Fragen des öffentlichen Lebens, sind innig verknüpft. [...] Die ordnende Gesetzlichkeit der Gebärde, des einzigen Ausdrucks- und Wahrnehmungsmittels des Menschen, offenbart sich nicht nur im rechnerischen Nachweis über den Zusammenschluß kleinerer Einheiten, die zueinander in bestimmten Maßverhältnissen stehen, zu größeren Einheiten, und auch nicht nur in der Tatsache, daß sich diese Maßgesetzlichkeit nach oben und unten bis ins Unendliche fortsetzt.“48
Er setzt nicht nur tänzerische Tätigkeit im Allgemeinen mit Körpern in Aktion bzw. Körper in Aktion mit Körpern in Bewegung gleich und ist sich sicher, dass sich in jener die plastischen Spannungen der Natur ausdrücken würden, er nimmt auch an, 46 Laban, Die Welt des Tänzers, S. 32. 47 Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 72. 48 Laban, Die Welt des Tänzers, S. 62 f.
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dass solcherart bewegte Körper eine Harmonie zwischen ihrer natürlichen und ihrer gesellschaftlichen Ordnung widerspiegeln, wenn sie allein durch Einsicht erkennen, dass es eine universale Gebärdenkraft gibt, welche den ganzen Kosmos durchwaltet und durch alle Stufen hindurch darauf gerichtet ist, eine ur-ethische Aufteilung des Sinnlichen mit der Gemeinschaft der kleinen Partikel unten wie der großen Sterne oben zu versöhnen. Hierin liegt, obwohl er selbst viele Kunsttänze choreographiert hat, seine letztliche Privilegierung des Reigens begründet und hierher rührt wohl auch die Tatsache, dass er lange zu verstehen gebraucht hat, für wen er Festtänze schuf, als er noch 1936 an der Vorbereitung der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele im Dritten Reich beteiligt ist, bevor er ein Jahr später vor den Nationalsozialisten fliehen und sich zunächst in Manchester niederlassen wird.49 Abbildung 15: Rudolf von Laban mit Tanzklasse
Gemeinfrei. Wikipedia.
Bewegung ist für Laban stets rhythmisch strukturiert. Im Rhythmus zeigt sich die Kraft eines vitalistisch verstandenen Lebens, das über alle Stufen hinweg und bis hinauf zum tanzenden Körper und zur getanzten Gemeinschaft regelrecht pulsiert und deshalb, wie er annimmt, nicht mehr symbolisiert, sondern eurhythmisch erlebt werden soll. Hier treffen Lepeckis Beobachtungen ins Schwarze, wenn er das Motto der Moderne als Sein-zur-Bewegung fasst und konstatiert, gerade im 20. Jahr49 „Als Rudolf von Laban am 1. Mai 1936 die Leitung der neu eingerichteten ‚Deutschen Meisterwerkstätten für Tanz‘ übernahm, standen für ihn drei Pläne im Vordergrund: Die Durchführung der Chortanzwoche des ‚Reichsbundes für Gemeinschaftstanz‘, die Organisation der Internationalen Tanzwettspiele im Rahmen der Olympiade und die Einweihung der Dietrich-Eckart-Bühne auf dem Olympia-Gelände in der Nacht vor der Eröffnung der Olympischen Spiele.“ – Hedwig Müller/Patricia Stöckemann, Jeder Mensch ist ein Tänzer, Gießen: Anabas, 1993, S. 164.
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hundert würde sich ein Bewegungskontinuum etablieren, in dem es keine Differenz mehr zwischen Schreiben, Tanzen und Signifizieren gibt. Laban nimmt an diesem Paradigmenwechsel aktiv teil, wenn er die Gebärdenkraft der Natur ebenso wie eine universale Subjektivität der Körper im Rhythmus verankert. „Das rhythmische, ordnende Element der Gebärdenkraft spiegelt sich in der ganzen Natur und so auch in jeder menschlichen Handlung und Tätigkeit. Was ist Rhythmus? Unverständlich dem menschlichen Denken, unsichtbar dem menschlichen Auge, undefinierbar im Gefühl, ist er nur der treibenden Kraft, dem Tänzerischen im Menschen erkennbar und bewußt. Rhythmus, Bewegung, Reigenordnunng ist die erkennbare Eigenschaft jener Kraft, die Welt und Menschen schuf. Rhythmus ist das gesetzlose Gesetz, das über uns waltet und dem wir restlos unterworfen sind.“50
In seinen Traktaten zum Tanz will er nicht nur künstlerische Praktiken vollständig in Praktiken des Alltags aufheben, sondern auch die Sphären von Arbeit, Freizeit und Fest im Reigen miteinander vereinen. Zwar fasst er Choreographie nicht mehr als Vor-Schrift auf, sondern lässt den Körpern bis zu einem gewissen Grad ihren Eigensinn, jedoch fordert er die Regulierung ihrer Tätigkeit anhand eines dem Ikosaeder entlehnten Modells, einem, wie Huschka bemerkt, „20-seitigen, durch zwölf Eckpunkte definierten Raummodell, welches sich durch die über die jeweiligen vier Eckpunkte der drei Raumebenen [...] verbundenen Flächen gestaltet [...]“51. Somit werden die Tätigkeitsformen der Körper bei Laban zwar nicht vorgeschrieben, die Übersetzung ihrer dynamis in energeia hinein wird jedoch entlang eines durch den Ikosaeder bedingten Möglichkeitsspektrums gesteuert. In ihm ist das Medium, in welchem sich vermögende Körper ausdrücken können, fest umrissen: Rhythmisch gestaltete Bewegung. Auf sie zielt das biopolitische Kalkül Labans ab, und sie ist der Grund, warum er als einer der großen Hirtenchoreographen der Moderne gelten kann. Über die ihm zufolge darstellbaren sujets lässt sich sagen, dass er zwar keine Vorgaben bezüglich der Frage macht, was dargestellt werden darf, dafür aber umso strenger hinsichtlich des Problems ist, wie die Dinge dargestellt werden sollen. Überhaupt geht es, was sein Nachdenken über die Festtänze betrifft, nicht um Darstellung, sondern um die unmittelbare Verkörperung einer ur-ethischen Gemeinschaft. Obwohl er nicht scharf zwischen Reigen und Kunsttanz trennt, macht er klar, dass die choreographische Form, nach der er sucht, wortwörtlich kristallin sein soll und sich in ihr die Verstandes- und Gemütskräfte des Tanzenden in einem homogenen Bewegungsakt zu vereinen haben. Interessanterweise wird er später, während seiner Zeit in England und nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, aktiv an den Untersuchungen zur Effizienzsteige50 Laban, Die Welt des Tänzers, S. 128. 51 Huschka, Moderner Tanz, S. 174.
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rung der Fabrikarbeitszeit mitwirken, die zuvor von dem Ingenieur Frederick Winslow Taylor (1856–1915) und dem Autoindustriellen Henry Ford (1863–1947) initiiert worden waren, indem er seine Bewegungsanalysen und seine Überlegungen zur Etablierung des Festtanzes im gesellschaftlichen Leben für die Arbeit am Fließband fruchtbar macht: „Die Rolle des Rhythmus in jeder Art der Arbeit und Organisation ist bekannt. Die Notwendigkeit einer neuaufblühenden Festkultur, die dem Menschen neben Erholung und Zerstreuung auch Erhebung und Belehrung gibt, wird allseits betont.“52 Noch bevor er seine Gedanken zum Tanz auf die Nutzbarmachung menschlicher Arbeitskraft im Fordismus überträgt, führt ihn in seiner Schrift von 1920 eine biopolitische Auffassung des Körpers dazu, sich sogar eine zukünftige Gesellschaft vorzustellen, die mit ihrem Bewegungsfluss eins wird, in dem Freizeit und Arbeit sowie Ernst und Spiel nicht mehr voneinander differenzierbar sind. „Es müssen sich unter den geistigen Arbeitern Menschen, Tänzer, finden, die dem inneren Fest, der Erkenntnis von der freudespendenden Kraft des Lebens, die notwendige Beachtung schenken. Aus den vorhandenen Keimen einer Festkultur müssen die zum festlichen Empfinden erziehenden Maßnahmen herauskristallisiert und ohne Aufschub in der weitesten Öffentlichkeit verbreitet und angewandt werden.“53
Das Bestreben, dynamis als eine der Lebendigkeit menschlicher Körper inhärente Energie in bestimmte Formen der energeia zu transformieren, sie also dazu anzuhalten, ihr Vermögen in einen biopolitisch kalkulierten Zusammenhang zu investieren, teilt Laban nicht nur mit denen, die parallel zu ihm tätig sind, sondern auch mit vielen zeitgenössischen Choreographinnen und Choreographen. Trotz aller Differenzen zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des deutschen Ausdrucktanzes einerseits und den Strömungen des amerikanischen modern dance andererseits verbindet beide, dass in ihnen das Ausdruckspotential des Körpers energetisch gedacht wird und als Arbeitskraft in räumliche Bewegungen investiert werden muss, denn, wie Huschka feststellt, „[d]as ästhetische Augenmerk liegt auf einer Neuformulierung der Körperbewegung, die, analog zu dem die Moderne prägenden Begriff der Bewegung als energetische Kraft, zur eigentlichen ästhetischen Aktivität, ja zur Funktion der Tanzkunst wird.“54
Einer solcherart energetisch verfassten Tanzkunst widmet sich auch Doris Humphrey, obwohl sie Choreographie anders theoretisiert als Laban in seinen Schriften 52 Laban, Die Welt des Tänzers, S. 66. 53 Ebd., S. 120. 54 Huschka, Moderner Tanz, S. 201. Vgl. hierzu auch Franko, The Work of Dance.
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und Gesellschaftstänze nur am Rande erwähnt, während sie ihr Augenmerk hauptsächlich auf den Tanz als eine eigenständige Kunstgattung richtet, welche ihr zufolge erst im 20. Jahrhundert und speziell in den USA zur vollen Entfaltung gekommen sei. Wie Laban stellt sie als Hirtenchoreographin den individuellen Körper in den Mittelpunkt: „Ich habe stets die Ansicht vertreten, ein Schüler solle die Grundsätze der Bewegung verstehen lernen und dazu ermutigt werden, diese in seiner ganz persönlichen Weise zu erweitern oder auszuschmücken.“55 Anders als Laban liefert sie keine kosmologisch verankerte Begründung für Bewegung, ihm ähnlich konzeptualisiert sie sie jedoch als ein universales Medium und richtet ihre Bemühungen darauf, dessen Komponenten in einem allgemeingültigen System festzuhalten. Die Grundsätze der Bewegung zu verstehen heißt ihr zufolge, „in ‚Elementen‘ statt Schritten zu denken“56, anhand dementsprechender Kompositionstechniken zu verfahren und diese wie ein Handwerk anzuwenden. Konträr zu traditionellen Poetiken des Tanzes gibt Humphrey den Körpern aber keine Figuren vor, sondern setzt wie die Theorie Labans auf der Ebene ihrer Gestaltbarkeit überhaupt an, zielt also auf deren Vermögen selbst ab und auf die Frage, wie ihre zunächst unbestimmte dynamis in bestimmte Formen der energeia übertragbar ist. „Ich glaube, man kann den Einwand als ausgesprochen naiv zurückweisen, daß der Tanz von einer Kompositionstechnik nicht profitieren würde oder daß sie nicht lehrbar sei. Das liefe auf die Behauptung hinaus, daß intellektuelle Durchdringung und Analyse, obgleich wertvoll für jede andere Form menschlicher Aktivität, in der Tanzkomposition – einem Teilbereich der Kunstgattung Tanz – unnütz sind und keine Funktion haben.“57
Was demnach dargestellt werden kann, richtet sich nach seiner Übersetzbarkeit in anhand ihrer Kompositionstechnik arrangierte Bewegung. Wie mögliche sujets des Tanzes übersetzt werden können, hängt wiederum von ihrer Darstellbarkeit im Medium expressiver Bewegung ab.58 Zwar hat Humphrey nichts gegen den Einsatz 55 Humphrey, Die Kunst, Tänze zu machen, S. 19. Dabei fasst sie Bewegung als ebenso essentialistisch für den Tanz auf wie Laban und lehnt Anleihen etwa bei der bildenden Kunst strikt ab: „Ein Beispiel für Intellektualismus im Tanz ist die Imitation anderer Kunstgattungen, speziell der Malerei. Die Malerei hat mit ihren statischen Beziehungen grundlegend andere Wertmaßstäbe, die, auf einen Tanz übertragen, sich dort geradezu lähmend auswirken können.“ Ebd., S. 246. 56 Ebd., S. 62. 57 Ebd., S. 16. 58 Bojana Cveji bringt das fast allen ‚modernen‘ Choreographinnen und Choreographen gemeinsame Anliegen auf den Punkt: „Subjectivation of the body through movement and objectivation of movement through the body constitute the organic regime of dance, comparable to Deleuze’s identification of the sensorimotor scheme in classic cinema as
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von Wortsprache im modernen Tanz einzuwenden, jene soll jedoch sekundär bleiben gegenüber der Gestaltung bewegter Körper im Raum.59 Bewegung als ein primär energetischer Fluss, welcher ständig zwischen den beiden Polen von fall und recovery oszilliert, sich also das Eigengewicht des Körpers zunutze macht („[a]m äußersten Punkt der Balance gibt der Körper der Schwerkraft nach – fällt – und findet zu seiner Stabilität durch die Aktivierung einer muskulären Gegenkraft zurück“60), besteht aus vier Grundelementen: (1.) Design, (2.) Dynamik, (3.) Rhythmus und (4.) Motivation, die alle, wenn die Komposition gut ist, über eine abwechslungsreiche Serie von Phrasen hinweg durch kontrastive Spannungen in der Zeit zusammengehalten werden. Design hat räumliche ebenso wie zeitliche Aspekte, lässt sich in symmetrische und asymmetrische Kategorien unterteilen, die ihrerseits oppositionell oder sukzessiv verfasst sein können und meint letztlich die Gesamtgestalt und „statische Linie“61 einer choreographischen Körperanordnung. Indem Humphrey Bewegung zunächst (produktionsästhetisch) anhand ihres Designs analysiert, stellt sie eine Reihe von (rezeptionsästhetischen) Regeln für deren Wirkung auf den Betrachter fest. Symmetrische Arrangements vermitteln ein Gefühl von Stabilität, dienen also der recovery von Spannungen – im einzelnen Körper ebenso wie zwischen ihnen –, müssen aber sparsam eingesetzt werden, um nicht in Langweile zu münden. Asymmetrischen Arrangements hingegen, die „für den Tanz erkundet und erobert werden“62 sollen, haftet die Qualität des fall an. Sie strahlen einen instabilen Eindruck aus, dezentrieren den Körper und initiieren dessen dynamische Übergänge zwischen einzelnen Figuren. Des Weiteren können Asymmetrie und Symmetrie oppositionell oder sukzessiv verfasst sein und ihre Linien deshalb „entweder gegeneinander verlaufen wie bei einem rechten Winkel oder fließend wie bei einer Kurve.“63 organic, as they connect the body and movement in one organic whole, which in the former case is comprehended by inner (emotional) experience, and in the latter, by physical activity (task, action).“ – Dies., Choreographing Problems, S. 23. Vgl. hierzu auch meinen eigenen Aufsatz über den Unterschied zwischen extensiven und intensiven Konzepten von Bewegung: Stefan Hölscher, Zurück zur Bewegung: Diesmal intensiv..., in: Marie-Luise Angerer/Yvonne Hardt/Anna-Carolin Weber (Hrsg.), „Choreografie – Medien – Gender“, Berlin/Zürich: diaphanes, 2013. 59 „Im Tanz kann man nicht philosophieren. Diese Szene eignet sich für Worte, vielleicht für eine Kombination aus Wort und Bewegung. In manchen Fällen mag die Quintessenz eines Tanzes wohl Philosophisches andeuten, das wäre aber immer reine Interpretationssache.“ – Humphrey, Die Kunst, Tänze zu machen, S. 48. 60 Huschka, Moderner Tanz, S. 208. 61 Humphrey, Die Kunst, Tänze zu machen, S. 66. 62 Ebd., S. 71. 63 Ebd., S. 74.
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Abbildung 16: Doris Humphrey mit Tanzklasse
92nd Street Y Archives (New York).
Während gegeneinander gesetzte Linien „Energie“, „Kraft“, „Vitalität“ und „den Eindruck größtmöglicher Stärke“64 vermitteln, wohnen einem sukzessiven Design Milde und Sanftheit inne. Das choreographische Handwerk besteht nun darin, für das Publikum reizvolle und kontrastreiche Aufeinanderfolgen dieser Stellungen zu komponieren. Deren zeitliches Design besteht aus einzelnen Phrasen, die in ihrem Verlauf dem menschlichen Atemrhythmus anzupassen sind. „Wenn jemand einem Tanz zuschaut, dann möchte er instinktiv dessen Ordnung erfassen, und das Phrasenmuster ist eines der Dinge, die er zu erkennen vermag. Fehlt es, dann wird der Tanz für ihn schnell zu einem unübersichtlichen, irritierenden Bewegungswirrwarr. Als Zuschauer wird er unwillig, wenn man ihn um seinen eigenen ruhigen Atemrhythmus bringt.“65
Hier kommt die zweite Komponente tänzerischer Bewegung ins Spiel: Während Design deren visuelle Beschaffenheit und ihre qualitative Transformation zwischen
64 Ebd., ebd. 65 Ebd., S. 92.
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einzelnen Phrasen reguliert, legt Dynamik fest, wie genau sie jeweils innerhalb einer Phrase ausgeführt wird: „Für mich ist Dynamisches wie eine Skala, die von der sanften Geschmeidigkeit von Schlagsahne bis zur Schärfe eines Hammerschlags reicht“66, merkt Humphrey an. Während Design gewissermaßen die Substanz der Bewegung ist und ihre Gestalt ausmacht, handelt es sich bei der Dynamik um deren Attribute. Obwohl Humphrey ihr ein paar Seiten widmet, sie an einer Stelle sogar als das „Herzblut“67 des Tanzes bezeichnet und unzählige Adjektive gebraucht, um zu zeigen, dass auch sie vor allem kontrastreich sein muss, ist ihr das dritte Bewegungselement am wichtigsten. Wie Laban erhebt auch sie den Rhythmus zum zentralen Moment der Bewegung und stellt ihm gegenüber deren andere drei Komponenten hintenan: „Während Design frappiert, spricht Rhythmus uns im Innersten an; im Vergleich zu einem mitreißenden Rhythmus setzt das Dynamische nur subtile Schwingungen. [...] Rhythmus ist der große Ordner.“68 Design, Dynamik und Rhythmus wären jedoch undenkbar, würden sie nicht durch das vierte und letzte Element der Bewegung, Motivation, vereint. Motivation ist die Brücke zwischen dynamis und energeia, ein subjektives Moment und die Rahmung der Expressivität eines Körpers, die ihn an das bindet, was er tut. Sie verkittet seine Aktionen mit einer laut Lepecki kinästhetisch strukturierten Raumzeit. Motivierte Körper drücken aus, wodurch sie bewegt werden, indem sie ihre intensiven Zustände in extensive Bewegung investieren. Zwar bedient sich Humphrey zur Skizzierung der Motivation an Bewegungen des Alltags, welche ihr zufolge zunächst nicht choreographisch verfasst sind, und differenziert zwischen sozialen, funktionalen, rituellen und emotionalen Gesten, sie alle aber unterliegen einem geregelten Modus der Nachahmung. – Dass Humphrey in manchem der Logik des poetischen/repräsentativen Regimes nahe steht, liegt daran, dass Motivation für sie in entsprechende Bewegungsformen übersetzt werden muss hinsichtlich ihres Designs, ihrer Dynamik und ihres Rhythmus, um als tänzerische Komponente angesehen werden zu können. Ur-ethisch verfasst ist der Aufenthalt der Körper im Stil: Humphrey operiert innerhalb eines biopolitisch kalkulierten Möglichkeitsspektrums, das ihre Auffassung von Choreographie bildet und sie zur Hirtenchoreographin herdenförmig angeordneter Tänzerinnen und Tänzer macht. Über ihre pastorale Vorgehensweise im Studio und ihr ungleiches Verhältnis zum Tanzschüler schreibt sie: „Um ihn gleich ins tiefe Wasser zu werfen, gebe ich ihm eine Studie auf, die ich ‚Häppchen-Choreographie‘ nenne und in der alle vier Elemente gleichzeitig enthalten sein sollen. In einem einzigen Takt aus vier Vierteln möchte ich zunächst eine in Bewegung realisierte Motivation sehen mit min-
66 Ebd., S. 136. 67 Ebd., S. 143. 68 Ebd., S. 146 f.
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destens zwei Kontrasten in Design, in Dynamik, im Rhythmus.“69 Zwar gibt sie nicht direkt die Gestalt der Bewegung vor und überlässt es wie Laban den Tänzern, aktiv an der Generierung von Rohmaterial mitzuwirken. Indem sie jedoch einen bestimmten Stil vertritt, in dem die lebendige Tätigkeit der Körper technisch gesteuert wird, weil diese ihre subjektive Motivation anhand objektiver Mechanismen ausdrücken müssen, konfrontiert sie ihr expressives Potential mit einem Spektrum nur möglicher Tätigkeitsformen. Insofern trifft auf das von Humphrey implizierte Produktionsverhältnis zwischen Choreographen und Tänzern zu, was sie selbst kritisiert, nämlich dass die Tänzer, während sie Material generieren, selbst nicht wissen können, wozu und wie es später arrangiert werden wird, obwohl es ihrem generischen Vermögen und ihrer zunächst unbestimmten Lebendigkeit entspringt. „Früher schon hatte ich bemerkt, daß Tänzer, die bei mir Rat und Hilfe für das Komponieren von Tänzen suchten, überhaupt nichts darüber wußten, wie man ein komplettes Tanzwerk aufbaut. Sie besaßen wohl eine gute Technik, erinnerten aber eher an Arbeiter, denen man die Handhabung einer höchst komplizierten Maschine beigebracht hat, von deren Sinn und Zweck sie jedoch keinerlei Ahnung haben. Stellt sie Stoff her oder Buntstifte? Sie wissen nur, daß sie tadellos funktioniert und was es für ein Genuß ist, mit ihr umzugehen. Das Getriebe arbeitet reibungslos, die Räder drehen sich – und das einzige, was sie eigentlich noch dazulernen wollen ist, wie man das Design des Produzierten leicht abwandeln kann, damit es sich als neues Modell verkaufen läßt. Denn sicherlich ist das Ganze doch so konstruiert, daß es etwas Vernünftiges herstellen kann? Schon, aber man muß wissen, welches Material in die Maschine gehört, wie man sie einrichten muß, um das Gewünschte produzieren zu können.“70
Welches Material gehört also in die Maschine? Wie zieht Humphrey eine Grenze zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie? Das ethos der Körper ist ihr kinästhetisches Kontinuum: Tänzerinnen und Tänzer müssen Humphreys Konzept von Bewegung so weit verinnerlichen, dass sie sie aufgrund eigener Einsichten in ihren Stil und ihrer Technik entsprechend arrangieren können. Dadurch werden offene Tätigkeitsformen und eine ihnen gemeinsame, egalitäre Praxis unterbunden. „Den Choreographen, der sich bei seiner Arbeit immer wieder Mühe gibt, für seine Tänzer offen zu bleiben, erwartet mit Sicherheit auch manche angenehme Überraschung“71, schreibt sie zwar, kann sich aber nie wirklich überraschen lassen, weil die Formen, die ihre Tänzer hervorbringen, selektiert und kombiniert werden im Möglichkeitsspektrum einer Ur-Ethik, die ihrem Ausdruckspotential entgegensteht. Die Kunst, Tänze zu machen, gerät somit zu einem pastoralen Handwerk. Wie Laban schließt Humphrey die choreographische Leinwand und vergisst das Außen der 69 Ebd., S. 62. 70 Ebd., S. 60. 71 Ebd., S. 23.
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Choreographie, das in Noverres Briefen noch auf dem Spiel gestanden hatte. Wie seines setzt ihr biopolitisches Kalkül die Vermögen der Körper mit einer Hand frei, um sie mit der anderen wieder einzufangen.
7.2 W AS R ANCIÈRES G LEICHHEITSAXIOMATIK
ENTGEHT
Bezüglich des Problems, wie choreographische Praktiken vor und unabhängig von ihrer Rezeption durch die Zuschauer gestaltet sind, stellt sich eine Reihe von Fragen, die in Rancières Überlegungen zu einer Aufteilung des Sinnlichen unbeantwortet bleiben und die produktionsästhetische Aspekte berühren, gleichwohl aber mit der von ihm vorausgesetzten Gleichheit der Körper zu tun haben. Zwar betont Rancière, dass mit dem ästhetischen Regime eine Gleichgültigkeit der sujets dazu führt, dass künstlerische Praxis nicht strikt von anderen Tätigkeitsformen abgegrenzt werden kann – sie ist ebenso wenig private Arbeit wie öffentliche Nachahmung gegebener Formzusammenhänge, sondern als Praxis zunächst unbestimmt –, gerade mit Blick auf das prekär gewordene Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit jedoch muss näher untersucht werden, wie genau dessen Öffnung nicht nur (rezeptionsästhetisch) ein besonderes Sensorium auf Seiten der Subjekte impliziert, sondern auch (produktionsästhetisch) deren beliebige Tätigkeitsformen ins Spiel bringt.72 Wenn alles zu entregelten choreographischen Verfahrensweisen beitragen kann und es kein Privileg bestimmter Körperhaltungen, Schrittfolgen sowie Raumwege mehr gibt, ist Bewegung insgesamt nicht alleiniger Anker entsprechender Praktiken: Im Choreographischen gibt es keine Übereinstimmung zwischen posis und aísthesis, womit eine hylemorphisch gedachte Einheit zwischen Formen und Materien zerbricht. Warum kann alles und jeder die ästhetische Erfahrung veranlassen? Kommt das Schöne, wie bei Kant, nur durch die bloße Form einer subjektiven Reflektion auf das immer singuläre Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt zustande? Zeigt es sich in diesem Verhältnis, zu dessen Öffnung etwas anderes nur den Anlass gibt? 72 Während ihres Vortrags im Kunstverein Hamburger Bahnhof über Kunst und Arbeit: zwei Tätigkeitsformen zwischen Politik und Ästhetik am 21. März 2007 konstatierte Maria Muhle: „Die Pointe dieses dritten Regimes besteht darin, dass es mit der traditionellen Zuordnung und Einteilung von Darstellungsformen und Gegenständen bricht. Bestimmte Künste sind nicht mehr wie im repräsentativen Regime auf bestimmte Darstellungsformen und Gegenstände festgelegt. Durch das Verschwinden dieser Auf- und Einteilungen wird zugleich die von der mimesis im repräsentativen Regime der Künste vorgegebene Grenze zwischen den künstlerischen und den übrigen Tätigkeitsformen eingerissen, die die Kunst von den sozialen Beschäftigungen trennte.“ – Ebd., S. 12, http://www.kvhbf.de /udb/cproxJMxfXKunst_und_Arbeit_Mmuhle.pdf. – Zugriff am 21.12.2012.
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Ist es, wie Schiller, bevor er sein Vorhaben aufgibt, zunächst noch beweisen will, eine objektive Eigenschaft von Objekten? Ist es ein belebender Zustand des Subjekts? Warum weiten wir diesen Zustand dann auf andere aus, indem wir ihnen ihre Beistimmung in das Spiel unserer Urteilskraft ansinnen? – Rancière tendiert in seinem Verständnis von Ästhetik, die für ihn in einen unlösbaren Knoten verwickelt bleiben muss, der sich weder in Richtung einer vollständigen Autonomie der Kunst noch in Richtung ihrer heteronomen Identifizierung mit neuen Lebensformen auflösen darf und gerade so ihr emanzipatives Potential bewahrt, dazu, sie wirkungsästhetisch zu denken. Die im ästhetischen Sensorium außer Kraft gesetzte „erste Ästhetik“73 wird deshalb von plebejischen Fehlschritten vermögender Körper durchquert, weil sich in ihm die Hierarchie der Körper mit deren apriorischer Gleichheit konfrontiert sieht und zwischen miteinander unvereinbaren Ordnungen ein Dissens entsteht. Dabei sind künstlerische Praktiken „niemals eine ‚Ausnahme‘ gegenüber anderen Praktiken. Die künstlerischen Praktiken repräsentieren oder gestalten die Aufteilungen dieser anderen Praktiken neu.“74 Nur weil das ästhetische Sensorium heautonom ist, kann es die Aufteilung des Sinnlichen neu konfigurieren. Wir erfahren dann unser Verhältnis zueinander als offen bestimmbar durch eine uns gemeinsame Praxis. Im Verlauf des eben skizzierten Probenprozesses und vor dem Hintergrund der ur-ethischen Traktate Rudolf von Labans und Doris Humphreys hat sich herausgestellt, dass die biopolitische Vereinnahmung tanzender Körper spätestens seit der sogenannten Moderne zwar mit deren Vermögen operiert, nie jedoch das, was das ästhetische Sensorium Rancières eigentlich ausmacht, in den Vordergrund treten lässt: Ihr dissensuelles Verhältnis zueinander.75 Weil ihre Tätigkeit Stilen und Techniken folgt, welche zwar nicht direkt als „Prägung einer leblosen Materie durch eine gedankliche Form“76 auftreten, sondern sie sich indirekt aneignen, schließen solche Produktionsweisen erneut die durchlässige Grenze zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie. Die daraus folgende These könnte lauten: Wenn Körper ihr selbsteigenes Vermögen an einen Hirtenchoreographen abtreten, ist ihnen die ästhetische Erfahrung dessen, was sie selbst hervorbringen, versperrt. Weil sie dann auf ihre Funktion beschränkt sind, Rohmaterial produzieren zu müssen, dessen letztliche Form ihnen unzugänglich bleibt, ist ihre Tätigkeit auf Arbeit im herkömmlichen Wortsinn redu73 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 26. 74 Ebd., S. 70. 75 Vgl. hierzu auch Stefan Hölscher, Let’s work (differently)! – 6MONTHS1LOCATION and the resonances between production, labor, thought, dance, and community, in: Joanna Szymajda (Hrsg.), „Communitas and the Other: New Territories of Dance in Europe after 1989“, London/New York: Routledge, 2014. 76 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 67.
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ziert. Insofern gilt für das Tanzen, wenn es einem biopolitischen Kalkül subsumiert ist, dasselbe wie für das, was Maurizio Lazzarato über die Emanzipation der Körper von Arbeit insgesamt schreibt: „The problem is that the labour movement has nothing to put in the place of praxis. It can’t imagine a process of constitution of world and self which is not centred around work.“77 Bojana Kunst konstatiert demgegenüber, dass „many dance performances of the last decade have requestioned the relationship between movement and dance and broadened the notion of choreography“78, um Tanz vom Paradigma der Arbeit abzulösen. Unter Verwendung des von Rancière seit seinem Bruch mit Althusser abgelehnten IdeologieBegriffs wiederum schlägt Mark Franko vor, Tanz und Arbeit im Rahmen der Moderne geradezu analog zu denken. „Based on the above analysis, I invite the reader to entertain the following paradox: the work of dance – its product – was ideology, but metakinetic ‚exchange‘ – the transfer of expression and interpellation to its audience – was its labor. In the performative economy of the thirties, what is exchanged (identity) is not produced, and what is produced (ideology) is not exchanged.“79
Die Kluft zwischen Rancières Gleichheitsaxiomatik und der produktionsästhetischen Ungleichheit, die auch heute noch vielerorts vorherrscht, lässt sich allein anhand seiner Denkweise nur schwer thematisieren, weil es ihm darum geht, ein ästhetisches Versprechen zu beschreiben, das sich primär in Kunstwerken manifestiert und nur sekundär in ihnen vorangehenden Produktionsverhältnissen, obwohl er nicht müde wird zu betonen, dass künstlerische Tätigkeitsformen offene Praktiken sind. Weil Rancière in erster Linie mit Film, Literatur und bildender Kunst befasst ist, in denen sich Autorschaft meistens verorten lässt, ist es für ihn nicht allzu relevant zu fragen, wie das Schöne, mitsamt seinem emanzipativen Potential, ins Spiel kommt, wenn die komplexe „Verflechtung einer Vielzahl menschlicher Tätigkeiten“80 während der Werkgenese stattfindet und mehrere Körper etwas produzieren, noch bevor es rezipiert wird. Die Produktionsweisen von Choreographie führen Rancières bisherige Überlegungen an ihre Grenzen. Wie lässt sich also die offene Bestimmbarkeit der Körper, die für Schiller und Kant so wichtig ist im Schönen 77 Maurizio Lazzarato, The Concepts of Life and the Living in the Societies of Control, in: Martin Fuglsang/Bent Meier Sørensen (Hrsg.), „Deleuze and the Social“, Edinburgh University Press, 2006, S. 190. 78 Bojana Kunst, Dance and Work: The Aesthetic and Political Potential of Dance, in: Gabriele Klein/Sandra Noeth (Hrsg.), „Emerging Bodies – The Performance of Worldmaking in Dance and Choreography“, Bielefeld: transcript, 2011, S. 20. 79 Franko, The Work of Dance, S. 167. 80 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 65.
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und auf die Rancière sein ästhetisches Regime gründet, für das Choreographische fruchtbar machen? Auch Félix Guattari knüpft in Chaosmosis an Kants Idee des interesselosen Wohlgefallens an, wenn er danach fragt, wie sich Kunst in der Kontrollgesellschaft noch emanzipatorisch denken lassen kann. An prominenter Stelle nimmt er explizit Bezug auf die Analytik des Schönen, will das Potential der Ästhetik aber mit seinem „ästhetischen Paradigma“81 radikal weiterentwickeln. „Kant established that the judgment of taste involved subjectivity and its relation to the other in a certain attitude of ‚disinterestedness‘. But it is not enough to designate the categories of disinterestedness and freedom as the essential dimension of the unconscious aesthetic without clarifying their active mode of insertion into the psyche.“82
Kants interesseloses Wohlgefallen ist Guattari zufolge geboten, wenn – wie Lazzarato in einer Hommage an ihn schreibt – zunehmend das „Einfangen und die Aktivierung präsubjektiver und präindividueller Elemente (Affekte, Emotionen, Wahrnehmungen)“83 zum Ziel der Macht werden. Ästhetik ist gerade dann widerständig, wenn biopolitische Kalküle versuchen, sich die Lebendigkeit von Körpern selbst anzueignen, um sie der Idee eines einheitlichen Lebens einzuverleiben. Im Gegensatz zu Guattari allerdings akzentuiert Rancière Lazzarato zufolge nicht ausreichend die objektiven Verhältnisse, in denen Körper ästhetisch tätig sind. Obwohl seine Stärke in der ausführlichen Durcharbeitung ästhetischer Spannungen auf subjektiver Ebene liegt, rückt er jede objektive Ebene in den Hintergrund. Ruth Sonderegger argumentiert in eine ähnliche Richtung. Zwar würdigt sie Rancières Fokussierung des emanzipativen Potentials der Ästhetik, registriert aber, dass er Realitäten, die mehr mit Ungleichheit als mit Gleichheit zu tun haben, zugunsten enthusiastischer Szenarien geglückter Neuaufteilungen des Sinnlichen unterbelichtet. 81 In Guattaris ästhetischem Paradigma kommt der Ästhetik eine privilegierte Stellung im Widerstand gegen biopolitische Machtformen zu: „The aesthetic power of feeling, although equal in principle with other powers of thinking philosophically, knowing scientifically, acting politically, seems on the verge of occupying a privileged position within the collective assemblages of enunciation of our era.“ – Félix Guattari, Chaosmosis – An ethico-aesthetic paradigm, Bloomington&Indianapolis: Indiana University Press, 1995, S. 101. Bereits zuvor hatte er geschrieben: „The criterion of the beautiful has become the joy of the ‚real regained.‘“ – Ders., The Machinic Unconscious, Los Angeles: Semiotext(e), 2011, S. 303. 82 Ders., Chaosmosis, S.13. 83 Maurizio Lazzarato, Der „semiotische Pluralismus“ und die neue Regierung der Zeichen – Hommage an Félix Guattari, http://translate.eipcp.net/transversal/0107/lazzarato/ de# redir. – Zugriff am 25.9.2010.
316 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Problematisch wird Rancières Einseitigkeit allerdings dort, wo seine emanzipatorische Geschichtsschreibung der Kunst sich sträubt, weniger erfolgreiche Lebensläufe als jene, die er selbst aus den Archiven befreit, zum Gegenstand der Forschung zu machen. Am problematischsten ist in dieser Hinsicht m.E. die hasserfüllte Polemik, mit der Rancière Bourdieus soziologischen Studien über die Normalisierungseffekte der Diskurse und Institutionen der Kunst ab 1750 begegnet.“84
Lazzarato wiederum wirft Rancière vor zu verkennen, dass in dem, was er und andere ehemalige Mitglieder der norditalienischen Autonomia ‚Semiokapitalismus‘85 nennen, nirgends mehr stabile Trennlinien zwischen Arbeit, Freizeit und künstlerischen Tätigkeitsformen vorauszusetzen wären und seine Neuaufteilungen des Sinnlichen deshalb Entwicklungen entsprächen, die sowieso überall ihren Lauf nähmen. „How is one to arm oneself against this new distribution of the sensible in which there is no longer a rupture between art and work, but rather a continuity? How is one to avoid letting the needed creativity of a society be reduced to the level of ‚leisures?‘ […] The aesthetic paradigm would no longer be simply a matter of artistic creation and artistic subjectivity, but would delineate a possible direction for creativity. Such an approach must be focused more on the process than on the object, on the emerging creation rather than on the ‚work‘.“86
Damit verweist Lazzarato zwar auf produktionsästhetische Aspekte künstlerischer Praktiken, die bei Rancière leider peripher bleiben, tut ihm aber Unrecht. Denn völlig unvereinbar miteinander sind die Positionen der beiden nun auch nicht. Zwar lässt Rancière eine explizite Thematisierung von Produktionsästhetik vermissen, implizit berührt er sie aber: Wenn nämlich Tätigkeiten, die der Kunst angehören können im ästhetischen Regime, nicht mehr von anderen Tätigkeiten getrennt sind – wenn es bezüglich des Themas der vorliegenden Arbeit im Choreographischen also um die offen bestimmbare Grenze zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie geht –, hat die Rede von einer schönen Praxis der Körper auch Konsequenzen für deren objektive Verhältnisse. Muhle merkt hierzu an: „Ästhetik wird somit weder als individuelle Wahrnehmungsfähigkeit noch als erkenntnistheoretische Grenze oder als Kunsttheorie verstanden, sondern verweist immer schon auf die Frage des Teilhabens und Teilnehmens an einer kollektiven Praxis, die für Rancière
84 Ruth Sonderegger, Institutionskritik? – Zum politischen Alltag der Kunst und zur alltäglichen Politik ästhetischer Praktiken, http://www.dgae.de/downloads/Ruth_Sonderegger. pdf, S. 9 f. – Zugriff am 23.9.2010. 85 Vgl. Franco Berardi, The Soul at Work, Los Angeles: Semiotext(e), 2010. 86 Maurizio Lazzarato, http://thenewobjectivity.com/pdf/artandwork.pdf. – Zugriff am 23.9. 2010.
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in der sozialen und politischen Konstitution der Sichtbarkeit entschieden wird.“87 Insofern ist Lazzaratos an Rancière gerichteter Vorwurf unberechtigt, obwohl es stimmt, dass sich ästhetischer Widerstand mindestens genauso auf der Ebene der Produktion wie auf der des fertigen Kunstwerks verorten lassen muss. „This ‚labor‘ must be understood as a process, a construction and a processual transformation of subjectivity. When one refers to the production of subjectivity, it is the process of creation and not the work that emerges as the paradigm. It is ‚being in the process of making itself‘ and the ‚how‘ of this process which should become the focus of our interest, not the products or results. Taking into account ‚how‘ these processes function means valorizing the collective assemblage as ‚autopoetic‘, as the capacity of auto-production of subjectivity, as the capacity to continually generate its own organization, its own references and limits.“88
Indem Rancière immer wieder betont, wie viel ihm an einem Ausspielen und InsSpiel-Bringen der Gleichheit der Körper liegt, weil im Schönen Form- und Stofftrieb (Schiller) bzw. Verstandes- und Einbildungskraft (Kant) in einem offenen Verhältnis zueinander stehen bzw. mit Deleuze in ihm „die Realität des Realen“ erfahrbar würde, da „sie sich anderweitig reflektiert“89, sind seine vermögenden Körper, trotz vieler Differenzen im Denken beider, mit Guattaris Produktion von Subjektivität ebenso verwandt wie mit Paolo Virnos Lesart des general intellect und dessen post-fordistischer Partitur. Die kantianische Idee einer subjektiven Allgemeinheit der Urteilskraft beruht wie jene auf einer allen Körpern gemeinsamen, formgebenden Tätigkeit. „Was ist die Partitur, die die postfordistischen Arbeiterinnen unentwegt ausführen, seit sie veranlasst sind, ihre Virtuosität unter Beweis zu stellen? Auf den Kern reduziert lautet die Antwort: Die Partitur sui generis der zeitgenössischen Arbeit ist der Intellekt als öffentlicher Intellekt, als general intellect, als das gesamte soziale Wissen, als gemeinsame sprachliche Kompetenz. Man könnte auch sagen: Die Produktion erfordert Virtuosität und verinnerlicht viele für die politische Handlung charakteristische Züge, gerade und nur weil der Intellekt die wichtigste Produktivkraft geworden ist, Prämisse und Epizentrum jeder Poiesis.“90
Weil Rancière demgegenüber mit Schiller und Kant in einem gewissen Subjektivismus verbleibt, lässt sich nach ihm nicht denken, wie die Konstituierung des Cho87 Muhle, Kunst und Arbeit, S. 10. 88 Maurizio Lazzarato, The Aesthetic Paradigm, in: Simon O’Sullivan/Stephen Zepke (Hrsg.), „Deleuze, Guattari and the Production of the New“, New York: Continuum Press, 2008, S. 182. 89 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 97. 90 Virno, Exodus, S. 42 f.
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reographischen unter ästhetischen Gesichtspunkten vonstatten geht. Zwar postuliert er ein allen Körpern gleichermaßen gemeinsames Vermögen (potentia), weitet es aber nicht auf eine objektive Ebene hin aus, wo choreographische Fehlschritte ungleichen Machtverhältnissen (potestas) ihre radikale Egalität entgegensetzen. Deshalb ist der immer wieder an ihn gerichtete Vorwurf, er plädiere letztlich für eine bourgeoise Subjektivität – obwohl diese Kategorie um 1800, Jahrzehnte vor dem Marxismus, noch nicht gegeben sein konnte –, deren interesseloses Wohlgefallen nur möglich ist, weil materielle Produktionsverhältnisse außer Acht gelassen werden, nicht nur falsch. Demnach läge natürlich auch eine reaktionäre Lesart des tableau vivants auf der Hand: Es wäre dann der ideale Ort eines Spektakels der Produktivkräfte, das aus sicherer Distanz heraus von einem Blick betrachtet wird, der selbst von Arbeit befreit ist und durch es in seinem Selbstverständnis noch Bestätigung finden kann.91 Wenn dagegen laut Muhle alle Körper ästhetisch an einer kollektiven Praxis teilnehmen, die in Tätigkeitsformen besteht, indem in ihr „de[r] Gegensatz zwischen aktivem Verstand und passiver Sinnlichkeit“92 ausgesetzt wird, hat die Aufteilung des Sinnlichen nicht nur mit deren subjektiver Disposition zu tun, sondern auch mit ihren objektiven Verhältnissen zueinander. Sie generieren dann die tableaux, in denen sie sich befinden werden. Deswegen soll nach der nächsten Parabel die Philsophie Spinozas hinzugezogen werden. Sie geht dem ästhetischen Regime zwar chronologisch voraus, antizipiert aber dessen zentrale Charakteristika. Eine Prise Spinozismus, soviel sei vorausgeschickt, wird Rancière helfen, über seinen eigenen Schatten zu springen und die Genese vermögender Körper stärker als objektive Produktion denn vornehmlich anhand ihrer subjektiven Wirkungen zu verstehen. Spinozas Ethik ist nicht ‚ethisch‘ verfasst im Sinne von Rancières – an Platons Staatstheorie angelehntem – ethischem Regime. Spinoza zufolge sind die Körper nicht an feste Positionen und Funktionen gebunden, sondern bringen als die vielen Modi der einen Substanz, die zugleich ihr generisches Vermögen ist, ihren Aufenthalt und ihre Seinsweise in den strittigen und spannungsvollen Verhältnissen zwischen sich zuallererst hervor. Obwohl sich Rancière in seiner Beschäftigung mit Kants und Schillers Schönem dem konstituierenden Vermögen der Körper immer wieder annähert, formuliert er das Problem der potentia nicht aus. Zwar beschreibt er plausibel die Konfrontation zwischen Patriziern und Plebejern, 91 Wobei Rancières seit Die Nacht der Proletarier an verschiedenen Stellen erwähnter Artikel des Zimmermanns Gabriel Gauny aus dem 19. Jahrhundert, in dem er für ein Arbeiterjournal seinen eigenen interesselosen Blick aus dem Fenster eines von ihm eingerichteten Hauses in dessen Garten beschreibt, in eine entgegengesetzte Richtung weist. Ohne ein Interesse an Interesselosigkeit scheint hier keine qualitative Transformation von Subjektivität möglich. – Vgl. Jacques Rancière, Die Nacht der Proletarier – Archive des Arbeitertraums, Wien: turia+kant, 2013. 92 Ders., Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 68.
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führt aber nicht zu Ende, wohin ein Prozess führen kann, in dessen Verlauf die Plebejer nicht nur ihre Gleichheit und ihren gleichen Anteil am logos mit den Patriziern verifizieren, sondern auch eine ihnen eigene Form generieren, die im Zusammenhang des Themas der vorliegenden Arbeit das Choreographische genannt werden soll und vermittels Fehlschritten entsteht.
Parabel V: Saša Asentis My private bio-politics
Durch den Titel der Arbeit, die Saša Asenti, gemeinsam mit der Dramaturgin Ana Vujanovi, seit 2005 entwickelt hat, werden zwei unterschiedliche und geradezu entgegengesetzte Semantiken wachgerufen. Zum einen die der Biopolitik, zum anderen, aufgrund des wichtigen Bindestrichs zwischen ‚bio‘ und ‚politics‘, die des Biographischen, das während des gesamten Stücks als nur schwer bestimmbare Figur zwischen Fakten und Fiktionen oszilliert und ein wichtiges Moment des Ästhetischen sowie ein Widerstandspotential lebendiger Tätigkeit gegenüber ihrem Verschwinden in Biopolitik darstellt. My private bio-politics berührt deshalb Fragen der Ästhetik und Biopolitik, weil es in ihm um ein Ausspielen des Singulären und dessen Verwobensein mit einer offenen Praxis entgegen ihrer Funktionalisierung durch Marktgesetzte und den sie beherrschenden Tauschwert geht. Dazwischen steht Saša Asenti auf der Bühne und versucht herauszufinden, was auf dem Weg von der Produktion als Prozess zum Werk als dessen Produkt verlorengegangen ist und wo er sich als Choreograph in diesem Kontext situieren soll. Die Bühnenrückwand ist vollständig von einem Vorhang bedeckt. Vor deren linker Hälfte steht ein Stuhl, der sich zunächst nur schemenhaft abzeichnet, weil am Anfang allein die rechte Hälfte des Raums beleuchtet ist. In der hinteren rechten Ecke der Bühne befindet sich ein Stativ, auf dem eine goldgerahmte, im schroffen Kontrast dazu nur mit schlichtem Gafferband befestigte, Zeichnung angebracht wurde. Sie zeigt eine in ein wallendes Kleid gehüllte, leichtfüßig tanzende Frau, die Isadora Duncan oder eine andere der ikonischen weiblichen Gründergestalten der (westlichen) Tanzmoderne sein könnte.1 Während die Zuschauer den Raum betre-
1
Die Tanzende ist eine anonyme Frau aus Serbien. Solche Zeichnungen tanzender Frauen, gerade die frappierende Ähnlichkeit dieser Gestalt mit ikonographischen Erkennungsmustern, welche am ehesten mit Isadora Duncans barfüßiger ‚Revolution‘ des Tanzes zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Verbindung stehen, sind innerhalb der in Westeuropa dominierenden Rezeptionshaltung klar konnotiert. Tatsächlich aber gab es in Serbien
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ten, ist Saša Asenti damit beschäftigt, mit Hilfe dünner Fäden am Boden ein Rechteck abzustecken und so den Ort der folgenden Präsentation zu definieren. Da alle Fäden am goldenen Rahmen des Bildes hinten links zusammenlaufen, entsteht der Eindruck, der derart abgegrenzte Raum wäre der tanzenden Frauengestalt gewidmet oder würde zumindest von ihr als eindrucksvoller Ikone überblickt. Aufgrund der disparaten Qualität der eingesetzten Materialien (Gafferband, ein goldener Bildrahmen, Fäden und die Zeichnung der in ein wallendes Kleid gehüllten und fröhlich tanzenden Frau), aus denen die erste Szene besteht, hat das Arrangement etwas Fragiles. Es entsteht der Eindruck, seine einzelnen Elemente wären in ihrer unterschiedlichen und geradezu unvereinbaren Herkunft nur temporär in einem Bild kondensiert, welches sich sofort verflüchtigte, würde es nicht mehr betrachtet. Zwar wird der Raum vermittels der Fäden als festgelegtes Territorium definiert, gleichzeitig erinnert seine Beschaffenheit eher an die Parodie einer Grenze als an eine wirksame Einzäunung. Saša Asenti trägt noch immer Socken und legere Alltagskleidung, als er darauf hinweist, dass er nun My private bio-politics zeigen werde, ein Stück, dass seine Premiere am 11. Februar 2007 in Novi Sad hatte und seitdem bereits in vielen westund osteuropäischen Häusern und Kunstzentren aufgeführt worden wäre. Diesmal läge ihm jedoch daran, das aktuelle Werk, welches sein ursprüngliches Konzept durch die ununterbrochene Zirkulation auf dem zeitgenössischen Tanzmarkt ausgereizt hätte, in eine andere Phase zu überführen. Es ginge um die Verwandlung der Arbeit von einem work-in-progress in ein work-in-regress, also darum, sie aufzulösen und zu dem zurückzukehren, was sie einmal als Werk und damit als Tauschwert hervorgebracht hat, nämlich zu etwas, das hinter den einzelnen ‚PerformanceElementen‘ liegt: Den lebendigen Momenten ihres Entstehens, welche unabhängig lange eine Tradition handangefertigter Zeichnungen von Volkstänzen und ein damit verbundenes Verständnis von Tanz als einer tief im Alltag verwurzelten Praxis. Gerade die in Westeuropa und Nordamerika folgenschwere Trennung zwischen Tanz als ‚schöner Kunst‘ (John Martin findet ihn während der 1930er Jahre v.a. von Martha Graham und Mary Wigman verkörpert) und Tanz als ‚Volkstanz‘ oder ‚Arbeitertanz‘ (man denke bsp. an die lange Geschichte der New Dance Group in New York zur selben Zeit) fand in diesem Ausmaß hier nicht statt. Deshalb ist es wichtig festzustellen, dass, was ihre äußere Erscheinung betrifft, Isadora Duncan nicht weit weg ist von der unbekannten Tänzerin aus Serbien, die das Bild zu Beginn von My private bio-politics zeigt. Später, wenn in der linken Bühnenhälfte die Vasen sichtbar und an ihnen verschiedene Posen Xavier le Roys aus Self Unfinished (1998) angebracht werden, klingt dasselbe Problem an. Während sich Duncan zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den Abbildungen unbekannter tanzender Körper auf Vasen aus dem antiken Griechenland inspirieren ließ, bevor sie dadurch selbst zur Ikone wurde, ist es jetzt bezeichnenderweise Xavier le Roy, dessen radikal fremdartige Körperbilder ihrerseits als Vasenverzierung und Ornament Einkehr finden.
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von dem, was sie im Stück vereint, einen Eigenwert haben. Sie sollen aus einer bereits konstituierten Struktur gelöst und wieder als dokumentarische Momente der Produktion, durch welche My private bio-politics zuallererst hervorgebracht wurde, erfahrbar werden. Abbildung 17: Saša Asentis My private bio-politics (2005)
Photo: Damir Žiži .
Saša Asenti und Ana Vujanovi , beide wollten zunächst nur einen Workshop über Tendenzen und Entwicklungen innerhalb der zeitgenössischen Tanzszene Serbiens organisieren, wundern sich darüber, warum die von ihnen entwickelten Materialien ein so großes internationales Interesse auf sich gezogen haben.2 My private biopolitics, das sie anschließend in verschiedenen Versionen aus eigentlich selbstständigen und unabhängigen Versatzstücken zusammengestellt haben, wurde mittlerweile nicht nur auf zahlreichen Festivals in vielen europäischen Ländern gezeigt, sondern hat seinen Weg auch in die USA gefunden, wo es 2009 im New Yorker Dance Theatre Workshop (DTW) zu sehen war. Während Asenti die Performance auflösen und in die Spuren ihrer eigenen Genese zurückführen will, soll sie sich vor den Augen der Zuschauer verflüchtigen und demjenigen Raum geben, was als Teil in der fertigen Struktur der Arbeit ansonsten keinen Platz hätte: Den unterschiedli2
Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Ana Vujanovi , Communication and beyond: “Conceptual dance“ in Belgrade, in: Hochmuth/Kruschkova/Schöllhammer (Hrsg.), „It takes place when it doesn’t“.
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chen Materialien, die seit 2005 in die eigentliche Entstehung des Stücks eingeflossen sind. Zunächst liest er die Einladungsmail einer Dramaturgin des brut-Theaters in Wien vor, in dem es zuletzt gezeigt worden wäre, um im Anschluss ein Portrait von Jesus Christus, welches in seiner Ikonographie an Darstellungen innerhalb der orthodoxen Kirche denken lässt, in der hinteren linken Ecke der bis jetzt sichtbaren Bühnenhälfte aufzustellen. Dass die Darstellung der unbekannten, tanzenden Frau und das Jesus-Portrait ein sonderbares Spannungsfeld bilden, ist offensichtlich. Bei beiden handelt es sich um Ikonographien. Zwar scheint es, als wäre ihnen eine unterschwellige Autorität gemeinsam, zugleich aber wirken sie ebenso handgemacht und schlicht wie jene Darstellungen, die man auf Straßenmärkten findet und die dort für einen geringen Preis feilgeboten werden. Während die Zeichnung rechts auf dem Stativ etwas Ausladendes und den Raum Ergreifendes hat, hält der Blick der religiösen Gründergestalt auf dem Gemälde links den Betrachter in seiner milden Strenge gefangen. Beide strahlen ein Gebot aus. Das eine jedoch, indem es eine in sich gekehrte Andacht einfordert, das andere, indem es seine Dynamik in den Raum hinein versprüht. Dazwischen versucht sich Asenti zu positionieren, zieht Hose und T-Shirt aus, klebt fellartige Streifen auf seinen Oberkörper und streut sich weißes Pulver über den Kopf, um neben dem Bild der tanzenden Frau rechts niederzuknien, wo er erklärt, dass er, als er jung war, Künstler hätte werden wollen: „When I was young, I wanted to become an artist.“ Auf Knien kriecht er nach links, legt sich vor die Christus-Gestalt und bläst in eine Pfeife, um ihr einen kurzen, lauten und schrillen Ton zu entlocken. Plötzlich beginnt er, in der Bühnenmitte, ein wildes Schattenboxen, um dann erschöpft zu Boden zu sinken und hier in einer ausgestreckten, den Raum einschließenden Haltung, welche aufgrund ihrer Bodennähe erneut an die modernen Tanzreformen Westeuropas und Nordamerikas denken lässt, liegenzubleiben. Mit einem abrupten Lichtwechsel, der erstmals die linke Hälfte der Bühne, auf der, in Reihen angeordnet, Dutzende kleiner Objekte stehen, sichtbar macht, steht er auf und verkündet, er hätte zunächst Malen wollen als Kind. Weil das sehr schwierig sei und man, genau wie in der Musik und im Tanz, viel üben müsse dafür, hätte er sich schließlich für die Schauspielerei entschieden. Er hätte jedoch, weil er nie allzu viel Text hätte lernen wollen, auch dieses Fach bald aufgegeben. Geholfen hätte ihm dabei, dass nach den Schauspielklassen oft Tanzklassen stattfanden, an denen er begeistert teilgenommen hätte. Als wolle er seine Geschichte beweisen, demonstriert er währenddessen ein paar der Aufwärmübungen und Trainingsschritte, die ihm in diesem Abschnitt seines Lebens Spaß gemacht hätten. Irgendwann hätte er es sogar geschafft, den Spagat zu perfektionieren, also beide
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Beine am Boden vollständig von der Hüfte wegzustrecken. Er sei sich deshalb sicher gewesen, jetzt ein richtiger Tänzer zu sein. Asenti spielt mit Klischees aus der Tradition der Autobiographie und bedient sich hierzu des seit den 1960er Jahren verbreiteten Formats der Selbstinszenierung, indem er szenische Handlungen und die Fiktion der Bühnenabläufe mit Schilderungen anscheinender Fakten aus seinem Leben konfrontiert.3 Den Spagat beispielsweise versucht er, während er aus seiner Kindheit erzählt. Er gelingt ihm aber nicht. Ist er ihm jemals gelungen? Stimmt, was er uns erzählt? Die zahlreichen, ordentlich aufgereihten, aber unverbundenen Objekte auf der linken Bühnenseite dienen zwar als Beweismaterial des von ihm vorgetragenen Berichts, inwiefern sie seine Behauptungen wirklich stützen können, bleibt allerdings fraglich. Zwar gibt es einen Kontext, den des Werks, das vor den Augen der Zuschauer präsentiert wird und Aussagen ebenso wie Gegenstände unter sich vereint; während dessen Elemente von einem work-in-progress in ein work-in-regress zurückversetzt werden, lösen sich jedoch ihre Verbindungen voneinander. Was dadurch erfahrbar wird, ist nicht nur ihre eigene Materialität und ihr Eigensinn, sondern auch ihr schlichtes Vorhandensein als einzelne Bestandteile. Schon jetzt ist die Form des Stücks eher ein ungelöstes Problem als die Zusammenfügung seiner Konstituenten. Es ist deshalb fragwürdig als Fusion ihm vorangegangener Vollzüge und Momente aus Asentis Biographie, weil, was erzählt wird ein bios ohne es vereinendes grafeïn ist. Die verschiedenen Anekdoten beziehen sich auf ästhetische Weise auf eine Vielzahl singulärer Situationen, die in ihrem Eigenwert Bestand haben, ohne sich zu einer sie subsumierenden Schrift zusammenzufügen. Deswegen bleibt offen, was genau dokumentiert wird von den vielen Zetteln, Büchern, Magazinen und Vasen, welche die linke Bühnenhälfte bedecken. Sie alle sind Beweise ihres eigenen Erscheinens als heterogene Materialien. Wie die Wörter betonen auch sie in ihrer stummen Anwesenheit den Bindestrich zwischen ‚bio‘ und ‚politics‘, weil sie nichts zeigen außer ihr dissensuelles Aufeinandertreffen, ohne dabei die ethisch verfasste Idee eines bestimmten Lebens ausdrücken zu müssen. Während einer Residenz am Centre National de la Danse in Paris (von dem My private bio-politics koproduziert wurde) sei Asenti später Jérôme Bel begegnet, von dessen Arbeit er inspiriert worden wäre. Zu dieser Zeit hätte er die Arbeiten mehrerer westeuropäischer Choreographen gesehen, Bel aber sei es gewesen, der ihn wie kein anderer beeindruckt habe. Seinen maßgeblichen Anstoß genommen hätte My private bio-politics im Jahre 2005 während eines Workshops in Belgrad.
3
Vgl. hierzu Gabriele Brandstetter, Selbst-Beschreibung – Performance im Bild, in: Erika Fischer-Lichte/Friedemann Kreuder/Isabel Pflug (Hrsg.), „Theater seit den 60er Jahren – Grenzgänge der Neo-Avantgarde“, Tübingen/Basel: A. Francke, 1998.
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Abbildung 18: Saša Asentis My private bio-politics (2005)
Photo: Dieter Hartwig.
„These are my materials.“ Zum ersten Mal im Verlauf des Stücks rückt nun die große Materialiensammlung, welche den Boden auf der linken Bühnenhälfte bedeckt, in den Vordergrund. Asenti zieht wieder Hose und T-Shirt an und präsentiert die aufgereihten Objekte, die im Verlauf früher Arbeitsphasen zusammengekommen wären. Ihm sei es zunächst darum gegangen, etwas zu produzieren, ohne bereits existierende, vor allem in Westeuropa entwickelte, Modelle und Strategien des zeitgenössischen Tanzes zur Vorlage zu nehmen. Außerdem sei es ihm nicht leichtgefallen, sich zu entscheiden, welche der Materialien aufgenommen werden sollten, obwohl er versprechen könne, dass sie alle noch immer in der jetzigen Version des Stücks als Spuren präsent wären. Er beschreibt einen Traum, in dem ihm die Performancetheoretikerin und Dramaturgin Bojana Cveji, die ebenfalls aus Belgrad kommt, jedoch schon länger in Brüssel lebt, in den P.A.R.T.S. unterrichtet und viele der sehr erfolgreichen Choreographen im Westen – u.a. Mette Ingvartsen, Xavier le Roy und Jan Ritsema – in ihren Produktionen begleitet, eine E-Mail schreibt. In seinem Traum hätte Cveji eine neue Performance entwickelt („something between theoretical performance and circus“), in der sie, zusammen mit einem Elefanten, der die serbische Tanzszene repräsentiert hätte, als Zirkusdompteurin aufgetreten wäre, um ihn durch freundliche Dressur in den zeitgenössischen Tanz zu initiieren. Der Elefant hätte ein volles Bewusstsein seiner Situation gehabt und gewusst, dass es beim Zirkus nicht nur um das Abspulen eintrainierter Mechanismen ginge, sondern um den kreativen Umgang mit den ihm gestellten Aufgaben:
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„Now we come to the central question of this work: How to understand influential choreographers instead of copying or imitating them?“ fragt Asenti, während er die zahlreichen Objekte auf dem Boden vor sich betrachtet. Zwar hält er eine Offenheit für Einflüsse prinzipiell für wichtig, sieht in ihr aber auch die Gefahr, zum reinen Kopieren bestehender Stile und zu leeren Wiederholungen führen zu können. Deshalb schlägt er Übersetzen als Alternative zur Imitation vor, weil Übersetzungen wichtiger seien als die Originale, auf die sie sich beziehen. Während er das erklärt, befestigt er Schwarzweiß-Kopien, die Xavier le Roys berühmte Posen aus Self Unfinished (1998) zeigen und bisher unter blauen Folien versteckt waren, an den Vasen. Die Reproduktionen durchziehen seine Materialsammlung wie eine Diagonale von oben links nach unten rechts. Wie ist es möglich, fragt er, kein Ornament aus ihnen und dem „influential choreographer“, der sie zuallererst als Bilder hervorgebracht hat, zu machen? „Conceptual dance, that is the most influential in our dance contexts, is not the big mainstraim paradigm of the European dance scene, but is a marginal practice“, kommentiert er. Wie, anstatt zu kopieren, übersetzen und Neues schaffen in der Konfrontation mit Bestehendem? Was in Westeuropa seit den 1990er Jahren vielerorts als Ausbruch aus tradierten Verfahrensweisen und überkommenen Vorstellungen von Choreographie angelegt war, läuft heute Gefahr, seinerseits zu einem stur nachgeahmten Modell zu werden: Vor diesem Hintergrund erzählt Asenti von seiner Begegnung mit einem Techniker, der ihn vor einer seiner Präsentationen von My private bio-politics gefragt hätte, ob er damit einverstanden wäre, das bereits installierte Licht anderer Werke, die im selben Festivalrahmen gezeigt worden waren, für sein eigenes Stück zu verwenden. Daran anschließend überlegt er, inwieweit auch auf dieser Bühne und an diesem Abend noch Überbleibsel vorangegangener Werke zu finden seien, die sich nun mit den von ihm selbst hinzugefügten Materialien vermischen und zu einem ihm unbekannten neuen und anderen Zusammenhang verbinden würden: „And what would happen if I would put my work to be visible, to be defined only by other, surrounding performances?“ – Er bittet den Techniker des heutigen Abends, die Lichtstimmungen aller auf dieser Bühne bisher gezeigten Performances auf einmal zu fahren und zeigt, nachdem das geschehen ist, verschiedene Stellen, an denen sich jeweils bestimmte Szenen ereignet hätten. Jeden der solcherart benannten Punkte im Raum bezeichnet er als „dance trace“ und markiert sie eine nach der anderen mit weißem Gafferband. Zwar käme er zu spät in seinem Versuch, die unterschiedlichen choreographischen Praktiken, welche hier stattgefunden hätten, wiederherstellen zu wollen, es sei aber wichtig, sie gerade jetzt sichtbar zu machen, bevor sie vollends verschwänden. Die Suche nach einer selbstständigen Idee von Choreographie, die nicht umhin kann, sich an den unzähligen Einflüssen und Stilen, die sie umgeben, zu reiben und durch sie hindurchzuforsten, stellt Asenti vor ein Paradox. Um den westlichen
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Tanzmarkt zu betreten, bleibt ihm die Alternative, sich entweder dessen Gesetzen anzupassen oder eigene Praxisformen zu entwickeln. Er steht vor einem Dilemma: Es ist viel schwieriger, westeuropäische Positionen einer Übersetzung zu unterziehen als von bereits zirkulierenden Definitionen zeitgenössischen Tanzes einseitig assimiliert zu werden, weil zunächst eigenständige und unabhängige Formen stets durch externe Kriterien kontextualisiert werden, sobald sie auf dem Markt zirkulieren. Gleichzeitig steht ihm eine Menge an Materialien zur Verfügung – ein Widerspruch, der sich auch in der Aufteilung der Bühne manifestiert: Während der Bereich rechts mithilfe dünner Fäden abgegrenzt, aber leer ist, befinden sich im linken Teil zahlreiche unverbundene Objekte, ohne zu einer Gesamtgestalt angeordnet zu sein. Einer Sammlung loser ‚Performance-Elemente‘ steht ein leerer Rahmen gegenüber. Wie lässt sich all das in seinem Dissens choreographieren? „What if it is only the matter of geopolitics? Then all these materials that I have prepared are meaningless“, stellt Asenti fest und streut sich erneut weißes Pulver, das nun eher wie Staub wirkt, über den Kopf. „These were some of my materials. As you can see, there are many more but, of course, I’m not going to present all of them.“ Jedes der Objekte (Bücher, Magazine, Photographien, Skizzen, Zettel etc.) ist ein singuläres Element und kann als solches nicht in einen ihm äußerlichen Werkzusammenhang eingehen. Was nicht aufgehen kann in My private bio-politics ist dessen eigenes Material, von dem es als Stück zugleich konstituiert wird: Asentis lebendige Tätigkeit, die mehr in sich birgt als erscheinen kann als Bestandteil eines marktfähigen Produkts oder Stücks. Deshalb räumt er die Bühne nun teilweise leer. Er beginnt mit den vielen Zetteln und Ausdrucken von Arbeitsnotizen. „I will purify my work. I will purify my dance. I will clear it of local context because that’s what is acceptable. Only exotic or pure, uninterrupted flow of movement is acceptable.“ Die vielen Papierstapel werden in einen Shredder gesteckt und dort in kleine, wohl nicht mehr wirklich rekonstruierbare, Streifen geschnitten. Mit dem Shredder unterm Arm geht Asenti daraufhin zum vorderen Rand der Bühne und lässt die zahllosen Schnipsel wie Schnee auf den Boden regnen. Dabei bewegt er sich Schritt für Schritt in Richtung der Bühnenrückwand, so dass sich ein gerader Weg als die wohl deutlichste und sichtbarste Spur, die im Verlauf des Stücks bisher hinterlassen wurde, bildet. „Now I’m free of context. Now I’m ready“, verkündet er. Noch fehle ihm das Outfit eines richtigen „contemporary dancers“. Er zieht sich eine sportliche Puma-Weste über und erklärt, nun könne er sich als erkennbarer Choreograph innerhalb der freien Szene Berlins bewegen, ohne weiter aufzufallen. Weil er sich für weitere Festivals und Auftritte an verschiedenen freien Häusern bewerben wolle, bittet er einen der Zuschauer, ihm beim Filmen eines kurzen Showreel-Videos behilflich zu sein.
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Abbildung 19: Saša Asentis My private bio-politics (2005)
Photo: Damir Žiži.
Es wird dunkler im Saal. Asenti paraphrasiert seinen Satz vom Beginn des Stücks, jetzt jedoch mit gegenteiliger Aussage: „When I was a kid, I didn’t want to become an artist.“ Daraufhin tanzt er einen Volkstanz, den er aus tiefer Bauchstimme heraus mit einem fröhlichen Gesang auf Serbisch begleitet. Am hinteren Ende der Bühne beginnt er mit dem Zitieren einiger Figuren und Bilder der Tanzgeschichte und des sogenannten, in Westeuropa geprägten, zeitgenössischen Tanzes. Aus einer vermittels subtiler Handbewegungen hinter seinem Rücken wachgerufenen Reminiszenz an den sterbenden Schwan aus dem romantischen Ballett Schwanensee wird Vaslav Nijinskys berühmte Pose aus Spectre de la Rose (1911) und hieraus wiederum, sitzend auf dem Stuhl hinten links auf der Bühne, eine Anspielung auf Xavier le Roys minimalistisch repetitive Armbewegungen aus Product of Circumstances (1999). Bilder und Klischees eines hired body gehen kontinuierlich und bruchlos ineinander über und beschleunigen sich zunehmend. Während sich ab einem bestimmten Punkt, der nicht festzumachen ist und unmerklich stattfindet, auch die Übergänge zwischen ihnen verflüssigen, wird aus Eszter Salamons Verkörperung einer multiplen Giszelle (2001) eine auf Contract-Release-Technik basierende Körperhaltung, welche aus einer Contact Impro-Jam stammen könnte, gelöst und verselbstständigt sich ihrerseits zu einer weiteren Bewegungssequenz. Alle Anspielungen und das wilde Zitieren unterschiedlichster Stile und Zeiten stehen gleichgültig nebeneinander und erzeugen den Eindruck totaler Indifferenz sowohl gegenüber ihren jeweiligen Quellen als auch einander gegenüber. „Today I had the feeling a miracle would happen – I was right“, heißt es am Ende. Musik setzt ein, und der Vorhang vor der hinteren Bühnenwand öffnet sich zum einzigen Mal. Dahinter ist die Videoprojektion eines riesigen Zuschauerraums erkennbar, dessen Stühle jedoch leer sind. Asenti wendet dem real anwesenden Publikum den Rücken zu, um in einen an die leeren Stuhlreihen des imaginären Theatersaals gerichteten ekstatischen Tanz zu verfallen. Daraufhin kehrt er zur Bühnenrampe zurück und fragt, warum er von so
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vielen Festivals eingeladen worden wäre mit diesem Stück, das immerhin weder „balcan exotic“ noch „virtuoso“, sondern „not even a dance“ sei und das Monopol Westeuropas auf Definitionen dessen, was zeitgenössischer Tanz ist, in Frage stelle. „Maybe Tanz im August and other Festivals from the West want to be critical toward their own context“, vermutet er. Leider würde sein Stück jedoch, gerade aufgrund seiner Einladungen auf westliche Festivals, Teil des Systems werden, das es eigentlich kritisieren wolle und so jedes kritische Potential verlieren. „And I am, by performing it, losing my exceptional critical position, the outside position, that is material evidence of the criticism that I am performing.“ Die Verstricktheit ästhetischer und biopolitischer Problematiken wird hier überaus deutlich. Denn was innerhalb ästhetischer Praktiken eben noch befreit wurde und offen bestimmbar war, kann im nächsten Moment schon wieder von biopolitischen Prozeduren vereinnahmt und einem Kalkül unterstellt werden.4 Sind die Materialien, die im Verlauf des Stücks vorgestellt wurden, nun Übersetzungen oder Kopien? Was passiert mit immer offenen Materialzusammenhängen, wenn sie in bestimmte Formen und Kontexte eingebettet werden? Welche Intervalle tun sich dazwischen auf? My private bio-politics weist darauf hin, dass der Bindestrich zwischen ‚bio‘ und ‚politics‘ überaus dünn ist und zu verschwinden droht, wenn man nicht genau hinsieht. Alles, was durch die Ästhetik in die Schwebe gebracht, von seiner Bestimmung befreit und gegenüber anderen und neuen Bestimmungen geöffnet wird, kann bald schon in eine funktionale Konstellation integriert sein. Selbst die Aufbrüche des sogenannten ‚Konzepttanzes‘ in Westeuropa der 1990er Jahre können in ihr Gegenteil umschlagen, sobald Singularität der Idee eines allen gemeinsamen, ur-ethischen Lebens weicht. Ist genau das vielleicht das geopolitische Problem im Zentrum von My private bio-politics? Demgegenüber meint das Choreographische Tätigkeiten, die auf ein Außen gerichtet sind und anhand des selbsteigenen Vermögens der Körper Formzusammenhänge generieren: Ihre schöne Praxis.
4
Hierauf hat Bojana Kunst hingewiesen: „The artistic field becomes more and more driven by the globalized cultural market; oppositional and resistent artistic strategies increasingly become the main drive of capital [...] and different histories became framed in the overwhelming cultural production of the future, which is still not there. Into whose future are we breaking-through and what is it that we are leaving behind?“ – Bojana Kunst, Yet to come: Discontents of the common history, in: Performance Research, Volume 10, Issue 2, Juni 2005, S. 43.
8. Das Choreographische im ästhetischen Regime „Denn die Natur ist immer dieselbe, und ihre Kraft und ihr Vermögen zu wirken ist überall gleich. D.h., die Gesetze und Regeln der Natur, nach denen alles geschieht und aus einer Form in eine andere verwandelt wird, sind immer und überall die gleichen.“
1
BENEDICTUS DE SPINOZA/ETHIK „Das ästhetische Regime bestätigt die absolute Besonderheit der Kunst und zerstört zugleich jedes pragmatische Kriterium dieser Besonderheit. Es begründet die Autonomie der Kunst und zugleich die Identität ihrer Formen mit jenen, durch die sich das Leben selbst ausbildet.“
2
JACQUES RANCIÈRE/DIE AUFTEILUNG DES SINNLICHEN
Der Webster’s Timeline History 1710–20073 zufolge besteht seit ein paar Jahrzehnten und vermehrt noch in den letzten Jahren die Tendenz, dass sich innerhalb epistemischer Praktiken, die den Lebens- und Sozialwissenschaften zugeordnet sind, des Choreographiebegriffs bedient wird, um Phänomene zu beschreiben, die mehr 1
Spinoza, Ethik, S. 253.
2
Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 40.
3
Philip M. Parker (Hrsg.), Webster’s Timeline History 1710–2007 – Choreography, San Diego: ICON Group International, 2007. Dankenswerterweise bin ich durch Bojana Cveji auf diese wahre Fundgrube enzyklopädischer Einträge aufmerksam geworden.
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mit einer Regierung von Naturprozessen als mit der Tätigkeit tanzender Körper zu tun haben. Dort werden in chronologischer Reihenfolge Aufsätze und ganze Monographien genannt, deren Titel etwa lauten: DNA Choreography (1981)4, Cellular architecture and choreography (1987)5, Molecular choreography with lasers (1989)6, Membrane glycoprotein choreography (1991)7, Agrin and the molecular choreography of synapse formation (1994)8, An unwelcome partner: parasitic choreography of the host cell cycle (1997)9, Spin choreography: basic steps in high resolution NMR (1998)10, Interphase cell cycle dynamics of a late-replicating, heterochromatic homogeneously staining region: precise choreography of condensation/decondensation and nuclear positioning (1998)11, Envisioning the molecular choreography of DNA base excision repair (1999)12, ICSI Choreography: fate of sperm structures after monospermic rhesus (2001)13, The Choreography of cyclooxygenases in the kidney (2002)14, Choreography of oxidative damage repair in mammalian genomes (2002)15, Receptor-mediated choreography of life and death (2003)16, Nuclear Choreography: interpretations from living cells (2003)17, Choreography of early thalamocortical development (2004)18, Chromosome Choreography: the meiotic ballet (2004)19, A web services choreography scenario for interoperating bioinformatics applications (2004)20, Patterns: serial and parallel processes for process choreography and workflow (2004)21, Choreography of the DNA damage response: spatiotemporal relationships among checkpoint and repair proteins (2004)22, Choreography of the heart beat (2004)23, Lymph node choreogra4
Vgl. ebd., S. 25.
5
Vgl. ebd., S. 30 f.
6
Vgl. ebd., S. 32.
7
Vgl. ebd., S. 35.
8
Vgl. ebd., S. 38.
9
Vgl. ebd., S. 43.
10 Vgl. ebd., S. 45. 11 Vgl. ebd., ebd. 12 Vgl. ebd., S. 47. 13 Vgl. ebd., S. 49. 14 Vgl. ebd., S. 51. 15 Vgl. ebd., S. 52. 16 Vgl. ebd., S. 54. 17 Vgl. ebd., ebd. 18 Vgl. ebd., S. 55. 19 Vgl. ebd., ebd. 20 Vgl. ebd., S. 56. 21 Vgl. ebd., ebd. 22 Vgl. ebd., S. 57.
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phy: Treg cells join the dance (2006)24, Imaging the choreography of lymphocyte trafficking and the immune response (2006)25, The choreography of cell signaling in disease (2006)26, Quantum choreography: making molecules dance to technology’s tune? (2006)27, A choreography of nicotinic receptors directs the dopamine neuron routine (2006)28, Choreography for nucleosomes: the conformational freedom of the nucleosomal filament and its limitations (2007)29, The molecular choreography of a store-operated calcium channel (2007)30, Mitochondriaendoplasmic reticulum choreography: structure and signaling dynamics (2007)31, Choreography of MAGUKs during T cell activation (2008)32, Choreography of Cell Motility and Interaction Dynamics Imaged by Two-Photon Microscopy in Lymphoid Organs (2008)33 oder, zum Schluss der Einträge, HCV, iron, and oxidative stress: the new choreography of hepcidin (2008)34. – Was dagegen würde passieren, wenn die Grenze zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie nicht nur von einer Seite aus überschreitbar wäre, weil die Lebendigkeit der Körper für biopolitische Machtund Wissensformen immer durchlässiger wird, sondern ästhetische Praktiken ebenfalls gegenüber ihrem Außen offen wären? Im Folgenden soll diese Frage beantwortet und eine abschließende These der vorliegenden Arbeit entwickelt werden. Sie besagt, dass es beim Choreographischen um die in ihr implizierte Grenze selbst und deren Durchquerung durch die Fehlschritte vermögender Körper geht. Eine Antwort lässt sich aber innerhalb der subjektiven Denkweise, welche Rancière von Schiller und Kant übernimmt, nicht ausformulieren, weil sie eine Ebene erfordert, die über den Erfahrungshorizont einzelner Körper hinaus auf eine objektive Ebene zwischen ihnen hinzielt. In einem Artikel mit dem Titel What is Choreography? antwortet der belgische Dramaturg und Performancetheoretiker Jeroen Peeters auf die sich dort selbst gestellte Frage: „I have never thought about this question. To define the term, make a taxonomy, turn it into an epistemological field – it all seems utterly impertinent to me.“35 Pee23 Vgl. ebd., S. 58. 24 Vgl. ebd., S. 62. 25 Vgl. ebd., ebd. 26 Vgl. ebd., ebd. 27 Vgl. ebd., S. 63. 28 Vgl. ebd., ebd. 29 Vgl. ebd., S. 64. 30 Vgl. ebd., ebd. 31 Vgl. ebd., S. 64 f. 32 Vgl. ebd., S. 65. 33 Vgl. ebd., ebd. 34 Vgl. ebd., ebd. 35 http://www.sarma.be/text.asp?id=1452. – Zugriff am 18.12.2010.
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ters’ Aussage beschreibt prägnant, worum es sich, obwohl mit ihm eine objektive Ebene zwischen Körpern gemeint ist, beim Choreographischen handelt. Demnach soll keine allgemeine Definition des Choreographischen herauskristallisiert, sondern demonstriert werden, inwieweit es in vielen der heutigen, sogenannten zeitgenössischen Praktiken, als generisches Moment auf dem Spiel steht und inwiefern ihm eine Geschichte innewohnt, die sich noch hinter die bis hierhin konturierte ästhetische Wende um 1800 und Noverres Prophezeiung – „everything will speak, each movement will be expressive“36 – zurückverfolgen lässt.37 Das Choreographische lebendiger und generativ wirksamer Körper, die den souveränen Bezirk festgelegter Haltungen, Raumwege und Schritte verlassen, bezieht sich auf sie nicht mehr wie auf ein leeres Blatt, das als passive Materie seine Beschriftung durch die allgemeine Form eines Regelwerks empfangen würde. Souveräne Formen werden porös und von Fluchtlinien durchzogen von Körpern, die nicht länger einen ihnen äußerlichen Katalog befolgen durch ihre Einübung fixer Positionen im Raum, sondern durch das Ausspielen ihres selbsteigenen Vermögens aktiv an der Genese des Choreographischen mitwirken. Tanzen als Tätigkeit meint dann nicht die Reproduktion ihm vorangehender Formen, sondern erzeugt seinerseits Formen. Üben ist kein Einüben und Einstudieren, sondern weicht der generischen Schaffung nicht im Vorhinein bestimmbarer Beziehungen zwischen Körpern. Im Choreographischen ist lebendige Tätigkeit Formgebung. Derart wird die Unterscheidung zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit brüchig, und es ist nicht mehr zu trennen zwischen einem Bezirk dessen, was tänzerische Artikulation wäre und einem Bereich des plebejischen Lärms, weil es gerade die choreographischen Fehlschritte der Körper sind, die ins Spiel kommen. Ihr Vermögen (potentia) und ihre offene Positionalität treten der Macht (potestas) der Choreographie gegenüber, und sie alle drücken gleichermaßen eine ihnen gemeinsame Natur aus, eine Natur jedoch, die keine feste Größe und keine bestimmte Rahmung, sondern eine prozesshafte und werdende Natur ist. Über diese lebendige Natur, die um 1800 sowohl innerhalb der Ästhetik erscheint als auch zum Gegenstand biopolitischer Kalküle wird, schreibt Gilles Deleuze, sie wäre „in ihrer Substanz eine, aber mannigfach in ihren Modifikationen“38. Dabei bezieht er sich 36 Noverre, Letters, S. 53. 37 Bzgl. jüngerer Überlegungen zu offenen Auffassungen von Choreographie, die dem hier entwickelten Konzept des Choreographischen nahestehen vgl. exemplarisch Bojana Cveji/Ana Vujanovi, Open Work. Does it deserve a theory today?, in: maska, „Open work“, Autumn–Winter 2005, Bojana Cveji, The Ignorant Dramaturg, in: maska, „Practical Dramaturgy“, Summer 2010 und Janez Janša, From Dramaturgy to the Dramaturgical, ebd. 38 Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München: Fink, 1993, S. 113.
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auf die Philosophie Benedictus de Spinozas, der bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das weit über seine Zeit hinausweisende Konzept einer nicht festgelegten, eher konstituierenden denn bereits konstituierten, Substanz entwickelt hat. Spinozas offen bestimmbare Substanz und deren Modifikationen, in Bezug auf die nun das Choreographische herausgestellt sei, sind mit ihm in mehrerlei Hinsicht verwandt. (1.) Alles ist überall gleichermaßen expressiv. (2.) Es gibt keine Grenze zwischen einem Feld, welches der Choreographie unterstellt wäre und einem, das von ihr ausgeschlossen ist und in dem es deshalb keine Artikulation von Körpern gäbe. (3.) Alles kann potentiell zu Tanz werden. Als Tätigkeit ist Tanzen nicht streng von anderen Tätigkeiten unterschieden. (4.) Das Choreographische verweist eher auf qualitative Transformationen denn auf feste Formen der Körper. Sie werden nicht schon fertigen, transzendenten Formen subsumiert, sondern bringen ihrerseits Form hervor. (5.) Das Choreographische besteht, genau wie die Substanz Spinozas, eher aus Modifikationen denn aus festen Figuren und Größen. Es würde zu weit führen, auf Einzelheiten der Wirkungsgeschichte Spinozas einzugehen. Gerade seine posthum veröffentlichte Ethik, die zu Lebzeiten zu veröffentlichen für ihn zu gefährlich gewesen wäre, wurde über die Jahrhunderte hinweg auf sehr unterschiedliche Weise verstanden und gerade im Verlauf des 19. Jahrhunderts, innerhalb der deutschen Romantik, eher verklärt und entstellt als angemessen rezipiert.39 Trotzdem sei kurz darauf hingewiesen, dass auch die Generation der sogenannten Aufklärer in Deutschland während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Spinozas Hauptwerk Notiz genommen hat. Während Schiller sich in keinem seiner philosophischen Texte und Briefe auf ihn bezieht40, verdankt ihm Kant 39 Antonio Negri weist in seinem bahnbrechenden Werk The Savage Anomaly auf die durchweg ambivalente Verstricktheit des deutschen Idealismus mit Spinoza hin, bevor er von den Romantikern vereinnahmt wurde: „In Kant the Spinozian scheme is adopted and used to organize the analytic and dialectic of the transcendental function, and it is precisely through reference to Spinoza that classical idealism devotes itself to reexamining the relative failure of the Kantian proposal and to ontologically reconstructing the project.“ – Antonio Negri, The Savage Anomaly, Minneapolis/Oxford: University of Minnesota Press, 1991, S. 148. Vgl. auch Pierre Macherey, Hegel or Spinoza, Minneapolis/London: University of Minnesota Press, 2011, Etienne Balibar, Spinoza and Politics, London/New York: Verso Books, 2008, Dimitris Vardoulakis (Hrsg.), Spinoza Now, Minneapolis/London: University of Minnesota Press, 2011 und Norbert Altwicker (Hrsg.), Texte zur Geschichte des Spinozismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971. 40 Obwohl er ihm ein kurzes Gedicht mit dem Titel Spinoza widmet: „Hier liegt ein Eichbaum umgerissen, / Sein Wipfel tät die Wolken küssen, / Er liegt am Grund – warum? / Die Bauern hatten, hör ich reden, / Sein schönes Holz zum Baun vonnöten / Und rissen ihn deswegen um.“ – Friedrich Schiller, Sämtliche Werke – Band 1, München: Hanser,
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hingegen indirekt seine Berühmtheit bereits zu Lebenszeiten. Friedrich Heinrich Jacobi veröffentlicht 1785 eine polemische Streitschrift unter dem Titel Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, in der er von einem Zusammenhang zwischen den seinerzeit aufkommenden Strömungen des Pantheismus, Rationalismus und Atheismus spricht, welche durch das Denken Spinozas gefördert und sich besonders deutlich etwa bei Gotthold Ephraim Lessing, den Jacobi deshalb einen „Spinozisten“41 nennt, finden würden. Interessanterweise war Lessing, zusätzlich zu seiner Auseinandersetzung mit Spinoza, auch an der Übersetzung von Noverres Briefen über die Tanzkunst beteiligt. Von Jacobi wird er wegen seines Interesses an Spinoza kritisiert.42 2004, S. 52. Eine Inspiration von Schillers Denkens durch das Spinozas ist nicht von der Hand zu weisen. So hört sich seine Beschreibung des Naturschönen in einem Brief an Körner vom 23. Februar 1793 durchaus spinozistisch an: „Bey dem Naturschönen sehen wir mit unsern Augen, daß es aus sich selbst ist; daß es durch eine Regel sey, sagt uns nicht der Sinn, sondern der Verstand. Nun verhält sich aber die Regel zur Natur, wie Zwang zur Freiheit. Da wir uns nun die Regel bloß denken, die Natur aber sehen, so denken wir uns Zwang, und sehen Freiheit. Der Verstand erwartet und fordert eine Regel, der Sinn lehrt, daß das Ding durch sich selbst und durch keine Regel ist.“ – http://www.wissen-im-netz.info/literatur/schiller/briefe/1793/179302231.htm. – Zugriff am 17.3.2011. 41 „Lessing glaubt keine von der Welt unterschiedene Ursache der Dinge, oder, Lessing ist ein Spinozist“, fasst Jacobi seine Ansicht über das Mitglied der sogenannten Berliner Aufklärung zusammen. – Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Hamburg: Felix Meiner, 2000, S. 47. 42 Jacobis 1785 erstmals veröffentlichte Textsammlung beruht auf einem Gespräch zwischen ihm und Lessing über die Philosophie Spinozas aus dem Jahre 1780. Während Lessing für eine den Naturprozessen immanente Gottesidee Position bezieht, verteidigt Jacobi den orthodoxen Kirchenglauben und geht davon aus, dass jeder Pantheist zugleich auch Atheist sein müsse. Dabei fasst er an einer Stelle die zentrale Idee Spinozas zusammen, indem er dessen Gott Willen und Wollen – und damit eine teleologische Ausrichtung – abspricht: „Diese innewohnende unendliche Ursache hat, als solche, exlicite, weder Verstand, noch Willen, weil sie, ihrer transzendentalen Einheit und durchgängigen absoluten Unendlichkeit zufolge keinen Gegenstand des Denkens und des Wollens haben kann, und ein Vermögen einen Begriff vor dem Begriffe hervorzubringen, oder einen Begriff der vor seinem Gegenstande und die vollständige Ursache seiner selbst wäre, so wie auch ein Wille, der das Wollen würkte und durchaus sich selbst bestimmte, lauter ungereimte Dinge sind.“ – Ebd., S. 25. Aus dieser Beobachtung ziehen Jacobi und Lessing jedoch entgegengesetzte Konsequenzen. Wenn Gott „lauter würkende“ und keine einzige „Endursache“ beinhalte, so Jacobi, sei auch die Freiheit und Autonomie des Menschen in Gefahr, weil dann alles den anonymen Kräften der Natur entspringe: „Der Er-
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In den folgenden Pantheismusstreit schaltet sich auch Kant ein und zieht so die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen auf sich. Obwohl er, im Gegensatz etwa zu J.W. Goethe, nicht direkt Stellung für Spinoza bezieht und seinem transzendentalen Subjekt bis auf immer wieder aufblitzende Zweifel daran Zeit seines Lebens den Zugang zum noumenalen Bereich des Dings-an-sich versperren wird, weisen viele seiner Gedanken, neben allen Unterschieden, interessante Parallelen zur Ethik auf. Hierauf hat Reiner Wiehl hingewiesen: „In einem besonders wichtigen Punkte scheinen nun allerdings Kant und Spinoza übereinzustimmen, nämlich daß die Natur selbst in der empirischen Erkenntnis Verstand und Vernunft zu gebrauchen verlangt, und dies nicht nur um der gesetzmäßigen Bestimmung, sondern auch um der Reflexion auf diese Gesetzmäßigkeit willen.“43 Innerhalb der Analytik des Schönen finder der Uhr erfand sie im Grunde nicht; er sah nur ihrer Entstehung aus blindlings sich entwickelnden Kräften zu.“ – Ebd. S. 26 f. Für Lessing dagegen ist es der Kontakt des menschlichen Vermögens mit Kräften, die ihm zwar nicht entspringen, die es jedoch durchdringen, welchen aufgedeckt zu haben er Spinoza rühmt. In einem späteren Brief an Jacobi wirft Mendelssohn Lessing deshalb Luftsprünge vor: „Zweifeln, ob es nicht etwas gibt, das nicht nur alle Begriffe übersteigt, sondern völlig außer dem Begriffe liegt; dieses nenne ich einen Sprung über sich selbst hinaus. Mein Credo ist: was ich als wahr nicht denken kann, macht mich, als Zweifel, nicht unruhig. Eine Frage, die ich nicht begreife, kann ich auch nicht beantworten; ist für mich so gut, als keine Frage. Es ist mir niemals eingefallen, auf meine eigenen Schultern steigen zu wollen, um freiere Aussichten zu haben.“ – Ebd., S. 186. Diese Luftsprünge und das Hinaussteigen über sich selbst sind es, die Lessings Affinität für Spinozas Philosophie mit der Erfahrung des Schönen bei Kant und Schiller verbinden. Jacobi versucht vermittels der Veröffentlichung seiner Briefe über den Spinozismus eine teleologische Gottesidee und eine ihr entsprechend geordnete Gemeinschaft vor dem Einbruch einer entregelten Natur zu retten. So fragt er sich, rückblickend auf seine Korrespondenz mit Lessing, „ob nur eine selbstständige Natur ist, die aus ihrem Schoße eine Unendlichkeit von Erscheinungen ohne Anfang und Ende willenlos gebiert“ oder ob es nicht vielmehr eine „Schöpfung mit Wissen und Willen, nicht eine bloße Fruchtbarkeit, wie Kant treffend unterschieden hat“, geben müsse. – Ebd., S. 312. In Kants Analytik des Schönen jedoch rückt gerade die „bloße Fruchtbarkeit“ der (menschlichen) Natur gegenüber einer bereits fertigen Schöpfung in den Vordergrund. Choreographie als Form steht dann ebenso wenig fest wie Tanz als Tätigkeit, und beide treffen sich dort, wo vermögende Körper mit unbestimmten Kräften spielen. 43 Reiner Wiehl, Kants Auseinandersetzung mit Spinoza, in: Manfred Walther (Hrsg.), „Spinoza und der deutsche Idealismus“, Würzburg: Königshausen&Neumann, 1992, S. 38 f. Vgl. hierzu auch den qualitativ hochwertigen Scan der 1879 erstmals publizierten und heute vergriffenen Ausgabe von Jakob Frohschammer, Über die Bedeutung der Einbildungskraft in der Philosophie Kant’s und Spinoza’s, Charleston: Nabu Press, 2012 sowie eine sehr frische Arbeit jüngeren Datums: Beth Lord, Kant and Spinozism –
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bringen Kants Idee des ästhetischen Gemeinsinns und, so Wiehl, „die ausgezeichnete Funktion der reflektierenden Urteilskraft, daß sie zu einem ihr gegebenen Besonderen das Allgemeine zu finden sucht, während im Unterschied zu ihr die bestimmende Urteilskraft immer je schon über ein bestimmtes Allgemeines verfügt, unter welches sie ein gegebenes Besonderes subsumiert“44 zum Ausdruck, was bereits Spinoza zur höchsten Maxime menschlichen Handelns erklärt hat. „Wie nun, wenn das höchste Gut derjenigen, die den Weg der Tugend gehen, nicht allen gemeinsam wäre? Würde daraus nicht […] folgen, daß die Menschen, die nach der Leitung der Vernunft leben, d.h. […] die Menschen, insofern sie von Natur übereinstimmen, einander entgegengesetzt sind? – so diene ihm zur Antwort, daß es nicht von einem Zufall herrührt, sondern in der Natur der Vernunft selbst begründet ist, daß das höchste Gut des Menschen allen gemeinsam ist […].“45
Über 100 Jahre vor Kant entwickelt Spinoza in Holland, während in anderen Teilen Europas noch tiefster Barock herrscht, eine Philosophie der Emanzipation von dem menschlichen Vermögen (potentia) äußerlichen Machtformen (potestas) und propagiert eine Vorstellung der Natur, die jede Zweckmäßigkeit und symbolische Korrelation ausschließt. Vor Kants Kritik der Urteilskraft (1790) und Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) und der von ihnen entwickelten Idee des Schönen, auf die Rancière sein ästhetisches Regime stützt, entfaltet er in der Ethik (1677) eine radikale Philosophie des Körpers. Antonio Negri betont in seiner frühen Studie The Savage Anomaly Spinozas eigenwillige Stellung seinen Zeitgenossen gegenüber, wenn er in ihm weniger einen pantheistischen Mystiker als einen der ersten materialistischen Philosophen sieht. Negri zufolge zielt sein Denken darauf ab, transzendente Zweckbestimmungen des Menschen und Gemeinschaftsformen zurückzuweisen, in denen die Einzelnen ihr Vermögen an eine ihnen äußerliche Instanz abgeben. Im Gegensatz zum Staat, wie Thomas Hobbes ihn denkt, müssen Gesetz und Verfassung laut Spinoza von den Körpern in actu gesetzt und verfasst werden. Sie sind ihnen gegenüber nicht, wie die souveräne Macht des Leviathans, transzendent, sondern immanent. Dasselbe gilt für das Choreographische in seinem Gegensatz zur Choreographie. Während (1.) Arbeau und Feuillet das Vermögen der Körper auf Poetiken des Tanzes einschränken und (2.) biopolitische Produktionsweisen es nur freisetzen, um es anhand von Stilen und Techniken zu vereinnahmen, wird es im Choreographischen als ihr selbsteigenes Vermögen Transcendental Idealism and Immanence from Jacobi to Deleuze, New York: Palgrave Macmillan, 2011. 44 Wiehl, Kants Auseinandersetzung mit Spinoza, in: Walther (Hrsg.), „Spinoza und der deutsche Idealismus“, S. 36. 45 Spinoza, Ethik, S. 511.
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zur objektiven Ebene zwischen ihnen. Deshalb trifft für es zu, was Negri über den konstituierenden Körper (und dessen potentia) sagt, den er zum bereits (durch die potestas) konstituierten Körper in Kontrast setzt. „As it disengages from the contract of subjection, the mechanism changes nature; genetic thought becomes productive thought on a horizon that potentia holds open. But this affirmation attains its full meaning and its adequate development only when it is brought back within a metaphysical frame that can make its conditions possible.“46
Dieser ‚metaphysische‘ Rahmen, der bei Kant und innerhalb einer langen Tradition nach ihm der subjektiven Erfahrung von Körpern als Noumenon oder Ding-an-sich unzugänglich bleiben muss, ist Spinozas Substanz. Sie ist, ebenso wie das Choreographische, keine einfach gegebene Größe und kein bereits bestimmtes Reservoir an Formen (Körperhaltungen, Schrittfolgen und Positionen im Raum), weil sie den Körpern nicht vorangeht, sondern aus ihren Tätigkeitsformen resultiert als eine objektive Ebene zwischen ihnen. Während Choreographie dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Körper vor die Wahl nur möglicher Formen stellt, handelt es sich beim Verhältnis zwischen Form und Tätigkeit hier um eines der Potentialität. Pierre Macherey weist darauf hin, dass es Spinoza nicht um die Emanation der Substanz geht, sondern um deren Konstitution vermittels und innerhalb der Praxis der Körper, durch welche sie ausgedrückt wird. „Dieser Ausdruck in actu ist das genaue Gegenteil einer Repräsentation: Spinoza hat die repräsentative Konzeption der Idee, die für das Cartesische Denken zentral ist, widerlegt. Indem er die Triade des Ausdrucks an die Stelle dessen setzte, was Foucault in Die Ordnung der Dinge die ‚Verdoppelung der Repräsentation‘ genannt hat, die ein Widerspiegelungsverhältnis zwischen Repräsentierendem und Repräsentiertem voraussetzt, hat Spinoza den Ausdruck als Konstitution und Produktion begriffen. Ihm zufolge besteht die Erkenntnis nicht darin, daß dem Geist durch ein mentales Bild und/oder ein System von Zeichen Dinge ‚repräsentiert‘ werden; sie ist vielmehr Ausdruck, d.h. Produktion und Konstitution der Sache selbst im Geist.“47
Spinoza unterscheidet zwischen drei Ebenen: Der Substanz, den Attributen und den Modi. Die Substanz ist das Ausdrückende (und darin Kants dem subjektiver Erfahrung verschlossenen Noumenon, dem Ding-an-sich, vergleichbar, obwohl sie kein Ding ist, sondern in den Verhältnissen zwischen Modi besteht), die Attribute – der Mensch erfährt nur Denken und Ausdehnung – sind ihr Ausdruck und die einzelnen 46 Negri, The Savage Anomaly, S. 126. 47 Pierre Macherey, In Spinoza denken, in: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hrsg.), „Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie“, München: Fink, 1996, S. 59.
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Modi der Substanz das Ausgedrückte. Deleuze meint deshalb: „Das Ausgedrückte existiert nicht außerhalb seines Ausdrucks, es ist aber ausgedrückt als Wesen dessen, was sich ausdrückt.“48 Jeder Modus modifiziert nicht nur andere Modi, sondern auch die Substanz. Ebenso wie das Choreographische den Körpern nicht als ihnen äußerliche Form voran-, sondern aus ihnen hervorgeht, ist Ausdrücken die Generation der Substanz durch ihre Modi. Notwendigkeit ist für Spinoza keine Unterordnung von Mitteln unter Zwecke, sondern, wie Pierre-François Moreau es formuliert, „eine in den Dingen liegende lebendige Wirkungskraft“49, die voraussetzt, dass die Welt nicht in ein Königreich des (menschlichen oder göttlichen) Willens und eine ihm untergeordnete Region willenloser Objekte geteilt ist: Dies ist der Fall bei Arbeaus und Feuillets Poetiken des Tanzes. Sie bilden einen fixen Pol, an dem sich die Tätigkeit der Körper auszurichten hat, indem sie bestimmte Haltungen einnehmen und bestimmte Schritte machen. Die Modi der Substanz hingegen generieren Formen. Wie für Kant und Schiller in der Erfahrung des Schönen kommt es bei Spinoza zu einer affektiven Belebung des Körpers, wenn er seine Beziehung zu anderen Körpern gegenüber ihrer eigenen Bestimmbarkeit öffnet. Friedrich Balke fasst die Privilegierung von Relationen gegenüber dem bereits Verbundenen so zusammen: „Eine Philosophie der Konjunktionen und Konnexionen würde die gewöhnliche Auffassung von der Vorgängigkeit des Verbundenen vor den Verbindungen, der Elemente vor den Relationen ad acta legen und dem ‚und‘ eine spezifische Produktivität zuerkennen müssen.“50 Körper stehen in einem reziproken Kräfteverhältnis, in dem sie ebenso andere affizieren wie sie von ihnen affiziert werden. Das kann entweder heißen, dass ein Körper deshalb von einem anderen beherrscht, also von ihm äußerlichen Kräften verursacht wird, dass er seinerseits den anderen beherrscht, sogar dass beide sich gegenseitig zerstören, oder dass sie durch ihre Begegnung beide an Tätigkeitsvermögen gewinnen, indem sie sich miteinander verbinden. Neue Verbindungen zwischen ihnen finden statt, wenn sie sich gegenseitig modifizieren und dabei etwas ihnen Gemeinsames erkennen. Laut Simon O’Sullivan impliziert Spinozas Konzept der Gemeinbegriffe wie Kants ästhetischer Ge48 Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks, S. 41. 49 Pierre-François Moreau, Spinoza – Versuch über die Anstößigkeit seines Denkens, Frankfurt am Main: Fischer, 1994, S. 40. 50 Friedrich Balke, Die größte Lehre in Häresie. Über die Gegenwärtigkeit der Philosophie Spinozas, in: Moreau, „Spinoza“, S. 174. Whitehead beschreibt das Schöne als Herausbildung neuer Kontraste: „Auf diese Weise tragen die Teile zur kompakten Einheit des gefühlten Ganzen bei; und das Ganze wiederum leistet seinen Beitrag zu einer gesteigerten Intensität des Fühlens beim Erfassen seiner Teile. Die subjektiven Formen der Erfassensakte verflechten sich so miteinander zur Einheit eines strukturierten Kontrasts, in dem sie je für sich hervorgehoben werden.“ – Whitehead, Abenteuer der Ideen, S. 442.
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meinsinn qualitative Transformationen derjenigen, die an ihrer Genese beteiligt sind. „Of course, aesthetics also names a response to the world and specifically to certain objects in that world. Following Kant, at least on this point, aesthetics names a specifically disinterested response, or, we might say, a response that is not ‚of‘ the self as already constituted. […] Our encounter with art has the capacity to produce these kinds common notions and transversal becomings […].“51
Spinoza unterscheidet zwischen Leiden und Handlungen, die aus unterschiedlichen Affektionen des Körpers resultieren. Modi sind durch ihr Streben gekennzeichnet, im eigenen Sein zu verharren. Dieses Streben, ihr conatus, ist ein Streben danach, tätig zu sein. Daneben gibt es zwei weitere grundlegende Affekte: Lust und Unlust. Während Lust das Tätigkeitsvermögen des Körpers steigert, wird es, wenn er von Unlust erfüllt ist, vermindert. Sowohl Lust als auch Unlust sind Übergänge. Sie sind keine fixen Pole an den entgegengesetzten Enden einer extensiven Skala, sondern – auch hierin sind sich Spinoza und Kant nah – intensive Zustände im einzelnen Modus. „Ich sage Übergang. Denn Lust ist nicht selbst Vollkommenheit. Denn wenn der Mensch mit der Vollkommenheit, zu der er übergeht, geboren würde, wäre er ohne den Affekt der Lust in ihrem Besitze. Dies ergibt sich deutlicher aus dem Affekt der Unlust, der dem Affekt der Lust entgegengesetzt ist. Denn daß die Unlust im Übergang zu geringerer Vollkommenheit besteht, nicht aber in der geringeren Vollkommenheit selbst, kann niemand bestreiten, da ja der Mensch nicht insofern Unlust empfinden kann, als er irgendeiner Vollkommenheit teilhaftig ist. Auch können wir nicht sagen, daß die Unlust im Mangel einer größeren Vollkommenheit besteht. Denn Mangel ist nichts, der Affekt der Unlust aber ist ein Geschehen und kann daher nichts anderes sein als das Geschehen des Übergangs zu geringerer Vollkommenheit, d.h. das Geschehen, wodurch das Tätigkeitsvermögen des Menschen vermindert oder gehemmt wird.“52
In einem gegebenen Denken gibt es zwar Ideen, die sich primär auf einen gegebenen Körper beziehen, zugleich aber sekundär andere Körper ausdrücken, so dass es auf der Ebene der Attribute zu Vermischungen mehrerer ausgedehnter Körper im Denken kommt, die sich, wenn ein Modus handelt, anstatt zu leiden, dort gegenseitig übersetzen, indem sie sich ineinander explizieren. 51 Simon O’Sullivan, From Aesthetics to the Abstract Machine: Deleuze, Guattari and Contemporary Art Practice, in: ders./Stephen Zepke, „Deleuze and Contemporary Art“, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2010, S. 191 + S. 198. 52 Spinoza, Ethik, S. 397.
342 | V ERMÖGENDE K ÖRPER „Denn alle Modi, wodurch ein Körper affiziert wird, folgen aus der Natur des affizierten Körpers und zugleich aus der Natur des affizierenden Körpers [...]; daher wird ihre Idee […] die Natur beider Körper notwendig in sich schließen. Mithin schließt die Idee eines jeden Modus, wodurch der menschliche Körper von einem äußeren Körper affiziert wird, die Natur des menschlichen Körpers und des äußeren Körpers in sich ein.“53
Natur ist nicht einfach Schauplatz der Einschreibung aktiver Formen in eine passive Materie, sondern ein objektiver Wirkungszusammenhang zwischen Körpern. Als Attribute verlaufen Denken und Ausdehnung im einzelnen Modus zwar parallel zueinander, ohne dass ersteres letztere abbilden könnte, sie bilden aber eine Einheit, die dann notwendig handelt, wenn sie selbstbestimmt handelt. Deleuze formuliert diese Differenz zwischen Spinoza und Kant so: „Was die Freiheit definiert, ist ein ‚Inneres‘ und ein ‚sich‘ der Notwendigkeit. Man ist niemals durch seinen Willen und das, wonach er sich richtet, frei, sondern durch seine Wesenheit und was aus ihr hervorgeht.“54 Der Grad an Freiheit eines Körpers ist umso größer, je vielfältiger er andere Körper affizieren und von ihnen affiziert werden kann, je mehr er sich also mit ihnen zusammenzusetzen in der Lage ist. „Das, was den menschlichen Körper so disponiert, dass er auf viele Weisen affiziert werden kann, oder was ihn fähig macht, äußere Körper auf viele Weisen zu affizieren, ist dem Menschen nützlich und umso nützlicher, je fähiger der Körper dadurch gemacht wird, auf viele Weisen affiziert zu werden und andere Körper zu affizieren. Umgekehrt ist das schädlich, was den Körper hierzu unfähiger macht. […] Je mehr der Körper hierzu fähig gemacht wird, desto fähiger wird der Geist zum Erkennen gemacht [...].“55
Während in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die strikten Regeln der Académie Royale de Danse in Paris noch definieren, was ein Körper kann, befreit Spinoza ihn in Amsterdam bereits aus den gedanklichen Korsetten, die ihm sein Vermögen absprechen, indem er die Unterordnung der res extensa unter die res cogitans verwirft, die René Descartes zeitgleich vertritt.56 Während Descartes davon 53 Ebd., S. 161. 54 Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, S. 87. 55 Spinoza, Ethik, S. 523. 56 Descartes’ Rede über die Sinne wirkt geradezu abgespalten vom Körper und dessen vielschichtigen Verbindungen zu anderen Körpern, wenn er in seinen Meditationen allein die res cogitans zur letzten Gewissheit und zum Anker seiner Existenz erhebt: „[I]ch habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Größe, Bewegung und Ort sind nichts als Chimären. [...] Bin ich etwa so an den Körper und an die Sinne gefesselt, dass ich ohne sie nicht sein kann? Indessen, ich habe mich überredet, daß es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine Geister, keine Körper, also doch auch wohl mich
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ausgeht, dass der Geist das Handeln des Körpers vermittels eines privilegierten Organs, der Zirbeldrüse im Gehirn, bestimmt, gibt es für Spinoza kein solches Primat, ebenso wenig wie es für ihn einen in diesem Sinne aktiven Willen gibt, der eine passive Materie leiten könnte: „Und tatsächlich, da es kein Verhältnis des Wollens zur Bewegung gibt, so gibt es auch keinen Vergleich zwischen dem Vermögen und den Kräften des Geistes und denen des Körpers; und folglich können die Kräfte des Körpers niemals durch die Kräfte des Geistes bestimmt werden.“57 Eine kategoriale Unterscheidung zwischen Erkenntnissen des Geistes und Affekten des Körpers lehnt er ab. Ihm zufolge ist jede Erkenntnis zugleich auch ein Affekt. Als solche kann sie, „insofern sie wahr ist, keinen Affekt einschränken, sondern nur, insofern sie als Affekt betrachtet wird.“58 Seinen Parallelismus entwickelt Spinoza vor dem Hintergrund eines zu seiner Zeit neuen Naturbegriffs und in Ablehnung des im 17. Jahrhundert üblichen Glaubens an Gott als an eine ihrer Schöpfung gegenüber transzendente Instanz, welcher das Pariser Ballett und die Académie Royale de Danse zu etablieren geholfen hat: Ohne den Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. wären die Notations- und Kompositionsverfahren Beauchamps und Feuillets, die wie Descartes ein hierarchisches Verhältnis zwischen Geist und Körper voraussetzen, schwer denkbar. Im Gegensatz zu Descartes vertritt Spinoza ein gemeinsames Tätigkeitsvermögen von Denken und Körper, das dann zunimmt, wenn wir Ursache unseres Handelns werden und uns selbst bestimmen, anstatt von uns äußerlichen Ursachen bestimmt zu werden. Ursache eines Handelns zu sein ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden und führt von inadäquaten über adäquate Ideen zur Bildung von Gemeinbegriffen sowie von traurigen zu freudigen Affekten und zu einer Belebung des Körpers, wie sie auch das Schöne Schillers und Kants ausmacht. Ursache seiner selbst zu werden heißt, sich von allgemeingültigen Ideen zu lösen und zu beginnen, Gemeinbegriffe zu bilden, was nur als immanenter Vollzug einer mehreren Modi gemeinsamen Praxis geschehen kann und – mit Deleuzes objektiver Zuspitzung von Kants Schönem gesprochen – „die Realität des Realen“ subjektiv erfahrbar macht, weil „sie sich anderweitig reflektiert“59. selbst nicht? Keineswegs; ich war sicherlich, wenn ich mich dazu überredet habe. – Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen, höchst mächtigen und verschlagenen Betrüger, der mich geflissentlich stets täuscht. – Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er es doch fertig bringen, dass ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. [...] Wie lange aber bin ich? Nun, solange ich denke. [...] Ich bin aber ein wahres und wahrhaft existierendes Ding, aber was für ein Ding? Nun – ich sagte es bereits – ein denkendes.“ – René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Meiner, 1954, S. 16 f. 57 Spinoza, Ethik, S. 625. 58 Ebd., S 469. 59 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 97.
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Ähnlich argumentiert Negri, dass die selbsteigene Praxis vermögender Körper immer in ihrer Singularität und als Besonderung ihrer Tätigkeitsformen gedacht werden muss: „This interweaving is seen by Spinoza on a horizon of absolute immanence. There is no superior, transcendent plane associated with the concept of constitution“60 und noch deutlicher an anderer Stelle, wenn er zu dem Schluss kommt, dass „[c]onstitutive praxis, in Spinozian thought, is the subordination of the limit to accumulation, to constitution. The limit is within constitutive praxis: Therefore, praxis is open.“61 Spinoza will verstehen, wie die Lebendigkeit des Körpers, unabhängig von den Ideen, welche der Geist bereits von ihm gebildet hat, qualitativ transformiert wird, wenn er neue Affekte und Empfindungen hervorbringt. Vor diesem Hintergrund lässt sich Rancières ästhetisches Regime von seiner Verhaftung im Subjektivismus lösen und um eine objektive Dimension ergänzen. Zwar bewahrt er in mehreren seiner Texte eine kantianisch inspirierte, kritische Distanz zur Philosophie Spinozas und deren Adaption durch Deleuze und Guattari, meint aber in einem Interview mit dem Titel Is there a Deleuzian Aesthetics?, dass sich in ihr das Problem seines ästhetischen Knotens vorweggenommen fände, nämlich radikal geöffnete Verbindungen zwischen Körpern (zwischen Form und Stoff bei Schiller und zwischen Verstandes- und Einbildungskraft bei Kant).62 Das Choreographische ist nicht zu trennen von solchen Öffnungen, die es zuallererst erzeugen: Die berühmte „Zauberformel“ der Tausend Plateaus, „Pluralismus=Monismus“63, meint in ihren
60 Negri, The Savage Anomaly, S. 219. 61 Ebd., S. 180. 62 Jacques Rancière, Is there a Deleuzian Aesthetics?, in: Qui Parle?, Volume 14, Number 2, 2004. Auf die Frage, ob er glaube, Deleuze biete eine Art ‚Metaphysik‘ seines eigenen ästhetischen Regimes an, antwortet er: „Yes, I do think so. What I try to say is that the destruction of the representational regime supposes that one opposes to the Nature which supports it – Nature governed by the model of the form working on matter – something like another Nature or an ‚anti-Nature‘. When I speak of the ‚metaphysics of literature‘, it is in this sense. In The Temptation of Saint Anthony, Flaubert brings in his Spinozist devil – Spinozist in the 19th-Century style! He offers a temptation to the Saint which, as with all temptation, is properly speaking metaphysical: he makes the context of representation, of which the story of his God is an integral part, disappear, to make him feel in its place a molecular world, a world that is made of pure percepts, pure identities of perceived and perceiver; a world, above all, of pre-individual or non-individual realities. It is this, the ‚metaphysics of literature‘: a world before the chaining together of causes and effects, a molecular world which consists of the mixing of atoms, in an agitiation of matter that one might call immaterial.“ – http://www.16beavergroup.org/mtarchive/archives/ 002019.php. – Zugriff am 21.8.2010. 63 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 35.
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spinozistischen Ursprüngen von ihnen provozierte, qualitative Transformationen der Körper. „Der Grund also oder die Ursache, weshalb Gott oder die Natur handelt und weshalb Gott oder die Natur existiert, ist ein und derselbe. Wie sie also nicht um eines Zwecks willen existiert, so handelt sie auch nicht um eines Zwecks willen; vielmehr: wie es für ihre Existenz keinen Anfangsgrund oder Endzweck gibt, so gibt es auch nichts dergleichen für ihr Handeln.“64
In seiner kleinen Studie Spinoza – Praktische Philosophie fasst Deleuze den wohl wichtigsten Punkt der Ethik zusammen, wenn er schreibt, in ihr ginge es um den großen Leitsatz, „daß es nur eine einzige Substanz gibt, die unendlich viele Attribute hat, Deus sive Natura und alle ‚Kreaturen‘ sind nur Modi dieser Attribute oder Modifikationen dieser Substanz.“65 Um herauszustellen, wie ihre gemeinsame Form als eine bloße Form von der lebendigen Tätigkeit der Körper erzeugt wird, ist es wichtig, zunächst zu untersuchen, was ein Körper für Spinoza ist und was er vermag.
8.1 S PINOZA : W AS
KANN EIN
K ÖRPER ? „Die Scheidung der arbeitenden Arme von dem umherschweifenden Blick führt den Körper des Arbeiters in eine neue Konfiguration des sinnlich Wahrnehmbaren; sie übersteigt die ‚richtige‘ Beziehung zwischen dem, was ein Körper ‚kann‘ und dem, was er nicht ‚kann‘.“
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JACQUES RANCIÈRE/ÄSTHETISCHE TRENNUNG, ÄSTHETISCHE GEMEINSCHAFT
Was ein Körper kann, davon lassen sich keine allgemeingültigen Begriffe bilden. Spinoza geht es nicht um fixe Ideen des Körpers, sondern um dessen Singularität: „Wenn Spinoza sagt: wir wissen nicht einmal, was ein Körper kann, dann ist diese Formulierung fast wie ein Schlachtruf“67, schreibt Deleuze in Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Deleuzes ‚Schlachtruf‘ wendet sich 64 Spinoza, Ethik, S. 437. 65 Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, S. 27. 66 Rancière, Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 271. 67 Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks, S. 225.
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auch gegen denjenigen Körper, der in den heutigen Kulturwissenschaften oft nur als diskursiver Effekt68 gedacht wird und meint einen durchaus natürlichen Körper, der aber nicht deshalb natürlich ist, weil er dem Bild einer im Vorhinein bestimmten Natur entsprechen würde, sondern weil er in erster Linie ein unbestimmtes Vermögen (potentia) ausdrückt, das jede diskursive Verfasstheit (potestas) übersteigt. Massumi bemerkt hierzu: „Signifying subject formation according to the dominant structure was often thought of in terms of ‚coding.‘ Coding in turn came to be thought of in terms of positioning on a grid. The grid was conceived as an oppositional framework of culturally constructed significations: male versus female, black versus white, gay versus straight, and so on. A body corresponded to a ‚site‘ on the grid defined by an overlapping of one term from each pair. The body came to be defined by its pinning to the grid.“69
Im Gegensatz dazu verweist der für viele zeitgenössische Choreographinnen und Choreographen wichtigste Ausruf der Ethik auf vermögende Körper. Weiter oben wurde anhand der folgenreichen Konzepte Thoinot Arbeaus und Raoul-Auger Feuillets gezeigt, inwieweit dort Tanzen auf eine umgrenzte Anzahl an Körperhaltungen, Schritten, Raumwegen und Positionen beschränkt ist. In ihnen wird der Körper als Ausdrucksmaterie bestimmten Ausdrucksformen subsumiert. Demzufolge bedingt Schrift seine Tätigkeit und legt anhand von Notations- und Kompositionsverfahren sowie letztlich Regelbüchern, auf die er sich bezieht, wenn er tanzt, ein Repertoire an Möglichkeiten fest. Sein Vermögen kommt nicht ins Spiel, weil er auf das Einüben und den Vollzug von Strukturen verwiesen ist, die unabhängig von seiner Tätigkeit bereits niedergeschrieben sind. Insofern ist Choreographie bei Arbeau und Feuillet poetisch gestaltet und unterscheidet sich von biopolitischen Produktionsverhältnissen, in denen es um die Freisetzung vermögender Körper und deren Vereinnahmung durch Hirtenchoreographen geht, hat aber mit ihnen gemeinsam, dass auch hier bestimmte Stile und Techniken ein Möglichkeitsspektrum über 68 Kondensiert findet sich diese Denkweise etwa in den frühen Schriften Judith Butlers über die Performativität von Gender: „Eine außerhalb der Sprache gelegene Materialität zu postulieren bedeutet indes, jene Materialität noch zu postulieren, und die so postulierte Materialität wird das Postulieren als ihre konstitutive Bedingung beibehalten.“ – Judith Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 103. Allerdings hat Butler sich in letzter Zeit von einer maßgeblich durch die Achse Hegel-Kojève-LacanDerrida geprägten Anerkennungstheorie entfernt und dem sogenannten New Materialism zugewandt. Vgl. hierzu ihren Vortrag On this Occasion über Whitehead in: Roland Faber/Michael Halewood/Deena M. Lin (Hrsg.), Butler on Whitehead, Lanham: Lexington Books, 2012. 69 Massumi, Parables for the Virtual, S. 2.
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ihre Tätigkeitsformen legen. Anders hingegen denkt Spinoza ihr Verhältnis zu unseren Ideen. Einen Parallelismus zwischen Körper und Geist anzunehmen heißt für ihn, dass wir keine Möglichkeitsbedingungen körperlicher Potentiale festlegen, sondern die generische Realität ihrer Produktion in den Vordergrund rücken. „Denn was ein Körper alles vermag, hat bis jetzt noch niemand festgestellt; d.h., niemanden hat bis jetzt die Erfahrung gelehrt, was der Körper nach den Gesetzen seiner Natur allein, insofern sie nur als eine körperliche betrachtet wird, tun kann und was er nicht tun kann, wenn er nicht vom Geist dazu bestimmt wird.“70
Spinoza definiert Körper nicht wie Arbeau und Feuillet anhand ihrer Anatomie – im Sinne einer normativen Organisation ihrer Teile – oder durch eine sie umschließende Kontur. Sowohl Arbeau als auch Feuillet geht es um bestimmte Bilder und Figuren, denen sie zu entsprechen haben und ein Vokabular aus schon konstituierten Elementen, durch die hindurch sie sich bewegen müssen, wenn sie tanzen. Indem diese Bilder und Figuren als Form angemessen verkörpert werden, ist Tanz als Tätigkeit als die Einübung und Verinnerlichung einer Schrift festgelegt, die zunächst nichts mit der Frage zu tun hat, was ein Körper „nach den Gesetzen seiner Natur allein, insofern sie nur als eine körperliche betrachtet wird“71, vermag. Er ist dann umrissenen Schablonen und dem Befolgen eines fixen Vokabulars verpflichtet. Für Spinoza hingegen ist sein Affiziertseinkönnen wichtiger als die Schemata, in denen er sich sowohl von anderen abgrenzt als auch zusammen mit ihnen unter eine allen gegenüber äußerliche Instanz subsumiert wird. Deleuze betont, dass das Vermögen immer größer ist als die Vorstellungen, die sich der Geist im Voraus davon machen kann und ihm Ideen unterstellen, die ihn auf eine bestimmte Anatomie und Kontur einzuschränken versuchen. „Es handelt sich darum nachzuweisen, dass der Körper die Erkenntnis übersteigt, die man von ihm hat, und daß ebenso das Denken das Bewußtsein übersteigt, das man von ihm hat. Es gibt ebenso viele Dinge im Geist, die über das Bewußtsein hinausgehen, wie Dinge im Körper, die über unsere Erkenntnis hinausgehen.“72
Körper sind ihren Teilen eigene Verhältnisse von Ruhe und Bewegung: „Die Körper unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Bewegung und der Ruhe, der Schnelligkeit und Langsamkeit, nicht aber hinsichtlich der Substanz.“73 Als einzelne Modi drücken sie Affizierungen ihrer selbst und der Substanz aus, und die Über70 Spinoza, Ethik, S. 261. 71 Ebd., ebd. 72 Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, S. 28. 73 Spinoza, Ethik, S. 145.
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gänge zu mehr oder weniger Lust oder Unlust, die sie durchlaufen, rufen ein zunehmendes oder abnehmendes Tätigkeitsvermögen in ihnen hervor. Während das Affiziertseinkönnen relativ konstant bleibt, schwankt das Tätigkeitsvermögen extrem. Wird der Körper von passiven Affektionen und sein Geist deshalb von inadäquaten Ideen erfüllt, handelt er nicht, sondern leidet, weil er dann nicht Ursache seiner selbst ist, sondern von anderen Körpern verursacht wird. „1. Adäquate Ursache nenne ich eine Ursache, deren Wirkung klar und bestimmt durch diese Ursache erkannt werden kann. Inadäquate Ursache oder partiale Ursache nenne ich eine solche, deren Wirkung durch diese Ursache allein nicht erkannt werden kann. 2. Ich sage, daß wir dann handeln, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d.h. […] wenn etwas in uns oder außer uns aus unserer Natur erfolgt, das durch sie allein klar und deutlich erkannt werden kann. Dagegen sage ich, daß wir leiden, wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur partiale Ursache sind. 3. Unter Affekte verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch die das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; zugleich auch die Ideen dieser Affektionen. Wenn wir also die adäquate Ursache einer dieser Affektionen sein können, verstehe ich unter Affekt eine Handlung, im anderen Fall ein Leiden.“74
Spinoza geht es also darum, vermittels aktiver Affekte, die das Vermögen des Körpers bejahen, zu adäquaten Ideen, die ihn Ursache seiner selbst werden lassen, und von diesen schließlich zu Gemeinbegriffen zu gelangen, welche mehrere Körper im Denken miteinander verbinden. Deleuze fasst das für ihn wohl bedeutendste Anliegen so zusammen: „Wir wissen noch nicht, wie wir dahin gelangen werden, aktive Affektionen hervorzubringen; wir kennen also noch nicht unser Tätigkeitsvermögen. Und dennoch können wir soviel sagen: das Tätigkeitsvermögen ist die einzige reale, positive und bejahende Form eines Affiziertseinkönnens.“75 Weil der menschliche Körper aus vielen anderen Körpern zusammengesetzt ist, sind Übergänge zu mehr Tätigkeitsvermögen der Erfahrung nicht einfach gegeben. Der Geist hat keine Ideen aller ihn belebenden kleineren Körper sowie von deren Verhältnis zueinander. Dennoch sind sie es, deren ihm unbekannte Summe ebenfalls die eine Idee übersteigt, die er sich von sich selbst macht. Hierin zeigt sich ein grundlegendes Problem der Choreographie als Form, wie sie von Arbeau und Feuillet gedacht wird. Denn was ein Körper alles vermag, resultiert aus dem, was ihn über bereits feststehende Rahmungen hinaus affizieren kann. Weil die Form der Choreographie seine lebendige Tätigkeit bestimmt, indem sie Bilder und Figuren über ihn legt, entgeht ihr eine Vielzahl an Schichten jenseits 74 Ebd., Ethik, S. 255. 75 Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks, S. 197 f.
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und unterhalb allgemeingültiger Ideen: Die unzählige Menge kleinerer Körper, aus denen er besteht und deren Eigenlogik sich nicht im Vorhinein kennen und definieren lässt. Es gibt einfache und zusammengesetzte Körper, deren Elemente sich unterschiedlich gruppieren können. „Wenn einige Körper gleicher oder verschiedener Größe von anderen so zusammengedrängt werden, daß sie aneinander liegen oder daß sie, wenn sie sich mit gleicher oder verschiedener Schnelligkeit bewegen, einander ihre Bewegungen in irgendeiner bestimmten Weise mitteilen [Hervorh. d.A.], so sagen wir, daß alle diese Körper miteinander vereinigt sind oder daß alle miteinander einen Körper oder ein Individuum bilden, das sich von den Übrigen durch diese Einheit der Körper unterscheidet.“76
Mehrere einfache Körper bilden nicht deshalb einen zusammengesetzten Körper, weil er von anderen Körpern durch seine Kontur abgespalten wäre oder sie ihnen zugeordnete Funktionen in einer anatomischen Anordnung erfüllen würden, sondern weil sie einander ihre Bewegungen mitteilen und bei aller Veränderung ein ihnen gemeinsames Verhältnis von Bewegung und Ruhe zwischen sich bewahren. Zusammengesetzte Körper werden durch kein hierarchisches Verhältnis zwischen ihren Teilen bestimmt und subsumieren Ausdrucksmaterien nicht einfach Ausdrucksformen. Als Kräfteverhältnisse zwischen ihren Teilen können sie weiterhin von anderen affiziert werden und sie ihrerseits affizieren. Wie beim Schönen Schillers und Kants darf sie das Denken nicht Begriffen unterwerfen, sondern muss sich ihnen anpassen: So kommt die Lebendigkeit sowohl der Körper als auch des Denkens ins Spiel. Massumi beobachtet, dass Spinoza, wenn er die Verbindungen thematisiert, die sie miteinander einzugehen vermögen, der Erfahrung des Schönen sehr nah ist. „Beauty is ontogenetic force at its newest, and most directly knowable, in a worlding integrally experienced in the suddenness of a leap into being, contracted into an in-between of qualitative transformation.“77 Durch sein Affiziertseinkönnen steht der Körper mit anderen Körpern in Verbindung und wird durch seine Begegnung mit ihnen modifizierbar, wobei es unmöglich ist, alle Affekte, zu denen er fähig ist, im Vorhinein aufzulisten, weil virtuelle Verbindungen zwischen Körpern deren aktuelle Verhältnisse übersteigen und durch keine ihnen äußerliche choreographische Ordnung festgelegt werden können. Alles ergibt sich aus den Affekten. Das Choreographische ist, wenn es entlang der Affekte vermögender Körper und der durch sie hervorgebrachten Relationen gedacht wird, keine transzendente Form, die zu erfüllen ihnen auferlegt wäre, sondern wird innerhalb ihrer offenen Praxis und aufgrund ihrer Tätigkeitsformen produziert, wenn sie passive Affektionen und ihr Leiden hinter sich lassen, um zu aktiven Af76 Spinoza, Ethik, S. 151. 77 http://www.anu.edu.au/hrc/first_and_last/works/crclintro.htm. – Zugriff am 20.3.2011.
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fekten, Handlungen und Gemeinbegriffen zu gelangen: Sie übersetzen sich dann gegenseitig in einem allen gleichermaßen gemeinsamen Denken. Arbeau und Feuillet kennen kein immer offenes Affiziertseinkönnen der Körper, weil sie ihnen zufolge in einem bereits gesetzten Rahmen aufzugehen haben: In Körperhaltungen, Schrittfolgen und Raumpositionen. Im Choreographischen hingegen orientieren sie sich an einem Außen, das noch nicht konstituiert ist, und entwickeln innerhalb eines ihnen immanenten Beziehungsgeflechts zuallererst die Form, in der sie sich befinden werden. Ursache seiner selbst zu werden heißt, das eigene Affiziertseinkönnen in Tätigkeitsvermögen zu verwandeln, wobei es ein Körper ist, der sich expliziert, ohne vom Geist Ideen vorgegeben zu bekommen. Vielmehr bezieht das Denken seine Vorstellungen aus einer generativen Erfahrung des Körpers. „Je befähigter ein Körper ist, vieles zugleich zu tun oder zu leiden, desto befähigter ist auch sein Geist, vieles zugleich zu erfassen. Ferner, je mehr die Handlungen eines Körpers von ihm allein abhängen und je weniger andere Körper dabei mitwirken, desto befähigter ist sein Geist zu klarer Erkenntnis.“78
Ideen, die ihre eigene Ursache sind, ergeben sich aus einer den Körpern gemeinsamen Praxis. Deleuze schreibt über deren Aufwertung durch Spinoza gegenüber transzendenten Prinzipien: „Aus dieser Überlegung kann man schließen, daß das Vermögen zu denken, an dem alle Ideen partizipieren, einem Vermögen zu existieren und tätig zu sein, an dem alle Dinge partizipieren, nicht übergeordnet ist.“79 Tanz folgt, wenn es keine gegenüber den Tätigkeitsformen der Körper transzendente Instanz gibt, nicht einer ihnen vorangehenden Form, sondern bringt sie tätig hervor. Das Choreographische ist eine immanente Praxis, und die Ideen, welche Körper generieren, sind nicht adäquat, weil sie im Voraus bestehenden Annahmen über sie entsprechen würden, sondern weil sie zur Ursache ihrer eigenen Entstehung werden. Ihr Vermögen hängt, wie Spinoza fordert, nicht mit einem Denken in „stumme[n] Gemälde[n]“80, sondern mit tätigen Begriffen zusammen. Der Weg dorthin führt zur Bildung von Gemeinbegriffen. Gemeinbegriffe werden erfunden, wenn das Vermögen (potentia) der Modi wirkungsvoller ist als die Macht (potestas) eines sie im Vorhinein regulierenden Regelwerks. Ihr konstituierendes Moment und ein ästhetischer Körper, dessen Lebendigkeit nicht in einem einzigen Leben aufgehen kann, betreten die Bühne, wenn choreographische Fehlschritte das Parkett souverän bestimmter Choreographie durcheinanderbringen. Simon O’Sullivan und Stephen Zepke gehen davon aus, dass
78 Spinoza, Ethik, S. 143. 79 Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks, S. 78. 80 Vgl. Spinoza, Ethik, S. 235.
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das Potential der Affekte darin liegt, allgemeingültige Ideen eines schon geformten Körpers zu transformieren. „This is the political value of art, or of, in a less institutional sense, creativity and invention; they restore the reality of the affect by unleashing its constructive power. No longer subordinate to a subject that ‚has‘ it, or to a sign that represents it, the affect lives in its autopoiesis, in its production of ever new ‚content‘ and the expressions it gives birth to.“81
Ein Körper ist und bleibt dann ein Körper, wenn er mehrere ist, aber nie zu dem Körper wird. Ein ästhetischer Körper, in dem Rancière zufolge der „uneingeschränkte Ausdruck des Lebens mit der Abwesenheit jeglichen Ausdrucks zusammenfällt“82, erforscht und vervielfacht die „Bruchlinien zwischen dem funktionalen Körper, dem expressiven und dem unbestimmten Körper“83, wenn er beginnt, Gemeinbegriffe zu entwickeln. Das belebende Gefühl, mehrere Körper zu sein, ist dem verwandt, was Kant und Schiller als die Belebung des selbsteigenen Vermögens in der Erfahrung des Schönen und als lebende Gestalt denken. Allgemeingültige Ideen des Körpers und Gemeinbegriffe sind jedoch diametral einander entgegengesetzt. Wenn die einen sich häufen, verflüchtigen sich die anderen. Genau wie das Schöne, das sich ebenfalls zurückzieht, wenn aus der Lebendigkeit der Körper die biopolitische Form eines ihrer Praxis äußerlichen, einheitlichen Lebenszusammenhangs gemacht werden soll.
8.2 V ON PASSIVEN L EIDENSCHAFTEN ZU G EMEINBEGRIFFEN
ÜBER AKTIVE
F REUDEN
Das produktive und konstituierende Moment der Körper wird nach Macherey von Spinoza nicht einfach beschrieben, indem er nur dessen Theorie auf der Ebene der Modi entwickeln würde. Vielmehr ist sie als Theorie zugleich eine Praxis: „Die Philosophie Spinozas entwickelt keine Theorie des Ausdrucks, sondern ist praktische Philosophie des Ausdrucks: Sie ‚drückt aus‘, wenn man so sagen darf.“84 Auch Deleuze weist darauf hin, dass Spinoza zufolge der Zweck des Denkens zunächst „weniger in der Erkenntnis von etwas als in der Erkenntnis unseres Vermögens zu
81 O’Sullivan/Zepke (Hrsg.), Deleuze, Guattari and the Production of the New, S. 4. 82 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 80. 83 Ders., Ästhetische Trennung, Ästhetische Gemeinschaft, in: Balke/Maye/Scholz (Hrsg.), „Ästhetische Regime um 1800“, S. 268. 84 Macherey, In Spinoza denken, in: Balke/Vogl (Hrsg.), „Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie“, S. 58.
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erkennen besteht.“85 Mit Gemeinbegriffen verhält es sich wie mit dem Schönen Schillers und Kants. Sie sind das Gegenteil seiner passiven Leidenschaften und entstehen, wenn er aktive Freuden entwickelt, die ihn zur Ursache seiner selbst machen. Das heißt nicht, dass sie schon vollständig explizit wären. Jedoch müssen sie etwas ausdrücken, das allen Körpern gemeinsam ist, sich aus sich heraus explizieren lassen, und sie repräsentieren keinen ihnen gegenüber äußerlichen Gegenstand anhand feststehender Regeln. Das durch sie freigesetzte Ausdrucksvermögen verbindet Massumi mit Problemen der Ästhetik und geht davon aus, dass es die offene Praxis mehrerer Körper und etwas zwischen ihnen voraussetzt: „To tend the stretch of expression, to foster and inflict it rather than trying to own it, is to enter the stream, contributing to its probings: this is co-creative, an aesthetic endeavour.“86 Gemeinbegriffe sind keine allgemeingültigen Begriffe und verweisen nicht auf allgemeine Regeln, sondern auf affektiv wirksame und immanente Zusammenhänge zwischen und Zusammensetzungen von Körpern, deren Singularität sie ausdrücken. Wenn der Geist, anstatt das Verhältnis eines Körpers zu anderen Körpern zu explizieren als etwas, das sie innerhalb ihrer Praxis verbindet, eine Affektion des eigenen Körpers allein sich oder demjenigen zuschreibt, wovon er auf bestimmte Weise affiziert wurde, sind seine Ideen sowohl in Bezug auf den eigenen Körper wie hinsichtlich der anderen inadäquat. Er ist passiven Leidenschaften unterworfen: „Hieraus folgt, dass der Geist umso mehr den Leiden unterworfen ist, je mehr inadäquate Ideen er hat, daß er dagegen umso mehr handelt, je mehr adäquate Ideen er hat.“87 Um zum Handeln zu gelangen, muss der Geist zunächst etwas an demjenigen Körper, dessen Idee er ist, bejahen, indem er auch die Körper bejaht, von denen er affiziert wird. An diesem Punkt besteht eine weitere Verwandtschaft zwischen der ästhetischen Erfahrung und Spinozas Gemeinbegriffen. Weil Ideen keine Entsprechung anhand vorgegebener Repräsentationsformen der Welt innewohnt (im Sinne einer Adäquatheit von posis und aísthesis), sollen sie als aktive Freuden einen Übergang zu mehr Lust und eine Affirmation des Tätigkeitsvermögens fördern. Wir können uns nicht auf einen im Voraus gegebenen Zweck der Welt und unserer Körper darin berufen, sondern müssen Ursachen zuallererst herstellen, indem wir Besonderes keinem bereits gegebenen Allgemeinen subsumieren, es also als Singuläres behandeln. Deshalb merkt Negri zu den Gemeinbegriffen an, mit ihnen sei keine Transzendenz gemeint, sondern dass sie aus einer uns gemeinsamen Praxis resultierten. „Consequently, the second revision touched upon the conception of purposiveness that we call rational as well as the telos that we call ethical. In the first case, it was a matter of freeing 85 Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks, S. 124. 86 Brian Massumi, That thinking feeling, in: ders. (Hrsg.), „A Shock to Thought“, S. xxii. 87 Spinoza, Ethik, S. 259.
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the concept from all metaphysical presuppositions, thus of making it a common name or notion whose real content was on a par with the faculty that the ‚superficial‘ man possessed to strive and/or to construct in common. Every order preconstituted by rationality was eliminated, and the concept became a function of the human need to knowledge and for the organization of the universe.“88
Freudige Affekte lassen uns aktiv werden und sind Kants und Schillers Schönem darin verwandt, dass sie zunächst zur Belebung des Körpers führen, der sie erfährt. Sie bringen ihn mit einem nicht bereits bestimmten, dafür aber bestimmbaren Leben in Verbindung, über das Deleuze schreibt: „Der Gegenstand, der mit meiner Natur übereinstimmt, bestimmt mich, eine höhere Totalität zu bilden, die uns, ihn selbst und mich einbezieht.“89 Er macht dies noch expliziter, wenn er zu dem Schluss kommt, „[e]ine Tat ist immer dann schlecht, wenn sie ein Verhältnis unmittelbar zersetzt, wohingegen sie gut ist, wenn ihr Verhältnis sich unmittelbar mit anderen Verhältnissen zusammensetzt.“90 Wie ist Deleuzes ‚höhere Totalität‘ dann bezüglich des Choreographischen beschaffen, in dem es keine vorgeschriebenen Haltungen, Schrittfolgen und Positionen der Körper im Raum gibt? Wie kann sich, ohne dass sie gemeinschaftlichen Regeln folgen, in ihrem Dissens etwas Gemeinsames bilden? Spinoza weist der Einbildungskraft hierfür eine generative Rolle zu: Während der Genese von Gemeinbegriffen wird jene nicht immer schon konturierten Begriffen untergeordnet, und der von anatomischen Ideen des Körpers befreite Verstand beteiligt sich aktiv an der Produktion dessen, was mehrere Körper miteinander verbindet. „Ferner werden wir, um die gebräuchlichen Ausdrücke beizubehalten, die Affektionen des menschlichen Körpers, deren Ideen die äußeren Körper uns als gegenwärtig darstellen, Bilder der Dinge nennen, wenn sie auch die Gestalten der Dinge nicht wiedergeben. Und wenn der Geist auf diese Weise die Körper betrachtet, so werden wir sagen, daß er sie sich vorstellt. Und hier möchte ich – um mit der Klärung des Irrtums zu beginnen – darauf aufmerksam machen, daß die Vorstellungen des Geistes, an und für sich betrachtet, keinen Irrtum enthalten oder das der Geist in dem, was er sich vorstellt, nicht irrt, sondern nur insofern er als der 88 Antonio Negri, Postface: Spinoza and the Postmoderns, in: ders., „Subversive Spinoza – (Un)Contemporary Variations“, Manchester/New York: Manchester University Press, 2004, S. 114. Hasana Sharp hat jüngst eine sehr gute Arbeit vorgelegt, in der sie Spinozas Gemeinbegriffe ebenfalls in dieser Richtung ausdeutet: „The more we have in common, the more we come to know our own bodies and those things they share with others.“ – Dies., Spinoza and the Politics of Renaturalization, Chicago/London: The University of Chicago Press, 2011, S. 102. 89 Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, S. 32. 90 Ebd., S. 49.
354 | V ERMÖGENDE K ÖRPER Idee ermangelnd betrachtet wird, welche die Existenz jener Dinge, die er sich als gegenwärtig vorstellt, ausschließt. Denn wenn der Geist, während er nicht existierende Dinge als ihm gegenwärtig vorstellt, zugleich wüßte, das jene Dinge tatsächlich nicht existieren, so würde er sicherlich dieses Vorstellungsvermögen einem Vorzug seiner Natur, nicht einem Fehler derselben zuschreiben, zumal wenn diese Fähigkeit des Sichvorstellens von seiner Natur allein abhinge, d.h. wenn diese Vorstellungsfähigkeit des Geistes frei wäre.“91
Während traurige Affekte und passive Leidenschaften das Tätigkeitsvermögen hemmen, vergrößern es freudige Affekte und bringen den Geist dazu, adäquate Ideen und Gemeinbegriffe zu bilden, deren Genese, in eine andere Denkweise übersetzt, auf einem freien und offen bestimmbaren Verhältnis zwischen Stoff- und Formtrieb (Schiller) bzw. Einbildungs- und Verstandeskraft (Kant) beruht. Dies hat weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis der Choreographie als Form zur lebendigen Tätigkeit tanzender Körper. Bojana Cveji nimmt an, dass eine von fixen Ideen des Körpers befreite und unbestimmten Affekten gegenüber offene Einbildungskraft an der Erfindung neuer choreographischer Konzepte mitwirkt. Anhand einer Reihe von Fragen denkt sie Ausdruck demnach als die Formulierung von Affekten durch deren Explikation in Konzepten. ‚ „Why does Deleuze s ‚encounter‘ with Spinoza giverise to the idea of ‚expression‘? To what extent can the logic of univocity of thinking and being, and of thinking and acting/producing, be explained with the threefold idea of expression: expression as a problem, as a logic, and as ‚ a path/process/practice? How does the principle of expression in Deleuze s reading of Spinoza apply to performance and its specific ways of creating concepts?“92
Aus einer anderen Perspektive und ebenso zutreffend auf das Choreographische konstatiert Pirkko Husemann in Choreographie als kritische Praxis, dass sich die Befreiung der Einbildungskraft von sie im Vorhinein bestimmenden Regelmechanismen in vielen Bereichen des zeitgenössischen Tanzes als Vergemeinschaftung des generischen Moments choreographischer Praktiken denken lässt, das Auswirkungen ebenso auf das Verhältnis zwischen Choreographen und Tänzern wie auf deren Beziehung zu den Zuschauern und weiteren Instanzen hat, die in ihnen gemeinsamen Prozessen involviert sind. „Was auf der Bühne zur Aufführung gebracht wird, ist also nichts Definiertes, Abgeschlossenes, Identifizierbares, sondern etwas, das im Prozess der Aufführung im Begriff ist, sich über die Beteiligung von Produzenten und Rezipienten zu konstituieren. Statt der Vor- oder Ausstellung eines choreographischen Produkts oder aber einer Aufführungssituation, steht also 91 Spinoza, Ethik, S. 167. 92 Bojana Cveji, How do we form adequate ideas?, Unveröffentlichtes Manuskript.
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die Herstellung einer Situation zur Sichtbar-Machung eines Prozesses der Sinnproduktion im Vordergrund.“93
Indem Körper aktive Freuden entwickeln und ihre choreographischen Fehlschritte in das zuvor souverän bestimmte Territorium der Choreographie hineintragen, geht es in Teilen des zeitgenössischen Tanzes eher um offene Prozesse als um in sich abgeschlossene Werke. Alles und jeder kann Bestandteil solcher Prozesse werden. Innerhalb des Choreographischen kommt es zur Bildung von Gemeinbegriffen, weil derart konzipiere Tätigkeitsformen und Stücke als Vorschläge zu verstehen sind, was Choreographie und Tanz auch sein können. Weil sie von der Funktion entbunden ist, ihr äußerlichen Rahmungen zu entsprechen, wird unsere lebendige Tätigkeit fähig, das Choreographische (potentia) zu konstituieren, anstatt von der Choreographie (potestas) konstituiert zu werden. Der Körper wird deshalb, ähnlich wie in der Erfahrung des Schönen, die Kant und Schiller beschreiben, offen bestimmbar nicht allein in rezeptionsästhetischer Hinsicht, nicht nur für die Zuschauer, sondern auch auf produktionsästhetischer Ebene. Es werden dann keine Bilder und Figuren mehr im Vorhinein auf ihn angelegt, sondern er öffnet sich gegenüber transduktiven Prozessen, die zu qualitativen Transformationen – einzelner Körper ebenso wie ihrer Verhältnisse untereinander – führen. Auch Negri versteht das kreative Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand bei Spinoza konstruktiv. „The truth lives in the world of the imagination; it is possible to have adequate ideas that are not exhaustive of reality but open to and constitutive of reality, which are intensively true; conciousness is constitutive; being is not only something found (not only a possession) but also activity, power; there is not only Nature, there is also second nature, nature of the proximate cause, constructed being.“94
Gemeinbegriffe haben nichts mit Universalien zu tun, sondern sind Resultate der Praxis einander immanenter Körper. Sie sind „generalizations of nominalistic definitions of common properties of bodies.“95 Im Choreographischen sind Ideen adäquat, wenn sie sich aus sich selbst heraus explizieren lassen und sich in ihnen eine Bejahung dessen zeigt, was ein Körper, gemeinsam mit anderen, kann, wenn er ebenso von ihnen affiziert wird wie er sie affiziert. Der konstituierende Prozess vermögender Körper, die rahmend das Choreographische hervorbringen, indem sie sich an einem noch unbestimmten Bereich außerhalb jedes Rahmens orientieren, anstatt im Vorhinein gerahmt zu sein, hängt eng mit der Generierung und Produkti93 Pirkko Husemann, Choreographie als kritische Praxis, Bielefeld: transcript, 2009, S. 228. 94 Negri, The Savage Anomaly, S. 97. 95 Ebd., S. 107.
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on von Formen zusammen oder – wie Negri es formuliert – damit, dass „[c]ommon notions are social forms of knowledge that are refined and guided toward the concrete in direct relation to the process of the formation“96. Ihre Verankerung im gemeinsamen Vollzug einer offenen Praxis verbindet Spinozas Gemeinbegriffe mit ästhetischer Erfahrung. Andrea Kern schreibt: „Nur ein Subjekt, das sein Verstehen in dem reflexiven Wissen vollzieht, daß sein Verstehen nicht in etwas verankert ist, das außerhalb seiner selbst liegt, ist demzufolge ein Subjekt, das sein eigenes Verstehen als einen normativen Vollzug begreift. Betrachte ich mein Verstehen dagegen als etwas, für das nicht ich selbst, sondern eine außerhalb meines Verstehens bestehende Instanz einsteht, dann betrachte ich mein Verstehen [...] als das Ablaufen einer Mechanik, mithin als die ‚Entfaltung eines Programms.‘“97
Spinozas Gemeinbegriffe lassen sich, genauso wie das Schematisieren ohne bereits definierte Begriffe Kants, auf das Spiel der Affekte und Potentiale zwischen unbestimmten Körpern ein, ohne sie zu funktionalisieren und bestimmten Ausdrucksformen zu subsumieren. Gemeinbegriffe sind der Ort, an dem die Lebendigkeit der Körper durch deren Tätigkeit als etwas formuliert wird, das noch keine fixe Form hat, sich aber auf dem Weg befindet zur Form hin: „Denn Explizieren ist alles andere als die Operation eines Verstandes, der den Dingen äußerlich bleibt; es bezeichnet zunächst die Entwicklung des Dings in sich selbst und im Leben“98, schreibt Deleuze.
8.3 S PINOZAS K RITIK N OVERRES
AM
D ENKEN
IN STUMMEN
G EMÄLDEN
UND
TABLEAUX VIVANTS
In ihrem Verhältnis zum Körper sind Ideen für Spinoza nie repräsentativ, sondern als Affektionen des Geistes bejahen oder verneinen sie etwas, indem sie unser Tätigkeitsvermögen steigern oder verringern. Der Übergang zu mehr Tätigkeitsvermögen ist mit Lust, der Übergang zu weniger Tätigkeitsvermögen mit Unlust verbunden. Ideen beinhalten Verbindungen des Körpers mit anderen Körpern und drücken, wenn sie zu Gemeinbegriffen werden, etwas aus, das ihnen gemeinsam ist. In diesem Zusammenhang lehnt Spinoza die Vorstellungen eines Denkens, das die
96 Ebd., S. 162. 97 Kern, Schöne Lust, S. 284 f. Vgl. hierzu auch Willatt/Lee (Hrsg.), Thinking Between Deleuze and Kant. 98 Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks, S. 21.
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Welt wie „etwas Stummes, wie ein Gemälde auf der Tafel“99 abbilden würde, strikt ab, weil Denken für ihn mit einem auf bestimmte Weise erfüllten Affiziertseinkönnen und deshalb mit dem Handeln oder Leiden von Körpern in einer Wechselwirkung steht. So gesehen lassen sich die Forderungen, die Jean Georges Noverre in seinen Briefen über die Tanzkunst der Choreographie gegenüber erhebt, auch in Deleuzes komprimierter Zusammenfassung des spinozistischen Anliegens wiedererkennen: „Man könnte im Extrem den freien, starken und vernünftigen Menschen völlig durch den Besitz seines Tätigkeitsvermögens, durch die Anwesenheit von adäquaten Ideen und aktiven Affektionen in ihm definieren. […] Noch bevor er in den Vollbesitz seines Vermögens gelangt, erkennt sich der freie und starke Mensch in seinen freudigen Leidenschaften wieder, in seinen Affektionen, die dieses Tätigkeitsvermögen vergrößern.“100 Vor diesem Hintergrund seien noch einmal Noverres Ausführungen zu seinen tableaux vivants ins Gedächtnis zurückgerufen, um Spinozas Verwandtschaft mit wichtigen Tendenzen von Rancières ästhetischem Regime sowie mit dem Choreographischen und der Emanzipation der Körper darin zu konfrontieren. Wenn Noverre davon ausgeht, dass in Zukunft alles sprechen und expressiv sein werde, impliziert er damit die Ablehnung eines Denkens über die Körper und zeigt auf ein Denken der Körper selbst und ihres Vermögens, aufgrund affektiv wirksamer Intervalle zwischen ihnen eine ihnen gemeinsame Form zu erzeugen. Dieses Denken ist nicht von ihnen abgespalten, sondern verläuft als Affirmation ihres Tätigkeitsvermögens parallel zu ihnen. Bei Spinoza ebenso wie innerhalb der Ästhetik und im Choreographischen geht es letztlich um das Potential freudiger Affekte, die sie modifizieren, qualitativ transformieren und jede im Vorhinein gebildete Idee von ihnen transduktiv durchkreuzen. Im Vordergrund steht deswegen etwas zwischen Körpern, das sie in ihrer lebendigen Tätigkeit aufs Spiel setzen. Ebenso wenig wie Noverres tableaux vivants eine bereits gegebene Natur abbilden, können in ihnen allgemeingültige Ideen des Körpers reproduziert werden. Innerhalb lebender Gemälde stellen die Körper Natur und ihr Verhältnis zueinander handelnd her. Sie sind nicht in sie bestimmende Bilder eingeschlossen oder auf einer schon gerahmten Leinwand angesiedelt, sondern in einer offenen Praxis begriffen. Claudia Jeschke gesteht Noverres Suche nach einem nicht bereits codifizierten Ausdruck zu: „Die Ausdrucksqualitäten verwendet er nicht definitiv: weder unterscheidet Noverre zwischen abstrakter Kodifizierung und der Kodifizierung der Ausdrucksbewegungen, noch trennt er zwischen inhaltlichen und formalen Elementen.“101 Auch Spino99
Spinoza, Ethik, S. 215.
100 Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks, S. 231. 101 Claudia Jeschke, Noverre, Lessing, Engel – Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Wolfgang F. Bender (Hrsg.), „Schauspielkunst im 18. Jahrhundert“, Stuttgart: Franz Steiner, S. 92.
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za kritisiert an mehreren Stellen der Ethik die Vorstellung der Ideen des Denkens als „stumme Gemälde“102 und stellt ihnen Denken als generische Produktivität entgegen. Insofern treffen sich Spinozas Substanz, das Choreographische und Noverres Konzept einer zunächst rahmenlosen Leinwand, auf der beliebige Ausdrucksmaterien expressiv werden und sprechen sollen, mit Deleuzes Analysen zur Malerei Francis Bacons. „Wenn nämlich der Maler vor einer weißen Fläche stünde, könnte er darauf ein äußeres Objekt reproduzieren, das als Modell fungiert. Dem ist aber nicht so. Der Maler hat viele Dinge im Kopf oder um sich oder im Atelier. Nun ist all das, was er im Kopf oder um sich hat, schon in der Leinwand, mehr oder weniger virtuell, mehr oder weniger aktuell, bevor er seine Arbeit beginnt. All das ist auf der Leinwand gegenwärtig, als aktuelle oder virtuelle Bilder. So daß der Maler keine weiße Fläche zu füllen hat, er müßte sie vielmehr leeren, räumen, reinigen. Er malt also nicht, um auf der Leinwand ein Objekt zu reproduzieren, das als Modell fungiert, er malt auf bereits vorhandene Bilder, um ein Gemälde zu produzieren, dessen Funktionsweise die Bezüge zwischen Modell und Kopie verkehren wird.“103
Spinoza denkt das Verhältnis zwischen Ideen und Körpern nicht als eines der Abbildung, sondern als affektiven Wirkungszusammenhang, der beide gleichermaßen modifiziert. Die Belebung, die sowohl für den Geist als auch für den Körper mit einem Übergang zu mehr Tätigkeitsvermögen einhergeht, drückt deren qualitative Transformationen aus. Manche Ideen sind verworren, weil in ihnen die Welt als ein Bild erscheint, das aus schon bestimmten und traurigen Leidenschaften des Körpers resultiert. Durch sie wird er passiv gemacht. Wenn Denken hingegen als aktiver Affekt begriffen wird, bildet es nicht einfach passiv Vorstellungen ab, sondern ist tätig und bejaht, was mehreren Körpern gemeinsam ist. Dabei verlässt es sich nicht auf Universalbegriffe, sondern wird kreativ und schöpferisch. Ebenso wie Körper sind auch Ideen Teil des Spiels der Kräfte, die sich zwischen Modi entfalten, wenn sie das Choreographische generieren. Sie formen innerhalb einer offenen Praxis die Substanz, indem sie sich wechselseitig übersetzen. „Weil diejenigen, die glauben, die Ideen bestünden aus Bildern, die in uns durch die Bewegung der Körper entstehen, sich einreden, daß jene Ideen der Dinge, von denen wir uns kein ähnliches Bild machen können, keine Ideen wären, sondern nur Erdichtungen […], darum betrachten sie die Ideen wie stumme Gemälde an einer Tafel und sehen, von diesem Vorurteil eingenommen, nicht, daß die Idee, insofern sie Idee ist, eine Bejahung oder Verneinung in sich schließt.“104 102 Spinoza, Ethik, S. 235. 103 Deleuze, Francis Bacon, S. 55. 104 Spinoza, Ethik, S. 235.
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Die Bejahung oder Verneinung, welche eine Idee ist, hat direkt Auswirkungen auf den Übergang zu mehr oder weniger Tätigkeitsvermögen desjenigen Körpers, der sie hervorbringt, weil sie seine Affektion ausdrückt. Spinoza geht davon aus, dass er dazu fähig ist, nicht nur von einer Sache, sondern von verschiedenen Dingen gleichzeitig affiziert zu werden. Es ist sogar besser, wenn eine Idee aus sehr vielen Affektionen gleichzeitig resultiert, die sich gegenseitig verstärken und ihn deshalb gegenüber einer Vielzahl anderer Körper öffnen, mit denen er sich in neuen Verhältnissen zusammensetzen kann. „Denn auf je mehr Dinge sich eine Vorstellung oder ein Affekt bezieht, desto mehr Ursachen sind vorhanden, von denen er hervorgerufenen und genähert werden kann. Sie alle betrachtet der Geist (nach der Voraussetzung) vermöge des Affekts zugleich. Daher ist der Affekt umso häufiger oder lebt umso öfter auf und nimmt […] den Geist umso mehr ein.“105
Da Denken nicht als Sammlung ‚stummer Gemälde‘ angesehen wird, partizipiert es an der Genese der Welt. Noverre schwebt Ähnliches vor, wenn er annimmt, dass sich in seinen tableaux vivants etwas zeigen soll, das zwischen den Körpern passiert und sie verändert, während sie ‚handeln‘ im ballet en action. Dadurch wird ein hylemorphisches Verhältnis zwischen Materie und Form brüchig: Wenn Leben ein offener Prozess ist, in welchem Materie nicht nur passiv vom Denken Formen imprägniert bekommt, sondern aktiv an deren Entstehung mitwirkt, können Körper nicht feststehenden Rahmungen eingefügt sein. Bei Noverre wie bei Spinoza leitet die Materialität der Körper Transformationen ein, die immer unvorhersehbar und nie planbar sind und dem entgegenstehen, was Lepecki Noverres ‚Klage‘ und ‚Trauer‘ über den Moment nennt, in dem sich Tanz seiner endgültigen Notation entziehen würde. Im Gegenteil: Affirmiert wird dann die Lebendigkeit der Körper als etwas, das Rahmungen schafft und die choreographische Leinwand auf beliebige sujets und nicht im Vorhinein regelbare Darstellungsformen ausdehnt. Auch darin sind Spinozas Gemeinbegriffe der Belebung der Erkenntnisfähigkeit innerhalb ästhetischer Erfahrung nah. Über deren generatives und produktives Moment schreibt Andrea Kern: „Innerhalb der Kantischen Theorie der Urteilskraft kann dies allein heißen, daß wir den Weg dieser Bestimmung umkehren müssen, indem wir nicht ausgehend von bereits bekannten Begriffen die Mannigfaltigkeit des Gegenstands wiedererkennend synthetisieren, sondern ausgehend von seinem mannigfaltigen Material diese Synthesis Schritt für Schritt leisten.“106
105 Ebd., S. 649. 106 Kern, Schöne Lust, S. 166.
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Dies geschieht, wenn Körper choreographisch tätig werden und ihr selbsteigenes Vermögen ins Spiel bringen, um die Grenze zwischen dem, was auf der Leinwand ist und dem, was nicht zu ihr gehört, porös zu machen. Noverres Nachdenken über tableaux vivants hat philosophische Konsequenzen: Ähnlich Spinozas Konzept einer einzigen Substanz, die von ihren Modi transformiert wird, verweist es auf einen Untergrund, der nicht mehr feststeht, sondern im Prozess begriffen ist und immer wieder von Neuem aufs Spiel gesetzt werden muss von Körpern, die das malen, was noch keine Form hat, sich aber auf dem Weg zur Form hin befindet. Anhand des generativen Verhältnisses zwischen Substanz, Attributen und Modi bei Spinoza zeigt sich, dass sich Rancières Überlegungen zum ästhetischen Regime aus ihrer Verhaftung in einem kantianisch geprägten Subjektivismus lösen und um eine objektive Ebene ergänzen lassen. Wenn es mit der Philosophie Spinozas konfrontiert wird, ist sein Konzept des Dissenses nicht nur in der Erfahrung einzelner Körper verankert, sondern erstreckt sich auf einen Bereich zwischen ihnen. Die Leitthese dieses Kapitels war: Im Gegensatz zur Choreographie ist das Choreographische keine Sammlung von Figuren und allgemeingültigen Ideen des Körpers, die seine Tätigkeit auf eine ihr äußerliche Form beziehen. Das Choreographische, das im Ausdrucksgeflecht zwischen Substanz, Attributen und Modi artikuliert wird und mit Rancières ästhetischem Knoten verwoben ist, hebelt hylemorphische Relationen zwischen Materie und Form aus, weil es in ihm keine transzendenten Prinzipien gibt, auf die sich Körper beziehen könnten, um Form anzunehmen. Vielmehr ist das Choreographische die bloße Form einer ihnen immanenten Praxis. Wie seine sujets ist es offen, und für es trifft zu, was Martin Seel über das Schöne schreibt: „Nicht ein vor aller Verstandestätigkeit gefaßter Begriff der Erscheinung, sondern ein Begriff des begrifflich erfaßbaren Gegebenen ist der angemessene Ausgangspunkt einer Analyse der ästhetischen Wahrnehmung.“107 Dies hat ebenfalls Konsequenzen für Technik. Während téchne in Arbeaus und Feuillets Poetiken das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit feststellt und in den biopolitischen Produktionsweisen etwa Labans und Humphreys Potentiale nur freisetzt, um sie stilistisch zu vereinnahmen, wird sie im Choreographischen innerhalb einer den Körpern gemeinsamen Praxis generiert. In der heutigen Tanzwissenschaft denkt Petra Sabisch, in Bezug auf Deleuzes Methode des transzendentalen Empirismus108, die Konsequenzen daraus in all ihrer Radikalität. Hierfür macht sie David Humes Diktum von ihren Termen äußerlichen Relationen fruchtbar und zielt auf ein der vorliegenden Arbeit naheliegendes Problem
107 Martin Seel, Ein Schritt in die Ästhetik, in: Kern/Sonderegger (Hrsg.), „Falsche Gegensätze“, S. 333. 108 Vgl. hierzu auch Marc Rölli, Gilles Deleuze: Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien: turia+kant, 2012.
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ab.109 Wenn nämlich Relationen ihren Termen äußerlich sind und deshalb Körper in ihrem Vermögen, von anderen affiziert zu werden und diese ihrerseits zu affizieren, nicht bestimmt und festgelegt werden können anhand choreographischer Systeme und anhand von Haltungen, Raumwegen und Schrittfolgen, ist choreographische Tätigkeit, so Sabisch, per definitionem eine die Relationen zwischen ihnen aufs Spiel setzende Praxis und eine Tätigkeitsform, „as long as the relation is not subsumed as relative to something else but conceptualized on its own, as a limit-point of thinking change at degree zero, that is to say, there where the status of relations remains ontologically obscure.“110 Sabisch unterstreicht das Vermögen der Körper, vermittels der Genese von Relationen etwas zu artikulieren, das nicht im Vorhinein feststeht und sich auf keine ihnen äußerliche Form bezieht. Derart verlieren Auffassungen von Choreographie, welche sie einer bereits strukturierten Sprache analog setzen, ihre Gültigkeit. Allein in der Annahme einer Adäquatheit von posis und aísthesis kann Choreographie als Sprache verstanden werden. Nur so ist es seit Arbeaus Gründungsszenario legitim, angeblich exklusiv zu ihr gehörende Praktiken von Praktiken zu unterscheiden, die nicht artikuliert seien. Im Gegensatz dazu verfährt das Choreographische an der Grenze dazwischen, dort, wo Codierungen und etablierte Ideen des Körpers und 109 Deleuze wirft an einer berühmten Stelle seiner Monographie über David Hume das für ihn zentrale Problem des Empirismus auf, das sich, aus einer anderen Perspektive formuliert, m.E. implizit auch in Kants Ästhetik des Schönen findet: „Betrachten wir nun das Problem der Relationen, der Beziehungen. Wir brauchen nicht über Belanglosigkeiten zu streiten; wir brauchen uns nicht zu fragen: Angenommen, die Beziehungen hängen nicht von den Vorstellungen ab, können wir dann noch davon ausgehen, daß sie, für alles weitere und gerade deswegen, vom Subjekt abhängen? Das ist evident; wenn die Ursache der Relationen nicht in den Eigenschaften der Vorstellungen selbst, den Relata der Relationen, liegt, wenn sie andere Ursachen haben, so bestimmen diese anderen Ursachen ein Subjekt, das ganz allein die Beziehungen herstellt. Gerade in der Behauptung, ein wahres Urteil sei keine Tautologie, kommt die Beziehung der Wahrheit zur Subjektivität zum Ausdruck. Die wirklich grundlegende Aussage ist mithin die: Die Beziehungen sind den Vorstellungen äußerlich. Und wenn sie äußerlich sind, leitet sich davon das Problem des Subjekts, so wie es der Empirismus stellt, wie von selbst ab: Es muß in der Tat geklärt werden, von welchen anderen Ursachen es abhängt, d.h. wie sich das Subjekt im Bestand der Vorstellungen konstituiert. Die Beziehungen sind den aufeinander bezogenen Termen äußerlich: Wenn James sich einen Pluralisten nennt, sagt er im Prinzip nichts anderes; das gleiche gilt, wenn sich Russel einen Realisten nennt. Wir müssen in diesem Satz den gemeinsamen Punkt aller empirischen Theorien sehen.“ – Gilles Deleuze, David Hume, Frankfurt am Main/New York: Campus, 1997, S. 121. 110 Sabisch, Choreographing Relations, S. 71.
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seiner Beziehung zu anderen noch nicht sedimentiert sind. Es orientiert sich am Sensorischen, das nicht in bestehenden Begriffen gedacht werden kann, aber gerade deswegen die Konstituierung neuer Begriffe herausfordert. In diesem Sinne formuliert Sabisch ihr Konzept der Artikulation: Das Choreographische setzt ein, wenn es zu qualitativen Transformationen innerhalb des sinnlichen Gewebes zwischen Körpern kommt. „A dynamic topology of choreographic articulations does not disband sense into clear-cut shapes and sheets, but rather makes sense through the differential compositions of content and expression, variables which redistribute the qualitative transformations of the relations between heterogeneous parts. From a topological perspective, articulation can, then, no longer be reserved for anatomical stretches and twists, although it might compose and partition muscular tissues, bones or synovial fluids. It rather characterizes a qualitative transformation of the relation between heterogeneous parts. Any other use of the concept of articulation would simply reduce the potential of the dynamic and open set of choreographic rules and thereby merely invert the romantic dream-empire of a universal language to a physical counterparadigm.“111
Das Verhältnis zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit wird somit vom Kopf auf die Füße gestellt. Es ist nun die lebendige Tätigkeit der Körper, die Formen schafft. Letztlich steht im Choreographischen die immanente Komposition vermögender Körper entgegen transzendenter Festlegungen auf dem Spiel. Dies unterscheidet es von Choreographie. Es lässt keine Trennung zu zwischen dem, was zu ihm gehört und dem, was nicht zu ihm gehört, Choreographie dagegen, ob sie nun poetisch geregelt ist oder einem biopolitischen Kalkül folgt, beruht auf dieser Grenze. Das Konzept des Immanenzplans, den Deleuze in seiner Studie über Spinoza formuliert, verweist auch auf einen ästhetischen Plan, der dem ästhetischen Sensorium sehr nah ist: „Im Gegensatz dazu legt ein Immanenzplan keine zusätzlichen Dimensionen an: der Zusammensetzungsprozeß muß für sich selbst entlang dem, was er gibt, und in dem, was er gibt, erfasst werden.“112 Im Choreographischen entgrenzen Fehlschritte ebenso den Raum, in dem getanzt wird wie die Körper, die in ihm tanzbar werden und die tanzend das hervorbringen, was keine Choreographie regieren kann.
111 Ebd., S. 142. 112 Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, S. 166.
Parabel VI: Ivana Müllers Playing Ensemble Again and Again
Normalerweise enden Tanzaufführungen mit einer nicht zum eigentlichen Stück gehörenden und dennoch choreographisch verfassten Serie von Gesten, die darin besteht, dass die Zuschauer den Darstellern für ihre Darbietung danken, indem sie klatschend ihren Beifall bekunden und die Körper auf der Bühne ihrerseits deren Dank erwidern, indem sie sich verbeugen. Dieses Verhältnis zwischen Publikum und Ensemble wird in Ivana Müllers zweitem – nach While we were holding it together (2006) entstandenem – Gruppenstück zum sujet. Was herkömmlicherweise die Außenhaut und den Rahmen einer Aufführung ausmacht, aber aus ihr ausgeschlossen bleibt, rückt in der 2008 entstandenen Arbeit ins Zentrum des Geschehens. Auf humorvolle Weise weitet Müller die Grenze zwischen Choreographie und Nicht-Choreographie auf Tätigkeitsformen aus, deren durchaus komplexer tänzerischer Aspekt dem Auge des Betrachters meistens verborgen bleibt. Wieder wurden die Texte gemeinsam von ihr und Bill Aitchison verfasst. Der gesamte Ablauf besteht in einem durch eine extreme Zeitlupe scheinbar endlos in die Länge gezogenen Applaus, dessen choreographische Elemente Müller aus ihrer ursprünglichen Codierung und Funktionalität löst, um das darzustellen, was Darstellungen sonst nur umgeben und abschließen würde, ohne seinerseits dargestellt zu werden. Am Anfang von Playing Ensemble Again and Again sind die letzten Sekunden eines schmetternden Orchesterfinales zu hören.1 Die Bühne bleibt vorerst dunkel. Allmählich fadet danach das Licht hoch, es wird heller, und geradezu unmerklich zeichnet sich die Figur eines Mannes mit rotem Schal ab, der in extremer Zeitlupe hinter dem Vorhang, welcher die Bühnenrückwand vollständig bedeckt, zum Vorschein kommt und auf die Rampe zugeht. Weil sein Bewegungsablauf stark verlangsamt ist, wird jede am Akt des Gehens mitwirkende und fast unmerkliche 1
Ich beziehe mich in meiner Analyse auf eine Videoaufnahme der Version des Stücks, die am 5. Dezember 2008 im Amsterdamer FRASCATI-Theater gezeigt wurde.
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Transformation seines Körpers – vom Heben eines Fußes über das Drehen der Hüfte bis hin zum Pendeln seiner Arme – gleichermaßen wichtig in ihrer Filigranität. Innerhalb aller Momente, die er durchquert, ist spürbar, wie sie ihn durch verschiedene affektive Zustände hindurchführen und wie dadurch sein Potential extrem changiert, ohne jemals in einem bestimmten Augenblick feststellbar zu sein. Die dadurch produzierte Bewegungsqualität ist überaus klandestin und lässt die fluktuierenden Modifikationen seines Körpers erkennen. Es scheint, er würde von entgegengesetzten Tendenzen erfüllt, wenn er nach vielen Sekunden einen einfachen Schritt getan oder seine nie stillgestellte Blickrichtung erneut geändert hat. Ihm folgen weitere Gestalten: Körper, die alle extrem entschleunigt und deren einzelne Gliedmaßen in ihrem Bewegungsablauf entfunktionalisiert sind, so dass die Szene wirkt, als würde sie gleich einfrieren, dabei jedoch gleichzeitig unzählige Abstände und Intervalle freigeben, die sich innerhalb ihres vermeintlichen Stillstands abspielen. Spürbar wird dadurch etwas zwischen den Körpern, das selbst keine Aktion oder Bewegung ist und sie gerade deshalb, so unterschwellig es sich auch abzeichnet, in Gang setzt. Während das Licht kontinuierlich heller wird und die leere Bühne nach einigen Minuten gleichmäßig ausleuchtet, gruppieren sich, wie man bald sieht, sechs Tänzerinnen und Tänzer in einer horizontalen Reihe vor den Zuschauern. Gleichzeitig kommen sie dem vorderen Bühnenrand näher, Stück für Stück und in bis zur Grenze der Bewegungslosigkeit ausgedehnten Augenblicken des Abhebens und Aufsetzens ihrer Füße vom und auf den Boden. Irgendwann, aufgrund der aufgefächerten Zeitwahrnehmung der Zuschauer, die es ihnen erschwert, Augenblicke voneinander zu trennen, weil sie in ineinander eingebetteten Mustern, welche parallel zueinander entwickelt werden, verschachtelt sind, ist man sich nicht länger sicher, wie viele Minuten bisher vergangen sind. Dann reichen sich die Körper erstmals ihre Hände und bewegen mehr oder weniger synchron ihre Oberkörper nach unten, um danach in eine stehende Position zurückzukehren, die Hände wieder voneinander zu lösen und ihre Arme zum Gruß zu erheben. Während das passiert, bleibt zunächst offen, auf welches Ziel die jeweiligen Gesten zusteuern. Im Verlauf ihres Vollzugs sind sie von ihrem alltäglichen Zweck losgelöst. Eine Hand wird nicht einfach in die andere gelegt, mehrere Finger berühren sich nicht nur, um sich dann nebeneinander zu schließen, und die Oberkörper verbeugen sich nicht sofort nach vorne, sondern sie dehnen die Momente des Legens, Berührens, Schließens und Beugens auf etwas anderes hin aus, ohne ihnen eine Funktion unterzuschieben, die gleich erkennbar wäre. Der einzelne Körper beschränkt sein Verhältnis zu anderen weder auf eine codierte Kontur noch drückt er es in einem anatomischen Arrangement aus, sondern hält beide offen für affektiv wirksame Intervalle dazwischen, deren permanentes Changieren sich nur schwer festmachen lässt und einen Nuancenreichtum zwischen komplexen Zustandsverän-
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derungen entfaltet. Trotzdem gibt es irgendwann einen Einschnitt, der die qualitativen Transformationen abrupt unterbricht. Plötzlich kippen sie in eine Szene um, und ein allzu bekanntes Bild wird evoziert, nämlich das Verbeugen einer Gruppe von Darstellern, die gerade ein Stück vor den Augen des Publikums präsentiert und sich nun die Hände gereicht und ineinandergelegt haben, um dann, jeder für sich, einladend ihre Arme auszustrecken. Abbildung 20: Ivana Müllers Playing Ensemble Again and Again (2008)
Photo: Liesbeth Bernaerts.
Was während des Applauses passiert, wird so als eine Form des Tanzens ersichtlich, welche zahlreiche Ausdrucksmaterien freisetzen kann, die, obwohl sie das Potential zu eigenständigen Werken in sich bergen, in der Regel nicht zu Stücken gehören, sondern nur deren Aufführung verzieren. Was ansonsten hinter den Kulissen geschieht und im Verborgenen bleibt, nimmt im weiteren Verlauf von Müllers Stück das Zenrum der Bühne ein: Die Beziehung der Tänzerinnen und Tänzer zueinander sowie ihre Beziehung zum Publikum. Schließt das Klatschen und Verbeugen meistens die Abstände und Klüfte zwischen den jeweils unterschiedlich an einem Theaterabend Beteiligten, öffnet Müller sie erneut und spielt mit dem, was sonst nicht in Erscheinung tritt. Abschlussrituale sind demnach genauso choreographisch verfasst wie ihnen vorangehende Aufführungen. Verbeugen verwandelt sich über die Dauer von Playing Ensemble Again and Again hinweg von einem mechanisch ablaufenden und leeren Ritual in den auf eine Stunde ausgedehnten, dissensuellen Moment affektiver Modifikationen zwischen Körpern, die nicht in einer sie
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transzendierenden Einheit zusammengefasst werden können. Die unwillkürlichen Regungen der Darsteller, die aus dem Rahmen einer Choreographie ausgeschlossen sind, treten beim Applaus in den Mittelpunkt. Dabei wird in unmerklichen Momentaufnahmen deutlich, wie sehr jede Geste an der Genese und Produktion eines Verhältnisses teilhat, das zwar kein in sich geschlossener Zusammenhang ist, aber diejenigen auf der Bühne und die im Zuschauerraum innerhalb einer lebendigen Konstellation zusammenbringt und sich tiefgreifend verändert, wenn sich einzelne Elemente, aus denen es besteht, anders miteinander verbinden. Dieses Arrangement wird im Verlauf von Playing Ensemble Again and Again mit den Relationen konfrontiert, aus denen es hervorgegangen ist, und was Publikum und Darsteller am Ende eines Stücks oft die Einheit ihrer Gemeinschaft feiern lässt, wird einem Dissens zugeführt. Weder bekunden die Tänzer ihre Geschlossenheit innerhalb einer Tanzcompagnie oder innerhalb eines Ensembles noch wird, wie sonst üblich, durch das Ritual des Verbeugens eine bestimmte Beziehung zu den Zuschauern untermauert. Müller bringt in den Rahmen der Aufführung herein, was sonst unsichtbar bleibt, das nämlich, was in den Köpfen einzelner Tänzer während des Abschlussmoments einer abendlichen Aufführung vor sich geht. Nach einer Weile beginnt eine junge Frau zu sprechen: „In tonight’s show we were hoping, wishing, trying, we were dancing, screaming, hiding, flirting.“ Es sei ihr erstes Mal gewesen, zusammen mit den anderen auf der Bühne zu stehen, fährt sie fort, und ein anderer antwortet ihr, für ihn dagegen hätte es sich angefühlt, als sei es das letzte Mal gewesen. Weitere mischen sich in die Diskussion der beiden ein und erweitern sie um andere Abstände und Differenzen zwischen sich. Nach wie vor in einem in Zeitlupe stattfindenden Wechsel aus Verneigungen ihrer Oberkörper und dem Ausstrecken ihrer Hände begriffen, beschreiben sie, wie sie sich momentan fühlten, dass ihnen heiß sei, dass sie schwitzten und dass sie vom Stück davor erschöpft wären. Die Show ist vorüber, beginnt aber jetzt erst. Wovon die zuvor stattgefundene Aufführung handelte, ist unbedeutend bezüglich des Moments, in den sie die Körper und ihr Verhältnis zueinander gebracht hat und gegenüber deren Erkenntnis, dass alles vergebens wäre und sich nichts wirklich geändert hätte, weil sie noch immer dieselbe Welt bewohnten, obwohl sie versucht hätten, aus ihr auszubrechen und etwas anderes als das alltägliche Leben jenseits der Bühne zu zeigen. Again and again. „We were searching for the right thing to say“, äußert später jemand. „And we were trying it together“, antwortet ein anderer, und ein dritter unterstreicht „We were doing it for you.“ Für wen wurde etwas aufgeführt und dargestellt? Für die Menge eines anonymen Publikums, das ihnen nur zugesehen hat, genau so, wie es ihnen jetzt zuschaut, während sie zugeben müssen, dass ihr Stück vorbei ist? Für einzelne Zuschauer, die allesamt bald als andere Menschen das Theater verlassen werden, in einen Alltag hinein, der nie wieder sein wird, wie er vorher einmal war?
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Jeder hat etwas anderes erlebt im Raum und in der Zeit, die die Aufführung ausgemacht haben und die man geteilt hat, ohne sie miteinander zu teilen, denn jetzt erst entsteht zwischen den einzelnen Aussagen der Darsteller etwas Gemeinsames, das sie nicht bestimmen können, das aber trotzdem auf einem ihnen gemeinsamen Spiel steht und das sie gemeinsam auf Begriffe bringen. Nach einer Weile bewegen sich die sechs Körper wieder langsam und geradezu unmerklich nach hinten. In regelmäßigen Abständen reichen sie sich zwischendurch die Hände, verbeugen sich oder strecken in einer ebenso einladenden wie dankenden Geste beide Arme in Richtung der Zuschauer aus. „And now, we are standing on the same line“, sagt jemand. Wieder nähern sie sich der Rampe. Ihr Vor- und Zurückschreiten bleibt als Grundstruktur des Stücks ebenso erhalten wie die Gesten, die üblicherweise mit dem Applausritual verbunden sind. Immer deutlicher kristallisiert sich heraus, was passiert sein könnte. Es wird kein Unterschied gemacht zwischen Ereignissen, die direkt und solchen, die nur indirekt zu dem zuvor aufgeführten Stück gehört hätten. Die Beobachtung „The lights were bright“ geht der Behauptung „My swedish teacher always told me I would be something big“ voran, „Tonight’s show was romantic“ folgt Hinweisen wie „We were touring in Europe“ oder „During this, I always felt lonely.“ Das Nachdenken der Tänzerinnen und Tänzer darüber, wie und warum ihr bisheriges Leben in den zurückliegenden Bühnenhandlungen kulminiert ist, wird zum eigentlichen sujet des Stücks. Wenn irgendwann einer der Männer behauptet „It’s the end, but not really“ und eine junge Frau ihm antwortet „I never know whether we are still performing or not“, verstärkt sich der Eindruck, dass die Grenzen von Playing Ensemble Again and Again nicht in einer bereits definierten Raumzeit verankert sind, sondern sich mit jeder neuen Aussage auf ein weiteres Feld erstrecken. In ihrer losen Aufeinanderfolge verweisen die Sätze eher auf etwas außerhalb der Bühne als auf den Rahmen des eben noch gezeigten Stücks. Eine der Performerinnen äußert ihre Verwunderung über das allen entgegengebrachte Wohlgefallen der Zuschauer und fragt sich, ob es ausdrücken könne, was es kommunizieren wolle: „I never know if you’re clapping because you liked it or just because everybody else is clapping.“ Bis hierhin war, immer wieder ein- und ausgefadet, ein tiefes Atmen über die Lautsprecher zu hören. Jetzt klatschen, ganz langsam, auch die Körper auf der Bühne, und die Tonspur eines tosenden Theaterpublikums wird eingespielt. Die Reihe der sechs Körper löst sich auf und verteilt sich unregelmäßig im Raum. Jeweils drei verlassen, ungerichtet zunächst in ihren zeitlich extrem gedehnten Schritten, zu zwei Seiten die Bühne. Als alle abgegangen sind, wird es sofort dunkler. Stimmen sind zu hören, aus dem Off und vor dem Hintergrund einer leeren, nach wie vor aber unglaublich aufgeladenen Bühnenfläche: „I did not always believe in everything they said tonight“, „It is so much dirtier on this side of the curtain“, „Where I stand, the space is so small that I can hardly turn
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around“ oder „Hey, I think we should go back in there soon, they are waiting“, lassen sie vernehmen, bevor noch einmal die Tonaufnahme eines schallenden Applauses ertönt und die sechs Tänzer von rechts und links auf die Bühne zurückkehren, nach wie vor in unglaublicher Zeitlupe. Einander dankend verweisen sie aufeinander und etablieren erneut eine einheitliche Reihe. Es sind weitere Minuten verstrichen, Zeit, die einen glauben macht, in ihnen passiere mehr als das, was zur Szene des Applauses gehört, bis jemand behauptet: „The six of us met a long time ago at the audition.“ Eine andere Person gibt zu: „We were the ones that got cast because we were all of the same height.“ Abbildung 21: Ivana Müllers Playing Ensemble Again and Again (2008)
Photo: Liesbeth Bernaerts.
Ähnlich wie in While we were holding it together bedient sich Müller auch in Playing Ensemble Again and Again der Tradition der tableaux vivants. Diesmal zeigt sich der Dissens der Körper jedoch nicht anhand eingefrorener Posen und im Kontrast zu erzählten Geschichten, sondern indem von einer anscheinend eindeutigen Situation aus, der des wiederholten Verbeugens von Darstellern vor einem klatschenden Publikum, zentrifugale Kreise in andere Umgebungen und auf eine Sammlung lose gekoppelter Momente hin gezogen werden, die in den Rahmen des Abschlussrituals einer möglichen Aufführung hineingeholt werden und Anekdoten aus dem Leben der Performer ebenso umfassen wie die Verortung des Stücks in einem internationalen Marktgeschehen oder die lokalen Kontexte, in denen es schon gezeigt wurde. Die Grenzen des tableau vivants, aus dem Playing Ensemble Again
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and Again besteht, sind ebenso ausgedehnt wie seine zeitliche Struktur und bringen unterschiedlichste Komponenten miteinander in Beziehung. Gemeinsam mit While we were holding it together sind der Arbeit eine zwischen Sichtbarem und Sagbarem hergestellte Spannung und zwei für das Choreographische wichtige Fragen: Was ist drinnen? Was ist draußen? Ein schon im Verlauf von While we were holding it together virulentes Problem wird so mit neuen Lösungen konfrontiert. Es zeigt sich, dass choreographische Momente gerade dann in den Vordergrund treten, wenn hinsichtlich der Rahmung von Körpern die Grenze zwischen Innen und Außen instabil wird. Die sechs Körper auf der Bühne arrangieren ihre kontingente Begegnung, ohne dafür feste Parameter zu haben. Sie verbeugen sich, reichen sich die Hände, beglückwünschen sich gegenseitig und signalisieren dennoch in jedem Augenblick, dass es die Gruppe als solche gar nicht gibt, sondern nur Abstände und Intervalle zwischen ihren Mitgliedern, die sich zwar aufeinander beziehen, aber kein ethos haben, auf das sie sich gründen könnten. Gemeinsam ist ihnen allein ein Dissens über das, was sie verbindet. Gemeinsam sind ihnen Abstände und Intervalle zwischen ihren Gesten und Wörtern und die Zustandsveränderungen, die sie herbeiführen. Die immer nur behauptete Einheit eines sozialen Körpers, in der sich etwas ausdrückt, das in keiner bestimmten Körperordnung aufgehen kann, ist auf der Bühne ebenso imaginär wie im Leben. Nachdem die sechs Tänzer nämlich beschrieben haben, aus welchen Quellen sich ihre aktuelle Produktion finanziert hat (lokale ebenso wie nationale und internationale Fonds) und wie sie im Verlauf ihrer Tournee sowohl den Eifelturm in Paris bestiegen als auch die New Yorker Freiheitsstatue besichtigt hätten, weisen sie darauf hin, dass sie noch immer nicht wüssten, was daraus entstanden ist: „Tonight’s show was about getting together and falling apart.“ Für ein paar Minuten schweigen alle, gehen langsam wieder rückwärts und auf den hinteren Teil der Bühne zu, schauen sich im Raum um und einander an und bewegen ihre Hände zum Klatschen aufeinander zu. Jetzt treten verschiedene Paare aus der Sechserreihe heraus, werden von den anderen umringt und als einzelne Tänzer hervorgehoben und beklatscht. „In tonight’s show I appeared only in the first 15 minutes. I am 42 today and never had a main role“ gibt eine zu und ein anderer antwortet ihr: „There is some mistake here. This is not my place. I should be there. But this is how it goes in life. You miss your cue and it goes on without you.“ Die Formation löst sich komplett auf, und ihre Elemente verwandeln sich in ein loses Arrangement, dessen Kontingenz sofort deutlich wird. Mit derselben Berechtigung könnten einzelne Körper an anderer Stelle stehen, eine andere Funktion ausüben, anders beschaffen oder anders mit anderen verbunden sein. Stück für Stück verflüchtigen sich die restlichen Bestandteile der horizontalen Reihe. Die Tänzer verteilen sich und richten sich aneinander, ans Publikum und an einen offenen
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Raum, der ihr Verhältnis als ein aus singulären Relationen konstituiertes hervortreten lässt. Wieder bilden sich zwei Gruppen, die in lang gedehnten Momenten nach links und rechts abgehen. Eine Performerin bleibt allein zurück und gibt zu, dass man viele Dinge im Leben verpasse, wenn man als „blackbox nomad“ die meiste Zeit auf der Bühne verbringe. „No matter where you are, in which country, in which continent, a blackbox always stays a blackbox.“ Das Theaterdispositiv wird von ihr als etwas deklariert, das viele Dinge in sich verschlucke, während sie vorgestellt würden. Die Bühne als Blackbox wirkt in der Erzählung der auf der Bühne Zurückgelassenen eher wie ein schwarzes Loch, in das Körper hineinfallen, als wie eine Leinwand, auf der sie zuallererst erscheinen können. Dann verschwindet auch sie. Wieder ist die Bühne leer und verlassen. Noch einmal sind Stimmen aus dem Off zu hören. Ein weiteres Mal überlegen die Körper, ob sie auf die Bühne zurückkehren sollen und sind verwundert, warum die Zuschauer nicht aufhören wollen zu klatschen. So begeistert könne doch niemand von ihrer Show sein! In einer Reihe treten sie zum dritten und letzten Mal auf: „In tonight’s show, we were sometimes forgetting which roles we were playing, and it felt like good old days again“, sagt die erste, „We’ve performed this piece many, many, many, many times“ antwortet eine andere und „And now we are with you once again“, gesteht ein dritter schließlich. Meinen sie das Theater als Institution, in dem immer wieder, weltweit, Abend für Abend und in Tausenden von Häusern, eine Gruppe von Körpern vor eine meistens noch größere Gruppe von Zuschauern tritt? Wenn es Theater im Sinne einer rahmenlosen Leinwand gibt, müsste es genau hier darum gehen, etwas aufzuführen und darzustellen, das die jeweiligen Verhältnisse zu anderen und zur Welt modifiziert und transformiert und die Bühne derjenige Ort sein, an dem eine gemeinsame Welt aufs Spiel gesetzt würde im Dissens der Körper: Die Bühne ist das Parkett, auf dem sie die Verhältnisse, aus denen die Welt besteht und die auch ihren Bezug aufeinander bestimmen werden, zuallererst hervorbringen können. Playing Ensemble Again and Again heißt demnach, die Elemente des Arrangements, aus dem körperliche Ensembles bestehen, im wahrsten Wortsinn ins Spiel zu bringen, um im Dissens etwas Gemeinsames zu suchen. Theater wäre dann der Raum aller Körper und ihrer choreographischen Fehlschritte. „If we continue doing this much longer, our bodies will be so old and so tired that nobody will want to look at us anymore.“ Der mit dem roten Schal, der zu Beginn des Stücks als erster die Bühne betreten hat, weist darauf hin, dass heute alle vielleicht zum letzten Mal auf der Bühne stehen würden. Wieder treten einzelne Tänzer aus der Reihe heraus und nach vorne. Die anderen breiten einladend ihre Arme aus oder reichen sich die Hände. Eine Performerin meint: „Although it didn’t always feel like we were playing in the same show, at this moment I feel that I’ve
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been with you all my life.“ Zum Schluß schließen zwei Tänzer aneinander an: „When the light goes out, you will not see us anymore“, sagt einer und eine andere setzt hinzu „We will be gone.“ Dann wird es wirklich dunkel, und Playing Ensemble Again and Again ist plötzlich zu Ende.
9. Epilog: Immanenz, Subjektivierung und das Lebendige im Choreographischen „Das Schöne ist machtlos, geht aber immer über das hinaus, was es einrahmt, und was es einrahmt, ist immer der Diskurs.“
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JEREMY GILBERT-ROLFE/DAS SCHÖNE UND DAS ERHABENE VON HEUTE „Und letztlich: dem Leben – als Aufteilung des Sinnlichen – ein Leben – als Suspension der Aufteilungen – entgegensetzend.“
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JAN VÖLKER/ÄSTHETIK DER LEBENDIGKEIT
In einem kurz vor seinem Tod verfassten Aufsatz mit dem Titel Die Immanenz: ein Leben kehrt Deleuze zu einer Reihe miteinander zusammenhängender Probleme zurück, die ihn über Jahrzehnte hinweg und während verschiedener Etappen seines Denkens beschäftigt haben. Wieder im Zentrum steht das Motiv des spinozistischen conatus und – daraus resultierend – des Vermögens und dessen Konflikt mit jeder Form transzendenter Einverleibung und Feststellung dessen was ein Körper kann. Gegenüber der Stillstellung seiner Lebendigkeit durch die Idee eines einheitlichen Lebenszusammenhangs versucht Deleuze auf wenigen Seiten erneut und zum letzten Mal die Immanenz eines Lebens sowie dessen immer offene Bestimmbarkeit ins Spiel zu bringen. Er geht dabei von folgender These aus: „Die Transzendenz ist
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Jeremy Gilbert-Rolfe, Das Schöne und das Erhabene von heute, Berlin: Merve, 1996, S.
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Völker, Ästhetik der Lebendigkeit, S. 259.
21.
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immer ein Immanenzprodukt“3. Sie ergibt sich paradoxerweise als Effekt aus der Immanenz eines Lebens, indem sie es zu dem Leben von etwas erklärt und von seinem immanenten Vermögen trennt. Ein Leben ist nicht nur das Produkt seiner Zuschreibung, sondern auch der Produzent des Zusammenhangs, welchem und in dem es sich zuschreibt. Ein Leben ist weder auf der Seite des Subjekts noch auf der des Objekts zu finden, sondern zwischen beiden und in der Weise, wie sie sich aufeinander beziehen, gegenseitig berühren, affizieren und modifizieren. Es ist weder aktive Form noch passive Materie, sondern durchläuft singuläre Punkte, an denen sich beide zuallererst bilden. Zunächst ist Spinozas conatus produktiv und konstitutiv, ein virtuelles Streben der Körper. Er aktualisiert sich jedoch in Subjekten und Objekten, Formen und Materien und schafft somit Rahmungen und Bilder, in denen er nie aufgeht. Während sie zeigen, was ein Körper aktuell ist, indem er auf sie als transzendente Instanzen bezogen wird, führt der conatus ihn zu dem hin, was er sein kann und was nirgendwo seinen Abschluss findet. Deleuze trennt das Transzendentale, unter dem er den „Übergang von einer Empfindung zur anderen – wie nahe sie auch aneinander liegen mögen –, als Werden, als Steigerung oder Minderung von Vermögen“4 vom Transzendenten, das er u.a. hinsichtlich Kants Subjekt, das nur mögliche Erfahrungen machen würde und von seinen Objekten abgespalten wäre, kritisiert. Dabei lässt er leider dessen Schönes außer Acht.5 Die Immanenz eines Lebens kann demnach nie innerhalb des schon bestimmten Lebens erfahren werden. Ebenso wenig kann die Immanenz eines Körpers in einer ihm äußerlichen Choreographie Form annehmen. Deleuze geht es um die Frage, wie sich das Vermögen eines Lebens in seiner Singularität denken lässt, bevor es aufgeteilt und sedimentiert wird in den Dingen, denen es sich, immer nur im Nachhinein, zuschreibt. Zu Beginn dieser Arbeit wurde gezeigt, wie André Lepecki und Gerald Siegmund das Verhältnis zwischen dem, was Körper können und den daraus resultierenden Praktiken entweder als deren Exodus aus der Choreographie heraus (Lepecki) oder als ihre widerständige Abstandnahme vom Gesetz (Siegmund) denken. Siegmund spricht gegen Ende seiner Habilitation bezüglich Xavier le Roys Self Unfinished (1998) auch von einem anagrammatischen Körper, der hier produziert
3
Gilles Deleuze, Die Immanenz: ein Leben, in: Balke/Vogl (Hrsg.), „Gilles Deleuze –
4
Ebd., ebd.
5
Vgl. ebd., S. 30. In Kants Analytik des Schönen geht es um ein Schematisieren ohne fixe
Fluchtlinien der Philosophie“, S. 32.
Begriffe. Im Schönen sind sowohl Subjekt als auch Objekt nicht bereits gegeben, sondern bilden sich in ihrer Begegnung miteinander. Das Schöne geht, wie Steven Shaviro vorgeschlagen hat, mit deren wechselseitig immanenter Genese einher. – Vgl. ders., Without Criteria.
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würde und den er im Hinblick auf das (lacanianisch gedachte) Gesetz exemplarisch als einen ‚Körper der Differenz‘ fasst. „Xavier Le Roy schafft einen solchen anagrammatischen Körper, indem er die logische Funktionsweise des Körpers (das aufrechte Achsenmodell, Füße zum Gehen, Hände zum Greifen usw.) seziert und an einem Stück, ungeteilt, als ungesehenen und unvorhersehbaren Körper hervorbringt. Er konzeptualisiert den Körper als Differenz, die Differenz bleibt, weil die Choreographie von dem körpereigenen Ort der Differenz ausgeht. […] Aus der Abwesenheit im Körper heraus entsteht ein organloser Körper, der viele Körper ist, ohne ein Bild, eine Projektion sein zu können.“6
Was genau ist dann abwesend oder wird abwesend gemacht innerhalb choreographischer Praktiken, welche, wie Siegmund es formuliert, „das Subjekt des Rezipienten nicht [imaginär? – Anm. d.A.] spiegeln, sondern es auf das Unverfügbare und Heterogene der Erfahrung öffnen“7? Abwesend sein kann sicherlich nicht, wie er selbst betont, der ‚körpereigene Ort der Differenz‘, weil er es ist, der in Stücken wie Xavier le Roys Self Unfinished ins Spiel gebracht wird. Abwesend ist vielmehr, das ist der ästhetische Aspekt an Siegmunds performativer Theorie des Tanzes, ein direkter Bezug des Körpers auf eine symbolische Ordnung im Sinne Lacans und auf eine ihm äußerliche Form, die ihn transzendieren und im Imaginären zum Bild, zur Projektion, zur Rückspiegelung und zum Effekt feststehender Strukturen machen würde. Denn nur dann, wenn choreographische Praktiken beweisen, dass sie sich nicht nach fixen Modellen richten, welche strukturiert seien wie eine Sprache, sondern die Fehlschritte der Körper in den Raum der Choreographie hineintragen, sind sie ebenso ästhetisch wie sie, laut Siegmund, den Ort der Differenz der Körper erfahr-, sicht- und spürbar werden lassen. Insofern zielen Siegmund und Lepecki, obwohl sich ihr Denken des Verhältnisses zwischen Choreographie als Form und Tanz als Tätigkeit aus disparaten philosophischen bzw. psychoanalytischen Quellen speist (Deleuzes Konzept des organlosen Körpers bei Lepecki und Lacans gespaltenes Subjekt bei Siegmund) in dieselbe Richtung. Denn auch Lepecki lehnt mit der Choreographie als Vereinnahmungsapparat ein transzendentes Verständnis des Körpers ab und öffnet das Verhältnis zwischen Choreographie und Tanz gegenüber einem Potential, neue Formen konstituieren und produzieren zu können. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wurden vermögende Körper einerseits mit dem Aufkommen der Ästhetik um 1800 und andererseits mit Spinozas Konzept einer ihren Modi immanenten Substanz, die dem ästhetischen Regime zugrunde liegt, in einen historischen Kontext gestellt und gezeigt, dass Jean Georges Noverre, zumindest in dem, was er in seinen Briefen über die Tanzkunst fordert, als erster ex6
Siegmund, Abwesenheit, S. 387.
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Ebd., S. 451.
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plizit in Richtung des Choreographischen denkt. Zwar gibt es im Choreographischen keine transzendenten Formen, an denen sich Praxis ausrichten könnte, dennoch besteht die Gefahr, dass Ästhetik in Biopolitik umschlägt. Wie ist demgegenüber die Immanenz eines Lebens denkbar? Wie kann das immanente Verhältnis der Körper zueinander gegenüber ihrer Vereinnahmung durch biopolitische Kalküle widerständig bleiben? In Anknüpfung an die Überlegungen, die Deleuze in seinem letzten Aufsatz anstellt, soll nun das Choreographische, in seinem Gegensatz zur Choreographie, noch einmal auf die Problematik von Leben und Lebendigem in Ranciéres ästhetischem Regime zugespitzt werden. Ein „minoritärer“8 Kant und dessen ästhetische Urteilskraft seien dabei vor Deleuzes später Kritik in Schutz genommen. In der Analytik des Schönen geht es nämlich um eine wechselseitige Durchdringung von Subjekt und Objekt, respektive Form und Materie. Innerhalb der Immanenz stehen weder Subjekt noch Objekt fest, und es gibt kein hylemorphisches Verhältnis zwischen Form und Materie. Deleuzes Immanenz bezieht sich auf ein singuläres Leben und die Lebendigkeit eines Körpers: „Sie ist nicht Immanenz im Leben, vielmehr ist sie als Immanentes, das in nichts ist, selbst ein Leben.“9 Die Singularität eines Körpers ist zugleich die Singularität eines beliebigen Körpers. Jahre vor Die Immanenz: ein Leben hatte sich Deleuze in seinem Buch über Foucault mit dessen Diagramm befasst und zwischen einem aus unverbundenen Singularitäten bestehenden, virtuellen Außen einerseits und andererseits den verschieden geschichteten, aktuellen Zonen, innerhalb derer sich Subjektivierungen herauskristallisieren, unterschieden. Er war zu dem Schluss gekommen, dass wir immer aus unserer Begegnung mit Kräften resultieren. Deleuzes geologischer Lesart zufolge besteht der Vorteil des Diagramms darin, den Zusammenhang zwischen den ‚Ablagerungen‘ der Erfahrung und den in ihr noch nicht sedimentierten ‚Geröllmassen‘ nicht zu metaphorisieren, sondern radikal materialistisch zu fassen. Das Außen wäre demnach nicht außen, sondern gehörte zum Diagramm, wobei Deleuze, im Gegensatz zu Foucault, davon ausgeht, dass dessen Kräfte nicht von den Schichten bedingt werden, sondern sich umgekehrt in jenen ablagern.10 Für ihn ist 8
Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Common Wealth – Das Ende des Eigentums, Frank-
9
Deleuze, Die Immanenz: ein Leben, in: Balke/Vogl (Hrsg.), „Gilles Deleuze – Fluchtli-
furt am Main/New York: Campus, 2010, S. 32 f. nien der Philosophie“, S. 30. 10 Foucault zufolge bringen Formationen von Macht und Wissen Widerstand zuallererst hervor. Er war nach eigener Aussage eigentlich immer Kantianer und an der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung interessiert. – Vgl. Michel Foucault, Einführung in Kants Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2010. Deleuze macht demgegenüber die Realität der Produktion der Erfahrung stark und lehnt Foucaults Begriff der Lust zugunsten seines Verständnisses von Begehren ab, das immer mit den Kräften des Außens in
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die Zone der Subjektivierung der Ort, wo sich die losen Singularitäten des Außens und die Schichten der Subjektivierung ineinander falten und gegenseitig generieren. Zwar lehnt Deleuze hinsichtlich der Verschachtelung des Außens mit den bestimmten Sedimenten des Diagramms den Begriff des Subjekts ab, setzt in dessen Zentrum jedoch eine Gestalt, die weniger an einen Punkt, sondern an etwas wie eine Null oder ein Ei erinnert.11 Derart verweist das Diagramm auf die gegenseitige Immanenz bereits geronnener Formen und ungeformter Materien, die dazu führt, dass virtuelle Beziehungen und aktuelle Verbindungen untrennbar ineinander verflochten sind, ohne transzendiert zu sein. Daraus schließt Deleuze: „Das allgemeine Prinzip Foucaults lautet: jede Form ist eine Verbindung von Kräfteverhältnissen. In Anbetracht der Kräfte wird man sich also zunächst fragen, mit welchen Kräften des Draußen sie in Verbindung treten, hernach, welche Form sich von dort her ableitet.“12 Das Diagramm ist ein Gefüge bereits etablierter und aufgeteilter Formen einerseits und loser Singularitäten und Potentiale andererseits: „Wenn das Innen sich durch das Falten des Außen bildet, dann besteht zwischen ihnen eine topologische Beziehung: der Bezug zu sich ist homolog der Beziehung zum Außen, und beide stehen in Kontakt durch Vermittlung der Schichten, die relativ äußerliche (folglich relativ innerliche) Milieus sind.“13
Verbindung steht: „Ich kann der Lust keinen positiven Wert beimessen, denn die Lust scheint mir den Prozeß, der dem Begehren immanent ist, zu unterbrechen; die Lust scheint mir zu den Schichten und zur Organisation zu gehören; und aus der selben Haltung heraus wird das Begehren vorgestellt als von innen her dem Gesetz unterworfen und von außen her durch die Lüste skandiert; in beiden Fällen wird ein dem Begehren eigenes Immanenzfeld negiert.“ – Deleuze, Lust und Begehren, S. 32. 11 In Tausend Plateaus heißt es über die Pragmatik des organlosen Körpers: „Er ist heftige und nicht geformte, nicht stratifizierte Materie, eine intensive Matrix, die Intensität = 0, aber an dieser Null gibt es nichts Negatives, es gibt weder negative noch positive Intensitäten. Materie gleich Energie. Produktion des Realen als intensive Größe, die bei Null beginnt.“ – Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 210. Das Motiv der ‚0‘ findet sich schon in Friedrich Schillers Beschreibung des ästhetischen Zustands, auf den in Kapitel 5.1. der vorliegenden Arbeit eingegangen wurde: „In dem ästhetischen Zustande ist der Mensch also Null, insofern man auf ein einzelnes Resultat, nicht auf das ganze Vermögen achtet, und den Mangel jeder besonderen Determination in ihm in Betracht zieht.“ – Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 83. Zur ‚Logik des Zero‘ beim frühen und späten Kant vgl. Völker, Ästhetik der Lebendigkeit. 12 Deleuze, Foucault, S. 175. 13 Ebd., S. 168.
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Lebendigkeit nimmt demzufolge innerhalb des Diagramms Formen an, bleibt aber sich selbst und damit der Grenze, die sie ist, immanent. In Deleuzes ImmanenzKonzept zeigt sich somit etwas Kants Schönem sehr Verwandtes, weil, so formuliert es Gilbert-Rolfe, das Schöne „typischerweise dem Fragilen und Delikaten zugeordnet ist und somit die Sprache der Macht in Schranken weist, da es sich nicht von dem, was es einrahmt, subsumieren läßt.“14 Auch in Kants Schönem wird die Lebendigkeit der Körper bestimmbar und in der Schwebe gehalten zwischen dem Vermögen eines Körpers und den Kräften des Außens, da der ohne fixe Begriffe schematisierende Verstand sich auf mannigfaltige Anschauungen bezieht. Weil das Subjekt sein Verhältnis zum Objekt als eine bloße Form reflektiert, geht es auch hier nicht um nur mögliche Erfahrungen, die von einer gegebenen Aufteilung des Sinnlichen im Sinne Rancières determiniert würden. Im Gegenteil kommt es im Schönen zu Neuanordnungen der Grundlagen von Erfahrung, deren Wichtigkeit für das Choreographische sich mit Deleuze derart schildern lässt: „Das Indefinite als solches kennzeichnet keine empirische Unbestimmtheit, sondern eine Immanenzbestimmung oder eine transzendentale Bestimmbarkeit. Der unbestimmte Artikel ist nicht die Unbestimmtheit der Person, ohne nicht zugleich die Bestimmung des Singulären zu sein.“15
Massumi kommt in einem seiner Texte zum Verhältnis zwischen Ästhetik und Biopolitik zu dem Ergebnis, dass es letztlich darum ginge, „das Leben im Leben zu leben“16. Im Choreographischen wird der Körper keiner schon bestimmten Form subsumiert, sondern ist lebendige Form. Indem seine Lebendigkeit nicht einem bestimmten Leben, dem der gut geordneten Gemeinschaft, eingebürgert wird, sondern selbst als unbestimmtes, als ein unbestimmtes, Leben erscheint, sind die Subjektivierungsprozesse der Körper deren choreographische Fehlschritte aus transzendenten Formen heraus, und das Vermögen tanzender Körper ist ihr plebejischer Lärm.
14 Gilbert-Rolfe, Das Schöne und das Erhabene von heute, S. 21. 15 Deleuze, Die Immanenz: ein Leben, in: Balke/Vogl (Hrsg.), „Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie“, S. 32. 16 Massumi, Ontomacht, S. 140.
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L ITERATUR - UND Q UELLENVERZEICHNIS | 395
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A BBILDUNGSVERZEICHNIS Cover: Mette Ingvartsens/Jefta van Dinthers It’s in the air (2008), Pressephoto: Peter Lenaerts. Abbildung 1: Mette Ingvartsens/Jefta van Dinthers It’s in the air (2008), Pressephoto: Peter Lenaerts. Abbildung 2: Martin Arnolds Passage à l’acte (1993), Martin Arnold, Filmstill. Abbildung 3: Mette Ingvartsens/Jefta van Dinthers It’s in the air (2008), Photo: Wolfgang Kirchner, Sommerszene Salzburg. Abbildung 4: Human Writes, eine Performance-Installation von William Forsythe und Kendall Thomas (2006), Yoko Ando, Photo: Dominik Mentzos. Abbildung 5: Feuillets Tanzraum, Feuillet, Orchesographie. Abbildung 6: Feuillets Tanzbuch im Tanzraum, Feuillet, Orchesographie. Abbildung 7: Torso von Belvedere, Jean-Pol Grandmont, Wiki-Commons, Vatikanische Museen. Abbildung 8: Jérôme Bels Véronique Doisneau (2004), Photo: Icare. Abbildung 9: Jérôme Bels Véronique Doisneau (2004), Photo: Anna Van Kooij. Abbildung 10: Juno Ludovisi, Marie-Lan Nguyen, Wiki-Commons, Nationalmuseum (Rom). Abbildung 11: Jacques-Louis Davids Der Schwur im Ballhaus (1791), gemeinfrei, Versailles. Abbildung 12: Yvonne Rainer im Video zu Trio A (1978), Video Data Bank, School of the Art Institute of Chicago, Videostill. Abbildung 13: Ivana Müllers While we were holding it together (2006), Photo: Karijn Kakebeeke. Abbildung 14: Ivana Müllers While we were holding it together (2006), Photo: Liesbeth Bernaerts, Ivana Müller und Driest Ontwerpen, Pressephoto. Abbildung 15: Rudolf von Laban mit Tanzklasse, gemeinfrei, Wikipedia. Abbildung 16: Doris Humphrey mit Tanzklasse, 92nd Street Y Archives (New York). Abbildung 17: Saša Asenti s My private bio-politics (2005), Photo: Damir Žiži . Abbildung 18: Saša Asenti s My private bio-politics (2005), Photo: Dieter Hartwig. Abbildung 19: Saša Asenti s My private bio-politics (2005), Photo: Damir Žiži . Abbildung 20: Ivana Müllers Playing Ensemble Again and Again (2008), Photo: Liesbeth Bernaerts. Abbildung 21: Ivana Müllers Playing Ensemble Again and Again (2008), Photo: Liesbeth Bernaerts.
TanzScripte Gabriele Brandstetter, Gabriele Klein (Hg.) Methoden der Tanzwissenschaft Modellanalysen zu Pina Bauschs »Le Sacre du Printemps/Das Frühlingsopfer« (2., überarbeitete und erweiterte Neuauflage) April 2015, 354 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2651-3
Stephan Brinkmann Bewegung erinnern Gedächtnisformen im Tanz 2012, 328 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2214-0
Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.) Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz 2007, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-808-7
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TanzScripte Laurence Louppe Poetik des zeitgenössischen Tanzes (übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand) 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1068-0
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Yvonne Hardt, Martin Stern (Hg.) Choreographie und Institution Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung
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Gabriele Klein (Hg.) Tango in Translation Tanz zwischen Medien, Kulturen, Kunst und Politik
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Malda Denana Ästhetik des Tanzes Zur Anthropologie des tanzenden Körpers 2014, 292 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2719-0
Jens Richard Giersdorf Volkseigene Körper Ostdeutscher Tanz seit 1945 (übersetzt aus dem Englischen von Frank Weigand) 2014, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2892-0
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Friederike Lampert Tanzimprovisation Geschichte – Theorie – Verfahren – Vermittlung 2007, 222 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-743-1
Gerald Siegmund Abwesenheit Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart 2006, 504 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-478-2
Christina Thurner Beredte Körper – bewegte Seelen Zum Diskurs der doppelten Bewegung in Tanztexten 2009, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1066-6
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