212 116 13MB
German Pages 431 [432] Year 2000
Kommunalismus Band 2
Peter Blickle
Kommunalismus Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform Band 2: Europa
R. Oldenbourg Verlag München 2000
Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme
Blickle, Peten Kommunalismus : Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform / Peter Blickle. - München : Oldenbourg Europa. - 2000 ISBN 3-486-56462-5
© 2000 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oIdenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: paper-back gbr, München Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56462-5
Gefördert durch ein Forschungsjahr am Historischen Kolleg in München
INHALT
EINLEITUNG
TEILI 1
RÄUME UND ZEITEN
KOMMUNALE KÖNIGREICHE-SKANDINAVIEN
4
1.1
RECHT ALS KULTURELLER AUSDRUCK DER SKANDINAVISCHEN GESELLSCHAFT
6
1.2
D I E DOPPELUNG DES KOMMUNALEN: A M T UND PFARREI
12
1.2.1 Amt als kommunaler Verband 1.2.2 Kirche als genossenschaftliche Einrichtung
12 18
SKANDINAVISCHES ERBE AUF DEM KONTINENT? EIN EPILOG
25
1.3
2
1
D E R M I T T E L M E E R R A U M - STADT, DORF, STADTSTAAT
26
2.1
REGIMEN POLITICUM A COMUNE - ITALIEN
26
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
27 33 35 41
2.2
Die Entstehung städtischer Kommunen — Genua, Mailand, Florenz ... Prinzipien und Entwicklungen des städtischen Regiments Das Echo im Contado Strukturelle Gemeinsamkeiten von Stadt und Dorf
LIBERAR IN SPANIEN — DER GEKAUFTE KOMMUNALISMUS
2.2.1 Die Verstädterung Spaniens -ein Überblick 2.2.2 Vom Dorf zur Stadt - Beispiele 1.2.3 La comunidad als la República 3
K E R N Z O N E EUROPAS - DAS W E S T F R Ä N K I S C H E U N D DAS OSTFRÄNKISCHE REICH 3.1
CORPS NATURELS-GEMEINDEN
55 IN DEN LÄNDERN DER FRANZÖSISCHEN
KRONE
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2
4
43
45 48 51
55
Die Vielfalt der Räume Die Vereinheitlichung durch die Zeit Village et ville - Typologisches
57 63 66
HEILIGES RÖMISCHES REICH - DEUTSCHER NATION UND KOMMUNALER TRADITION
71
3.2.1 3.2.2 3.2.3
71 79 85
Der kommunal-republikanische Korridor Europas Gutsherr contra Schulze Eidgenossenschaft
ZENTRUM UND PERIPHERIE-RUSSLAND UND ENGLAND
100
4.1
102
PERIPHERIEN
VILI
INHALTSVERZEICHNIS
4.2
T E I L II 5
4.1.1 Mythos Mir 4.1.2 Selfgovernment, aber gentrified
103 108
FORMATIONEN DES KOMMUNALEN - PROLEGOMENA
121
FORMEN UND
FIGURATIONEN
DIE KOMMUNALE GESELLSCHAFT - GEMEINER MANN, C O M M U N PEUPLE, P O P O L O
6
7
8
126
DIE ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
132
6.1
132
GEMEINDEVERSAMMLUNG - DER GEWALT
6.2
KOMMUNALE REPRÄSENTATION
139
6.3
GEMEINDE, RÄTE UND GERICHTE - SOZIALE VERSTREBUNGEN
147
6.4
CON-IURATIO - LEGITIMATION DURCH VERSCHWÖRUNG
150
FRIEDE
154
7.1
GOTTESFRIEDEN UND LANDFRIEDEN
155
7.2
EINE CONIURATIO UM DEN VIERWALDSTÄTTERSEE - EIN MODELL IN EUROPA
160
7.2.1 Coniuratio, universitas und Friede 7.2.2 Sippe und Fehde 7.2.3 Die Faszination des organisierten Friedens
161 166 170
7.3
DIE KOMMUNALE CONIURATIO UND DIE BEFRIEDUNG EUROPAS
175
7.4
DIE VERALLTÄGLICHUNG DES FRIEDENS
185
7.5
KOMMUNALE FRIEDEN
191
D E R G E M E I N E N U T Z E N D E R K O M M U N E - DAS B O N U M C O M M U N E D E R RES PUBLICA
195
8.1
GEMEINER NUTZEN IM KOMMUNALEN KONTEXT
197
8.1.1 Commun profit 8.1.2 Gemeinnutz in Bern — Stadtnutz, Landsnutz und Talnutz in der Schweiz 8.1.3 Epilog
197
8.2
DAS BONUM COMMUNE DER RES PUBLICA
8.3
POLICEYEN UND POLICE- DIE KOMMUNALEN WURZELN DES MODERNEN
202 208 209
STAATES
T E I L III 9
214
K O M M U N E U N D STAAT - PRAXIS U N D T H E O R I E
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT - K O N F L U I E R E N D E INTEGRATIONSPROZESSE 9.1
GEHORSAM - EIN GEBOT GOTTES
...
224 225
INHALTSVERZEICHNIS
9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.1.4 9.2
9.3
IX
Das jüdische Erbe des Abendlandes-Altes und Neues Testament Ethik und Politik in der Dogmatik der römischen Kirche Luther und die Hinterlassenschaft des Protestantismus Untertäniger Gehorsam dem Monarchen
226 228 232 236
UNGEHORSAM-EINE MENSCHLICHE TUGEND
244
9.2.1 Unruhen in Europa 9.2.2 Die kommunale Fundierung von Unruhen
246 255
GRAVAMEN UND GESETZ - KOMMUNE UND PARLAMENT
263
9.3.1 Die Politisierung des Tiers État 9.3.2 Repräsentiertes Interesse 10 DIE THEORETISIERUNG
DER GEMEINDE
264 277 286
1 0 . 1 KOMMUNEN IN DER RECHTSTHEORIE - DIE KORPORATIONSLEHRE
286
1 0 . 2 KOMMUNALER GEIST UND REFORMATORISCHE EKKLESIOLOGIE
299
10.2.1 Die Ekklesiologie der Reformatoren 299 10.2.2 Laien-Ekklesiologie 301 10.2.3 Politische Gemeinde und kirchliche Gemeinde im Reformiertentum Zwingli und Calvin 307 10.2.4 Von der Gemeinde zum Haus - Luther 313 1 0 . 3 V O N UTOPIA ZUM CONTRAT SOCIAL - KOMMUNALISMUSTHEORIE IN DER POLITISCHEN PHILOSOPHIE
10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4
317
Universitas und maiestas — Gemeinde in der Absolutismustheorie .... 319 Utopia als ideale Gemeinde? 327 Die Radikalisierung der Gemeinde durch Johannes Althusius 336 Der Contrat social als Theorie der coniuratio - Rousseau 342
GEMEINDEN AUS GOTTES HAND - ZUSAMMENFASSUNG
349
1
SUBVERSIVE GENOSSENSCHAFTEN IH DER REPUBLIKOEK GELEHRTEN
349
2
KOMMUNALISMUS - DAS URGESTEIN DES POLITISCHEN IN EUROPA
359
2.1 Räume und Zeiten 2.2 Formen und Figurationen 2.3 Definition
359 368 374
KOMMUNALE ERBSCHAFTEN IM MODERNEN STAAT
374
3
Nachwort
385
Abkürzungen
387
Quellen und Literatur
387
Register
411
EINLEITUNG
Oberdeutschland ist im Spätmittelalter und in der Friihneuzeit ein politisch konsistenter Raum nur durch den Kommunalismus. Das Modell, das hier entwickelt wurde, soll als heuristische Hilfe dienen, Europa nach kommunal geprägten Regionen abzusuchen. Es ist nochmals einleitend in Erinnerung zu bringen, daß, wie der Titel zum Ausdruck bringt, Skizzen geliefert werden. Einen Atlas des Kommunalismus wird es nicht geben. Dazu ist die regionale Vielfalt zu groß, die Literatur zu umfangreich und mein Interesse wegen der unvermeidlichen Wiederholung zu gering. Dennoch werden die Skizzen soweit ausgearbeitet, daß ein einigermaßen repräsentatives Bild von den kommunal geprägten Räumen und Zeiten in Europa entsteht. O b es einleuchtend ist, wird danach zu bemessen sein, inwieweit es gelingt, damit weitere Forschungen in Gang zu setzen, und zwar in einem Bereich, der von keiner der herrschenden Richtungen (der etatistischen, ökonomistischen und kulturalistischen) des 20. Jahrhunderts abgedeckt wird. Kommunalismus ist ein Konzept, das geschichtstheoretisch die Geschichte des alltäglichen Lebens von Menschen als eine solche von gesellschaftlichen Beziehungen in gefestigten Formen versteht. Verfassung ist, unbeschadet aller Kritik, die sie mit Verweis auf die Wirklichkeit erfahren hat und erfährt, die präziseste und konkreteste Form, in der sich die Gesellschaft einer Zeit und eines Raumes verbindlich ausspricht. Diese Einsicht ist keine solche theoretischer Natur, sondern aus der archivischen Arbeit über mehrere Jahrzehnte erwachsen und kontrolliert an zwei Ereignissen (Bauernkrieg, Reformation), mit denen ich mich länger beschäftigt habe. Zur Eröffnung der Besichtigung Europas seien die definitorischen Merkmale nochmals repetiert, mit denen der erste Band geschlossen wurde. Kommunalismus läßt sich danach folgendermaßen umschreiben: 1. Kommunalismus umschließt Stadtgemeinden und Landgemeinden als funktional und institutionell im Prinzip analog aufgebaute Verbände, geprägt durch Satzungskompetenz der Gemeinde beziehungsweise ihrer repräsentativen Organe, Verwaltung im Rahmen des von den Satzungengedeckten Kompetenzhereichs und Rechtsprechung im Rahmen des gesatzten Rechts. 2. Kommunalismus ist eine Hervorbringung des Standes der laboratores (Gemeiner Mann) aufgrund eines grundsätzlichen Wandels der Arbeitsorganisation von der auf den Herrenhof(Villikation) orientierten zu einer an das Haus gebundenen individuell-genossenschaftlichen Wirtschaftsweise einerseits, einer Siedlungsverdichtung in Form von Stadt, Markt, Dorf andererseits. Nicht, daß Stadt, Markt und Dorf nicht einen Herrenhof als Ausgangspunkt haben könnten, doch beruht deren Binnenorganisation auf voluntaristischen Akten derjenigen, die in den Städten, Märkten und Dörfern leben. 3. Der Binnenraum der Gemeinde wird durch Häuser gegliedert. An ihnen hängen die politischen Rechte der Bürger und Bauern und auf ihnen lasten die Pflichten. Gemeindliche Ämter
2
EINLEITUNG
werden deswegen ausschließlich von Hausvätern, nicht von Taglöhnern oder Knechten wahrgenommen. 4. Gemeindliches Zusammenleben, vermittelt durch Häuser und Arbeit, stiftet Werte und Normen, die Bauern und Bürger verbinden. Zu ihnen gehören Gemeiner Nutzen, Hausnotdurft, Frieden, Gerechtigkeit sowie möglichstfreieVerfügbarkeit über die eigene Arbeitskraft und den Arbeitsertrag was im vorgegebenen herrschaftlichen System zu persönlicher Freiheit und Eigentum tendiert. 5. Der Kommunalismus als Form der Organisation des Alltäglichen zeigt eine Affinität zum Republikanismus als Staatsform. 6. In der politiktheoretischen Literatur [...] werden kommunale Erfahrungen immer wieder verarbeitet und kritisch gegen jene Theorien gekehrt, die einseitig zugunsten monarchischer und aristokratischer Herrschaft argumentieren.
Teil I Räume und Zeiten
1
KOMMUNALE KÖNIGREICHE - SKANDINAVIEN
Selbstverwaltungist ein Schlüsselbegriff, mit dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Island bis Estland und von Holstein bis Finnland grundsätzliche Fragen politischer Organisation lebhaft diskutiert wurden. Als der Kontinent Europa sich daran machte, die politische Verlassenschaft Napoleons unter die Dynastien neu zu verteilen, verhandelte Skandinavien die Frage, in welchem organisatorischen Bezugsrahmen modernes Bürgertum sich politisch artikulieren können sollte, mit starker Bezugnahme auf die Gemeinde1. Was sollte seljgovernment, wie das 19. Jahrhundert gerne sagte, sein? Staatliche Auftragsverwaltung oder staatsfreie Selbstregulierung, hieß die Frage in Skandinavien2. Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus und sind interessant insofern, als Dänemark und die baltischen Länder eine Gemeindeverfassung mit bloßer staatlicher Auftragsverwaltung inaugurierten, während Schweden und Norwegen die autonome Gemeinde anerkannten. Die verschiedenen Optionen lassen sich historisch erklären. Dänemark und die baltischen Länder hatten vorgängig unter absolutistischen Regierungsformen gelebt, und die neuen Gemeindeverfassungen sollten lediglich dazu dienen, den bislang privilegierten Adel politisch zu schwächen oder zu entmachten. Schweden (und das ihm integrierte Finnland) hatte seine sehr kurze Phase absolutistischer Herrschaft schon im frühen 18. Jahrhundert durch eine Parlamentsregierung ersetzt, die an Modernität England wenig nachstand, und Norwegens starke regionale Selbstverwaltung war nur firnishaft durch die dänische Monarchie überlagert, zu der es seit dem 14. Jahrhundert gehörte. Das Ja oder Nein zum seljgovemment scheidet Nordeuropa in zwei Hälften. Dänemark hat mit dem Beginn der Frühneuzeit eine den deutschen ostelbischen Verhältnissen nicht unähnliche Gutsherrschaft ausgebildet mit einer strengen Leibeigenschaft und einer starken adeligen Lokalverwaltung3. Nur Skandinavien im engeren Sinn, das heißt Schweden, Finnland und Norwegen4, kannten eine hochentwickelte Selbstverwaltung, und deswegen wird Skandinavien häufiger mit dem Satz charakterisiert, „in principle the people governed them-
1
Das Thema wird breit behandelt bei T. JANSSON, Agrargesellschaftlicher Wandel, 45-82. - Vertiefend als Fallstudie fiir die baltischen Länder DERS., Rättsuppfattningar och sockenrätt. Tsarer mot baroner och baroner mot bonder i strid om lokaladministrationen i estlandssvenska omráden vid
2
T. JANSSON, Agrargesellschaftlicher Wandel, 47. Unter dem Gesichtspunkt der kommunalen Aspekt zuletzt behandelt bei BIRGIT L0GSTRUP, Gutsherrschaft und Dorfgemeinschaft im 18. Jahrhundert in Dänemark. Studien anhand von Dorfordnungen, in: Ulrich Lange (Hg.), Landgemeinde und frühmoderner Staat (Kieler Historische Studien 32), Sigmaringen 1988, 15—42. Die Gemeinde tritt aufgrund der seit dem 18. Jahrhundert überlieferten Dorfordnungen lediglich als Wirtschaftsverband in Erscheinung, ebd., 18f. - Für die Stärke der Gutsherrschaft vgl. DIES., Jorddrot og offentlig administrator. Godsejerstyret inden for skatte- og udskrivningsvaesenet i det 18. árhundrede, Kopenhagen 1983, 380-395. Trotz der dänischen Herrschaft blieb Norwegen von den Refeudalisierungstenzenen, die Dänemark durchlaufen hat, verschont. Vgl. SVERRE STEEN, Lokalt selvstyre i Norges bygder, Oslo 1968.
1/800-talets mitt, in: Scandia 54 ( 1 9 8 8 ) , 2 9 - 5 4 , 121ÍF. 3
4
1
Kommunale Königreiche - Skandinavien
5
selves" 5 . Das Volk waren angesichts weniger und nicht eben großer Städte, wegen des weitgehenden Fehlens des Adels und der Verbürgerlichung und Verbeamtung der Geistlichen im Gefolge der Einfuhrung der Reformation im wesentlichen Bauern. U m 1800 lag das städtische Bürgertum sowohl in Norwegen als auch in Schweden deutlich unter 10% der Bevölkerung 6 , die schwache Stellung des Adels zeigt sich schon an seinem geringen Anteil an der landwirtschaftlichen Nutzfläche, der sich in Norwegen schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf bescheidene 8 % belief 7 , in Schweden allerdings noch im 18. Jahrhundert auf 3 0 % 8 . Nach ihrem personenrechtlichen Status waren die Bauern in beiden Ländern, ganz im Gegensatz zum Kontinent, Freie und unterschieden sich lediglich danach, ob sie ihr Land als Eigentümer oder im Auftrag des Königs als Domänenbauern bewirtschafteten 9 . Aus solchen Verhältnissen wurde der Schluß gezogen, „social independence and political selfconsciousness of the Scandinavian peasantry was the backbone of political liberty" 1 0 . Eine Illustrierung fur diesen generalisierenden Satz mag die Beobachtung sein, daß die große Landreform Schwedens, die von der Regierung 1742 eingeleitet wurde 11 und die man in Anlehnung an englische Verhältnisse enclosure-Betvegunggemnnt
hat, von Dorf zu Dorf und von Pfarrei zu
Pfarrei in Form lokaler Gesetze rechtlich verwirklicht werden mußte, anderenfalls scheiterte das Vorhaben des Staates 1 2 . Noch im 18. Jahrhundert verfügt Skandinavien über eine Rechtskultur, welche die Interessen der Betroffenen respektierte und um deren Zustimmung werben mußte. Dahinter steht eine ins Mittelalter zurückreichende Auffassung von Recht und Gesetz.
5
E. LöNNROTH, Scandinavia, 4 5 8 .
6
Für die Zahlen 0 . 0 S T E R U D , Peasant Politics in Scandinavia, 7 4 . - Auch relational ist die Zahl der Städte im Vergleich zum Festland äußerst bescheiden. In Norwegen steigt sie von 10 um 1500 über 15 um 1700 auf 30 um 1800 (F.E. EUASSEN, Norwegian small towns, 23), in Schweden-Finnland von 69 1570 auf 103 1770 (S. LILJA, Small towns in Sweden, 54). S. SOGNER, Freeholder, 183. - Der Staatsanteil an Grund und Boden war größer, allerdings auch starken Schwankungen unterworfen. Er steigerte sich durch die Säkularisation von Kirchengut im Gefolge der Reformation, verringerte sich allerdings seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zugunsten der Bauern, weil Dänemark damit seine enormen Kriegsschulden tilgte. Genaueres Datenmaterial bei ST. IMSEN, Kommunalismus 1, 7f. M. Â G R E N , Jord och gäld, 274. - L A R S H E R L I T Z , Large estates and small holdings, lords and peasants in Scandinavia, Sweden, in: Grand domaine et petites exploitations en Europe au Moyen Age et dans les Temps Modernes: rapports nationaux, Budapest 1982, 263-276. Die Verhältniszahlen von freeholders zu tenants waren in Schweden im 16. Jahrhundert etwa 1:1, um 1700 2:1; in Norwegen steigt der Anteil der freeholderson 20% um 1660 auf 65% um 1820. Die Zahlen bei 0 . 0STERUD, Peasant Politics in Scandinavia, 79 und S. SOGNER, Freeholder, 183. - Vgl. für methodische Probleme der Berechnung die Kontroverse zwischen ST. DYRVIK, Overgangen, 1-18, und A. H O L M S E N , Overgangen. Kildekritikk, 125-151. E. LÖNNROTH, Scandinavia, 460. 0 . 0 S T E R U D , Peasant Politics in Scandinavia, 93. WOLTER EHM, Mötet Mellan Centrait och Lokalt. Studier i Uppländska Byordningar [The Meeting of Central and Local Authority. Studies on Village By-Laws in Uppland] (Publications of the Institute of Dialect and Folklore Research, Uppsala Serie Β 21), Uppsala 1991. Vgl. dazu die eindrückliche Edition von Wolter Ehm (Hg.), Byordningar frán mälarlänen. Stockholms, Södermanlands, Uppsala och Västmalands Län [Village By-Laws in the Lake Mänar Districts] (Publications of the Institute of Dialect and Folklore Research. Uppsala Publications, Serie Β 16), Uppsala 1982. - Vgl. dazu die allgemeineren Überlegungen von P. A R O N S S O N , Swedish Political Culture, 4If.
7
8
9
10 11
12
6
1
1.1
KOMMUNALE KÖNIGREICHE-SKANDINAVIEN
RECHT ALS KULTURELLER AUSDRUCK DER SKANDINAVISCHEN GESELLSCHAFT
KIRSTEN HASTRUP verdankt man eine bestechend klare Definition des skandinavischen mittelalterlichen Rechts, die durch jede Analyse der überlieferten Rechtsbücher bestätigt wird. „The law is a potent metaphor for the social as opposed to wild'i .·: ,.·,·•:
.•·... i ,, .· ::
130
5
D I E KOMMUNALE GESELLSCHAFT
In allen europäischen Ländern ist der Gemeine Mann auch Untertan. Untertanen, so könnte man aus jedem Lexikon belegen, nicht nur aus dem deutschen ZEDLER, „heissen alle diejenigen, welche einer Obrigkeit unterworffen, und deren Gesetzen und Befehlen zu gehorchen verbunden sind" 27 . Selten mit besonderen Privilegien ausgestattet, ist er den Ordnungsmaßnahmen (Gesetzen) des politischen Verbandes unterworfen und finanziert ihn durch Abgaben von Grund und Boden oder durch Vermögens- und Einkommenssteuern. Für den Adel und die Geistlichkeit gilt das in der Regel nicht, sie unterstehen oft eigenem Recht (ζ. B. Kanonisches Recht) und damit einer eigenen Gerichtsbarkeit (Offizialat) und tragen zur Staatsfinanzierung nichts bei. In vielen europäischen Ländern ist der Gemeine Mann über seine Gemeinde aber auch der civis, und letztlich ist der moderne Staatsbürger historisch gesehen eine nationale Ausweitung des kommunalen Bürgers. Die ungewöhnliche Wortwahl soll auf den Sachverhalt aufmerksam machen, daß citoyen und Staatsbürger nicht lediglich städtische Wurzeln haben, sondern auch ländliche, wiewohl es dazu fast keine Forschungen gibt. Am oberdeutschen Raum ließ sich schon für das 16. Jahrhundert der pleonastische Gebrauch von Gemeiner Mann und Bürger nachweisen, wiewohl mit nur schütteren Belegen. Auch jetzt, bei der Generalisierung der Beobachtung, handelt es sich eher um unzureichende empirische Belege. In Nord- und Ostdeutschland lassen sich bäuerliche cives für das 13. und 14. Jahrhundert in großer Zahl fur die Magdeburger Börde, die Mark Brandenburg, Westfalen und das Sorbenland nachweisen, das Wort geht freilich später an Bauernschaft und Nachbarschaft verloren 28 . Bürger (burgeruis) sind die Einwohner vieler Dörfer zwischen Maas und Rhein schon im 12. Jahrhundert. Durch ihre direkte oder indirekte Beteiligung am Regiment und der Gesetzgebungstätigkeit ist der popolo in Italien und Spanien mit bürgerlichen politischen Rechten ausgestattet, wie der Skandinavier durch seinen Einsitz im Gericht und seine Teilnahme an den rechtsetzenden Landschaftsversammlungen. Offenbar gibt es zwei Wege in die moderne Staatsbürgerschaft - den angelsächsischen über die ursprünglich unmittelbare Unterstellung unter den König und das Parlament 29 und den kontinentalen und skandinavischen der Generalisierung kommunaler Zuständigkeiten ins Nationale. In Frankreich konnte man im 18. Jahrhundert sagen, „les sujets d'un état sont quelquefois appellés citoyens", und als citoyens bezeichnen „tous ceux qui ont part à tous les avantages, à tous les privileges de l'association" 30 , sei es durch Geburt oder auf andere Weise. Das ist nichts anderes als das alte kommunale Bürgerrecht, nun auf der staatlichen Ebene generalisiert. Entsprech-
27
28 29
30
[JOHANN
HEINRICH ZEDLER,] Grosses Vollständiges Universal-Lexikon, 64 Bde., Leipzig 1731-1750, hier 49. Bd., 2253. Fast wörtlich identische Definition bei [DIDEROT - D'ALEMBERT,] Encyclopédie 15, 643f. L. ENDERS, Landgemeinde in Brandenburg, 201 f. Als früher Beleg die Vorstellung von Harrington, daß ein „civil government" auf nationaler Ebene von freemen gefuhrt werde, die sich wiederum aus Reichen zusammensetzen. Die Regierungsform heißt dann Demokratie, wohingegen alle, die nicht aus eigener Kraft leben können (villeins ?), notwendigerweise einem monarchischen oder aristokratischen Regiment unterworfen sind. J. G. A. Pocock (ed.), The Political Works of James Harrington, Cambridge 1977, 834. [DIDEROT - D'ALEMBERT,] Encyclopédie 15,643.
Gemeiner Mann, commun peuple, popolo
131
ned geht auch das Badische Gemeindegesetz von 1831 davon aus, die Staatsbürgerschaft sei gewissermaßen im Gemeindebürgerrecht eingekapselt31. Die Nähe von Gemeiner Mann und Staatsbürger, ja deren Austauschbarkeit wird dort sichtbar, wo die ständische Differenzierung verschliffen und die Dichtonomisierung von Herren und Untertanen gegenstandlos waren, namentlich in der Schweiz. Die einzige nennenswerte staatsrechtliche Abhandlung über die Eidgenossenschaft der Frühneuzeit, im 16. Jahrhundert erschienen, wiederholt bis ins 18. Jahrhundert neu aufgelegt und in mehrere europäische Sprachen übersetzt, macht den Gemeinen Mann zum Subjekt der Geschichte und der (falls das Wort gestattet ist) Staatsbildung der Eidgenossenschaft. Weil „vil vom gemeinen mann" und auch vom Adel Kaiser Friedrich anhingen, erhielten sie ihre Freiheiten bestätigt 32 . Der „gemein mann" in den drei Ländern Uri, Schwyz und Unterwaiden war schließlich nicht mehr bereit, „den mutwillen des Adels" zu dulden und hat ihn folgerichtig „zu dem land außgejagt" 33 . Der Dreiländerbund ruht somit auf dem Gemeinen Mann. Wie die Länder können auch die Städte die Legitimität ihrer Verfassungen auf den Gemeinen Mann gründen. In Zürich sei 1336 „under dem gemeinen mann" eine Empörung entstanden, denn die amtierenden politischen Eliten „wolten sy nit lassen anstehn zu regiren". Das führte zu einem Verfassungswandel, und mit ihm wurde aus dem Gemeinen Mann der „Bürger"34. Die Landleute gemeiniglich und die Bürger gemeiniglich, wie die Quellen häufiger sagen, bezeichnen lediglich andere politische Aggregatzustände fur den Gemeinen Mann. Sie zusammen, so der staatsrechtliche Traktat, machten die Eidgenossenschaft aus, die so zu bewerten sei, „als wenns ein Statt wer/ ein Commun/ vnd ein Regierung" 35 . Der häufig von Nachbarn mit dem Argument bestrittene Legitimität der Eidgenossenschaft, dort würden niemand „gehorsamen", wird scharf zurückgewiesen mit dem argument, „in einem Commun ist yedermann schuldig zu gehorsamen/ dem/ welliches das mehr wirt" 36 . In den Mehrheitsentscheidungen des Gemeinen Mannes, gegliedert nach Ländern und Städten, drückt sich der politische Wille der Eidgenossenschaft aus.
31
32 33 34 35 36
Sammlung der neueren teutschen Gemeindegesetze, Leipzig 1848. Dort Badische Gemeindeordnung von 1831,2. Teil Paragraphen 10,17,70. J. SlMLER, Eydgnoschafft, 15. Ebd., 17. Ebd., 53. Ebd., 10. Ebd.
6
DIE ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
Die definitorischen Kriterien fur den Begriff Kommunalismus wurden über Institutionen entwickelt, die politisch Verfassungsrang beanspruchen können, soweit das Alte Europa es Uberhaupt erlaubt, von Verfassung zu sprechen. Begründen läßt sich eine solche definitorische Zuspitzung und Verengung damit, daß anders keine saubere Trennschärfe zu gewinnen ist zu solchen lokalen Verbänden, die ihren anscheinend gemeindlichen Charakter durch Auftragsverwaltung - sei es des Staates (Amt), sei es des Grundherrn (Genossenschaft), sei es der Kirche (Pfarrei) oder aber als reiner Wirtschaftsverband (Allmendkorporation, Waldkorporation) - erlangen. Die Bildung des Modells Kommunalismus (und das Absuchen Europas nach kommunalistischen Regionen und Ländern) erfolgte aus der Einsicht, daß die Geschichte Europas unter dem vorwaltenden Aspekt von dessen gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Prägung über die Zentren der Macht und ihre Personifizierung in Königen, Fürsten und Adeligen allenfalls hälftig und damit unzureichend erfaßt ist. Zu den tragenden Institutionen des Kommunalismus gehören als Fundament die Gemeindeversammlung (1) und die darauf aufruhenden Einrichtungen der Repräsentation in Form von Räten und Gerichten (2). Das Verhältnis zwischen der Gemeinde und ihren Repräsentationsorganen ist ein solches von Pragmatik, Praktikabilität und Arbeitsteilung. Allein den Verstrebungen zwischen Gemeinde, Räten und Gerichten (3) ist das relative Funktionieren von direktem und repräsentativem Kommunalismus (um ein begriffliches Analogon aus der modernen Demokratietheorie zu borgen) zu danken. Nicht die Kräfteverschiebungen zwischen Gemeindeversammlungen und Repräsentationsorganen fuhren zu den Transformationen kommunaler Strukturen in Europa, vielmehr sind dafür die Implementierungen staatlicher Aufgaben verantwortlich, die langfristig aus der Gemeinde als politisches Organ für das Alltägliche ein Organ der staatlichen Auftragsverwaltung machen. Das legitimatorische Substrat, auf dem die Gemeinden im Alten Europa fußen, die kommunale Verschwörung (4), entfällt damit.
6.1
GEMEINDEVERSAMMLUNG - DER GEWALT
Soweit politische Macht in Europa monokratisch legitimiert war und damit personal durch Könige, Fürsten und Adelige beziehungsweise (im katholischen Europa) durch Bischöfe und Prälaten ausgeübt wurde, waren alle politischen Amter und damit alle Institutionen auf dem Weg der Delegation von oben entstanden. Kommunalistische Machtorganisation stellt den schärfsten Antipoden zur monokratischen Form dar, der sich überhaupt denken läßt. Was der kommunale Verband institutionell hervorbringt, wurzelt im Willen der Gemeindeversammlung und ist Delegation von unten. Ausgedrückt über die rhetorische Figur Souveränität hat diese ihren Sitz im princeps oder in der communitas. Das ist nicht nur eine Frage der Realität, sondern auch eine solche des Standpunkts. Bodin und Rousseau liefern die po-
6.1
Gemeindeversammlung - der Gewalt
133
litiktheoretischen Partituren zu diesen beiden Grundthemen der europäischen Machtorganisation. Bevor die politische Theorie die maiestas unmißverständlich im princeps lokalisierte, gab es, zumindest in der deutschen Sprache, einen sehr viel offeneren Umgang mit dem äquivalenten Begriff der Gewalt, dem alle negativen Konnotationen fehlten. Der Gewalt liege, wie die deutsche Sprache des 15., 16. und 17. Jahrhunderts gerne sagt, in der Gemeindeversammlung. Die Gemeinde konstituiert sich in der Gemeindeversammlung willentlich und bestätigt diesen Akt periodisch. Zeitlich vor der Gemeinde als Institution lagert eine Form der Vergesellschaftung von geringerer Dichte, höherer Emotionalität und größerer Labilität, die Nachbarschaft.
Daraus erklären sich gewisse Eigentümlichkeiten und Besonderheiten kom-
munaler Machtorganisation. Mit der Gemeinde als Institution entsteht ein nach außen abgegrenzter Raum: politische Macht wird territorialisiert (oder lokalisiert), denn Nachbarschaften sind räumliche Beziehungen von Menschen. D a Nachbarn sich als Gleiche begegnen, k o m m t ein egalitärer Grundzug in die Gemeinde. Monokratische Macht hingegen ist dynastisch, lehensrechtlich und personal organisiert. Territorial arrondiert wird sie sehr viel später als die Gemeinde, egalitär wird sie naturgemäß nie. Die Gemeindeversammlung (universitas civium, assemblée générale) war das Beschlußorgan der Gemeinde. Sie fällte nach dem Austausch der Meinungen - deswegen wird sie oft auch colloquium,
commune consilium, arrengum, concio oder parlamentum
genannt - 1 , ein-
stimmig oder mehrheitlich ihre Entscheidung. Alles, was die Bürgermeister und Ammänner, die Räte und Richter ( Urteiler) entschieden, war, wenn auch durch formalisierte Verfahrensformen erschwert, prinzipiell revisionsfähig und appellabel. Jede Satzung eines Rates und jedes Urteil eines kommunalen Gerichts konnte letztinstanzlich durch die Gemeinde revidiert und neu entschieden werden. An der Gemeindeversammlung nahmen, von der Toskana bis nach Norwegen, alle Einwohner der Gemeinde teil, die „cives tarn maiores quamque minores" 2 , soweit sie der ratio der Gemeinde entsprachen, das heißt, sich willentlich deren Recht unterstellten und damit (modern gesprochen) das Bürgerrecht hatten. Regional und zeitlich konnten das unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen sein. Ursprünglich dürften es die Wehr- und Waffenfähigen gewesen sein. Das ergibt sich aus den Kommunen mit einem nachweislich hohen Alter wie denen der Schweiz. Soweit dort Gemeindeversammlungen noch gebräuchlich sind, symbolisiert bis heute der Degen das Recht, in den Ring zu treten, zu reden und abzustimmen. Daraus erklärt sich auch, daß oft und fur lange Zeit die Männer allein das Gemeinderecht besaßen. Mit 1 4 , 1 6 oder 18 Jahren wächst man in das Gemeinderecht hinein 3 , im hohen Alter von 70 Jahren kann man es aber auch wieder verlieren 4 .
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A. I. PINI, C o m u n e città-stato, 74. - J . P. MOLÉNAT, Concejos, 2 4 5 - 2 4 8 .
R. CELLI, Potere popolare, 196 [dort auch das Zitat]. - ST. IMSEN, Bondekommunalisme 1. A. I. PINI, Comune città-stato, 76. - O. REDON, Communautés rurales, 621. - F. Stucki, Rechtsquellen Glarus 2, 551, 732, 734 [als Beispiel fur Experimente mit dem Stimmalter]. - Viel Belegmaterial bei H . RYFFEL, Landsgemeinden, 80FF. A. I. PINI, Comune città-stato, 76.
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DIE ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
Mit der Domestizierung der Gesellschaft mittels der Durchsetzung des Friedens und der Verstaadichung des Krieges treten die Häuser, die verdinglichte Form der Nachbarschaft, stark in den Vordergrund. In den mittelalterlichen Städten wurde der ältere Zusammenhang mit Wehr- und Waffenfähigkeit lang in der Form gewahrt, daß das Bürgerrecht den Besitz eines Stadthauses und einer Ausrüstung voraussetzte. Seit Kriege mit Söldnern geführt wurden und die Landesverteidigung mehr und mehr folkloristische Züge annahm, konnte das Haus in Form des bäuerlichen Hofes oder des selbständigen Handwerksbetriebs in den Vordergrund treten; Arme und Elende schloß man aus, indem man das Gemeinderecht zusätzlich an das Kriterium der Steuerpflicht band 5 . Es hing von der räumlich und zeitlich unterschiedlichen Definition des Hauses ab, ob nur Männer 6 oder auch Frauen 7 an Gemeindeversammlungen teilnahmen. D a s Gemeinderecht machte aus den Bürgern und Bauern Gleiche in Rechten und Pflichten. Der Eintritt in eine K o m m u n e wurde entsprechend zeremoniell ausgestaltet. In Siena kniete der Neubürger vor dem Magistrat nieder, und feierlich wurde ihm die Würde eines Bürgers verliehen, denn das hieß, Amter übernehmen und in den politischen Gremien mitwirken zu können, Rechtsschutz durch die städtischen Gerichtshöfe und Schutz vor fremden Gerichten zu genießen 8 . Soweit sich Theorie in Praxis ausdrücken kann, verlangt der Kommunalismus das Erscheinen aller Gemeindemitglieder bei der Gemeindeversammlung. Die Realität folgte dieser theoretischen N o r m wohl pragmatisch, aber nicht willkürlich. J e stärker sich das Prinzip der Mehrheit durchsetzte, desto eher konnte ein M a n n (oder Haus) auf die Teilnahme an der Gemeindeversammlung verzichten. Die unterschiedlich wichtigen Geschäfte, die auch unterschiedliche (teils qualitative) Q u o r e n für die Beschlußfassung erforderlich machen konnten, führten dazu, daß die Gemeindeversammlungen sehr ungleich besucht wurden. Umgekehrt konnte der potentiell hochpolitische Charakter der Gemeindeversammlung und ihre weitreichenden Kompetenzen auch dazu fuhren, daß Einwohner zur Versammlung drängten, die rechtlich nicht zugelassen waren 9 . In Frankreich wurden Gemeindeversammlungen protokolliert, was es erlaubt, die Praxis an H a n d von Beispielen zu beschreiben. In einem D o r f der Ile-de-France fanden zwischen 1600 und 1642 insgesamt 41 Gemeindeversammlungen statt, an denen zwischen fünf und 64 Hausväter teilnahmen 1 0 . In Belleville-sur-Saône besuchte von den acht Gemeindever-
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Von daher erklären sich die Einstandssummen, die normalerweise erlegt werden mußten, um das Gemeinderecht zu erhalten. [Beispielhaft G. CABOURDIN, Lorraine 2, 540f.] Unangemessen ist der vorwurfsvolle Ton, mit der in der Literatur diese Regel als Abwehrhaltung der Etablierten interpretiert wird, wo es sich in Wahrheit um eine Frage der Gleichbehandlung (Pflichtengleichheit) handelt. G. SAUPIN, Sociologie du corps de ville, 299f. - R. DOUCET, France 1,375FF. - J . SUNDIN, Bandits, 154. - A. ST. CLAËSON, Häradshövdingeämbetet, 239. - C. FABRI, Statuti e reforme, 20-23. R DOUCET, France l,398f. W. M. BOWSKY, Citizenship, 197,205. F. Stucki, Rechtsquellen Glarus 2, 554f. J. JACQUART, Immobilisme, 287.
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Gemeindeversammlung - der Gewalt
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Sammlungen des Jahres 1695 lediglich ein Mitglied sieben Versammlungen, aber 343 Miglieder besuchten nur eine 11 . Als in Saint-Vrain 1634 über die Allmende verhandelt wurde, waren nahezu alle Häuser des Dorfes auf der Gemeindeversammlung vertreten12; es gab aber auch eine Versammlung, wo lediglich sechs Personen anwesend waren, um fünf Steuereinzieher (collecteurs) zu wählen 13 . Unbeschadet der prinzipiellen Gleichheit aller, gab es sachlich bedingte, unterschiedliche Wertschätzungen einzelner Gemeindemitglieder und damit naturgemäß auch in der Gleichheit Ungleichheiten. Beruf und Alter, Erfahrung und Geschick spielten ihre je unterschiedlichen Rollen 14 . Wiederholt wurde die Auffassung vertreten, „la plus grande et la plus saine partie de la population" habe die Entscheidungen der Gemeindeversammlung geprägt15. In Frankreich sei la majeure im Sinne von sanier pars gegen die numerische pluralité oder majorité erst durch Mirabeau und Voltaire austauschbar geworden, die damit einen Anglizismus eingeschleppt hätten, denn die protoparlamentarischen Abstimmungen im house of commons folgten diesem Kriterium. Ob sich hier eine habituelle Anglophobie der Franzosen ausdrückt oder ob ein Rechtssatz der Kanonistik - denn um einen solchen handelt es sich beim Prinzip der sanier pars - im weltlichen Bereich wirklich übernommen wurde, wird man offen halten können 16 . Für Kommunitäten im Reich 17 und Italien waren numerische Mehrheitsentscheidungen ganz üblich, wo sie von der Sache her vertretbar waren. Sie kamen nur dann nicht zur Anwendung, wenn tiefe Eingriffe in das Recht unabweisbar schienen. Das war beispielsweise dann gegeben, wenn steuerliche Belastungen an die Substanz des Vermögens gingen. „Item es werden in gemain", legt die Dorfgerichtsordnung von Buxheim fest, „alle bauren, söldner unnd einwohner alhie fur sich, ir weib und kinder ainhälliglich hiemit verloben, dz sy nun hinfuro, wann do über dz dorff oder gotzhaus (es geschähe in kriegs oder anndern zufallenden nötten), ettwan ein uncost, schad, nachthail oder außgab louffen und gohn wurde, allwegen ain gemaine anlag zuthun nach gepürenden dingen unnd ains jeden vermögen" 18 . Mit diesem Versprechen von allen Bauern, Seidnern und Einwohnern sollte sichergestellt werden, daß kriegs- oder katastrophenbedingte Steuern (Anlag) eingehoben werden durften und der mögliche Einspruch von Ehefrauen und Kindern unwirksam blieb, was darauf schließen läßt, daß an erbrechtlich relevante Steuerhöhen gedacht war.
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J.-P. GUITÓN, Lyonnais, 24. J. JACQART, Immobilisme, 287. 13 J.-M. CONSTANT, Nobles et paysans, 275. Dort auch weitere Belege über Zusammensetzung und Verhandlungsgegenstände weiterer Gemeindeversammlungen. 14 Ebd., 278f.- A. ZLNK, Azereix, 223. " R. MOUSNIER, Participation des gouvernés, 211. [Mousnier stützt sich vornehmlich auf die Arbeit von HENRY BABEAU, Les Assemblées générales des Communautés d'habitants en France, du XIII e siècle à la Révolution, Paris 1893]. Vgl. auch J.-P. GUTTON, Lyonnais, 24ff. - H. L. ROOT, Peasants in Burgundy, 207. - R. DOUCET, France 1, 375ff. - A. ZINK, Azereix, 223. 16 Für die kanonistischen Traditionen vgl. Belegmaterial bei J.-P. GUTTON, Lyonnais, 24f. mit Anm. 17 H. GABEL, Widerstand, 390ff. 18 Die Dorfgerichtsordnung von Buxheim, in: Memminger Geschichtsblätter, Jahresheft 1968,1969,77. 12
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Was die individuellen Rechte berührt, muß von jeder davon betroffenen Person konsentiert werden, Enteignungen via Steuern können nicht durch Mehrheitsbeschlüsse erfolgen. Einig war man sich in allen europäischen Ländern, daß ehrbare Leuteeinen Vorrang bei der Willensbildung in der Gemeinde haben sollten. Dahinter steckt allerdings nicht mehr als die Vorstellung, Haushäblichkeit und Unbescholtenheit seien notwendige Voraussetzungen, um der Gemeinde wirklich dienlich sein zu können. Caputmäßige Verfahren bei Abstimmungen werden in der Regel als verfassungskonform eingeschätzt. Wo sie dauerhaft waren, konnte man noch am Vorabend der Französischen Revolution sagen, daß „jeder ehrliche taugliche Landmann zu allen höchsten Wurden participans ist" 20 . Die Häufigkeit der Gemeindeversammlunghing von zweierlei ab, der Menge der Geschäfte einerseits und dem Entwicklungsstand von Repräsentationsorganen andererseits. Mindestens einmal jährlich trat die Gemeindeversammlung zusammen, in der Stadt und auf dem Land 21 gleichermaßen. In der Form des Schwörtages bleibt die jährliche Gemeindeversammlung in den Städten bis ans Ende des Alten Europa üblich, auch wenn sie längst keine eigentlichen politischen Funktionen mehr wahrnimmt. Dabei handelt es sich um einen durch lange Übung im allgemeinen Bewußtsein fest eingegrabenen, unveränderbaren Termin, um eine ungebotene Versammlung, wie man auch sagte, die sich in der Stadt stärker an Kirchenfesten, im ländlichen Bereich stärker am Rhythmus der Natur orientierte. Waren Repräsentationsorgane schwach ausgebildet wie in Frankreich 22 , mußte die Gemeinde oft zusammentreten, und es konnten keine vorläufigen Entscheidungen durch Räte getroffen werden, die dann später anläßlich der ordendichen Gemeindeversammlungen bestätigt worden wären. Die Periodizität der Gemeindeversammlung As Verfassungsgrundsatz gehört zu den genialsten Hervorbringungen des Kommunalismus. Damit wurde erstens die Institutionalisierung der Gemeinde erreicht und von den Personen gelöst und zweitens die Verselbständigung der Repräsentationsorgane verhindert. Oligarchisierungen der Machtträger hat das nicht verhindern können, doch ist aus der Oligarchisierung nur in seltenen Fällen eine Aristokratisierung erwachsen wie in den italienischen Stadtstaaten. In großen Teilen Europas hält sich die Überzeugung, Räte seien Repräsentanten ihrer Gemeinden. „In the making of decisions on behalf of the community" 23 drückt sich in der allgemeinsten Form die Kompetenz der Gemeindeversammlung einer Stadt in Italien aus. „Als Verantwortliche für alle Entscheidungen", bleibt die assemblée de village „bis zum Ende des Ancien Régime das lebendigste Element der Assoziation, und ihr Verschwinden markiert den Niedergang der Gemeinde als solcher" 24 . „Toute l'administration municipale" residiert in der
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Vgl. P. WEBER, Lichtenberg, 115. - M. BOURIN-DERRUAU, Bas-Languedoc 1,313. F. V. SCHMID, Freystaat Ury, 71. Detailliert fur das Elsaß P. WEBER, Lichtenberg, 126ff. R. DOUCET, France l , 3 9 6 f . J.C. HYDE, Society, 54. P. DE SAINT JACOB, Bourgogne, 78. - J.-M. CONSTANT, Nobles et paysans, 275f., rekonstruiert aus den Protokollen von 16 Gemeindeversammlungen von Toury (Bezirk Beauce) zwischen 1664 und 1696 die Kompetenzen.
6.1
Gemeindeversammlung - der Gewalt
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Gemeindeversammlung25. Sie ist souverän in ihren Entscheidungen, ihre Macht ist legafi6, und so Hessen sich viele Urteile zusammenstellen, die alle das Nämliche zum Ausdruck bringen, eben die unbegrenzte Zuständigkeit der Gemeindeversammlung im kommunalen Raum. Daraus erklärt sich, daß von ihr - und nur von ihr - Funktionen an Gremien (Syndikus, Konsuln, Räte, Prokuratoren, Schöffen) übertragen werden können. Technisch geschieht das durch WahP. Daraus folgt dann auch zwanglos, daß der Eid der Amtsträger auch „einer ganzen gemein" 28 geleistet wird. Das gilt allerdings nicht für jedes Amt in der Stadt oder im Dorf. Wo - was häufig ist - Amtsträger, vornehmlich der Vorsitzende eines Gerichts (scultetus) und der Leiter der Verwaltung (villicus), auch Rechte der Herrschaft wahrnahmen, verschmolzen in den Ämtern und in den Eiden in der Regel kommunale und obrigkeitliche Loyalitäten29. Größere Kommunen waren in der Regel gekammert, sei es räumlich in Quartiere oder Pfarreien, oder beruflich in Zünfte oder Gilden, was sich dann in den technischen Verfahren der Wahl niederschlagen konnte 30 . Aus dem Gewalt der Gemeindeversammlung erklärt sich nicht nur deren Verantwortung und Kompetenz fur die Institutionen, sondern auch für das Recht, und zwar für die Rechtsmaterien und fur das Rechtsverfahren. Gewohnheitsrecht wird durch die Gemeindeversammlung weiterentwickelt und neue Satzungen werden durch sie statuiert31. In den Rechtsmaterien drückt sich der Wille der kommunal organisierten Gesellschaft aus; davon ist an anderer Stelle noch ausfuhrlich zu sprechen. Nicht ganz unstrittig ist, ob es eine kommunale Gerichtsbarkeit gegeben hat. Für das französische Dorf ist dies kategorisch bestritten worden 32 , für die französische Stadt wurde gezeigt, daß deren juridiction consulaire zugunsten der ordentlichen königlichen Gerichte beschränkt wurde, namentlich seit dem 16. Jahrhundert, und ihr lediglich die Strafgerichtsbarkeit und Polizeigerichtsbarkeit blieb33. Man kann solche Probleme getrost ungelöst liegen lassen. Wesentlich fur den Kommunalismus ist, daß teils in gerichtlichen, mehrheitlich jedoch in außergerichtlichen Verfahren Übertretungen des kommunalen Gewohnheits- und Satzungsrecht verfolgt werden konnten
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R. DOUCET, France 1 , 3 7 6 . Ebd. M . BOURIN-DERRUAU, Bas-Languedoc 1 , 3 1 2 . - Vgl. R. DOUCET, France 1 , 3 7 5 f f . [für die Städte]. - G . SAUPIN, Sociologie du corps de ville, 2 9 9 . - P. WEBER, Lichtenberg, 128 [besonders reiches Belegmaterial fur das Elsaß]. - S. SUVANTO, Knaapista populiin, 374f. P. WEBER, Lichtenberg, 128. Ebd., 127. - S. SCHMITT, Alzey, 118ff. M . A. LADERO QUESADA, Ciudades en España, 191. - Für die Schweiz PETER BUCKLE, Friede u n d Verfassung. Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 7 0 0 Jahre Eidgenossenschaft, 1. Bd., Ölten 1990, S. 1 3 - 2 0 2 . M . BOURIN-DERRUAU, Bas-Languedoc 1, 312. Spätestens seit R. MOUSNIER, Institutions de la France 1, 4 3 0 , in der französischen Forschung mit Nachdruck vertreten. - R. DOUCET, France 1, 3 9 9 . R. DOUCET, France 1 , 3 6 4 - 3 6 8 .
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und wurden, durch die Bürgermeister und Bauermeister, die Konsuln und Räte, gelegentlich sicher auch durch die ordentlichen Gerichte 3 ''. Aus der Verantwortlichkeit der Gemeindeversammlung für Recht und Gesetz erklärt sich auch ihre Zuständigkeit dort, wo dieses Recht mit der Außenwelt in Berührung kam. Verträge mit Nachbarn und Grundherren, Prozesse gegen den Ortsherrn und den Staat mußten von der Gemeindeversammlung beschlossen werden, und sie bestimmte auch die Delegierten fur Ständeversammlungen, fertigte deren Vollmachten aus und formulierte die Beschwerden an den Fürsten und den König 3 5 . Die Gemeindeversammlung verwaltete und verfugte über das Vermögen der Kommune. Verfugen heißt konkret, daß sie in der Tat zur Finanzierung ihrer Aufgaben in außerordentlichen Fällen das Gemeindevermögen angreifen konnte oder u m es zu schonen auf eine Selbstbesteuerung auswich 3 6 . Die Resistenz der Kommunen gegen die politischen und fiskalischen Begehrlichkeiten des Staates und der Grundherren wäre ohne den ökonomischen Rückhalt in den kommunalen Vermögenswerten nicht möglich gewesen. Tausende von Gemeinden haben über Jahrzehnte hinweg damit ihre Prozesse finanziert. An erster Stelle ist die Allmende zu nennen 3 7 , der nicht oder nur bedingt kultivierte Teil der gemeindlichen Gemarkung, also Weide und Wald. Verwalten heißt, den Gemeindemitgliedern die Anteile von Holz unter forstwirtschaftlich vertretbaren Gesichtspunkten zuteilen und die Ausschlagrechte an Vieh festlegen. Ohne den RUckhalt von kommunalem Land war die Gemeinde längerfristig kaum überlebensfähig 3 8 . Z u m Gemeindevermögen gehörten auch die öffentlichen Gebäude 3 9 . Daraus ergab sich zwangsläufig ein kommunales Rechnungswesen (Gemeindehaushalt), das immer der Kontrolle durch die Gemeindeversammlung unterworfen war.
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Im Elsaß werden Verstösse gegen kommunale Satzungen im alten dinggerichtlichen Verfahren (jährlich) gerügt und vom Vorsitzenden der Gemeinde (Heimbürgen), den Vierern, den Zwölfern oder der ganzen Gemeinde abgeurteilt. Die Bußen gehen zu zwei Dritteln an die Gemeinde, zu einem Drittel an die Herrschaft. P. WEBER, Lichtenberg, 127. R. DOUCET, France 1, 396f. Ebd. Ein paradigmatischer, am Reichskammergericht verhandelter Fall, der in juristische Lehrbücher der Frühneuzeit eingegangen ist, empirisch aufgearbeitet bei SAARBRÜCKER ARBEITSGRUPPE, Huldigungseid und Herrschaftsstruktur im Hattgau (Elsaß), in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 6 (1980), 117-155. - Für Frankreich allgemein R. DOUCET, France 1, 399. Wo immer sich ein herrschaftliches Allmendregal durchsetzen ließ, wurden auf lange Sicht die Gemeinden enteignet. Die Grundfigur der Allmendnutzung bestand darin, daß der Herr als Miteigentümer einen seinem Eigenbesitz entsprechenden Anteil hatte. Wo er ihn mittels Zwang erweitern konnte (die enclosure-Bewegung in England ist in dieser Hinsicht ein paradigmatischer Fall) verschwand auch die Gemeinde. Vgl. R. DOUCET, France 1, 399. Ebd. Irrefuhrenderweise werden oft auch Einrichtungen wie Kirche (Schiff), Friedhof, Spital dazugerechnet, was in der Regel eine unzulässige Vermischung mit der Kirchgemeinde darstellt.
139 6.2
KOMMUNALE REPRÄSENTATION
Um die Formen kommunaler Repräsentation im Prinzipiellen freizulegen, soll wegen der vergleichsweise günstigen Quellenüberlieferung auf Beispiele aus der Schweiz zurückgegriffen werden. Für die dortigen Gemeinden - Länder werden sie in der zeitgenössischen Terminologie in Abgrenzung zu den Städten genannt - liegen Rechtsbücher, sogenannte Landbücher, vor, und zwar für Schwyz40, Nidwaiden41, Obwalden42, Glarus43, Zug44 und Ursern45, die von einer erstaunlichen Uniformität sind. Meist im 16. und 17. Jahrhundert als Pracht-Codices angelegt, wurden sie einerseits von den Schreibern der Gemeinden bis ins 18. Jahrhundert durch Neueinträge fortgeführt, andererseits enthalten sie aber auch sehr viel älteres Rechtsgut, das sich punktuell, soweit Urkunden überliefert sind, bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen läßt. Das erlaubt eine ziemlich genaue Rekonstruktion der Formen und Prinzipien kommunaler Repräsentation. Sie soll am Beispiel von Uri erfolgen, einer der drei universitates, aus der die Schweizer Eidgenossenschaft hervorgegangen ist. Das Urner Landbuch ist kurz nach 1600 angelegt46. Aus ihm läßt sich als ältestes institutionelles Grundgerüst die Gemeinde (.Landsgemeinde) und der Ammann (Landammann) herausarbeiten47. Die Gemeinde trat jährlich am gleichen Ort (Betzlingen) als wehrfähige Mannschaft (ab 14 Jahren) zusammen, amtete als Organ der Gesetzgebung (im Bereich von Friedenssicherung, Ehe- und Erbrecht, Allmende, Wald und Holz, Verteidigung, Polizei) und der Rechtsprechung (Gericht, Landtag genannt), entschied über die Aufnahme von Zugezogenen, ratifizierte die Beschlüsse der Tagsatzung (Parlament der Schweizer Eidgenossenschaft) und besetzte die Amter. Ursprünglich gab es offenbar nur ein Amt in der Person des Ammanns, der Klagen entgegennahm, Bußen einzog und der Gemeindeversammlung präsidierte. Später - genaue Datierungen erlaubt das Landbuch nicht - gab es zwei Gerichte, die Fünjzehner und die Siebner. Das Siebner-Gericht sollte strafrechtliche Fälle nur bis zu einer Bußenhöhe von 60 Pfund aburteilen, das Fünfzehner-Gericht solche über 60 Pfund und 40 41
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M. Kothing, Landbuch. Carl Deschwanden (Hg.), Die Rechtsquellen des Kantons Nidwaiden (Altes Landbuch von Nidwalden), in: Zeitschrift fur schweizerisches Recht 6 (1857), 7 9 * - 1 8 5 * . Hermann Christ - Johannes Schnell (Hgg.), Die Rechtsquellen von Obwalden (Das älteste Landbuch), in: Zeitschrift fur schweizerisches Recht 8 (1860), 9*—108*. F. Stucki, Rechtsquellen Glarus 2, 5 5 0 - 7 2 9 . Eugen Gruber (Hg.), Die Rechtsquellen des Kantons Zug, 1. Bd., Aarau 1 8 7 1 , 2 4 7 - 2 7 6 . Friedrich Ott (Hg.), Die Rechtsquellen von Uri (Altes Talbuch von Ursern), in: Zeitschrift ftir schweizerisches Recht 1 2 (1865), 3*-19*. F. Ott, Rechtsquellen Uri, 6, datiert das Landbuch auf 1607/8. - Ältere Landbücher waren sicherlich vorhanden. In den 1520er Jahren sind nach Auskunft Zwingiis mehrere Exemplare im Umlauf. Die Rekonstruktion der Institution über F. Ott, Rechtsquellen Uri, Artikel 1 9 , 6 1 , 6 2 , 8 1 , 9 7 , 2 0 2 , 198, 2 0 1 [ftir die Gemeinde]; 54, 1 9 2 [fur die Genoßsame, die Untergliederung der Gemeinde]; 20, 54, 61, 83, 1 9 2 , 2 3 0 1 [fur den Rat]; 19, 50, 5 4 , 6 8 , 9 9 [fur das Fünfiehner-Gericht]; 1 , 1 9 , 2 8 , 49, 50, 6 8 [für das Siebner-Gericht]; 3, 5 0 , 7 1 , 79, 83 [für den Säckelmeister und den Weibel], Das Urner Landbuch wird wegen der leichteren Auffindbarkeit der Belege nach der von Ott vorgenommenen Numerierung der Betreffe mit Artikelnummer zitiert.
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was „ehr, erb vnnd eigen betrifft" 4 8 . Beide Gerichte verhandelten zivil- und strafrechtliche Angelegenheiten. Verschiedene Phrasen im Urner Landbuch belegen, daß beide Institutionen früher ein Gericht bildeten 4 9 . Die Aufteilung der judikativen Zuständigkeiten auf zwei Gerichte dürfte somit eine pragmatische sein, erklärbar aus der wachsenden Inanspruchnahme des Gerichts ausgangs des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit. Die Gerichte sprachen jetzt nicht mehr nur zu festgesetzten Terminen im Jahr Recht, sondern sie traten auch auf Anfordern einer klagenden Partei zusammen. D a s Urner Landbuch enthält auch einen Artikel, der die Appellation von den Gerichten an die Landsgemeinde verbietet. „Wier habendt anngesehen, wie dan zuo zytten vor vnnsern gerichten einem ein vrthell gath, die ime nit gefallt, vnnd vermeint ein sach fur ein gmeindt zu züchen, darumb ist unsere meinung, diewyll dz geschworne gricht von der gmeindt geordnet würdt vnnd von gmeinen lanndtlüthen, dz es dan by iren vrthellen blyben solle, vnnd niemanndt soll von vnsern gerichten, weder von xv. noch sibner gricht appellieren noch züchen fiiir ein gmeindt, noch änderst wohin, in kheinen weg, es were dan dz einer genugsamb vrsachen brechte, dz er verkürtzt wehre durch khundtschafften, die er nit hette mögen haben; allsdann soll er fur räth vnnd lanndtlüth khommen, syn beschwerd vnnd worin er versumbt worden anzeigen [...]" 5 °. Sinngemäß gleiches galt hinsichtlich der von den Gerichten verhängten Bußen 5 1 . Daraus ergibt sich zwingend, daß die Gemeinde dem Gericht übergeordnet war und ein Gericht nichts anderes war als ein Ausschuß der Landsgemeinde. Besonders lange blieb die Blutgerichtsbarkeit bei der Gemeinde (Landtag).
Im benach-
barten Schwyz fällte die Landsgemeinde noch am 26. April 1767 drei Todesurteile 5 2 . Bürgerliche Angelegenheiten und der weite Bereich des Zivilrechts wurden offenbar früh an die Gerichte delegiert, in wichtigen Fällen mußten aber auch solche Angelegenheiten vor die Landsgemeinde. 114 Personen bezeugten anläßlich der Urner Landsgemeinde von 1387, Wilhelm Teil gekannt zu haben 5 3 . Auch fur den Rat der Sechziger, erstmals 1373 belegt 5 4 , läßt sich nachweisen, daß er einen Ausschuß der Landsgemeinde darstellt. Das beweist das Verbot, Beschlüsse des Rates vor der Gemeindeversammlung anzufechten. „Wir sindt vbereinkhommen, dz nun furhin die sa-
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Ebd., Nr. 49. Friedbruch, heißt es, sollen „die 15 vnnd die Siben vff dz lanndtbuoch richtenn". Ebd., Nr. 19. Ebd., Nr. 61. Ebd., Nr. 81. „Es ist ouch anngesehen, welcher von vnnseren gerichten, es sige der funffzechnen, sibner oder sonsten vor räthen buoßfellig erkhendt wurde, dz der die buoß ohne alles mittel geben soll, vnnd ime weder vor gmeinden noch räthen khein nachlassung nit beschehen soll, ouch nit verhördt werden, eß were dann sach, dz einer ein so zwyfellhaftigen handell hette, dz ime die richter vor der vhrtel oder mit vhrtell erkhendtent, dz er fur gmeindt oder räth kheren sölte oder möchte, alls dan soll man einen zuuverhören vnnd nach gstalt der sachen und guottem bedunckhen zehandlen nit abschlachen [...]". H. RYFFEL, Landsgemeinden, 77. Ebd., 78.- HANS STADLER-PLANZER, Geschichte des Landes Uri, 1. Teil, Schattdorf 1993, 261. Die Landsgemeinde beschließt, die Tellskapelle zu bauen. [Die Überlieferung ist sagenhaft.] Ebd., 272.
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Kommunale Repräsentation
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chenn so fur rath khommen vnnd ghören, vnnd von einem rath darumb gerathschlaget wiirdt oder ein vrthell darumb ergath, dz dieselbige sach nit soll fur die lanndlüth noch gmeindt geappelliert werden [...]" 5 5 . Auch bezüglich des Rates wird man, ähnlich wie bei den Gerichten, annehmen können, daß es sich um eine Einrichtung handelt, die notwendig geworden war, nachdem die steigende Zahl anfallender Geschäfte 5 6 nicht mehr von der Landsgemeinde wahrgenommen werden konnte. Weil die Landsgemeinde in der Regel nur einmal jährlich zusammentrat, überbrückte der Rat gewissermaßen die Zeit zwischen zwei Gemeindeversammlungen. Daraus erklärt sich, daß er Ordnungen erlassen und vorbereiten konnte, die, je nach Bedeutung, auf der nachfolgenden Gemeindeversammlung ratifiziert wurden 5 7 . Im 18. Jahrhundert ließen sich solche Verhältnisse als Demokratie beschreiben. „Der Freystaat Ury hat eine vollkommene demokratische, oder gemeine Volks Regierung", notierte am Vorabend der Französischen Revolution Franz Vinzenz Schmid 5 8 . „Die höchste Gewalt stehet bey der beym Eide versammelten Landesgemeinde, welche sich alliahrlich am lsten Sonntage im Maymonde zu BStzlingen an der Gand ordentlich, und auch öfters da und andern Orten außerordentlich versammelt. Jeder Vierzehnvolljahrige hat in diesen höchsten Landesversammlungen freye Stimme und Wahlungsrecht. Es werden da die Gesetze, Bundnisse etc. gemacht; die Landes-Amdeute, Gesandte, Landvogte etc. erwählt; Krieg erklart, und Friede geschlossen etc. Sie wird unter freyem Himmel gehalten, unter dem Vorsitz des regierenden Landammanns, der dahin unter gewohnlicher Feldmusik von Trommeln, Pfeifen und denen Landeshornern, von allen Herren Vorgesetzten, Rathen, Landschreibern, Fürsprechen, und andern Standspersonen, in schönster Rustung zu Pferd begleitet wird. Dem Landammann wird das hoheitliche Landsschwerdt, den übrigen Vorgesetzten aber ihre eigene Schlachtschwerdter vorgetragen [...]. Der ordentliche Landesrath besteht, nebst den Vorgesetzten, in 60 Rathsgliedern, die man die Sechsger nennt, und wählt deren jede Genossame sechs [...]. Ueber Streitsachen walten zwey besondere Gerichte: das Funfzehner, unter dem Vorsitz des regierenden Landammanns, richtet über Ehr und Gut; und das Siebner, unter Vorstand des Amtstatthalters, richtet über geringe Fehler, und Gut, so sich nicht über 30 Gl. belauft". Das ist die pragmatische Art eines Schweizers, die Verfassung seiner Heimat poetisch zu beschreiben. Uri ist allerdings durchaus verallgemeinerungsfähig 59 . Die Formen der Repräsentation in den schweizerischen Städten ähneln denen auf dem Land in erstaunlicher Weise und bestätigen nochmals, daß man in der Tat von einem kommunalen Typus politischer Repräsentation sprechen kann. Als Beispiel, um das zu belegen, soll Zürich dienen. Ministerialen und Kaufleute verwalteten Zürich. Aus ihnen setzte sich der Rat zusammen, die „cónsules Turicenses", wie sie in den frühesten urkundlichen Nennungen heißen 60 . 55 5(5 57 58 59 60
F. Ott, Rechtsquellen Uri, Nr. 62. Vgl. ebd., Nr. 20. Ebd., 7ff. F.V.SCHMID, Freystaat Ury, 71. Grundlegend H . RYFFEL, Landsgemeinden. Urkundenbuch Zürich 3, 73 Nr. 988 (1256 XII. 13).
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DIE ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
Während des 13. Jahrhunderts waren die ratsfähigen Ritterfamilien und Kaufleutefamilien etwa paritätisch im Rat vertreten. An der Wende zum 14. Jahrhundert änderte sich das. Die Bürgerlichen nahmen jetzt doppelt soviel Ratssitze ein als die Adeligen61. Die Räte wurden von den Stadtherren - in Zürich waren das die Äbtissin des Fraumünsters und der Kaiser beziehungsweise sein Reichsvogt - ernannt; später ergänzten sie sich fast durchwegs durch Kooptation selbst. In Umrissen wird aber auch schon die Bürgerschaft (universitas avium) im 13. Jahrhundert als ein Organ der Stadt und damit als ein solches der Verfassung erkennbar62. Nicht nur bei weitreichenden politischen Entscheidungen (Huldigung) 63 , auch zum Erlaß von Satzungen wurden sie herangezogen. Die Zürcher Stadtbücher unterscheiden nämlich zwischen Satzungen des Rates unter der Eingangsformel „man schribet allen râten" und solchen, die mit der Formel eingeleitet werden, „der rät und die burger hant gesezzet"64, woraus man wird schließen dürfen, daß die Bürgerschaft bei derartigen Satzungen beigezogen wurde. So entstand allmählich das Stadtrecht. Diesen aus den Urkunden gewonnenen Eindruck bestätigt mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit der Richtebrief won Zürich, der im Jahr 1304 angelegt wurde 65 , als solcher aber auch älteres Rechtsgut enthält. Es handelt sich um eine Sammlung des um 1300 in Zürich geltenden Rechts, stellt also das Zürcher Stadtrecht dar, und umfaßt in vier Büchern, wenn auch in nicht ganz strenger Systematik, 1. Vergehen vom Mord über Verwundungen bis zu Beleidigungen, 2. Fehden und unerlaubte Bündnisse, 3. Kompetenzen von Rat und Gericht und 4. Polizeimaßnahmen. Der Zürcher Richtebrief ist das städtische Gegenstück zu den Innerschweizer Landbüchern. Er unterstreicht in der Präambel noch einmal die Bedeutung der Bürgerschaft fur die Gesetzgebung. „Dise gesetzeden die an disem buoche geschriben sint, hant die burger von Zürich dur vride und dur besserunge, der stat zu eren under inen selben uf gesezet"66. Züricher Bürger (cives Thuricenses) waren, wie gezeigt, die ehemaligen Gotteshausleute und Unfreien des Fraumünsters in der Stadt, der Bürgerbegriff umfaßte somit einen ansehnlichen Teil der städtischen Bevölkerung. Zu starken Eingriffen in die Verfassung Zürichs kam es durch den Aufstand der Handwerker 1336. Die versammelte Bürgerschaft verbannte von den 36 Ratsmitgliedern zwölf aus der Stadt, zehn weiteren wurde die Amtsfähigkeit abgesprochen. Der in diesem Zusammenhang entstandene Erste Geschworene Brief67 blieb „die Grundlage der zürcherischen 61
62
Vgl. ELISABETH RAISER, Städtische Territorialpolitik im Mittelalter. Eine vergleichende Untersuchung ihrer verschiedenen Formen am Beispiel Lübecks und Zürichs (Historische Studien 406), Lübeck 1969, 47, Anm. 132, gestützt auf die Arbeiten von Hektor Ammann. Urkundenbuch Zürich 3, 78, Nr. 994.
63
Vgl. P. GUYER, Verfassungszustände, 2 3 .
64
Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts, 1. Bd., 1. Teil, Leipzig 1899, Nr. 8, 15, 26,101,139. F. Ott, Richtebrief. Ebd., 151. Die drei Geschworenen Briefe - sie datieren von 1336, 1373 und 1393 - sind ediert bei H. Nabh o l z - P. Kläui, Quellenbuch, 1 3 1 - 1 4 0 , teils in Regestenform, teils mit Auslassungen. Einen synoptischen Abdruck aller drei Quellen bietet W . Schnyder, Quellen, 7 - 2 5 .
65 66 67
6.2
Kommunale Repräsentation
143
Verfassung bis 1 7 9 8 " 6 8 . Jetzt nahmen auch Handwerker, die durch die neugeschaffenen Organisationseinheiten der (politischen)
Zünfte
fur halbjährige Amtszeiten gewählt wurden,
im Rat Einsitz 6 9 . Entsprechend wurde die bislang sozial fuhrende Schicht in der Stadt in einer zunftähnlichen Gesellschaft zusammengefaßt, der sogenannten
KonstaffeL
„Ritter,
edellúte, bürgere, die ir geltent gut hant, köflute, gewantsnider, wechseler, goltsmide und saltzlúte, die sol man nemmen constavel" 7 0 . Jede der 13 Zünfte stellte einen Zunftmeister, die Konstaffel sechs Ritter und sieben Bürger für den Rat. N u r „mit gemeinem rate aller der burger" kann die Verfassung aufgehoben oder geändert werden. In den Folgejahrzehnten bis zum
Dritten Geschworenen Brief von
1393 folgten einige
Modifikationen der Verfassung. Vor allem wurde der Große Rat eine feste Institution in der Stadt. Er taucht unter dem Namen
Rat der Zweihundert
schon u m die Mitte des 14. Jahr-
hunderts auf 7 1 . Er soll an wichtigen Entscheidungen mitwirken, seien sie gerichtlicher oder gesetzgeberischer N a t u r 7 2 , und vor allem wird ihm die Funktion zugewiesen, den Bürgermeister zu wählen 7 3 . Falls aus dem späteren Besetzungsmodus Schlüsse gezogen werden dürfen, dann hätte jede der 13 Zünfte 12 Vertreter in den Großen Rat geschickt, die Konstaffel 18, was zusammen mit den 2 6 Kleinräten, die kraft Amtes im Großen Rat saßen, exakt die Zahl 2 0 0 ergeben würde 7 4 . Der Rat der Zweihundert als Repräsentationsgremium der Gemeinde stärkte den politischen Einfluß der Handwerker. Die Zunftmeister konnten jetzt bei Saumseligkeit der Räte die Gerichtsbarkeit oder Satzungskompetenz für sich allein in Anspruch nehmen 7 5 . Daß oft auch gegen die vom Rat verhängten Bußen an die Gemeindeversammlung appelliert wurde 7 6 , unterstreicht nochmals den Vorrang der Gemeinde gegenüber allen Ratsbildungen. Es gehört zu den allgemeinen Erscheinungen der städtischen Verfassungsgeschichte, daß sich im 15. Jahrhundert der obrigkeidiche Charakter der Räte verstärkt, Kooptationsverfahren für die städtischen Gremien wieder an Boden gewinnnen und Oligarchisierungstendenzen einsetzen. Seit 1401 wurden die Mitglieder des Großen Rates, die
Großräte, auf
Lebens-
68
P. GUYER, Verfasssungszustände, 2.
69
W.Schnyder, Quellen, 15. Ebd., 14. Die Belege zusammengestellt bei P. GUYER, Verfassungszustände, 30. W. Schnyder, Quellen, 23. Ebd., 17. Die Modalitäten der Besetzung im 15. Jahrhundert ebd., 31. „Ducht aber die Zunftmeister, die ze dien ziten bi dien riten sitzent, daz der burgermeister oder die rit dar an sumig woltint sin, so sülent und mugent die selben Zunftmeister zu einander gan und 8ch die rit, dien si zu inen gebietent; welicher aber der riten zu inen nicht wolte, so siilent doch die Zunftmeister die sach und all ander sachen, so si denn ze mal dunket, daz unser gemeinen stat erlich nutz und notdürftig sij, us richten und besorgen, als si ir trùw und ir ere wiset, und sùllent 8ch daz bi iren eiden unverzogenlich tun und och, als dik si wellent. Und waz 8ch die Zunftmeister und die, so von den riten bi inen sint, also us richtent und besorgent gemeinlich oder der mer teil under inen, daz sol war und stit beliben und sol si unser gemeind da bi schirmen". Ebd., 21.
70 71 72 73 74 75
76
S. BURGHARTZ, Delinquenz in Zürch, 32.
144
6
D I E ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
zeit bestellt, ausscheidende Mitglieder durch Kooptation durch den Rat selbst ersetzt, der freilich die gleichmäßige Vertretung aller Zünfte zu berücksichtigen hatte77. Die beiden Schweizer Beispiele aus dem ländlichen und städtischen Bereich sollten nochmals die Kriterien fur Repräsentation im kommunalen Bereich verdeutlichen. Genau besehen, lassen sich signifikante strukturelle Unterschiede zwischen Uri und Zürich nicht ausmachen. Der Gewalt hat seinen Sitz in der Gemeindeversammlung. Verfassungsrechtlich durch die Rechtsbücher festgelegt, sichert diese sich ihre Kompetenz dadurch, daß sie mindestens einmal jährlich zusammentritt. Die Gemeindeversammlung schafft aus pragmatischen Gründen Repräsentationsorgane, und zwar handelt es sich um völlig analoge Bildungen auf dem Land und in der Stadt. Für die politischen Geschäfte entsteht der Rat, für die der Rechtsprechung das Gericht. Wo weitere Differenzierungen in verschiedene Räte und Gerichte erfolgten, handelt es sich um technische Vorgänge der Aufgabenverteilung und der administrativen und juridischen Effektivierung. Gelegentlich beobachtet man Kompetenzverschleifungen zwischen Räten und Gerichten, was sich allerdings mühelos daraus erklärt, daß sich Gericht und Verwaltung nicht immer sauber trennen lassen. Die Verwaltungsmaßnahme, auf Straßen keine Messer zu tragen, kann, wo sie nicht eingehalten wird, zum strafrechtlich relevanten Tatbestand der Gefährdung des Friedens werden. Für die Definition des Kommunalismus kann man das offenkundige Problem älterer, mittelalterlicher Gerichtsbarkeiten, die sich mit den gemeindlichen kreuzten und diese überlagerten - vor allem, wenn man sich auf die personale Besetzung dieser Gerichte einläßt - , zunächst unerledigt liegen lassen. Selbstverständlich gab es in Uri und Zürich Gerichtsbarkeiten, solange dort Menschen wohnten. Für das Kommunalismuskonzept relevant ist lediglich die Beobachtung, daß die Gemeinden aus sich selbst heraus Gerichtsbarkeiten entwickelt haben, und zwar zur Durchsetzung ihrer eigenen Gesetze, die als Einungen und Willküren, als Gebote und Verbote von der Gemeinde oder ihrem repräsentativen politischen Organ, dem Rat, erlassen worden waren und durch die Einschreibung in die Landbücher und Stadtbücher den Rang und die Dignität von kommunalem Recht besaßen. Deswegen verfugt Uri, „dz die funffzechen vnnd die sibner by irem eide vff dz lanndtbuoch richten söllenndt, vnnd ob zugesetzte richter zu denn funflzechnen oder zu den sibnen gesetzt wurden, so man richten will, so soll man dieselben zugesatzten im anfang deß gerichts ermanen deß eydts so sy geschworen habenndt, och zerichten nach dem lanndtbuch"78. Das Zürcher Ratsgericht urteilt nach dem verschriftlichten gesetzten Stadtrecht, dem Richtebrief7^. Neben und über diesem kommunalen Recht kann es durchaus fürstliches Landrecht oder königliche Ordonnances mit korrepondierenden Organen der Rechtspflege geben. Wo solche gänzlich fehlen, ist allerdings die Bezeichnung Republikanismus angemessener als Kommunalismus. Für die Räte in Europa gilt, daß sie spätere Bildungen mit vorwiegend politischen Aufgaben darstellen. Lediglich in den Städten sind sie älter, oft hervorgegangen aus den Beratungsorganen des Stadtherrn, dann aber ungeformt und neu legitimiert im Zuge der Erwei77 78 79
P. GUYER, Verfassungszustände, 7. F. Ott, Rechtsquellen Uri, Nr. 68. Vgl. S. BURGHARTZ, Delinquenz in Zürich, 36.
6.2
Kommunale Repräsentation
145
terung politischer Rechte auf die ganze Bürgerschaft, so daß außer dem N a m e n nichts mehr an den herrschaftlichen Ursprung erinnert. Bei großen Gemeinden mit weiten Aufgabenbereichen bildeten sich nach ursprünglichen Experimenten mit ad hoc gebildeten Ausschüssen und Kommissionen 8 0 schließlich, ähnlich wie in Zürich, zwei Ratsgremien heraus, ein Großer Rat und ein Kleiner RaPx.
Der Kleine Rat führte die politischen Geschäfte, der
Große diente der Kontrolle und ersetzte zunehmend die Gemeindeversammlung 8 2 . Die Räte repräsentierten die Gemeinden in der Regel auch gesellschaftlich, denn nicht nur Reiche bekleideten Ämter. Besitz und Amt korrelieren nicht immer in der Weise, daß die Reichsten auch die Mächtigsten waren. Untersuchungen für 160 von insgesamt 4 0 0 Gemeinden in der Tourraine belegen, daß sich Reiche und Arme in den Räten die Waage halten, wiewohl der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung höher war 8 3 . Andererseits gibt es auch zahlreiche Beispiele für Oligarchisierungen, durch welche die „traditions démocratiques des siècles précédents" erstickt wurden 8 4 . Räte hatten, was sich aus ihrer politischen Funktion erklärt, ursprünglich auch polizeiliche Aufgaben. Soweit diese nicht mehr nur ehrenamtlich ausgeübt werden konnten, entwickelten sich je nach Größe und Reichtum professionelle und semi-professionelle Ämter. Von einer geschätzten erwachsenen männlichen Bevölkerung von 5000 Menschen in Siena übten im Jahr 1257 8 6 0 ein städtisches A m t aus, teils hauptberuflich, teils nebenberuflich 8 5 . Darunter waren 171 Nachtwächter, 114 Zollbeamte und 103 Bürgermeister in den einzelnen Stadtbezirken; dazu kamen ehrenamtliche Polizeiaufgaben von boni homines, welche die Wirtshäuser überwachten, Leprakranke aus der Stadt wiesen und spinnende Frauen von den Straßen trieben, um den Verkehr in Fluß zu halten. In einem kleinen D o r f konnten sich solche Voll- oder Teilzeitbeschäftigungen im Auftrag des Rates auf den Flurwächter (campari) beschränken 8 6 . Gerichte (Schöffen, scabini, échevins) waren immer ein Ausschuß der Gerichtsgenossenschaft 8 7 . Wo sich das Gericht hat territorialisieren lassen, sei es im Rahmen des Dorfetters, einer Talschaft oder einer Stadt, konnte es kommunal werden. Das ist in einem zweifachen Sinn zu verstehen. Die Schöffen kamen jetzt aus der Dorf- oder Stadtgemeinde und Rechtsgrundlage der gerichtlichen Tätigkeit war nicht nur das ältere Recht, beispielsweise Landrecht, sondern auch das statuierte kommunale Recht. Vor allem im Bereich des Strafrechts war die kommunale Satzungstätigkeit recht lebhaft und weitgehend, weil das enge Zusam-
80 81 82
84 85 86 87
P. CELLI, Potere popolare, 197. Α. I. PINI, Comune città-stato, 75. — W. SCHMALE, Vorstellungswelt, 133 [fur Frankreich], - Α. I. PINI, Comune città-stato, 75. - E. ISENMANN, Stadt, 136-139. „Wirtschaftliche und soziale Vorrangstellung [konnten] nicht vollständig in politische Vorrangesteilung umgemünzt werden". W. SCHMALE, Vorstellungswelt, 131. In den Räten sind Bauern und Landwirte vertreten mit 58% der zu vergebenden Sitze, Handwerker und Händler mit 29%, Juristen mit 7%. R. DOUCET, France 1, 373. Die Daten bei D. WALEY, Stadtstaaten, 108. Α. I. PINI, Comune città-stato, 76. Belegmaterial fur Deutschland bei F. BATTENBERG, Dinggenossenschaftliche Wahlen, 279f.
146
6
DIE ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
menleben viele Regularien benötigte, um Gewalttätigkeiten von Schlägereien bis Verbaliniurien zu unterbinden und im Übertretungsfall rasch abzustrafen. Deswegen ist es auch nicht unwahrscheinlich, eine kräftige Wurzel der kommunalen Gerichtsbarkeit (Schultheiß und Schöffen) in der coniuratio zu sehen. Angesichts des hohen Alters der Gerichte mag es vertretbar sein zu behaupten, die kommunalen Strukturen des Landes seien ftir die Stadt Vorbild gewesen88. Richter ( Urteiler) wurden sowohl aus der Gemeinde kooptiert, als auch von dieser gewählt 89 . Entscheidend war, daß sie Autorität besaßen, denn es war schwer, die gerichtlichen Urteile durchzusetzen. Das mag die langen Verweildauern in den Richterämtern erklären und das Interesse der Herrschaft, an ihrer Bestellung mitzuwirken. Namendich gilt das für den Gerichtsvorsitzenden (Schultheiß, maire), der ursprünglich ohnehin der Vertreter des Gerichtsherrn war. Für ihn brachten es die Gemeinden bestenfalls bis zum Vorschlagsrecht 90 , die Einsetzung erfolgte immer durch die Herrschaft. Für Dijon ist fur das 13. Jahrhundert das Verfahren der Bestellung des maire belegt91. Am Vorabend des Patroziniums des Heiligen Johannes ging die ganze Gemeinde am ältesten Schöffen vorbei und jeder nannte diesem den Namen seines Kandidaten. Nach der Auszählung der Stimmen präsentierte der älteste Schöffe den Kandidaten dem bailli von Dijon. In feierlicher Prozession wurde der Neugewählte in die Pfarrkirche Notre-Dame gefuhrt, wo er dem Herzog und der Stadt einen Eid leistete. Die Selbständigkeit der kommunalen Gerichte wurde gefährdet durch den Ausbau gerichtlicher Instanzenzüge bis zum König. Das begünstigte staatliche Eingriffe in das Gerichtsverfassungsrecht und damit auch in die Besetzung der Amter und die materialen Zuständigkeiten der Gerichte. In Frankreich wurden durch die Ordonnance de Moulin von 1566 den städtischen Gerichten die Zivilgerichtsbarkeit entzogen, was nicht ausschloß, daß die Kompetenzen von den Städten zurückgekauft oder Ausnahmen gemacht wurden. So bestätigte der König 1595 der Stadt Dijon ausdrücklich die Gerichtsbarkeit „civile, criminelle et politique" 92 . Die Kompetenzen der Räte und mit ihnen die der Gemeinden gingen in dem Maße zurück, wie der sich formierende frühmoderne Staat mit Ordonnances, Polizeien und Landesordnungen sein Territorium erfaßte. Wo das Erbrecht auf der Ebene des Fürstentums oder der Monarchie geregelt war, konnten sich kommunale Gewohnheiten nicht mehr halten, zumindest ließ sich das Erbrecht nicht mehr auf kommunaler Ebene statutarisch ausgestalten.
88 89 90 91 92
G. SIVERY, Communautés rurales, 92. S. SUVANTO, Knaapista populiin, 374f. - R. DOUCET, France 1, 371. Vgl. S. SCHMITT, Alzey, 118FF. J. LE GOFF, France urbaine, 275. R. DOUCET, France 1,381 flf.
147 6.3
GEMEINDE, RÄTE UND GERICHTE - SOZIALE VERSTREBUNGEN
Im Jahr 1288 wurden in Bologna 1800 Amtsträger durch eine Wahl bestimmt, an der ein Gremium von 2000 Mitgliedern beteiligt war, das seinerseits wiederum vom consiglio generale und dem consiglio del popolo, zwei 800köpfigen Gremien, bestellt wurde. Die beiden Räte wurden wiederum jährlich durch Wahl bestellt93. Die Angst, die sich in diesem aufwendigen Bestellungsverfahren ausdrückte, findet sich auch in ganz kleinen Kommunen, wo das Amt des Dorfvorstehers als Reihenamt von Hof zu Hof gehen konnte. Florenz führte 1292 im Rat der Hundert eine Wahlrechtsdebatte94, auf der allein ftlr die Bestellung der Prioren 23 Vorschläge diskutiert wurden. Schließlich einigte man sich auf folgendes Verfahren. Für jedes der sechs Quartiere der Stadt ernannten die Vorstände der zwölf oberen und mittleren Zünfte je einen Kandidaten. Der Rat der Hundert ermittelte dann fur jedes Sechstel durch Wahl einen Kandidaten als Prior. Allerdings mußten alle Prioren verschiedenen Zünften angehören. Beim Wahlakt selbst waren jene Mitglieder des Rates der Hundert vom Wahlakt ausgeschlossen, die jenes Sechstel vertraten, für das der Prior bestimmt werden sollte. Kein Prior, so lehrt dieser komplizierte Fall, der in die Signoria eintrat, hatte ein Mandat seiner Zunft, auch kein solches seines Stadtquartiers. Auffällig ist weiter, daß die Amtszeiten der Prioren kurz waren, beschränkt auf wenige Monate, Wiederwahl war nur nach längerer Unterbrechung möglich 95 . Ähnlich kompliziert sind die Wahlverfahren in Paris96. In spanischen Städten müssen an der Bestellung der Räte nach einem bestimmten Schlüssel alle ständischen Gruppen, von den Landbesitzern, Kaufleuten und Bankiers (mà major) bis zu den Handwerkern der verschiedenen Zünfte (mà minor) beteiligt werden, aber auch die Pfarreien und die Gesamtgemeinde 97 . Wo die Gemeinden kleiner waren, blieben die Wahl-, Bestellungs- und Ernennungsprozeduren einfacher, doch auch hier läßt sich das Bemühen erkennen, Interessenvertretungen zu verhindern. In Zürich herrschte innerhalb der Zünfte das Wahlprinzip fur den Rat, aber bei den Zünften handelt es sich wie so oft um politische, die sich angesichts ihrer heterogenen beruflichen Zusammensetzung nicht unbedingt als wirtschaftliche Interessenvertretung eigneten. Die Vertreter der Konstaffel wurden in einem komplizierten Verfahren bestimmt, das an die älteren Formen der Kooptation erinnert: Der Bürgermeister ernannte fur den Wahlvorgang selbst aus dem abtretenden Rat zwei Ritter und vier Bürger, die zusammen mit ihm sechs Ritter und sieben Bürger aus der Konstaffel wählten98. Korruption und Wahlbestechung, die angeblich mit der Anlaß gewesen waren, die alten Räte aus der Stadt zu fegen, sollten mit Entzug des Ratsamtes und Stadtverweis scharf geahndet werden99. 93 94
95 96 97
98 99
H. KELLER, Wahlformen, 345f. H. KELLER, Kommune, 603f. - M. B. BECKER, Florence 1 , 6 9 - 7 2 . G. Α. BECKER, Florentine Politics, 59f., 65ff. Ausführlich R. DOUCET, France 1, 37If. M . A. LADERO QUESADA, Ciudades en España, 191. - J. P. MOLÉNAT, Concejos, 248. W. Schnyder, Quellen, 17ff. Ebd., 19.
148
6
D I E ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
Selbst in ländlichen Gemeinden hat man bis ins 18. Jahrhundert beharrlich versucht, der offenbar unvermeidlichen Oligarchisierung der Räte zu entkommen. In vielen schweizerischen Orten 1 0 0 , aber auch in den kleineren Städten Spaniens101 suchte man mit Losverfahren möglichen Amterkauf und Wahlbestechung zu vereiteln. Die Prinzipien, nach denen die Räte und Gerichte in den Kommunen bestellt wurden, sind, soweit sich sehen läßt, für den städtischen und ländlichen Bereich die nämlichen 102 . Alle korporativen Teile einer Gemeinde (Quartiere, Pfarreien in der Stadt, Wirtschaftsverbände auf dem Land) sollten vertreten sein 103 , ehrbar (bieder, fromm, weise, verständig) mußten die Amtsinhaber sein 104 und das verlangte ehelich geboren, ortsansässig und haushäblich zu sein. Allerdings gab es auch Unterschiede hinsichtlich der Qualitätsanforderungen fur die Amter, die sachlich bedingt waren. Im Rat machte man Politik, im Gericht sprach man Recht. Für die Räte galten meist beschränkte Amtszeiten und komplizierte Wahlverfahren über Elektoren und Losverfahren105, die immer die Absicht verfolgten, eine direkte Interessenvertretung zu vermeiden. Deswegen wurde selbst in den weniger strukturierten Dörfern Deutschlands das Gremium der Vierer in der Art bestellt, daß die Seidner Amtsträger aus der Bauernschaft wählten und umgekehrt die Bauern solche aus den Seidnern. Den Unterschied zwischen Rat und Gericht formuliert in erhellender Form das Ratsstatut von Brugg im Aargau (Schweiz) von 1491, wo es heißt, daß keiner in den Kleinen oder Großen Rat „geseczt werden" soll, „der eine eigenen heren hat; doch an das gericht [...] mag man in wol seczen" 106 . Ein Leibeigener kann wohl im Gericht Urteil sprechen, aber wegen seiner schuldigen Loyaliten gegenüber seinem Herrn kann er seiner Stadt nicht dienen. Das Amtieren im Gericht, das Schultheißen- und Schöffenamt also, war „als Mittel zum Aufbau persönlicher Machtpositionen" 107 wenig geeignet. Erfahrung war erwünscht, vor allem solange Recht noch mündlich tradiert wurde, doch hielt man wohl jeden Rechtsgenossen für urteilsfähig108. Das mag auch erklären, weshalb die Schöffen oft auf Lebenszeit bestellt wurden und das Gericht selbst sich durch Kooptation ergänzte. Das änderte sich dort, wo die Schöffen in die Funktion von Räten hineinwuchsen, wie in Flandern 109 , Schwe-
100 101 102 103
104 105
106 107 108
109
Vgl. H. RYFFEL, Landsgemeinden, 107. M. A. LADERO QUESADA, Ciudades en España, 191. H. KELLER, Wahlformen, 345. C H . WINDLER, R e f o r m a b s o l u t i m u s i n S p a n i e n , 8 4 . -
M . A . LADERO QUESADA, C i u d a d e s e n
España, 191. F. BATTENBERG, Dinggenossenschaftliche Wahlen, 2 9 0 - 2 9 8 . H. KELLER, Wahlformen, 345f. - Es kann zu extrem kurzen Amtszeiten von einem Monat kommen. - M. BOURIN-DERRUAU, Bas-Languedoc 1, 312ff. Zitiert bei F. BATTENBERG, Dinggenossenschaftliche Wahlen, 277. Ebd. In Franken kann auch in Abwesenheit eines Schöffen das Gericht gehegt werden. Falls der Angeklagte einverstanden ist, soll das Gericht „mit andern auß der gemeinde erfüllt und zu der zale gebracht werden". Ebd., 279. K. SCHULZ, Mitbestimmung, 327. - S. SCHMITT, Alzey, 121f.
6.3
149
Gemeinde, Räte und Gerichte - soziale Verstrebungen
d e n 1 1 0 oder Frankreich 1 1 1 . Dann lassen sich vermehrt Wahlen nachweisen. Wenn Richter (Urteiler) zu bestellen sind, empfiehlt es sich nach Auskunft einer Rechtsweisung aus Ingweiler im Elsaß, „daß man furziehen soll di erbersten und vernunftigsten, die do nit gesipt sien den richtern, die vor dem gericht sien, umb des willen, das das gericht von dem fremden und heymschen, riehen und armen an arckwenck und schuhung [Furcht, P.B.] dester baß vertragen blieben m ö g e n t " 1 1 2 . Im Verlauf der Frühneuzeit werden die aus dem Mittelalter überkommenen Gerichte zunehmend kommunal umgeformt oder verlieren ihre Kompetenzen an landesfurstliche und königliche Gerichte. Wo ersteres der Fall ist, unterscheiden sich die Bestellungsformen wenig von denen der Räte. Die Wahlmodalitäten sollten verhindern, daß Interessen vertreten werden, in den kurz bemessenen Amtszeiten drückt sich die Hoffnung aus, so die Verfestigung von Macht unterbinden zu können. Positiv gewendet sollen die Verfahren Gruppen, Korporationen und Nachbarschaften integrieren und dennoch die geeignetsten verfugbaren Kandidaten in die Amter bringen. Politik wird nach und nach von der Verwaltung getrennt, fiir letztere sorgen zunehmend professionelle Juristen, die sozusagen als Angestellte ihrer Korporation amtierten 1 1 3 . „Das Streben nach einem Amt, der Ämterehrgeiz, galt als verwerflich" nach der Interpretation von HAGEN KELLER1 1 4 , vielmehr sollten „alle Stände oder Gruppen, in die man die Gemeinde gliederte, [...] Anteil am Stadtregiment haben, im Wahlergebnis sollte das Ideal der Gemeinschaft seine Repräsentation finden". Gemessen wurden die Kandidaten daran, ob sie die Gerechtigkeit, den Frieden und das Wohl der Gemeinde fördern konnten 1 1 5 . Darauf wurden sie eidlich verpflichtet, wenn sie ihr Amt antraten. Deswegen bestellte man oft Leute der fuhrenden G r u p p e 1 1 6 . So korrelieren Reichtum und Amt anfangs selten, erst nachdem sich die unvermeidlichen Oligarchisierungen einstellten, änderte sich das. Auch suchte man viele zu integrieren, das regimen mune
117
plurium
ist das Ideal der Kom-
. Im 17. Jahrhundert haben in Schweden im Amt Njurunda die Hälfte der 100
Höfe einen oder mehrere Gerichtsschöffen gestellt 1 1 8 .
A. ST. CLAESSON, Häradshövidngeämbetet, 238. G. SAUPIN, Sociologie du corps de ville, 299f. 1 1 2 Zitiert bei F. BATTENBERG, Dinggenossenschaftliche Wahlen, 289. 1 1 3 G. A. BRUCKER, Florentine Politics, 59-67. 1 1 4 H. KELLER, Kommune, 587. 1 1 5 H. KELLER, Wahlformen, 349. - D. WALEY, Stadtstaaten, 63f. - M. BOURIN-DERRUAU, Bas-Languedoc 2, 338. 1 1 6 H. KELLER, Wahlformen, 349. - G. SAUPIN, Sociologie du corps de ville, 299f., hat die soziale Zusammensetzung der échevins untersucht. Seine Zahlen sprechen für eine starke Vertretung der mittleren Schichten. - Für das Land W. SCHMALE, Vorstellungswelt, 131. 1 1 7 Vgl. das breite Belegmaterial bei W. MAGER, Republik, 582-586. U 8 J . SUNDIN, Bandits, 154. 110 111
150 6.4
6
DIE ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
CON-IURATIO - LEGITIMATION DURCH VERSCHWÖRUNG
Gemeinden sind keine systemimmanenten Hervorbringungen von Herrschaft 119 . Vielmehr sind sie Neuschöpfungen aus dem Willen von Menschen, die in einem konkreten räumlichen Bezug leben. In reinster Form drückt sich der Voluntarismus in der Verschwörung aus. Dabei handelt es sich um individuell geleistete Eide, also um ein hohes Maß der Selbstbindung, zur Erreichung und Durchsetzung vereinbarter Zwecke. Dem Wort fehlt jede pejorative Konnotation, die ihm heutzutage eigen ist. Es ist vielmehr eine neutrale Bezeichnung wie Vereinigung auch, ja das verwandte Wort conspiratio drückt die mentale Übereinstimmung aus, auf der Gemeinden gründen. Nicht zufällig geht gelegentlich der coniuratio eine conspiratio voraus; die conspiratio ist die gelegentlich heimliche Feststellung der gemeinsamen Interessen, mit der coniuratio wird sie öffentlich gemacht und gemeinsam bekannt 120 . Die coniuratio erschöpft sich nicht in einem einmaligen Akt, sondern wiederholt sich. Je nachdem, was beschworen wird, kann eine Gemeinde evolutionär ihre autonomen und autokephalen Bereiche ausdehnen. Für die europäischen Städte belegt diesen Sachverhalt das durch Eid bestätigte 121 , von den Räten und Bürgerschaften geschaffene statutarische Recht, das Bestandteil des Stadtrechts wird und aus der Bürgerschaft eine moralische Person macht. Als in Zürich 1336 eine neue Verfassung geschaffen wurde, mußte sie von allen (männlichen) Einwohnern über 20 Jahren eidlich beschworen werden. Die Eidformel unterscheidet einen Gehorsamseid gegenüber den Amtsträgern, Bürgermeister und Rat, und einen Sicherungseid zur Gewährleistung der neuen Verfassung. „Ouch sol alle du gemeinde Zürich und sunderlich, swas von erbern burgern Zurich, so ein núwer rat ansitzet, swerren, dem burgermeister und dem rate gehorsam ze sinne und du gericht Zurich helfen ze schirmenne [...] und sol ouch den purgern in dem selben eide, so si swerren súln, geben werden umbe alle die bussen, die meister und rat erteilent, das man dar umbe behulfen sol sin in ze nemenne, ob ir meister und rat nicht gewaltig mochten sin, und ouch enkeine bussen ab zelassenne, so erteilet ist, wan mit gemeinem rate aller der bürgere, und súln ouch dar zu swerren, disen gegenwúrtigen brief und alle die artikel, so her an geschriben stant, stête ze haltenne mit guten trúwen, ane alle geverde" 122 . Das heißt, allen mit Bußen belegten Satzungen sollte durch die Unterstützung aller Bürger der Vollzug gesichert werden, und insofern Bußen die Folgen der Übertretung von Ratsgeboten und -verboten darstellen, geht es um deren Gewährleistung
119
120
121
122
Für den Mittelmeerraum schließt H y d e aus der lange schwankenden und wenig gefestigten Terminologie zur Bezeichnung der städtischen Institutionen, daß sie nicht auf stadtherrliche Stiftung oder G r ü n d u n g zurückgehen können. J . K. HYDE, Society, 54. D i e Zusammenhänge sind bislang k a u m untersucht, allerdings in der Abfolge von conspiratio und coniuratio fur die Schweiz, Schwaben u n d Österreich nachweisbar. Eine erste reflektierende Belegsammlung ist zusammengetragen unter dem Titel Rütlischwur und Bundesbrief: N e u e Perspektiven II, in: Der kleine B u n d (Kultur-Beilage zur Berner Zeitung „ D e r B u n d " ) 142 (1991), N r . 33. Als Bürgereid mit in der Regel jährlicher Erneuerung überall im kommunalen E u r o p a verbreitet. Für Frankreich R. DOUCET, France 1, 368f. - Für Deutschland E. ISENMANN, Stadt, 90ff. W . Schnyder, Quellen, 19f.
6.4
Con-iuratio - Legitimation durch Verschwörung
151
durch die Bürger. Durch den Eid auf diese Verfassung, sowie auf die bestehenden und künftig zu erlassenden Satzungen galt das Recht als geschützt. Wer sich dem nicht unterwerfen wollte, mußte von den „geschworenen" Bürgern angezeigt werden, wie es in einer Art Zusatzprotokoll zum Geschworenen Brief heißt: „Ouch sol iederman den andern leiden, der dîrre núwerunge nicht gehorsam wolte wesen". Wer die Verfassung und die Satzungen nicht einhält, gilt als „meineidig" „und sol sin burgrecht verlorn han und sol dar zu Zürich in die stat nie mer mere komen" 123 . In den lombardischen Stadtkommunen leisten die Bürger sich wechselseitig einen Eid (iuramentum de comuni) und den von ihnen bestellten Konsuln einen Gehorsamseid (iuramentum sequelae), der soweit reicht, wie der Verband ihnen Aufgaben übertragen hat, was die Konsuln bei der Amtsübernahme (breve consulum) bestätigen. „Die lombardische Stadtkommune war aufgebaut als Eidgenossenschaft"124. Was der Eid inhaltlich umfaßte, stand in den Statuten und war nach utilitaristischen Erwägungen veränderbar 125 . Auch dem Land ist diese Konstruktion nicht fremd 126 , wenn sie auch durch Quellen sehr viel schwerer zu belegen ist. Dennoch gibt es auch dort eine Gemeinde erst dann, wo eine Nachbarschaft sich verwillkürt. Eine solche Verwillkürung kann eidlich gestützt werden. Die Belege sind nicht häufig, aber sie sind erheblich zahlreicher, als bisher angenommen wurde. Relativ gut und früh belegt sind solche Vorgänge für den schweizerischen Raum. „Item so sond denn schweren unnser gemeinen landlütt liplich zu gott und den heiligen", heißt im Landrecht von Glarus eine Bestimmung, die auf die Zeit vor 1450 zurückgehen dürfte, „unnsers landes und unnser landlütten nutz und ere [ze fördern], zu zulaufFen frid uffnemmen und frid zegeben nach innhaltt dißes unsers Landesbuch und einem landt ammann, ratt und dem gericht gehorsam ze sind, auch yederman zu dem ratt ze geben die wisysten unnd die witzygosten als ver sich diß jedermann verstau [.,.]"127. Der Eid der Glarner, der Bauern also, denn eine Stadt fehlt in dieser Talschaft, schafft eine enge Verbindung unter den Landleuten, legitimiert das Landrecht (Landesbuch), verpflichtet zum Gehorsam gegenüber den von den Landleuten nach bestem Wissen bestimmten Amtsträgern (Ammann, Rat und Gericht). In Schwyz war jedermann „by sinem Eyde, so er einem Lanndtamman vnnd den Landtlütten zu Schwytz geschworen hatt" und „by dem Eyde, so er vnßerm Ζ Λ / J W [Hervorhebungen P.B.] geschworn hatt" 128 , verpflichtet, sich fur die Durchsetzung des Friedens einzusetzen. Der Eid wird somit dem Landamman, den Landleuten und dem Land geschworen. Das sind allerdings nur drei Ausformungen des gleichen und einen Eides insofern, als der Land-
123
Ebd., 23. - S. BURGHARTZ, Delinquenz in Zürich, 32.
124
G . DILCHER, S t a d t k o m m u n e , 1 9 0 f . - V g l . H . KELLER, M a i l a n d , 6 1 .
125
Für Italien insgesamt A. I. PINI, Comune città-stato, 74, und E. BESTA, Fonti, 533f. Ganz im Gegensatz zur herrschenden Forschung, die selbst in neuesten Lexika den Begriff ausschließlich auf die Stadt beziehen kann. Vgl. etwa EDITH ENNEN, Conjuratio, in: LdM 3, 135ff. F. Stucki, Rechtsquellen Glarus 2, 554. M. Kothing, Landbuch, 18,23.
126
127 128
152
6
D I E ARCHITEKTUR DER INSTITUTIONEN
ammann von der Gemeinde (Landleute) bestellt, und das Recht, durch das sich das Land konstituiert, von der Gemeinde auf dem Weg der Einung geschaffen wird. Unter dem Titel „Dis sint der von Bersikon, dero ab Öisten vnd Breitenmatt rechtung" (Nordschweiz) werden 1412 eine Gerichtsordnung und einige Bestimmungen über Weideund sonstige Nutzungsrechte beschrieben und beschlossen mit dem Satz, „Dis vorgeschribnen stuk hand die ab öisten gentzlich gelöppt an dem meyengericht, das da was in dem jar nach gottes gepurt MCCCCXij, hie by warent so es offenlich geofnet wart, vnd es des hofs recht ist ze den Siedeln, des erste Rudy inder hub [... 1 2 9 ]" 1 3 0 . In der Öffnung des nahen Einbrach von 1518 1 3 1 , wird mit Verweis auf die veränderten Bräuche und Sitten (im Sinne von usus als Recht) von allen Einwohnern „hinfiir zii hallten angenomen gelopt vnd versprochen" 1 3 2 , sich auf erneuerte Formen der Gerichtsbesetzung und des Gerichtsverfahrens einzulassen. Es ist nicht nur vom Recht des Stifts Embrach die Rede, sondern „item sy [die gemeind, P.B.] hannd ouch das recht vier dorffmeyer zii erkiesen, des dorffs vnnd gantzer gemeind sachen zii verwallten, die sollent den propst schweren als hienach volget. Item das sy wellten des bropst vnnd der stifft och des dorffs vnnd seiner gantzen gemeind nutz fiirdern vnd schadenn wenden" 133 . In den Dörfern des Amtes Alzey (Pfalz) war es üblich, die Volljährigkeit oder den Zuzug mit einem Bürgereid zu bekräftigen. Er fand eine interessante Ausgestaltung insofern, als er in zwei Akte zerfiel, in einen Huldigungseid gegenüber dem Pfalzgrafen bei Rhein als Landesherrn und in einen Eid gegenüber der Gemeinde. In den Gemeindeeid war die Verpflichtung eingearbeitet, ihr gehorsam zu sein, die dörflichen Gebote und Verbote einzuhalten, Schaden von der Gemeinde fernzuhalten und nur vor dem Dorfgericht Recht zu suchen 1 3 4 . Selbst unter den Untertaneneiden kann man noch kommunale coniurationes oder dem Gemeindeverband geleistete Eide herausgraben. „Item es werden schwören der gemain mann [... 1 3 5 ] im dorff einen aid leiplich zu gott und denn hailligen", heißt es in der Dorfordnung von Buxheim, „der herrschafft unnd iren geordneten amptleüttenn bottmessig unnd gehorsam zusein in allen zimblichen sachen, deß gotzhaws unndgemains flecken nutz [Hervorhebung, P.B.] und fromben auch derselben Recht und gerechtigkait zufördern und zu handthaben" 136 . Der Eid hat nicht nur wie der Huldigungseid legitimierenden Charakter für die Herrschaft, den Prior der Reichskartause Buxheim, sondern richtet sich auch auf
129 130 131 132 133 134 135
136
Es folgen weitere 11 Namen. J. Grimm, Weisthümer 1, 52. Ebd., 111-116. Ebd., 112. Ebd., 114. S. SCHMITT, Alzey, 258f. „auch söhn, knecht unnd wer zu seinen tagen kommen ist", heißt der weggelassene Zusatz, der einer relativ späten Zeitschicht entsprechen dürfte. Die Dorfgerichtsordnung von Buxheim vom Jahre 1553, in: Memminger Geschichtsblätter, Jahresheft 1 9 6 5 , 1 9 6 6 , 7 6 .
6.4
Con-iuratio - Legitimation durch Verschwörung
153
die Gemeinschaft (gemeines Flecken Nutz) und ist damit Konsentierung der zu diesem Zweck erlassenen dörflichen Statuten. Der Unterschied zwischen Glarus und Schwyz einerseits und Alzey und Buxheim andererseits ist, bezogen auf den Begriff Kommunalismus, unerheblich. Er besteht darin, daß sich über die kommunalen Strukturen im Westen des Reiches die Herrschaft eines Fürsten wölbt, im Süden nicht. Immer dort, wo die Gemeinde ihre Angelegenheiten reguliert, werden die Ordnungsmaßnahmen, die nicht Recht im herkömmlichen Sinn waren, durch Eid befestigt. Der terminus technicus dafür ist nicht zufällig Einung (conspirado). Daß das Gesetz als ordnungsstiftende Tätigkeit von Herrschaft ein prominenter Forschungsgegenstand für Juristen war und ist, der Eirtung137 hingegen nicht, obwohl die kommunale Satzungstätigkeit der herrschaftlichen vorausgeht und sie quantitiv zunächst weit übertrifft, zeigt, welche interpretatorische Reichweite im Kommunalismus-Konzept potentiell stecken kann. Die angeführten Beispiele aus dem ländlichen und städtischen Bereich wird man verallgemeinern dürfen, wenn sie sich auch nicht von Ort zu Ort, von Region zu Region und von Land zu Land empirisch nachweisen lassen. Eide sind für die französischen Städte breit belegt, und ihre Bedeutung wird durch die Beobachtung unterstrichen, daß die Verweigerung des Eides nicht nur zum Stadtverweis, sondern auch zur Exkommunikation fuhren konnte 138 . Die loi (lex), über die manches Dorf in Frankreich verfugt, dürfte auf eine coniuratio ihrer Einwohner zurückgehen 139 und manches dörfliche Gericht (maire und juge) mit seiner justice supplétive dürfte auf einer Verschwörung fußen 1 4 0 . Eide stiften und sichern die Statuten in italienischen Land- und Stadtgemeinden 141 .
137
Einung ist in den Quellen in der Regel männlich. Vgl. etwa M. Kothing, Landbuch, 9 , 11, 15.
138
A . VERMEESCH, Essai, 1 8 0 .
139
J . - P . GUTTON, S o c i é t é villageoise, 2 3 f . - V g l . M . - T H . LORCIN, R é g i o n l y o n n a i s e , 1 6 0 .
140
A . VERMEESCH, Essai, 1 8 1 .
141
Α. I. PINI, Comune città-stato, 76.
7
FRIEDE
Nach dem Selbstverständnis des Mittelalters mußte ein Rechtsanspruch nicht ausschließlich gerichtlich eingeklagt, er konnte auch gewaltsam mit Waffen erzwungen werden - die dafür geläufige Bezeichnung heißt Fehd¿. Es gab keinen Staat und damit auch kein Gewaltmonopol des Staates, selbst Königreiche waren weit davon entfernt, Umrisse zu zeigen, in denen man den späteren Rechtsstaat hätte vermuten können 2 . Das führte naturgemäß zu einer spürbaren Benachteiligung und hohen Gefährdung derjenigen, die ihre Rechtsansprüche nicht oder nur bedingt mit Waffengewalt vertreten konnten, sei es, daß sie nur mit minderen Waffen ausgerüstet waren, sei es, daß ihnen ihr Stand jedes Waffentragen überhaupt verbot. So wurde die Fehde ein adeliges Recht. Geführt wurde sie, nach vorgängiger formaler Ankündigung 3 , mit Raub, Brandstiftung und Mord - der Adelige schädigte seinen Gegner, der ja wiederum nur ein Adeliger sein konnte, indem er auch die Dörfer in dessen Herrschaft heimsuchte. Es waren folglich die Grundholden, die unter der Fehde besonders zu leiden hatten; deren Vieh wurde weggetrieben, deren Höfe wurden niedergebrannt, sie wurden erstochen, wenn sie sich wehrten. Von der Fehde waren die Städte dort betroffen, wo die führenden patrizischen Schichten adelig waren und auch ihre Besitzungen auf dem Land hatten. Fehden schlugen dann in die Stadt herein und kosteten die Bürger Leben und Vermögen. Die Fehde ist ein Recht des Adels, es gehört geradezu zu seinen angeborenen Standesprivilegien, was auch dazu führte, daß sich der Adel zäh und hartnäckig gegen die Beseitigung dieses Rechts gewehrt hat, je prekärer sein Lage wurde, desto heftiger. Der Raubritter prägt das populäre Bild vom spätmittelalterlichen Adeligen. Die Anwendung von physischer Gewalt zur Durchsetzung eines Rechtsanspruchs ist allerdings ein umfassenderes kulturelles Phänomen. Der adeligen Fehde am nächsten kommt
1
2
3
Die Einsicht verdankt man O. BRUNNER, Land, 1-110. - Eine umfassende Übersicht über Begriff und Sache Fehde bei R. His, Strafrecht 1, 263-296. Neuerdings hat G. DILCHER, Friede durch Recht, 206, nochmals die Rekonstruktion des mittelalterlichen Rechtsverständnisses durch Brunner aus der Sicht des Rechtshistorikers gewürdigt. „Mit Carl Schmitt", so Dilcher, „sieht Brunner das Freund-Feind-Verhältnis als Wesen des Politischen; wo sich dieses in einem sippenrechtlichen Freundschaftsbegriff und einem fehderechtlichen Begriff der Feindschaft, die den Herrscher nicht ausspart, ausprägt wie im Mittelalter, sei das Verhältnis von Macht und Recht, Politik und Verfassung grundsätzlich anders zu bestimmen". - Auf ganz andere Weise hat das Verhältnis von Macht und Recht G. ALGAZI, Herrengewalt, bestimmt. Er sieht namentlich in der Fehde ein Reproduktionsmittel des Adels zur Sicherung seiner traditionalen Macht gegenüber (ökonomisch) aufsteigenden gesellschaftlichen Gruppen (Bürger und Bauern) (ebd., 135-146). Damit wird Schutz und Schirm von der Ebene der Realität (der Politik und Verfassung) auf die der Ideologie (eines Herrenstandes) verschoben (ebd., 40—96), was die interpretatorische Weiterung zeitigt, Otto Brunners Mittelalterbild, das wesentlich auf dem Paradigmenpaar Schutz und Schirm und Rat und Hilfe als Verfassungsgrundsatz ruht, aus seinen Verankerungen lösen zu können. Der von Brunner als Rechtsbegriff beanspruchte Schirm wird durch die argumentativen Operationen Algazis zum Vorurteil eines an seine Zeit (Nationalsozialismus) gebundenen Wissenschaftlers (ebd., 97-127). Im Reich seit 1186 verlangt, vgl. R. His, Strafrecht 1,275 und J. GERNHUBER, Staat und Landfrieden, 35.
7.1
Gottesfrieden und Landfrieden
155
die Totschlagfehde, zu der jede Familie verpflichtet oder berechtigt war, wenn eines ihrer Mitglieder getötet worden war. Für sie gab es keine ständische Beschränkung. Auch mindere Formen der Gewalt, Messerstechereien, Raufereien und Schlägereien, wird man phänomenologisch im Umfeld der Fehde ansiedeln müssen4. Um 1500 ist die Fehde rechtstheoretisch und rechtspraktisch außer Kraft gesetzt und durch gerichtliche Verfahren substituiert, im Heiligen Römischen Reich, in Spanien, in Frankreich und in Skandinavien. In den historisch arbeitenden Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften herrscht die Auffassung, der Friede sei das Ergebnis der Gottesfrieden und Landfrieden des Hoch- und Spätmittelalters.
7.1
GOTTESFRIEDEN UND LANDFRIEDEN
Die Gottesfriedensbewegung setzt um die Jahrtausendwende ein, wird überlagert und schließlich seit dem 13. Jahrhundert abgelöst von der Landfriedensbewegung und mündet schließlich in die großen Reichslandfrieden aus, unter denen der fiir das Heilige Römische Reich deutscher Nation, geschlossen von Kaiser Maximilian I. und den Reichsständen auf dem Reichstag in Worms 1495, der prominenteste ist. Politische Macht hat sich immer ganz wesentlich dadurch legitimiert, daß sie den Frieden stiften und wahren konnte. Es ist unstrittig, daß in der Karolingerzeit als Erbe der germanisch-heidnischen und der antik-christlichen Auffassung von Ordnung die Friedewahrung wesentlich zum ministerium regis gehörte5. „Ut [...] pax et iustitia in omni generalitate populi nostri conservetur", gelobt König Ludwig der Fromme 825 6 . Mit der Auflösung des Reiches in nachkarolingischer Zeit nehmen Fehde, Blutrache und Gewalt offenbar in einem beängstigenden Maße wieder zu, und das bleibt so über Jahrhunderte7. Gottesfriedensbewegunjß bringt schon im Namen zum Ausdruck, daß es sich um Bemühungen der Kirche handelt, eine Grundnorm des Christentums, nämlich den Frieden, durchzusetzen. Weniger idealistische Interpretationen sehen in ihr ein massives politisches
5
6 7
8
Die Zusammnehänge werden in der Literatur selten betont. Vgl. hingegen J. GERNHUBER, Staat und Landfrieden, 32. R. KAISER, Selbsthilfe, 57.-Skeptisch hinsichdich der Wirkung FRANÇOIS-L. GANSHOF, La „paix" au très haut moyen âge, in: La paix 1, 397-413. R. KAISER, Selbsthilfe, 58. Beispiele zusammengestellt in der Aufsatzsammlung von Th. Head - R. Landes, Peace of God; dort besonders auch R. I. MOORE, Postscript [fiir das 10. und 11. Jahrhundert]. - TIMOTHY REUTER, Unruhestiftung, Fehde, Rebellion, Widerstand: Gewalt und Frieden in der Politik der Salierzeit, in: Stefan Weinfurter (Hg.), Die Salier und das Reich, 3. Bd., Sigmaringen 1991, 297-325, bes. 302-314 [für das 11. und 12. Jahrhundert] und O. BRUNNER, Land, 11-16, sowie G. ALGAZI, Gebrauch der Fehde, 39 -46, 52-61 [für das Spätmittelalter]. - Für systematische Gesichtspunkte vgl. TIMOTHY REUTER, Die Unsicherheit auf den Straßen im europäischen Früh- und Hochmittelalter: Täter, Opfer und ihre mittelalterlichen und modernen Betrachter, in: J. Fried, Instrumentarien des Friedens, 169-201. Allgemein H . HOFFMANN, Gottesfriede. - PH. CONTAMINE, Guerre, 4 3 3 - 4 4 6 .
156
7
FRIEDE
Interesse der Kirche, ihren Besitz und ihre Macht gegen die Begehrlichkeiten des Adels zu behaupten, ja zu diesem Zweck habe die Kirche geradezu eine „terreur divine" entfaltet9. Der Gottesfriede entstand aus zwei sachlich und terminologisch unterschiedenen Aktivitäten, der pax und der treuga. Pax (oder pax Dei) ist „die dauernde Befriedigung gewisser Personen, Orte und Sachen, also ein zeitlich unbeschränkter, in seinem persönlichen und sachlichen Geltungsbereich aber beschränkter Sonderfriede", folglich schützte die pax Kirchen, Klöster, Kleriker, Bauern und Frauen, kurz die „wehr- und waffenlosen Stände" vor der Fehde, die als Rechtsinstitut freilich damit keineswegs außer Kraft gesetzt wurde. Treuga (oder treuga Dei) hingegen war „die völlige Befriedung gewisser Zeiten" 10 . Dazu gehörten bevorzugt die hohen kirchlichen Feste, die Fastenzeiten und auch Heiligenfeste, während denen jede Fehdehandlung verboten war1 Erste Friedensbeschlüsse wurden auf Bischofssynoden in Aquitanien um 1000 gefaßt, unter denen die von Puy en Velay wegen ihrer Ausstrahlung einen prominenten Platz einnimmt. An ihr hatten neben Bischöfen auch weltliche Herren teilgenommen, ihre Beschlüsse wurden in mehreren Diözesen verkündet und zu deren Durchsetzung wurde „das versammelte Volk durch Eid auf sie verpflichtet"12. Von da an breitete sich die Bewegung zunächst über Burgund auch in nordfranzösisches Gebiet aus, erreicht aber schon um die Mitte des 11. Jahrhunderts Italien und Katalonien. Der französische Klerus bat 1040 auf einer in Marseille gehaltene Synode die Geistlichen Italiens, sich der treuga Dei anzuschließen und das hieß jetzt konkret, jede Fehdehandlung von Mittwoch abend bis Montag früh mit den Mitteln der Kirche, Bann und Interdikt, zu bekämpfen. Papst Urban II. sorgte dafür, daß der Gottesfriede „zu einer allgemeinen Institution der Christenheit" erhoben wurde13. Bekräftigt durch die Lateranzkonzilien von 1123, 1139 und 1179 wurden schließlich pax et treuga Dei in das Kirchenrecht, die Institutionen (cap. 1.X.1) und die Dekretalen Gregors IX., aufgenommen. Vor einer Überschätzung der Gottesfrieden warnen Mediävisten heute allerdings mit dem Hinweis, nicht pax, sondern militia sei der Schlüsselbegriff kirchlicher Reformbewegungen im 11. und 12. Jahrhundert gewesen14. Zu den Landfrieden ist der Übergang fließend. Früh traten neben den Bischöfen auch Grafen, Herzöge und Könige auf Synoden in Erscheinung. Somit überlagern sich Gottes-
9
R. I. MOORE, Postscript, 318ff. Moore faßt vor allem Urteile der jüngeren Gottesfriedensforschung zusammen, die damit einen älteren, als marxistisch denunzierten Ansatz (BERNHARD TÖPFER, Reliquienkult und Pilgerbewegung zur Zeit der Klosterreform im burgundisch-aquitanischen Gebiet, in: Hellmut Kretzschmar, V o m Mittelalter zur Neuzeit. Z u m 6 5 . Geburtstag von Heinrich Sprömberg, Berlin 1 9 5 6 , 4 2 0 - 4 3 9 ) bestätigen. V o n terreur spricht R. BONNAUD-DELAMARE, Paix en Aquitaine, 4 7 8 .
10
E. WOHLHAUPTER, Gottes- und Landfrieden in Spanien, 3 2 7 . - Vgl. H . HOFFMANN, Gottesfriede, 3f. Bei den hier vorgenommenen Definitionen handelt es sich um begriffliche Schärfungen und Zuspitzungen, die so der Zeit selbst nicht geläufig waren. Zur begrifflichen Vielfalt fur die gemeinten Zusammenhänge vgl. H . HOFFMANN, Gottesfriede, 4 . Für eine umfassendere Gesamtdarstellung R. BONNAUD-DELAMARE, Paix en Aquitaine.
11
12 13
14
E. WOHLHAUPTER, Gottes- und Landfrieden in Spanien, 3 3 0 . Ebd., 3 3 7 . - Gelegentlich werden die Friedensbestimmungen (vornehmlich auf Druck der Orden) auch in den Städten rechtlich positiviert, sind aber in der Regel nicht von Dauer: vgl. A. VAUCHEZ, Pacification en Lomardie, 115flf. R. I. MOORE, Postscript, 316FF. - O . G . OEXLE, Formen des Friedens, 82.
7.1
Gottesfrieden und Landfrieden
157
und Landfrieden. Die Friedensbemühungen König Roberts von Frankreich und der Herzöge von Aquitanien, die nach 1000 zu belegen sind, fußen ebenso auf Gottesfrieden, wie die von Kaiser Heinrich IV. gestifteten Landfrieden in Deutschland durch die Synoden von Lüttich 1082, Köln 1083, Goslar 1084 und Mainz 1085 vorbereitet wurden. Die Konstitutionen von 1064 fur den gesamten katalanischen Prinzipat nehmen ebenso Elemente der Gottesfrieden auf wie jene von Kastilien, Navarra und Valencia aus dem 13. Jahrhundert15. Schließlich schlössen öfter die weltlichen Herren allein einen Frieden. Im Unterschied zum Gottesfrieden kennt der Landfriede keine sachliche und personale Begrenzung - er schützt alle Menschen und deren Besitzungen, allerdings gilt er zunächst immer nur befristet, für die Zeit von einigen Monaten, höchstens Jahren. Kennzeichnend ist für ihn, daß die Herren, die sich in der Regel16 wechselseitig den Frieden schwören, ihn auch garantieren und die Fehdehandlungen durch Friedensgerichte ersetzen. Einen neuen Typus von Landfrieden stellt der Mainzer Friede von 1235 dar 17 . Der Gesamtkomplex der später sogenannten peinlichen Strafen, individuell verübter Raub, Totschlag und Notzucht, wird zur Aburteilung und Verfolgung den Landesherren, den Fürsten und schließlich auch den Städten überlassen und somit aus dem Fehderecht herausgenommen 18 . Die Aufmerksamkeit gilt jetzt nur mehr der in großem Stil geführten Fehde19. Doch bereitete es Schwierigkeiten, ihr Herr zu werden, weil das dazu eingerichtete Hofgericht nicht gut funktionierte. Es fehlte den Richtern an Autorität und Vollstreckungsmitteln. So schleppen sich im Heiligen Römischen Reich die hilflosen Bemühungen noch über mehr als 200 Jahre fort, bis 1495 mit dem ewigen Reichslandfrieden die Normen ihre Befestigung in Institutionen finden - seitdem wurden die Rechtsansprüche über ein Gericht (Reichskammergericht) gewährleistet und seine Urteile mit Hilfe aller Beteiligten (Reichskreise) exekutiert 20 . Gemeinsam ist Gottes- und Landfrieden, daß sie nicht wirklich Frieden (vera pax, Versöhnung, Versiihnung) in dem Sinn stiften, daß alle Gewalt dauerhaft und für immer ausgeschlossen wäre, sondern Waffenruhe (treuga), um Gewalt zu verhindern und die Versöhnung zu fördern21. Summarisch kann man die gesamte Gottes- und Landfriedensbewegung der Grundform der pax ordinata unterordnen22, was dazu geführt hat, den Anteil von Päpsten
15 16
E. WOHLHAUPTER, Gottes- und Landfrieden in Spanien, 409ff., 488^491. Die Friedensbewegung des Hochmittelalters verzichtet gelegentlich, vor allem im ostfränkischen Reich, auf den Eld. TH. KÖRNER, Iuramentum, 127-131 [zusammenfassend].
17
R. KAISER, Selbsthilfe, 6 9 .
18
ELMAR WADLE, Die peinliche Strafe als Instrument des Friedens, in: J. Fried, Instrumentarien des Friedens, 229-247, bes. 240. - W. SELLERT, Friedensprogramme, 462. - J. GERNHUBER, Staat und Landfrieden, 32, 43.
19
R. KAISER, Selbsthilfe, 69.
20
Zusammenfassend J. GERNHUBER, Staat und Landfriede, 34f„ 7 2 f f . - H . ANGERMEIER, Königtum, 533-555. G. DLLCHER, Friede durch Recht, 220. - H.-W. GOETZ, Gottesfriede und Gemeindebildung, 122f. - Die wenigen Ausnahmen fur nicht zeitlich befristet geschlossene Landfrieden verzeichnet J. GERNHUBER, Staat und Landfrieden, 40 [Anm. 1], 52. O. G. OEXLE, Formen des Friedens, 88f. Vgl. auch die Systematisierung bei H. ANGERMEIER, Königtum.
21
22
158
7
FRIEDE
und Bischöfen, Königen und Fürsten an der Herstellung des Friedens in Europa generell sehr hoch einzuschätzen23: Offenbar hat man ihn deutlich zu überschätzt24, wie sich zeigen wird. Von begrenzter intellektueller Stringenz sind auch die theoretischen Begründungen von Friede und Fehde. Obwohl das Kirchenrecht dauerhafte und generelle Verbindlichkeit beanspruchte, galten seine Friedensbestimmungen (Gotterfriede) nur fiir einen engeren Personenkreis und fiir begrenzte Zeiten des Kirchenjahrs. Das war systemwidrig in sich selbst, denn der in der treuga propagierte Wechsel von Friedenstagen und Kriegstagen ließ sich theologisch nicht begründen und hat folglich auch keine nennenswerte theoretische Durcharbeitung erfahren25. Ahnlich verhielt es sich mit dem Krieg, der sich als eigenständige Kategorie zumindest theoretisch von der Fehde löste und schon wegen seiner Schwere eine Begründung forderte 26 . Die Theorie des bellum iustum des Hochmittelalters forderte als unentbehrliche Legitimitätsgründe, daß er von einem mit rechter Macht (auctoritas) ausgestatteten Herrn (persona) zur Wiedergewinnung entfremdeten Landes oder zur Landesverteidigung (res) als letztes Mittel (causa) ohne Haß und Eroberungslust (animus) geführt werde27. Diese Definition, kondensiert aus Traktaten italienischer Juristen, mag zu analytischen Zwecken und zur Verständigung dienlich sein, von der Sache her trifft sie nicht, weil auch die Fehden von adeligen Familien geführt werden und damit eine praktische Unterscheidung zwischen Fehde und Krieg jedenfalls im Herrschaftsbereich der politischen Nachfolgegebilde der germanischen Stämme nichts erklärt. Es gibt im Gegenteil eine Reihe plausibler, von ARMIN WOLF aufgezeigter Sachverhalte und entwickelter Argumente fiir die Annahme, die Kriege des Spätmittelalters, und nicht nur sie, sondern auch die der frühen Neuzeit, seien nichts anderes als gigantische Fehden gewesen, die um strittige Erbfolgen unter den großen Dynastien in Europa gefiihrt worden seien. Schon JULIAN LUIS VRVES (1492-1540) hat das kaum anders gesehen, und das englische Parlament hat diese Sicht bestätigt (1649), wenn es in Flugschriften englisch, lateinisch, französisch und deutsch verbreiten ließ, dynastische Interessen der Könige seien fiir alle Bürgerkriege in Europa verantwortlich. Das Erbrecht zu verletzen
23
24 25 26 27
G . ÂQVIST, Frieden. D i e Arbeit insgesamt vertritt die These, Könige hätten die Frieden durchgesetzt. Ähnlich auch H . ANGERMEIER, Königtum (allerdings mit stärkerer Berücksichtigung des Einungsgedankens) und HERMANN CONRAD, Rechtsordnung und Friedensidee im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit, in: Alexander Hollerbach - Hans Maier (Hgg.), Christlicher Friede und Weltfriede, Geschichtliche Entwicklungen und Gegenwartsprobleme, Paderborn 1971, 9 - 3 4 . - ELMAR WADLE, Heinrich IV. und die deutsche Friedensbewegung, in: Josef Fleckenstein (Hg.), Inverstiturstreit und Reichsverfassung (Vorträge und Forschungen 17), Sigmaringen 1973, 1 4 1 - 1 7 3 . So schon angedeutet bei O . G. OEXLE, Verschwörung, 117FF. H . HOFFMANN, Gottesfriede, 2 5 0 . - K. ARNOLD, D e bono pacis. Entschieden so PH. CONTAMINE, Guerre, 4 3 5 . Ebd., 4 5 0 . - D i e Traktate summarisch zusammengestellt (unter Einbezug der frühen Neuzeit) bei G . HUBRECHT, Juste guerre. Hubrecht macht auch die theoretischen Schwächen in der Abgrenzung von Fehde und Krieg namhaft; ebd., 116.
7.1
Gottesfrieden u n d Landfrieden
159
ließ sich im subjektiven Rechtsbewußtsein einer Dynastie als eine fundamentale Naturrechtsverletzung und damit als hinreichender Fehdegrund interpretieren28. „Wurden die neuen Rechtsordnungen tatsächlich respektiert", fragt HARTMUT HOFFMANN. „Beweisen die immer neuen Proklamationen in Kirchen und auf Konzilien den Erfolg oder die Vergeblichkeit der Friedensbemühungen"? Hoffmann läßt die Frage fiir die Gottesfrieden unbeantwortet, immerhin glaubt er, sie stellen zu müssen. Für die Landfriedensbewegung entscheidet sie WOLFGANG SELLERT mit einem vorbehaltlosen Ja fiir deren Erfolglosigkeit29. Hinreichend gesichert ist, daß Könige, Magnaten und Adelige den Landfrieden nach Belieben schlössen oder sich ihm verweigerten und gegenüber den Gottesfrieden für sich Sonderbedingungen verlangten und die Friedenszeiten oft mißachteten. Unklar bleibt, ob die Friedensgerichte respektiert wurden und Bann und Interdikt als Strafmittel der Kirche Wirkungen zeitigten30. Unstreitig scheint zu sein, daß die Bauern (rustici), wofür man allgemeiner auch laboratores sagen könnte, eigentlich nicht im Zentrum der Friedensbewegung standen, sondern die Bedürfnisse der Herren nach einer angemessenen Versorgung mit Erzeugnissen der Landwirtschaft und des Handwerks. Bemerkenswert häufig wurden Gottesfrieden „im Gefolge von Hungersnöten beschlossen"31, also lediglich in Extremsituationen, wo möglicherweise auch die Versorgung der geistlichen Gemeinschaften und der adeligen Haushaltungen bedroht war. Schon für die von Bischof Guy de Le Puy nach Laprade-SaintGermain einberufene Kirchenversammlung ist namhaft gemacht worden, daß an einen besonderen Schutz der bäuerlichen Bevölkerung, gleichgültig ob es sich um Freie oder Eigenleute handelte, nicht gedacht war 32 . Äußerst detaillierte Untersuchungen der königlichen und bischöflichen Friedensgesetzgebung in Spanien zeigen, daß neben den Bauern gleichermaßen deren Häuser, Haustiere und Ernten einen besonderen Schutz genossen33, was sich dahingehend interpretieren läßt, den Fehdeberechtigten sei an Vieh und Ernte mindestens genausoviel gelegen wie an den Bauern 34 . Wo immer die Fehdeverbote entschärft wurden, etwa im katalanischen Landfrieden von 1202 3 5 , war das Land dann wieder der Verwüstung preisgegeben und nur der Ritter und sein Vieh einem besonderen Schutz unterstellt. Selten hebt die Forschung hervor, daß die Bevölkerung aus Gottes- und Landfrieden nicht den erhofften Nutzen zog, obwohl sie von den Bischöfen und Äbten mit großem rhe-
28
ARMIN WOLF, Prinzipien der Thronfolge in Europa um 1400. Vergleichende Beobachtungen zur Praxis des dynastischen Herrschaftssystems, in: Reinhard Schneider (Hg.), Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 32), Sigmaringen 1987, 2 3 3 - 2 7 8 ; fiir die Ausweitung auf die frühe Neuzeit ebd. 2 7 8 . - RAFAEL GIBERT, Lulio y Vives, sobre la paz, in: La paix 2, 1 2 5 - 1 6 9 . - A. SHARPE, English civil wars, 234f.
29
W . SELLERT, Friedensprogramme. - Ergänzend H . HOFFMANN, Gottesfriede, 2 4 4 . H . HOFFMANN, Gottesfriede, 245ff. H . - W . GOETZ, Gottesfriede und Gemeindebildung, 125.
30 31 32 33 34 35
R. I. MOORE, Postscript, 3 1 5 . E. WOHLHAUPTER, Gottes- und Landfrieden in Spanien, 3 4 0 f „ 3 8 9 , 4 0 8 . Vgl. L. VONES, Friedenssicherung, 4 5 9 . E. WOHLHAUPTER, Gottes- und Landfrieden, 4 0 9 .
160
7
FRIEDE
torischen und liturgischen Aufwand mobilisiert und zur Eidleistung getrieben wurde 36 . Als nicht intendierter Effekt lernte das Volk, sich zu organisieren. Immerhin wurde die These vertreten, daß „die Friedensbewegung zumindest indirekt die Entstehung der Communen" förderte37, was erklären könnte, daß in Südfrankreich die Bevölkerung bereits nach zwei Jahrzehnten wieder an den Rand der Bewegung gedrängt wurde38. GEORGES DUBY hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich mit den Gottesfrieden Gruppen herausbildeten, die clerici, die bei einer Dekonstruktion der friedenstiftenden Macht des Königs des Schutzes von milites bedurften, und die rustici, die durch die praktizierten Formen der gewaltsamen Rechtsdurchsetzung besonders geschädigt wurden. So verbindet sich die Gottesfriedensbewegung mit der Herausbildung der Stände oratores, bellatores und laboratore^. Wo das Schwert zum wichtigsten Produktionsmittel wird, konnten sich um Fehde, Krieg und Frieden möglicherweise sogar Klassen bilden. Das verweist auf eine zweite Grundform des Friedens - die pax iurata*0 oder, wie sie häufiger heißt, die coniuratio. Im Vergleich zur pax ordinata ist sie wenig untersucht41. Schon der Begriff der coniuratio bringt zum Ausdruck, daß hier ein Prozeß der Vergesellschaftung in der Eidleistung stattfindet, der Menschen zu Eidgenossen macht, und Eidgenossenschaften (coniurationes) haben immer den Zweck, Frieden zu stiften.
7.2
E I N E C O N I U R A T I O U M D E M V I E R W A L D S T Ä T T E R S E E - EIN M O D E L L IN E U R O P A
Die Bemühungen im Süden des Reiches, über Gottesfrieden und Landfrieden die Gewalt zu verbieten und durch gerichtliche Verfahren zu ersetzen, waren lange wenig erfolgreich. Namentlich soweit daran der Hochadel (Habsburger, Zähringer und Kyburger) beteiligt war, führte das zu keinerlei dauerhaften Lösungen, und auch die Städtebünde allein waren transitorische Institutionalisierungen des Friedens und zerfielen rasch42, was so verwunderlich nicht ist, wenn man in Erinnerung bringt, daß sie das Land zwischen den Städten ohne Mitwirkung des Adels und der Bauern nicht integrieren konnten. Je flächendeckender die Kommunalisierung, desto größer die Chance ftir die Pazifizierung. Der Beweis für diese Annahme läßt sich wegen einer besonders guten Quellenüberlieferung am besten und beispiel36
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38 39
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42
R. I. MOORE, Postscript, 3 0 8 - 3 1 9 . - R. LANDES, Limousin Peace of God, 186-190. - R. BONNAUD-DELAMARE, Paix en Aquitaine, 476, hält die Eide fur eher erzwungen, jedenfalls seien sie ohne Begeisterung geleistet worden. H . HOFFMANN, Gottesfriede, 248. - Einen Zusammenhang bestreitet H.-W. GOETZ, Gottesfriede und Gemeindebildung, 138f. R. LANDES, Limousin Peace of God, 195. GEORGES DUBY, Les laïcs et la paix de Dieu, in: DERS., Hommes et structures du moyen âge, Paris-La Haye 1973, 2 2 7 - 2 4 0 . - PH. CONTAMINE, Guerre, 434. - O . G . OEXLE, Formen des Friedens. - R. I. MOORE, Postscript, 316f. O . G. OEXLE, Formen des Friedens, 88. - DERS., Verschwörung, 115. Die falsche Fährte zur pax ordinata haben nach O . G . OEXLE, Verschwörung, 126f., bereits die Zeitgenossen (Bischöfe, Äbte und deren Chronisten) gelegt. Für den Raum der Innerschweiz vgl. H . C . PEYER, Entstehung, 179f. Allgemein H . ANGERMEIER, Königtum, 53-79 [die Friedensbewegung in der Eidgenossenschaft selbst wird nur gestreift].
7.2
Eine Coniuratio um den Vierwaldstättersee - ein Modell in Europa
161
haft fiir weniger weitreichende, aber parallele Vorgänge in Europa an einer Urkunde von 1291 fuhren, die einen Friedensprozeß am Vierwaldstättersee beschreibt.
7.2.1
Coniuratio, università! und Friede
Die Urkunde von 1291 hat wegen ihrer staatsbegründenden Funktion in der Historiographie und im politischen Bewußtsein der Schweiz Interpretationen über sich ergehen lassen müssen, die den Kern des Textes eher haben verdecken als freilegen helfen. Zunächst geschieht 1291 nichts anderes, als daß drei ländliche Gemeinden (universitas), nämlich Uri, Schwyz und Nidwaiden, den gewaltsamen Austrag von Rechtsansprüchen rigoros verbieten, solche vielmehr vor die Gerichte verweisen. Der sogenannte Bundesbriefumfa&t 13 Artikel, die kurz referiert werden43, um sie im systematischen Zusammenhang diskutieren zu können. Uri, Schwyz und Nidwaiden versprechen sich erstens gegenseitig Hilfe mit Leib und Gut gegen jede Art von Gewalt innerhalb und außerhalb der Täler, und zwar durch den militärischen Zuzug eines jeden Tales auf dessen eigene Kosten. „So hant sy zesament gelobt by guter trúw enander byzestande mit hilff, mit rät und mit jegklichem gunst, den personen und den gutern, inrent den tellren und usrent, mit gantzer macht, mit gantzem flis, wider all und wider sunderlich, die inen oder deheinen under inen dehein frevelheit, dehein Übels oder dehein scheltung in ir person oder in ir guter deheins Übels begerent ze tunde, und ouch under allen künftig beschicht"44. Diese Vereinbarung wird zweitens eidlich bekräftigt und damit gleichzeitig eine ältere Übereinkunft bestätigt und erneuert45. Der Bund wird drittens bestehende Herrschafts43
Die lateinische und deutsche Fassung nach Q W 1/1, 7 7 6 - 7 8 3 , Nr. 1681. Die Detaildiskussion erfordert hier den nochmaligen Abdruck der lateinischen Fassung. Die in den Text eingearbeiteten (und bei deutlicheren Abweichungen von der lateinischen Vorlage nochmals im Volltext gegebenen) deutschen Zitate entstammen der ersten deutschsprachigen Fassung aus dem Ende des 14. Jahrhunderts. Die Belege sind nachfolgend in den Anmerkungen 4 1 - 5 3 nicht mehr als Zitate gekennzeichnet. In nomine domini amen. Honestati consulitur et utilitati publice providetur, dum pacta quietis et pads statu debito solidantur.
44
^
Im namen gottes, amen. Der erberkeit wirt geraten und dem gemeinen nutz wirt versehen, so beschechen ding mit dem zimlichen beliben der ruw und des fridtz wirt gevestnet. Der Artikel vollständig: Noverint igitur universi, quod homines vallis Uranie universitasque vallis de Switz ac conmunitas hominum Intramontanorum Vallis Inferioris maliciam temporis attendentes, ut se et sua magis defendere valeant et in statu debito melius conservare, fide bona promiserunt invicem sibi assistere auxilio, Consilio quolibet ac favore, personis et rebus, infra valles et extra, toto posse, toto nisu contra omnes ac singulos, qui eos vel alicui de ipsis aliquam intulerint violenciam, molestiam aut iniuriam in personis et rebus malum quodlibet machinando. Die Eidleistung wird in diesem Artikel vorausgesetzt, so daß das in Artikel 2 genannte Gelöbnis wohl in eidlicher Form gegeben worden sein dürfte. Ac in omnem eventum quelibet universitas promisit alteri accurrere, cum necesse fuerit, ad succurrendum et in expensis propriis, prout opus fuerit, contra impetus malignorum resistere, iniurias vindicare, prestito super hiis corporaliter iuramento absque dolo servandis antiquam confederationis formam iuramento vallatam presentibus innovando.
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rechte unberührt lassen, er gilt folglich unter der Bedingung, „das ein jeklich mansch nach siner vermügent sim herren undertenig sulle sin und ouch dienen"46. Das Richteramt in den Tälern dürfen viertens nur Einheimische (Ingesessne und VatterUnder nennt sie die deutschsprachige Fassung) ausüben, es darf jedoch nicht durch eine Geldsumme oder aufgrund von diensdichen Abhängigkeiten erworben worden sein47. Streitigkeiten unter Eidgenossen werdenfiinftensdurch die einsichtigsten Männer beigelegt, und alle Eidgenossen (conspirati) sind gehalten, fur die Einhaltung der Entscheidungen mit zu sorgen48. Sechstens wird Mord nach gerichtlicher Untersuchung mit dem Tod gesühnt. Kann man eines Mörders nicht habhaft werden, wird ihm das Land verboten. Wer Mörder haust und hoft, wird aus der Rechtsgemeinschaft der Eidgenossen ausgeschlossen, aus den Tälern verbannt und kann nur mittels eines ausdrücklichen Beschlusses der coniurati in sein Land zurückkehren49. Brandstifter, siebtem, verlieren ihr Landrecht und dürfen wie Mörder von 46 47
49
Ita tarnen, quod quilibet homo iuxta sui nominis conditionem domino suo convenienter subesse teneatur et servire. Conmuni etiam Consilio et favore unanimi promisimus, statuimus ac ordinavimus, ut in vallibus prenotatis nullum iudicem, qui ipsum officium aliquo precio vel peccunia aliqualiter conparaverit vel qui noster incola vel conprovincialis non fuerit, aliquatenus accipiamus vel acceptemus. Si vero dissensio suborta Bescheche aber, das dehein fuerit inter aliquos conspirâtes, mishellung uffstunde prudenciores de conspiratis under deheinen zemengeaccedere debent ad sopiendam lùpten, darzu sùllent discordiam inter partes, prout die witzigosten und die bideripsis videbitur expedire, et besten von den zemengeswornen que pars illam respueret ordinagan ie niderlegende und tionem, alii contrarli deberent senfteklich ze bestellende fore conspirati. die mishellung under den teilen, nach dem als inen dunket ze richtende. Und weler teil die Ordnung und richtung versmachte, wider den sùllent die andern zemengesworne alle sin. Aber über alle ding so ist Super omnia autem inter ipsos under inen gesetzet: wer den extitit statutum, ut, qui alium andern böslich und än schuld fraudulenter et sine culpa trucize tod Schlacht, wirt der daverit, si deprehensus fuerit, begriffen, der sol sin leben vitam ammittat, nisi suam de verlieren, aid er muge von dicto maleficio valeat ostendere derselb[e]n bösen getat sin innocenciam, suis nefandis culunschult erzoigen, nach pis exigentibus, et si forsan dem als sin bösen schult das discesserit, nunquam remeare begerent, und kunt er villicht debet. Receptatores et defensores davon, so sol er niemerme wider prefati malefactoris a vallibus heim komen. Die uffenthalter segregandi sunt, donee a coniuund die beschirmet desselben ratis provide revocentur. bösen getetders siilent von den tellren geteilt sin als lang, untz das sy von den zemengeswornen fürsichteklich wider in geruffet werdent.
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Eine Coniuratio u m den Vierwaldstättersee - ein Modell in Europa
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den Landleuten nicht geschützt werden50. Räuber werden, achtens, mit der Konfiskation ihres Vermögens zur Wiedergutmachung des Schadens des Betroffenen bestraft51, doch Pfändungen dürfen, neuntens, nur mit Zustimmung des zuständigen Richters erfolgen52. Zehntens müssen alle den Entscheidungen der zuständigen Richter Folge leisten, nötigenfalls offenbar auch in Form der Mitwirkung im Gericht als Urteilet53. Wer sich elftens gegen einen Richterspruch auflehnt und wegen seiner Hartnäckigkeit einen der Eidgenossen schädigt, wird von sämtlichen Betroffenen zur Wiedergutmachung gezwungen54. Nochmals
50
Si quis vero quemquam de conspiratis die seu nocte silentio fraudulenter per incendium vastaverit, is nunquam haberi debet pro conprovinciali. Et si quis dictum malefactorem fovet et defendit infra valles, satisfactionem prestare debet dampnificato.
51
Ad hec si quis de coniuratis alium rebus spoliaverit vel dampnificaverit qualitercumque, si res nocentis infra valles possunt reperiri, servari debent ad procurandam secundum iusticiam lesls satisfactionem.
52
Insuper nullus capere debet pignus alterius, nisi sit manifeste debitor vel fideiussor, et hoc tantum fieri debet de licencia sui iudicis speciali. Preter hec quilibet obedire debet suo iudici et ipsum, si necesse fuerit, iudicem ostendere infra [vallem], sub quo parere potius debeat iuri.
54
Et si quis iudicio rebellis exstiterit ac de ipsius pertinatia quis de conspiratis dampniflijcatus fuerit, predictum contumacem ad prestandam satisfactionem iurati conpellere tenentur universi.
Beschehe aber, das keiner deheinen von den geswornen by tag oder by nacht mit der heimlichheit böslich mit dem fur wüstete, der sol niemerme gehebt werden ze wonende in den tellren, und wer ouch denselben iteltedingen uffenthalt oder beschirmt, der sol inrent den tellren dem schadhaftigen gnug tSn. Darzö were, das deheiner von den mitgeswornen den andern an sim g&te beroubete oder schaden machti, wie das zu kerne, mag man denne desselben g&t, der den schaden getan het, inrent den tellren vinden, das sol man behalten, untz das man schaffe, das dem, dem schad geschehen ist, gnug bescheche. Es ensol ouch keinr under ins den andern phenden, es sye denn offenlich gelt oder birg, und sol das ouch allein t&n mit sunderlichem urloub sins richters. Über das sol ein jegklicher gehorsam sin sinem richter und sol ouch denselben richter inrent dem tal erzoigen, under dem er dem rechten gehorsam wil sin, ob es notdürftig wirt. Und were ouch deheiner dem gericht widereffrig oder ungehorsam und von derselben ungehorsamkeit deheinr under ins den mitgeswornen geschadget wurden, denselben ungehorsamen sullen alle ander mitgeswornen twingen, das er gnug tuge.
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wird zwölftens und letztens unterstrichen, daß bei Fehden (krieg oder mishellung) unter den Eidgenossen zwingend die Rechtfertigung vor Gericht beziehungsweise die angebotene Sühne anzunehmen ist und alle Eidgenossen gehalten sind, nötigenfalls dem Urteilsspruch Geltung zu verschaffen55. Der Bund wird, so lautet die schließliche Legitimation, zum „gemeinen nutz" geschlossen, um „eweklich ze werende" 56 . Die Gesellschaft gibt sich durch freie, ungezwungene Willensakte aller beteiligten Menschen eine neue politische Form, deren Verfassung um den Frieden gebaut wird und als solche mittels Eidleistung und Ewigkeitsversprechen unaufkündbar ist. Die nur temporäre Gültigkeit herkömmlicher Landfrieden ist Vergangenheit. Die Kommune, die universitas in der Redeweise der Region, macht den Frieden zu ihrer Letztbegründung. Weiter zurück als zwei Generationen reichen die Kommunen nicht, die als rechtlich handlungsfähige Verbände unter dem Namen Landamann und die Landleute gemeinlich in den Urkunden auftreten 57 . Der Bundesbrief verfolgt nur eine Absicht: die Ausschaltung der Fehde. An ihre Stelle tritt einerseits der ausschließlich gerichtliche Austrag von Rechtsansprüchen innerhalb der drei Länder und andererseits der Krieg nach außen. Die konkret genannten Tatbestände sind Mord, Brandstiftung, Raub und Pfändung (Artikel 6-9). Brandstiftung und Raub, aber auch Mord gehören zu den geradezu klassischen Mit-
Si vero guerra vel discordia inter aliquos de conspiratis suborta fuerit, si pars una litigantium iusticie vel satisfactionis non curat recipere conplementum, reliquam defendere tenentur coniurati.
56
57
Bescheche ouch, das krieg oder mishellung under den mitgeswornen uffstundent und ein teil der selben mishellung nit wölte oder achttete ze nemen die volkomenheit des rechten und des gnugtuns, so siilent die mitgeswornen den andern teil beschirmen etc. Disen obgeschribn[en] gesetzSuprascriptis statutis pro den, umb ein gemeinen nutz conmuni utilitate salubriter heilklichen geordnet, mit ordinatis concedente domino in gottes verliehen eweklich ze perpetuum duraturis. In cuius werende. Und dirre getat facti evidentiam presens instruze einer warheit so ist mentum ad peti[ci]onem predicdis gegenwärtig torum confectum sigillorum instrument durch bette willen prefatarum trium universitatum der vorgen[an]t[en] liien et vallium est munimine roboragemacht und gesterket mit der tum. Actum anno domini warnung der ingesiglen der m° cc° I.xxxx0 primo incipiente egen[an]t[en] drin gemeinen mense Augusto. und tellren. Und beschechen in dem jar gottes, da man zalt zwSlffhundert núntzig und ein jar, am anvachend des manotz Ougste etc. Q W 1/1, 164, Nr. 349; 378, Nr. 825; 382ff„ Nr. 833 [fur Uri], Q W 1/1, 62Iff., Nr. 1358; 787f., Nr. 1689 [für Schwyz].
7.2
Eine Coniuratio u m den Vierwaldstättersee - ein Modell in Europa
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teln der Fehdefiihrung 58 . Die dem Raub nahestehende individuelle Pfändung war seit alters Bestandteil der Selbsthilfe und wurde häufig dann vorgenommen, wenn Feldschaden durch Tiere entstanden war, die auf fremdem Grund und Boden geweidet hatten' 9 . Die korrespondierenden Strafen sind Hinrichtung, Landesverweis, sowie totale oder partielle Güterkonfiskation; lediglich unklare Fälle müssen gerichtlich entschieden werden. Das ist so bei dem nicht erwiesenen Vorwurf des Mordes und bei dem Anspruch auf Pfändung. Generell aber gilt, daß Mord, Brand, Raub und Pfändung als Mittel der Durchsetzung von Rechtsansprüchen in den drei Ländern nicht mehr anerkannt werden. Gewalt als Mittel der Rechtsdurchsetzung wird ersetzt durch das Gericht als Mittel der Rechtsdurchsetzung, und zwar durchgängig und in allen Fällen. Naheliegenderweise beschäftigt sich der Bundesbrief ausfuhrlich mit der Rechtspflege und den Richtern (Artikel 4, 5, 10-12). Der dem zugrundeliegende gemeinsame Sinn ist, daß alle Auseinandersetzungen unter den Eidgenossen über alle nur denkbaren Rechtsansprüche, gleichgültig ob zivil- oder strafrechdichen Charakters, vor ein ordentliches Gericht gehören. Es geht offenbar um mehr als die Stillstellung des Fehdewesens, auch mindere Formen der Gewalt sollen präventiv im Blick auf eine mögliche Eskalation grundsätzlich ausgeschlossen sein. Deswegen müssen einerseits die an den Gerichten urteilenden oder ihnen Vorsitzenden Richter unabhängig und einheimisch sein, um sich unparteiisch und sachkundig im Sinne einer soliden Kenntnis des heimischen Rechts der Rechtspflege widmen zu können, was vor allem im Bereich des Privatrechts wichtig war. Andererseits werden wiederholt alle Eidgenossen und Landleute nachhaltig angehalten, den Entscheidungen der Gerichte Geltung zu verschaffen. Fehden wurden nicht nur innerhalb der Länder ausgetragen, sondern auch zwischen den Landleuten der Täler und Auswärtigen. Der zweite Artikel trägt diesem Sachverhalt Rechnung, indem er die drei Länder wechselseitig zur Hilfe verpflichtet. Der Text selbst spricht von einer Unterstützungspflicht der „universitates" beziehungsweise der „gemeint", nicht der Landleute oder der Eidgenossen. Diese Bestimmung dürfte sich gegen Angriffe von außen richten, weil innerörtliche Fehden durch den gerichtlichen Ausgleich ja ersetzt und zur Sicherung des gerichtlichen Urteils alle Landleute einer Gerichtsgemeinde verpflichtet worden waren. Die universitas, die Talschaft, die Gemeinde führt, falls nötig, den „Krieg". Der Bundesbrief unterscheidet somit zwischen Fehde und Krieg und folgt damit einer in Europa verbreiteten Distinktion im späteren Mittelalter. Technisch wird der Krieg durch die Schlacht entschieden, seine Träger sind nicht private Sippen wie bei der Fehde, sondern öffentliche politische Verbände, die späteren Staaten 60 . 58
"
60
Vgl. O. BRUNNER, U n d , 77-95. R. His, Strafrecht 2 , 7 5 f f , 173ff„ 348ff. Verfassungshistoriker und Rechtshistoriker vertreten heute die Auffassung, daß die Pfändung „Rachecharakter" hatte und „daher dem Bereich der Fehde zugeordnet werden" kann. Vgl. WOLFGANG SELLERT, Artikel Pfändung, Pfendnahme, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 3. Bd., Berlin 1984, Sp. 1693-1703. Die Zitate 1694. - O. BRUNNER, Land, 84. Vgl. auch R. His, Strafrecht 2, 233ff. - Gestützt auf schweizerisches Material (aber ohne Berücksichtigung des Bundesbriefes) betont den Zusammenhang mit Fehde und Landfrieden ALFRED NAEGELI, Das germanische Selbstpfándungsrecht in seiner historischen Entwicklung mit besonderer Rücksicht auf die Schweiz, Zürich 1876, bes. 33-36. Vgl. O. BRUNNER, Land, 39ff., von ihm unter namhaftiger Krieg behandelt. - Deutlicher, weil über das Mittelalter hinausreichend W . JANSSEN, Krieg, 567ff.
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Den Vereinbarungen von 1291 waren Fehden unvorstellbaren Ausmaßes vorausgegangen, durch welche die Region um den Vierwaldstättersee heftig erschüttert worden war. 7.2.2
Sippe und Fehde
Auf Bitten der Landleute von Uri schlichtete Rudolf von Habsburg 1257 eine Fehde zwischen den Geschlechtern Izeling und Gruoba 61 . Der konkrete Anlaß der Fehde läßt sich aus den Quellen nicht erschließen, vermutlich war von einem Mitglied der Sippen im Verlauf der Fehde auch ein Totschlag begangen worden 62 . Rudolf von Habsburg versöhnte die beiden Sippen und stellte damit den Frieden zwischen ihnen her. Zu seiner Sicherung beschworen je 20 Personen aus jeder Sippe die Sühne und bürgten auch mit ihrem Vermögen dafìir, daß die von Rudolf verhängte Buße von 120 Mark Silber im Falle eines Neuauflebens der Fehde entrichtet werde. Wer immer die „Sühne" bricht, „der ist meineide und ist in des babestes banne und ist in des riches achte und ist in des bischofes banne und ist erlös und ist re(..)chtlos, und sol man ab im richten als ab dem mordere, wand er ouch den mort getan hat" 63 . Weil der Friede von Izeling gebrochen wurde, verfugte Rudolf als Strafmaßnahme64, daß seine, vom Fraumünster Zürich ihm zu Lehen gegebenen Güter ihm entzogen und seine Häuser gewüstet, also niedergerissen werden65. Bei den beiden Sippen, um einige allgemeinere Überlegungen hier anzuschließen, handelt es sich offensichtlich um große und weitverzweigte Familienverbände. Soweit sich aus den Urkunden die Wohnorte der Sippenmitglieder erschließen lassen, deuten sie auf weitgestreute Besitzungen im Tal. Doch vermutlich ging der Radius der Familienangehörigen noch über das Tal selbst hinaus. Das legt der erste geschworene Friede in Luzem aus dem Jahr 1252 nahe 66 , mit dem wenige Jahre zuvor die Stadt Verwicklungen ihrer Bürger in solche Fehden zu verhindern suchte 67 . Neben allgemeinen Sicherungsartikeln für den Stadtfrieden werden auch besonders Fehden kriminalisiert. Blutrache unter Bürgern wird verboten, den Totschlag zu strafen steht vielmehr ausschließlich dem Gericht zu. Gegenüber Gästen und Ausbürgern darf Rache
61
62
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67
Q W 1/1, 377ff., Nr. 825. - Die Schreibung der Namen ist in der Literatur uneinheitlich; es wird hier durchgehend eine gleichbleibende Form verwendet. Vgl. A. RIGGENBACH, Marchenstreit, 47. - W. KOLLER, Fehde, 7f. - B. MEYER, Friede, 211. Die Vermutung basiert auf der Annahme, daß die genannten Sippen ständisch nicht nachweislich zum Adel zählen. Vgl. dagegen die Bemerkungen von WERNER MEYER, Siedlung und Alltag. Die mittelalterliche Innerschweiz aus der Sicht des Archäologen, in: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, 2. Bd., Ölten 1991,273. Q W 1/1, 3 7 8 f „ Nr. 825. Q W 1/1,382ÍF., Nr. 833. W. KOLLER, Fehde, 17. Q W 1/1, 2 9 6 - 3 9 3 , Nr. 667. Ergänzt um Artikel von 1289. Es liegen eine lateinische und zwei deutsche Fassungen vor. Die folgenden Belege werden nach einer der deutschen Fassungen zitiert. Q W 1/1, 3 0 0 f „ Nr. 667 [Art. 13]. - Die Argumente fiir den Zusammenhang dieser Textstelle mit der Fehde in Uri bei A. RIGGENBACH, Marchenstreit, 48f. - Zur personalen und räumlichen Reichweite dieser Fehdekreise vgl. auch GOTTFRIED BOESCH, Die große Urner Blutrache 1257/58. Der Izelin- und Gruobahandel, in: Der Geschichtsfreund 124 (1971), 2 1 5 - 2 2 4 .
7.2
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nicht praktiziert werden, jedenfalls nicht in der Stadt. Verwandtschaft indes verpflichtet noch zur Gefolgschaft bei Fehden, doch auch hier erfolgen spürbare Restriktionen. Nur Verwandte „innerhalb dem Sewe under den Waldlüten" 68 können eine solche Hilfe noch einfordern, und auch sie wird mit der Verpflichtung an jeden Bürger verknüpft, „das er daz urlige [Fehde, Krieg, P.B.] zerstöre und ze gute und ze sune bringe", mit anderen Worten den Frieden herstellen helfe. Sich sonst an irgendwelchen Fehden zu beteiligen führt zu Stadtverweis. An einer prinzipiellen Verpflichtung der Verwandten, ihren Familienmitgliedern tatkräftig zu helfen, läßt der Luzerner Text selbst keinen Zweifel. Man sieht daraus, wie durch die Izeling-Gruoba-Fehde eine ganze Region in Unruhe versetzt werden konnte. Und dies wohl auch deswegen, weil es sich um mächtige Geschlechterverbände handelte, nicht nur von ihrer Zahl her, sondern auch wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung. Die hohe Strafsumme von 120 Mark spricht fiir den Reichtum der Familien 69 . Offensichtlich litt das Land Uri stark unter dieser Fehde, denn anders wäre nicht zu erklären, weshalb die Urner selbst Graf Rudolf von Habsburg zu Hilfe gerufen haben 70 . Auf „der landlüte bette gemeinliche" wird der Graf tätig 71 , mit ihrer ausdrücklichen Zustimmung fällt er 1258 das Urteil 72 . Die interpretatorische Weiterung, die sich aus den Urner und Luzerner Textstellen ergibt, ist von größter Erheblichkeit. Kommunale Verbände treten an Bedeutung vor gentile Verbände. Die Fehde kommt gesellschaftlich in Mißkredit, und an ihre Stelle tritt folgerichtig der gerichtliche Austrag 73 . Es gibt eine zweite Ereigniskette, die sich im wesentlichen in Schwyz abspielte und gleichsam als Fehdefall im weitesten Sinne gelten muß. In der Nacht des Dreikönigstages im Jahr 1314 fielen Leute aus Schwyz in Einsiedeln ein, plünderten das Kloster und verschleppten die Mönche nach Schwyz, wo sie elf Wochen gefangengehalten wurden 74 . Die Ereignisse vom 6. Januar 1314 und ihre Vorgeschichte sind für mittelalterliche Verhältnisse einmalig gut dokumentiert. Für den Überfall selbst verfugt man über den in Gedichtform gehaltenen Augenzeugenbericht Rudolfs von Radegg, der, wie seine Titel „doctor", „rector puerorum" und „scholasticus" zeigen, die Einsiedler Klosterschule leitete. Er hat die Vor-
68
Q W l / l , 3 0 0 f . [Art. 13].
69
S O W . KOLLER, Fehde, 15.
70
W. KOLLER, Fehde, 16, betont stark die gegenüber dem Land wichtigere Rolle Rudolfs (vgl. dazu QW 1/1, 378 Anm. 2, Nr. 825). QW 1/1, 378, Nr. 825. Rudolf von Habsburg urteilt „cum consensu et conniventia universitatis vallis Uraniae". QW 1/1, 383, Nr. 833. Vgl. W. KOLLER, Fehde, 95. - Vgl. hingegen F. HOLDENER, Strafverfahren im alten Lande Schwyz, 60ff., und R. His, Strafrecht 1, 295f. mit Hinweisen auf das Fortleben der Rache der Sippe bei Totschlag. Der Vorgang selbst wird in allen gesamtschweizerischen Darstellungen behandelt. Detailliert bei L. WLRTH, Vorspiel, A. RIGGENBACH, Marchenstreit, sowie P. J. BRÄNDLI, Schwyz. Zuletzt unter Betonung der beiderseits berechtigten Ansprüche THEODOR BÜHLER, Rechtsentwicklungen aus Regalien im Zusammenhang mit der Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, in: K. Kroeschell, Festschrift Thieme, 141-155. Der durch das QW gut erschlossene Vorgang wird hier anhand des Quellenmaterials aufbereitet.
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gänge von der Erstürmung des Klosters bis zur Entlassung der Mönche aus der Schwyzer Gefangenschaft miterlebt und wohl noch im gleichen Jahr seinen Bericht geschrieben75. Scharen von Schwyzern „verheeren das Haus" 7 6 , „unsere Bücher, Kleider und Betten tragen von dannen Sie und anderes mehr, was nur gebraucht werden kann". Die Kirche wird mit der Axt aufgebrochen, „die zerstreuten Hostien stampfen mit Füssen sie". Und so wird in Form einer Litanei über Seiten hinweg das Wüten der Schwyzer beschrieben. Augenzeugenschaft garantiert selbstverständlich noch keine historische Objektivität, doch läßt sich begründet kaum daran zweifeln, daß die Ereignisse als solche von Rudolf von Radegg korrekt wiedergegeben wurden 77 . Der Klostersturm hat eine lange Vorgeschichte, die kurz aufgerollt werden muß, um die eigendichen Fehdehandlungen in den knapp 10 Jahren vor 1314 besser verstehen zu können 78 . Heinrich II. hatte 1018 Einsiedeln den um das Kloster gelegenen Forst verliehen79. Hundert Jahre nach der Schenkung setzten die Streitigkeiten zwischen dem Kloster und Schwyz um die Nutzung des Forstes ein. Immer wieder mußten die Könige und Vögte schlichtend eingreifen, so 1114 80 , 1143 81 und 1217 82 . Die Konflikte gründeten in einer prinzipiell schwer lösbaren Rechtsunsicherheit, die darin bestand, daß königliche Forstverleihungen einen Obereigentumsanspruch stifteten83, der aber herkömmliche Nutzungsrechte Dritter nicht prinzipiell ausschloß. In dem Maße, wie die Ressourcen an Land knapper wurden, mußte es wegen solcher sich überlagernder Rechtsansprüche zu prinzipiellen Auseinandersetzungen kommen. Ein klassischer Fehdefall liegt im Vorgehen von Rudolf und Heinrich von Rapperswil vor, die als Vögte des Klosters Einsiedeln dessen Rechtsansprüche wahrzunehmen hatten und sie gegenüber den Schwyzern in Form einer dreijährigen Fehde zwischen 1214 und 1217 verfolgten. Als „rechte vogt und schirmer [...] desselben gotzhuses" machten sie „sich uf mit aller macht und branden hùtten und gedmer, und was uf den gutern gebuwen was, und triben und furton dannan, was si funden von vihe und von geschirre, und die ins
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Zur Biographie L. WIRTH, Vorspiel, 4 2 - 4 8 . Der folgende Text nach der Übersetzung von Franz Uhr, die von L. WIRTH, Vorspiel, 4 9 - 1 1 1 wiedergegeben wird. Das lateinische Original ist ediert in Q W 3/4, 161-224; dort 2 2 6 - 2 6 7 eine neue deutsche Übersetzung. L. WIRTH, Vorspiel, 9 2 - 9 5 ; für die entsprechende lateinische Fassung: Q W 3/4, 186-189. In der Literatur wird die Authentizität des Berichts im allgemeinen hoch eingeschätzt. Vgl. L. WIRTH, Vorspiel, 46ff. - A. RIGGENBACH, Marchenstreit, 56. - P. J. BRÄNDLI, Schwyz, 239f. - Für die historische Genauigkeit spricht auch die sachlich richtige Wiedergabe von Orts- und Personenangaben (vgl. Q W 1/2, 351, Nr. 699)· Ein indirekter Beweis mag auch sein, daß Bauern offensichtlich Klostmtürme immer in dieser oder ähnlicher Form durchgeführt haben. Vgl. als Parallelbeispiel die Einnahme des Klosters Weissenau in Oberschwaben im Bauernkrieg 1525. Günther Franz - Werner Fleischhauer (Hgg.), Jacob Murers Weissenauer Chronik des Bauernkriegs von 1525, Sigmaringen 1977. Vgl. A. RIGGENBACH, Marchenstreit, 7 1 - 8 9 . Q W 1/1,31f., Nr. 64. - Für die Stellung Einsiedeins im Reichsverband generell H. KELLER, Einsiedeln. Q W 1 / 1 , 4 8 f f „ Nr. 104 Q W 1/1, 5 9 - 6 2 , Nr. 130. Q W 1 / 1 , 1 1 8 - 1 2 2 , Nr. 252. Die Urkunde von 1018 ist dementsprechend auch sehr formelhaft gehalten. In den bezeichneten Grenzen wird dem Kloster vom König „alles" übergeben, „cum omni militate rerum, hoc est alpibus, silvis, vallibus, paludibus, planiciebus, gratis, pascuis, aquis aquarumve decursibus, piscationibus, venationibus, viis et inviis, cultis et incultis, exitibus et reditibus, quaesitis et inquirendis [...]". Q W 1/1, 32, Nr. 64.
7.2
Eine Coniuratio um den Vierwaldstättersee - ein Modell in Europa
169
weren wolten, der erslugens ein teil, ein teil verwundentons, und wert der krieg drú jar [,..]" 84 . Der Rechtsanspruch wird von Seiten der Einsiedler Vögte mit dem Niederbrennen der Hütten, dem Wegtreiben des Viehs und dem Erschlagen von Bauern verfochten. Rund hundert Jahre später wiederholen sich ähnliche Vorgänge. Jetzt sind es die Schwyzer, die den aggressiven Teil darstellen. In einem 1311 vom Kloster erstellten Klagerodel85 werden die von den Schwyzern angewendeten Fehdepraktiken sehr plastisch und detailliert beschrieben. In 46 Artikeln klagen „min herren der apt und der convent", „das die landútte van Swiz (und) van Steina giengen uf Iten Kamrerinen guetter ze Bennowe und ir da namen ir kùeian und ir vich und triben das in dac lant ze Swiz vrevenlich an gericht und an recht". Mit 200 Mann ziehen sie nach „Vinsterse und slugen do dem gotshus einen man, hies Vinster". Dreihundert kamen schließlich „uffen Fürswande und slügen aber dem gotshus einen man, hies Jacob van Hasendal". Häuser der Einsiedler werden aufgebrochen, ihr Vieh wird weggetrieben 86 . Die wenigen Belegbeispiele aus dem umfangreichen Klagerodel zeigen, daß die Schwyzer die gleichen Praktiken anwenden, die hundert Jahre zuvor die Herren von Rapperswil angewendet hatten. Vieh wird weggetrieben, Hütten werden verwüstet, Menschen umgebracht. Es sind die klassischen Mittel der Fehdefuhrung, mit denen sich die Kontrahenten bekämpfen87. Die Izeling-Gruoba-Fehde und der Marchenstreit Einsiedeln-Schwyz sind lediglich zwei besonders spektakuläre und relativ gut dokumentierte Fehdefälle im Gebiet um den Vierwaldtstättersee. Um strittige Erbschaftsansprüche entwickelte sich 1313 eine gewaltsame Fehde zwischen Glarner und Urner Familien 88 , die schließlich beide Länder in starke Mitleidenschaft gezogen hat. Parallele Vorgänge zum Marchenstreit Einsiedeln-Schwyz fanden zwischen 1275 und 1309 um Alpnutzungsrechte zwischen dem Kloster Engelberg und den Urnern statt 89 . Auch hier wurden die konkurrierenden Rechtsansprüche mit Brandstiftung und schwerem Raub verfochten90. Weitere Fälle ließen sich anfuhren 91 . Der Zusammenschluß der Länder und Talschaften um den Vierwaldstättersee, die Befriedung der einzelnen universitäres und der civitates wie Luzern findet deswegen einen so 84 85 86 87
88
Q W 1/1, 119, Nr. 252. QW 1/2, 281-291, Nr. 579. QW 1/2,284f„ Nr. 579. HANS GEORG WACKERNAGEL, Die Freiheitskämpfe der alten Schweiz in volkskundlicher Beleuchtung, in: DERS., Altes Volkstum der Schweiz. Gesammelte Schriften zur historischen Volkskunde, Basel 1956, 7—29 [hier 26], nennt diese Vorgänge „Heimsuchung". Vgl. auch H. C. PEYER, Verfassungsgeschichte, 188f. ÄGIDIUS TSCHUDI, Chronicon Helveticum (Quellen zur Schweizer Geschichte, NF Abteilung 1, Chroniken 7), Bd. la, Bern 1968, 513.
89
A. RIGGENBACH, Marchenstreit, 38f.
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QW 1/2, 229, Nr. 468. Es herrscht in der Forschung Einstimmigkeit darüber, daß Fehden in der Schweiz sehr häufig waren. H. C. PEYER, Verfassungsgeschichte, 188f. - RICHARD WOLFRAM, Studien zur älteren Schweizer Volkskultur. Mythos, Sozialordnung, Brauchbewußtsein (Sitzungsberichte der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 362), Wien 1980, 80. - Belegmaterial und weitere Literatur auch bei LEO ZEHNDER, Volkskundliches in der älteren Schweizer Chronik (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft fiir Volkskunde 60), Basel 1976,428—434. — Ein tieferreichender Fehdefall könnte sich auch hinter der Vereinbarung zwischen Wernher von Homberg und den Landleuten von Schwyz von
91
170
7
FRIEDE
starken Niederschlag in den Quellen, weil die Formen der Fehde und der fehdeähnlichen Gewalt von der Gesellschaft nicht mehr ertragen wurden. Der Tod von Menschen einerseits und der perennierende Verlust von Sachwerten in Form von Vieh und Häusern andererseits, waren offenbar nicht länger hinnehmbar. Die Institution, die den Frieden schafft, indem sie das Gericht gegen die Fehde durchsetzt, ist die Talgemeinde oder die Stadtgemeinde. Kein Bischof und kein Abt, kein Kaiser und kein Fürst haben an dieser Friedensbewegung Anteil. Gottesfrieden und Landfrieden
sind um den Vierwaldstättersee nicht die Paten eines umfas-
senden, dauerhaften, politischen Friedens, der offensichtlich von einer großen Faszination gewesen sein muß. Denn in der Fluchtlinie der coniuratio von 1291 liegt der Bund der sogenannten Achtörtigen
7.2.3
Eidgenossenschaft.
Die Faszination des organisierten Friedens
Das 1291 zwischen den drei Ländern Uri, Schwyz und Unterwaiden 1291 gestiftete Friedensbündnis ist 1315 bekräftigt worden, unmittelbar nach der Schlacht bei Morgarten vom 15. November. Es ist die erste große militärische Auseinandersetzung zwischen der Innerschweiz und Habsburg als letzte Konsequenz der permanenten Fehdehandlungen der Schwyzer gegen das Kloster Einsiedeln, das die Habsburger als dessen Vögte zu schützen hatten. Nur wenige Tage nach der Schlacht erneuerten die drei Länder ihr eidliches Verbündnis von 1291. Der Ewige Bund der drei Waldstätte von 1315 ist zuallererst eine Bestätigung der Vereinbarungen von 1291. Insoweit stehen das Fehdeverbot und der gerichtliche Austrag von jedweden Konflikten, die individuelle und kommunale Unterstützung der einheimischen Richter und der geordnete Rechtsaustrag im Mittelpunkt. Modifikationen und Präzisierungen erfuhren zwei Themenkomplexe: der Umgang mit auswärtigen Herren und die Friedenssicherung im Falle von ernsthaften Konflikten zwischen den Ländern selbst. Zwar sollen die Rechte auswärtiger Herren respektiert werden, wie der Text von 1315 die Verfügungen von 1291 eindeutig bestätigt, doch wird vorwegnehmend bestimmt, „daz sich unser lender enkeines noch unser enkeiner beherren sol oder dekeinen herren nemen ane der ander willen und an ir rat" 9 2 . Beherren und Herren nehmen hieß, sich in herrschaftliche, vogteiliche, vielleicht sogar leibherrliche und grundherrliche Abhängigkeiten begeben, was die Autonomie der Länder gefährden mußte. Deshalb bedurften solche Vorhaben der ausdrücklichen Zustimmung der drei Bündnispartner. Es soll „der lender enkeines noch der eitgenoze enkeiner dekeinen eit oder dekein Sicherheit zu dien uzeren tun ane der anderen lender
92
1318 verbergen: Q W 1/2,483f., Nr. 9 4 8 . - Vor 1303 wurde eine Fehdezwischen Schwyz und dem Kloster Schännis ausgetragen ( Q W 1/2, 174, Nr. 352). - Fehdeähnliche Handlungen finden 1352 zwischen Schwyz und dem Kloster Frauental statt. Vgl. EUGEN GRUBER, Die Beziehungen zwischen Zug und Schwyz im 14. und 15. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 53 (1959), 7 - 2 8 , hier 12. - Für weitere Fehdefalle im engeren Umkreis der Innerschweiz Belege bei EMANUEL PETER LA ROCHE, Das Interregnum und die Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Geist und Werk der Zeiten 30), Bern 1971, 226ff. Der Text Q W 1/2,412, Nr. 8 0 7 . Ausfuhrliche Inhaltsangaben bei BRUNO MEYER, Die ältesten eidgenössischen Bünde. Neue Untersuchungen über die Anfange der schweizerischen Eidgenossenschaft, Erlenbach-Zürich 1938, 9 5 - 1 2 2 . Zum Namen des Bundes H . Nabholz - P. Kläui, Quellenbuch, 5.
7.2
Eine Coniuratio um den Vierwaldstättersee - ein Modell in Europa
171
oder eitgenozen rat" 93 . Es geht nicht in erster Linie darum, gerichts-, grund- und leibherrliche Rechte, von denen 1291 noch ausdrücklich die Rede ist, zurückzudrängen, vielmehr geht es darum, eine Ausweitung adeliger und kirchlicher Rechte zu verhindern, eine Rrfeudalisierung auszuschließen94. Daraus erklären sich auch die scharfen Strafandrohungen gegen jene, die solche Bestimmungen übertreten sollten; sie werden wie Mörder behandelt: „Were och jeman, der der lender dekeins verriete older hingebe oder der vorgeschribenen dingen dekeins breche oder ubergienge, der sol trúwlos und meinede sin, und sol sin lip und sin gut dien lendern gevallen sin" 9 5 . Für den Fall, daß zwischen zwei Ländern Spannungen entstünden oder Krieg zu befürchten wäre, wird verfugt, daß jeweils das unbeteiligte dritte Land verpflichtet sein soll, jener Partei zu helfen, die sich auf den rechtlichen Ausgleich eingelassen hat 96 . Damit hatten - das Funktionieren der verfassungsrechtlichen Bestimmungen vorausgesetzt - die drei bäuerlichen Talschaften und Gemeinden ein wegweisendes Modell fur eine dauerhafte Friedenssicherung innerhalb von universitäres, zwischen universitäres und von universitäres gegen außen geschaffen. Seine werbende Kraft kommt in nichts deudicher zum Ausdruck als der Tatsache, daß sich bedeutende Reichsstädte wie Zürich und Bern diesem Bündnissystem schließlich anschlössen. Den Auftakt zur Erweiterung machte Luzern 1332, das in den Jahren zwischen 1328 und 1330 seinen Stadtfrieden aus dem 13. Jahrhundert unter den Bürgern stark befestigt hatte, mit einer deutlichen Stoßrichtung gegen die Habsburger als Stadtherren. „Wan es in dem land jetz zwivellich und wunderlich gat und unser herschaft von Ósterrich, von der wir hilf und rat han solten, in dem land jetz bi uns nùt ist" 97 , verschwören sich die Luzerner zu einer auf fünf Jahre befristeten Einung. Als verschworene Bürgerschaft gehen die Luzerner ein Bündnis mit den drei Waldstätten ein 98 . Der materiale Gehalt des Bündnisses unterscheidet sich wenig von seinen Vorbildern von 1291 und 1315. Zwar wird das Fehdeproblem als solches nicht mehr breit mit Artikeln über Mord, Brandstiftung, Raub und Pfändung verhandelt, doch es ist in Kurzform in einem Artikel über todeswürdige Vergehen enthalten 99 . Wer als Friedbrecher in Luzern oder Schwyz, Uri und Unterwaiden durch das Gericht verschrieen
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97 98 99
Q W 1/2, 413, Nr. 807. So erklärt sich auch Artikel 5 (nach der Zählung in Q W 1/2, Nr. 807), der Verhandlungen mit auswärtigen Herren ohne eine ausdrückliche Autorisierung durch die Eidgenossen untersagt. Q W 1/2,413, Nr. 807. „Wurde öch dekein stoz oder dikein krieg zwischen dien lendern und ir eines von dem andern weder minne noch recht nemen wolde, so sol daz dritte lant daz gehorsame schirmen und minnen und rechtes beholfen sin". Q W 1/2,414, Nr. 807. - In der Forschung ist strittig, ob eine solche Bestimmung implizit schon im Bundesbrief von 1291 enthalten ist. Die Argumente sind zusammengestellt in Q W 1/1, 780, Nr. 1681, vor allem Anm. 11 und die dortigen weiterführenden Hinweise. Q W 1/2,691, Nr. 1414. Q W 1/2, 800-811, Nr. 1638. Abweichende Interpretationen bei H. C. PEYER, Verfassungsgeschichte, 27. - Für einen detaillierten Vergleich des Inhalts mit den vorgängigen Bünden und den Schwureinungen der Stadt Luzern vgl. FRITZ GLAUSER, Luzern und die Herrschaft Österreich 1326-1336. Ein Beitrag zur Entstehung des Luzerner Bundes von 1332, in: Luzern und die Eidgenossenschaft. Festschrift zum Jubiläum „Luzern 650 Jahre im Bund", Luzern 1982, 90-100.
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7
FRIEDE
worden ist, muß im Geltungsbereich des Bundes von allen verfolgt werden 100 . Die übrigen Bestimmungen von 1315 sind zumindest sinngemäß übernommen. Die Friedenspolitik ländlicher und städtischer Korporationen erreichte nach 1350 eine neue Qualität. Am 1. Mai 1351 1 0 1 ging die Stadt Zürich mit den vier Waldstätten Uri, Schwyz, Unterwaiden und Luzern ein Bündnis ein, am 4. Juni 1352 1 0 2 verbündete sich Glarus mit Zürich und den drei Waldstätten (also unter Ausschluß von Luzern), am 27. Juni 1352 1 0 3 vereinigten sich Stadt und Amt Zug mit Zürich und den vier Waldstätten und schließlich schloß am 6. März 1353 1 0 4 Bern einen ewigen Bund mit den drei Waldstätten. Die in rascher Folge abgeschlossenen Bündnisse sind in ihrem materialen Gehalt sehr ähnlich 1 0 5 . Die inhaltlich weitreichenden Übereinstimmungen erlauben es, das für die Zukunft Wichtige und Innovatorische am Beispiel des Zürcher Bundes darzustellen 106 . Bereits der erste und damit an prominenter Stelle stehende Artikel steckt einen Bezirk ab, in dem alle Bundes- und Eidgenossen zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet werden, falls jemand sie an Leib und Gut, Ehre oder Freiheiten gewaltsam kränken sollte: Er beginnt an der Grimsel, folgt dem Lauf der Aare bis zu deren Mündung in den Rhein, zieht den Rhein aufwärts bis zur Einmündung der Thür, geht der Thür nach bis zu ihrem Ursprung, läuft über die Churfirsten zum Gotthard und von dort zum Ausgangspunkt, der Grimsel. Der hier abgesteckte Bezirk ist ein Friedensbezirk. Damit steht der Friede im Zentrum des Bundes 1 0 7 und folglich auch aller zeitgleich geschlossenen Bünde. Welches Landoder welche Stadt eidlich versichern, in ihren Besitz- oder Rechtsbeständen verletzt worden zu sein, haben einen Anspruch auf den militärischen Zuzug der übrigen Länder und Städte. Das ist Rechtsgut schon des Bundesbriefs von 1291, und insoweit steht auch der Zürcher Bund eindeutig in der Kontinuität des Dreiländerbündnisses. Neu sind einerseits die betonte und explizite Territorialisierung des Friedens mittels einer Grenzbeschreibung und andererseits die Organisationsformen, mit denen der Friede gesichert wird. Sollte ein „gezoge", ein Kriegszug, oder ein „gesesse", eine Belagerung, notwendig werden, kommen die Städte und Länder „ze tagen", um die geeignete Strategie zu beraten 108 . Gleiches findet auch statt, wenn die Bedro„Were ouch, das der eidgenossen deheiner hynnanhin den Üb verwurkte, als verr, das er von seinem gerichte darumb verschruwen wurde, wa das dem andern gerichte gelandet wirt mit des landes offnen brieffe und ingesigel oder der statt ze Lutzern, so sol man ouch den da verschryen in dem selben rechte, als ouch er dort verschruwen ist, und wer den darnach wüssenküch huset aid hofet, aid essen aid trinken git, der sol in den selben schulden sin äne des einen, das es im nit an den üb gän sol, äne alle geverde". Zitiert nach der Ausfertigung Luzern. Q W 1/2, 808, 810, Nr. 1638. 1 0 1 Q W 1/3,1,600-618, Nr. 942. 1 0 2 Q W 1/3,1, 658-677, Nr. 989. 103 Q W 1 / 3 > 1 ) 682-700, Nr. 995. Auch Eugen Gruber, Die Rechtsquellen des Kantons Zug, 1. Bd., Aarau 1971, 197-203, Nr. 348. 104 Q w 1 / 3 > 1 ) 742-763, Nr. 1037. 1 0 5 H. C. PEYER, Verfässungsgeschichte, 28. — Für die Zusammenhänge im Detail und die politischen Hintergründe vgl. B. MEYER, Zürcherbund, 1-35. 1 0 6 Für eine Gesamtdarstellung H. C. PEYER, Verfassungsgeschichte, 27—30. - Die Abhängigkeit von anderen Bünden diskutiert B. MEYER, Zürcherbund, 19. 1 0 7 Wie im Luzerner Bund werden Mord, Brandstiftung, Raub und Pfändung nicht mehr eigens erwähnt; sie sind aber im Artikel über todeswürdige Vergehen enthalten; Q W 1/3,1, 611, Nr. 942 [Art. 11]. 108 Q W i / 3 i i j 607, 609, Nr. 942. Zitiert nach Ausfertigung Zürich. So auch die nachfolgenden Belege. 100
7.2
Eine Coniuratio um den Vierwaldstättersee - ein Modell in Europa
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hung nicht von außen kommt, sondern der Friede durch Spannungen zwischen den Orten selbst bedroht ist. „Were ouch, das wir, die vorgenanten von Zurich, stoss oder misshellung gwunnen gemeinlich mit dien vorgenanten unsern eidgnossen von Lutzern, von Ure, von Swytz und von Underwalden [...], darumb sullen wir ze tagen komen zu dem vorgenanten gotzhus ze den Einsideln". Dort werden von jeder Partei „zwen erber man" bestimmt, „die sach und die stoss unverzogenlich uszerichtene ze mynnen oder ze dem rechten; und wie es die vier oder der merteil under inen dann usrichtent, das sullen wir ze beiden syten stet han, an alle geverde"109. Mittels Schiedsgerichten werden Fehden präventiv verhindert und Konflikte beigelegt. . Beratung über militärische Angelegenheiten und Rechtsstreitigkeiten finden am selben Ort statt, beide verbindet im „ze tage komen", dem naheliegenderweise das „ze tage setzen" vorausgehen mußte, ein gleicher Formalismus. Die Tagsatzung als eine Art parlamentarischer Formation eines republikanisch organisierten politischen Verbandes tritt in ihren ersten Umrissen in das Licht der Geschichte. Friede und Recht haben eine wechselseitige Entsprechung, wie sich am Zürcher Bund nochmals glänzend belegen läßt. Nicht allein durch physische Gewalt wird friedliches Zusammenleben bedroht, auch gerichtliche Ansprüche von außen können störend in einem Friedensbereich wirksam werden. Der Zürcher Bund hat dementsprechend, symmetrisch zur Achtung jeder Gewalt, die Wirksamkeit fremder Gerichte erheblich geschwächt. „Es sol ouch kein leye den andern, so in dirre buntnisse sind, umb kein geltschuld uff geistlich gericht laden, wan jederman sol von dem andern recht nemen an den Stetten und in dem gericht, da der ansprechig dann seshafft ist und hingehöret, und sol man ouch dem da unverzogenlich richten uff den eide, an all geverde"110. Der Artikel verbietet allen Laien, das geistliche Gericht wegen Schuldforderungen in Anspruch zu nehmen, vielmehr wird fur solche Fälle der Wohnort des Beklagten der ordentliche Gerichtsstand. Diese Bestimmung richtet sich eindeutig gegen das geistliche Gericht des Bischofs von Konstanz und damit gegen ein fremdes Gericht. Die Friedensbündnisse bleiben prinzipiell in die Zukunft offen in dem Sinn, daß sie, wo Gemeinnutz und Notdurft das sinnvoll erscheinen lassen, in ihrem materialen Gehalt verändert werden können 11 Kaum zwei Jahrzehnte später ist von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht worden. Zürich, Luzern, Zug, Uri, Schwyz und Unterwaiden erließen im sogenannten Pfaffenbriefvon 1370 eine „Ordenung vnd gesetzten"112. Jetzt nämlich ist von einem „Land" die Rede, fur das die Bestimmungen des Pfaffenbriefs gelten sollen. Erstmals spricht eine Urkunde nicht nur von Eidgenossen, sondern von der „Eydgnosschaft". Das sich allmählich bildende neue politische System fußt nicht mehr nur auf Bünden relativ auto109 Q W 110 111 112
1 / 3 1) 6 0 9 ; 611> N r
942
QW 1/3,1, 611, Nr. 942. QW 1/3,1,617, Nr. 942. EA 1, 301-303, Nr. 31. Zitiert wird nach der besseren Edition von H. Nabholz-P. Kläui, Quellenbuch, 33—36. Die staatsrechtliche Forschung der Schweiz gibt diesem Dokument eine enorme Bedeutung, indem sie es als ersten „Verfassungsbrief' von den älteren „Bundesbriefen" abgrenzt. Vgl. JOHANN JAKOB SCHOLLENBERGER, Das Bundesstaatsrecht der Schweiz. Geschichte und System, Berlin 21920, 10.
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FRIEDE
nomer Länder und Städte, es wird zur eigenen Rechtspersönlichkeit, zu einem Abstraktum Eidgenossenschaft, zu einem Land. Von Land spricht das Mittelalter gerne im Sinne eines Rechtsraums 113 . In der Tat wird mit dem Pfaffenbrief die Rechtseinheit befördert und die rechtliche Integrität des Landes Eidgenossenschaft gesteigert 114 . Die Fremden werden unter Kontrolle gebracht. An vorderster Stelle die „Pfaffen", weswegen das Dokument auch seinen Namen Pfaffenbrief erhalten hat. „Waz och pfaffen in unser Eydgnosschaft, in Stetten oder in lendern, wonhaft sint, die nicht burger, landútt noch eydgnossen sint, die sülent kein fremdes gericht, geisdichs noch weltliche, suchen noch triben gen nieman, so in disen vorgenanten Stetten und lendern sint, wan si sülent von iechlichem recht namen an den Stetten und vor dem richter, da er gesessen ist, es wer dann umb ein e oder umb geisdich sachen, an all geverd" 115 . Den Geistlichen wird damit verboten, ihr zuständiges Gericht, das geistliche Gericht des Bischofs von Konstanz, anzurufen, ausgenommen in Ehesachen und geisdichen Angelegenheiten im engeren Sinn. Wer sich diesen Bedingungen nicht beugt, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und als Friedbrecher behandelt 1 1 6 . Die Städte und Länder wollen - das wird durch die Schärfe der Strafen deutlich genug ausgedrückt - fremdes Recht aus dem Gebiet der Eidgenossenschaft fernhalten. Dazu hatten sie schon in den Bundesbriefen der 1350er Jahre ihren Miteidgenossen verboten, in zivilrechtlichen Fällen auswärtige Gerichte anzurufen. Jetzt werden auch vorbeugende Maßnahmen fur den Fall ergriffen, daß jemand sein Burg- oder Landrecht aufgibt, das heißt aus dem Gebiet der Schweiz wegzieht, und damit auch in verstärktem Maße die Möglichkeit erhält, sich anderer Gerichte zu bedienen. „Wer aber, daz ieman in disen vorgenanten Stetten und lendern sin burgrecht oder sin lantrecht uffgab und darnach ieman under uns mit fromden gerichten, geistlichen oder weltlichen, ufftrib und schad goty, der sol doch niemer mer wider in die selben statt oder in daz land komen, e daz er den angesprochen gentzlich abgeleitt allen schaden, den er von des fremden gerichtes wegen genomen hatt, an all geverd" 117 . In diesem Zusammenhang kann man auch den ersten Artikel des Pfaffenbriefs verstehen, der den Lehens- und Diensdeuten der Habsburger das eidliche Versprechen abverlangt, die Eidgenossenschaft schützen zu helfen. Das entspricht dem Geist der Bundesbriefe der 1350er Jahre, die den Bünden unter den innerschweizerischen Städten und Orten eindeutig
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O . BRUNNER, Land, 182. Vgl. H . C. PEYER, Verfassungsgeschichte, 32.
H. Nabholz - P. Kläui, Quellenbuch, 33f. „Welcher pfaff aber do wider tut, da sol dix statt oder daz land, do der selb ρ faff wonhaft ist, verhüten und versorgen mit aller ir gemeind, daz dem selben pfaffen nieman essen noch trinken gib, huse noch hofe, gen im mit k8ff noch verkäff noch kein ander gemeinsamy mit im hab, an geverd; und sol üch der selb pfaff in niemans schirm sin {iiser stett noch lender, alle die wil u n a er von dien fr&mden gerichten latt und 8ch abgeleit den schaden, den der angesprochen genomen hatt von der fr&mden gerichten wegen, an all geverd". Ebd., 34. Ebd., 34.
7.3
Die kommunale Coniuratio und die Befriedung Europas
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Vorrang vor allen anderen Bünden und Verpflichtungen siehern 118 . Auf vielfache Weise wird so die Rechtseinheit des Landes - immer unter Respektierung der lokalen, kommunalen, städtischen Rechtsgewohnheiten - befestigt. In praxi können fremde Gerichte nicht mehr im räumlichen Geltungsbereich des Pfaffenbriefs tätig werden. Das schließt natürlich auch die Anwendung fremden Rechts aus. Der Grundgedanke der coniuratio hatte seine letzte Ausformung gefunden, und unwillkürlich erinnert man sich einer Beschreibung des Kanonisten Stephan von Tournai, der von Eidgenossen gesagt hatte, sie würden sich „untereinander wie die Schuppen eines Fisches verbinden, damit nicht der kleinste Lufthauch eindringen könne" 1 1 9 . Mit dem Pfaffenbrief (und mit dem ihn geringfügig ergänzenden „Sempacherbrief' von 1393 1 2 0 ) schließt ein Stück Schweizer Geschichte. Aus dem Länderbund von Uri, Schwyz und Nidwaiden war die achtörtige „Eitgenoschaft" 121 von Zürich, Luzern, Bern, Zug, Uri, Schwyz, Unterwaiden und Glarus geworden. Nichts anderes als das Bedürfnis nach Frieden hatte diese Entwicklung bewirkt.
7.3
D I E KOMMUNALE C O N I U R A T I O U N D DIE B E F R I E D U N G EUROPAS
Es liegt angesichts der Art der Arbeit der Bauern und Bürger nahe, daß sie daran interessiert waren, unter einem dauerhaften Frieden zu leben. Es gibt keinen einsichtigen Grund, weshalb das in anderen Ländern Europas anders gewesen sein sollte, als um den Vierwaldstättersee. Falls aber das Friedensbedürfnis in gleicher Weise überall dort gegeben war, wo sich die Bauern und Bürger kommunal organisiert und ihre Arbeit individuell-genossenschaftlich ausgestaltet hatten, dann mußte schon allein aufgrund der numerischen Stärke des Standes der laboratores von ihnen ein enormer Druck auf die Herren ausgehen, Fehden und Kriege einzustellen. Liest man die Quellen geschärft durch diese Fragestellung, erhält die Friedensbewegung europaweit ein anderes Ansehen. Unter solchen Perspektiven gewinnt auch die immer wieder leidenschaftlich bekämpfte These vom inneren Zusammenhang von Gemeindebildung und Friedenssicherung, die zunächst für Frankreich entwickelt wurde, eine höhere Plausibilität. Zwar gilt angesichts einer wenig gefestigten Terminologie von pax, coniuratio und semantisch benachbarten Wör-
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„Wer mit husr&chi mit sin selbers lip oder mit sinem gesind sitzen und wonhaft sin wil in dejfeinen disen vorgenanten Stetten und lendern, er si pfaff oder ley, edel oder unedel, die der herzogen von Österrich rat oder dienst gelopt oder gesworn hand, die alle sülent ¿ich loben und sweren unser der vorgenanten Stetten und lendern nutz und ere ze furdern und mit guten trüwen ze warnen vor allem dem schaden, so si vernement, daz dien vorgenanten Stetten oder lendern gemeinlich oder sunderlich dekeine wis bristen oder schaden bringen mScht, und sol si da vor kein ander eyd, den si ieman getan hand oder noch titin, η ir schirmen, an all geverd". Ebd., 33. Zitiert bei O. G. OEXLE, Verschwörung, 125. Die neueste Würdigung von BERNHARD STETTLER, Der Sempacher Brief von 1 3 9 3 - e i n verkanntes Dokument aus der älteren Schweizergeschichte, in: Schweizerische Zeitschrift fur Geschichte 35 (1985), 1-20. H. Nabholz - P. Kläui, Quellenbuch, 36.
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FRIEDE
tern als zweifelhaft, ob die Bildung von Gemeinden, namentlich die Stadtgemeinde, als Akt der Verschwörung mit dem Frieden in Verbindung gebracht werden darf 122 , doch scheint prominenten Kennern des Krieges eine solche Verknüpfung nicht abwegig. Die Gottesfrieden erforderten zur Durchsetzung die Aufstellung von Milizen, was nach dem Urteil von PHILIPPE CONTAMINE „die Emanzipation der Kommunen förderte"123. Für Italien 124 und das Reich 125 ist auf den Zusammenhang von Kommunebewegung und Friedensbewegung gelegentlich hingewiesen worden. Daß die Menschen ihre Sicherheit selbst zu organisieren begannen, war schon die Überzeugung von MARC BLOCH126. Was sich dafür an Argumenten beibringen läßt, soll, um nicht voreilig generalisierende Kontextualisierungen vorzunehmen, länderweise für Spanien (1), Frankreich (2), Italien (3) und Skandinavien (4) gezeigt werden. (1) Die königliche Curia von Tarragona in Katalonien beschloß 1235, zur Überwachung und Sicherung des geschaffenen Landfriedens seien in Städten und Dörfern zwei probi homines und ein Kleriker zu bestellen127. Offenbar war der Friede ohne kommunale Unterstützung gar nicht herzustellen. Naheliegenderweise nahmen die Kommunen, wo sie konnten, die Organisation des Landfriedens selbst in die Hand, zumal, bedingt durch das geltende Recht in Stadt und Land, „ja die Idee des Stadt- und Genossenschaftsfriedens lebendig war" 128 . Nahezu zeitgleich schlössen sich 1226 in Aragon die Städte Zaragoza, Huesca und Jaca zusammen und verpflichteten alle Bewohner über sieben Jahre, den Frieden eidlich zu beschwören. 1260 versammelten sich in Zaragoza die dortigen Jurados mit den Prokuratoren der Städte Huesca, Jaca, Barbastro, Calatayud, Teruel, Daroca, Tarazona und beschlossen, eine Hermandad zu. bilden, eine paramilitärische Organisation zur Sicherung des Friedens. Auch in der Gebirgsgegend, also auf dem Land, wurde eine Hermandad zur Bekämpfung des Verbrecherwesens und der Fehde auf fünf Jahre beschworen. Nicht nur Aragon, sondern auch Kastilien ist reich an solchen Bildungen129. Oft handelt es sich um spontan entstandene Gruppen, die man heute skurril nennen würde. Bienenzüchter und Armbruster von Toledo, Talavera und Villareal schufen eine Hermandad zur Verteidigung gegen landschädliche Elemente. Im allgemeinen bildete eine Hermandad besondere Gerichtsorgane aus und in den sogenannten qtutdrilleros eine Polizeitruppe, die nach summarischen Verfahren die Verbrecher ihrer Strafe zuführte130. 122 Vgl. H . - W . GOETZ, Gottesfriede und Gemeindebildung. 123 124 125
12fi
127 128 129
130
PH. CONTAMINE, Guerre, 4 3 6 . - Vgl. auch R. BONNAUD-DELAMARE, Paix en Auqitaine, 4 7 4 - 4 8 7 . G . DILCHER, Stadtkommune. Ansätze bei R. His, Strafrecht 1, 2 0 - 3 6 . - E. ISENMANN, Stadt, 74f. - D . WILLOWEIT, Vertragen, Rügen, Klagen, bes. 223f. Die Belege bei PH. CONTAMINE, Guerre, 4 3 6 Anm. 2. - Hingegen gilt in der älteren Forschung „das V o l k " noch ganz als „Objekt" der Friedensbewegung, das allenfalls zur Durchsetzung herangezogen wurde. So J . GERNHUBER, Staat und Landfrieden, 4 0 . E. WOHLHAUPTER, Gottes- und Landfrieden, 4 2 0 . Ebd., 4 8 8 . Vgl. L. VONES, Friedenssicherung, 4 6 5 , 4 6 7 . Ein neuerer Überblick, stark die königlichen Initiativen betonend und Wohlhaupter ergänzend bei L. VONES, Friedenssicherung, 4 4 1 - 4 8 7 . E. WOHLHAUPTER, Gottes- und Landfrieden, 4 9 8 .
7.3
D i e k o m m u n a l e C o n i u r a t i o u n d die B e f r i e d u n g Europas
177
In wechselnden Konstellationen verbündeten sich städtische und ländliche Gegenden in Spanien, bis endlich 1476 anläßlich der Versammlung der Stände (cortes) die lokalen und regionalen Frieden nationalisiertvnirden. Die Versammlung von 1476 in Madrigal ist das spanische Gegenstück zu Worms 1495. Die Santa Hermandad hat sich allerdings der König zunutze gemacht, indem er sie seit 1486 kontrollierte und instrumentalisierte131. An ihrer Spitze stand jetzt ein Consejo de la Hermandad, ein Rat mit gerichtlichen Kompetenzen, dessen Mitglieder der König ernannte. Man kann diese Institution ein Bundesgericht nennen, das durch eine Art Bundestag in Form der Junta Generaide la Hermandad institutionell ergänzt wurde, der jährlich zur Beratung von Organisationsproblemen abgehalten und von Vertretern aller Städte und von Dörfern beschickt wurde 132 . Allein die Zusammensetzung des Gremiums belegt, daß der fiir Spanien insgesamt schließlich ausgangs des 15. Jahrhunderts erreichte Friede eine starke kommunale Grundlage aufweist. Das bestätigt auch der Umstand, daß die institutionelle Festigung des Friedens als Forderung in Form eines Gravamens von den Städten auf den Cortes- Versammlungen eingebracht worden war 133 . Ziel war die Sicherheit der Straßen und Wege, der Städte und Dörfer, die jetzt längst nicht mehr allein durch den Adel bedroht wurden, sondern durch allerlei Banditen und Wegelagerer. (2) Auch in Frankreich wurde ein genereller Friede nicht viel früher erreicht, auch dort bleibt der Anteil des Königs eher bescheiden, obschon sein politisches Interesse unbestreitbar ist. Erst im frühen 15. Jahrhundert gelingt es, das Fehderecht des Adels formell aufeuheben 134 , obwohl derartige Bemühungen schon mit Ludwig VII. 1155 einsetzten, als der König einen Reichsfrieden (toti regnopacem) fur 10 Jahre verfugte 135 . Das Königsgericht zog in Frankreich zwar immer mehr Fehdefalle an sich, doch war die Monarchie noch um 1500 trotz institutioneller Verbesserungen durch die Einrichtung der procureurs île roi von einer wirklichen Durchsetzung eines umfassenden Friedens ein gutes Stück entfernt 136 , ja die adeligen Fehden pflanzten sich, wie aus den cahiers de doléances des Agenais aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert hervorgeht, regional weit in die Neuzeit hinein fort 137 . Insoweit mag das Urteil von PHILIPPE CONTAMINE zutreffen, daß die Friedensbewegung weniger der Verdrängung der Gewalt dienen sollte als vielmehr der Monopolisierung der Gewalt zugunsten des Königs 138 .
131 132
133 134 135 136 137
138
Ebd., 491. Prägnanter, knapper Überblick bei HORST PLETSCHMANN, Von der G r ü n d u n g der spanischen Monarchie bis zum Ausgang des Ancien Régime, in: Walther L. Bernecker - Horst Pietschmann (Hgg.), Geschichte Spaniens. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart-Berlin-Köln 1993, 47ff. Vgl. L. VONES, Friedenssicherung, 4 4 6 , 4 6 0 , 4 6 2 , 4 6 6 . R. KAISER, Selbsthilfe, 69. Ebd., 69. PHILIPPE CONTAMINE, Artikel Landfrieden, in: L d M 5, Sp. 1659. G. Tholin, Cahiers d'Agenais, 44 [Art. 93]: „ O f t ergeben sich Streitigkeiten unter den Adeligen, sei es wegen ihrer Güter oder unter einem anderen Vorwand, u n d so machen sie große Versammlungen in Waffen und stören damit die öffentliche Ruhe (repozpublic) u n d ruinieren das arme Volk und leben auf Kosten des platten Landes". PH. CONTAMINE, Guerre, 436. - Ergänzend R. W . KAEUPER, War, 3 8 1 - 3 9 2 [Vergleich Frankreich England].
178
7
FRIEDE
„La commune est une institution de paix" 139 . Mit dieser markanten, auf die französischen Städte und das Hochmittelalter bezogenen Aussage hat ALBERT VERMEESCH die Herausbildung von Kommunen als moralische Körper und die Befriedung der Gesellschaft in den nur denkbar engsten Zusammenhang gebracht. Befestigt durch eine armée populaire werden „die Gemeinden Friedensinstitutionen" 140 , und zwar gründend auf einer coniuratio. Bischof, Klerus und Adel in der Stadt werden allenfalls vor diesem Akt konsultiert, so daß der Kirche als Initiantin der pax Dei nicht auch noch die pax iurata gutgeschrieben werden darf 141 . Im Gegensatz zur Gottesfriedensbewegung bezweckt die städtische commune nicht den Schutz wehrloser Dritter wie Frauen, Kleriker und Kinder, sondern wesendich den Selbstschutz der Stadtbürger. Der Gottesfriede schützt bestimmte Orte wie Kirchen und Klöster, während die commune den Stadtbezirk als Ganzes befrieden will 142 . Dem Eid der Bürger, den Frieden stiften zu wollen, komplementär ist das Gesetz, mit dem er langfristig in der Stadt gesichert werden soll, und zwar flächendeckend und alle Personen umgreifend. „Der Friede [...] nimmt in dieser Zeit der inneren Wirren die Form einer Reglementierung, eines Gesetzes an, mit dem Gewalt und Willkür unterdrückt und begrenzt werden" 143 . Wie anderwärts auch wurde der Friede in der Stadt nicht nur gegen die Gewalt der Herren geschaffen und richtet sich damit nicht exklusiv gegen die Fehde, sondern auch zur Verhinderung der Gewalt der Mitbürger untereinander 144 . „La loi communale est avant tout une paix" 145 gilt folglich in diesem umfassenden Sinn. Die coniuratio in der Stadt ist keine antifeudale Rebellion, denn die Verpflichtungen gegenüber der Herrschaft werden nicht in Frage gestellt (Zinsen, mainmorte), obschon „die Einwohner Garantien fiir ihren persönlichen Rechtsstatus und die Rechtsform ihrer Güter erlangen" 146 . Das notfalls bewaffnete Einschreiten der eigens geschaffenen Milizen darf man in seiner Wirksamkeit nicht überschätzen, doch hat es den Frieden insoweit sichern helfen, als man es jetzt unter den gegebenen Umständen doch vorzog, den gerichtlichen Ausgleich zu suchen, und zwar vor Bürgermeister und Richtern 147 . Man muß einräumen, daß es auch bizarr verlaufende Friedensbemühungen in den Städten ohne Kontinuität geben konnte. In Laon brachten die Geisdichen und Magnaten {les grands) der Stadt zur Herstellung des Friedens eine Gemeinde (commune) in Vorschlag, die
139
A. VERMEESCH, Essai, 175.
140
Ebd., 176. Vgl. zustimmend den Forschungsbericht von Chédeville, der lediglich die enge Verbindung von Friedensbewegung als antifeudale Bewegung als empirisch nicht gesichert kritisiert. Ursprünglich seien die Gemeinden nicht gegen, sondern mit dem Willen der Herren geschaffen worden. A. CHÉDEVILLE, De la cité, 166. 1 4 2 A. VERMEESCH, Essai, 179ff. 143 Ebd., 177. 144 Ebd., 179. - Vgl. hingegen R. BONNAUD-DELAMARE, Paix en Aquitaine, 480, der in den Gottesfrieden einen militanten Aufruf der Kirche gegen den Adel und eine böse Instrumentalisierung des Volkes fur kleriklae Interessen sieht. 141
145
A. VERMEESCH, Essai, 179.
146
Ebd., 179. Ebd., 181.
147
7.3
Die kommunale Coniuratio und die Befriedung Europas
179
bestätigt wurde, nachdem die Bürgerschaft eine stattliche Summe aufgebracht hatte 148 . Bischof Gaudry jedoch bat den König im April 1112, die Gemeinde zu verbieten und honorierte das Verbot mit einer Überweisung von 700 livres. Der Bischof ließ taktloserweise die Summe als Steuer bei der Bürgerschaft einheben. Das löst den Schrei „Commune! Commune" aus, Weingärtner, Handwerker und Gewerbetreibende erhoben sich und brachten den Bischof zu Tode. Dennoch restituierte sein Nachfolger die Gemeinde nicht, das tat erst der König kraft eigener Autorität 1128, doch ohne ihr jemals den Titel commune zu geben. Andererseits entsteht nicht jeder städtische Friede immer und ausschließlich aus einer coniuratio. Als 1114 die Commune von Valanciennes geschaffen wurde, erfolgte das gewissermaßen auf dem Weg einer Privilegierung durch den Grafen von Hainaut. Dieser habe, wie der Chronist Giselbert de Möns berichtet, „als er sah, daß die Stadt nicht über ein geschriebenes Recht verfugte, sich vielmehr lediglich auf Gewohnheiten (coutume) stützte und sich deswegen nur eines unsicheren Friedens erfreute, ihr ein Gesetz, paix genannt, gegeben"149. Flächen und Regionen auszugrenzen, in denen man den Frieden den Kommunen verdankt, ist schwierig und angesichts einer auch kontroversen Forschung nicht zu verantworten. Zweifellos entstehen viele Städte und Dörfer, vor allem zwischen Rhein und Loire, zwischen 1070 und der Mitte des 12. Jahrhundert aus der coniuratio und tragen bei zur Durchsetzung des Friedens. Als relativ sicheres Indiz gilt die Anwendung des Begriffs commune auf Städte oder Dörfer. Folgt man diesem Kriterium, so ergibt sich ein breiter Streifen in Nordfrankreich, der Picardie, Flandern und Champagne umfaßt 150 . Freilich wird commune häufiger für städtische als für ländliche Gemeinden verwendet. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts ließ Philippe Auguste eine Liste seiner Vasallen (zum servitium regis verpflichtet) erstellen. In ihr figurieren nach den archiepiscopi, episcopi, abbates re-
gales, comités et duces regni Francie, den barones regni Francie sowie den castellani und valvassores auch die communes. Namentlich genannt werden 39 Ortschaften, darunter größere Städte wie Pérenne, Amiens, Laon, Caen, Poitiers, Niort, aber auch Dörfer und Gemeinschaften von Dörfern. Unter dem Namen Saint-Jean-de-Laon läuft eine commune, die von sechs Dörfern im Einflußbreich der Abtei Saint Jean gebildet wird. Unter Ludwig IX. kam die Gründungswelle von communes zum Stillstand. Gleichzeitig erfolgt eine rechtliche Positivierung ihrer Kompetenzen151 mit der Tendenz zur Generalisierung. „Um den inneren Frieden zu befestigen" verfügt die Stadt jetzt „über Geschworene {jurées) geheißene Magistratspersonen, die bald einen Bürgermeister an ihrer Spitze hatten" 152 . Auch hier verdanken sich kommunale Institutionen dem Frieden. Die Friedensbewegung in Frankreich ist nicht ausschließlich städtisch, sie ist auch ländlich. Zwischen 1035 und 1150 wurde in Nordfrankreich dörferweise der Friede beschworen (pax rusticorum), an dem allerdings andere als nur bäuerliche Gruppen beteiligt sein konnVgl. A. CHÊDEVILLE, De la cité, 166. Zitert ebd., 167. Vgl. O. G. OEXLE, Verschwörung, 139f. 150 BegrifFsgeschichdiche Untersuchungen zu commune, serment coummun und conjuration bourgeoise bei C H . PETIT-DUTAILLIS, Communes françaises, 37. - Zu den Verbreitungsgebieten R . FOSSIER, Franchises. 1 5 1 C H . PETIT-DUTAILLIS, Communes françaises, 1 0 8 . 152 A. CHÊDEVILLE, De la cité, 1 7 5 . 148
149
180
7
FRIEDE
ten. Zu seiner Sicherung wurden eigens sogenannte paziers gewählt (amici heißen sie in der Picardie) 153 . In Südfrankreich (Pyrenäen) verbanden sich, belegt durch eine Reihe von Verträgen zu Beginn des 16. Jahrhunderts, die Talschaften zum friedlichen Zusammenleben 154 . Die Bundesgenossen gaben sich sogar einen eigenen Namen, die patzers, abgeleitet von „les hommes de la paix". Seitdem verkehrten Menschen, Vieh und Waren unbehindert in den Pyrenäen. Die kommunalen Bemühungen um den Frieden zu würdigen heißt nicht, sie zu verherrlichen und zu ideologisieren. Es war schwer, in einer in hohem Maß von Gewalt geprägten Gesellschaft, der zudem der Adel unbeschadet seiner Fehden weitgehend als Leitbild diente, den Frieden im Alltag durchzusetzen. Für die französischen Städte des Spätmittelalters läßt sich durchaus auch ein trübes Bild von alltäglicher Gewalt zeichnen. Im Gerichtsbezirk des Pariser Priorats Saint-Martin-des-Champs betreffen die zwischen 1332 und 1340 abgeurteilten Fälle, von Jahr zu Jahr unterschiedlich, zu 40 bis 91% blutfließende Wunden 1 5 5 . Im Pariser Gerichtsbezirk der Templer sind 80% der Prozesse verursacht durch „heiße Angelegenheiten" (chaudes mêlées)156. Um so höher ist das Verdienst der Kommunen einzuschätzen, die fehdeähnlichen Gewaltakte letzdich doch erfolgreich gebannt zu haben. (3) Die Verhältnisse in Italien nochmals in der gleichen Ausführlichkeit zu beschreiben wie jene in Frankreich , müßte zu Redundanzen fuhren. Zahlreiche Beispiele Hessen sich anfuhren, daß die Kommune als eine societas pacis gesehen werden darf und etwa in Pisa, Genua, Cremona und Piacenza die Friedensbestimmungen durch die gesamte Bürgergemeinde aus dem parlamentum heraus entwickelt wurden 157 . In Pisa wird 1090 eigens eine Erneuerung der pax in Vorschlag gebracht, nachdem man sich offenbar auf eine gleiche Höhe von Dachtraufen und Türmen geeinigt hatte, um die burgenähnlichen Bauten zu verhindern, von denen aus einzelne Familien ihre Fehden geführt hatten 158 . Viele Statuten der Landgemeinden in Italien haben den Charakter von erweiterten iwramenta salvamenti, so in Biolzago, Castelmartire, Cremella, Monguzzo und Camino, mit denen der Ortsfrieden durch das Verbot von Mord, Raub und Brand gestiftet wurde 159 . Ein Stadt und Land übergreifendes Friedensbündnis hat sich in Italien nur temporär verwirklichen lassen. Nicht zufällig fällt es in eine Blütezeit des Kommunalismus in Italien im 12. Jahrhundert. Daß daraus anders als in Frankreich oder dem Heiligen Römischen Reich
153 154
R. FOSSIER, Paysans, 174. J.-P. GUTTON, Sociabilité villageoise, 147.
J . ROSSIAUD, Crises, 5 1 4 . ' 1,(1 E b d . , 514—518. G a n z ähnliche Ergebnisse hat die Untersuchung von Zürcher Gerichtsakten gezeitigt. A m Zürcher Beispiel ist deutlich g e w o r d e n , wie schwer es für die städtische Gesellschaft war, die für dringend gehaltenen u n d a u f Gemeindeversammlungen kollektiv verabschiedeten Friedensbestimmungen auch individuell einzulösen. S. BURGHARTZ, Delinquenz in Zürich. — Belegmaterial fur Gewalt in N ü r n berg bei VALENTIN GROEBNER, D e r verletzte Körper u n d die Stadt. Gewalttätigkeit u n d Gewalt in N ü r n berg a m E n d e des 15. Jahrhunderts, in: H a n s Lindenberger - A l f Lüdtke ( H g g . ) , Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M . 1995, 1 6 2 - 1 8 9 . 155
157 158 159
R. CELLI, Potere popolare, 2 0 I f . O . G . OEXLE, Verschwörung, l 4 0 f . E. BESTA, Fonti, 5 2 5 .
7.3
Die kommunale Coniuratio und die Befriedung Europas
181
keine in die Neuzeit fortwirkende Friedensordnung erwachsen ist, liegt nicht zuletzt daran, daß Italien seit dem 15. Jahrhundert eine starke Rearistokratisierung erfahren hat. An wegweisenden Vorbildern hätte es nicht gefehlt. Zur überregionalen Sicherung des Friedens der Städte wurde 1167 der Lombardische Bund gegründet, der sofort auf den schärfsten Widerspruch des Kaisers stieß und zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den oberitalienischen Kommunen und Friedrich Barbarossa führte. Der Ausgleich wurde schließlich im Konstanzer Frieden von 1183 gefunden. In der italienischen wie in der deutschen Literatur wird dieser Komplex stark unter nationalgeschichtlicher Perspektive verhandelt. RAOUL MANSELLI sah noch 1967, anläßlich der 800-Jahrfeier des Lombardenbundes, in ihm den Ausdruck „della nostra civiltà nazionale". Der deutsche Italienspezialist ALFRED HAVERKAMP wies das mit Hervorhebung des Konstanzer Friedens als antiquiert zurück und meinte im Gegenteil, dieser „erinnert Deutsche und Italiener an eine gemeinsame Vergangenheit, die größere Beachtung verdient" 160 . Warum das so sein soll, bleibt ungesagt, immerhin lugt ein Stück antizipierter Europäischer Union hinter dem Diktum hervor. Im Lombardenbund vom 1. Dezember 1167 ging es den 14 oberitalienischen Kommunen Bergamo, Bologna, Brescia, Cremona, Ferrara, Lodi, Mailand, Modena, Padua, Piacenza, Venedig, Verona, Vicenza und Treviso darum, den in den Städten erreichten Zustand des Friedens und der mit ihm korrespondierenden Selbstverwaltung nicht zu gefährden. Die antikaiserliche Spitze erklärt sich allein aus dem Umstand, daß das Reich seine Rechte in Oberitalien - und dazu gehörte als präeminentes die kaiserliche Friedenssicherung - nicht preisgeben wollte, obwohl sie sich als wenig wirksam erwiesen hatte. Wie das Eidesformular des Lombardenbundes erkennen läßt, schworen alle in ihm zusammengeschlossenen Bürger einen Eid (sacramentum), sich zu helfen „contra omnem hominem quicumque voluerit nobiscum facere guerram aut malum" 161 . Der Bund erhielt eine Verfassung, die innerstädtische Institutionen, vornehmlich das parlamentum, kopierte 162 . Nicht Heerführer standen an der Spitze der Lega, sondern Rektoren, die üblicherweise aus den Konsuln der verbündeten Städte hervorgingen und in ihrer Gesamtheit das Parlament bildeten. Wurde eine Person in einer Kommune gebannt, so verfugte die Bundesversammlung vom 3. Mai 1168 in Lodi 163 , mußte sie binnen zweier Wochen ausgewiesen werden und konnte in keiner anderen Stadt der Lega Aufnahme finden. Keine Stadt durfte weitere eidliche Verbindungen eingehen, um die Lega, das „commune pactum vel concordiam civitatum", nicht zu schwächen. Auf dem Hoheitsgebiet benachbarter Städte sollten keine Befestigungsanlagen gebaut und mit politisch unzuverlässigen Adeligen keine Verträge geschlossen werden. Solche Vereinbarungen ließen sich nur dadurch sichern, daß man dem Parlament eine starke Stellung in der Lega einräumte. Mit dem Verbot,
160
161 162 163
ALFRED HAVERKAMP, Der Konstanzer Friede zwischen Kaiser und Lombardenbund (1183), in: H. Maurer, Kommunale Bündnisse, 11-44, die Zitate 14, 44. G. DILCHER, Reich, Kommune, Bünde, 244 Anm. 21. Ebd., 245. Die folgenden Daten nach K. SCHULZ, Freiheit, 202f.
182
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FRIEDE
an den Kaiser zu appellieren, wurde es zur obersten Gerichtsinstanz, über die gemeinsamen Beschlüsse zum Gesetzgeber 164 . Eine Verstetigung erfuhr es durch die laufenden Amtsgeschäfte. Dem überlieferten Amtseid der Rektoren ist zu entnehmen, daß sie über die Neuaufnahme von Mitgliedern entschieden, Steuern und Umlagen fiir den Bund nach Maßgabe der Finanzkraft der einzelnen Städte festlegten, als Schiedsgericht fungierten, das seine Urteile innerhalb von 40 Tagen zu fällen hatte. Die Amtsgeschäfte fuhren die Rektoren zum gemeinen Nutzen des Bundes, der nach wiederholter Versicherung in der Absicht gestiftet wurde, daß man „ad pacem et concordiam vel ad iusticiam pervenerit" 165 . Von langer Dauer ist der Bund, wiewohl mehrfach verlängert, nicht gewesen, auch spätere Bemühungen im 13. Jahrhundert haben ihn nicht revitalisieren können 1 6 6 , was sich einerseits aus den latenten Spannungen zwischen den Städten erklärt, andererseits aus den wenigstens temporär erfolgreichen Bemühungen der Kaiser, die alte Ausdehnung des Imperium zu sichern. Doch belegt der skizzierte Sachverhalt die prinzipielle Fähigkeit der Kommunen, innerhalb und außerhalb der Stadtmauern den Frieden herzustellen. (4) „Voluntarily accepted was probably the only way to restrain the wild violence of the Vikings" 1 6 7 . Willentlich erfolgte die Friedenssicherung in Skandinavien über die Landschaften, alte rechtliche Einheiten, die in der Regel mehrere Pfarren und Amter umfaßten. Die Landschaftsrechte 168 Skandinaviens sind durch ihren Rechtsgehalt eng miteinander verwandt 1 6 9 . Landschaft definiert sich als Rechtsgemeinschaft, die Rechtsweisungen vornimmt, Rechtsfortschreibungen tätigt und Rechtsurteile fällt, und zwar in einer Landschaftsversammlung, im Ting {lagting,
landskapsting)170.
Die Friedenssicherung steht in allen Texten im Vordergrund 171 . Das Frostathing leitet sein Rechtsbuch mit der Klage ein, „welchen großen und vielfältigen Schaden die Familien der meisten Männer im Lande erlitten haben von Totschlägen und dem Verlust der besten Männer, was hier mehr zur Gewohnheit geworden ist als in den meisten andern Ländern" 1 7 2 . Friedlosigkeit - und damit Ausschluß aus der Rechtsgemeinschaft und Enteignung 1 7 3 - trifft nach dem Recht des Gulathings jene, die Übereinkommen über Totschläger mißachten, die rauben „auf Schiffen oder im Lande", die morden und hexen, auch jene, die
So ebd., 203. Zitate ebd., 203f. [„gemeinschaftlicher Nutzen" statt gemeiner Nutten bei Schulz]. 1 6 6 A. VAUCHEZ, Pacification en Lombardie, 7 1 - 1 1 7 . - Κ. ARNOLD, D e bono pacis, 134. - O . G . OEXLE, Formen des Friedens, 103f. 1 6 7 Alle Belege bei F. D. SCOTT, Sweden, 59. 1 6 8 Den Begriff Landschaftsrechte verwende ich fur die in Norwegen und Schweden bekannten Rechtskodifikationen auf regionaler Ebene. 1 6 5 R. Meißner, Rechtsbuch des Frostothings. - Ders., Rechtsbuch des Gulathings. - C. Frh. v. Schwerin, Schwedische Rechte. - D . Strauch, Ostgötenrecht. 1 7 0 E. SjöHOLM, Gesetze des Nordens, 23-34. 1 7 1 E. SjöHOLM, Sveriges Medeltislagar, 3 0 2 - 3 1 7 [tabellarische Übersichten]. - DIES., Gesetze des Nordens, 35 -85. 1 7 2 R. Meißner, Rechtsbuch des Frostothings, 1. [Die Übersetzungen Meißners, auch jene von Schwerins, lehnen sich eng an den Text an, der selbst grammatikalisch nicht ganz eindeutig ist und in der deutschen Fassung oft mißverständlich oder unverständlich.] 173 Vermögen und Frieden verwirken die Delinquenten in allen Landrechten. 164
165
7.3
Die kommunale Coniuratio und die Befriedung Europas
183
sich in die Nacht hinaus setzen, um „Trolle aufzuwecken und damit heidnisches Wesen zu treiben", aber auch die, „die Ehefrauen nehmen mit Raub oder anderer Männer Verlobte oder die Töchter von Männern ohne Zustimmung derer, die über sie zu verfugen haben" 174 . Totschlag und Mord, Diebstahl und Raub, Hexerei und Zauberei sollen eingehegt werden. Wo immer möglich arbeiten die Landschaftsrechte daraufhin, die Rache der Sippen zurückzudrängen. Die Vergehen sollen mit Bußen gesühnt werden, lediglich die Neidingssachen, wie die skandinavischen Rechtsquellen die hinterhältigen Verbrechen nennen (etwa Tötung von Schlafenden, Badenden oder Frauen), sind von der Kompositionengerichtsbarkeit ausgeschlossen. Aber vereinzelt hat sich, wie im Uplandslag, auch schon durchgesetzt, Kapitalverbrechen mit Tod oder spiegelnden Strafen zu ahnden: Wird ein als Mörder oder Räuber Angeklagter im Ting schuldig gesprochen, „da soll der Mörder auf das Rad und der Räuber unter das Schwert", und die abgeschlagene Hand wird mit Abschlagung der Hand gesühnt 175 . Die Blutgerichtsfälle zeigen, daß der Urteilsvollstreckung gerichtliche Verfahren im Ting vorausgehen konnten. In der Tat drängen alle Landschaftsrechte darauf, vieles vor das Ting zu ziehen, folglich den Frieden durch gerichtsförmige Verfahren herzustellen und nicht durch Eigengewalt 176 . Das war offenbar schwer durchzusetzen, wie viele Kompromißformeln zeigen: „Wird ein Mann erschlagen und des Lebens beraubt", sagt das schwedische Westgötalag, „da soll (der Erbe) den Totschlag am Ding künden und den Tod des Erblassers mitteilen und (ebenso) am zweiten (Ding). Aber am dritten soll er die Klage erheben, sonst ist sein Klagerecht verloren" 177 . Das Ting erklärt einen Beschuldigten als „friedlos" und gestattet dem klagenden Erben, ihn „bußlos zu erschlagen" 178 . Auch das Uplandslagvtibietet die Rache der nächsten Verwandten nicht, schaltet aber in allen Zweifelsfällen Gerichte ein 179 . Um den Frieden zu befestigen, wurden vor allem von sogenannten Großmännern dem König Eide geleistet, vereinbarte Vorschriften strikt einzuhalten. Unbegründete Rache, Heimsuchung, Notzucht oder Verstümmelung wurden als Eidbruch verfolgt 180 . Solche schweren Verbrechen lassen sich über die Formel „des Königs Eidschwur" (edsörebrott) in den Landschaftsrechten nachweisen. Den skandinavischen Rechtsbüchern liegt ein Friedensbegriff zugrunde, der neben dem rechdichen und gerichtlichen Austrag von Ansprüchen eben noch die Fehde als legitime Ge-
174 175 176
177 178 179 180
Alle Zitate bei R. Meißner, Rechtsbuch des Gulathings, 29. C. Frh. v. Schwerin, Schwedische Rechte, 151. R. Meißner, Rechtsbuch des Gulathings, 29f. - C. Frh. v. Schwerin, Schwedische Rechte, 10f„ 97f. - D. Strauch, Ostgötenrecht, 63. C. Frh. v. Schwerin, Schwedische Rechte, 10. Ebd., 11. Ebd., 97f. „Verbrechen gegen des Königs Eidschwur und aller höchster Herren im Schwedenreich", heißt die Formel im Uplandslag. Vgl. ebd., 100. - Nach Ostgötenrecht wird eidbrüchig, wer Hausfriedensbruch (mit Tötung oder schwerer Verletzung) begeht, wer den besonderen Schutz des Tings mißachtet, vergewaltigt oder vestümmelt (Hände, Beine abschlagen). Vgl. D. Strauch, Ostgötenrecht, 57, 60.
184
7
FRIEDE
wait akzeptiert, ja sie sogar als festen Bestandteil der Wiederherstellung des Rechts einsetzt, obschon Gerichte in Form des Tings sich in den Vordergrund schieben. Es handelt sich um ein Friedensverständnis, das sich in vielen germanischen Rechten findet, auch im lombardischen Recht Italiens181, sich aber vom christlich-jüdischen Friedensgedanken der vera pax, die vollkommen erst im Jenseits erreicht wird, und auch der pax Romana als einer Art rechtsstaatlicher Verfassung unterscheidet. Die Landschaftsrechte sind die ersten umfassenderen Verschriftlichungen von Recht in Schweden und Norwegen. Sie spiegeln einen fundamentalen Umbruch in der Gesellschaft: die Rechtsordnung verlagert sich von der Sippe auf die Landschaft, von der Fehde auf das Gericht, vom Heidentum auf das Christentum. Damit tritt die Frage als interessant in den Vordergrund, wer diese Rechte initiiert hat. In der Confirmatio des Uplandlags ließ der König den Redaktionsvorgang als Erzählung einrücken: Die drei Volklande \on Upland hätten ihn um eine Rechtsfestsetzung gebeten mit der Begründung, daß in ihrem Recht, „das in mehreren Sammlungen verstreut war, einiges nicht ganz billig ist, einiges dunkel ausgedrückt und einiges so, daß man sich schwer darnach richten kann". Der König zögert mit der Begründung, er könne nicht „altes Recht unüberlegt ändern und nicht neues unrichtig erfinden" und ließ es folglich von zwölf Männern vorberaten, die es am Ting verlesen und von den Rechtsgenossen bestätigen ließen. Erst jetzt und nach nochmaliger Bitte aller, „die in den drei Volklanden wohnen, da gaben wir aus königlicher Gewalt volle gesetzliche Kraft dem neuen Recht" 182 . Der König tritt nicht als Gesetzgeber auf, er konfirmiert das geschöpfte Recht - nicht nur in Schweden, sondern auch in Norwegen183. Der König tut genau das, was die Verhochdeutschung des Satzes „med Lov skal Land bygges" sagen will, der Verband der gerichtsfähigen Männer schafft auf der Grundlage der als alt und würdig gedachten Gewohnheiten in freier Vereinbarung Recht184. Diese Konfiguration wird bekräftigt durch die Königswahl, die in den gleichen rituellen Formen bis ins 16. Jahrhundert durch den Königsumritt von Landschaftsting zu Landschaftsting erfolgt185. Daß die Könige dennoch politisch stark sein 181 182 183
184 185
G. DILCHER, Friede durch Recht, 204f„ 212ff. C. Frh. v. Schwerin, Schwedische Rechte, 65f. - Vgl. D. Strauch, Ostgötenrecht, 33. R. Meißner, Rechtsbuch des Frostothings, 1. [Bischöfe, Landherren, „Rechtswahrer" und die „anderen klügsten Männer" werden als Berater genannt.] - Nicht durchgesetzt hat sich die Auffassung von der Feudalisierung Skandinaviens zwischen 1000 und 1300, vertreten etwa von THOMAS LINDKVIST, Plundering, skatter och den feodala statens framväxt (Opuscula Histórica Upsalensia 1), Uppsala 1988,64-67. - Eine weitgehende Autonomie der Landschaftsverbände hat zuletzt mit solider empirischer Unterkellerung G. ÂQUIST, Kungen, vertreten. - Von einer starken Stellung der Könige lassen die Landrechte selbst wenig erkennen, dennoch wird eine solche in neueren Forschungen gegen die ältere germanistische Rechtsgeschichte häufig behauptet (so die Literatur zusammenfassend zuletzt von B. and P. SAWYER, Medieval Scandinavia, 83). Die Quellen, die von mächtigen Königen sprechen, sind theoretische Traktate, die stark Auftragscharakter zeigen, etwa der vielfach herangezogene King's Minor. Vgl. SVERRE BAGGE, The Political Thought of the King's Mirror (Mediaeval Scandinavia Supplements 3), Odense 1987, 157, 210-215. — Eine detaillierte kritische Aufarbeitung der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts über Skandinavien fehlt, soweit ich sehe; weniges bei B. and P. SAWYER, Medieval Scandinavia, XI-XVT. Vgl. W. WAGNER, Jiitlands Verfassung, 17. Beginnend in Mora bei Uppsala im Ting der Svear, was einer Designation gleichkommt. Der Weg der Einholung der Legitimation detailliert beschrieben bei T. S. NYBERG, Kirche in Skandinavien, 22.
7.4
Die Verajltäglichung des Friedens
185
konnten, wird damit nicht in Abrede gestellt. Die früh funktionierende Steuerverwaltung verweist darauf, daß die königliche Macht ursprünglich vor allem im Heer lag, war die Steuer doch ein Surrogat fur nicht geleistete Heerfolge. Dennoch bleibt als wichtig herauszuheben, daß die Durchsetzung des Friedens anstelle der Fehde voluntaristisch aus der Gesellschaft heraus über die Landschaftsverbände erfolgte. Der König begleitet diese Entwicklung mit seiner Autorität, aber er initiiert sie nicht und schon gar nicht schafft er sie mittels herrscherlichem Befehl 186 .
7.4
D I E VERALLTÄGLICHUNG DES FRIEDENS
Es liegt in der Konsequenz des durchgesetzten Landfriedens, daß alle Fälle von Friedbruch kriminalisiert und in den Kodifikationen der Dörfer, Städte, Täler, Länder, Territorien und Reiche detailliert benannt und mit korrespondierenden Bußen und Strafen ausgestattet wurden. War der Friede als Wert in der Gesellschaft mental fest verankert, bedurfte es zu seiner Verwirklichung im Alltag lediglich noch einer angemessenen Legiferierung und der Einrichtung entsprechender friedenssichernder Organe. Sobald der Friede gewissermaßen Verfassungsrang erhalten hatte, ging einerseits die Verfolgung von Friedbruch den Sippen verloren und andererseits wurden die schweren Fälle von Friedbruch, also jene, die der Fehde nahestanden wie Mord, Brandstiftung und Raub, nicht mehr mit Geld, mit Bußen und Brüchen187 abgegolten, sondern in einem „grundstürzenden Wechsel" 188 mit dem Tod gesühnt. „Das Strafrecht blickt auf den 'Täter'! Der Mensch ist", in den pathetischen Worten VIKTOR ACHTERS, „Individuum geworden" 189 . Nachdem der Prozeß der Durchsetzung des Friedens am Beispiel der Talschaften und Städte am Vierwaldstättersee exemplarisch beschrieben wurde, mag es der Symmetrie wegen sinnvoll sein, die rechtliche Positivierung des Friedens an einem Landrecht und einem Stadtrecht abschließend noch kurz zu skizzieren. Gewählt werden die Rechtsbücher von Schwyz (1) und Luzern (2). ( 1 ) Das heute älteste überlieferte Landrecht von Schwyz datiert aus dem frühen 16. Jahrhundert, die Satzungen selbst jedoch sind oft älter, wie Marginalien oder Rekonstruktionen über die Urkunden belegen. Was im Landrecht positiviert wurde, verfugte über den aktiven Konsens aller Landleute, der anläßlich von Landsgemeindeversammlungen erfragt worden war. Auf Totschlag 190 , schwere Brandstiftung 191 und schweren Diebstahl 192 steht die Todesstrafe. Wurde der Delinquent nicht unmittelbar auf frischer Tat festgenommen, vielmehr erst später auf dem Weg der Anklage vor Gericht gebracht, hatte der Kläger mit dem Eid von
186 187 188 189 190 191 192
G. ÂQUIST, Kungen, 337. R. His, Strafrecht 1, 594-645. H. HIRSCH, Gerichtsbarkeit, 221. V. ACHTER, Strafe, 140. M. Kothing, Landbuch, 31 f. Ebd., 80ff. Ebd., 74f.
186
7
FRIEDE
drei oder zwei Zeugen zu beweisen, daß der Angeklagte schuldig war. Das war eine drastische Reduktion der Zeugen, denn üblicherweise waren sieben erforderlich (Übersiebnen)^, und sie diente dem Zweck, die Verbrechensbekämpfung wirksamer zu machen194. Wer nach einem gebotenen Frieden neuerlich zu den Waffen griff, wurde fur ehrlos erklärt und konnte fortan Amter nicht mehr bekleiden und vor Gericht nicht Zeugnis geben. Private und öffentliche Räume wurden flankierend geschützt. Hausfriedensbruch fuhrt zu Strafen an Leib und Leben195, Harnische durften nicht getragen werden, selbst Schwerter, „die vngewonlich vnden vßgangen", waren verboten. Im Übertretungsfall drohten Geldstrafen (10 Pfund), Landesverweis und bei unerlaubter Rückkehr die Hinrichtung196. Den Landesverweis traf aber auch, wer die verhängten Bußen nicht zahlen wollte 197 . Das strategische Mittel, den Friedbruch überhaupt aufzudecken und zu verhindern, daß er aus Furcht verschleiert wurde, war die Pflicht aller Landleute, ein Verbrechen oder Vergehen beim Landammann oder Weibel von Schwyz anzuzeigen (Leiden)198. Das bedeutet zweifellos einen bemerkenswerten Modernisierungsschub in der Rechtspflege, zumal Vergehen jetzt rasch geahndet werden konnten. Früher wurde offenbar nur während des ungebotenen Dings, also bei den immer gleichen, feststehenden Gerichtsterminen gerügt199. Jetzt hingegen hatte die Rüge unverzüglich zu erfolgen oder binnen einer Frist von längstens 14 Tagen200, ihr mußten unmittelbar das Verfahren und das Urteil folgen. Neben das Leiden trat aber auch, vornehmlich bei Malefizdelikten (Mord, Raub, Brandstiftung und schwerer Friedbruch) eine Verfolgung von Amts wegen durch den Landammann und die Räte201.
193
HERMANN CONRAD, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Lehrbuch, Karlsruhe 1962, 390. - H. HIRSCH, Gerichtsbarkeit, 93, 104. Auf das Zeugnis von „zweyen vnuersprochnen mannen" soll man einen Dieb „an einen galigen zu todt erhencken, oder sunst von lib thun", „wann vntzhar ettwa dick grosßer schad den lütten vffgestanden ist von diebstalls wegen, das man doch nitt allweg mocht kuntlich machen mit siben vnuersprochnen mannen, wann das die selbigen übelltätigen Lüt vnnd ander mit Jnen an semlichen bösen wercken vnnd diebstall gesterckt wurden". M. Kothing, Landbuch, 74. - Zur Einordnung E. SCHMIDT, Strafgerichtspflege, 74f., mit ähnlichen Beispielen aus Süddeutschland. 195 ^Were, das yeman in vnnßerm Lanndt Dem andern Nachtz fräuenlichen Jn sin hußs nachgienge vnnd Jnn da wellte angryffen, o d e r j m sin thüriny wellte fräuenlich vffbrechen, Oder mit steinen, Ober mit ütte anders fräuenlich Jnhin würde, Oder fräuenlich Jnhin stächy, Oder yeman den andern fräuenlich vsßer sinem hußs Lüdy, ab dem soll man Richten vif der weidhub". M. Kothing, Landbuch, 28. - Üblicherweise wurde der Nachtschach im Geltungsbereich des schwäbischen Landrechts wohl eher mit Geldbußen belegt. Vgl. R. His, Geschichte, 180. - H. HIRSCH, Gerichtsbarkeit, 28. - Für die unterschiedliche Behandlung in der Schweiz EDUARD OSENBRÜGGEN, Das alamannische Strafrecht im deutschen Mittelalter, Schaffhausen 1860, 366-371. 196 M. Kothing, Landbuch, 72f. 197 Ebd., 13. 198 Ebd., 17, 19f., 28, 206, 212f. - Für das Verfahren vgl. F. HOLDENER, Strafverfahren im alten Lande Schwyz, 60-71. 199 So übereinstimmend H. SIEGEL, Rügen, 5,33, und H. HIRSCH, Gerichtsbarkeit, 70. - H. SIEGEL (Rügen, 24, Anm. 21) behauptet, „dass aus Schwaben und zwar aus der Schweiz, dem Schwarzwald und dem Elsass nur Zeugnisse von Rügen auf Hofdingen vorhanden sind". 200 M. Kothing, Landbuch, 17, 20, 212f. 201 Ebd., 9,11, 276. Den Charakter von „Amtspersonen" haben auch die Wirte, denen eine Rügepflicht wie dem Landmann und den Räten auferlegt ist, offenbar weil es in den Wirtshäusern besonders häufig zu Gewalttätigkeiten kam. 194
7.4
Die Veralltäglichung des Friedens
187
Das Leiden zeigt an, in welch starkem Maße die Gesellschaft sich selbst in die Pflicht nehmen mußte, um den Frieden durchzusetzen. Komplementär dem Leiden und seinem Geist kongenial ist das Friedebieten als Pflicht aller Landleute, bei einem aufflammenden Streit persönlich einzugreifen, notfalls unter Gefährdung der eigenen körperlichen Unversehrtheit 202 . (2) In Luzern erfolgte die erste Positivierung des Friedens durch den sogenannten Stadtfrieder?103 von 1252. Mord wird mit Hinrichtung beziehungsweise lebenslänglichem Stadtverweis und Wüstung des Stadthauses des Delinquenten geahndet204. BewafFnet in der Stadt herumgehen zieht wie in Schwyz Geldbußen und Stadtverweis nach sich. Jede Gewalt ist im Keim zu ersticken, zu Eskalationen, die zum Zücken der Waffen fuhren könnten, darf es gar nicht kommen. Dementsprechend werden scharfe Strafen, sorgsam differenziert nach der Schwere des Vergehens, verhängt. Wer einen Bürger schwer verletzt, verliert seine Hand, wer ihn beleidigt, zahlt eine Buße. Für die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Friedens ist jeder Bürger verantwortlich, und zwar unter Einsatz seiner ganzen Person. „Swenne och jeman mit dem andern ze kriege kunt, alle, die darzo koment, die sun sich darunder werfen ze vride und ze gute und die teile scheiden ane alle achust [Arglist, P.B.]" 205 . Wer sich dieser Verpflichtung entzieht, wird mit einer Mark Silber gebüßt oder fur ein Jahr aus der Stadt gewiesen. Dem Frieden dient man auch, in dem man im Gericht als Urteilet wirkt und sich damit auch der Gefahr der Rache der schuldig gesprochenen Partei aussetzt. „Wer aber dehein burger sumig aid trege ze rihtenne [Recht sprechen, P.B.] alle unser gesetzide, die wir mit eide han bestetet, der sol daz beszern mit einre march silbers aid ein gantz jar beliben vor der stat" 206 . Die Verwillkürung des Friedens und dessen Sicherung durch den gemeinen Mann sind komplementär. Unschwer ist zu erkennen, wie verwandt das Landrecht von Schwyz mit dem Stadtrecht von Luzern und beide mit den Bestimmungen der Bundesbriefe sind. Jeder Bürger und jeder Bauer ist fur den Frieden in seiner Kommune verantwortlich. Und dies in dreifacher Weise. Er hat erstens den Frieden zu gebieten, die streitenden Parteien zu versöhnen oder vor Gericht zu bringen, und zwar unter Einsatz seiner ganzen Person, was unter Umständen ja durchaus lebensbedrohende Formen annehmen konnte. Er hat zweitens die ihm bekannt werdenden Vergehen bei den Amdeuten zur Anzeige zu bringen. Und er hat
Ebd., 52. - Es gibt eine Reihe paralleler Bestimmungen aus anderen süddeutschen Gebieten [vgl. E. SCHMIDT, Strafrechtspflege, 72 -79], was die Vermutung nahelegt, daß die Landsgemeinde gelegentlich auch schwäbisches Landrecht (Schwabenspieget) lediglich statutarisch zusätzlich gesichert hat. Das Problem ist meines Wissens (ur die Schweiz nicht untersucht. 203 Q W 296-303, Nr. 667. Es liegen eine lateinische und zwei deutsche Fassungen vor. Zu den Datierungsfragen im einzelnen ausfuhrlich BRUNO MEYER, Entstehung, 28—51. Meyer datiert die deutschen Fassungen in die Zeit um 1280, die lateinische, die ursprünglich nur 10 Artikel umfaßt haben dürfte (ebd., 37), auf 1252. 2 0 4 Q W 1/1, 297f. [Art. 2], 2 0 5 Q W 1/1, 299 [Art. 8], 2 0 6 Q W 1/1,302 [Art. 10], 202
188
7
FRIEDE
drittens an der Urteilsschöpfung im Gericht mitzuwirken, er kann, wenn er fiir ein Richteramt nominiert wird, ein solches nicht ablehnen. Wo das so ist, hat der kommunale Verband das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit107, die nach Einschätzung von Max Weber den modernen Staat ausmacht. Die Kommunen haben es gelegendich mit den Fürsten und Königen in unterschiedlicher Weise teilen müssen. Das entspricht der schon mehrfach gemachten Feststellung, daß der Kommunalismus einen politischen Überbau in Form eines Königtums oder Fürstentums erträgt. Wäre es anders, müßte man den Begriff Kommunalismus gegen Republikanismus auswechseln. Die Befunde fur Schwyz und Luzern lassen sich fiir die Stadtgemeinden und Landgemeinden in Europa verallgemeinern208. Alle großen Rechtsaufzeichnungen in Europa zwischen 1200 und 1500, gleichgültig ob sie aus Skandinavien, Mitteleuropa, Frankreich oder dem Mittelmeerraum stammen, verfugen über stramme Kohorten von Strafrechtsbestimmungen, die allesamt der Friedenssicherung dienen209. Erst von den großen Rechtsreformationen der Aufklärung werden sie abgelöst. Die spätmittelalterlichen Rechtsbücher spiegeln einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel. Das Fehderecht der Sippe (Clan, Familie) wird durch das Strafrecht der öffentlichen Gewalt ersetzt. Vermittelt ist der Wandel durch Kommunen, seien es universitates (Landgemeinden, Talschaften) wie Schwyz, Uri und Nidwaiden oder civitates (Stadtgemeinden) wie Luzern. Landschaften und Talschaften stiften den Frieden in der Schweiz, in Skandinavien und in Südfrankreich, Städte und Dörfer in Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland. Häufig wurzeln diese Kommunen in Gerichtsgemeinden, was sich besonders deutlich an den Talschaften der Schweiz (Landgericht) und den Landschaften Schwedens und Norwegens (Ting) belegen läßt, aber auch an manchen Städten, die im Stadtgericht als lokalisiertem Landgericht, bestehend aus Schultheiß und Urteilern, ihren Ursprung haben. Soweit solche Gerichtsgemeinden sich das herrschaftliche Recht des Bannes (imperium) aneignen können und damit Satzungskompetenz (ins statuendo) gewinnen, werden sie politisch. Nur wo eine Kommune ihre politischen Kompetenzen zu voller Autonomie und Autokephalie steigern kann, sichert sie sich das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit wie in der Schweiz. Wo sie solche Kompetenzen mit einem König oder Fürsten teilt, kommt es entsprechend zu einer Gewaltenteilung, wie in den spanischen Städten. Das Strafrecht mußte seine Ausgestaltung notwendigerweise erfahren, nachdem sich die Überzeugung mental und habituell gefestigt hatte, Gerichte seien der Gewalt vorzuziehen. Zum prominentesten Strafrechtsbuch in Europa ist die Carolina von 1532 geworden210. Sie umfaßt materielles Strafrecht und Gerichtsverfassungsrecht und ist, trotz aller römischrechtlichen Einflüsse, die durch die endlosen Erörterungen der Rechtsgeschichte über die Bedeutung seines Redakteurs Johann von Schwarzenberg unangemessen stark in den Vordergrund 207
E. ISENMANN, Stadt, 7 5 .
Ebd., 74FF. [für die deutschen Sädte]. - L. GÊNICOT, Rural community, 58 [fiir französische Dörfer]. 209 Vgl. fur den Bereich der germanischen Rechte W. WAGNER, Jütlands Verfassung, 50FF. 2 1 0 Als Einführung durch ein Handbuch vgl. A. LAUFS, Rechtsentwicklung in Deutschland, Berlin-New York 5 1996, 122-136. Ergänzend. E. SCHMIDT, Strafrechtspflege, 114-118, 124ff. 208
7.4
Die Veralltäglichung des Friedens
189
treten, erheblich von der Tradition geprägt. Das gilt in mehrfacher Hinsicht: die Carolina stellt im Grunde Einungsrecht dar, weil sie zwischen Kaiser und Reichsständen vereinbart und vom Reichstag verabschiedet wurde, sie schafft lediglich subsidiäres Strafrecht zur Orientierung für die herkömmlichen Gerichte, denen ihre Kompetenzen prinzipiell nicht entzogen werden. Den gleichen Geist atmen auch die vorgängigen und nachfolgenden territorialen Strafrechtskodifikationen, die zudem oft deutlicher als die Carolina selbst zeigen, daß die stärkere Normierung dessen, was Friedbruch sei, von der Gesellschaft gewünscht wurde. Eine Vorgängerordnung der Carolina, die sogenannte Maximilianeische Halsgerichtsordnung für Tirol von 1499, wird „aufF vnndertenig vnd diemutig bete egemelter vnnser landschafft", der Tiroler Stände also, erlassen, und zwar deswegen, weil die Urteilsfindung allein „durch eins yeden Rechtssprechers gewissen" doch zu Unsicherheiten, Verzögerungen und hohen Kosten der rechtsuchenden „vnderthanen" geführt habe 211 . Vom Mord bis zum Bruch des gelobten Friedens werden korrespondierende Strafen an Leib und Leben festgelegt und fiir die Gerichte {Landgerichte und Stadtgerichte) deren Besetzung und Zusammensetzung genauer geregelt. Hervorzuheben ist, daß es nach der Maximiiiana keineswegs darum geht, die Landgerichte und Stadtgerichte, anders gesagt die kommunalen Organisationen, zu schwächen, im Gegenteil bleiben ihre gerichdichen Kompetenzen erhalten und werden durch deren Verschriftlichung gesichert. Nichts belegt das deutlicher, als die erforderliche Ratifizierung durch die Land- und Stadtgerichte selbst, was immerhin sechs Jahre in Anspruch genommen hat 212 . Die Tatsache, daß im gerichtlichen Verfahren der Inquisitionsprozeß die alte Anklage ersetzt und damit das Vorverfahren durch königliche und fürstliche Behörden in Europa seit dem 16. Jahrhundert in den Vordergrund tritt, hat nicht selten zu der irrigen Interpretation geführt, das Strafrecht sei fest in der Hand des Staates. Das ist es, als Europa sich endlich der Fehde entledigt hatte, noch längst nicht, wie der endliche Rechtstag zeigt213. Selbst die Carolina beschreibt ausfuhrlich, wie das Gericht durch die Glocke einberufen wird, wie Richter (dieser mit Stab oder Schwert in der Hand) und Urteiler an der öffentlichen Gerichtsstätte, dem Marktplatz oder der Gerichtslaube, ihre Plätze einnehmen, wie der Beklagte seinen Weg zum Gerichtsplatz nimmt, öfters unterbrochen durch sein Zur-Schau-Stellen am Pranger oder im Halseisen, wie dann durch gewählte Fürsprecher aus dem Urteilergremium beide Parteien ihre Sache vertreten lassen, der Beklagte schließlich sein Geständnis ablegt und endlich der Spruch durch die Urteiler erfolgt, der den endlichen Rechtstag abschließt. 211
212
213
Gesatz vnd Ordnungen der ynzichten Malefitz Rechten vnd annderer notdurftigen henndeln des lannds der Grauevschaft Tyroll. [Codex 5097 des Landesregierungsarchivs fur Tirol, Innsbruck]. Zitat fol. a2. Z u m Entstehungshintergrund E. SCHMIDT, Strafrechtspflege, 99f., der allerdings jeden Zusammenhang mit der Carolina bestreitet. P. BUCKLE, Landschaften, 194-200. W . SCHILD, Rechtstag, 120-124. - Vornehmlich die Rechtsgeschichte beschreibt die Ausbildung des Strafrechts als eine Leistung des „Staates". Vgl. dazu summarisch die Beiträge in P. Landau - F.-Chr. Schroeder, Strafrecht. - Die Bedeutung der alten Urteilergerichte hingegen unterstreicht WOLFGANG LEISER, Strafgerichtsbarkeit in Süddeutschland. Formen und Entwicklungen (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 9), Köln-Wien 1971, 218-227.
190
7
FRIEDE
Es kommt hier nicht darauf an, die Formelhaftigkeit des Verfahrens zu betonen oder den Umstand zu würdigen, daß das Geständnis längst abgelegt oder auf der Folter erpreßt und das Urteil bereits schriftlich vorbereitet war, vielmehr geht es darum zu zeigen, daß der Friede ursprünglich im Gehäuse kommunaler Gerichte hergestellt wird. Eine eigene landesfürstliche Friedensgerichtsbarkeit entwickelt sich nicht, was ein weiteres Mal bestätigt, daß der fursdiche Anteil an der Herstellung des Friedens nicht überschätzt werden sollte. Das Theater der Vorführung des Delinquenten und seiner Hinrichtung, alt und herkömmlich wie es ist, dient der „Erweckung und Förderung der allgemeinen Bereitschaft, auch in schweren Konflikten sich der staatlichen Instanzen" (sachgemäß müßte es heißen: der gerichtlichen) „zu bedienen und keine Selbstjustiz zu üben"214. Wenn schließlich der Staat sich doch im Verlauf der frühen Neuzeit das Strafrecht vindiziert, so weil er, zunächst noch in der Person des Königs oder des Fürsten, Begnadigungen ausspricht, die Mittel der Strafverfolgung und des Urteilsvollzugs bereitstellt und in der Form der Polizeigesetzgebung vielfältige Maßnahmen präventiven Charakters ergreift, um Friedbruch zu verhindern. Das reicht von der Festlegung der Länge der Messer, die man im öffentlichen Raum tragen darf, über verbotene Scheltworte, die mit geradezu lexikographischem Eifer zusammengestellt werden, bis hinunter zum Diebstahl von Feldfrüchten und dem Überackern und Übermähen. Über die gute Policey in Deutschland und die bonne police in Frankreich werden strafrechtliche und privatrechtliche Tatbestände verschliffen, und mit dem immer perfekter werdenden theoretischen Ausbau der Monarchie wird dem princeps die Ausgestaltung der Polizei als Teil der summa potestas in cives ac subditos übertragen. In England, das ohnehin vom Kontinent abgewandt seine insularen Lösungen sucht, hat die Monarchie früher und ausschließlicher über ihre friedenstiftende Funktion Macht akkumuliert. Als contra pacem regis begangene Verbrechen galten Angriffe auf fremdes Eigentum zunächst dann, wenn sie in fehdeähnlichen Formen (trespass vi etarmis) erfolgten, im späten 14. und im 15. Jahrhundert jedoch konnte jede Eigentumsverletzung - in bizarrer Übersteigerung wurden darunter sogar Abgabenverweigerungen von Bauern verstanden - als Bruch des Königsfriedens behandelt werden215. Damit gehörten sie vor die königlichen Gerichte in Westminster oder in den Grafschaften und wurden dem common law integriert. Dort sprachen jene Adeligen als justices of peace im königlichen Auftrag Recht, die sich früher ihr Recht vi et armis besorgt hätten. Der Frieden wird in England vom König mit dem Adel zugunsten des Reichsrechts (common law) durchgesetzt, nicht von Kommunen und nicht in der denzentralisierten Form lokaler Rechtskreise, denen gegenüber das gemeine Recht der Carolina nur subsidiäre Funktionen hatte.
214 215
W. SCHILD, Rechtstag, 125. Vgl. ROBERT C. PALMER, English Law in the Age of the Black Death, 1348-1381. A Transformation of Governance and Law, Chapel Hill-London 1993.
191 7.5
KOMMUNALE FRIEDEN
Der Friede ist in Europa, von wenigen Sonderfällen wie England abgesehen, von Kommunen geschaffen worden. Das erfolgte in einem parallelen Prozeß von innerer Befriedung der kommunal organisierten politischen Verbände und einer flächigen Zusammenfuhrung der befriedeten Kommunen. Paradigmatisch ist der Fall der schweizerischen Eidgenossenschaft. Aber auch in Schweden reiht sich schließlich Landschaft an Landschaft und im lombardischen Bund Stadtstaat an Stadtstaat. Selbst dort, wo die Verflächung des Friedens nicht über ein lückenloses Netz von Kommunen erfolgt wie in Frankreich, Spanien und großen Teilen Deutschlands kann davon ausgegangen werden, daß die arbeitende Bevölkerung, die sich in Europa nahezu durchgängig kommunal organisiert hatte, einen massiven Druck auf die Könige ausübte, den Frieden verwirklichen zu helfen. Insofern läßt sich, eine klassische Definition von J O H N G I L I S S E N in qualitativ neu begründeter Form aufnehmend, der Friede als „phénomène social" beschreiben216. Die zahllosen Städtebünde allein im Reich sind dafür ein schlagendes Beweismittel217. Der Schwäbische Bund, der seit 1488 Süddeutschland befrieden sollte und leitmotivisch den Ewigen Reichslandfrieden von 1495 vorwegnahm, ist ohne die Reichsstädte als entscheidende Mitbegründer und ohne die anrainende Schweizer Eidgenossenschaft als Vorbild nicht denkbar218, ja selbst ländliche Gemeinden scheinen fur seine Wirksamkeit nicht bedeutunglos gewesen zu sein219 - ein Aspekt, der angesichts des Etatismus der deutschen Verfassungsgeschichte ganz unberücksichtigt geblieben ist. Die in der Literatur übliche Einengung der Friedensbewegung auf die Städte muß entfallen220, vielmehr auf Kommunen insgesamt ausgedehnt werden, wie die Entwicklung im skandinavischen Raum lehrt. Schon die Logik des Faktischen legt es nahe, daß die von den Fehden noch stärker als die Bürger betroffenen Bauern am Frieden interessiert sein mußten. Die Kommune als Gesellschaftsform entstand als zunächst insulares Gebilde in einer Gesellschaft, deren Bindungen über die Familie (Geschlecht, Verwandtschaft) natürlich und über das Haus nach Befehl und Gehorsam organisiert waren221. Die Gemeinde hingegen fußt auf politischer Gleichheit ihrer Mitglieder und auf einem nach außen markant abgegrenzten Raum. Das gilt nicht nur für die Stadt. Das Dorf hat eine Mark, die man von Grenzstein zu Grenzstein umgehen kann, und ist keine villicario mehr oder minder starker 216
217
J. GLLISSEN, Histoire comparative de la paix, 7. Näherhin wird Friede definiert als „un état des rapports soit entres les hommes individuellement, soit entre les groupes sociaux". Vgl. als neuere Zusammenstellung des Materials GERHARD DILCHER, Die Stadtbürgerschaft zwischen Widerstand und Repräsentation, in: DERS., Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln-Wien-Weimar 1996, 335-369, hier 352-355.
218 p E X E R BLICKLE - RENATE BLICKLE, S c h w a b e n v o n 1 2 6 8 b i s 1 8 0 3 ( D o k u m e n t e z u r G e s c h i c h t e v o n S t a a t 219
220
221
und Gesellschaft in Bayern II/4), München 1979, 154-157. Kaiser Maximilian stellte 1497 Städten und Landgemeinden in Vorarlberg Schadlosbriefe für ihre Verschreibung zum Schwäbischen Bund aus (ζ. B. Vorarlberger Landesarchiv Bregenz, Urkunde 6693). Vgl. VICTOR KLEINER, Regesten zur Geschichte der Vorarlberger Landstände, in: Archiv fur Geschichte und Landeskunde Vorarlbergs 1904, 52. Die Einschränkung macht immer noch, obwohl ihm das Kommunalimusmodell bestens vertraut ist, G. DILCHER, Friede durch Recht, 222. O . G . OEXLE, V e r s c h w ö r u n g , 1 4 8
192
7
FRIEDE
Verklumpungen von Höfen eines Herrn. Folglich hat der kommunale Friede erstens einen Flächenbezug. Der geht den Gottesfrieden ab. Wo sich Gemeinden als Eidgenossenschaften einen gewissermaßen höheren Grad der personalen Verdichtung mit einem erweiterten moralischen Anspruch zulegen, tun sie es in erster Linie um des Friedens willen. Im Gegensatz zu den Landfrieden sind die kommunalen Frieden zweitens auf die Ewigkeit hin entworfen. Irreversibel, wie sie konzipiert sind, verlangen sie totale Beugung aller Mitglieder unter das Friedensgebot in seiner positivierten Form. Wer sich dem Frieden nicht fugt, wird entsprechend der Schwere des Friedbruchs enthauptet, aus der Stadt verwiesen und gewüstet oder ihm wird in minderen Fällen ein Glied abgeschlagen oder abgeschnitten. Der Friedbrecher wird entweder vernichtet oder fiir immer markiert 222 . Hinter diesen Maßnahmen steht eine Zweckrationalität, die keine Spur von Emotionalität mehr duldet. Das allein kann die vera pax schaffen, die der treuga mit ihren erlaubten Nischen fur Gewalt weit überlegen ist. Der kommunale Friede ist drittens gewillkürt, und das in einem dreifachen Sinn: Definiert wird der Friede durch Satzungen aller Mitglieder der Kommune (vermittelt über Wehrfähigkeit oder Haus), Satzungsübertretungen werden aufgedeckt durch Alt Anzeigepflicht Αία Mitglieder und verfolgt dadurch, daß alle persönlich sich für den Frieden einsetzen, einerseits durch das Friedegebot und andererseits durch die Funktion als Urteiler im Gericht. Der kommunale Friede hat gesellschaftlich egalisierende Folgen. Das gilt zunächst in dem Sinn, daß zwar innerhalb der Mark der Gemeinde nach Besitz und Vermögen und nach der sozialen Wertschätzung Unterschiede bestehen, nicht jedoch rechtlich. Alle eint ein korrespondierendes System von Rechten und Pflichten. Ihm ist der Adelige im südschwedischen Uppland ebenso unterworfen, wie der Patrizier in Mailand. Diese Binnenmediatisierttng einer aristokratischen Herrenschicht im Raum der Kommunen läßt sich parallelisieren mit einer Entmachtung des Adels in Europa insgesamt (Abb. 6). Eigentumsverhältnisse interessieren die kommunale Friedensbewegung in Europa nicht, wohl aber Machtverhältnisse. Wer unter der Fehde leidet, wird ihr schwerlich das Ethos legitimer Gewalt zuschreiben können. „Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann" ist mehr als rhetorische Kleinkunst des gemeinen Mannes, es ist die zum einprägsamen Zweizeiler geschmiedete Ideologie zu den spätmittelalterlichen europäischen Bauernaufständen und Stadtrevolten. Man kann das auch interpretieren als Aufbäumen gegen die Gewalttätigkeiten eines fiinktionslos gewordenen Adels (geistliche Herrschaften wie Klöster eingeschlossen) 224 , der die angeblich rechte Gewalt in der Fehde dazu einsetzte, seine Macht in der Weise zu sichern, daß
222 223
224
Ebd., 115. Diese Zusammenhänge sind von der Strafrechtsgeschichte bislang nicht gewürdigt worden. Vgl. etwa R. His, Strafrecht 1,380, der solche Beobachtungen sachlich auf die Popularklage und räumlich auf einzelne Gebiete der Schweiz beschränkt. - Neuerdings hat den Gedanken einer Beteiligung der „Dorf- und Gerichtsgenossen" bei der Ausbildung des Strafrechts D. WLLLOWEIT, Vertragen, Klagen, Rügen, 194-224, besonders 211, für Franken aufgrund von Weistumsanalysen aufgenommen. So schon die Interpretation des deutschen Bauernkriegs bei O. BRUNNER, Land, 348. - Für Frankreich und England zuletzt R. W. KAEUPER, War, 269-380. - Für einen gesamteuropäischen Überblick noch immer G. FRANZ, Außerdeutsche Bauernkriege, bes. 92.
193
Kommunale Frieden
lanötfnö öurrtjIkafßrCa rol tren
fimfffcm
IxifFîrem
fieíclje^
i t a g ^tr © c m í w .
Abb. 6:
Titelholzschnitt zum „Landfrieden Karls V. vom 1521 ". Das Bild zeigt unten friedlich ihre Waren zum Markt bringende Bauern, vielleicht auch Kaufleute vor einem Dorf. In der Bildmitte der den Landfrieden verkündende Herold. Im oberen Bildteil im Wald versteckt unter einer Burg mit Spießen bewaffnete Adelige. Quelle: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln, Sign. GB V2291.
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FRIEDE
er Bauern und Bürger durch Raub und Brand ökonomisch auf jenem Niveau zu halten suchte, das sozialen und erst recht politischen Aufstieg verhindern sollte225. Die kommunale Friedensbewegung allein aus dem Antagonismus Oben - Unten, Herrenstände - Arbeitende erklären zu wollen, würde das zugrundeliegende Probleme nur hälftig erfassen. Denn Gewalt war nicht nur dem Adel habituell, sondern auch den Bürgern und den Bauern nicht fremd und schließlich auch den Priestern, glaubt man den Gravamina, die allein aus Reichsstädten im Spätmittelalter beim Erzbischof von Mainz eingingen. Die Kommune als Sozialform verdichteter menschlicher Beziehungen kann anders als im Frieden nicht entstehen, geschweige denn bestehen. Folglich domestiziert der gemeine Mann nicht nur die Adeligen in seiner Gemeinde, sondern auch sich selbst. Das ist in einem ganz wörtlichen Sinn gemeint, weil der politische Verband Gemeinde auf Häusern gründet und nicht mehr auf Schwertern. Die kommunalen Frieden gehören zu den größten Kulturleistungen Europas. Wie in einem gigantischen Drainageunternehmen ziehen die Kommunen gewissermaßen die physische, mit Waffen geführte Gewalt aus Europa heraus und unterkellern es, um im Bild zu bleiben, mit einem stabilen Fundament von Gerichten. Das war die Voraussetzung, um einen Staat im modernen Sinn aufzubauen, der sich wesentlich über Recht und Gesetz definierte 226 .
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Prononciert G. ALGAZI, Gebrauch der Fehde. - Ausfuhrlicher DERS., Herrengewalt, 128-167. -Ähnlich schon R. W. KAEUPER, War, 352f. Vgl. den Entwurf einer Typologie der Frieden von J . GlLISSEN, Histoire comparative de la paix, 19—22.
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DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE - DAS BONUM COMMUNE DER RES PUBLICA
Jahrzehntelang haben die europäischen Sprachen Begriffe ausruhen lassen müssen, die durch Nationalsozialismus, Faschismus und Totalitarismus eine ideologisch verfremdende Kontextualisierung erfahren hatten und damit eine Verfemung ihres ursprünglichen Sinns erdulden mußten. In Deutschland gehören dazu politische Schlüsselbegriffe wie Volk oder Gemeinschaft. Kaum ein deutscher Bundeskanzler bringt das Wort Volk über die Lippen, jedenfalls galt das fiir mindestens 40 Jahre bundesrepublikanischer Geschichte, für jeden schweizerischen Bundesrat hingegen gehört das Volk (und Schweizervolk) selbstverständlich zum Grundwortschatz seiner politischen Rhetorik. Unter das Verdikt des Unausprechbaren ist auch der Gemeine Nutzen gefallen, der in der Formel Gemeinnutz geht vor Eigennutz der nationalsozialistischen Ideologie eine ethische Fundierung zu unterlegen vorgab und schließlich auch „zum Leitmotiv der nationalsozialistischen Eingriffe in das Rechtssystem" aufrückte1. Politische Umstände, die den Wörtern ihren Sinn geben oder nehmen, sie positiv oder negativ konnotieren, erleichtern oder erschweren auch ihren wissenschaftlichen Gebrauch. O T T O B R U N N E R , um nur einen von solchen Wechseln besonders betroffenen Historiker unter den renommierteren des Jahrhunderts zu nennen, hat darauf ironisch geantwortet, indem er das Volk νon 1939 gegen die Struktur won 19572 eintauschte. Der Gemeine Nutzen als wissenschaftlicher Forschungsgegenstand hatte zweifellos während des Dritten Reiches Konjunktur3. Damit war die Absicht verbunden, ihn als typisch germanisch zu qualifizieren und ihn als solchen durch einen festen Sockel empirischer Belege zu würdigen. Beides ist gescheitert, die Germanisierung deswegen, weil die Belege räumlich und sachlich immer in die Nähe der italienischen Stadtstaaten führten beziehungsweise in das Referenzsystem von griechischer polis und römischer civitas, und die Würdigung, weil unterhalb einer politiktheoretischen und theologischen Ebene nicht viel hervorlugte. Es ist nicht untypisch, daß die Gemeinnutz-Debatte der dreißiger und vierziger Jahre in Form von schlanken Aufsätzen gefuhrt wurde, monographische Darstellungen hingegen fehlen. Daß indessen der Gemeine Nutzen trotz der wenigen zutage geförderten Belege keine nationalsozialistische Erfindung war, er vielmehr tief in der deutschen Geschichte wurzelte, be-
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Grundlegend M. STOLLEIS, Gemeinwohlformeln, 2 [das Zitat], O . BRUNNER, Land. Abschluß der Neubearbeitung nach dem Krieg war das Jahr 1957. Vgl. P. HIBST, Utilitas Publica. D o n chronologisch sortiert alle einschlägigen Publikationen bis zum Erscheinen des Buches selbst. - Speziell die Juristen kritisch aufgearbeitet bei M. STOLLEIS, Gemeinwohlformeln. - Unter den Historikern sind hervorzuheben die Arbeiten von MERK (1934) und DlEHL (1937) [ausfuhrlicher behandelt in Band 1], wobei in beiden Arbeiten der Gemeine Nutzen eng an Friede und Recht gebunden erscheint. - Bei G. RADBRUCH, Lieb der Gerechtigkeit [1941], treten Theorien (Thomas von Aquin, Cicero) stark in den Vordergrund. - In diesen Kontext gehört auch W . BERGES, Fürstenspiegel.
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D E R GEMEINE N U T Z E N DER KOMMUNE
legen das Grundgesetz der Bundesrepublik und die Verfassungen der Bundesländer4. Der Bundespräsident leistet vor der Bundesversammlung einen Amtseid, sich fur das Wohl des Volkes einzusetzen und „seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden" zu wollen5. Bayern als Freistaat, so heißt es in der Verfassung vom 1. Dezember 1946, „dient dem Gemeinwohl". Mit der Zustimmung von 2090444 Bürgerinnen und Bürgern wurde das in Kraft gesetzt6. Man wird kaum unterstellen wollen, solche Formulierungen seien einer braunen Vergangenheit der Verfassungsväter geschuldet, vielmehr daraus den Schluß ziehen müssen, daß das Wortfeld um den Gemeinen Nutzen (Gemeinwohl) seine eigene, systemunabhängige Dignität hat. In Deutschland hat man sich nach 1945 auf die chrisdiche Sozialethik, näherhin den Thomismus, bezogen7. Die Annahme einer eigenen Dignität des Gemeinen Nutzens ist um so berechtigter, als auch andere europäische Verfassungen durchaus mit dem Gemeinwohl als staatsbegründendem Zweck arbeiten8. Offensichtlich ist der Gemeine Nutzen und sein semantisches Umfeld {Gemeinwohl, Wohlfahri) einerseits zur Sinnstiftung von Politik unentbehrlich, andererseits kann man ihn in ideologisierender Absicht leicht mißbrauchen. Diese Beobachtung soll zur Orientierung dienen, das Problemfeld nochmals unter dieser doppelten Fragestellung durchzuarbeiten. In der konkreten Entfaltung müssen drei Schritte gewählt werden: es geht zunächst um eine nochmalige Archäologie des Gemeinen Nutzens (1), dessen behauptete kommunale Herkunft über ein eingeschobenes Kapitel über die allgemeinen Staatszwecklehren überprüft werden soll (2). Dabei wird sich zeigen, daß Kommunen den Gemeinen Nutzen entwickelten, Kaiser, Könige und Fürsten zu seiner Entfaltung nichts, jedenfalls äußerst wenig zu bieten hatten. Erst nachdem sich die spätmittelalterliche, kommunal organisierte Gesellschaft auf den Gemeinen Nutzen als den neben Frieden wichtigsten Zweck von politischer Vergesellschaftung verständigt hatte, schien es auch den Königen und Fürsten angezeigt, ihn sich zur Stabilisierung ihrer eigenen Legitimität anzueignen. Inszeniert als gute Policey wurde der Gemeine Nutzen obrigkeitlich vereinnahmt (3). Seitdem bevölkert er alle Reichspolizeiordnungen, Landesordnungen und ordonnances, wird damit amorpher und in höherem Maße ideologisierbar. Gemeinnutz, Eigennutz und Nichtsnutz seien austauschbare Wechselbegriffe, lautet die Erkenntnis eines liberalen Wirtschaftsministers der Bundesrepublik.
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Belegstellen bei M. STOLLEIS, Gemeinwohlformeln, 3, besonders Anm. 16. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 56. Verfassung des Freistaates Bayern, Artikel 3. Dazu einige Bemerkungen bei M. STOLLEIS, Gemeinwohlformeln, 4. Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 [in Kraft], Artikel 2. „Der Bund hat zum Zweck: [...] Beförderung ihrer [der Eidgenossen] gemeinsamen Wohlfahrt". Frankreich Constitution du 4 octobre 1958 mit Rückverweis auf [die geltende] Déclaration von 1789 [„utilité commune", Artikel 1]. - Spanien Verfassung vom 6. Dezember 1978 [Preambulo].
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GEMEINER N U T Z E N IM KOMMUNALEN KONTEXT
Für die Konzeptualisierung des Begriffs Kommunalismus war nichts so arbeitsaufwendig, wie den Gemeinen Nutzen aus den Quellen zu erheben und die Belege abstrahierend auf eine Definition zuzuspitzen. Das liegt daran, daß sich in der Literatur fest die Überzeugung eingegraben hat, der Gemeine Nutzen, das bonum commune, diene jedem politischen Verband als Zweck. Das ist, wie zunächst fur den oberdeutschen Raum gezeigt werden konnte, eindeutig falsch. Weltliche und geisdiche Fürsten haben zur Herausbildung des Gemeinen Nutzens in ihren Herrschaftsgebieten nichts geleistet, vielmehr erwächst das Wort aus einem bäuerlichen und bürgerlichen Diskussionszusammenhang im Rahmen ihrer Gemeinden. Die naheliegende Ineinssetzung von Gemeinem Nutzen und bonum commune erwies sich darüber hinaus als voreilige und letzdich unhaltbare Kontextualisierung. In Oberdeutschland ist der Gemeine Nutzen nicht das deutschsprachige Äquivalent zu bonum commune, sondern ein aus der konkreten Lebenswelt entstandener, an der politischen Erfährung gemeindlicher Verbände entwickelter Begriff, der allerdings scharf der Legitimierung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse, dem Herrennutz, widersprach. Der Gemeine Nutzen präsentierte sich auch als mühsame Umformung einer älteren Eidformel, die alle Grundholden und Eigenleute (gleichgültig, ob sie auf dem Land oder in der Stadt wohnten) ihrem Herrn zu leisten hatten: des Herren Nutzen zu fordern und seinen Schaden zu wenden. Dem Gemeinen Nutzen ist folglich in hohem Maß ein herrschaftskritisches Potential eigen. Er diente dazu, einerseits die Gestaltung des öffendichkommunalen Raums mittels Gesetzen {Statuten, Einungen) zu regulieren und andererseits die Gewalt (Fehde) durch gerichdiche Verfahren zu ersetzen. Das rückt ihn in die Nähe des Friedens. Wie generalisierbar ist diese Einsicht, oder wieweit muß sie, legt man einen europäischen Maßstab an, modifiziert werden? Die Frage wird exemplarisch an Frankreich mit einer schließlich sich ergebenden Engfìihrung auf Paris (1) und an Bern mit einer schließlich notwendigen Ausweitung auf die Schweiz insgesamt (2) erörtert. Kursorische Ausblicke auf andere europäische Länder (3) sollen schließlich das gewonnene Bild abrunden helfen.
8.1.1
Commun profit
Die französische Sprache kennt ein zum deutschsprachigen Gemeinen Nutzen vergleichbares kompaktes Begriffsfeld9. Die Leitbegriffe, um die gemeinte Sache zu beschreiben, sind nach einem lateinischsprachigen Vorlauf mit publica utilità - um 1300 commun profit,
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Die Aussagen gelten unter dem Vorbehalt, daß eine systematische Auswertung des gedruckt vorliegenden Quellenmaterials nur über die 28 Bände von Decrusy - Isambert - Jourdan, Anciennes lois françaises, erfolgte. Das semantische Feld wurde über die Register erschlossen. Ebd. 2, 692 Nr. 300: Eine königliche Ordonnance vom 8. März 1293 verbietet das blasphemische Anrufen Gottes, Marias und der Heiligen. „Cum publice utilitatis intersit ne crimina remaneant impunita [...]". Ebd. 2, 832 Nr. 417: „commun prouffit de nostre royaume", „commun prouffit et salut de nostre royaulme"; 3, 297 Nr. 604 : „le bien et le profit commun", „bien commun". Weitere Belege mit diesen Wortfeldern ebd. 3, 318 Nr. 629, 324f. Nr. 635 ; 4 , 4 4 4 Nr. 89.
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am Ende des Mittelalters bien public und chose publiqué2 bien de l'état.
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
und spätestens im 18. Jahrhundert
Die zeitliche Erstreckungsbreite schrumpft allerdings deudich auf die Epo-
che von 1300 bis 1500, berücksichtigt man, wie häufig die Wörter verwendet wurden. Die empirische Basis fur die Erhebung des Gemeinen Nutzens in der politischen Rhetorik Frankreichs bildet die Sammlung der Anciennes lois françaises. Sie hat den Vorzug, die gesamte Epoche des Ancien Régime in den Blick zu nehmen, allerdings berücksichtigt sie nahezu ausschließlich königliche Gesetze (ordonnances) und Edikte. Damit entsteht notwendigerweise der Eindruck, daß sich dort, wo von commun profit und bien public die Rede ist, eine königliche Maxime politischen Handelns offenbare. Kontextualisiert man solche Begründungen mit den ihnen zugrundeliegenden konkreten Verfugungen, treten sachlich die nämlichen Ordnungsprobleme in den Vordergrund, die auch in Oberdeutschland dem Begriff Gemeiner Nutzen aufgeholfen hatten: einerseits die Sorge für gerechte Preise fur Lebensmittel, unverfälschte Münzen und sichere Verkehrswege (1) und andererseits die Absicht, den Frieden zu sichern und Fehden zu ächten (2). In beiden Fällen waren das Regelungsbereiche im Interesse des Dritten Standes, der schließlich auch seine politische Repräsentation in den états généraux nutzte, um den Gemeinen Nutzen als Zweckbestimmung politischen Handelns nach vorn zu bringen (3). (1) Commun profit dient bei seiner ersten Erwähnung 1305 dazu, für Paris eine Getreide-, Brot- und Bäckerordnung zu erlassen. Anlaß waren „les requestes de la communaulté des genz de Paris" 1 4 , die Initiative kam folglich aus der Bürgerschaft, nicht vom Hof. Z u den zeitlich nächsten Belegen gehört eine Münzordnung von 1322, die zwar im Großen Rat („grant conseil") des Königs beraten wurde, an der aber offensichtlich die Städte ein beson-
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Ebd. 7, 284f. Nr. 539: „bien et honneur de nostredict royaume", „à l'honneur et utilité de nous et de nostre royaume", „la chose publique de nostredit royaume", „deuëment gouverné au bien de nous et de nostredicte peuple" und „bien public du royaume". - Für chose publique ebd. 8, 794 Nr. 69. Erlaß einer Notariatsordnung („l'utilité de la chose publique de nostredit royaume" zum Jahre 1433). - Weitere Belege ebd. 3, 175 Nr. 336 : „le proufit de la chose publique"; 11, 250f. Nr. 95: servir „la chose publique" zu 1493. - Der Begriff wird schließlich um 1500 sehr häufig und variantenreich verwendet, beispielsweise in einem Edikt vom 20. 10. 1508 zur Sicherung der Lebensmittelversorgung durch angemessene Preise (ebd. 11, 525-533 Nr. 86): „contraire à la chose publique d'iceluy [royaume]", „grand dommage et interest universel de ladite chose publique", „ordre, taux et police sut toutes les choses nécessaires pour la vie et conservation humaine", „au bien de la chose publique", „au profit et conservation de ladite chose publique" und „le plus raisonnable et profitable pour la commune utilité de chacun". Weitere Belege ebd. 12, 219f. Nr. 114. Ebd. 23, 526 Nr. 432. Bekanntmachung dei Parlement vom 30. März 1776 fur die Aufrechterhaltung der öffendichen Ruhe. Um die Unruhen zu dämpfen, die „contraires à l'autorité du roi, au bien de l'état, aux droits de propriété des seigneurs, et aux véritables intérêts du peuple", entstanden seien, verlangt das Parlament von allen Untertanen, ihren Schuldigkeiten gegenüber den Herren nachzukommen und verbietet die Propagierung von Neuerungen, die den Rechten und Gewohnheiten widersprechen. „[...] sur lesquelles nous [König Philipp. P.B.] avons ordené et repondu pour le communprouffit, si comme cy-dessoubz est contenu [...]". Ebd. 2, 828 Nr. 411.
8.1
Gemeiner Nutzen im kommunalen Kontext
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deres Interesse zeigten 15 . Gleiches gilt fur eine Ordonnance von 1327, die „pour le commun prouffit" den Besuch der großen Messen regelte. Vorangegangen waren offensichtlich Beschwerden der Städte und Untertanen, die durch Betrügereien stark geschädigt worden waren 16 . Es diene der „utilité de la chose publique", verfugt eine Ordonnance vom 1. März 1388, wenn der prévôt von Paris dafür sorge, daß Straßen und Brücken nicht nur in Ordnung, sondern auch sauber gehalten würden 1 7 . 1392 wurden Maßnahmen zur Sicherstellung der Wasserversorgung von Paris ergriffen. „Pour bien gouverner noz subgiez et la chose publique", um „la chose publique de nostredicte ville" zu fördern, heißt die legitimierende Begründung 18 . D e n Gemeinen Nutzen zu fördern - so spricht sich die Politik rhetorisch seit dem 15. Jahrhundert aus - ist bonne police. Der Zusammenhang wird zum ersten Mal umfassend in einer Ordnung fur Paris von 1415 hergestellt 19 , die in der Tat den Namen
Polizeiordnung
verdient. Zur Sicherstellung der Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln und Kaufmannswaren aller Art werden „pour le bien et utilité de nous, de nostredicte bonne ville, de toute la chose publique, et des bourgeois, marchans, manans et habitans et autres frequentane et affluans en icelle" oder, wie es paraphrasierend später heißt, um die Stadt „en bon régime et vraie police" (variierend spricht der Text auch von „bonne police") zu setzen und zu halten, alle Mißbräuche abgestellt. Das geschah in der Weise, daß das gesamte in Paris geltende
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Ebd. 3, 297 Nr. 604. „Charles [...], Roy de France et de Navarre, au prevost de Paris [...], salut. Comme nous [...] aions souverain désir de entendre au bon regimen, et seur Testât d'icely et d'ordonner en tele maniere que ce soit à la loiiange de Dieu, et à la pais et tranquillité des subgiez, et pour le bien et le profit commun . Verhandlungen, so der Text, hätten stattgefunden „avec nos bonnes villes, les quelles nous avons mandées sus ce, avec nostre grant conseil, apellez à ce pluseurs sages cognoissans, et experts, ou fait des monoies, regardé et considéré, à tout ce qui püet touchier cette besoingne, afin que nos dites monoies ne faillent et ne perissent, ainçois puissent estre moutepliées, et accriies, pour bien commun, avons ordonne, et ordenons en la maniere qui s'ensuit, etc." Ebd. 3, 324f. Nr. 635: „Charles, par la grace de Dieu, Roys de France [...], nous qui avons volonté, o grant, désir de mettre remede convenable et hastif en ceste besoigne, et en la reformación des dites foires, et de garder les bon usaiges et anciens d'icelles, par quoy li pueples, les marcheans et frequentane des dites foires ne soient des-ores-en-avant grevez, ne domaigiez, et puissent aller, et venir seurement aus dites foires, sous nostre conduit, et de nostre authorité royalle, et de certaine science, eu sur ce deliberación avec nostre grand conseil, et pour le commun prouffit, avons Ordené, et ordenons et eu la forme et en la maniere qu'il s'ensient." Ebd. 6, 663f. Nr. 123: „Charles etc. Comme à nostre prevost de Paris seul et pour le tout, appartiengne pour nous et doye appartenir à cause de son office principalement et non à autre, la cure et le gouvernement de nostre bonne ville de Paris, pour ycelle tenir et garder en telle et si bonne justice, ordenance et policie de toutes choses, que ce soit à la loüenge de Dieu, à notre honneur, au bien et décoracion de ladicte ville, et à l'utilité de la chose publique, et nous soïens acertenez souffisamment que en nostre dicte ville, a eu ou temps passé et encores a plusieurs faultes notables ou gouvernement et estât d'icelle [...]". Der prévôt soll zu diesem Zweck die Kompetenz haben, alle Bewohner, die Häuser, Gärten oder andere Gebäude und Wohnungen besitzen, welchen Standes und Ranges sie auch seien, zu zwingen, den Platz vor ihren Häusern sauber zu halten sowie Pflaster und Dämme zu reparieren. Ebd. 6,71 Off. Nr. 166. Ebd. 8,427-430 Nr. 626.
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D E R GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
Recht 20 unter Beiziehung von städtischen Vertretern 21 geprüft, überarbeitet und den aktuellen Bedürfnissen angepaßt wurde 22 . Paris diente offenbar als Treibhaus für die Hervorbringung der Polizeien und als Laboratorium fur eine inhaltliche Festlegung des Gemeinen Nutzens. Die gefundenen Lösungen liessen sich nach den gemachten Erfahrungen offensichtlich auf das Land ausweiten. Aber auch hier bedurfte es augenscheinlich des Anstoßes von unten, also der Supplikationen, um am Hof entsprechende Reaktionen auszulösen. Jedenfalls wurde 1508 eine Polizeiordnung („bon ordre et police generale") fur Frankreich insgesamt erlassen, die einerseits die königlichen Beamten verpflichtete, in ihren Amtsbereichen Taxen fur alle lebensnotwendigen Güter zu erlassen, andererseits es dem König selber vorbehielt, auf seinen Reisen bestehende lokale Policeyen zu bestätigen oder zu verbessern23. (2) „Contra bonos mores, et utilitatem et bonum statum würden in Frankreich Fehden geführt, heißt es in einer königlichen Urkunde von 1303 2 4 , sie seien „ad statum prosperum regni nostri" einzustellen und durch gerichtliche Verfahren zu ersetzen. Hier operiert die Logik der europäischen spätmittelalterlichen Friedensbewegung, die, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt werden sollte, als wesentlich kommunal geprägt interpretiert werden kann. Das allgemeine Friedensgebot ließ sich nur langsam, nach Rückschlägen und mittels mehrfacher Modifikationen durchsetzen25. Daß daran die königlichen Untertanen ihren Anteil hatten, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Hundertjährige Krieg zwischen England und
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Die Quelle spricht von „ordonnances, coustumes, constitucions, status, usaiges et communes observances anciennes". Der Text nennt namentlich „plusieurs notabels personnes, bourgoiz, marchans et autres de plusieurs et divers estats en grant nombre", die von prévôt und ¿chevins zur Beratung („deliberación") zusammengerufen worden seien, ergänzt um „la plus grant et saine partie des officiers". Offensichtlich waren während des 15. Jahrhunderts mehrfach die coutumes erneuert und ergänzend eigene ordonnances erlassen worden, denn 1510 wurde das Parlement von Paris vom König angehalten, die „coutumes pour le bien et soulagement de noz subjects" zu registrieren und zu publizieren. Dazu wurden eigens einberufen „tous et chacuns les comtes, barons, chastelains, seigneurs, haulx justiciers, prélatz, abbez, chapitres, noz officiers ausdits lieux, advocatz, licenciez, praticiens et aultres, bons, notables bourgeois de ladite ville, prévosté et viconté". Decrusy - Isambert - Jourdan, Anciennes lois françaises 11, 560 Nr. 93. Ebd. 11, 525-533 Nr. 86, : „Loys etc. Comme par plusieurs grandes plaintes, doleances et remonstrances faites [...]", bezüglich des Besuches der Märkte. Der König verfugt, daß die „officiers et gouverneurs des villes et pays de ceux qui seront avec eux appeliez, selon que dessus, en leur bonne et saine conscience, mettent et mettront generalement ordre, taux et police sur toutes les choses nécessaires pour la vie et conservation humaine, de quelque marchandise, art mechanique ou mestier [Hervorhebung P.B.], qu'elles soient, au cas qu'ils cognoissent qu'en icelles soit fait abus et fraude par faute de police, au dommage de nosdits subjets, et autres allans, venans et frequentane en nosdits royaume et seigneuries. Et autrement y procéderont en maniere que lesdits taux puissent estre fructueux, et que tous les abus, fraudes et pilleries cessent, et soient ostez et abbatus au bien de la chose publique". Die police diene, heißt es später, „au profit et conservation de ladite chose publique". Ebd. 2, 807f. Nr. 395. Der König erläßt „ordinationes patentes et statuta utilia et salubria, pro gubernatione et bono statu regni predicò, pro pace etiam et tranquillitate subjectorum nostrorum". Ebd. 2, 764 Nr. 371. Es folgen Bestimmungen gegen die Fehde. Ebd. 2, 806 Nr. 395, 832 Nr. 417. Vgl. auch ebd. 12,217-220 Nr. 114.
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Gemeiner Nutzen im kommunalen Kontext
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Frankreich, der vornehmlich die bäuerliche Bevölkerung zusätzlich durch Fehden belastete, Reformforderungen provozierte und schließlich der Aufstand der Pariser Metzgerzunft (cabochiens) dafür sorgte, daß durch das Parlement ein umfassendes Reformwerk von 259 Artikeln rechtskräftig wurde26. (3) Der Gemeine Nutzen wurde schließlich auch zu einer Legitimationsfigur der französischen états généraux und états provinciaux fur ihre Reformwünsche27, wobei allerdings der Anteil des Dritten Standes nicht immer zweifelsfrei bestimmt werden kann. 1566 forderten die Einwohner von Rennes (manans et habitant) im Zusammenhang der Vorbereitung einer Provinzialständeversammlung für die Bretagne, das dortige Parlement solle permanent tagen, mit der Begründung, damit könne dem „bien et utilité publicq du pays et duché de bretaigne" aufgeholfen werden28. Zur Prüfung der 1576 fiir die Versammlung der états généraux eingereichten Beschwerden war die Königin zur Förderung des bien général des Königreichs durch das Land gereist, erst danach hatte man die Ordonnances vom Mai 1579 publizieren können29. Die Schwerpunkte der Artikel in den Ordonnances30 finden sich indessen alle wieder in den 50 doléances ländlicher Gemeinden im Baillage von Chartres31. Daß über bien publique und bien commun in burgundischen Dorfgemeinden noch im 18. Jahrhundert gesprochen wurde32, mag ein Indiz fur einen langen kommunalen Gebrauch sein. Die meisten Belege entstammen der königlichen Kanzlei, es spricht der König. Aber der König spricht insgesamt doch selten vom commun profit und vom bien public. Am häufigsten werden die Termini verwendet, um Ordnungsmaßnahmen fur Paris zu begründen (oder die Städte allgemein) und Gerichten gegenüber Fehden den Vorrang zu sichern. Darf man daraus schließen, daß das Wort Gemeiner Nutzen selbst auch in Frankreich aus einem kommunalen Milieu stammt? Die Vermutung ist so abwegig nicht, blickt man auf die Arengen der Urkunden der französischen Könige 33 oder in die Fürstenspiegel. Der König ist „unmittelbar zu Gott", er übt die Tugenden der dementia und pietas, er zeichnet sich aus durch
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Die Zusammenhänge erarbeitet bei W. EBERHARD, Gemeiner Nutzen, 208f„ gestützt auf Decrusy - Isambert - Jourdan, Anciennes lois françaises 7, 282ff. Nr. 539. - Im Kontext der spätmittelalterlichen königlichen Gesetzgebung A. WOLF, Gesetzgebung, 639-650, hier 647f. Allgemeine Literatur bei N. BULST, Generalstände, und M. ORLEA, États généraux de 1576. Zitiert bei B. HODLER, Doléances, 62 Anm. 15. Decrusy - Isambert - Jourdan, Anciennes lois françaises 14, 381 Nr. 103. In Blois, so der König, hätten die Stände ihre Beschwerden eingereicht, sie würden auch durch eine entsprechende Ordnung [1579 erlassen] bereinigt. Zuvor sei es allerdings nötig gewesen, die Ruhe im Lande wieder herzustellen. „Et pour cet effet nostredite dame et mère auroit voulu prendre la peine de s'y transporter et s'y employer, comme elle fait encore de présent, avec le même soin, zèle et affection qu'elle a toujours porté au bien général de notre royaume." Ebd. Sachbetreffe der Ordonnance (nach Vorgabe der Edition): 1. Klerus, Kirche (Art. 1-64), 2. Justiz (Art. 89-209), 3. Beamte (Art. 210-255), 4. Adel und Kriegsleute (Art. 256-328), 5. Königsland und Abgaben (Art. 328-353). Breit referiert unter Herausarbeitung der Schwerpunkte 1. Klerus, Kirche, 2. Justiz, 3. Adel, 4. Kriegsleute und Steuern bei B. HODLER, Doléances, 37—45. W. SCHMALE, Grund- und Menschenrechte, 385fF. H. FICHTENAU, Arenga, 183.
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D E R GEMEINE N U T Z E N DER KOMMUNE
prudentia, temperantia, fortitude'^, und er garantiert iustitia. Belege dafiir, königliche Herrschaft fördere „le prouffit evident de nous et de nostre peuple"35, sind äußerst selten, vielmehr rangiert noch am Ende des 15. Jahrhunderts die Gerechtigkeit vor allen anderen Staatszwecken in Frankreich. „Justice est la première et plus digne des vertus cardinales", heißt es bei Ludwig XII. 149836. Der Verdacht, in Frankreich erhalte der Gemeine Nutzen starke Impulse aus dem kommunalen Bereich (Paris), läßt sich methodisch auf dem Weg des Vergleichs prüfen. Als Beispiel sei wegen einer besonders guten editorischen Erschließung Bern gewählt, eine Zähringer Gründung und als solche im Spätmittelalter eine königliche Stadt. Der Korporationscharakter von Bern ist stärker ausgeprägt als der von Paris, folglich bedürfen auch statutarische Vorhaben anders als in Frankreich nicht des Gütesiegels der königlichen Kanzlei.
8.1.2
Gemeinnutz in Bern - Stadtnutz, Landsnutz und Talnutz in der Schweiz
Der Gemeine Nutzen nimmt in den spätmittelalterlichen Quellen der Stadt Bern (1), aber auch anderwärts in der Schweiz (2) einen beachdichen Raum ein37. Was wird damit bezeichnet? (1) Ein offener Markt fur Lebensmittel und andere Waren diene dem Gemeinen Nutzen, ein unkontrollierter Handel vor den Stadttoren schwäche ihn. Weil „lang zitt ein gewonheit gewesen ist, das vil lûtt fur der statt dor, obnan und nidnan, uß lieffend und giengent, assig spis und ander sachen koufften oder verhabschatzeten oder iro in ir húser heim tragen hiessen, da durch einer gemeyner nutz und meritt [Markt, P.B.] geschwecher[t] ward", verfugte die Stadt Bern am 27. April 1464, „das furwert hin niemand, es sye wib oder man, jung oder alt, sállichs nit mer tun noch üben sollend, bsunder sol man alle assige spis an offenen meritt lassen komen zu veilem kouff' 38 . Am 10. Januar 147839 verordneten Schultheiß und Rat, niemand, weder in der Stadt noch im städtischen Territorium dürfe auf Fürkauß/auien oder verkaufen. Vielmehr sollen alle Waren, „es sye korn, habern, roggen, vich, wildprat, hasen, eichorn, haselhunr, fisch, hunr, eyger, molcken, opfel, biren oder anders, wie man Isige spis genemen mag", auf dem Markt der Stadt Bern oder den Märkten der Landschaft feilgeboten werden, hingegen soll - und damit wird der Begriff Fürkaufdeñnicn - „nyemant vor den toren, noch an andern ungewonlichen enden, denn als obstat kouffen und verkouffen". „In betrachten des gemeins nutzes" habe die Stadt diese Ordnung erlassen, heißt es einleitend und begründend.
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Die Belege stellt regestenartig zusammen H. FICHTENAU, Arenga, 183-187. Ebd., 186. Zitiert nach ebd., 184f.-Weitere ergänzende Belege bei J. KRYNEN, Idéal du Prince, 190-199. Das Material wurde in der Absicht durchgesehen, das semantische Feld von Gemeinnutz zu erfassen. Vollständigkeit der Belege ist nicht beabsichtigt. Nicht berücksichtigt ist das Berner Territorium. SSRQBern 8,1, 4, Nr. 2. SSRQBern 8,1, 6, Nr. 5.
8.1
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Gemeiner Nutzen im kommunalen Kontext
Drei Jahre später wurde sie vom Rat „zu furgang gemeins nutz" nochmals erläutert und präzisiert 40 , zeitigte aber auch diesmal offenbar nicht die erhoffte Wirkung, jedenfalls nicht außerhalb der Berner Märkte, denn 1487 schickte der Rat an die Schultheißen und Vögte auf der Landschaft sowie an die vier Landgerichte ein Mandat 4 1 , man solle die „dem gemeinen nutz zu furgang" erlassenen Ordnungen mit mehr Nachdruck durchsetzen. Der Viehhandel außerhalb der Märkte müsse ebenso unterbunden werden, wie der Verkauf von Salz, Tuch, Eisen oder Lebensmitteln, denn das führe zum „vernichten aller gewarben", zu „betrugnuß und untruw" und „zu grossem schad und undergang". All jene, „so zu gemeinem nutz unßer land und lut billiche sorg haben", könnten solche Übertretungen von Geboten nicht dulden. Als 1522 durch den Schultheißen Jakob von Wattenwil, den Seckelmeister Hans von Wingarten, das Ratsmitglied Hans Keyser und den Stadtschreiber Nikiaus Schaller eine Salzhandelsgesellschaft: gegründet wurde, diente als Begründung die „furdrung ge«42
mems nutzes
.
Diese und ähnliche 4 3 Maßnahmen galten also einem freien Lebensmittelhandel und einer ausreichenden Versorgung der Bürger mit Waren zu öffentlich kontrollierten Preisen. Bern strebt einen Warenaustausch an, fur den
FERNAND BRAUDEL
den Begriff
Marktwirt-
schaft in einem ganz wörtlich zu nehmenden Sinn vorgeschlagen hat. Die Marktwirtschaft verbindet Produktion und Konsumption und ist organisiert nach dem Prinzip von Transparenz und Konkurrenz und damit nach Braudels Begriffen nicht kapitalistisch 44 . Komplementär zur städtischen Politik, den Handel mit Lebensmitteln dem Prinzip des Gemeinnutzes zu unterwerfen, wurden auch die Handwerke und Gewerbe durch Mandate reguliert. Es diene dem „gmeyn nutz", meinten die Meister des Schneiderhandwerks in Bern, wenn man der nicht zugelassenen Konkurrenz auf dem Land das Handwerk lege 4 5 . Weil es zwischen Badern und Scherern zu Streit gekommen war, wie weit die Dienstleistungen jedes Handwerks gehen dürften, verfügten Schultheiß und Rat in der Absicht, „by uns ordenliche policey zu sèchen und die also zu maßen, das der gmein nutz dardurch zu furderung komme", daß die Bader nur noch denen den Bart schneiden durften, die „naß und nackend [...] in iren Badstuben" säßen, ansonsten hatten sie allein die Badstube zu unterhalten. Die ärztliche Versorgung der Bevölkerung („wundverbindung", „blut laßen", „zen brechen") sollte jedoch ausschließlich das Geschäft der Scherer sein 4 6 .
40 41 42 43
44
45 46
SSRQBern 8,1,9, Nr. 8. SSRQ Bern II/4,63, Nr. 35 d. SSRQ Bern 7,1,348, Nr. 26 b. Um „den gemeinen nutz zu furdern", erlassen „schulthes, rat und entvil der burger der statt Bern" Richtlinien, wie Gewürzpulvermischungen beschaffen sein sollen. SSRQBern 8,1, 109, Nr. 55. Regulierungen für Weinfuhren (Legitimation Gemeiner Nutzen) in SSRQ Bern II/5, 148, Nr. 95 a. FERNAND BRAUDEL, D i e D y n a m i k des Kapitalismus, Stuttgart 1986.
SSRQBern 11/4,83, Nr. 43. SSRQ Bern 10, 247, Nr. 76 b.
204
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
Der Sicherung des Lebensstandards der Berner sollte es gewiß auch dienen, wenn der Zuzug 4 7 in die Stadt kontrolliert und gestoppt wurde. Ausgenommen waren allerdings Berufsgruppen, die „gemeinem nutz diensdich" sein konnten wie Arzte, Rechenmeister und Lehrer 48 . Um Markt, Handwerk und Gewerbe zu fördern, war es nötig, die infrastrukturellen Maßnahmen zu verbessern. Folglich kann es auch kaum verwundern, wenn der Straßenbau 49 und die Verbauung von Flüssen 50 mit Verweis auf den Gemeinen Nutzen gefördert wurden. Neben Markt und Handwerk dient der Gemeine Nutzen als Begründung, die Einkünfte der Stadt sicherzustellen und zu mehren. Folgt man der deutschsprachigen Fassung der Berner Handfeste, so wurden Verlassenschaften, fur die sich kein Erbberechtigter fand, gedrittelt: ein Drittel wurde für Seelenmessen zugunsten des Verstorbenen verwendet, ein zweites Drittel erhielt der Richter für die Inventarisierung der Verlassenschaft und das letzte Drittel ging „an die gezierd der kilchen und an gemeinen nutz der stat" 5 1 . Als die Weissenburger und Erlenbacher sich 1445 von der Steuerpflicht freikauften, wurde die Summe in der Höhe von 3606 fl. rhn. vom Rat „in unser statt gemeinen nutz bekerett" 52 . 1528 verfugte der Rat, die Bruderschaften in der Stadt und auf dem Land hätten ihre Vermögen oflfenzulegen. Wozu sie künftig verwendet werden sollten, wollte der Rat nach dem Kriterium, „was billich und zimlich ist zu fiirderung gemeines nutzes und erhaltung der armen", entscheiden 53 . Der Gemeine Nutzen diente schließlich auch politischen Maßnahmen als Legitimationsfigur. Bern als „obriste herschaft" verfuge über die Gebotshoheit in der Grafschaft Wangen und nehme sie zu „eines gemeinen nutzes willen" wahr, heißt es in einem Vergleichsrezeß der Stadt mit Burgdorf über die Ausübung der Gerichtsbarkeit von 1460 5 4 . Doch bereits 100 Jahre zuvor, 1353 nämlich, diente der Gemeinnutz als Begründung fur eine um ein Vielfaches wichtigere politische Entscheidung, nämlich das Bündnis Berns mit den Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwaiden 55 . Markt und Gewerbe, Recht und Politik wurden in Bern im Spätmittelalter am Gemeinnutz ausgerichtet. In ihm die Letztbegründung des städtischen Zusammenlebens zu sehen, legen auch die Eide der Amtsträger und der Bürger Berns nahe. Auf die utilitas communitatis wurden schon um 1300 der Schultheiß, die Sechzehner, der Rat, die Zweihundert und die Gemeinde in Bern eidlich verpflichtet 56 . Obwohl man von der spätmittelalterlichen Ver47
48 49 50 51 52
53 54 55
Für die Modalitäten des Zuzugs in Gemeinden außerhalb der Stadt vgl. SSRQ Bern 5, 68, 72. Den Gemeinden wird erlaubt, für ihren Gemeinen Nutzen von den Zuziehenden Abgaben zu erheben. SSRQ Bern 1,258, Nr. 417. SSRQ Bern 11/1,2, 68f„ Nr. 32. SSRQ Bern II/3, 117 ff., Nr. 44. SSRQ Bern 3, 10, Nr. 1. [Die lateinische Fassung SSRQ Bern l,21f.,Nr. 1.] SSRQ Bern 11/1,2, 34, Nr. 18. - Der ereignisgeschichtliche Hintergrund bei P. BIERBRAUER, Gemeinde im Berner Oberland, 133. SSRQ Bern 6,1, 343, Nr. 17 d. SSRQ Bern 4,1,186, Nr. 151 b. SSRQ Bern 3, 165, Nr. 75 a. WINFRIED EBERHARD, Kommunalismus und Gemeinnutz im 13. Jahrhundert. Zur Ausbildung einer Stadträson und ihrer Bedeutung in der Konfrontation mit der Geistlichkeit, in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, hg. von Ferdinand Seibt, 1. Bd., München 1988, 271-294, hier 281f.
8.1
Gemeiner Nutzen im kommunalen Kontext
205
fassung wenig weiß, wird man davon ausgehen können, daß die skizzierten politischen Maßnahmen auf einem aktiven oder zumindest passiven Konsens der Bürgerschaft ruhten 5 7 . Das Bündnis vom 6. März 1353 mit den Waldstätten soll den Blick über Bern hinaus weiten, auf die Schweiz insgesamt. (2) Der Gemeine Nutzen gehört zu den Begriffen, die auch in Luzern und Zürich bereits im 13. und 14. Jahrhundert anzutreffen sind. „Pro communi militate ville nostre" beschworen die Luzerner Bürger 1252 den Stadtfrieden 5 8 . Zürich begründete die Zunftverfassung, die 1336 in Kraft trat, damit, auf diese Weise die Arbeit der Gerichte, den Frieden und den „gemeinen nutz" zu fördern 5 9 . Der Gemeine Nutzen wird im selben Jahr auch als Stadtnutzen bezeichnet, und ihn zu befördern, verpflichten sich eidlich nicht nur alle Bürger 6 0 , sondern bei Dienstantritt auch alle Amtsträger 6 1 . Für wichtigere gesetzgeberische Maßnahmen wurde „der stat nutz" 6 2 begründend. Die Zusammenstellung der Belege zeigt, daß durch die Inserierung in den Bürgereid und die Amtseide der Gemeine Nutzen geradezu der Sinn des städtischen Lebens wird 6 3 . Nicht anders ist es offenbar in den Länderorten der Innerschweiz. „Der ammann und die landlüt zu Underwalden ob dem Kernwald" verboten 1382 den Verkauf von Liegenschaften an Klöster und Auswärtige mit der Begründung, das diene „unsers landes und unser nachkömen nütz und er" 6 4 . Die Maßnahme sollte sicherstellen, daß in Unterwaiden nicht wiederum Formen von Grundherrschaft entstehen konnten. Daß der Landsnutz (oder Gemeinnutz) zur Grundlage der Legitimität und sinnstiftend fur das Land Unterwaiden schlechthin wurde, ergibt sich aus einem Beschluß der Landsgemeinde aus dem 15. Jahrhundert. Nach
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FRANÇOIS DE CAPITANI, Adel, Bürger und Zünfte im Bern des 15. Jahrhunderts, Bern 1982, 66-80. - REGULA SCHMID, Wahlen in Bern. Das Regiment und seine Erneuerung im 15. Jahrhundert, in: Berner Zeitschrift fur Geschichte und Heimatkunde 58 (1996), 233-270. Detaillierter DIES., Reden, rufen, Zeichen setzen. Politisches Handeln während des Berner Twingherrenstreits 1469-1471, Zürich 1995. Q W 1/1, 301 f., Nr. 667. - Vgl. auch den Schwurbrief von 1328, der zu „gute unser herschaft und der stat ζ e nutz und ze ere" verurkundet wird. Q W 1/2,751, Nr. 1547. W. Schnyder, Quellen, 23. „Dise vorgeschriben artikel und gesetzten han ich der vorgenande Bürgermeister, der rat und die gemeinde alle unser burger gemeinlich Zürich durch guter gerichten willen, durch friden und durch schirm unser Üben und unser guter und durch gemeinen nutz und notdurft unser stette Zürich" verabschiedet. Ebd., 7. „Das man gemeinlich swerren sol, der stat nutz und ere förderlich ze haltenne". „Item es sêllend ritte und Zunftmeister sweren", heißt es im städtischen Eidbuch, „des heiligen richs ere, der statt nutz und ere, der gotzhùser ere, des lands ere rättend und frûmend sin". H. Zeller-Werdmüller - Hans Nabholz (Hgg.), Die Zürcher Stadtbücher des XIV. und XV. Jahrhunderts, 3 Bde., Leipzig 1899-1906, hier 3/5b, 150, Nr. 35. Ebd. 1/1, 170, Nr. 353. Die jüngere stadtgeschichdiche Forschung hat neuerdings vornehmlich fur die Reformationszeit und die Neuzeit nachgewiesen, daß der Gemeinnutz zu den herausragenden Werten der bürgerlichen Gesellschaft gehört. Vgl. H.-CH. RUBLACK, Norms in Urban Communities. - Daß der Gemeinnutz aber bereits zeitgleich mit der Entstehung des Bürgerverbandes auftaucht, wie die Belege aus Bern, Luzern und Zürich zeigen, ist eher eine neue und unvertraute Einsicht. Q W 3/1, 126, Nr. 78.
206
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
offensichtlich langen und schwierigen Diskussionen anläßlich der Landsgemeindeversammlung zu Wiserlen wurde beschlossen, einen Eid für alle Landleute verbindlich zu machen, „den wir, die gantze gemeind ob und nid dem Wald je zìi fiíimf jaren minder oder mer [...] zìi ewigen ziiten swerren sol Ein jeklicher, der über sechzçhen jar alt ist", und dieser Eid lautet: „Unsers gemeinen lands nütz und Ere zu forderen und unsern schaden ze warnen und ze wenden"65. Der Landsnutz oder Gemeinnutz (beide Begriffe werden synonym gebraucht) diente auch in den andern Ländern (Kantonen) in der Schweiz zur Legitimierung von Ordnungen und Landsgemeindebeschlüssen66. Wo die Bezeichnung Tal vorherrschte, wurde aus dem Landsnutz der Talnutz. „Eins tals nutz und eer, und ier nutz furdren und ihr schaden wenden", versprechen gleichlautend mit einem Eid der Ammann, der Weibel, die Neuner, die Talleute und die Hintersassen von Ursern67. Wo bäuerliche Verbände den Namen Land oder Tal nicht tragen, wie beispielsweise die Gemeinde Arth, ist schlechterdings vom Gemeinen Nutzen als Motiv fur weitreichende Maßnahmen die Rede. Die Aufteilung der Allmende von Arth unmittelbar nach dem Freikauf aus der habsburgisch-badischen Herrschaft 1354 erfolgt zu „furderung deß gmeinen Nutzes fur vnns vnnd vnnser Nachkomen" 68 . Stadtnutz, Landsnutz, Talnutz sind gegen Gemeinnutz austauschbar. In Land, Stadt und Tal haben alle gleiche Rechte und Pflichten, alle legislatorischen Maßnahmen gewinnen ihren Sinn nur dadurch, daß sie den Landleuten gemeinlich, den Burgern gemeinlich, der Allgemeinheit schlechthin, dienen. Darauf beruht die Legitimität der Verfassung. Nichts bringt das eindrücklicher und überzeugender zum Ausdruck als die Eide, als deren Kern der Gemeinnutz (beziehungsweise seine lokalen Präzisierungen Stadtnutz, Landsnutz und Talnutz) gelten muß: alle Bürger und Bauern und alle Inhaber öffentlicher Amter verpflichten sich, ihn zu wahren, zu sichern, zu mehren und zu fördern. Städte, Länder und Täler begründen ihre Existenz so mit dem Gemeinnutz. Das tut aber auch die Eidgenossenschaft als politischer Verband insgesamt. „Pro comuni utilitate" schließen Schwyz, Uri und Nidwaiden ihren Bund, „umb ein gemeinen nutz", wie es in der deutschen Fassung hundert Jahre später heißt69. „Ze nutze und ze eren ufgesetzet" wird die
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Q W 3/1,127, Nr. 79. - Ähnliche Formulierungen, allerdings zeitlich ein wenig später liegend, verwendet das Landbuch von Obwalden; vgl. Hermann Christ - Johannes Schnell (Hgg.), Die Rechtsquellen von Obwalden (Das älteste Landbuch), in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 8 (1860), 9 , 1 2 [hier in der Umkehrung: „vnsers lands gemeinen nütz"]. Vgl. etwa fiir Schwyz M. Kothing, Landbuch Schwyz, 22, 66. Friedrich Ott, Die Rechtsquellen von Uri (Altes Talbuch von Ursern), in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 12 (1865), 10, 12. Druck bei Rudolf Sidler, Die schwyzerische Unterallmeindkorporation in ihrer rechtlichen Abgrenzung gegenüber dem alten und neuen Lande Schwyz seit 1353, Zürich 1956, 88. Q W 1/1, 783, Nr. 1681. Zur Datierung der deutschen Fassung vgl. die Bemerkung des Herausgebers ebd., 777.
8.1
Gemeiner Nutzen im kommunalen Kontext
207
Erneuerung des Bundes 1315 7 0 , und in ähnlichen Wendungen, auch unter Verwendung des Begriffs „gemeiner nutz" 7 1 , werden alle weiteren Landfrieden begründet 72 . In der Schweiz ist der Gemeine Nutzen in den Städten, den Ländern, den Tälern und in der Eidgenossenschaft als solcher durch wiederkehrende Eide - halbjährlich in der Stadt, jährlich in den Ländern, funfjährlich in der Eidgenossenschaft - immer in Erinnerung geblieben und in Erinnerung gebracht worden. Damit mußte die Überzeugung habituell werden, der Gemeine Nutzen sei der letzte Sinn des Zusammenlebens von Menschen. Jetzt, an der Wende zur Neuzeit, hatte der Gemeine Nutzen in der Schweiz eine Qualität und Dignität erreicht, die ihn zur Tugend der freien Republik und damit zur Bürgertugend werden ließ. Im Urner Teilenspiel, dessen Entstehen in die Zeit um 1520 datiert wird, treten nacheinander die Helden auf dem Rütli, die sagenhaften Begründer der Eidgenossenschaft, in Erscheinung und bestätigen sich gegenseitig die Dringlichkeit der Vertreibung der habsburgischen Vögte. Indem man die Zuhörer in die Vergangenheit der Geschichte fïihrt, soll ihnen deutlich gemacht werden, welcher Tugenden es bedarf, um ein gutes Leben in einem geordneten Gemeinwesen fuhren zu können. Das geschieht auch über Belege aus der römischen Geschichte. „Sy [die Römer, P.B.] stai tend nach grossem gut vnd gwinn Etlich vil in vnküscheit labtend Vnd nach aller fullery strabtend. Sy schlugend den gmeinen nutz hindan, Vnd thet der einig nutz vorgan, Liebe vnd trüw ward gantz hingleit; Deß kamend sy in groß vneinigkeit, Das sy einander schlugend zetodt Vnd jr rych zerstört in grosser not" 7 3 . 70
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Q W 1/2, 412, Nr. 807. - Vgl. auch ebd., 8 0 0 - 8 1 1 , Nr. 1638 die parallel abgedruckten Fassungen fur Luzern, Zürich, Gersau und nach Tschudi. So das Bündnis der drei Länder mit dem Städtebund von 1329. EA 1, 255, Nr. 17; in Q W 1/2, 710, Nr. 1457 als Regest. Vgl. etwa EA 1, 256, Nr. 18. - Mit dem Berner Bund von 1353 (und dem vorgängigen Zürcher Bund von 1352) bildet sich offensichtlich auch fur alle späteren Bundesschlüsse in der Schweiz eine einheitliche Redeweise der Urkunden heraus. Ihre Präambeln versichern „allen, die disen brief sehent oder hSrent lesen, das wir mit gfiten rat und mit sinneklicher Vorbetrachtung, durch guten frid und schirnung unser lip und gutes, unser stett, unser lender und lüten, durch nütz und fromung willen gemeinlich des landes einer ewigen buntnuss und frùntschaft ùbereinkomen sien". Q W 1/3, 602, Nr. 942. - Sie schließen mit der Bekräftigung, Änderungen nur zum Gemeinen Nutzen aller Vertragspartner vornehmen zu wollen. „Wir haben och einmuteklich mit glîter Vorbetrachtung uns selber vorbehebt und behalten, ob wir durch ùnsern gemeinen nutz und notdùrft keinr ding einhelleklich mit enander nu oder hienach jemer ze rat wurdin, anders dann in dirr buntnuss ietz verschriben und berett ist, es wer ze minren oder ze meren, das wir des alle mit enandem wol mugent und gewalt haben súln [...]". Ebd., 618. - Das nämliche Formular verwenden der Zuger Bund (EA 1, 275 bzw. 278, Nr. 23), der Bund zwischen Zürich und Glarus (EA 1, 337 bzw. 340, Nr. 44). Abweichende Formulierungen, allerdings unter Verwendung der Nutzen-Figur, im Pfaffenbrief und Sempacherbrief. Vgl. EA 1, 301, Nr. 31 und 328, Nr. 41. Q W 3/2,1,94.
208
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
Gewinnsucht, Unkeuschheit, Völlerei stiften Eigennutz, Liebe und Treue Gemeinnutz. Die gegensätzlichen Begriffe sind Gemeinnutz und Eigennutz. Enorm pathetisch und moralisch aufgeladen erreicht der Gemeine Nutzen die Frühe Neuzeit, weit hinter ihm liegt jener utilitaristische und pragmatische Gebrauch, der ursprünglich dazu gedient hatte, praktische Politik zwischen individuellen Interessen und gemeindlichen Notwendigkeiten zu begründen.
8.1.3
Epilog
Ein flüchtiger Blick nach Italien lehrt, daß der Gemeine Nutzen ursächlich mit dem ius statuenti verbunden ist. Satzungen erlassen aber im Spätmittelalter in sehr viel höherem Maße Kommunen als Herren. In Pisa wurden die Statuten des 12. Jahrhunderts „pro communi utilitate", „pro salute totius civitatis" und „pro universali omnium utilitate" erlassen 74 . Gleichfalls aus Pisa stammt die in Deutschland häufig anzutreffende Polarisierung von Gemeinnutz auf Eigennutz, denn gelegentlich wurden die Statuten „pro communi utilitate vel honore et non aliquo speciali amore" erlassen 75 . liben comune heißt das italienische Äquivalent, das in Florenz beispielsweise dazu diente, korporative Sonderinteressen der Zünfte (arti) den gesamtstädtischen unterzuordnen 76 . An der Geschichte einzelner Adelsfamilien hat sich überzeugend zeigen lassen, wie sie ihre dynastischen Sonderinteressen mit der Integration in die Kommune schließlich aufgaben und sich mit dem freistaatlich-republikanischen Bürgerhumanismus (civic humanism) anfreundeten und auch dessen ratio, den Gemeinen Nutzen, akzeptierten 77 . Die Prägekraft: der italienischen Kommunen zwang die integrierten Adeligen, ihre ständischen Prärogativen, ausgedrückt im Herren Nutz, wie die deutsche Sprache sagt, aufzugeben. REMIGIUS VON F L O R E N Z hat dazu den theoretischen Kontrapunkt geliefert: Nur wer civis ist, ist Mensch, „bonum commune praeamandum est bono particulari" 78 . Wo der Kommunalismus flächendeckend große Räume erfaßt wie in Italien, wird der Gemeine Nutzen die Grundlage der Politik schlechthin. „Die Politik", so lautet das Urteil eines der besten deutschen Italienkenner, „nimmt Bezug auf das Leben der ganzen Bevölkerung, wobei die Stadt oder ihr Landgebiet, der Contado, unter dem Prinzip des gemeinen Nutzens als Solidargemeinschaft verstanden werden" 79 . Dieses Urteil läßt sich fur das komR. CELLI, Potere popolare, 208. ' Ebd., 208 Anm. 25. - Die saluspatriae wird gelegentlich von den Juristen gefordert, wenn sie die Rechtskraft eines Statuts anerkennen sollen. Belege bei I. BAUMGÄRTNER, Consilia, 144f. 7 6 G. BRUCKER, Civic World, 30. 7 7 M. B. BECKER, Magnates, 308. - G. BRUCKER, Civic World, 31ff. 7 8 CH. T. DAVIS, An early Florentine political theorist. Fra Remigio de' Girolami, in: Proceedings of the American Philosophical Society 104 (1960), 662-676. - Das Zitat bei R. EGENTER, Gemeinnutz vor Eigennutz, 81, 84f. 7 5 „Auf Parallelen in der Betonung der utilitas publica oder communis in herrschaftlichen Verlautbarungen könnte man seit dem 12. und 13. Jahrhundert durchaus in ganz Europa verweisen", heißt es dort weiter, „doch der kommunale Gedanke, aus religiösen Wurzeln stammend, hat in Italien das Strukturprinzip der Gesellschaft grundlegend verändert. Es rechtfertigt den Zwang der Ge74 7
8.2
Das
bonum commune der res publica
209
munale Europa wohl generalisieren. Die Kommune als moralischer Körper definierte sich über Gesetze, und sie dienten immer dem Gemeinen Nutzen. Damit wurde eine Regimentsordnung fiir das spanische Valencia 1549 ebenso begründet 80 wie Brandschutzmaßnahmen in Stockholm 81 , aber auch Forderungen der Zünfte in Augsburg 1466 und 1524 82 . Der Gemeine Nutzen regelt und normiert utilitaristisch und rational und folglich nach stattgehabten diskursiven Verfahren unter den Individuen und zwischen den Gruppen über ihre unterschiedlichen Interessen die Richtung der kommunalen Politik. Er wirkt beschränkend in einem praktischen Sinn, indem er allen in der Gemeinde ihre Auskömmlichkeit, ihre Perfektibilität und ihr Selbstwertgefiihl läßt - nicht umsonst tritt der Gemeine Nutzen häufig gemeinsam mit der Ehre auf - , aber er appelliert nicht in emotionaler Absicht an die Gemeinschaft. Im Gegenteil erlaubt er dem Bürger und dem Bauern, seine Fähigkeiten zu entfalten, wie der flüchtige Verweis auf Freiheit und Eigentum belegen mag. Sie sind im kommunalen Umfeld in Italien, Spanien, dem Reich, den Niederlanden entwickelt worden, erst in der Stadt, dann auf dem Land, aber nicht in der feudalen Atmosphäre von Rußland, Ostmitteleuropa oder England. Im kommunalistischen Europa gibt es keine massenhafte Flucht von Millionen von den Gütern des Adels und des Zaren wie in Rußland und keine systematische Vertreibung von Hunderttausenden von Grund und Boden wie in England. Der Gemeine Nutzen ist eine Kategorie der praktischen Politik. Wo er als bonum commune in der Theorie auftaucht, steht dahinter letztlich immer die nämliche kommunale Erfahrung. Die menschliche Vernunft, so konnte Thomas von Aquin sagen und sich dabei dankbar der schon geleisteten Denkarbeit von Aristoteles bedienen, richtet sich auf das bonum commune, was Eigentum im Rahmen der Ökonomie (hausbezogene Wirtschaft) und des gerechten Preises nicht ausschließt, vielmehr einschließt 83 . Aristoteles und Thomas kamen aus einem kommunalen Umfeld.
8.2
D A S BONUM
COMMUNE
DER RES PUBLICA
Das Sacrum Imperium, das Heilige Römische Reich, hat offenbar keinen Grund gesehen, seine Legitimität damit zu sichern, daß es das bonum commune als Staatszweck in den Vordergrund gerückt hätte. Viel dringlicher scheint es fiir die Kaiser gewesen zu sein, einen eimeinschaft und der v o n ihr gewählten Repräsentanten auf den Einzelnen, auch auf die Adligen, unter dem Gesichtspunkt des gemeinsamen W o h l s und der Pflicht zu solidarischem, an der Nächstenliebe orientierten Verhalten aller Mitglieder. Die in der kommunalen Idee enthaltene Für- und Vorsorgepflicht verhilft dem präventiven Zug der Politik zum Durchbruch". H . KELLER, Veränderungen des bäuerlichen Wirtschaftens, 3 7 0 . 80 81 82
83
J . - M . SCHOLZ, Policía, 2 5 8 f . P. FROHNERT, Policeybegriff, 5 5 0 f f . [erschlossen aus dem sachlichen Zusammenhang]. J. ROGGE, Nutzen, 2 8 6 f . . A u c h in Augsburg stand mit dem Gemeinen Nutzen der umfassendste Begriff zur Legitimation von politischem Handeln, den das Mittelalter kannte, im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen dem Rat und der Bürgerschaft". Für die Zusammenhänge JOSEPH A . SCHUMPETER, Geschichte der ökonomischen Analyse (Grundriß der Sozialwissenschaft 6/1), Göttingen 1 9 6 5 , 1 3 7 f f .
210
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
genständigen Herrschaftsbereich gegenüber der Kirche und dem Papst zu begründen und zu behaupten 84 . Untersucht man genauer das Selbstverständnis der deutschen Könige, dann zeigt sich bei der Inszenierung ihrer Fähigkeiten, Tugenden und Pflichten in den Arengen der Urkunden, daß unter den Herrschaftszwecken vom Gemeinwohl erst nachgeordnet die Rede ist, die Sorge fur Religion und Kirche, Friede und Recht stehen eindeutig im Vordergrund 85 . In Wahrheit sind die Belege fur das bonum commune zahlenmäßig erstaunlich gering, ja die termini technici bonum commune und utilitaspublica werden eher mit anderen, substituierenden Formeln umschrieben86. Taucht im Hochmittelalter der Gedanke auf, der Herrscher schulde seinen Untertanen etwas, dann unter besonderer Heraushebung der Geistlichen87, was der bonum commune-Idee naturgemäß strikt zuwiderläuft, weil sie gerade Gruppeninteressen einem größeren Ganzen unterordnen will. H E I N R I C H FICHTENAU, dem man die analytische Durcharbeitung der Kaiser- und Königsurkunden verdankt, zweifelt selbst daran, daß es sich beim bonum commune der Arengen „um ein eigenständiges Prinzip neben der Wahrung von Recht und Gerechtigkeit" handele, er favorisiert vielmehr die Interpretation, das Reden vom Gemeinen Nutzen habe der Abgrenzung des guten Herrschers vom Tyrannen gegolten, nicht aber der Festlegung eines Staatszwecks88. Daran hat sich auch im Spätmittelalter wenig geändert89. Die Herrschaftspropaganda „im Abendland", so kann Fichtenau unter Beiziehung päpstlicher und königlicher Urkunden vornehmlich aus Frankreich, aber auch anderen Königreichen sagen, stützt sich auf „Tugenden, Beispiel und Aufgaben des Regenten, die Pflichten der Untertanen und die Bedeutung der Religion" 90 . Um dem Sachverhalt die nötige Schärfe zu geben - vom bonum commune als Aufgabe von Kaisern und Königen kann ernsthaft nicht die Rede sein. Unbekümmert von solchen Urteilen, können Kenner des deutschen Königtums auch Gegenteiliges vertreten. „Rexpropter bonum commune [sei] ein Gemeinplatz mittelalterlicher Herrschaftsethik, der den Zusammenhang von res publica, lex und gemeinem Nutzen konkretisiert"91. Prüft man die Belege, erweisen sie sich weder qualitativ noch quantitativ als Karten, mit denen man Stiche machen könnte. Die Wurzeln solcher Vorstellungen haben offenbar mit der Königsherrschaft gar nichts zu tun, sondern fuhren in gänzlich andere politische Traditionen. „Auf zwei verschiedenen Entwicklungen beruht die Zuordnung des bonum commune zur Obrigkeit", heißt es erläuternd weiter. „Einmal begannen seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert die Städte sich auf den gemeinen Nutz als Ausdruck ihrer Interessen zu berufen - Folgerung letztlich daraus, daß im Spätmittelalter auch der wirtschaftliche 84
85 86
87 88 89 90 91
ALOIS DEMPF, Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance [1929], München 3 1962. H. FICHTENAU, Arenga, 80f. Ebd., 80 Nr. 154 („publiçe rei et communi hominum utilitati"); Nr. 155 („publicum bonum stamm ac dignitatem imperii", vorangesetzt ist allerdings die Ruhe, die der Kaiser im Reich zu wahren habe, Gemeinwohl wird also als Derivat von Friede verstanden). Ebd., 80. Ebd., 81 f. Ebd., 197-203. Ebd., 210. E. SCHUBERT, König und Reich, 283f.
8.2
Das bonum commune der res publica
211
Bereich im weitesten Sinne unter gemein nutz verstanden werden konnte - , und zum zweiten war das immer wieder behauptete Ziel allen Mühens um eine Reichsreform die Sicherung des bonum commune, was sich dann als legitimierende Formel den zur Mithilfe an dieser Reform aufgerufenen Ständen mitteilte" 9 2 . Damit wird das bonum commune zweifach hergeleitet, von der Stadt (und vom Land, wie man nach den Schweizer und oberdeutschen Quellen hinzufügen muß) und von der Politiktheorie (Reichsreformbewegung). Diese Beobachtung läßt sich bestätigen, sucht man in einer dritten potentiell relevanten Quellengruppe nach dem Gemeinen Nutzen, den Fürstenspiegeln. Soweit das Wort überhaupt aufgerufen wird - und das ist selten 93 - , handelt es sich bei den Autoren der Fürstenspiegel mehrheitlich um solche, die dem italienischen Humanismus und damit auch der Welt der Stadtstaaten besonders nahestanden. Von dort führten immer Wege in die antike Tradition, die für das bonum commune durchaus Verwendung hatte, in der griechischen Polis und in der römischen Republik gleichermaßen 94 . Zusammen mit den Politiktheoretikern und den Legisten und Kanonisten fuhren sie die utilitas publica und das bonum commune ständig im Munde 9 5 . „Ihre Quellen waren natürlich das Corpus Iuris Civilis, die klassischen lateinischen Schriftsteller und nach etwa 1 2 6 0 die Politik des Aristoteles" 96 . Realisiert wird das Gemeinwohl, darin waren sich die Autoren gleichfalls einig, auf verschiedenen Ebenen, etwa auch auf der der civitas 97 . 92 93
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97
Ebd., 284. B. SINGER, Fürstenspiegel [vgl. dort die wenigen Index-Belege Gemeiner Nutz, die sich bei näherer Prüfung überwiegend auf Textstellen aus der nachreformatorischen Zeit beziehen]. - W. BERGES, Fürstenspiegel, 183, 185, 194, 200, 260. Viele Belege sind interpretatorisch stark überdehnt, um den Gemeinnutz als Aufgabe des Fürsten zu belegen. - Nach HEINZ DOLLINGER, Staatsräson und Staatsfinanzen in Bayern im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: Aldo de Maddalena - Hermann Kellenbenz (Hgg.), Finanzen und Staatsräson in Italien und Deutschland in der frühen Neuzeit, Berlin 1992, 249-268, besonders 257, 263, haben die Fürstenspiegel für den Gemeinen Nutzen überhaupt keine Verwendung. W. BERGES, Fürstenspiegel, sichert sein Argument, der Fürst habe den Gemeinen Nutzen zu fördern, vornehmlich über Thomas von Aquin, Aegidius Romanus, Petrarca und (nicht zufallig) den Niederländer Philipp von Leyden. - So noch im frühen 16. Jahrhundert Dietrich von Pleningen, herzoglich bayerischer Rat, in seinen Widmungen [zu Übersetzungen von Plinius, Sallust, Seneca und Lukian] für den Kaiser und die Fürsten von Bayern, Österreich und Sachsen. ANNETTE GERLACH, Das Übersetzungswerk Dietrichs von Pleningen. Zur Rezeption der Antike im deutschen Humanismus (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte 25), Frankfurt a. M. 1 9 9 3 , 2 0 1 - 2 4 0 [Quellenbelege]. Generell G. POST, Ratio, 17. Formulierungen, wie sie Nikolaus von Kues gebraucht [„Imperatores consensu et volutante pro communi utilitate constituti sunt"], finden sich bei den Theoretikern häufig. Vgl. die Zusammenstellungen bei W. EBERHARD, Gemeiner Nutzen, 202, und DERS., Legitimationsbegriff des „Gemeinen Nutzens", 248. G. POST, Ratio, 17. Folgerichtig berief man sich häufig auf die Maxime necessitas legem non habet, auf iusta causa, auf utilitas (evidens, publica und communis) und das Gemeinwohl. - G. RADBRUCH, Lieb der Gerechtigkeit, 125-128, sieht in Johann von Schwarzenburg einen Mitbegründer der Gemeinnutzformel („Lieb der Gerechtigkeit und gemeiner Nutzen"), der seinerseits aber nur aus Thomas von Aquin und Cicero schöpft. - R. EGENTER, Gemeinnutz vor Eigennutz, handelt in Wahrheit über Remigius von Florenz (t 1319) und dessen zentralen Satz „bonum commune praeamandum est bono particulari", ebd., 81. G. POST, Ratio, 80.
212
8
D E R GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
Nahezu alle Belege fur die Behauptung, das bonum commune sei Zweck eines jeden Staates und damit eine Universalie, sind entweder aus theoretischen Arbeiten geschöpft 9 8 oder Untersuchungen zur Geschichte der Stadt geschuldet". Selbstverständlich konnten davon Wirkungen ausgehen, und folglich läßt sich das bonum commune in der einen oder anderen Urkunde und in dem einen oder anderen Traktat finden. In Wahrheit ist der Gemeine Nutzen fiir die im Alten Europa verbreitetste Herrschaftsform, die Adelsherrschaft (Könige, weltliche und geistliche Fürsten, Grafen und Prälaten), ein fremde Kategorie 1 0 0 . Das Lehnswesen, auf dem die politischen Verbände Alteuropas überwiegend ruhten, bot für das bonum commune keinerlei Wurzelgrund, nicht umsonst sind dessen leitende Prinzipien, sucht man nach ethischen Kategorien, Treue oder, falls man funktionalistische Bezeichnungen vorzieht, Schutz und Schirm und Rat und Hilfe101.
Schutz und Schirm heißt, in
eine zeitgemäße Terminologie gebracht, Friedwahrung und Rechtssicherung nach innen und außen. Das sind in der Tat universale Zwecke politischer Verbände. Jenseits dieser Auf-
98
WALTER ULLMANN, Principles of Government and Politics in the Middle Ages, London-New York 3 1974. Herausgehoben werden als Quellen päpstliche Verlautbarungen (ebd., 57-67), Thomas von Aquin, Johannes von Paris und Marsilius von Padua (ebd., 252-284). - J. KRYNEN, Idéal du Prince, untersucht vornehmlich Theoretiker, unter anderen Alain Chartier, Jean Gerson, Jean Juvénal des Ursins, Philippe de Mézières sowie Christine de Pisan. Auch bei diesen Theoretikern figuriert nach der Analyse Krynens le bien de la chose publique als Folgeerscheinung der Friedens- und Rechtswahrung; ebd., 156-170. - In die gleiche Richtung argumentieren viele kleinere Aufsätze, etwa R. EGENTER, Gemeinnutz vor Eigennutz, ACHILLE DARQUENNES, Représentation et bien commun, in: Études présentées à la Commission internationale pour l'histoire des assemblées d'états 11, Louvain 1952, 3 2 - 5 1 , oder RICHARD A. CROFTS, The Common Good in the Political Thought of Thomas Aquinas, in: The Thomist 37 (1973), 155-173.
99
Zuletzt mit europäischer Perspektive E. ISENMANN, Norms, 190ff., dort die vielen älteren Vorarbeiten Isenmanns integriert. Vorgängig fur das Reich H.-CH. RUBLACK, Norms in Urban Communities, besonders 26ff., und fur Europa W. EBERHARD, Gemeiner Nutzen, 2 0 3 - 2 0 8 . Aufs Ganze hat das die Gemeinnutz-Debatte in Deutschland um 1980 bestätigt. Verwiesen sei auf Band 1, wo die Literatur fur Deutschland bereits kurz dargestellt wurde. Vermutlich steht die kleine Konjunktur dieses Forschungsgegenstandes in Zusammenhang mit der zeitgleichen Diskussion um den Gemeinen Mann. An der Gemeinnutz-Debatte haben sich besonders beteiligt [Positionen, die oben schon breiter referiert wurden, werden nur noch über den Titel erfaßt] E. SCHUBERT, König und Reich. - HEINZ ANGERMEIER, Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984, 221 f. [den konservierenden Charakter betonend]. - Als besonders kreativ hervorzuheben sind die in kurzer Folge publizierten Arbeiten von W. EBERHARD, Gemeiner Nutzen, und DERS., Legitimationsbegriff des „Gemeinen Nutzens". [Beide Studien heben darauf ab, daß der Gemeine Nutzen von den Ständen als Forderung an König und Fürsten gerichtet wurde, wobei der Vertretung der Städte sowohl in Frankreich als auch in Böhmen eine herausragende Rolle zufiel.] - Für meinen eigenen Beitrag zur Diskussion vgl. das Referat von P. HLBST, Utilitas Publica, 94FF„ 108ff. Nach wie vor sind die von O. BRUNNER, Land, herausgearbeiteten Kategorien fur die mittelalterlichen politischen Verbände nicht außer Kraft gesetzt. Der bislang anspruchsvollste Versuch von G. ALGAZI, Herrengewalt, Schutz und Schirm zu dekonstruieren, kann nach dem Urteil besonders guter Kenner der Quellen und des Lebenswerks von Brunner als nur bedingt gelungen gelten. Vgl. HOWARD KAMINSKY in: Speculum 73 (1998), 7 9 9 - 8 0 2 , sowie ANDRÉ HOLENSTEIN in: Zeitschrift fur Historische Forschung 25 (1998), 592-597. - Die Korrelation Schutz und Schirm - Rat und Hilfe gilt selbstverständlich auch fur Frankreich, vgl. J. KRYNEN, Idéal du prince, 165ff.
100
101
8.2
Das bonum commune der res publica
213
gaben haben Könige und Fürsten, Herrschaften in der politiktechnischen Sprechweise Europas, keine Verpflichtungen sehen können. Der Gemeine Nutzen, wenn von ihm überhaupt die Rede ist, wird als Beiprodukt von Friede und Recht gedeutet, hat somit kein eigenes Gewicht. „Gerechtigkeit und Gemeinnutz" lautet noch die paarige Formel, die Johann von Schwarzenberg, einer der herausragenderen Juristen des 16. Jahrhunderts, in der Carolina verankert 102 . Gerechtigkeit schafft Gemeinwohlheißt ein zentraler Satz der christlichen Sozialethik bis heute, dem THOMAS VON AQUIN die sprachliche Einfassung gegeben hat: „Bonum commune, ad quod ordinat justitia" 103 . Im Kommunalismus wurzelt der Gemeine Nutzen. Er dient als Maß, um einerseits die konfligierenden Interessen in der Kommune auszugleichen, andererseits die kommunalen Interessen gegenüber der Herrschaft zu vertreten. Nach innen wirkt der Gemeine Nutzen ausgleichend und innovatorisch gleichermaßen: er soll jedem Bürger in seiner Gemeinde die Auskömmlichkeit {Hausnotdurft) sichern, deswegen verbietet man den Fürkauf, die Konkurrenz unter den Zünften und bindet die Allmendrechte an die Größe des Hofes, ohne die Besitzlosen davon gänzlich auszuschließen; er soll aber auch die wirtschaftlichen, sozialen und emotionalen Kräfte der Bürger freisetzen und fördern, deswegen werden Münzen kontrolliert, Straßen befestigt, Wasserwege ausgebaut, Spitäler dotiert und den lieben Heiligen in der Pfarrkirche aus dem kommunalen Säckel Stiftungen gemacht. Der Gemeine Nutzen setzt in der Tat den Frieden voraus. Mit Verweis auf den Gemeinen Nutzen hatten die Kommunen ihre Friedenspolitik betrieben. Als sich europaweit in der bürgerlichen und bäuerlichen Welt des Kommunalismus der Gemeine Nutzen als Logik des Politischen durchgesetzt hatte, entfaltete er sein herrschaftskritisches Potential: einerseits in großen Revolten von Kastilien (comuneros) über das Reich (.Bauernkrieg) bis Ungarn (Dózsa-Aufitand) gegen die Könige und Fürsten und andererseits in der reformatorischen Bewegung. Auf die revolutionsähnlichen Aufstände im frühen 16. Jahrhundert ist nochmals in Erörterung des Verhältnisses von Lokalgewalt zu Zentralgewalt zurückzukommen. Eine Steigerung des Gemeinen Nutzens zu einem Begriff von liturgischer Qualität ist der reformatorischen Bewegung geschuldet. Das Inlett von Gemeinnutz, der Eigennutz, wurde von den Theologen vorwurfsvoll der alten Kirche - dem Papst, den Bischöfen, den Mönchen - übergeworfen, aber nicht nur ihr, sondern allen, die sich gegen einen chrisdichen Lebenswandel (das war jetzt gleichbedeutend mit einem Bekenntnis zur Reformation) sperrten. Eigennutz ist gottlos, gehört zu den ständig memorierten und repetierten Ausagen von HULDRICH ZWINGU, folglich dient der dem Gemeinen Nutzen, der sich praktisch zum reformatorischen reinen Evangelium bekennt 104 . „Divina, betreffend der seel
102 103 104
G. RADBRUCH, Lieb der Gerechtigkeit. Zitiert ebd., 125. Reiches Belegmaterial bei GOTTFRIED LOCHER, Grundzüge der Theologie Huldrych Zwingiis im Vergleich mit derjenigen Martin Luthers und Johannes Calvins, in: DERS., Huldrych Zwingli in neuer Sicht. Zehn Beiträge zur Theologie der Zürcher Reformation, Zürich - Stuttgart 1969, 173-274, besonders 180f., 191 [„Nos enim quicquid diximus, in gloriam dei, ad utilitatem reipublicae Christianae conscientiarumque b o n u m diximus", aus der von Locher so genannten ersten Dogmatik des Protestantismus, folglich einem prominenten Text]. Vgl. auch die kommentierten
214
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
hayl" und „Politica, die den gemaynen nutz betreffent", ließen sich nicht trennen. CHRISTOPH SCHAPPELER, einer der engsten Gefährten Zwingiis, machte diese Überzeugung zum argumentativen Kern seiner politiktheoretischen Traktate: „Ach got, dyse gebot mogent sich nit vonainander schaiden, dann die politica-gebotte siend auch divina, die den gemaynen nutz trewlich fördern, ist nichts anders dann die bruderliche liebe trewlich zu erhalten, dz der seligkayt höchste verdienung ayne ist" 1 0 5 . Kein Wunder, daß der Gemeine Nutzen ideologisch fur den Bauernkrieg zurechtgeschliffen wurde 1 0 6 . Damit war ein Transfer des Gemeinnutzes von der kommunalen Ebene auf die staatliche Ebene unabweisbar geworden. Die legislatorische Tätigkeit des frühmodernen Staates fand ihre Legitimation in der Förderung des Gemeinen Nutzens. In Deutschland nannte man die staatlichen Aktivitäten unter dem Prätext des Gemeinwohls gute Policeyen, in Frankreich bonne police. Es bleibt eine Frage des Standpunktes, ob man das eine Enteignung der Gemeinden nennen soll oder eine staatliche Anerkennung ihrer Werte.
8.3
POLICEYEN UND POUCE-
DIE KOMMUNALEN WURZELN DES MODERNEN
STAATES Der Gemeine Nutzen wurde das edle Tuch, in den die königlichen und fürstlichen Polizeiordnungen geschlagen wurden 1 0 7 . Die Gesetzgebung des modernen Staates bediente sich nahezu ausschließlich dieser Formel. Der Wechsel des Gemeinen Nutzens von der kommunalen Ebene von Stadt und D o r f auf die zentrale von Königreich und Fürstentum erfolgte in Europa nahezu überall im frühen 16. Jahrhundert. Wie eine Flutwelle ergießen sich in die Territorien die landesfiirstlichen Gebote, „die selbständig normbildend neben das traditionell gebundene, statische und gleichsam vorgefundene Recht traten und seit der Wende zum 16. Jahrhundert - beeinflußt durch die Gesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches -
105
106
107
Nachweise fur die Verwendungsmodi von Eigennutz und Gemeinnutz bei Zwingli in BERNDT HAMM, Zwingiis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, llff., 19, 100f„ 105, 107, 110. - Die Durchsicht von Zwingiis in dieser Hinsicht relevanten Schriften [Indices fehlen] ergab mehr Belege fur Eigennutz als fur Gemeinen Nutzen. Vgl. H. ZWINGLI, Werke 2, 522, 633, 650f.; ebd. 3, 103,105, 107-112,400. Text zitiert nach der Edition von Siegfried Hoyer - Bernd Rüdiger (Hgg.), An die Versammlung gemeiner Bauernschaft. Eine revolutionäre Flugschrift aus dem Deutschen Bauernkrieg (1525), Leipzig 1975, 110. Dort auch Einordnung und Interpretation des anonym erschienenen Textes. Die Zuschreibung auf Christoph Schappeler belege ich anderer Stelle. Breit belegt in meinen älteren Arbeiten: Die Revolution von 1525, München 3 1993, 151-244, sowie: Gemeindereformation, München 1985, 44, 68-71, 198fF. Zahlreiche Belege für Deutschland bei H. MAJER, Staats- und Verwaltungslehre. Ergänzend etwa für Frankreich A. RIGAUDIÈRE, Ordonnance de police, 108 [„bien et utilité de la chose publique", „le bien, proufKt et utilité de la chose publique"] oder die habsburgischen Niederlande A. M. J. A. BERKVENS, Niederlande, 438 [gleiche Terminologie wie in Frankreich]. - Die jüngste Interpretation der Policey durch K. HÄRTER - M. STOLLEIS, Einleitung, 3, sagt, „orientiert an der Zielvorstellung des gemeinen Nutzens bildete Policey die Leitkategorie und das zentrale Betätigungsfeld staatlichen Verwaltungshandelns".
8.3
Policeyen und police-die
kommunalen Wurzeln des modernen Staates
vorwiegend unter der Bezeichnung Policeyordnung oder Landesordnung
215 firmierten"108.
Damit verbunden war eine „Professionalisierung der Verwaltung" und deren normative Fi109
xierung
.
In die Gesetzessprache des Reiches zog die Policey erstmals über einen der bedeutendsten Reichstage, jenen von Worms 1495, ein 110 , die Territorien folgten mehrheitlich in den nächsten Jahrzehnten, nur vereinzelt und in den Materien beschränkt liegen für die Territorien frühere Ordnungen vor. Mit dem Befund für Deutschland deckt sich der fiir Europa insgesamt, jedenfalls in den großen Zügen 111 . Unstrittig ist der Aufschwung der Polizeigesetzgebung der Könige und Fürsten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Während der Regierungszeit Karls V. wurden in den habsburgischen Niederlanden jährlich durchschnittlich 37 Polizeimandate erlassen112, darunter eine große Polizeiordnung {up'tfait van depolicie) vom 7. Oktober 1531. In Schweden begegnet der Begriff (politi, politier) erstmals um 1540 1 1 3 , eine fiir das ganze Land gedachte, aber wohl nicht durchgesetzte Ordnung wurde 1546 erarbeitet 114 . Frankreich erlebte im 16. Jahrhundert einen Höhepunkt der zentralstaatlichen Polizeigesetzgebung, ihr Charakter ist in hohem Maße „interventionistisch", während bislang die autonomen Bereiche der Städte und Grundherrschaft eher respektiert worden waren 115 . Zu ergänzen ist freilich die Beobachtung, daß in Frankreich der Polizeibegriff früher begegnet als im Reich, aber genau in dem von der deutschen Sprache gemeinten Sinn 116 . Alles was in den Bereich der zentralstaatlichen politique und administration fällt, heißt Polizei 117 . Offenbar konnte aber eine Zentralmacht sich auch erst mit Verspätung an diese europäische Entwicklung anschließen wie Spanien 118 und Ungarn 119 . Eine völlige Entmachtung regionaler und lokaler Polizeikompetenzen hat das nicht zur Folge gehabt, aber doch eine merkliche Einschränkung. Einerseits läßt sich beobachten, daß 108 109 110
K. HÄRTER - M. STOLLEIS, Einleitung, 1. Ebd., 3. Ausgezeichnete Übersicht der Materien, korreliert mit den entsprechenden Reichstagen, bei KARL HÄRTER, Deutsches Reich, im Anschluß an: K. HÄRTER - M. STOLLEIS, Einleitung, 5 1 - 1 0 6 . Vgl. auch KARL HÄRTER, Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert, in: lus Commune 2 0 (1993), 6 1 - 1 4 1 .
111
Offenbar war auch die Ausstrahlung des Reiches in andere europäische Länder nicht unbedeutend. Die Einflüsse auf Rußland hat monographisch M. RAEFF, Police State, erhoben. Ergänzend P. SZABÓ, Polizei in Ungarn, 3 9 3 - 3 9 9 [Studium der Ungarn in Göttingen, allerdings erst im 18. Jahrhundert], P. FROHNERT, Policeybegriff, 5 3 2 [Policey nach Schweden vermittelt durch die Dynastie],
112
A. M. J. A. BERKVENS, Niederlande, 4 3 0 . P. FROHNERT, Policeybegriff, 531 f.
113 114 115 116
117 118
119
Ebd., 535. B. DURAND, Notion de Police, 170. A. RIGAUDIÈRE, Police en France, 97. „Policía, policie et police qui triomphent dans le vocabulaire politique du XIV e siècle sont alors les termes principalement utilisés pour qualifier l'action de l'Etat dans sa globalité". Ebd., 103. J.-M. SCHOLZ, Policía. Eine präzisere Datierung ist der vorliegenden Untersuchung nicht zu entnehmen. P. SZABÓ, Polizei in Ungarn, 3 8 6 .
216
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
die Städte weiterhin neben dem König statuierten 120 , nachweisbar besonders in Spanien 121 , ihnen aber auch öfters ausdrücklich die Polizei als Kompetenz eingeräumt wurde wie 1480 dem Magistrat des französischen Sancerre („la police, regard et gouvernement dicelle ville") 122 . Gelegentlich mochte auch ein schwindendes Interesse der Fürsten an der Polizei die lokale Satzungstätigkeit neu beleben wie in den Niederlanden 123 . Neben den Städten gilt das auch für die Provinzen. Allein fiir Brabant wurden zwischen 1520 und 1581 3000 landesherrlich sanktionierte Verordnungen erlassen 124 , der französische König räumte den Untertanen von Burgund 1476 das Recht ein, daß sie unbeschränkt über „gouvernement, police et entretènement diceulx pays" verfugen könnten 125 . Andererseits setzte sich immer mehr der Gedanke durch, die lokalen und regionalen Polizeien stünden unter dem Vorbehalt der Rechtsbesserung durch den König, folglich sei tendenziell daraufhinzuarbeiten, sie wie Gewohnheiten {coutumes) zu vereinheidichen. In diesem Sinne wurden dann lokale und regionale Polizeien von königlichen Amtsträgern in Kraft gesetzt 126 . In Schweden waren das immerhin 20% aller Verordnungen des 16. Jahrhunderts 127 . Daß daraus prinzipiell konkurrierende Situationen erwachsen konnten 128 , läßt sich besonders gut fiir spanische Städte belegen, wo die Polizeigesetzgebung zwischen den königlichen städtischen Beamten (corregidores) und der Stadt selbst strittig bleiben konnte 129 . Korrespondierend mit der sich verstärkenden und ausweitenden königlichen und fürstlichen Gesetzgebung geht auch der anfangs feststellbare ständische Einfluß zurück 130 . Allmählich bürgerte sich eine Differenzierung in eine politia generalis für den Staat (Territorium) und eine politia specialis fiir die Kommune (Landstadt) ein 131 . Der Vorgang selbst findet an einer Bruchstelle der europäischen Geschichte statt, die weniger der Reformation geschuldet ist, als der in Europa immer prinzipieller und radikaler werdenden Kommunalisierung. Sie lagerte sich in den europäischen Parlamenten ab in einer Verstärkung des Dritten und Vierten Standes (1), in großen nationalen Aufständen in Spanien, dem Reich und Ungarn (2), sowie in der Reformation als sozialer Bewegung (3). Da-
So in Ungarn (1537 auch erstmalig der Polizeibegriff fiir die Ordnung einer Bergstadt). Ebd., 386. J.-M. SCHOLZ, Policía, 259f. 1 2 2 Zitiert bei A. RiGAUDIÈRE, Police en France, 104 [dort zahlreiche weitere Beispiele], 1 2 3 A. M. J. A. BERKVENS, Niederlande, 426. 1 2 4 Ebd., 430. 1 2 5 A. RiGAUDIÈRE, Police en France, 104. 1 2 6 So gleichlautend A. RiGAUDIÈRE, Police en France, und B. DURAND, Notion de Police, 194ff. 1 2 7 P. FROHNERT, Policeybegriff, 534. 1 2 8 In den spanischen Niederlanden konnten lokal und regional Beschwerden oder Einsprüche geltend gemacht werden, die dann aufschiebende Wirkung (vertogen) hatten, öfters auch zu Modifikationen führten. A. M. J. A. BERKVENS, Niederlande, 426. 1 2 9 J.-M. SCHOLZ, Policía, 259f. 1 3 0 P. PREU, Polizeibegriff, 37, indessen warnt davor, das ins politiae zu einseitig als das rechdiche Instrument fursdicher Interessenpolitik in absolutistischer Absicht zu interpretieren. 1 3 1 Ebd., 31. Darüber hinaus sichert sich der Staat ein Aufsichtsrecht über die nachgeordneten Obrigkeiten. Das hat starke Eingriffe in die Rechte der Untertanen erlaubt, schuf „verbreitete Rechtsunsicherheit" und wirkte „in kaum zu überschätzendem Maße zugunsten der fiirsdichen Polizeigewalt". Ebd., 50. 120 121
8.3
Policeyen und police-die kommunalen Wurzeln des modernen Staates
217
von ist später noch ausfuhrlicher zu sprechen 132 . Hier müssen ganz wenige Hinweise als erste Belege reichen. (1) Um die Wende zum 16. Jahrhundert rückte in Frankreich der Dritte Stand in die états généraux ein, in Schweden bildeten die Bürger und Bauern je eine eigene Kurie fur den Reichstag aus, in Deutschland brachte der Reichstag interkuriale Ausschüsse hervor mit einem wachsenden Einfluß des Bürgertums wegen der Reichsstandschaft der Städte und der bürgerlichen Präsenz in den fürstlichen Räten 1 3 3 . In Württemberg schrieb der bürgerlichbäuerliche Landtag den Herzögen die Politik vor, in Tirol saßen Bauern und Bürger nicht nur paritätisch mit dem Adel und der Geistlichkeit im Landtagsausschuß, sondern auch im Regiment in Innsbruck 134 . Das europäische Ständewesen hatte unter dem Einfluß der kommunalen Vertreter Schritte getan, sich in einem modernen Sinn zu parlamentarisieren und damit auch zu einer Interessenvertretung der Bevölkerung zu werden, eine freilich sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts wieder zugunsten fürsdicher und adeliger Herrschaft umkehrende Entwicklung. (2) Wegen mangelnder Durchsetzungsfähigkeit in den Cortes erhoben sich 1520 alle königlichen Städte in Kastilien, die Gravamina, die man an Karl V. schrieb, hätten im Erfolgsfall Spanien in eine Art konstitutionelle Monarchie transformiert. Im Reich erhob sich 1525 der Gemeine Mann mit dem erklärten Ziel, die politischen Zuständigkeiten der Gemeinden auf Kosten des Adels (kirchliche Herrschaft wurde durch die Reformation als obsolet eingestuft und nicht mehr theoretisch reflektiert) zu erweitern. Der Gemeine Nutzen sollte reichsweit praktiziert werden, darin sah man einen Auftrag der göttlichen Schöpfung. In den Gravamina der Bauern an Karl V., die ihm über seinen Statthalter und Bruder Ferdinand zugestellt wurden, hat das in der göttlichen Gerechtigkeit, die der Kaiser fördern müsse, seinen Niederschlag gefunden. In Ungarn trugen den Aufstand von 1514 die Bauern (Dörfer) und besonders die Marktflecken. 4 0 0 0 0 bewaffnete Bauern kämpften gegen neue Formen der Refeudalisierung einen heiligen
Krie¿35.
Die Nachweise im einzelnen in den beiden folgenden Kapiteln. Hier werden nur Belege insoweit angeführt, als sie im Kontext späterer Erörterungen nicht mehr benötigt werden. 133 Für das Reich GERHARD OESTREICH, Zur parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter Karl V. (1519-1556). Kuriensystem und Ausschußbildung, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 25 (1972), 217-243. - Oestreichs Position ist in der jüngeren verfassungsgeschichtlichen Forschung nicht unbestritten, gewinnt aber tendenziell durch die europäische Kontextualisierung wieder an Plausibilität. Zur Kritik vgl. HELMUT NEUHAUS, Wandlungen der Reichstagsorganisation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 3), Berlin 1987,113-140, sowie PETER MORAW, Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: Hermann Weber (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Beiheft 8), Wiesbaden 1980, 1-36, besonders 30. 134 Für Württemberg durchschlagend [eine wissenschaftliche Bearbeitung des Problems fehlt indessen] Wilhelm O h r - Erich Kober (Hgg.), Württembergische Landtagsakten 1498-1515 (Württembergische Landtagsakten 1/1), Stuttgart 1913. - Für Tirol P. BUCKLE, Landschaften, 181, 186FF. 135 PETER GUNST, Der ungarische Bauernaufstand von 1514, in: Historische Zeitschrift, Beiheft 4 132
(1975), 6 2 - 8 3 .
218
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
(3) Die Reformation, soweit sie die Bauern und Bürger erfaßte und von ihnen getragen und (oft genug gewaltsam) vorangebracht wurde, war überall eine kommunale Bewegung, gleichgültig, ob sie sich auf Luther, Zwingli oder Calvin berief, ob sie in Deutschland, der Schweiz oder Frankreich stattfand. Die Hierarchie der Kirche und das sie stützende System des kanonischen Rechts wie auch die ökonomische Fundierung (Pfründe) im Lehensrecht sollten einer Kommunalisierung des Christentums weichen. Die (politische) Gemeinde verlangte, darüber entscheiden zu dürfen, wem die cura animarum anvertraut würde, sie hätte die Besoldung der Priester (beneficium) übernommen und damit das Patronatsrecht obsolet werden lassen. Die Parlamentarisierung des Ständewesens, die Revolutionierung der Herrschaftsformen und die Kommunalisierung des Christentums waren immer auch mit dem Gemeinen Nutzen als Argument betrieben worden. Das war seine Außenseite, sein systemkritisches Potential. Indem sich die königliche oder fürstliche Zentralmacht den Gemeinen Nutzen vindizierte, schöpfte sie von der kommunalen Bewegung deren eigene Ideologie ab. Indem sie den Gemeinen Nutzen in der guten Policey materialisierte, befestigte sie ihre Legitimität neu, weil sie jetzt die Politik wiedergewann, die nicht das Geschäft des Mittelalters gewesen war. Daß Politik ein existentielles Erfordernis zur Regulierung des gesellschaftlichen Lebens sei, war die kardinale Erfahrung von Bürgern und Bauern, nicht die von Herren und Vasallen. Polizei, die gute Policey wie die deutsche Sprache gerne sagt, war gleichermaßen praktisches politisches Handeln des Staates in Form von Gesetzen und deren administrativer Durchsetzung und die theoretische Standortbestimmung dieses politischen Handelns 136 . H A N S MAIER hat diesen umfassenden Polizeibegriff am deutschen Material analysiert, eine Pionierleistung der Politologie mit großer Ausstrahlung in die Jurisprudenz und in der Geschichtswissenschaft ohne Gegenstück, und die so gewonnenen Ergebnisse in eine konzise Gesamtinterpretation gebracht, die sich auch auf einer europäischen Ebene wird behaupten können, wenn man sie im Detail unter dieser erweiterten Perspektive modifiziert. Das Aufkommen der Polizei erklärt Maier aus den strukturellen Schwächen der ständischen und korporativen Ordnung im Reich im ausgehenden Spätmittelalter137. Man kann das Argument nach dem bisher Gesagten verschieben und von der Vitalität der korporativen Ordnungen, namentlich der städtischen und ländlichen Gemeinden, sprechen und dann mit Maier weiter folgern, das habe das Eingreifen der Landesherren mittels der Polizei provoziert, einerseits weil die Kommunen das von ihren Fürsten erwarteten, andererseits weil die (Herren-) Stände, der Adel durch den geschaffenen Frieden und die Geistlichkeit durch die Reformation, sehr rasch delegitimiert worden waren.
136 137
H . MAIER, Staats- u n d Verwaltungslehre, V I I - I X . Ebd., 3 3 - 9 1 . D a s Argument ist verbreitet auch in der Geschichtswissenschaft. GERHARD OESTREICH, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: DERS., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1 9 6 9 , 1 7 9 - 1 9 7 , hier 188.
8.3
Policeyen und police-die
kommunalen Wurzeln des modernen Staates
219
Seit dem 16. Jahrhundert, so Hans Maier bilanzierend, habe die Polizei besonders in den deutschen Territorien zunehmend an Bedeutung gewonnen, weil die Polizeigesetzgebung des Reiches (1530, 1548, 1577) nicht entwicklungsfähig war, jene in den Städten erlahmte und in den adeligen und kirchlichen Grundherrschaften eine solche kaum ausgebildet wurde. Die Polizei habe zusehends auch immer weitere Bereiche erfaßt, von der Lebensmittelpolizei über die Kleiderpolizei bis zur Sittenpolizei. Theoretische Überlegungen hätten den Prozeß zunehmender Monopolisierung der Polizei beim Fürsten und seinen Behörden begleitet und die Gesetze selbst mit dem Gemeinen Nutzen, dem Gemeinwohl und der Wohlfahrt ethisch legitimiert. Was Polizei inhaltlich zu sein habe, wäre einer „prinzipiell" fur alles zuständigen Obrigkeit, dem Fürsten, vorbehalten worden mit der Folge, daß „jetzt der Untertan in politicis et cameralibus [...] prinzipiell als rechtsunmündig angesehen" wurde 1 3 8 . Der Zweck der Polizei sei dem voluntaristischen Charakter frühneuzeitlicher Fürstenherrschaft verpflichtet geblieben und damit einer „von bevormundendem Hochmut nicht freien Bürokratie" 139 ausgeliefert gewesen. Spezifisch deutsch an der Polizei sei, bedingt durch die Reformation, die Sitten- und Religionspolizei, und dank der Säkularisation der Klöster die Ausbildung der staatlichen Bildungs- und Armenpolizei. Reformationsbedingt seien auf diese Weise Macht und Autorität fürstlicher Herrschaft schnell gewachsen, sie sei aber auch durch das lutherische Verständnis vom Amt des Fürsten geprägt worden, das von ihm verlangte, das Land gut zu verwalten, seinen Untertanen als guter Hausvater ein Vorbild zu sein und ihr Wohlergehen zu fördern. Landesherrschaft habe das Luthertum in Deutschland lediglich als erweiterte Hausherrschaft verstanden und somit als gottgewollt interpretiert, womit wenig Anlaß bestand, das Gemeinwohl von den Staatsbürgern zu erfragen, etwa über Landtage. Maier verschraubt die wissenschaftlich gesicherten Bauelemente der Frühneuzeit in Deutschland - den Aufstieg der Fürsten, die Schwächung der Landstände und die Etablierung des Luthertums - zu einer stabilen und äußerst tragfähigen Interpretation. Mit der Polizei (im Sinne der guten Verwaltung) sicherte sich der Fürstenstaat einen Kompetenzbereich, den das Reich nicht ausfüllen konnte. Der „[Territorial-] Staat hatte ja [...] überhaupt keine Verfassung, er hatte ja nur Verwaltung" 140 , im Gegensatz zum Reich, das sich als Garant von Friede und Recht verstand. Damit hatte sich der Territorialstaat aber den dynamischeren und entwicklungsfähigeren Staatszweck (Wohlfahrt) gesichert. Er ließ sich im überwiegend protestantischen Deutschland (wo auch in der Regel die Polizeitheorien geschrieben wurden) um so leichter durchsetzen, als Luther dem Fürsten die gute Verwaltung (Haushaltung) zur Pflicht gemacht hatte, angereichert um das Argument, Untertanen stünden in einem Verhältnis zu ihrem Fürsten (Landesvater) wie Kinder zu ihrem Vater. Luthers Überzeugung von der durch die Erbsünde verkrümmten Natur des Menschen (natura corrupta:) habe die Überzeugung vom sitdich prinzipiell schwachen Untertanen gefördert. Obrigkeit (Herrschaft) hatte somit den Auftrag, ordnend und fördernd (Gemeiner Nutzen)
138
H. MAIER, Staats- und Verwaltungslehre, 159.
139
Ebd., 1 9 0 . Ebd., 291 [Exkurs II],
140
220
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
einzugreifen und das konnte der Rezeption von Aristoteles aufhelfen, fiir den eben das bonum commune der Zweck der Politie gewesen war. Von ihm bezog man die Leitvorstellung des guten Lebens (bonum commune), doch man löste den dazugehörigen Kontext der aristotelischen Gesellschaftslehre - nicht die politische Diskussion unter Bürgern bringe das bon u m commune hervor, sondern die höhere Weisheit des Fürsten (Landesvaters) und seiner beamteten Diener 1 4 1 . Maiers Herleitung der Polizei in Deutschland läßt sich gut auf den Kommunalismus zurückbeziehen und auf den europäischen Raum ausweiten. Mit dem Gemeinen Nutzen (bonum commune) und dem Statutarrecht (Policey) zieht der König (Fürst) die Logik, nach der Gemeinden operierten, auf die große Fläche des Reiches (Territoriums) und bedient sich dazu einer Theorie (Aristoteles), die in verschiedenen Varianten als eine solche der Selbstvergewisserung von Kommunen in Umlauf war. Die Kommune - Modell fur den Staat in der Absicht 142 , sie zu entmachten. Auf Deutschland m u ß man diese Interpretation deswegen nicht beschränken, weil die Aristoteles-Rezeption des frühen 16. Jahrhunderts in Europa eine generelle war, und immer verband sich damit eine Applikation auf große Flächenstaaten. Belegen läßt sich das über die Aristoteles-Editionen, die zwischen 1550 und 1560 ihren Höhepunkt erreichten, und zwar mit den bevorzugten Druckorten Paris, Lyon, Venedig, gefolgt in großem Abstand von Basel, Köln und Leipzig 143 . M I C H A E L STOLLEIS, dem man diesen Hinweis verdankt, hat die Aristotelesrezeption in Deutschland einerseits als Reaktion auf den Bauernkrieg von 1525, andererseits als Rückgewinnung einer ethischen und politischen Autorität nach der Reformation erklärt 144 . Diese doppelte Referenz auf Bauernkrieg und Reformation würde es im Analogieschluß erlauben, die Polizei in Spanien mit dem dortigen Comuneros-Aufstand zu verknüpfen, jene in Frankreich (mit ihrem Höhepunkt im 16. Jahrhundert 1 4 5 ), den Niederlanden und Schweden aus deren Erfahrungen mit der Reformation. Im kommunalen Bereich sollte der Gemeine Nutzen dazu dienen, nicht nur individuelle Kräfte zu bändigen, sondern auch solche zum Nutzen der Gemeinde zu entfalten. Auch dieser Aspekt ist von der zentralstaadichen Polizei aufgenommen worden. Im „well-ordered po-
141
Ebd., 159f. Der Polizeigeschichte ist der Gedanke nicht fremd, auch wenn er anders formuliert wird. Vgl. P. PREU, Polizeibegriff, 32: „Darüber hinaus gibt das städtische Gemeinwesen das Modell fiir die Einrichtung des ganzen Landes ab. [...] Problemanalysen und Lösungsvorschläge der polizeiwissenschaftlichen Literatur orientieren sich an der Stadt". 143 M. STOLLEIS, Policeywissenschaft, 84. 144 Ebd., 82f. „Unter dem Eindruck des Bauernkriegs von 1525 änderte sich diese Einstellung allerdings. [...] Die Erkenntnis, daß die Bergpredigt keine hinreichende Handhabe für die staadiche Ordnung biete, um die den Reformatoren so bedrohlich erscheinende .Schwarmgeisterei' zu bekämpfen, führte zur Kommentierung auch der aristotelischen .Politik'. Der Protestantismus füllte gewissermaßen die von der Theologie nicht besetzten ethisch-politischen Freiräume mit alten Autoritäten, ein Vorgang, der seine Parallele in der Restituierung des Kirchenrechts fand, weil es sich als unentbehrlich fiir den Aufbau der neuen innerkirchlichen Ordnung erwies". 145 Auch Frankreich organisiert darüber hinaus die police fiir die Städte (und Dörfer) des Königreichs nach dem Muster der Stadt (Paris). Vgl. P. PREU, Polizeibegriff, 32 [mit Verweis auf Delamare], 142
8.3
Policeyen und police - die kommunalen Wurzeln des modernen Staates
221
lice state" drückt sich ein großer Optimismus aus, mittels Gesetzen und Verwaltung die natürlichen, unternehmerischen und intellektuellen Ressourcen eines Landes zur Entfaltung bringen zu können 146 . Wo das schließlich gelang, wie in Deutschland im 18. Jahrhundert, häutete sich gewissermaßen die Gesellschaft im Ubergang von der ständischen zur bürgerlichen und streifte die Polizei ab. Wo das mangels einer formierten und differenzierten bürgerlichen Gesellschaft mißlang, wie in Rußland, verkam die Polizei zum bürokratischen Lärm, der Entwicklungen blockierte und das Fortkommen der Eliten behinderte147. Der epochale Wechsel vom kommunalen Gemeinen Nutzen in den Gemeinen Nutzen der staatlichen Policeyen in Europa soll abschließend an einem Beispiel noch einmal in einer kolorierten Vergrößerung vorgeführt werden. An Basel, einer bischöflichen Stadt im Spätmittelalter, dann einer freien Stadt und schließlich einem eidgenössischen Ort wurde zuerst148 das semantische Feld des Gemeinen Nutzens herausgearbeitet, seine polarisierende Funktion auf Herren-Nutz freigelegt, seine praxisnahe Verankerung in der Stadt gezeigt, seine Herkunft aus dem Wortschatz des Handwerkers belegt. In Basel - und so vielerorts wurde der Gemeine Nutzen im frühen 16. Jahrhundert ethisch und theologisch auf eine steile Höhe getrieben, in Verbindung mit den Zunftkämpfen in der Stadt und der Reformation. Die Schwestern des Klosters St. Clara in Basel übergaben ihr Haus an die Stadt - oder mußten sie es unter dem öffentlichen Druck übergeben? - in der Absicht und Hoffnung, „das dardurch die eer gottes geuffnet, die armen durfftigen getröstet und gemeiner nuz der statt Basell gefordert werde" 149 . Am 8. Februar rotteten sich die Handwerker vor dem Rathaus zusammen, am 9. Februar 1529 wurde das Münster von der übernächtigten Menge gestürmt, und die bislang lieben Heiligen wurden auf dem Petersplatz verbrannt. Der Rat ließ jetzt verlautbaren, die Obrigkeit (also er) sei „von got ingesetzt", daraus folge, daß sie „zuvorderist schuldig ist ze hanndien, was zu uffnung der eren gottes dienstlich, darby ouch ein oberkeit irer unnderthonen, denen sy fiirgesetzt, nit vergessen, sonder sich vlissen mit hohem ernnst ze hanndien, was zu erhalltung gmeinen nutzes, burgerlichenn fridenns unnd einigkeit dienen mag". Gemeinen Nutzen, Frieden und Einigkeit zu fördern ist das Geschäft des Rates als Obrigkeit gegenüber seinen Untertanen im Auftrag Gottes; auf diese Weise werden Gemeinnutz, Friede und Einigkeit die Konkretisierung der Mehrung von Gottes Ehre. Der Gemeine Nutzen war reformatorisch geworden. Zuvor hatte sich der Rat sich von seinen altgläubigen Mitgliedern getrennt. Kürzungen der Legitimationsformeln fiir das städtische Regiment waren auch jetzt noch möglich. Im Amtseid schworen die Baseler Räte, „der stat nutz, ere unnd lob forderen, den gemeinen nutz trúwlich hanndthaben unnd inn dem allem zu dem höchsten die ere gottes úffnenn" zu wollen150. Die Baseler Bürger haben aus dem Gemeinen Nutzen und der Ehre Gottes Wechselbegriffe gemacht. 146
M . RAEFF, Police State, 171.
147
Ebd., 2 5 7 . Vgl. B a n d i . Urkundenbuch der Stadt Basel, 10. Bd., Basel 1910, 107 Nr. 95. Emil D ü r r - P a u l Roth (Hgg.), Aktensammlung zur Geschichte der Basler Reformation in den Jahren 1519 bis Anfang 1534, 3. Bd., Basel 1 9 3 7 , 2 8 4 f „ Nr. 3 8 7 . [Weitere ähnliche Belege ebd., 2 8 5 , 286,287.]
148 149 150
222
8
DER GEMEINE NUTZEN DER KOMMUNE
Fürsten konnten das ganz anders sehen. Landgraf Philipp von Hessen wurde von seinem Historiographen WLGAUD LAUZE, dem Gerichtsschreiber in der Kasseler Kanzlei von 1537 bis 1540, gerühmt, weil er den „Bawren auffrur [...] gestillet und die underthanen wider zu gehorsam brocht" habe. Die Bauern hatten sich nicht anders als die Basler Handwerker fur die Reformation eingesetzt, „aus heyliger Gotdicher schrift" ihre Hoffnung gezogen, wie Lauze einräumt, aber „fast alle ire Artikel weren auff Iren eigen und sondern nutz, und gar nicht wie sie furgeben, auff den gemeinen landnutz gestellet" 151 . Das war auch das Urteil Martin Luthers gewesen. Jetzt konnte sich eine politische Theorie entfalten, die Gemeinen Nutzen und Ehre Gottes als Staatszweck ausgab, deren Ausgestaltung aber bevorzugt den Fürsten übertrug. Johannes Ferrarius ließ 1533 einen Traktat unter dem Titel „Von dem Gemeinen nutze" drucken 152 . Luther und Aristoteles gehen hier die von Hans Maier an den Polizeitheoretikern nachgewiesene Verbindung ein. Christen, so heißt es am Schluß, „sollen es nit darbey lassen, das vnser gemein nutz in schwanck gehet", sie sollen „ein besseres suchen/ nemlich die ehr Gottes". „Die oberkait sal gedencken/ jre gewalt sey von Gott". „Also faren die obern mit jrer regirung in Gottes forcht jmmer fur vnd fur/ die vnterdanen stehen in jrem gehorsam". Gleichsam zwei Sattelschlepper fahren zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf den umtriebigen Bauhof Europa, der eine liefert aus den europäischen Kommunen den Gemeinen Nutzen an, der andere aus der politktheoretischen Debatte der Renaissance das bonum commune von Aristoteles. Dort - um im Bild zu bleiben - werden sie, als Gemeinwohlveipackt, von einem Gabelstapler auf den bereitstehenden Zug des frühmodernen Staates verladen und von ihm in die Moderne gefahren. Seitdem gehört das Gemeinwohl zu den besonders erhabenen Staatszwecken, zu dem der Gemeine Nutzen und das bonum commune durch seine Theologisierung in der Reformationszeit gemacht worden waren. Als pathetischer Bestandteil der politischen Rhetorik hat das Gemeinwohl alle revolutionären Umbrüche überstanden, wohl nicht zuletzt deswegen, weil es einen Rest seines kritischen Potentials gegen Eigennutz bewahrt hat und damit seine kommunale Herkunft nicht gänzlich verleugnet. Nur republikanische Demokraten kleiden sich in der politischen Öffentlichkeit noch in den Mantel des Gemeinwohls, der Rest bewegt sich freier, individueller, eben happier. Damit ist der Schritt vom kommunalen in den zentralstaatlichen Raum getan. Es bleibt das Verhältnis zwischen Lokalmacht und Zentralmacht zu erörtern. Es geht nicht um den Staat im Alten Europa, sondern seinen Umgang mit und seine Prägung durch den Kommunalismus.
151
152
Zitiert bei ROBERT VON FRIEDEBURG, Der „Gemeine Nutz" als affirmative Kategorie. Der Aufbau frühmoderner Verwaltung in Hessen durch Landgraf Philipp den Großmütigen und seinen Sohn Wilhelm IV., in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 89 (1982/83), 27-29, das Zitat 44. [JOHANNES FERRARIUS], Von dem Gemeinen nutze/ in massen sich ein ieder/ er sey Regent/ ader vnderdan/ darin schicken sal/ den eygen nutz hindan setzen/ vnd der Gemeyn wolfart suchen, Marburg 1533; die nachfolgenden Zitate fol. R iiiij'f.
Teil III Kommune und Staat Praxis und Theorie
9
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT - KONFLUIERENDE INTEGRATIONSPROZESSE
Im Alten Europa hat sich die Monarchie als besonders durchsetzungsfähige Staatsform erwiesen. Dabei handelt es sich in der Regel um Erbmonarchien, nicht um Wahlmonarchien. Insofern repräsentieren die Königreiche auch nicht jenen reinen Typus von Monarchie, den die Staatstheoretiker gemeint hatten, wenn sie ihn in Abgrenzung gegenüber Aristokratie und Politie (Demokratie) definiert hatten. Damit war die Vorstellung vom Regiment des Besten verbunden, der aus einer hervorgehobenen Schicht (Adel) bestellt werden sollte. Monarchische Herrschaft in Europa definierte sich indessen über das Blut, also über die Dynastie. Eine Handvoll Dynastien hat sich über tausend Jahre die Macht in Europa geteilt, in Konfliktfallen auch durch gigantische Fehden, genannt Erbfolgekriege, erstritten1. Temperierend auf die Königsherrschaft wirkten gewiß die curia regis, das consilium regis, das parlamentum oder wie immer die Beratungsgremien genannt werden mochten, deren sich die europäischen Könige bedienten. Das brachte in den politischen Verband, der später Staat heißen sollte und von den Intellektuellen res publica genannt wurde, eine Mäßigung des königlichen Regiments. Die Ratgeber des Königs waren in der Regel solche, die über ein Lehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihm standen oder über autonome Herrschaft verfügten (Adel). Aber unabhängig davon, ob diese Formen minder würdiger Herrschaft durch königliche Delegation wahrgenommen wurden oder autochthon, qualifizierend war und blieb das nämliche Prinzip wie für Königsherrschaft, die Dynastie. Sofern das Alte Europa auf der Ebene der Zentralmacht (Königreich) überhaupt Formen des regimen mixtum im Verständnis der politischen Theorie hervorgebracht hat, war es eine solche von Monarchie und Aristokratie. Die monokratische Herrschaft war nicht konkurrenzlos in Europa, wie der Blick auf den breiten Urban belt lehrt, aber doch vorherrschend, maßstäblich und normprägend. Die Niederlande sind zur Republik geworden - und das im Blick auf das Alte Europa insgesamt spät - dank eines nicht vorgesehenen Desinteresses der in Frage kommenden Fürstenhäuser. Die mittelalterlichen Stadtrepubliken der Toskana und der Lombardei haben die republikanische gegen die monarchische Staatsform in der Neuzeit wieder eingetauscht. Ja selbst die Stadtmagistrate verstanden ihr Regiment seit der Reformation zunehmend als Herrschaft, und sie monopolisierten diese Herrschaft im Zirkel kleiner Gruppen, das Rekrutierungsprinzip für Ämter wurde wiederum ein dynastisches. Ihr Amt war jetzt nicht minder von Gott, wie das der Könige von Gottes Gnaden.
1
Für das Spätmittelalter wegweisend ARMIN WOLF, Prinzipien der Thronfolge in Europa um 1400. Vergleichende Beobachtungen zur Praxis des dynastischen Herrschaftssystems, in: Reinhard Schneider (Hg.), Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 32), Sigmaringen 1978, 233-278 [mit genealogischen Tafeln],
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
225
Das Bild mag grob sein und den Variantenreichtum nicht differenziert genug wiedergeben, nichtsdestoweniger skizziert es die Logik, nach der Zentralmacht in Europa operierte. Die einzige Form von Organisation politischer Macht, die sich davon grundsätzlich unterschied, war jene, die Gemeinden ausgebildet hatten. Ihnen lagen willentliche Akte von Vergesellschaftung lokaler Gruppen zugrunde, die gemeinsame Interessen teilten, vornehmlich solche alltäglicher Natur. Da der Alltag durch Arbeit bestimmt war, gewannen Gemeinden die ihnen eigene Rationalität aus der Organisation von Arbeit und dem Zusammenleben derer, die der Arbeit nachgingen. Deswegen lieferte das lokale Substrat fiir die Gemeinde üblicherweise das Dorf oder die Stadt. Der duale Mechanismus von Herrschaft und Genossenschaft ist folglich nicht am Werk, wenn Gemeinde und Staat sich begegnen. U m diese Beziehung geht es im folgenden. Europa hat somit rund ein halbes Jahrtausend mit zwei Grundformen von Vergesellschaftung gelebt, die sich über die Begriffe monokratisch und kommunal abbilden lassen. Das war zuerst eine Beziehung konfligierender und erst dann eine solche konsensualer Natur. Die Monarchie hatte, als die Gemeinden entstanden, ihre Stellung längst befestigt. Der König trat Untertanen gegenüber, und um dieses Verhältnis in ein widerspruchsfreies Weltdeutungssystem zu bringen, diente als normative Kategorie der Gehorsam (1). Gehorsam duldet, wie das Wort zum Ausdruck bringt, keinen Widerspruch. Gemeinden indessen waren in der Welt von Monarchie, Dynastie, Aristokratie und Lehnswesen nicht vorgesehen und in ihrer politischen Form, die sie schließlich annahmen, nicht gewollt. Folglich verlangte die Existenz der Gemeinden, dieses Weltdeutungskonzept zu durchbrechen. Das geschah nicht theoretisch, sondern praktisch - durch Ungehorsam (2) in Form von Unruhen. Um königliche Herrschaft zu sichern, wurden gelegentlich die Gemeinden respektiert, was ihnen den Einzug in die Parlamente erlaubte, wie umgekehrt der Druck der Gemeinden, ihre gewonnene Autonomie auf der zentralen Ebene zu sichern, eine Politik der Integration in die Parlamente förderte. Gravamen und Gesetz (3) sind die Modalitäten der konsensualen Begegnung von Herrschaft und Gemeinde.
9.1
GEHORSAM - EIN GEBOT GOTTES
In einem Brief des Apostels Paulus an die Philipper wird von Jesus gesagt, „er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze" 2 . In diesem Satz „faßt Paulus das ganze Heilswerk Jesu zusammen" 3 . Erlöst wird die Menschheit durch einen bis zum Tod bereiten Gehorsam. Dieser Gehorsam ist Gott, dem Vater, geschuldet, dennoch
2
3
Philipper 2,8. Die Belege aus den beiden Testamenten werden immer zitiert nach: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, mit erklärenden Anmerkungen und Biblischem Nachschlagewerk (Stuttgarter Jubiläumsbibel), Stuttgart 1931. K. NUSSER, Gehorsam, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 3. Bd., Darmstadt 1974, Sp. 1 4 8 .
226
9
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT
wird damit in der jüdisch- christlich-abendländischen Welt eine Kategorie namhaft gemacht und als Norm bestätigt, die analog auch für die Organisation der Gesellschaft Verwendung gefunden und ihr als Modell gedient hat. Christus als Sohn Gottes ist nicht nur seinem Vater gehorsam, als Jesus ist er auch seinen Eltern gehorsam. Lukas berichtet, wie Jesus als Zwölfjähriger mit seinen Eltern in den Tempel geht, auf dem Heimweg aber von Joseph und Maria vermißt wird. Die Eltern kehren in den Tempel zurück und finden ihn „mitten unter den Lehrern" 4 . Seine Mutter macht ihm Vorwürfe, er habe seine Eltern geängstigt. Jesus versucht, sein Verhalten zu erklären, doch „sie verstanden das Wort nicht, das er mit ihnen redete" 5 . Jetzt freilich ging er mit ihnen „gen Nazareth und war ihnen Untertan"6. Gehorsam gegenüber Gott und den Eltern gehört, ausgestattet mit der Dignität, daß selbst Jesus sich als gehorsam erweist, zum normativen Grundbestand jenes Europa, das sich nicht ohne Sinn christliches Abendland nennt. Für die Legitimierung von politischer Macht wurde entscheidend, daß der Gehorsam gegenüber den Eltern und schließlich seine Zuspitzung auf den kindlichen Gehorsam gegenüber dem Vater zum Urbild jeder Organisation von Gesellschaft und damit zum Paradigma avancierte. Gehorsam als Grundkategorie des Politischen bleibt ganz unverständlich, vergegenwärtigt man sich nicht, was das Christentum dazu gesagt hat. Die axiomatischen Grundaussagen stehen, gewissermaßen als dasjüdische Erbe des Abendlandes, im Alten und Neuen Testament (1), wurden dann durch die Kirchenväter analytisch durchdacht und als eigene Ethik und Politik in der Dogmatik der römischen Kirche ausformuliert (2) und schließlich teilweise durch die Reformatoren im 16. Jahrhundert neu gedeutet: Die Hinterlassenschaft des Protestantismus besteht nicht zum geringsten in einer Radikalisierung der jüdisch-chrisdichen Gehorsamsforderung (3).
9.1.1
Das jüdische Erbe des Abendlandes - Altes und Neues Testament
Altes Testament und Neues Testament bieten viele Belege dafür, daß nur Gehorsam, und zwar letztlich in einer den Menschen vernichtenden Absolutheit, zum Heil führt. Aus Gehorsam gegenüber Gott führt Abraham seinen Sohn Isaak zur Schlachtbank, um ihn als Brandopfer Gott darzubringen. Erst als Abraham das Messer schon gezückt hat, greift Gott ein und verzichtet auf das Opfer. Der Gehorsam macht Abraham gerecht vor Gott, nicht nur ihn, sondern seine ganze Nachkommenschaft 7 . „Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der Herr, wieweil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, daß ich deinen Samen segnen und mehren will wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres"8.
4 5 6 7
8
Lukas 2,46-47. Lukas 2,50. Lukas 2,51. Vgl. dazu die auslegenden Marginalien von Martin Luther in dessen Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittenberg 1545 [Nachdruck München 1972], 61. 1 Mose 22.
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
227
Wer Gott nicht gehorcht, kann durch übernatürliche Erscheinungen dazu gezwungen werden wie Saulus. Auf dem Weg nach Damaskus „umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der Herr sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Es wird dir schwer werden, wider den Stachel zu lecken"9. Seitdem war Saulus als Paulus einer der eifrigsten und erfolgreichsten Missionare der jungen christlichen Kirche. Gott duldet keinen Ungehorsam, vielmehr verlangt er den bedingungslosen Gehorsam gegenüber seinen Anweisungen und seinen Gesetzen. Die Transformation des Gehorsams in eine innerweltliche Tugend, seine Verallgemeinerung und Lösung aus seinem ursprünglich transzendentalen Kontext erfolgte auf das wirksamste durch Paulus, der im Brief an die Römer den Gehorsam mit theologischen Argumenten in die Politik einfuhrt und in einem spekulativen Argumentationsgang das Gesetzeswerk der Zehn Gebote im Alten Testament mit dem Liebesgebot des Neuen Testaments harmonisiert. „Jedermann sei untenan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat", belehrt Paulus die Gemeinde in Rom, „denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet"10. Daraus ergibt sich, daß es ein Sakrileg wäre, der Obrigkeit nicht zu gehorchen. Weil die Obrigkeit als „Gottes Dienerin" amtet, straft sie auch den, der sich gegen Gottes Ordnung vergeht, sie straft das Böse mit dem Schwert, das ihr von Gott gegeben ist. Christen jedoch brauchen die Obrigkeit nicht zu furchten, wiewohl auch sie ihr Gehorsam leisten müssen in Form von Steuern und Abgaben, Anerkennung und Ehrerbietung, weil sie das Gesetz erfüllen, indem sie sich lieben. „Denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt". Damit gewinnt Paulus den Anschluß an das Gesetz des Dekalogs. „Denn was da gesagt ist: ,Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; dich soll nicht gelüsten', und so ein anderes Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort zusammengefaßt: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst'. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung". Obwohl der Dekalog nicht ausdrücklich von Obrigkeit im Sinne des Paulus spricht, liefert er eine Legitimation politischer Macht im Vierten Gebot, „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt"". Der entscheidende Schritt zu einer konsistenten Gehorsamstheorie wurde und war in dem Moment getan, als der Gehorsam gegenüber den Eltern mit dem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit und eine sentimentalische Unterordnung der Kinder unter die Eltern mit der Unterordnung der Untertanen unter das Gesetz eines konkreten Fürsten oder abstrakten Staates verknüpft wurden.
9 10 11
Apostelgeschichte 9 , 3 - 6 . Die nachfolgenden Belege alle aus Römer 13, 1-10. 2 Mose 12. Im Brief des Paulus an die Epheser (Epheser 6,1) wird diese alttestamentliche Stelle paraphrasiert mit den Worten: „Ihr Kinder, seid gehorsam euren Eltern in dem Herrn; denn das ist billig".
228
9
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT
Die jüdisch-christliche Tradition und einer ihrer herausragenden Systematiker und Theoretiker, Paulus, wären einseitig skizziert, würde nicht hinzugefügt, daß das Reden über den Gehorsam vor einem eschatologischen Verständnis formuliert wurde. Das frühe Christentum rechnete mit dem baldigen Ende der Welt und hatte im Blick auf die Heilstat Christi keinen eigentlichen Zugang zum Problem der politischen Macht. Unter einem religiösen Gesichtspunkt sind alle Menschen gleich12. Theologisch konnte diese Gleichheit nur durch den dem Christentum eigenen Gedanken der Prädestination relativiert werden, der Vorstellung also, daß nach dem unergründlichen Ratschluß Gottes Menschen teils verdammt, teils erwählt sind. Diese Ungleichheit begünstigte es, die offensichtliche irdische Ungleichheit theoretisch in Weltdeutungskonzepte einzuarbeiten und die Kagetorie „Überordnung und Unterordnung" anzuerkennen. Unterordnung erfolgt einmal gegenüber dem Bestehenden, weil fur Christen „ihr Staat und ihre Gesellschaft ja überhaupt nicht auf Erden sondern im Himmel ist" 13 . Die Ungleichheit steht aber immer unter dem generellen Vorbehalt der Nächstenliebe, woraus folgt, daß der Mächtige den Schwachen zu schützen hat. Dem Christentum sind somit Harmonievorstellungen eigen, die naturgemäß eine konservative Haltung gegenüber allen Sozialgebilden fördern. Systematische Weltveränderung oder Weltverbesserung war den frühen Christengemeinden ein ganz fremder Gedanke. Das hängt wesentlich mit der Grundüberzeugung zusammen, alle sozialen Bildungen seien Folgen des Sündenfalls, nichts anderes als Notdordnungen nach der Vertreibung aus dem Paradies, und insofern der Zustand der mit der Erbsünde behafteten Menschheit nicht heilbar ist, bleibt Perfektibilität des Sozialen und Politischen dem Christentum theoretisch unzugänglich. „Der Staat" gilt „mit den Ordnungen von Ehe, Arbeit, Eigentum, Sklaverei, Recht und Krieg als das einheitliche und wesentlich unveränderliche Prinzip der ,Welt"' 14 . Eine eingehendere intellektuelle Durchdringung dieser axiomatischen Ethik der jüdischchristlichen Religion mußte in dem Augenblick erfolgen, als das Christentum Staatsreligion wurde. 9.1.2
Ethik und Politik in der Dogmatik
der römischen
Kirche
Die Kirchenväter sahen „eine ursächliche Verbindung zwischen menschlichem peccatum und dem Auftreten der herrscherlichen potestas', das soll heißen, Erbsündhaftigkeit erzwingt politische Macht, eine bis ins 13. Jahrhundert geläufige Auffassung". Diese Grundannahme ließ sich nach zwei Seiten hin entfalten. Die Stiftung von Herrschaft konnte, erstens, als ein Akt der göttlichen Fürsorge fur die Menschen gedeutet werden, durch die mittels der Leidinien der Gebote Gottes die Welt von ihrer Selbstzerfleischung abgehalten wird. Obrigkeit verwirklichte damit einen Heilsplan, den Menschen schrittweise und in annähernder Absicht zu Gott zurückzufuhren, was frei-
12 13 14 15
E. TROELTSCH, Soziallehren, 67. Ebd., 68,70. Ebd., 153. W . STÜRNER, P e c c a t u m , 2 6 4 .
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
229
lieh die Ausrichtung obrigkeitlichen Handelns am Parameter der Gebote Gottes verlangte. Die Einführung von Herrschaft konnte, zweitens, interpretiert werden als Folge und Strafe der Sünde zugleich, die Gott den von ihm abgefallenen Menschen auferlegte. Gestraft wird der Mensch fur den Verrat an seinem Schöpfer, Folge der Sünde ist eine zwanghaft egoistische, allein auf die Durchsetzung der eigenen Interessen ausgerichtete Lebensführung 16 . Politische Macht wird hier realistisch als gewaltsam definiert, als den Menschen quälend. Die civitas terrena bleibt eine verworfene Welt, denn alle denkbar guten Ansätze werden durch das Böse überschattet. Diese Position ist von AUGUSTINUS analytisch scharf herausgearbeitet und begründet worden, und sie verdient schon deswegen eine eingehendere Behandlung, weil sie weit in die Neuzeit hinein gewirkt und das Verhältnis der Christen zum Staat nachhaltig geprägt hat. AUGUSTINUS hat die von Paulus im Christentum begründete Gehorsams-Theologie durch eine weitere Auslegung und Begründung der Erbsündenlehre theoretisch befestigt 17 und damit Freiheitsvorstellungen der Antike, die auch das politiktheoretische Spekulieren ungemein befruchtet hatten, zerstört 18 . „Fac opus et aeeipe praemium", sagt Augustinus. „Quod est opus? Obedientia. Q u o d est praemium? Resurrectio sine morte". Gehorsam also ist die Voraussetzung für das ewige Leben. Augustinus entwickelt in seinem Gottesstaat eine eigene Theorie des Ungehorsams, die als christliche Anthropologie von nachhaltiger Wirkung auf das abendländische Denken gewesen ist und politische Macht aus der Erbsündhaftigkeit theologisch besonders dauerhaft untermauert hat. Der erste und folgenschwerste Ungehorsam des Menschen lag darin, daß Adam verführt von Eva und Eva verführt von der Schlange gegen das ausdrückliche Verbot Gottes im Paradies vom Baum der Erkenntnis aßen. „So wie der große Gehorsam eines Abraham mit Recht gerühmt wird, weil ihm doch eine so schwere Tat, den eigenen Sohn umzubringen, befohlen war (Gen 22,2): ebenso war im Paradies der Ungehorsam um so größer, als das Befohlene nicht die geringste Schwierigkeit bedeutete" 19 . Den Gehorsam zu verweigern, den Gott vom Menschen in einem einzigen Gebot forderte, um den Unterschied zwischen Kreatur und Herr zu markieren, büßt der Mensch damit, daß er seinem eigenen Willen nicht gehorchen kann. Mit der Verweigerung des Gehorsams Gott gegenüber hat sich der Mensch einen von Generation zu Generation weitervererbten Defekt eingehandelt, der sich im Ungehorsam gegen sich selbst ausdrückt. Geist und Körper gehorchen nicht mehr dem eigenen Willen,
16 17 18 19
Ebd., 265. Für einen ersten Überblick vgl. K. NUSSER, Gehorsam, l48f. K. FLASCH, Augustinus, 201. A. AUGUSTINUS, Gottesstaat, XIV, 15,956-959. Das Argument wird in folgenden Zusammenhang gestellt: „[...] Et sicut oboedientia secundi hominis eo praedicabilior, quo factus est oboediens usque ad mortem: ita inoboedientia primi hominis eo detestabilior, quo factus est inoboediens usque ad mortem. Ubi enim magna est inoboedientiae poena proposita et res a Creatore facilis imperata, quisnam satis explicet, quantum malum sit non oboedire in re facili et tantae potestatis imperio et tanto terrente supplicio?"
230
9
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT
der Ungehorsam ist gewissermaßen im Menschen eingeschreint. Der Ungehorsam dem eigenen Willen gegenüber, die nicht kontrollierbare und beherrschbare Begierde ist von einer enorm destruktiven Kraft. Zorn ist die Begierde, sich zu rächen, Habsucht die Begierde, Geld zu raffen, Starrsinn die Begierde, recht zu behalten, und Prahlerei die Begierde nach Ruhm. „Es gibt noch viele andere Begierden, die ihre eigenen Namen haben, manche haben auch keinen. Wer würde zum Beispiel leicht einen Namen nennen ftir die Herrschbegierde, die doch so viel in den Gemütern der Tyrannen vermag, wovon nicht zuletzt die Bürgerkriege zeugen"20? Augustinus erläutert den menschlichen Defekt mit besonders liebevoller Ausmalung der Details an der Sexualität. Diese Begierde „nimmt nicht nur äußerlich den Leib in seiner Gesamtheit fur sich in Anspruch, sondern auch innerlich, sie regt den ganzen Menschen auf, indem sie mit dem Begehren des Fleisches zugleich eine Gemütserregung verbindet und vermischt, so daß sich eine Lust einstellt, wie es keine größere unter körperlichen Lüsten gibt, eine Lust, die so heftig ist, daß in dem Augenblick ihres Höhepunktes nahezu alle Schärfe und Wachsamkeit der Überlegung gleichsam verschüttet ist" 21 . Nicht nur, daß die Sexualität sich nicht unter die Kontrolle des Willens bringen läßt, sie versagt sich umgekehrt auch dem Willen, „und mag im Geist auch die Begierde brennen, bleibt sie im Leib kalt und versagt so wunderlicherweise"22. Die Erkenntnis, die der Mensch gewonnen hat, indem er verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis aß, ist eine solche der Unterscheidungsfähigkeit. Er erkennt den Unterschied zwischen Gut und Böse und nimmt schmerzhaft wahr, daß er dem Bösen verfallen ist. Dafür schämt er sich und verkriecht sich mit seiner Scham in private Räume, meidet die öffendichkeit. Sexualität, ob im legalen Gehäuse der Ehe praktiziert oder als Hurerei, versteckt sich. „Diesen Widerstand und Kampf, diesen Streit zwischen Willen und Begierde, ein Streit, bei dem offenbar der Wille auf Kosten der Begierde zu seinem Recht kommen möchte, hätte der Ehebund im Paradies nicht auszustehen gehabt [...]. Vielmehr hätten auch die Schamglieder dem Willen gedient wie alle anderen"23. Den paradiesischen Zustand zurückzugewinnen, ist das Ziel des Menschen, das er freilich ohne den Tod nie erreichen wird. Das Paradies als geliebtes und gelebtes Leben muß ewig sein, und Ewigkeit ist nach dem Verlust des Paradieses in der Welt nicht mehr zu gewinnen. Die paradiesische Sexualität, die Augustinus nachfolgend beschreibt, dient dazu, den Kontrast zwischen Welt und Paradies, Diesseits und Jenseits, civitas terrena und civitas Dei kantig zu machen, obschon dieser Vergleich, wie Augustinus einräumt, blaß bleiben muß, weil es keinen Menschen gibt, der die paradiesische Sexualität erfahren hat. Gehorsam erweist sich als SchlüsselbegrifF im Werk Augustine. Das gilt auch für die Abgrenzung von irdischem Staat (civitas terrena) und himmlischem Staat (civitas Dei). „Jenen beherrscht in seinen Fürsten und in den Völkern, die er unterjocht, die Herrschbegierde, in
20 21 22 23
Ebd., XIV, 15, 960f. Ebd., XIV, 16, 960f. Ebd., XIV, 16, 962f. Ebd., XIV, 23, 976f.
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
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diesem dienen sich in gegenseitiger Liebe die Vorgesetzten durch sorgsamen Rat, die Untergebenen durch Gehorsam" 24 . Im Gehorsam verbindet sich der Mensch mit Gott. Gehorsam ist aber auch eine Tugend in der Welt. Gehorsam wird so zur Brücke zwischen den beiden civitates. Zwar entfaltet sich der Reichtum an Glück und Seligkeit erst in der civitas Dei, aber ein schwaches Abbild der civitas Dei kann die civitas terrena sein, wenn sie einen, wenigstens äußerlichen Frieden zwischen den Menschen stiftet, und zwar durch den Gehorsam. Ihn zu befördern sind vor allem jene aufgerufen, die als Auserwählte in der Welt 25 ein wenigstens Geringes zur Heilung der durch die Erbsünde beschädigten Menschheit beitragen können. Die Tugend des Gehorsams kennt Grade: der Gehorsam gegen die Eltern wird übertroffen vom Gehorsam gegen den Staat und dieser vom Gehorsam gegen Gott. Die prinzipielle Gehorsamspflicht gilt unabhängig von denen, die sie einwerben, weil Gott das Amt Guten und Bösen verleiht. Daraus folgt, daß die jeweils gegebenen Herrschaftsverhältnisse oder Staatsformen gottgewollt sind und sich aus der göttlichen Stiftung von Obrigkeit selbst legitimieren. „Was verschlägt es, unter welcher Herrschaft der Mensch lebt, der doch sterben muß, wenn ihn nur die Machthaber nicht zu Gottlosigkeit und Unrecht nötigen" 26 . Eine wesentliche Mäßigung des christlichen Gehorsamskonzepts verdankt das Abendland THOMAS VON AQUIN durch den Einbezug der antiken Tradition der Begründung von
politischer Macht. Thomas stimmt mit Augustin in der Bewertung des Gehorsams im wesentlichen überein 27 , er teilt damit aber noch nicht seine Anthropologie. Zwar ist die heile Natur des Menschen durch die Erbsünde auf das Schwerste verletzt, aber die ontologische, das Signum Dei tragende Grundstruktur des Menschen wurde damit nicht ausgelöscht. Es gibt eine natürliche Neigung des Menschen zur Tugend, die durch die Erbsünde vermindert, aber nicht gänzlich zerstört wurde.
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Ebd., XIV, 28, 989f. Im weiteren Kontext: „Fecerunt itaque civitates duas amores duo, terrenam scilicet amor sui usque ad contemptum Dei, caelestem vero amor Dei usque ad contemptum sui. Denique ilia in se ipsa, haec in Domino gloriatur. Illa enim quaerit ab hominibus gloriam; huic autem Deus conscientiae testis maxima est gloria. Illa in gloria sua exaltat caput suum; haec dicit Deo suo: Gloria mea et exaltans caput meum. Illi in principibus eius vel in eis quas subiugat nationibus dominandi libido dominatur; in hac serviunt invicem in caritate et praepositi consulendo et subditi obtemperando. [...] Ideoque in illa sapientes eius secundum hominem viventes aut corporis aut animi sui bona aut utriusque sectati sunt, aut qui potuerunt cognoscere Deum, non ut Deum honoraverunt aut gratias egerunt, sed evanuerunt in cogitationibus suis, et obscuratum est insipiens cor eorum; dicentes se essse sapientes (id est dominante sibi superbia in sua sapientia sese extollentes) stulti facti sunt [...]; in hac autem nulla est hominis sapientia nisi pietas, qua recte colitur verus Deus, id expectans praemium in societate sanctorum non solum hominum, verum etiam angelorum, ut sit Deus omnia in omnibus".
25
Mit der Figur der Auserwählten nimmt der Gott Augustins „Züge persönlicher Willkür an. Er wird einem spätantiken Imperator immer ähnlicher". K. FLASCH, Augustinus, 203. Zitiert nach HANS MAIER, Augustin, in: Ders. - Heinz Rausch - Horst Denzer (Hgg.), Klassiker des politischen Denkens, 1. Bd., München 6 1986, 106. K. NUSSER, Gehorsam, 150.
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Thomas geht von einem gemeinschaftlichen Leben auch im Paradies aus. Das erforderte eine Organisation der Einzelinteressen auf das bonum communeh'm2^. Wohl gibt es im Paradies keine Schuld und keine Verfehlung, aber doch Unterschiede unter den Menschen. Das macht sie fähig, ihr Handeln und Leben ganz auf Gott hin zu ordnen, aber eben doch so, daß es ein geordnetes Leben ist. Das Leben im Paradies ist strukturiert. Unter diesen Annahmen ließ sich eine Ethik und Politik entwickeln, die den naheliegenden Rückgriff auf Aristoteles wieder möglich machte. Zur menschlichen Natur (inclinano) gehört der Trieb zur Gesellschaft. Der Mensch ist ein animal naturaliterpoliticum et sociale. Die Konkretisierung dieser menschlichen Prädisposition mit dem Ziel, das bonum commune zu befördern, ist der Staat. Der Mensch hat sich ihm als Form der Vergesellschaftung, die er sich selbst gibt, ein- und unterzuordnen. Ihm gegenüber besteht ein Verhältnis des Gehorsams, wie auch gegenüber Gott der Mensch in einem Verhältnis des Gehorsams steht. Der Staat wird in der Vorstellung des Thomas unter der Perspektive der menschlichen Erlösung im Jenseits in seiner Würde im Vergleich zu Aristotels gemindert, aber als wichtige Stufe zur übernatürlichen Seligkeit im Vergleich zu Augustin wesentlich aufgewertet. Letztes Ziel ist das bonum universale. Der Staat soll durch seine Ordnung fur die beatitude activae vitae sorgen, die ihrerseits Voraussetzung ist fur die beatitudo contemplativa als Abglanz und Anfang der Seligkeit. Doch wie bei Augustinus ist auch bei Thomas der Gehorsam ein Heilmittel gegen die Sündhaftigkeit.
9.1.3
Luther und die Hinterlassenschafi des Protestantismus
Martin Luther verband eine starke Affinität mit Paulus und Augustinus, nicht jedoch mit Thomas von Aquin. Das hatte zur Folge, daß die antiken politiktheoretischen Traditionen, die Europa durch die Aristoteles-Rezeption aufgenommen und integriert hatte, im Raum des Protestantismus, insonderheit im Geltungsbereich des Luthertums und das heißt in großen Teilen Deutschlands und Skandinaviens, wieder geschwächt und zurückgedrängt wurden. Luther betont aufs Neue die Korruptheit der Welt, lagert das Heil transzendental in eine civitas Dei aus und unterstreicht am weltlichen Regiment die Notordnung gegen die erbsündhaftige Menschheit. Luthers Argumente sollen an zwei zu dieser Frage zentralen Texten vorgetragen werden, die einerseits die politische Macht legitimieren - es handelt sich um seinen 1523 veröffentlichten Traktat „Von weiblicher Uberkeytt, wie weyt man yhr gehorsam schuldig sey"29 und andererseits eine Gehorsamstheorie entwickeln, was im Rahmen der Auslegung des Vierten Gebotes in Luthers Großem Katechismus von 1529 erfolgt30. Luther eröffnet seinen Traktat Von weltlicher Oberkeit mit einem Rückverweis auf den Römerbrief des Paulus, der Obrigkeit als gottgewollt und damit politische Macht aus der
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W. STÜRNER, Peccatum, 190. M. LUTHER, WA 11, 245-281. - Vgl. als jüngere Analyse H. FOLKERS, Rechtsdenken Luthers, 252-266. M. LUTHER, WA 30/1,123-238.
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
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göttlichen Schöpfungsordnung heraus legitimiert. Den häufig gegen das Gesetz geltend gemachten Einwand, Christus habe das mosaische Gesetz aufgehoben, greift Luther auf, um daran seine Zwei-Reiche-Lehre zu entwickeln und erweist sich dabei als gleichermaßen gelehriger und kreativer Schüler Augustins. Im Reich Gottes, zu dem die Auserwählten gehören 31 , bedarf es keiner weltlichen Gewalt und keines Gesetzes32. Wozu gibt es dann überhaupt Gesetze? Um die Ungläubigen, die Bösen zu strafen, aber auch, um über das Gesetz die Menschen den Unterschied zwischen Gut und Böse zu lehren, sie also zur Demut zu erziehen und so möglicherweise näher an Gott heranzuführen. Daraus ergibt sich schließlich Luthers Definition des weltlichen Reichs. „Zum reych der wellt oder unter das gesetz gehören alle, die nicht Christen sind" 33 . Dieses weltliche Reich ist um so notwendiger, als unter tausend Menschen kaum ein wahrer Christ zu finden ist, folglich würden sich die Menschen ohne Obrigkeit geradezu fressen und die Welt würde wüst fallen 34 . Wenn die Christen als Christen keines weldichen Regiments bedürfen, weshalb verlangt dann Paulus auch von ihnen den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit? Weil ein Christ seinem Nächsten dient. „Gleych wie er auch alle ander werck der liebe thut, der er nichts bedarff (denn er besucht die krancken nit darumb, das er selb davon gesund werde, Er speyset niemant, das er selb der speyße durffe): also dienet er auch der uberkeyt, nicht das er yhr bedurflfe, sondern die andern, das sie beschützt und die bSsen nicht erger werden" 35 . Christliche Nächstenliebe verlangt, daß man sich einerseits im Vollzug einer götdichen Stiftung der Herrschaft unterwirft, andererseits aber auch ihr dient und folglich politische Amter übernimmt. „Darumb solltu das schwerd oder die gewalt schetzen gleych wie den ehlichen stand oder ackerwerck oder sonst eyn handwerck, die auch Gott eyngesetzt hatt". Obrigkeiten „sind Gottis diener und handwercks leutt, die das b8ße straffen und das gutte schützen" 36 . Gehorsam als chrisdiche Tugend erweist sich nicht nur im untertänigen Verhalten gegenüber der Obrigkeit, sie zeigt sich besonders auch im Verhalten gegenüber den Eltern. Beide Formen von Gehorsam sind insofern aufs engste miteinander verknüpft, als Luther
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Definition der Auserwählten ebd. 11, 249 Z. 25-35. „Die weyl sie den heyligen geyst ym hertzen haben, der sie leret unnd macht, das sie niemant unrecht thun, yderman lieben, von yderman gerne und frolich unrecht leyden, auch den todt". Ebd. 11,250 Z. 2-4. „Denn syntemal wenig glewben und das weniger teyl sich hellt nach Chrisdicher art, das es nicht widderstrebe dem ubel, Ya das es nicht selb ubel thue, hat Gott den selben ausser dem Christlichen stand unnd Gottis reych eyn ander regiment verschafft unnd sie unter das schwerd geworffen, das, ob sie gleych gerne wollten, doch nicht thun künden yhr boßheyt, und ob sie es thun, das sie es doch nit on furcht noch mit fride unnd gluck thun mugen". Ebd. 11,251 Z. 1-8. Ebd. 11,251 Z. 13-15. Ebd. 11, 253 Z. 33-254 Z. 6. „Denn es gehet yhm nichts dran abe", fahrt Luther fort, „und schadet yhm solcher dienst nichts und bringt doch der weit großen nutz. Und wo ers nicht thett, so thett nicht als ein eyn Christ, datzu widder die liebe, gebe auch den andern eyn bSße exempel, die auch des gleychen wolten keyne uberkeyt leyden, ob sie wol unchristen weren". Ebd. 11, 258 Z. 3-9.
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die politische Macht aus der elterlichen Gewalt hervorgehen läßt. Eine Theorie des Gehorsams hat Luther über die Auslegung des Vierten Gebotes im Großen Katechismtip7 entwickelt, an äußerst prominenter Stelle also, denn an theologischer Dignität und erzieherischem Gewicht steht der Katechismus direkt hinter der Lutherschen Übersetzung der Heiligen Schrift. Vor Gott sind alle Menschen gleich, beginnt Luther seine Exegese des Vierten Gebots, unter den Menschen aber herrscht Ungleichheit. Deswegen darf ein Vater zu seinem Kind zurecht sagen, „das du mir als deinem vater gehorsam seyest und ich die oberhand habe" 38 . Wenn das „iunge volck" Gott mit guten Werken dienen will, soll es den Eltern „unterthan" sein. Es gibt nichts, „das grosser und edler sey denn vater und mutter gehorsam [zu sein], so Gott nehisten seiner Maiestet gehorsam gesetzt und befolhen hat" 39 . Luther stellt also den Gehorsam gegenüber den Eltern unmittelbar hinter den Gehorsam gegenüber Gott. Er bekräftigt das nochmals mit dem Satz „gott hat diesen stand", gemeint sind die Eltern, „oben angesetzt, ia an seine stad auff erden gestellet"40. Wie der Mensch immer wieder Gott verleugnet, so auch die Eltern. Deswegen erläßt Gott die Gebote, „das ein iglicher dencke, was yhm die eitern gethan haben, so findet er, das er leib und leben von yhn habe, dazu auch erneret und auffgezogen sey, da er sonst hundertmal ynn seinem unflat erstickt were" 41 . Der Gehorsam gegenüber den Eltern ist auch mit einer Verheißung verbunden, „auff das du langes leben habst ym lande, da du wonest" 42 . Wer den Eltern gegenüber gehorsam ist, „sol gute tage, gluck und wolfart haben [...], wer ungehorsam ist, deste ehe umbkomen und des lebens nicht fro werden" 43 . Für Luther ist die Kategorie des Gehorsams ganz positiv besetzt. Sofern man die Eltern ehrt, kommt man zu sich selbst, ist glücklich und wird von Gott mit einem ausgefüllten zufriedenen Leben belohnt, ja „alles [zu] haben, so zu langem leben gehöret, als nemlich gesundheit, weib und kind, narung, friede, gut regiment etc., on welche dis leben nicht frolich genossen werden noch die lenge bestehen kan" 44 . Wird Gehorsam nicht schon in der Kindheit eingeübt, bleibt das Verhalten fehlerhaft, wird Ungehorsam habituell und fuhrt im späteren Leben an den Galgen, wo nicht gleich in die Hölle. „Wo komen soviel schelcke her, die man teglich hengen, kopffen und radbrechen mus, denn aus dem ungehorsam, weil sie sich nicht mit gut ziehen lassen"45. Auch in der vorliegenden Auslegung des Vierten Gebots im Großen Katechismus hält Luther daran fest, daß die Obrigkeit nichts anderes ist als der nachgeordnete Vater beziehungsweise die nachgeordneten Eltern. So muß auch, will man das Vierte Gebot auslegen, gesprochen werden „von allerley gehorsam gegen oberpersonen, die zugepieten und zuregi-
37 38 39 40 41 42 43 44 45
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
30/1,123-238. 30/1,148 Z. 5f. 30/1,149 Z. 12ff. 30/1,150 Z.26f. 30/1,151 Z. 4-7. 30/1,151 Z. 15. 30/1,151 Z.24ff. 30/1, 151 Z. 27-30. 30/1,151 Z. 35ff.
9.1
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ren haben. Denn aus der eitern oberkeit fleusset und breitet sich aus alle andere"46. Wer Herrschaft ausübt, tut es anstelle der Eltern, nur von ihnen hat er die Macht zu regieren. Dabei handelt es sich gewissermaßen um eine naturrechtliche Ordnung. Das ergibt sich daraus, daß die Römer und andere Völker „herrn und frawen ym haus Patres et matres familias, das ist haus veter und haus mutter, gennent haben"47. Der Pflicht zum Gehorsam der Kinder, der Knechte und Mägde und der Untertanen korrespondiert die Pflicht der Eltern, von Hausherr und Hausfrau und Obrigkeit, ihrem Amt entsprechend zu wirken. Gott habe ihnen „nicht darumb die Ehre, das ist macht und recht zu regieren, [gegeben,] das sie sich anbeten lassen, sondern dencken, das sie unter Gottes gehorsam sind"48. So haben sie die ihnen Untergebenen zu versorgen, sie aber auch zur Ehre Gottes zu erziehen. Luther schließt seinen Großen Katechismus, soweit er die Zehn Gebote erörtert und auslegt, mit der Forderung, daß deren Einhaltung die einzig Guten Werke seien, die Menschen tun könnten49. Die Zehn Gebote „sind auch sonst ynn aller menschen herzten geschrieben"50, und somit genießen sie die Dignität und Qualität naturrechtlicher Sätze. Wendet man sich der Wirkungsgeschichte Luthers zu, soweit sie prägend für die folgenden Jahrhunderte im protestantischen Raum geworden ist, so kann man mit E R N S T TROELTSCH zwei Momente als besonders wichtig herausheben, die Verabsolutierung des Dekalogs und die Sakralisierung des Gehorsams. Im Protestantismus erhält der Dekalog „als Ausdruck und Inbegriff der vollen Lex naturae und der mit dieser identischen evangelischen Ethik" absolute Bedeutung51. Das läßt sich aus der Praxis oder zumindest der Symbolik der Gerichte im protestantischen Europa hinreichend belegen. In Schweden waren auf ausdrücklichen Befehl König Kristofers die Gerichte seit dem 17. Jahrhundert verpflichtet, bei der Urteilssprechung das Alte Testament als Rechtsquelle zu benutzen52. In der Schweiz urteilten nicht nur die Chorgerichte genannten geistlichen Gerichte nach den zehn Geboten, sondern auch die weltlichen Gerichte, wie die Landbücher, die Kodifizierungen regionalen Landrechts, belegen53. Der Protestantismus blieb angesichts seines zutiefst pessimistischen Menschenbildes gegenüber den Hervorbringungen der menschlichen Vernunft ausgesprochen skeptisch, folglich auch gegenüber einer voluntaristischen Ausgestaltung des Rechts auf dem Weg menschlicher Satzung. Die Suche nach einem positivierbaren Recht führte naheliegenderweise in „die religiöse Volksethik Alt-Israels [...], und die spätere Ethik Luthers zog überhaupt in immer weiterem Umfang das alte Testament und die jüdische Moralweisheit heran"54, weil 46 47 48 49 50 51
Ebd. 30/1,152 Z. 19ff. Ebd. 30/1,152 Z.30ff. Ebd. 30/1,156 Z. lOf. Ebd. 30/1,178 Z. 22-25. Ebd. 30/1, 192 Z. 19f. E. TROELTSCH, Soziallehren, 494.
52
K. A . MODÉER, U n i f o r m i t ä t , 2 2 1 f . - J . SUNDIN, Bandits, 1 4 1 .
53
HEINRICH R. SCHMIDT, Über das Verhältnis von ländlicher Gemeinde und christlicher Ethik: Graubünden und die Innerschweiz, in: P. Blickle, Landgemeinde, 484. E. TROELTSCH, Soziallehren, 497.
54
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9
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sich die Bergpredigt des Neuen Testaments rechtlich schwer operationalisieren ließ. Freilich wird der Dekalog verchristlicht; sein Charakter als lex naturae wird umgeformt als Positivierung der Nächstenliebe. Luthers Interpretation des vierten Gebots war dafür nur ein, allerdings besonders anschauliches Beispiel. Damit ließ sich der prinzipielle Gegensatz von Altem und Neuem Testament aufheben. „Die erste Tafel mit ihren das Verhältnis zu Gott betreffenden Geboten enthält die grundlegende Forderung von Ehrfurcht, Liebe und Vertrauen, die nur auf Grund der gläubigen Gnadengewißheit erfüllbar sind. [...] Aus dieser Forderung oder ihrer Erfüllung ergibt sich dann aber auch die zweite Hälfte, die Forderung des Verhaltens gegen den Nächsten im Sinne einer die natürlichen gottgesetzten Lebensordnungen zum Anlaß und zur Voraussetzung nehmenden Liebesübung. Hier ist die ganze Berufs- und Ständelehre, die ganze Fügung in die gegebenen Verhältnisse in Staat und Gesellschaft enthalten, die ganze Liebesbetätigung nicht oberhalb, sondern innerhalb der natürlichen Lebensformen" 55 . Lese man Luthers Von weltlicher Obrigkeit richtig, meinte jüngst HORST FOLKERS, dürften „die Verdienste Luthers um eine fürsorgliche, Recht aufrichtende, den Rechtsstaat hervorbringende Obrigkeit [...] hoch veranschlagt werden", die wegweisend auch „unter den Begingungen einer demokratisch legitimierten Obrigkeit" seien, und zwar deswegen, weil sie den Bürger daran erinnerten, seiner Verantwortung fur Recht und Staat nur gerecht werden zu können, indem er seine eigenen Rechte wahrnehme 56 . Troeltsch hingegen betont das Bewahrende, Konservierende, gesellschaftlich Statische und politisch Ideenlose des Luthertums. Vielmehr schuf es nach seinem Urteil für den „in der Entwickelung begriffenen zentralisierten Territorialstaat in seiner Beseitigung jeder kirchlichen Selbständigkeit, in seiner Vergöttlichung der Obrigkeit und in seiner loyalen Leidsamkeit die allergünstigsten Bedingungen. Es hat dem territorialen Absolutismus den Weg geebnet f...]" 57 .
9.1.4
Untertäniger Gehorsam dem Monarchen
Europa kategorisiert seit alters die Formen der politischen Machtausübung in Anlehnung an die Staatsformenlehre der griechischen Antike. Entsprechend heißen sie Monarchie, Aristokratie und Politie (beziehungsweise Demokratie). Es mag an der intellektuellen Brillanz von Aristoteles liegen, daß Europa darüber hinaus wenig Originelles entwickelt hat. Zusammen mit den Denaturierungen der klassischen legitimen Staatsformen - der Tyrannis, der Oligarchie und der Anarchie - sind die Theoretiker von Staat und Politik bis ans Ende des Alten Europa, also bis zur Französischen Revolution mit diesen Bezeichnungen ausgekommen.
55 56 57
Ebd., 498. H . FOLKERS, Rechtsdenken Luthers, 269. E. TROELTSCH, Soziallehren, 599f. „Praktisch", so fahrt Troeltsch fort, „hat auch Kant mit seinem Respekt vor der Obrigkeit in diesen lutherischen Kategorien gedacht. Sie sind jettt nur bureaukratisch und höfisch verweltlicht. Bei ihrer Wiederbelebung durch die preußisch-deutsche Restauration im 19. Jahrhundert haben sie dann als Kampfinstrument in der H a n d einer Herrenschicht jene Beimischung männlicher Härte und klassenkämpferischer Rücksichtslosigkeit erhalten, die das moderne Luthertum von dem alten unterscheidet". Ebd., 555.
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
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Das Alte Europa begünstigt in allen theoretischen Reflexionen über den besten Staat ohne Zweifel die Monarchie. Dafür sind viele, oft recht gekünstelte Argumente ins Feld geführt worden, die allerdings die Erfolgsgeschichte des Königtums kaum plausibel begründen können. Viel einsichtiger ist es, das Ansehen der Monarchie, bevorzugt der Erbmonarchie, aus dem Umstand zu erklären, daß die Einpersonenherrschaft am dem Hausein durch alle gesellschaftliche Gruppen hinweg verbindliches Muster politischer Machtorganisation war. Es gibt ein deutsches Sprichwort, im 16. Jahrhundert aufgezeichnet von JOHANNES AGRICOLA, das heißt „Du hast vil zu regirn in anderer leutte heuser"58. Der beim ersten Lesen schwer verständliche Satz entschlüsselt zunächst einen interessanten Zusammenhang, nämlich den, daß in Häusern regiert wird. Agricola hat alle von ihm gesammelten Sprichwörter kommentiert, und so auch dieses. „Eyn hauß und hoff zu erhalten", so erläutert er, „und wol regieren/ ist nicht eyn kleine weißheit auflf erden". Wer regiert? Der Hausvater. Und wer wird regiert? Frau, Kinder und Gesinde. „Es gehöret ab er eynem yeden haußvatter zu daß er wisse/ wie er weib und kinder/ megde und knechte regieren soll". Im Haus übt der Hausherr die Regierung, und diese Form der Regierung ist modellhaft fiir größere politische Verbände. Hausherrschaft und Königsherrschaft wurden als korrespondierend verstanden und waren es in der Figur der Einpersonenherrschaft in der politischen Praxis auch weitgehend. Dieser Sachverhalt läßt sich glänzend nochmals bestätigen über die Abspiegelung der theoretischen Analysen, mit der die Zeitgenossen ihrer Realität auf den Leib rückten. Gehorsam - das war die Lektion, die aus der jüdisch-christlichen Legitimierung von Macht zu lernen war - schuldet man zuallererst den Eltern. Die griechische und lateinische Antike vertritt die nämliche Position, lenkt den Gehorsam aber noch eindeutiger auf den Hausherrn. Daß „alle Abhängigkeitsverhältnisse im Haus [...] auf den Hausherrn bezogen [sind], der als leitender Kopf aus ihnen überhaupt erst ein Ganzes schafft"' 9 , war schon die Überzeugung von Aristoteles. In Oikodespotes und paterfamilias bringen die griechische und lateinische Sprache diesen Sachverhalt begrifflich zur Darstellung. Daraus wird schließlich im Deutschen der Hausvater. Freilich konnte der über das Christentum vermittelte und auf die Eltern und vornehmlich den Vater gelenkte Gehorsam als ideologisches Ferment und theoretische Stabilisierung des Hauses dienen. Nichts tun die Theoretiker der Hausherrschaft und der Monarchie lieber, als auf deren göttliche Stiftung zu verweisen. Es ist auch nicht zufallig, daß der Zusammenbruch der Königsherrschaft und der Hausherrschaft im 18. Jahrhundert mit einer fundamentalen Entsakralisierung und Dechristianisierung im Zuge der Aufklärung zusammenfällt. Eine theoretische Begründung der Hausherrschaft als Urbild aller Herrschaft hat Augustinus in seiner Civitas Dei gegeben. Augustinus sieht im Befehlen und Gehorchen im Rahmen des Hauses den Grundriß einer gleichermaßen natürlichen und gottgewollten Ordnung. Theologisch zwingend hergeleitet ist das nicht, wie auch die Begründung der zu seiner Zeit noch üblichen Sklaverei aus dem Sündenfall nicht überzeugt, weil es demzufolge auch keine Freien geben dürfte. Befehl 58
J. AGRICOLA, Sprichwörtersammlungen 1, 200f. Nr. 258.
59
O . BRUNNER, H a u s , 1 1 2 .
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9
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und Gehorsam werden eher voraussetzungslos dem Hausherrn einerseits, der Frau, den Kindern und den Sklaven und Knechten andererseits zugewiesen. „Wenn sich einer im Hause durch Ungehorsam dem häuslichen Frieden widersetzt, wird er eben mit Worten, Züchtigungen oder irgendeiner andern gerechten und erlaubten Strafe zurechtgewiesen, soweit es die menschliche Gesellschaft zuläßt, und das zu seinem Nutzen, damit er sich dem Frieden, von dem er abgewichen war, wieder einfüge" 60 . Es gehört zur Pflicht des pater familias, „jeden von der Sünde zurückzuhalten oder die Sünde zu bestrafen, damit entweder der Bestrafte durch Erfahrung gebessert werde oder andere durch das Beispiel abgeschreckt werden" 61 . Ein scheuer Optimismus, die civitas terrena könne den Menschen bessern, schimmert durch diese Sätze, wie Augustinus seine Theorie des Gehorsams mit der Hoffnung verknüpft hatte, eine graduelle Annäherung an die civitas Dei sei schon im Diesseits durch ein Leben im Gehorsam möglich. Schließlich - und das blieb fiir das Denken im christlichen Europa angesichts des Ansehens von Augustinus eine nachhaltig prägende Aussage - werden Haus und Staat, domus und civitas relational verstanden. „Weil nun die Menschenfamilie der Anfang oder zumindest der kleinste Teil des Staates sein soll, jeder Anfang aber in Beziehung steht zum Ende und Ziel der betreffenden Sache, und jeder Teil die Unversehrtheit des Ganzen, dessen Teil er ist, im Auge hat, ergibt sich die klare Folgerung, daß die geordnete Eintracht unter Befehlenden und Gehorchenden in einem Haushalt in Beziehung steht zu der geordneten Eintracht unter befehlenden und gehorchenden Bürgern im Staate"62. Weil die Hausherrschaft dem Hausherrn vindiziert wird, mußte jede spätere Parallelisierung von Haus und Staat auf die Monarchie als Staatsform zulaufen. Zwar hatte auch schon Aristoteles Hausherrschaft und Königsherrschaft als analoge Formen von politischer Macht gedeutet, die Monarchie aber als archaisch bezeichnet und eindeutig der Politie als Staatsform der Freien und Gleichen das Wort geredet. In der chrisdichen Theologie erfolgte die Revitalisierung und weitere Ausdeutung der augustinischen Herrschaftsbegründung aus dem Haus durch MARTIN LUTHER. Das erste rechtlich geordnete diesseitige Gewaltverhältnis ist das Hausregiment des Vaters. Die Familie wird zum Ursprung der Ökonomie und Politik, der die staatlichen Ordnungen als nachgebildet gedacht werden 63 . Wenn die Obrigkeit gleichsam zum Vater wird, werden die Untertanen unter eine Gehorsamsforderung gestellt, wie sie seitens des Vaters gegenüber den Kindern besteht, das heißt, der Untertanengehorsam wird gleichsam dem vierten Gebot unterworfen. Glaubt man OTTO BRUNNER, dann verdankt eine neue Literaturgattung Luthers Legitimierung der Herrschaft aus dem Haus ihre Existenz, die sogenannte Hausväterliteratur. Für den deutschsprachigen Bereich ist diese Beobachtung richtig, weil die Hausväterliteratur erst in der zweiten Hälte des 16. Jahrhunderts, und zwar vorwiegend in lutherischen Terri-
60 61 62 63
A. AUGUSTINUS, Gottesstaat, XIX, 16,484f. Ebd., XIX, 16,484f. Ebd., XIX, 17,484f. Vgl. auch J. HECKEL, Lex charitatis, 158-162.
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
239
torien geschrieben wird 6 4 . Allerdings gibt es die Gattung gleichermaßen in anderen europäischen Ländern und zeitlich schon im Spätmittelalter. Nicht zufällig stammt ein großer Teil dieser Literatur aus dem Italien der Renaissancezeit, das auf seine Art die Antike neu entdeckt und folglich die Gattung Hausväterliteratur aus den griechischen und christlichen Oikoslehren entwickeln konnte. Wo immer man die Wurzeln der Hausväterliteratur suchen will, sicher ist, daß sie eine enorm verbreitete und erfolgreiche Literaturgattung darstellt, die, prall mit praktischen Ratschlägen und damit realitätsnah, das Haus und die Hausherrschaft ideologisch festigen half. Daß die Hausväterliteratur ein europäische Gattung ist, belegen aufs eindrücklichste die Übersetzungen, die aus Autoren und Lesern eine große Kommunikationsgemeinschaft machen. GABRIEL ALFONSO DE HERRERA hat sich mit seinen spanisch geschriebenen Büchern über die Landwirtschaft
mit einer italienischen Übersetzung
durchgesetzt. TORQUATO TASSOS 1582 veröffentlichter „Padre di famiglia" erschien 1588 in England („The householders philosophy"), später in Frankreich und schließlich 1650 als „Der Adeliche Hausvater" in der Übersetzung von Johannes Rist in Lüneburg 6 ^. CHARLES ETIENNES „Prädium rusticum" wurde in der von JEAN LIBAULT zur „Maison rustique" überarbeiteten Fassung ins Deutsche übersetzt und wie so viele Werke französischer Autoren über Verleger in Straßburg im Reich vertrieben 6 6 , aber auch Ausgabe in niederländisch, englisch und italienisch erschienen. KONRAD HERESBACHS 1570 lateinisch veröffentlichte und sechs Mal aufgelegte Schrift „Rei Rusticae Libri Q u a t u o r " erfuhr zwar keine deutsche, wohl aber eine englische Übersetzung 6 7 . Im 18. Jahrhundert waren es dann vornehmlich Engländer, die angesichts der unbestritten innovatorischen englischen Landwirtschaft übersetzt wurden 6 8 , freilich verdienen sie, weil sie einer kapitalisierten Landwirtschaft das Wort redeten, nicht, unter die Hausväter eingereiht zu werden. Von 1400 bis 1700 reicht die Erstreckungsbreite der europäischen Hausväterliteratur. Fokussierend auf Haus und Landwirtschaft reflektiert sie eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Grundordnung, die bei den Lesern ihren Beifall nicht nur deswegen gefunden haben dürfte, weil sie einer Realität entsprach, sondern weil sie sich an keine ständischen Schranken hielt. Adressaten der Hausväterliteratur waren Könige, Adelige, Bürger und Bauern. „Wie vielerley Haushaltung sey", fragt COLER 69 und gibt zur Antwort die „keyserliche oder Fürstliche Haushaltung", die ,Adeliche Haushaltung" und (neben der städtischen) die bürgerliche und bäuerliche Haushaltung oder „Privatnahrung". Gemeinsam aber sei allen Häusern die monarchische Grundform. „Die Oeconomia ist eine Monarchia", stellt Coler
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68 69
Summarisch aufgeführt bei O. BRUNNER, Landleben, 269f. Eine Würdigung der Hausväterliteratur aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht bei WILHELM ABEL, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (Deutsche Agrargeschichte 2), Stuttgart 3 1978,168-175. J. RICHARZ, Oikos, 64. Daten nach O. BRUNNER, Landleben, 267. KONBRAD HERESBACH, Vier Bücher über Landwirtschaft, 1. Bd.: Vom Landbau, hg. von Wilhelm Abel, übersetzt von Helmut Dreitzel, Meisenheim 1970, V-IX. J. RICHARZ, Oikos, 115. Ebd., 142.
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fest, „das ist/ ein solch Regiment/ darinnen nur einer Herrschet/ vnd Regieret/ nemlich/ der Wirt im Hause/ der mus allein Herr im Hause sein/ nach dem mus sich alles/ was im gantzen Hause ist/ richten [...]. Darnach ist im Hause ein Weib/ ein Hauffen Kinder/ ein Hauffen Knecht vnd Mägde/ die müssen dem Wirte folgen vnd gehorsam sein. Dann wann der Knecht mehr dann der Herr/ die Magd mehr dann die Fraw im Hause sein wil/ so wird das Hausregiment nicht lange weren" 70 . Einpersonenherrschaft kann von einem Bauern ausgeübt werden und von einem König. Deswegen kann auch TORQUATO TASSO dort, wo er die Übergabe der Führung eines Hauses an den Nachfolger beschreibt, die Niederlegung der Krone durch Kaiser Karl V. als beispielhaft darstellen 71 . Daß solche Überzeugungen der Herrschaft des Königs und des Fürsten und damit der Monarchie einen Vorsprung vor allen übrigen Staatsformen geben, liegt auf der Hand. Am Beispiel der Politica- Literatur im Reich und der Souveränitäts-Debatte in Frankreich soll das abschließend belegt werden. In den Territorien des Römischen Reiches entstand im 17. Jahrhundert eine politikwissenschaftliche Literatur, Politica genannt, und zwar auf katholischer wie protestantischer Seite, die weitgehend gleiche Überzeugungen vertritt. Das eigentliche Problem dieser Politiken ist „die Herrschaft, nicht der Staat" 72 . Es geht darum, „dem beschleunigten, zum Teil chaotischen historischen Wandel entgegenzuwirken" 73 . Insofern eignet dieser Literatur ein durchaus pragmatischer Zug, weswegen die gesamte Gattung auch als prudentia gubernatoria oder prudentia politica bezeichnet wurde. Es gehört zu den Überzeugungen der Autoren dieser Politica- Literatur, daß die Monarchie die stabilste Ordnungsform darstellt. Daher kreist ihr Denken bevorzugt um den Fürsten und die fürstliche Herrschaft. Erstaunlicherweise vertreten die meisten Autoren, vor allem die frühen, eine negative Anthropologie, was eine relative Nähe zum Luthertum vermuten läßt. Sie äußert sich gegenüber dem Fürsten in der Forderung, mehr fur die eigene Erziehung zu tun und sich in höherem Maße professioneller Beratung zu öffnen; sie äußert sich gegenüber den Untertanen in der Intensivierung des Gehorsams. Das Interesse an einer solchen Argumentation liegt ziemlich offen zutage. Die Autoren sind meist Pragmatiker der Politik, kommen aus den fürstlichen Ratsstuben, reden die Fürstenherrschaft schön und werben fiir ihren eigenen Einfluß. Was gehört zu einem effektiven fürstlichen Regiment? Empfohlen wird ein stehendes Heer, und zwar nicht nur zur Steigerung der „Securitas des Fürsten und des Staates nach außen, sondern auch der Auctoritas des Fürsten im Innern" 74 . Geworben wird fiir Gesetze, wobei das kardinale Problem nicht, wie herkömmlich und zu erwarten wäre, die Frage von Recht und Gerechtigkeit darstellt, sondern wie wirksam es als Sanktions- und Zwangsinstrument ist. Begründet werden weitreichende Steuern, wobei häufig aufwendig beschrieben
70 71 72 73 74
Zitiert ebd. Ebd., 65. W. WEBER, Prudentia, 346. Ebd. Ebd., 350.
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
241
wird, wie man die noch nicht zur Regel gewordene Steuererhebung gegenüber den Untertanen legitimieren könne. Dem folgt eine „praktische Steuerdurchsetzungslehre", die bewußt Heuchelei, List, Drohung und indirekte Gewaltanwendung als taktische Mittel empfiehlt, weil angesichts von Uneinsichtigkeit und Egoismus der Untertanen anders die herrschaftlichen Aufgaben nicht zu finanzieren sein würden 75 . Auch die Strafgewalt des Herrschers wird nicht im Hinblick „auf die Herstellung von Gerechtigkeit und Moralität" diskutiert, sondern unter dem leitenden Gesichtspunkt „finis poena securitas publica" 76 . Die Politica-Literatur bleibt imprägniert von einer christlichen Obrigkeits-GehorsamsVorstellung, die stark auf Friedewahrung orientiert, zur theoretischen Durchdringung des Politischen aber kaum fähig ist. Verachtung des Pöbels ist der Geist, aus dem sie geschrieben wurde. Die Königsherrschaft hat vielerlei Begründungen gefunden, spanische Juristen haben sich daran ebenso beteiligt, wie Könige auf dem englischen Thron. Ihnen allen ist mit den deutschen und französischen Theoretikern gemeinsam, daß sie sich von einer naturrechtlichen und götdichrechtlichen Begründung königlicher Herrschaft nicht haben lösen können. Die Begünstigung der Einpersonenherrschaft profitiert vom Monotheismus des Christentums ebenso, wie von dessen Begründung von Obrigkeit als gottwohlgefälliger Einrichtung zur Zähmung des durch die Erbsünde bedingten zerstörerischen Ungehorsams der Menschen. Das gilt auch fur JEAN BODIN, den in der Frühneuzeit wirksamsten Begründer der Souveränität. Wie definiert und legitimiert Bodin Souveränität? Wem weist er sie zu und mit welchen Argumenten ? „La soweraineté est la puissance absolue & perpetuelle d'vne Republique" oder, in der präziseren lateinischen Formulierung, „majestas est summa in cives ac subditos legibusque soluta potes tas" 77 . Staatsbürgern und Untertanen Gesetze geben zu können, und zwar unbeeinträchtigt vom Einspruch anderer, macht das Wesen der Souveränität aus. Wer Gesetze gibt, verfugt über die Souveränität beziehungsweise die majestas. Bodin beweist am Ritual der bei jedem Thronwechsel eingeworbenen Privilegienbestätigungen seitens der Korporationen und Privaten, daß der Souverän nicht an die Willensakte seiner Vorgänger gebunden ist. Um so weniger ist er seinen eigenen Gesetzen unterworfen78. Die Souveränität ist die Quelle aller Gesetze und aller Herrschaft, die als eine immerwährende und unteilbare gedacht ist. Bodin unterscheidet zwischen Gesetz und Recht, lexnnA ins. Die Souveränität ist eine solche, die sich in der Ausgestaltung der Gesetze ausdrückt, nicht in der Änderung des Rechts. Recht meint die durch Natur und götdiche Schöpfung unantastbare Sphäre des Privatrechts,
75 76
Ebd., 351. Ebd.
77
J . BODIN, S i x livres, [1/8], 1 2 2 .
78
J. BODIN, Sechs Bücher, [1/8], 214. „Es ist zwar durchaus möglich, daß einem von jemandem anderen das Gesetz vorgeschrieben wird, sich selbst aber das Gesetz vorzuschreiben, ist von Natur aus ebenso unmöglich wie sich selbst etwas zu befehlen, was vom eigenen Willen abhängt".
242
9
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT
wie man heute sagen würde, ist also jener Bereich, der Eigentum und Nutzung der Güter sowie Freiheit und persönlichen Rechtsstatus berührt. Mit anderen Worten, es gibt gegenüber der Gesetzgebung des Souveräns ausgegrenzte Bereiche, gewissermaßen vorstaatliche Formen von Recht, etwa analog zu modernen Bürger- und Freiheitsrechten. Dazu gehören die von Bodin unterschiedlich mesnages oder familles genannten Verbände, über die sich der Staat schützend, sichernd, fördernd, gestaltend wölbt, die er aber nicht ersetzt, geschweige denn zerstört. „Republique est vn droit gouuemement de plusieurs familles", heißt es in der Ausgabe von 1583 79 ; in anderen Ausgaben ersetzen ménages die Familien. Ein zentrales Problem der Bodinschen Souveränitätskonzeption besteht in folgendem. Wie läßt sich der theoretisch mögliche Konflikt zwischen den Akten des voluntaristisch gedachten Gesetzgebers, deren Rechtsförmigkeit und Vernünftigkeit wünschbar, aber nicht erzwingbar ist, und dem Recht, das es zu sichern und zu schützen gilt, vermeiden. Das geschieht nach ihm am besten in der Weise, daß man die Souveränität in den Fürsten verlegt. Die Begründung bezieht Bodin aus der abendländischen Tradition mit ihrer aus dem göttlichen Recht abgeleiteten Begünstigung der Einpersonenherrschaft. „Denn wenn der Zweck des Gesetzes die Gerechtigkeit, das Gesetz Werk des Fürsten und dieser Ebenbild Gottes ist, dann folgt daraus logischerweise, daß das Gesetz des Fürsten dem Vorbild des Gesetzes Gottes entsprechen muß" 80 . Auf diese Weise wird die Monarchie der optimale Sitz der Souveränität. Die Modernität Bodins liegt - um das wenigstens in Parenthese anzudeuten - darin, daß er mit einer scharfen Operation den Staat seiner Zeit, der gewissermaßen in der Souveränität aufgeht, von allen herkömmlichen Kontrollen befreit, ihn also aus den ständischen und lehensrechtlichen Traditionen löst und jede Vorstellung einer mutua obligatio aufgibt. Doch soweit geht seine Modernität nicht, daß er sich aus der traditionalen christlichen Begründung politischer Macht hätte herauslösen können. Durch alle sechs Bücher der Republik bleibt der Fürst analogisch gedacht zum Hausvater, und es fällt auf ihn eine, wenn auch schwache Gottebenbildlichkeit, wie sie Europa über Jahrhunderte hinweg mit der Vorstellung vom Gottesgnadentum ausgedrückt hatte. Die Vorstellung, Herrschaft werde Dei gratia gemäß der Schöpfungsordnung Gottes oder in dessen Auftrag ausgeübt, wie das Bodin andeutet, ist dem Christentum eigen81. Insofern die Herrschaft Dei gratia vornehmlich zur Legitimierung königlicher Macht eingesetzt wurde, erfuhr die Monarchie durch das Christentum eine besonders starke Stütze. Seit dem Mittelalter haben Theoretiker daran gearbeitet, diese Annahme zu befestigen und zu untermauern, die schließlich im 18. Jahrhundert in geradezu bizzaren Figurationen manieristisch endeten. Die Rede ist von BOSSUET, der in seinem Lehrbuch des öffentlichen Rechts die letzte umfassende Begründung des Gottesgnadentum auf der Basis der Ecriture sainte lieferte.
79 80
81
J. BODIN, Six livres, [1/8], 122. J. BODIN, Sechs Bücher, [1/8], 239. Anstelle breiter Literatur zuletzt prägnant D. ENGSTER, Scepticism, 469-499, besonders 4 9 1 ^ i 9 5 . E. LOUSSE, Gottesgnadentum.
9.1
Gehorsam - ein Gebot Gottes
243
„Gott setzt die Könige als seine Diener ein und herrscht durch sie über die Völker", heißt der erste Lehrsatz von Bossuet, den er unter die Kapitelüberschrift „l'autorité royale est sacrée" setzte 8 2 . Alter Tradition folgend begründet sich Herrschaft aus der Herrschaft des Hausherrn. „Le premier empire parmi les hommes est l'empire paternel" 8 3 . Der Prozeß der Vergesellschaftung fuhrt, gut aristotelisch und thomasisch, über den Zusammenschluß mehrerer Familien unter der Herrschaft eines grand-père zu dorfahnlichen Bildungen, denen freilich durchaus das Abbild von Königreichen eignete. Alles spräche fur die Monarchie, sie sei nicht nur die verbreitetste und beste, sie sei auch die älteste und natürlichste Staatsfbrm 8 "*. Die Geschichte der Staatsformen beginne mit der Monarchie. Auch bestehende Republiken seien einst Teile von Monarchien gewesen, selbst „les Suisses étaient sujets des princes de la maison d'Autriche" 8 5 . Die beste Staatsform ist die Monarchie, weil sie die Kräfte des ganzen Staatskörpers in einer Person und damit in einem Willen bündelt, vor allem gilt das für die Erbmonarchie, die, wie man aus der Geschichte des Hauses David lernen könne, mit ihrem dynastischen Charisma, ihrer Autorität und Würde der am weitest entgegengesetzte Punkt zur Anarchie sei 8 6 . Aus dieser alttestamentlichen Begründung ergibt sich auch, daß die Monarchie die älteste Staatsform ist. Die natürlichste ist sie deswegen, weil sie in der väterlichen Gewalt wurzelt, „c'est-à-dire dans la nature même", denn die Menschen werden als Untertanen (sujets) geboren, und „die väterliche Gewalt, die sie an den Gehorsam gewöhnt, erzieht sie gleichzeitig dazu, nur ein Oberhaupt zu haben" 8 7 . D a ß Gott die Könige einsetzt, bleibt das kardinale Argument Bossuets für die Monarchie. Damit ist die Person des Königs geheiligt, ihr zu gehorchen eine religiös begründete Pflicht des Gewissens 8 8 . Der königliche Thron ist kein solcher eines Menschen, es ist „le trône de Dieu m ê m e " 8 9 . Die Zeremonialhandbücher der Zeit haben aus solchen Theorien die Gebrauchsanweisung fur die angemessenen Formen der Repräsentation geschrieben. „Große Herren sind zwar sterbliche Menschen", war J O H A N N C H R I S T I A N L Ü N I G in seinem „Theatrum ceremoniale" von 1719 bereit einzuräumen, „weil sie aber G o t t selbst [...] zu seinen Statthaltern auf Erden gemacht, also daß sie von der Heiligen Schrift in solchem Verstände gar Götter genennet werden, so haben sie freilich Ursache, sich durch allerhand äußerliche Marquen von anderen Menschen zu distinguieren, um sich dadurch bei ihren Untertanen in desto größeren Respekt und Ansehen zu setzen". D e m Volk müsse man einen Fürsten zeigen, „der prächtig gekleidet, von verschiedenen auswärtigen Prinzen mit Gesandtschaften verehret, auch von einer ansehnlichen Guarde bedecket ist, so wird es anfangen, sich über dessen Ho-
82
J.-B. BOSSUET, Politique, 64. - Zur Traditionsgeschichte vgl. F. KERN, Gottesgnadentum. Vgl.
83
J.-B. BOSSUET, Politique, 46.
auch die Begründung Kerns fur seine Arbeit (ebd., 1 und 3).
84 85 86 87 88 89
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
47, 52, 54. 53. 57. 53. 67.
Ebd., 65. - Vgl. auch E. LOUSSE, Gottesgnadentum, 95f.
244
9
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT
heit zu verwundern, diese Verwunderung aber bringet Hochachtung und Ehrfurcht zuwege, von welchen Untertänigkeit und Gehorsam herkomen [...]. Und aus dieser Raison haben sich die frömmsten Könige unter dem Volk Gottes nicht enthalten, ihren Hofhaltungen durch angeordnete Ceremonien und prächtige Solennitäten ein Ansehen zu machen" 90 . Der Stärke der Theorie des Gehorsams war die Schwäche spiegelbildlich, daß sie keine Kriterien fiir dessen Begrenzung entwickelte, jedenfalls nicht fur jene Menschen, fur welche die Gehorsamsforderung galt. Selbstverständlich kannte Europa die Figur des mißbräuchlich geforderten Gehorsams, Tyrannei genannt, und zu deren Beseitigung wurden auch Widerstandstheorien entwickelt. Doch ist daraus kein theoretisch ausgearbeitetes Widerstandsrecht für Untertanen hergeschrieben worden. Vielmehr blieb ein solches den inferioren Magistraten, den nachgeordneten Obrigkeiten, den politischen Ständen vorbehalten.
9.2
U N G E H O R S A M - EINE MENSCHLICHE T U G E N D
Von JACOB BURCKHARDT stammt das rigorose Urteil, „die Macht an sich ist böse" 91 . Dahinter steht die wissenschaftliche Erfahrung eines Kulturhistorikers, der wie wenige große Räume und lange Zeiten überblickt hat, und die eines Anthropologen, dessen Einsichten in die menschliche Natur noch heute das Referenzsystem liefern, mit dem Epochen (Renaissance, Humanismus) auf den Begriff gebracht werden. Die Moderne hat das Problem der Macht politisch derart gelöst, daß sie sich fur deren Zerlegung nach Funktionen (Gesetzgebung, Regierung, Rechtspflege) entschieden hat, also fiir die Gewaltenteilung, und zur Kontrolle der Macht eigens die Öffentlichkeit stark ausgebaut hat. Das Alte Europa hatte dafür nur in der Theorie eine Lösung, nämlich das regimen mixtum aus Monarchie, Aristokratie und Politie. Zur Praxis ist diese Theorie kaum geworden, weil die monarchischen Momente äußerst stark, die demokratischen hingegen nicht entwickelt waren. Kurzum - das Alte Europa hat, ausgenommen England und Schweden, keine dauerhaften Institutionen ausgebildet, die politische Macht hätten kontrollieren oder zur Rechenschaft ziehen können. Jedenfalls gilt das fiir die Zentralmacht oder die Staatsmacht. Kontrolliert, korrigiert und schließlich auch delegitimiert wurde Macht im Alten Europa durch den Ungehorsam der Untertanen. Angesichts des enormen theologischen, philosophischen, legislativen und rituellen Aufwands, den die Obrigkeiten zur Implementierung des Gehorsams betrieben haben, gehört es zu den großen Kulturleistungen Europas, ihn über die Jahrhunderte immer wieder gekündigt zu haben, und zwar durch Unruhen. Unruhen haben sehr verschiedene Formen angenommen und sowohl in der zeitgenössischen wie in der wissenschaftlichen Rhetorik ganz unterschiedliche begriffliche Abbildungen gefunden vom Aufitandüber die Empörung bis zum Krieguná. von der Rehellion über die Revolte bis zur Revolution. Unruhen sind keine Hervorbringungen des Pöbels und des Mobs, dagegen 90 91
Zitiert bei H . CH. EHALT, Ausdrucksformen, 65f. JACOB BURCKHARDT, Weltgeschichtliche Betrachtungen über geschichtliches S t u d i u m (Gesammelte Werke 4), Basel 1956, 70.
9.2
Ungehorsam - eine menschliche Tugend
245
spricht schon, daß sich der Adel Europas immer wieder dieser Form bedient hat, um sich gegen hypertrophe Ansprüche der Monarchie zu verwahren. Diesem Umstand verdankt manche Adelskurie in den Reichstagen und Landtagen in Europa ihre Existenz; selbst das pergamentene Beweisstück fur die Würde des Parlamentarismus, die Magna charta libertatum von 1215, antwortet auf eine Rebellion der englischen Barone. Doch mit dem Blick auf Europa insgesamt und über die Jahrhunderte hinweg ist die Unruhe vornehmlich das Mittel der Untertanen (staatsrechtlich), der Bürger und Bauern (soziologisch) und des gemeinen Mannes (ständisch), ihren Ungehorsam auszudrücken. Durch ihn wird nicht nur politische Macht kontrolliert, mit ihm werden der politischen Macht auch Zwecke und Ziele vorgeschrieben. Die Kulturbedeutung von Unruhen muß heute nicht mehr bewiesen werden. Eines der großen Forschungsfelder von Ethnologie, Anthropologie, Soziologie und besonders auch der Geschichtswissenschaft weltweit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Unruhen. Das war zwei Problemlagen geschuldet: der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich vielfach in Form von Revolten und Revolutionen voranbrachte, und dem theoretisch nie preisgegebenen und in der internationalen Politik immer wieder praktizierten Anspruch des Marxismus-Leninismus auf eine Herbeiführung der Weltrevolution. Für die Geschichtswissenschaft, soweit sie sich mit Europa befaßte, hat sich das dahingehend ausgewirkt, daß nicht nur die Französische Revolution ein äußerst prominenter Forschungsgegenstand blieb, sondern die europäische Geschichte fleißig nach Revolutionen oder deren Vorformen abgesucht wurde. Was die Geschichtswissenschaft im engeren Sinn dazu an Erkenntnissen geliefert hat, sprengte die älteren, in der Zeit des Historismus entwickelten Interpretationen Europas völlig92. In den großen europäischen Ländern, in Deutschland, Frankreich und England, sind die nämlichen historischen Ereigniskomplexe begrifflich ganz unterschiedlich benannt worden. Die deutsche Geschichtswissenschaft spricht bevorzugt von Widerstand93, die französische von révoltes94 und die englische von risings95. Das erklärt sich aus unterschiedlichen nationalen Kontextualisierungen. Widerstand ist sicher einerseits seinem erstaunt wahrgenommenen Ausbleiben gegen den Nationalsozialismus geschuldet, andererseits (in der Kontinuität des Historismus) der hohen Wertschätzung des Staates. Die deutsche Forschung hatte so erklärlicherweise von Anfang an die Unruhen politisch konnotiert und als Abwehrmaßnahmen gegen staatlich-obrigkeitliche Maßnahmen interpretiert. Révolte markiert einerseits die deudiche Distanz zur (Französischen) Revolution, bringt sie aber andererseits etymologisch in deren Nähe. In der Konkurrenz der großen Schulen Frankreichs wurde die Revolte entweder zu einem kulturellen Ereignis96 oder zur ereignisgeschichtlichen Spitze struktureller
92
93 94
95
Vgl. die von Wim Blockmans und Jean-Philipp Genet herausgegebene siebenbändige Reihe The Origins of the Modem State in Europe, Oxford 1995-1997; für Deutschland die von Lothar Gall besorgte Enzyklopädie deutscher Geschichte [besonders die Bände 1, 13, 19, 38], W. SCHULZE, Bäuerlicher Widerstand. Y.-M. BERCÉ, Révoltes. R. HlLTÖN, Bond Men Made Free. [Untertitel: Medieval Peasant Movements and the English Ri-
sing oí 1381], 96
Y.-M. BERCÉ, Fête.
246
9
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT
Verwerfungen, die sich aus ungünstigen Relationen von landwirtschaftlicher Produktion, demographischer Entwicklung und staatlicher Belastung (Steuern, Feudalrente) ergaben 97 . So gesehen war die Revolte in Frankreich ökonomisch korreliert. Risings werden in der englischen Geschichte, dank der geringeren Versäulung der dortigen Geschichtswissenschaft je nach Autor recht verschieden interpretiert, dennoch vermitteln die besonders durchsetzungsfähigen Arbeiten den Eindruck, es handele sich um kulturelle Bewegungen in einem weiten und offenen Sinn. Risings sind freiheitsorientiert 98 . Für die vergleichbaren Phänomene in Europa einen insgesamt brauchbaren Begriff zu finden, ist nicht einfach. Diejenigen, die ungehorsam handelten, haben dafür naheliegenderweise selbst kein Wort gekannt, weil sie ihr Verhalten fur legitim hielten. Damit haben sie allerdings die Interpretationshoheit den königlichen und fürstlichen Amtsstuben oder den Rathäusern überlassen. Folglich bevölkern Aufruhr und Empörung, soulèvement und révolte, riot und rebellion die zeitgenössischen Quellen. Damit werden die Vorgänge so interpretiert, als seien sie lediglich Aktionen - illegitime selbstverständlich - gegen die Obrigkeit oder den Staat. Möglicherweise kann man der sachlichen Verengung begrifflich mit dem deutschen Wort Unruhen entkommen. Jedenfalls soll davon hier konsequent Gebrauch gemacht werden. Das Wort selbst bezieht sich nicht auf reaktives Verhalten allein, sondern ist offen, auch Ziele und Zwecke von Ungehorsam aufzunehmen, die außerhalb des Referenzsystems von herrschaftlichem und ökonomischem Druck lagen. Untersucht man Gemeinden, muß man kein Kapitel über Unruhen schreiben, sondern ein solches über den kommunalen Anteil an den Unruhen. Das kann sinnvoll freilich nur so erfolgen, daß zuerst ein grober Überblick über die Unruhen selbst vermittelt wird (1), um dann zu diskutieren, was an ihnen kommunal ist (2).
9.2.1
Unruhen in Europa
hat früh der Bewertung von (bäuerlichen) Unruhen in der ständischen Gesellschaft in Europa einen hohen Rang eingeräumt, indem er sie mit den Streiks in der Industriegesellschaft parallelisierte". Das entsprach einem frühen Stand der Forschung, die europaweit, besonders in England, Frankreich und Italien angesichts einer relativen Nähe der Geschichtswissenschaft zum Marxismus, den materiellen Bedingungen geschichtlicher Prozesse Priorität eingeräumt hat. Eine stärker empirische Absicherung und begriffliche und theoretische Durchdringung hat dieses Theorem durch EDWARD P. T H O M P S O N erfahren, der in der moralischen Ökonomie die Wertvorstellungen von rebellierenden Engländern des MARC BLOCH
97 98
99
E. LE ROY LADURIE, Languedoc. R. HILTON, Bond Men Made Free. - STEVEN JUSTICE, Writing and Rebellion. England in 1381, Berkeley-Los Angles-London 1994 [als Zentralforderung herausgearbeitet: pro libértate]. MARC BLOCH, Les caractères originaux de l'histoire rurale française, tome 1, Paris 1955, 175.
9.2
Ungehorsam - eine menschliche T u g e n d
247
18. und frühen 19. Jahrhunderts entschlüsselte100. Herrschaft hat Auskömmlichkeit zu gewährleisten, ist die knappe Übersetzung dieses Begriffes. Die moralische Ökonomie galt als wissenschaftliche Entdeckung, was sie freilich nur fur diejenigen war, die Wirtschaftstheorien und Wirtschaftsstile nach Adam Smith für universal gehalten hatten 101 . Mittlerweile darf man dank der Forschungsleistungen von dreißig Jahren diese Interpretation als zu krude einstufen. Neue Gesamtinterpretationen fur Europa liegen indessen nicht vor. Zwar ist jede größere Rebellion in Europa mit mindestens einer Monographie und Dutzenden von Aufsätzen begrüßt worden, komparatistische Arbeiten sind aber in der Regel starke Extrapolationen nationalgeschichtlich gewonnener Interpretationen102. Zur begrifflichen Erfassung und interpretatorischen Bewältigung von Unruhen müssen solche auf dem Land und in der Stadt aufeinander bezogen werden, das allerdings ist bislang nicht, allenfalls in Ansätzen 103 geschehen. Ländliche Unruhen und städtische Unruhen gehören aus mindestens vier Gründen zusammen. Erstens wegen der gleichen zeitlichen Erstreckung über das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit (bis ins frühe 18. Jahrhundert), zweitens wegen der gleichen Gegner, der unmittelbaren Obrigkeit (Grundherr, Gutsherr, landesherrlicher oder königlicher Vogt, Magistrat), drittens wegen der gleichen Benennung als Aufruhr und Empörung (und anderes) durch die Zeitgenossen und viertens wegen der Träger, der laboratores, der Handarbeiter. Die fehlenden komparatistischen und generalisierenden Arbeiten lassen sich nicht kompensieren, doch kann man in groben Zügen und annäherungsweise sagen, was Unruhen fur das Alte Europa bedeuteten. Daß sie zur erzählenden Beschreibung und kategorialen Erfassung Europas unentbehrlich sind, belegt schon ihre Häufigkeit. Zwar sind additive Auflistungen relativ wenig aussagekräftig, zumal die Kriterienkataloge, was darunter zu verstehen
100 EDWARD P. THOMPSON, D i e .moralische Ö k o n o m i e ' der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert [1971], in: Ders., Plebeische Kultur und moralische Ö k o n o m i e , Frankfurt a. M.-WienBerlin 1980, 6 7 - 1 3 0 . 101
V o n der Antike bis in die Aufklärung reicht die theoretisch verbindliche Wirtschaftsethik einer auskömmlichen N a h r u n g in F o r m der Otkoslehren, die in der Praxis durch einen besonderen Schutz des Hauses bestätigt wurden. D a s Nötige hat dazu O t t o Brunner immer wieder gesagt. Vgl. O . BRUNNER, Land. - DERS., Haus. - DERS., Landleben.
102
H . NEVEUX, Révoltes en Europe [unter eingeschränkten systematischen Gesichtspunkten Frankreich, Deutschland, England und Spanien berücksichtigend], - Altere Synthesen [um 1980] R. HILTON, B o n d M e n M a d e Free [Mittelalter], - WINFRIED SCHULZE, Europäische u n d deutsche Bauernrevolten der frühen Neuzeit - Probleme der vergleichenden Betrachtung in: Ders., Europäische Bauernrevolten, 1 0 - 6 0 . - Y.-M. BERCÉ, Révoltes. - M i t einer Akzentuierung Italiens WOLFGANG REINHARD, Theorie und Empirie bei der Erforschung frühneuzeidicher Volksaufstände, in: Hans Fenske - W o l f g a n g Reinhard - Ernst Schulin (Hgg.), Historia integra. Festschrift fur Erich Hassinger zum 70. Geburtstag, Berlin 1977, 1 7 1 - 2 0 0 . - Unter besonderer Berücksichtigung der skandinavischen Bauernaufstände KALERVO HOVI, Eurooppalaisten talonpoikaissotien typologia, in: Faravid 5 (1981), 6 7 - 1 1 4 . - D i e erste vergleichende Arbeit stammt von G . FRANZ, Außerdeutsche Bauernkriege.
103
Z e i d i c h fur das 17. Jahrhundert [europäisch] H . KAMEN, Iron Century, 3 7 3 - 3 8 5 ; räumlich fur Deutschland [Spätmittelalter und Frühe Neuzeit] P. BLICKLE, Unruhen.
248
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sei, von Land zu Land, wenn nicht von Autor zu Autor wechseln. Dessen ungeachtet hat sich eine pragmatische, einigermaßen konsensfähige Liste wenigstens fur gewaltsam (militärisch) ausgetragene Unruhen ergeben. Unruhen in Europa Jahreszahlen bezeichnen das jeweilige Ende 1 0 4 (in Klammern die heutige Staatszugehörigkeit) 1328 Flandern (Belgien) 1358 Jacquerie (Frankreich) 1378 Ciompi Florenz (Italien) 1381 England 1384 Languedoc (Frankreich) 1406 Appenzellerkrieg (Schweiz, Österreich, Deutschland) l424Taboriten (Tschechien) 1450 Jack Cade (England) 1478 Bauernkrieg in Kärnten, Krain, Steier (Österreich) i486 Remensas Katalonien (Spanien) 1489 Waldmannhandel Zürich (Schweiz) 1489 Rorschacher Klosterbruch (Schweiz) 1491 Kempten (Deutschland) 1514 Bauernkrieg Bern, Luzern, Solothurn (Schweiz) 1514 Armer Konrad Württemberg (Deutschland) 1514 Dózsa-Aufstand (Ungarn) 1515 Innerösterreichischer Bauernkrieg (Österreich) 1515 Windischer Bauernaufstand (Österreich) 1520 Comuneros-Aufstand Kastilische Städte mit Hinterland (Spanien) 1523 Germanias in Valencia, Majorca (Spanien) 1525 Bauernkrieg (Deutschland, Schweiz, Österreich) 1537 Pilgrimage of Grace (England) 1548 Pitauds Guyenne (Frankreich) 1549 Dacke-Aufstand (Schweden) 1560 Estnischer Bauernaufstand (Estland) 1566 Wonderjaar (Belgien, Niederlande) 1573 Windischer Bauernaufstand (Österreich) 1593 Croquants Limoges, Périgord (Frankreich) 1590 Klubbkriget (Finnland) 1596 Ober- und Niederösterreichischer Bauernaufstand (Österreich) 1597 Bonnets rouges Burgund (Frankreich) 104
Quellen für die Zusammenstellung: H. NEVEUX, Révoltes en Europe, 293-298. - J. NICOLAS - J. VALDEÓN BARUQUE - S . VILFAN, S t a t e a n d R e s i s t a n c e , 6 5 - 1 1 4 . - P. ZAGORIN, R e b e l s a n d rulers. H . C . PEYER, V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e , 139FF. - J . BLUM, R u r a l E u r o p e .
9.2
Ungehorsam - eine menschliche T u g e n d
1606 1612 1626 1634 1637
Bolotnikov-Aufstand (Rußland) Rappenkrieg (Deutschland, Schweiz) Oberösterreichischer Bauernkrieg (Österreich) Bayerischer Bauernaufstand (Deutschland) Nouveaux Croquants Périgord (Frankreich)
249
1639 Nu-pieds Normandie (Frankreich) 1640 Bauernaufstand in Katalonien (Spanien) 1648 Masaniello-Aufstand Neapel und Hinterland (Italien) 1653 Schweizer Bauernkrieg (Schweiz) 1662 Bordeaux-Benauge (Frankreich) 1665 Révolte d'Audijos (Frankreich) 1675 1688 1697 1706
Bonnets rouges Bretagne (Frankreich) Segadors Katalanischer Bauernaufstand (Spanien) Käkisalmi-Aufstand Karelien (Finnland, Rußland) Sendlinger Mordweihnacht Bayern (Deutschland)
1775 Königgrätz und Umgebung (Tschechien) 1774 Pugachev-Revolte (Rußland) Das politische Gewicht solcher Unruhen spiegeln sehr unterschiedliche Zahlen von zu Tode Gekommenen - sie reichen von zwei Hinrichtungen und vier Verbannungen auf Galeeren nach der Steuerrevolte im Benauge im Hinterland von Bordeaux 1662 1 0 5 über 3000 Tote in Flandern 1328 1 0 6 bis zu den 100 000 Toten des Bauernkriegs von 1525. Will man die Unruhen näherungsweise quantitativ erfassen, muß neben das spektakuläre Ereignis von nationalem oder überrregionalem Zuschnitt auch die lokal oder regional beschränkte Bewegung gezählt werden: die 374 Rebellionen, die RENÉ PLLLORGET fur die Provence zwischen 1596 und 1715 erfaßt hat 1 0 7 , die 500 Revolten, die YVES-MARIE BERCÉ für die Guyenne zwischen 1590 und 1715 errechnet hat 1 0 8 , die 65 Aufstände im spätmittelalterlichen Südwesten des Reiches, die PETER BIERBRAUER zusammengestellt hat 1 0 9 , die 30 Aufstände allein in Städten des Moskauer Reiches zwischen 1630 und 1650, die HENRY KAMEN gesammelt hat 1 1 0 oder die Hunderte von Food Riots, die man der Arbeit von ANDREW CHARLESWORTH v e r d a n k t 1 1 1 .
Bauernunruhen haben eine feste zeitliche Einbettung zwischen 1300 und 1700. Zuvor und danach treten sie kaum auf oder wenn schon, dann mit deutlich anderem Charakter. Für das Hochmittelalter sind Aufstände, die das Attribut bäuerlich verdienen, nicht zwin-
CH. JOUHAUD, Révoltes, 4 6 . W . H . TEBRAKE, Revolt in Flanders, 120ff. 1 0 7 R. PlLLORGET, Provence. 1 0 8 Y.-M. BERCÉ, Histoire des Croquants. 1 0 9 P. BIERBRAUER, Bäuerliche Revolten, 6 2 - 6 5 . 1 1 0 H . KAMEN, Iron Century, 3 6 7 . 1 1 1 A . Charlesworth, Protest in Britain. 105
106
250
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gend nachgewiesen worden 112 . Im 18. Jahrhundert läßt sich eine Faktionierung innerhalb der ländlichen Gesellschaft beobachten, die in Frankreich schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzt und in Deutschland ihr Echo findet in den Konsortien, die sich für Prozesse vor dem Reichskammergericht oder Reichshofrat zusammenschließen113. Stadtunruhen finden zeitgleich, wenn auch leicht phasenverschoben zum Mittelalter, statt. Sie listenmäßig erfassen zu wollen, wäre nicht nur buchfiillend, sondern auch absurd, weil für sie die Abgrenzungskriterien noch unklarer sind als fur Bauernunruhen. Aufstände haben den ganzen Urban belt von Italien bis Holland im Mittelalter erschüttert, Italien früher, das Reich später. Häufig haben sie den Handwerkern neben den alten Patriziaten eine politische Beteiligung am Regiment gesichert114. Europaweit liegt ein zeitlicher Höhepunkt gewiß im 13. und 14. Jahrhundert. Ein zweiter fällt fur das Reich im weitesten Sinn (die Eidgenossenschaft eingeschlossen) in der Reformationszeit, ftir die 200 Stadtrevolten gezählt wurden 115 . Ein weiterer Höhepunkt ergibt sich im 17. Jahrhundert mit einer Konzentration um und nach dem Dreißigjährigen Krieg. Knapp 100 Stadtunruhen konnte WILLIAM BEIK fur Frankreich im 17. Jahrhundert zusammenstellen116, knapp 50 CHRISTOPHER FRIEDRICHS für Deutschland 117 , wobei er nur große Städte berücksichtigt hat. Die Stadtunruhen beginnen, begleitet von der coniuratio-Bewegung gegen die bischöflichen Stadtherren, mit Mailand schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts118 und verlaufen sich zuletzt in Deutschland mit der Integration der Städte in die Landesfurstentümer im ausgehenden 17. Jahrhundert 119 . Die Unruhe in Europa über qualitative Merkmale zu konstituieren ist nicht einfacher als über quantitative. Der ökonomische Leisten, über den man sie über Jahrzehnte geschlagen hat, liefert heute keine einsichtige Erklärung mehr. Es mag der Übersichtlichkeit dienen, die Beantwortung dieser Fragen mit einer allgemeinen Charakterisierung (1) zu eröffnen und anschließend über Ursachen und Ziele (2) sowie Folgen (3) eine schärfere Konturierung zu suchen.
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ROLF KÖHN, Freiheit als Forderung und Ziel bäuerlichen Widerstandes (Mittel- und Westeuropa, 11 .-13. Jahrhundert), in: J. Fried, Instrumentarien des Friedens, 325-387 [dazu meine Kritik in: Historische Zeitschrift 261 (1995), 878-883]. - Die geringe Bedeutung der Unruhen vor dem Spätmittelalter ergibt sich auch aus der vergleichenden Darstellung von WERNER RÖSENER, Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, 111-136. RENÉ PILLORGET, Les mouvements insurrectionnels de Provence (1715-1788), in: J. Nicolas, Mouvements populaires, 351-359 [als ein Literaturbeispiel ftir Frankreich unter vielen]. - Für Deutschland W. TROSSBACH, Soziale Bewegung. Jüngster Überblick bei GERHARD DLLCHER - THOMAS A. BRADY, JR. - WIM BLOCKMANS - HENK VAN NIEROP - ANN KATHERINE ISAACS - AURELIO MUSI, T h e U r b a n Belt and the Emerging M o -
dern State, in: P. Blickle, Resistance, 217-323. Die Zusammenstellung nach GERHARD BRENDLER, Martin Luther. Theologie und Revolution, Berlin 1983,299. W. BEIK, Urban Protest in France, 265ff. CHRISTOPHER R. FRIEDRICHS, German Town Revolts and Seventeenth Century Crisis, in: Renaissance and Modern Studies 26 (1982), 27-51, hier 40-51. G. DlLCHER, Stadtkommune. H. SCHILLING, Republikanismus, 126ff. [aber auch die bleibenden Bestände an städtischer Autonomie würdigend].
9.2
Ungehorsam - eine menschliche Tugend
251
(1) Beschränkt man die Optik auf die Stadtunruhen, dann lauten die geradezu liturgisch sich wiederholenden Vorwürfe an den Rat nicht vorrangig, Steuern seien erhöht worden oder die wirtschaftlichen Belastungen seien gestiegen, sondern Nepotismus im Regiment habe Platz gegriffen und ungleiche Urteile würden durch das Gericht zugemessen. Fokussiert man die Optik zeitlich, fallen wirtschaftliche Motive ftlr ganze Epochen weg, etwa fur die Unruhen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, mit deren Hilfe sich in Deutschland, der Schweiz und in Teilen Frankreichs die Reformation in den Städten Eingang verschafft hat 1 2 0 . Wandert man auf das Land, findet man gleichfalls Unruhen für und gegen die Einfuhrung einer neuen christlichen Denomination, vornehmlich im 16. Jahrhundert, nicht nur in der Schweiz, Deutschland und Frankreich, sondern auch in England 1 2 1 und Spanien 1 2 2 . Eine Fülle von Aufständen läßt sich unter der Überschrift Fremdherrschaft abheften - die Rebellion Jack Cades in England 1 2 3 , der Keulenkrieg in Finnland 1 2 4 , der Oberösterreichische Bauernkrieg 1 6 2 6 1 2 5 , der bayerische Bauernkrieg in den Jahren 1705 und 1706126. (2) Die sehr unterschiedliche Prägung von Unruhen macht es sinnlos, darauf zu hoffen, es ließe sich ein generalisierbares Motiv fur alle Jahrhunderte finden. Sucht man Ursachen, empfiehlt es sich methodisch in Rechnung zu stellen, daß Unruhen eine innere Biographie haben, sich im Austausch der Argumente mit der Obrigkeit und den möglicherweise eingeschalteten Richtern und eingesetzten Truppen umformen, erweitern, prinzipieller werden oder auch implodieren. Zwischen Ursachen und Zielen läßt sich so schwer eine überzeugende Trennschärfe gewinnen. Ein Verlaufsmodell, das für ländliche und städtische Unruhen gelten kann und folglich verhältnismäßig allgemein bleiben muß, läßt sich heute in Umrissen durchaus entwerfen. Daraus läßt sich die Erkenntnis ziehen, daß Unruhen dialogischen und prozessualen Charakter haben und folglich sich der Letztbegründung vermutlich entziehen. Die Unruhen lassen sich in der Figur einer aufsteigenden Spirale beschreiben: 1. die Artikulation des Protestes in Form von Beschwerden an die Obrigkeit, 2. die Unterstützung der Beschwerden, falls sie nicht bereinigt werden, durch Abgaben- und Steuerverweigerungen, die begleitet werden durch (eidliche) Versprechen, die Forderungen durchzustehen, 3. die Einschaltung von fremden (königlichen, fürstlichen) Richtern, die im
Zuletzt [bei einer zu respektierenden ungemein breiten Forschung] BERNDT HAMM, Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, 91-118. 1 2 1 JULIAN CORNWALL, Revolt of the Peasantry 1549, London-Henley-Boston 1977. 1 2 2 P. ZAGORIN, Rebels and rulers 2, 13ffi 1 2 3 1. M. W. HARVEY, Jack Cade's Rebellion of 1450, Oxford 1991. [Die Interpretation ergibt sich aus der Lektüre des Buches.] 1 2 4 HEIKKI YLIKANGAS, Nuijasota, Helsinki 1977. Für eine knappe deutsche Zusammenfassung DERS., Der Keulenkrieg - ein finnischer Bauernkrieg, in: Zeitschrift fur Agrargeschichte und Agrarsozio120
logie 3 3 ( 1 9 8 5 ) , 2 7 - 3 6 . 125
126
HERMANN REBEL, Peasant Classes. The Bureaucratization of Property and Family Relations under Early Habsburg Absolutism 1511-1636, Princeton, New Jersey 1983, 230-284. RICHARD VAN DÜLMEN, Bäuerlicher Protest und patriotische Bewegung. Der Volksaufstand in Bayern von 1705/6, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 45 (1982), 331-361.
252
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Falle der Verzögerung oder vermißter Gerechtigkeit zu 4. militärischen Drohungen und damit zu militärischer Konfrontation fuhren, der in der Regel 5. die Niederlage folgt, was 6. Folgen positiver (Vertrag) oder negativer Art (Entprivilegierung) zeitigen kann 1 2 7 . Durchläuft eine Unruhe diese Stufen, dann ist sie eminent politisch geworden, dann zeigt sich, daß prinzipiell die Verteilung politischer Macht zur Disposition stand. Das gilt fur die Städte, in denen über die großen Unruhen immer wieder der Urzustand des Gesellschaftsvertrags (um metaphorisch mit Rousseau zu sprechen) hergestellt wurde: Durch Bannerlauf, Besetzung der Stadttore und des Zeughauses, Bildung von gemeindlichen oder zünftischen Ausschüssen, Forderung nach Verlesung des Stadtrechts und der städtischen Privilegien wurden die Räte daran erinnert, sich als Repräsentationsorgan der Gemeinde zu definieren und nicht als Herrschaft 1 2 8 . Wenn man schon einen gemeinsamen Nenner fur die Stadtrevolten finden will, dann darf man bei der Suche das Politische wohl nicht übersehen. Auch nicht auf dem Land! Die Bauern auf der Zürcher Landschaft wollten 1489 eine dauerhafte parlamentarische Vertretung im Zürcher Stadtstaat durchsetzen 1 2 9 , die Comuneros 1520 in Spanien eine breitere Beteiligung am königlichen Regiment 1 3 0 , die deutschen Bauern 1525 republikanisch organisierte Territorien innerhalb des Reiches 1 3 1 . In all diesen Fällen geht es um grundsätzliche Fragen der Verfassung und in allen Fällen wurde zu den Waffen gegriffen. (3) Kommt man auf die Folgen zu sprechen, muß man einräumen, daß sich die europäischen Unruhen nicht als Erfolgsgeschichte beschreiben lassen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Die militärischen Niederlagen sind unübersehbar, soweit es zu kriegerischen Auseinandersetzungen gekommen ist. Wird eine Unruhe von Zeitgenossen illustriert, trifft man auf die hingerichteten oder verstümmelten Rädelsführer, die abgehängten Glocken im Kirchturm, die geschleiften Mauern der Stadt oder des Dorfes, die Herunterwürdigung des Ortsheiligen, dessen Fest nicht mehr gefeiert werden darf, die Strafsummen und - was im Zusammenhang mit Fragen des Kommunalismus von besonderem Gewicht ist - der Entprivilegierung der Gemeinde. Der Markgraf von Brandenburg ließ nach dem Bauernkrieg von 1525 in Kitzingen sechzig Bürgern die Augen ausstechen, weil sie ihn nicht als ihren Herrn ansehen wollten, der Bischof von Augsburg kassierte 1608 alle Privilegien seiner Allgäuer Bauern und der französische König zog 1660 in Marseille durch eine demonstrativ in die Stadtmauer geschlagene Bresche ein 1 3 2 . JEAN BODIN hat der Beschreibung solcher Straf-
Kombiniert aus den verallgemeinerungsfähigen Bestandteilen bisher vorliegender Entwürfe. Vgl. P. BIERBRAUER, Bäuerliche Revolten, 4 4 . - W . TROSSBACH, Soziale Bewegung. - W . BEIK, Urban protest in France, 250fF. 1 2 8 D a s kann man selbstverständlich auch so interpretieren, als hätten die Bürgerunruhen kein kreatives Potential entfaltet. Vgl. W . BEIK, Urban Protest in France, und HEINZ SCHILLING, D i e Stadt in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 2 4 ) , M ü n c h e n 1 9 9 3 , 1 7 . 1 2 9 P. BUCKLE, Unruhen, 15ff. 1 3 0 ST. HALICZER, Comuneros. 131 PJTF.R BLICKLE, Der Bauernkrieg. D i e Revolution des Gemeinen Mannes, M ü n c h e n 1998, 87-103. 132 p ü r Prankreich CH. JOUHAUD, Révoltes, 4 8 - 5 6 . 127
9.2
Ungehorsam - eine menschliche Tugend
253
maßnahmen in seinen Six livres de la République viele Seiten gewidmet, gewissermaßen als Anschauungsmaterial wie Fürsten ihre Souveränität durchzusetzen hätten 133 . Ludwig XIV. machte aus der Theorie Praxis und ersetzte die für ihn offenbar umständlichen Verfahren individueller Entscheidungen durch die Ordonnance criminelle von 1671 134 . Seitdem folgte der Unruhe mechanisch der Entzug der Selbstverwaltung, die gerichtliche Verfolgung der Magistrate und die Zerstörung der Symbole politischer Autonomie 135 . An der Erforschung der Unruhen war selbstverständlich nicht faszinierend, daß sie gescheitert sind. Die Massenhaftigkeit, die Brutalität galt es zu erklären, ja die scheinbare Irrationalität angesichts einer offensichtlichen Kette von Niederlagen. Allmählich kam an den Tag, daß Unruhen über ihren militärischen Ausgang allein nicht zu bewerten sind und folglich fälschlicherweise von ihrem Scheitern gesprochen wurde. Für die einzelnen Länder und Regionen waren die Unruhen nie belanglos und für Europa als Ganzes erst recht nicht. 1436 wurden zwar die Rädelsführer der schwedischen Bauern (und Bergknappen) hingerichtet, die 1434 eine Rebellion gegen Erik von Pommeranien angezettelt hatten 136 , um die Skandinavische Union (Zusammenschluß von Dänemark, Schweden und Norwegen) zu verhindern; der Aufstand hatte indessen dennoch nach Einschätzung der schwedischen Forschung weitreichende Folgen. Die Bauern (und Bürger) erstritten sich dauerhaft fiir reichsrelevante auswärtige Geschäfte Gehör und skizzierten damit das Grundgerüst des späteren Reichstages mit seiner je eigenen Kurie für Bauern und Bürger 137 . Die 70 Jahre sich hinschleppenden und immer wieder neu aufflackernden Unruhen der Payeses in Katalonien, auch Remensa genannt, wurden 1486 mit der Sentencia von Guadalupe geschlossen. Seitdem konnten sich die leibeigenen Bauern vom Adel freikaufen 138 . Dazu wurde zwei Jahre später ein eigener gran sindicato remensa geschaffen, der unter der Leitung von sieben gewählten síndicos die nötigen Geschäfte abwickelte und als Aufsichtsbehörde fiir die Beziehungen von Bauern und Herren diente. Das sind Einzelbeispiele, die nicht generalisiert werden dürfen, aber doch die Möglichkeiten der Folgen von Unruhen zeigen. Verallgemeinerbar an den Unruhen ist jedoch die Einsicht, daß sie enorme Mediatisierungsprozesse in Europa in Gang gesetzt haben 139 . Weil sich Unruhen immer gegen die unmittelbare oder nähere Obrigkeit richteten, die adeligen und kirchlichen Grundherren und Gutsherren, die königlichen oder landesherrlichen Vögte oder die städtischen Magistrate, kam den übergeordneten Herrschaftsträgern eine schlichtende und richtende Funktion zu,
133
J. BODIN, Sechs Bücher, 534-540.
134
C H . JOUHAUD, R é v o l t e s , 5 6 , 8 7 .
135
Ebd., 87.
136
E . LÖNNROTH,
Assemblies, 128f. - H . SCHÜCK, Early Parliamentary Institutions, 19. E. LöNNROTH, Assemblies, 129. Nach den 1540er Jahren gibt es keine Aufstände mehr. Das ist mit der geglückten Integration der Bauern in den Staat erklärt worden. Vgl. E. ÖSTERBERG, Compromise, 276f. 138 P. FREEDMAN, Servitude in Catalonia, 190-193. Schon einmal (1448) war ein solches Syndikat eingerichtet worden, das 100 000 Florin von 20 000 Höfen zur Ablösung der Leibeigenschaft verwaltete. 137
139
J . NICOLAS - J . VALDEÖN BARUQUE - S. VILFAN, S t a t e u n d R e s i s t a n c e .
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die in der Regel mit einem Verlust der politischen Macht der unteren Magistrate einherging. Adel und Geistlichkeit blieben privilegierte Stände, allerdings nur hinsichtlich ihres Gerichtsstandes und ihrer Steuerfreiheit, das qualifizierende Merkmal der Herrschaft hingegen verloren sie. Die städtischen Magistrate kamen zunehmend unter die Abhängigkeit der Stadtherren. Die Restauration der patrizischen Räte durch Karl V. als Antwort auf die Reformation in den Städten ist dafür ein Beispiel unter vielen. Daß sich am Ende des 18. Jahrhunderts in Wahrheit Könige (Fürsten) und Untertanen gegenüberstehen, ist auch eine Folge der Unruhen. In der jüngeren Forschung gibt es Ansätze, welche die Vermutung nicht absurd erscheinen lassen, das Modernisierungspotential von Unruhen könne über die alteuropäische Gesellschaft hinaus auch für das 19. Jahrhundert namhaft gemacht werden. WINFRIED SCHULZE hat die in die Gegenwart ja prinzipiell offene These vertreten, auf (bäuerliche) Revolten in Deutschland hätten die Obrigkeiten mit einer Verrechtlichung sozialer Konflikte geantwortet 140 , eine für andere Länder kopierte, aber nur sehr bedingt approbierte Annahme. FLORENCE GAUTHIER hat für die Aufstände in der Picardie und der Französischen Revolution einen solchen Zusammenhang unterstellt 141 , den WOLFGANG SCHMALE nochmals aufgenommen und zu der These hinaufgetrieben hat, Freiheit und Eigentum, beides prominente Errungenschaften der Französischen Revolution, seien durch die prozessualen Verfahren der Bauern gegenüber ihren Seigneurs vor dem Parlement in Paris faktisch schon ausgebildet gewesen 142 . ANDREAS WüRGLER konnte den Unruhen des 18. Jahrhunderts in der Schweiz und Süddeutschland Schrittmacherfunktionen bei der Entstehung der Öffentlichkeit und der Forderung nach geschriebenen Verfassungen zuschreiben 143 , also den Anschluß an die konstitutionelle Monarchie des 19. Jahrhunderts herstellen. Am weitesten in die Gegenwart hat ROBERT VON FRIEDEBURG gegriffen mit seiner These, Unruhen hätten durch die Festigung des kommunalen Zusammenhalts eine Mentalität geschaffen, die eine Staatsfeindlichkeit bei (hessischen) Bauern habituell werden ließ, von der die nationalsozialistische Bewegung habe profitieren können 1 4 4 . Das ist immerhin eine enharmonische Verwechslung in der Bielefelder Partitur vom deutschen Sonderweg.
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WINFRIED SCHULZE, D i e veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Der Deutsche Bauernkrieg 1 5 2 4 - 1 5 2 6 (Geschichte u n d Gesellschaft. Sonderhefte 1), Göttingen 1975, 2 7 7 - 3 0 2 . F. GAUTHIER - G.-P. IKNI, Picardie, 2 0 I f . W . SCHMALE, Bäuerlicher Widerstand, 189f. [zusammenfassend]. A. WORGLER, Unruhen, 3 1 8 - 3 2 8 . „ D i e Forderung nach Partizipation und das Drängen auf transparente, verfassungsmäßige und rationale Herrschaftsausübung machen den Widerstand der Bauern und Bürger zu einem erheblichen Faktum im politischen Modernisierungsprozeß in Richtung liberaler und demokratischer Konstitutionen"; ebd., 3 3 0 . ROBERT VON FRIEDEBURG, Ländliche Gesellschaft u n d Obrigkeit. Gemeindeprotest u n d politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 117), Göttingen 1997.
9.2
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Ungehorsam - eine menschliche Tugend
9.2.2
Die kommunale Fundierung von Unruhen
Wie sind - um endlich zum Thema zu kommen - Aufstände und Kommunalismus vermittelt? Unruhen werden nicht zwischen Gemeinden und Obrigkeit ausgetragen - dies allenfalls in einer nur abgeleiteten Form - , sondern zwischen der Obrigkeit und ihren Untertanen. Auf dem Land rebelliert selten eine Gemeinde allein, vielmehr ist diese Form lediglich den Stadtunruhen eigen, wo das Regiment des Magistrats über die Stadtmauer nicht hinausging. Verfugte die Stadt über ein größeres Territorium wie Venedig, Pisa, Zürich, Bern, Erfurt oder Rottweil, umfassen in besonders kritischen Lagen die Unruhen die Stadtgemeinde und das bäuerliche Hinterland 145 . War die königliche Herrschaft in Städten besonders stark wie in Spanien, wurde der Aufstand zur Rebellion mehrerer oder aller königlichen Städte 146 . Das schließt freilich nicht aus, daß Kommunen in Unruhen eine herausragende Rolle spielten. Die stark beachtete These von DAVID W . SABEAN von der communal basis westeuropäischer Bauernaufstände hat wesentliche Argumente dafür schon bereitgestellt147. Sie soll nur im Detail hier verfeinert und mit der Literatur der letzten 20 Jahre auf einen angemessenen heutigen Interpretationsstand gehoben werden. Unruhen hat es überall in Europa gegeben, durch Gemeinden getragene nur auf dem Kontinent. England, wiewohl reich an Revolten, hat mit der vielleicht einzigen Ausnahme von 1381 1 4 8 in Form der enclosure-riots und food-riots einen Unruhentyp ausgebildet, der stark auf das manor (Grundherrschaft) bezogen ist. Bauern eines manor bildeten zwar eine Genossenschaft 149 , die kommunale Qualität indessen ist ihr abgegangen. Die großen russischen Aufstände des 18. Jahrhunderts waren stark geprägt durch die Kosaken und einen heruntergekommenen Adel und lassen sich schwer mit den mittel- und westeuropäischen vergleichen150. Die Gemeinde als Subsystem der Unruhe läßt sich bereits über den ersten großen Bauern- und Bürgerkrieg auf dem Kontinent belegen, der von 1323 bis 1328 in Flandern statt145
Eine monographische Abhandlung zu diesem Thema fehlt und wäre dringend erforderlich. Vgl. A. K. ISAACS, Tuscany and Veneto. - Gründlich erörtert die Frage fiiir Bern P. BIERBRAUER, Gemeinde im Berner Oberland. - Für Zürich vgl. CHRISTIAN DIETRICH, Die Stadt Zürich und ihre Landgemeinden während der Bauernunruhen von 1489 und 1525 (Europäische Hochschulschriften III/229), F r a n k f u r t a. M . - B e r n - N e w Y o r k 1 9 8 5 , 3 8 ^ 6 ,
1 9 4 - 1 9 7 . - F ü r R o t t w e i l EDWIN ERNST W E B E R ,
Städtische Herrschaft und bäuerliche Untertanen in Alltag und Konflikt. Die Reichsstadt Rottweil und ihre Landschaft (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Rottweil 14), 2 Bde., Rottweil 1992. 146
ST. HALICZER, C o m u n e r o s .
DAVID SABEAN, The Communal Basis ofpre-1800 Peasant Uprisings in Western Europe, in: Comparative Politics 8 (1976), 3 5 5 - 3 6 4 . 1 4 8 R. HILTON, Bond Men Made Free, 217. - Vgl. dazu auch die französisch geschriebenen Chroniken, die für England fur 1381 von einem Aufstand der „communes" sprechen, eine Übersetzung der auch sonst verbreiteten Wendung commons'. Oder sind Gemeinden darunter zu verstehen? Vgl. NEITHARD BULST, Jacquerie' und ,Peasants' Revolt' in der französischen und englischen Chronistik, in: Hans Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, 7 9 1 - 8 1 9 [das Zitat 808]. 1 4 9 A. Charlesworth, Protest in Britain, Karten 1-8, 10-13. 1 5 0 J. BLUM, Rural Europe, 347f. - Die Sonderstellung gilt auch fur Aufstände des 17. Jahrhunderts (starke Anteile an Kosaken), die zum Teil nur andere Formen der sonst üblichen gigantischen Fluchtwellen waren. Vgl. H. KAMEN, Iron Century, 348f. 147
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9
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fand. Rund 40 ländliche Gemeinden schlössen sich dort 1323 übergemeindlich und gesichert durch Eide zusammen. Jedes Dorf hatte einen Delegierten durch Wahl bestimmt, ihn mit einem imperativen Mandat ausgestattet und damit ein Repräsentationsgremium geschaffen, das über Jahre hinweg die gräfliche Verwaltung ersetzte, indem es Steuern einzog, Recht sprach und die Miliz organisierte. Rückhalt fand diese von ihrem Biographen WILLIAM H. TEBRAKE „peasant republic" 1 5 'genannte Organisation seit 1325 bei den Städten. Flandern verfugte über äußerst starke Landgemeinden mit beachtlichem Gemeindebesitz (Kirche, Straßen, Wälder, Allmenden), ungewöhnlichen Funktionen durch das dichte Netz der Kanäle (wateringen, ambachten) und einer entsprechend starken Selbstverwaltung. Eide sicherten den kommunalen Zusammenhalt 1 5 2 , der offenbar ähnlich gefestigt war wie in den Städten durch Koniurationen. Von diesem Introitus ausgehend mag eine Gliederung nach Räumen die Übersichtlichkeit erleichtern, was auch eine integrale Behandlung der ländlichen und der mit ihnen oft verbundenen städtischen Unruhen erlaubt. Frankreich (1) wird wegen der breiten Forschung etwas ausfuhrlicher behandelt, der Mittelmeerraum (2) kursorischer und Deutschland (das Reich) (3) mit einer Akzentuierung auf die jüngsten Forschungen, die ein höheres Problembewußtsein für die Gemeinde erkennen lassen. (1) Die französische Forschung teilt weitestgehend die Überzeugung, Unruhen seien kollektive Handlungen kooperierender Gemeinden, ob von politischen Gemeinden oder Pfarrgemeinden bleibt häufig unklar 1 5 3 . Das gilt gleichermaßen fur die nicht militant ausgetragenen (80%), wie auch für die kriegerischen Erhebungen (20%) 1 5 4 . Die Aufstände in Städten und auf dem Land, die im Spätmittelalter in Europa oft zeitgleich stattfanden, hatten ihre Organisationszentren in den Pfarreien, in der Stadt gelegentlich auch in den quartiers und Zünften 1 5 5 . Interessanterweise haben schon im 16. Jahrhundert französische Chroni-
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W . H . TEBRAKE, Revolt in Flanders, 119. „Solidarity whithin rural communities was expressed most forcefully, however, in the swearing o f oaths o f mutual aid and support". Ebd., 26. D a s rückt die flandrischen Gemeinden nahe an städtische coníurationes. D a s liegt zum Teil an der weitgehenden räumlichen und personalen Identität von politischer und kirchlicher Gemeinde, zum Teil a m bevorzugten soziologischen (nicht juristischen) Blick. Stark auf die Pfarrei bezieht die Unruhen EMMANUEL LE ROY LADURIE, Ü b e r die Bauernaufstände in Frankreich 1 5 4 8 - 1 6 4 8 , in: Ingomar B o g (Hg.) Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel, Festschrift für Wilhelm Abel, 1. Bd., Hannover 1974, 2 7 7 - 3 0 5 . - D a ß es gerade in Frankreich einer grundsätzlichen terminologischen Klärung bedarf, beschreibt CLAUDINE WoLIKOW, L a c o m m u n a u t é villageoise: débats et enjeux. Autour de Pierre de Saint J a c o b , in: Histoire et Sociétés Rurales 5 (1996), 3 5 - 4 7 [mit ausgezeichneter Bibliographie]. J . JACQUART, Sociologie de la contestation, 7 3 3 . M . MOLLAT - PH. WOLFF, Ongles bleus, 303f. - Für die Jacquerie ist die gemeindliche Basis umstritten. Vgl. FRANÇOIS-TOMMY PERRINS, L a démocratie en France au Moyen Age, tome 1, Paris 1873, 297f. - J . FLAMMERMONT, L a Jacquerie en Beauvaisis, in: Revue historique 9 (1879), 4 2 4 - 4 4 3 . - SLMÉON LUCE, Histoire de la Jacquerie d'après des documents inédits, Paris 1894, 46f.,51f., 6 3 [Für ein regional unterschiedliches Zusammengehen von Land und Stadt].- JACQUES D'AVOUT, Le meurtre d'Etienne Marcel, Paris 1960, 199f. [Zusammenarbeit von Bauern u n d Bürgern von Senlis].
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sten einen Zusammenhang zwischen dem deutschen Bauernkrieg und spätmittelalterlichen Revolten in Frankreich hergestellt und ausdrücklich in der Radikalität gegen die Herrenstände und in der kommunalen Basis die Gemeinsamkeiten gesehen. Zwischen 1425 und 1431 hätten sich „certaines communes" im Maconais unter dem ideologischen Prätext der Gleichheit (égalité) aller Menschen gegen „les gens d'Eglise & et la Noblesse" zusammengeschlossen, wie auch die „rustiques d'Alemaigne, esmeuz par leur chef Zuingle" 1 5 6 . Nebenbei wird hier eine scharfsinnige Interpretation hinsichtlich der reformatorischen Ausrichtung des Bauernkriegs geboten. Die ländliche Revolte des 16. und 17. Jahrhunderts „stellt eine besondere Form des Widerstandes der Gemeinde (communauté') gegen die fiskalische Aggression dar" 1 5 7 . Mit der Bezeichnung Steuerrebellion ist sie als eigener Typus von Unruhen in die europäische Revoltenforschung eingegangen. Kennzeichnend ist aber nicht nur ihr Anlaß, sondern auch ihre Organisationsform. Gemeindeweise (communautés entières) griff man zu den Waffen und gemeindeweise wählte man einen capitain, um in benachbarten Gemeinden zu werben 158 . Die Brutalität, mit der diese Auseinandersetzungen gefuhrt wurden, war auf beiden Seiten groß, indessen waren die Revolten räumlich beschränkt - auf die Bretagne, die Normandie und den Südwesten Frankreichs, wohingegen das Pariser Becken und die Pays d'États davon kaum betroffen waren 159 . Zwar kann man die Auffassung vertreten, zwischen 1660 und 1680 hätte die königliche Steuerverwaltung ihren Kampf gegen die renitenten Gemeinden gewonnen 160 , zumal seitdem die großen Steuerrebellionen ausblieben. Der über Heer, Verwaltung und Steuern modernisierte französische Staat hatte seine Bauern gelehrt, was Souveränität bedeutet. Dennoch lecken Ausläufer in das 18. Jahrhundert. Dabei handelt es sich verglichen mit den vorgängigen Unruhen um amorphe, von lockeren Gruppen, aber nicht mehr institutionell gefestigten Gemeinden getragene Aktionen, die sowohl gewaltsam als auch prozessual ausgetragen wurden 161 . Dennoch war damit das gesellschaftsverändernde Potential der französischen Bauern nicht geschwächt. Die Französische Revolution war nach dem Urteil der jüngeren For-
156
PIERRE DE SAINCT JULIEN DE BALLEURRE, D e l'origine des Bourgognons et Antiquité des Estats de Bourgogne, Paris 1581, 4 7 6 : „Iis [die Aufständischen, P.B.] pretendoyent vne equalité entre les h o m m e s , & pourtant la distinction d'estats n'estre receuable: & moins que les vns soyent seigneurs, & les autres ne facent rien".
J . - P . GUTTON, Sociabilité villageoise, 141. - Y.-M. BERCÉ, Croquants, 20FF. - R. PLLLORGET, Provence, lOOlf. [mit nachdrücklichem Hinweis darauf, daß die Unruhen mehrheitlich nicht nach außen gerichtet sind, sondern innerkommunale Konflikte darstellen], 1 5 8 Y.-M. BERCÉ, Croquants, und CH. JOUHAUD, Révoltes, 22. 1 5 9 CH. JOUHAUD, Révoltes, 31. 1 6 0 Y.-M. BERCÉ, Fête, 190. 1 6 1 CH. JOUHAUD, Révoltes, 31. - Detaillierter Beispielsfall bei JACQUES FRAYSSENGE - NICOLE LEMAITRE, Les émotions populaires en Rouergue au X V I I I e siècle, in: J . Nicolas, Mouvements populaires, 3 7 1 - 3 8 1 [Problemlage Waldnutzung] und DANIEL SOLARIAN, Mouvements contestataires de communautés agro-pastorales de H a u t e Provence au X V I I I e siècle dans le témoignage écrit et la mémoire colletive, in: ebd., 2 4 1 - 2 5 2 . 157
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schung auch eine „révolution paysanne", weil die Bauern eine zentrale Rolle bei der Zerstörung des Ancien régime spielten 162 . Einer der führenden Revoltenforscher Frankreichs, ROLAND M O U S N I E R , hat, seine Arbeiten summierend, die zentrale Bedeutung der Gemeindeversammlungen damit unterstrichen, daß sie sogar die Adeligen zwingen konnten, sich mit ihnen zu solidarisieren163. Auch die lokalen Amtsträger wechselten aus ihrer Rolle als Vertreter königlicher und seigneurialer Interessen mühelos in eine solche bäuerlicher Parteigänger, „weil sie in ihrer Gemeinde fest verwurzelt und hier besitzrechtlich verankert waren" 164 . Diese Urteile sind durch die zahlreichen nachfolgenden Detailarbeiten bestätigt worden. Wiederholt wird auf die „cellule communale" und auf die Solidarität auf dem „Niveau der Dörfer und der bäuerlichen Gemeinden" 165 abgehoben 166 , um die Unruhen zu charakterisieren. Die Urteile finden auch von ganz anderer Seite her eine Bestätigung. Gemeinden in Frankreich waren, wenn sie prozessieren wollten, seit dem 17. Jahrhundert gehalten, entsprechende Entscheidungen durch die Intendanten genehmigen zu lassen 167 . (2) Unstrittig ist der kommunale Charakter einer der größten europäischen Revolten, die 1520 und 1521 das Regiment des jungen Karls I. von Spanien (Karl V.) fundamental in Frage stellte 168 . Schon die zeitgenössische Benennung als Aufstand der Comuneros beziehungsweise Comunidades stellt diesen Zusammenhang deutlich her. Führend waren die 18 großen Städte Kastiliens, die nämlichen, die auch in der Ständeversammlung (cortes) vertreten waren. Die Bezeichnung Comunidad hat eine Innen- und Außenansicht. Nach innen handelt es sich - um ein deutschsprachiges Äquivalent zu wählen - um die Gemeinde, denn in den Städten Toledo, Segovia, Salamanca, Valladolid und Madrid wurden pfarrei- und quartierweise aus Versammlungen heraus Deputierte gewählt, die gesamthaft die munizipale Verwaltung übernahmen, nachdem man die königlichen Beamten (corregidores) aus der Stadt geworfen hatte. Nach außen präsentierte sie sich als Konföderation der Städte (Junta), die zwischen August und September 1520 von vier auf 13 Mitglieder anwuchs 169 . Damit war ein Machtanspruch verbunden, der terminologisch in der Selbstdefinition als Cortes
162
So die Ergebnisse der Referate von 1984 (vgl. J. Nicolas, Mouvements populaires) zusammenfassend J. JACQUART, Sociologie de la contestation, 733. An der Einschätzung Jacquarts lassen sich beispielhaft die Fortschritte der Forschung ablesen. Zehn Jahre zuvor hat er von der Niederlage und der Folgenlosigkeit der Rebellionen in Frankreich gesprochen. Vgl. J. JACQUART, Widerstandsbewegungen in Frankreich, 212-243 [zusammenfassend 241 f.], 163 R. MOUSNIER, Fureurs paysannes, 340f. 164 Y.-M. BERCÉ, Révoltes, 83. [Mit allerdings unhaltbaren Referenzen auf den deutschen Bauernkrieg, wo die Gemeinden von ihren Schultheißen bewaffnet worden sein sollen.] 165 L. LAVALLÉE, Soulèvements, 431. - Ä h n l i c h R. PLLLORGET, Bauernaufstände, 68f„ 78. 166 J.-P. GUTTON, Sociabilité villageoise, 143. - So auch fur Europa insgesamt Y.-M. BERCÉ, Révoltes, 190. 167 168
W. SCHMALE, Bäuerlicher Widerstand, 117ff. Monographisch zuletzt ST. HALICZER, Comuneros. - Knapper ereignisgeschichtlicher Überblick bei J. LYNCH, Spain 1, 39 -47. - Profiliert im europäischen Kontext durch P. ZAGORIN, Rebels and rulers 1, 2 5 3 - 2 7 4 .
169
Zur Terminologie ebd., 261f.
9.2
Ungehorsam - eine menschliche Tugend
259
zum Ausdruck kam, was rechtlich usurpatorischen Charakter hatte, denn Stände berief der König ein, sonst niemand. Symbolisch wurde Tordesillas zum organisatorischen Mittelpunkt der Comunidad gewählt, wo die gefangengesetzte Königinmutter Juana residierte. In einem förmlichen Akt wurde am 25. September 1520 eine Vereinigung und ewige Bruderschaft unta dem Namen Junta General (auch Santa Junta genannt) geschaffen, die sich eine geschriebene Verfassung gab. Ihr entsprechend führte ein Bundestag die laufenden Geschäfte, untergliedert in ministerienähnliche Kommissionen für Krieg, Verwaltung, Rechtspflege und Finanzen. In Artikelbriefen, die man präzisierend Wahlkapitulationen nennen muß, wurde König Karl aufgefordert, periodisch die Cortes einzuberufen, bei der Vergabe von Amtern das Indigenat zu berücksichtigen, den königlichen Haushalt zu konsolidieren (ohne Ämterkauf und Steuern) und Corregidores nur mit Zustimmung der Stadt einzusetzen 1 7 0 . Als Legitimationsgrundlage fur die praktischen Maßnahmen und die politiktheoretischen Konzepte diente in stramm republikanischer Manier der gemeine Nutzen (utilidad de la República) und die Freiheit. Im Erfolgsfalle wäre aus Spanien eine konstitutionelle Monarchie geworden, die an Modernität die englische Verfassung zügig überholt hätte. Die Revolte wurde jedoch am 23. April 1521 durch ein gut bewaffnetes Adelsheer von mehr als 8 000 Mann niedergeworfen. Der alte Gegensatz von Kommunalismus und Feudalismus ließ sich vitalisieren 171 , die Reaktion des Königs indessen war eher versöhnlich. Verständlicherweise vermißt man die mehr als 5 000 Städte, zu denen es dank königlicher Privilegierung im 15. Jahrhundert in Kastilien die ehemaligen Dörfer gebracht hatten. Aber möglicherweise ist auch ihr Fehlen einer unscharfen Optik geschuldet; auch von den massenhaften Stadterhebungen in Spanien wußte man noch vor 10 Jahren nichts. Vereinzelte Indizien ließen sich vielleicht durch neue Untersuchungen stabilisieren: Dueñas nahe Valladolid verjagte 1520 den Grafen von Bendia, das nahegelegene Nájera erhob sich gegen die tyrannische Herrschaft, die Bischofsstadt Palencia revoltierte unter dem Prätext einer ihr zustehenden Freiheit (libertad,) 172 . Der von Tommaso Anniello (Masaniello) in Neapel 1647 geführte, im europäischen Maßstab besonders brutale Aufstand brachte nicht nur die Unterschichten dieser Weltstadt (300 000 Einwohner) auf die Beine, sondern nach neueren Untersuchungen auch das Hinterland. Der spanische König mußte eine Flotte und 5 000 Soldaten nach Neapel schicken, um den Aufstand niederzuwerfen 173 . Den Bauern ging es darum, die ständig erhöhten indirekten Steuern auf landwirtschaftlichen Produkten rückgängig zu machen und die massiven Refeudalisierungen, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durch die spanische Krone Regest ebd., 263f. Die großen Linien dazu für das spätmittelalterliche Kastilien bei JULIO VALDEÓN BARUQUE, Movimentos anitsefioriales en Castilla en el siglo XIV, in: Cuardernos de historia 6 (1975), 357-390. Zur Vorgeschichte der Comuneros-Bewegung DERS., Señores y campesinos en la Castilla medieval, in: El pasado historico de Castilla y Léon, vol. I, Burgos 1983, 59-86. 172 Die Beispiele bei P . Z A G O R I N , Rebels and rulers 1, 255f. - fur die spätere Zeit P E D R O L . L O R E N Z O C A D A R S O , LOS conflictos populares en Castilla, siglos XVI-XVII, Madrid 1996. 173 P. Z A G O R I N , Rebels and rulers 1, 246-253. 170
171
260
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erfolgt waren, umzukehren 174 . ROSARIO VlLLARI hat den Aufstand sogar zum größten Bauernkrieg Europas im 17. Jahrhundert erklärt 175 . Allgemein wird die Revolte als amorph und wenig strukturiert geschildert - banditismo ist der dafür gebräuchliche Ausdruck 176 - , doch haben offenbar die ländlichen Kommunen mindestens insofern einen organisatorischen Rückhalt geboten, als von ihnen Beschwerdeschriften ausgearbeitet und Vertreter nach Neapel geschickt wurden. In der Tat hat es Versammlungen von Gemeinden (parlamento) und deren Repräsentanten {eletti, syndict) gegeben. Atena im Vallo di Diano, das zur Provinz Salerno gehörte, schickte eine Delegation mit einer Beschwerdeschrift (capi di gravami) von 43 Artikeln nach Neapel, unter denen die Befreiung von der Herrschaft des Marquis di Brienza herausragte; an ihre Stelle sollte eine unmittelbare Unterstellung unter den König treten 177 , wie sie viele Dörfer Spaniens kannten. Der Fall scheint verallgemeinerbar178. Das kommunalistische Organisationsmodell scheint sich fiir Italien insgesamt zu bewähren, auch in Mittel-und Oberitalien, das im Vergleich zu Frankreich von Unruhen wenig betroffen wurde. In den Aufständen um 1500 in Venedig und Pisa standen die städtischen und ländlichen Kommunen der Terraferma (Venedig) und des Contado (Pisa) auf Seiten der Metropole, um die Obrigkeiten in ihren eigenen Kommunen zu schwächen, anders gesprochen die autonomen politischen Anteile zu erweitern179. (3) Man mag ein legitimes abkürzendes Verfahren darin sehen, die Rolle der Gemeinde in Unruhen im Reich nicht in der gleichen Ausführlichkeit wie fur Frankreich zu beschreiben. Für die Stadt mag es hinreichend sein in Erinnerung zu rufen, daß schon OTTO BRUNNER die Unruhen in Städten als solche zwischen Gemeinde und Rat beschrieben hat, dies generalisierend für das ganze Reich und über alle Jahrhunderte hinweg, wenn auch modellhaft nur an Hamburg ausgeführt 180 . Die stadtgeschichtliche Forschung hat das seitdem durch Spezialuntersuchungen auf breiter Front bestätigt 181 . Für das Land ist die kommunale Basis besonders zwingend fiir den Bauernkrieg von 1525 herausgearbeitet worden 182 , von dem auch DAVID SABEAN seine These von der communal basis von Unruhen bezogen und dann fiir Westeuropa generalisiert hat. Seitdem sich die Forschung auf die Neuzeit erweitert hat, ließ sich diese Einschätzung breit absichern, obgleich das Wort Gemeinde, nicht anders als das Wort communauté in Frankreich, oft recht plakativ gebraucht wird. Nicht selten figu-
174
175 176 177 178 179 180
181 182
Zur Entwicklung Süditaliens unter spanischer Herrschaft überblicksmäßig A. Musi, Spanish Italy, 305-313. R. VlLLARI, Rivolta a Napoli. Ebd., 58fF. A. MUSI, Spanish Italy, 316f. R. ZAGORIN, Rebels and rulers 1, 251. A. K. ISAACS, Tuscany and Veneto, 291-304. OTTO BRUNNER, Souveränitätsprobleme und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, in: DERS., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 3 1980, 294-321. Zusammenfassend E. ISENMANN, Stadt, 190-198. Zuerst über eine Analyse der Zwölf Artikel durch ERNST WALDER, Der politische Gehalt der Zwölf Artikel der deutschen Bauernschaft von 1525, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 12 (1954), 5 - 2 2 [durch die spätere Forschung erweitert].
9.2
Ungehorsam - eine menschliche Tugend
261
riert auch eine Ansammlung von Dorfbewohnern als Gemeinde, was sie selbstverständlich nicht ist. Die nun schon eine gewisse Zeit in Deutschland andauernde Kommunalismus-Diskussion hat dazu gefuhrt, daß in jüngsten Arbeiten mit einem schärferen Bewußtsein die Verwendungsmodi von Gemeinde reflektiert werden. Damit läßt sich über die neuere Literatur genauer prüfen, was die Gemeinde für Unruhen bedeutet. In Regionen, in denen Gemeinden als lokalisierte, raumbezogene Korporationen nicht bestanden oder nur ansatzweise ausgebildet waren, sondern alte Hojverbände weiterbestanden, blieben Unruhen aus, jedenfalls bis ins 18. Jahrhundert. Das gilt beispielsweise fur die Saar. Erst 1766 kam es dort zu Unruhen in Form von Prozessen vor dem Reichskammergericht gegen Fürst Wilhelm Heinrich von Nassau-Saarbrücken wegen einer neu erlassenen Forstordnung und der damit drohenden Schmälerung der bäuerlichen Nutzungsrechte 183 . Bezeichnenderweise ruhte die Organisation auf sogenannten Höfen, vornehmlich dem Völklinger Hof, einem petrifizierten, aus dem Mittelalter in die Moderne hereinreichenden Villikationsverband. Der Raum an Saar und Mosel hat die mittelalterlichen Hofverbände, die in Wahrheit Gewährleistungsgenossenschaften zur Sicherung der herrschaftlichen Einkommen und Gerichtsrechte waren, nie beseitigt und sie nicht zugunsten von lokalisierten Gemeinden mit Selbstverwaltung ersetzt18^. Strukturell ähnlich organisiert war das Rhein-Maas-Gebiet. Dort bestand offenbar ein engerer Zusammenhang zwischen den Unruhen und der Ausbildung von Gemeinden im Sinne von kompakten Gebietskörperschaften. H E L M U T G A B E L legt Wert auf die Feststellung, daß sich der Widerstand aus der Gemeinde heraus aufbaute, und zwar aus der Ortsgemeinde. Gebildet aus Nachbarschaften und Hunschaften, löste sie sich im 17. Jahrhundert zunehmend von den alten (herrschaftsbezogenen) Gerichtsgemeinden (Höfe). Die Ortsgemeinden bildeten eigene Vorsteher, Bürgermeister, Hunschafts- oder Gemeindeverordnete aus. „Aus dem Kreis der letztgenannten [...] Personengruppe rekrutierte sich in der Regel die Führungsspitze der örtlichen Widerstandsbewegungen" 185 . Das heißt nicht, daß die vorgängige Gerichtsorganisation gänzlich bedeutungslos geworden wäre, erklärt aber vielleicht, weshalb in diesem Raum die Unruhen so überraschend spät auftreten. Aus dem Vergleich mit der jüngsten Arbeit über den Armen Konrad in Württemberg 1514 kann man lernen, was starke Gemeinden bedeuten und zu welch weitgehenden konzeptionellen politischen Entwürfen sie fähig waren 186 . Verkürzt man die Ziele des Armen 183
KLAUS RIES, Obrigkeit und Untertanen. Stadt- und Landproteste in Nassau-Saarbrücken im Zeitalter des Reformabsolutismus (Veröffendichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 32), Saarbrücken 1997. 184 1. EDER, Saarländische Weistümer. 185
H . GABEL, W i d e r s t a n d , 4 1 6 .
186
ANDREAS SCHMAUDER, Württemberg im Aufstand. Der Arme Konrad (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 21), Stuttgart 1998 [Für kommunale Verfassung 31-36, 162, fur die Ziele zusammenfassend 282]. - Gemeinde, Amt und territoriale Repräsentation fur Württemberg stark problematisierend ausgebaut bei Rosi FUHRMANN, Amtsbeschwerden, Landtagsgravamina und Supplikationen in Württemberg zwischen 1550 und 1629, in: P. Blickle, Gemeinde und Staat, 69-147.
262
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Konrad regestenartig, dann wollten alle Dörfer in Angleichung an die besonders hoch entwickelten ihr eigenes Gericht (und damit ihre eigene Verwaltung) und in der korporativen Verfaßtheit eine Repräsentation im württembergischen Landtag. Insgesamt läuft ein breiter Korridor mit korporierten Gemeinden und entsprechend intensiven Unruhen an der Westflanke des Reiches von der Schweiz 187 bis in die Niederlande 188 , der nur dort unterbrochen wird, wo die Transformation alter, personenbezogener Villikationsverbände in ortsbezogene Kommunen nicht stattgefilinden hat. Neuerdings sind bei Arbeiten, die sich auf Unruhen des 18. Jahrhunderts richten, Faktionierungen und Parteiungen stärker ins Bewußtsein getreten, die ein interessantes Vergleichsstück zu den sich zeitgleich herausbildenden Parteien im Reichstag von Schweden darstellen. Offenbar drängten jetzt Weltanschauungen, der Seinsgrund des modernen Parteienwesens, in den Vordergrund und verdrängten die älteren kommunalen Solidaritäten. Die „Unruhigen" und die „Ruhigen", die „Harten" und die „Linden" sitzen jetzt im gleichen Dorf, aber nicht mehr am selben Tisch im Wirtshaus. Aber selbst in diesen Fällen waren starke, autonome Gemeinden die vorgängige Schule, durch welche die Rebellen gegangen waren 189 . Insgesamt bekräftigen diese Untersuchungen den interdependenten Zusammenhang von politisch verfaßten Gemeinden und politischen Aktivitäten von Bauernschaften und Bürgerschaften 190 . Was DAVID SABEAN als Hypothese formuliert hat, kann heute als befestigte und konsensfähige These gelten. In der jüngsten zusammenfassenden Darstellung europäischer Bauernunruhen durch HUGUES NEVEUX hat dieser Sachverhalt die abschließende Formulierung gefunden, Unruhen drückten sich aus „dans et par la communauté ou les associations de communautés villageoises"191. Allerdings ist einzuräumen, daß Unruhen auch ohne ein formiertes Subsystem von korporierten Gemeinden entstehen konnten. Das gilt nicht nur für England und Rußland, son-
NLKLAUS LANDOLT, Untertanenrevolten und Widerstand auf der Basler Landschaft: im 16. und 17. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons BaselLandschaft 56), Liestal 1 9 9 6 , 1 0 8 - 1 2 5 , 7 0 5 . 1 8 8 Vgl. JAMES D. TRACY, Holland under Habsburg Rule 1506-1566. The formation of a Body Politic, Berkeley-Los Angeles-Oxford 1990. 1 8 9 DAVID MARTIN LUEBKE, His Majesty's Rebels. Communities, Factions, and Rural Revolt in the Black Forest, 1725-1745, Ithaca-London 1997. - A. WÜRGLER, Unruhen, 55f., 198. - Vgl. frühe Hinweise in meinem Aufsatz: Bäuerliche Rebellionen im Fürststift St. Gallen, in: Peter Blickle Peter Bierbrauer - Renate Blickle - Claudia Ulbrich, Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, 290f. 1 5 0 Der Zusammenhang ließ sich auch an Räumen belegen, die für die Ausarbeitung des Kommunalismus-Konzepts nicht im Detail herangezogen wurden. Das gilt namentlich fur Böhmen, Tschechien und Ungarn. „Einer der Hauptgründe" fur den Ausbruch des ungarischen Dózsa-Aufstands von 1514 war „ein allgemeiner Sturm der Grundherren auf die Privilegien der Marktflecken". Vgl. P. GUNST, Ungarn, 12-Perspektivenreich das Ereignis selbst ausgeleuchtet in den versammelten Aufsätzen bei Gustáv Heckenast (Hg.), Aus der Geschichte der ostmitteleuropäischen Bauembewegungen im 16.-17. Jahrhundert, Budapest 1977. 1 5 1 H . NEVEUX, Révoltes en Europe, 194. - Neveux selbst will aber andere Organisationsformen (clan) nicht ausschließen. Ebd., 201-210. 187
9.3
Gravamen und Gesetz - Kommune und Parlament
263
dem beispielsweise auch für Finnland, Estland und Kardien. Der koloniale Status, unter dem namentlich Karelien (Käkisalmi, Ingrid) nach der Abtretung Rußlands 1617 an Schweden litt, verhinderte offenbar kommunale Strukturen und erzwang zur Organisation des Aufstandes von 1696 spontane Versammlungen (tuuma, dumd), die in der lokalen manorähnlichen Verwaltung keine Wurzeln hatten, sondern illegal organisiert wurden 192 . Allenfalls die Pfarreien konnten offenbar die politischen Gemeinden ersetzen, dies allerdings nur durch die zentralörtliche Funktion der Kirche (Versammlungsplatz)193. Der fraktionierte Kommunalismus, der in Skandinavien generell in der funktionalen Aufteilung zwischen Amt und Pfarrei zu beobachten ist, hat sich auch auf den Charakter der Unruhen ausgewirkt.
9.3
GRAVAMEN UND GESETZ - K O M M U N E UND PARLAMENT
Der moderne Parlamentarismus stellt die Universalisierung des englischen Modells dar. Das Parlament in London hat seit seinem Entstehen vor nunmehr 800 Jahren zwei Transformationsprozesse durchlaufen, die langsame Entfeudalisierung der beiden Häuser und die behutsame soziale Verbreiterung des aktiven Wahlrechts. Die politische Repräsentation in England begünstigte sozusagen einen politischen Individualismus, denn das Recht auf Repräsentation hing an einem königlichen Lehen (house of lords) oder an einem qualifizierten Besitz (freehold), der wiederum im Obereigentum der Krone stehend gedacht war. Nur Personen, die auf solche Weise qualifiziert waren, konnten selbst oder auf dem Weg der Delegation politische Rechte wahrnehmen. Dem englischen Modell des Parlamentarismus geht jede republikanische Beimischung ab 194 . Das gewissermaßen gegenläufige Modell eines modernen Parlaments hat Schweden im Reichstag ausgebildet. Das Lehenswesen war in Skandinavien immer äußerst schwach, wenn nicht überhaupt von den regierenden Dynastien, die zumeist aus dem Reich kamen, importiert. Das Repräsentationsprinzip Schwedens teilt lediglich fiir die Adelskurie die Kriterien Englands, ansonsten war es eine Vertretung von Kommunen. Folglich verdient es im Vergleich mit England die Bezeichnung republikanisch. Die Delegierten im schwedischen Reichstag vertraten nicht Interessen einer personal kleinen Gruppe von Personen wie die Mitglieder des englischen Unterhauses (aktives Wahlrecht 3%), sondern die Interessen von Korporationen und über sie vermittelt in viel höherem Maße solche des Volkes (aktives Wahlrecht 50%) 195 . Schweden hat am ehesten das Problem aller Theoretiker des Republikanismus von Machiavelli bis Rousseau gelöst: Wie lassen sich die Normen eines republikanisch-freistaatlichen Lebens, das den Menschen eine aktive Beteiligung am politischen Leben sichert, auf
192
1 9 3
194 195
K. KATAJALA, Nälkakapina, 4 4 3 [zusammenfassend]. - Für Estland KALERVO HOVI, Viron vuoden 1 5 6 0 talonpoikaiskapinan luonne, in: Faravid 2 (1978), 1 7 7 - 1 8 3 . K . K A T A J A L A , Nälkakapina, 4 4 7 . Für die theoretische Diskussionsebene J. G. A. POCOCK, Machiavellian Moment, 3 6 1 - 4 0 0 . Die Zahlen in Bezug auf das 18. Jahrhundert. Y. Blomstedt, Administrasjon, 3 7 5 .
264
9
MONARCHISCHE HERRSCHAFT UND KOMMUNALE GESELLSCHAFT
große Flächenstaaten übertragen? Durchschlagende Politiktheorien hat das schwedische Modell nicht evoziert, jedenfalls sah sich im 19. Jahrhundert kein Land in Europa veranlaßt, ihm gegenüber der englischen Variante den Vorzug zu geben. Damit wurde aber auch eine kontinentale Tradition abgeschnitten, die in der kommunalen Repräsentation in den Reichstagen und Landtagen der europäischen Königreiche, Länder und Provinzen bestanden hat. Zu den definitorischen Merkmalen, die das Alte Europa mit der modernen (westlichen) Welt verbindet, gehört zweifellos der Parlamentarismus. Wenn das alteuropäische Ständewesen vom modernen Parlamentarismus sauber getrennt wird, ist das nicht allein der begrifflichen Klarheit geschuldet, sondern auch einer Scheu, allgemeine Kategorien zu bilden. RICHARD LÖWENTHAL hat diesen Zusammenhang mit der Uberzeugungskraft der einfachen Erklärung brillant vermittelt. Parlamentarismus und Ständewesen verbindet, gleichgültig, ob es „Kontinuität des Verlaufs" gibt oder nicht, eine „Kontinuität der Prinzipien". Darunter versteht Löwenthal das „Prinzip der Repräsentation" und das „Prinzip des institutionellen Pluralismus". In der Repräsentationsidee „ist der Gedanke enthalten, daß zur Legitimität der Regierung der Konsens der Regierten zu Regierungsform und Regierungsentscheidungen gehört und daß dieser Konsens durch Repräsentation vermittelt wird". Institutioneller Pluralismus ist gegeben, weil Interessen zu verfolgen als berechtigt anerkannt ist, es also eine „Legitimität der Teilinteressen" gibt. Die Teilinteressen vertreten in den alten Parlamenten die Stände (Kurien), in den modernen die Parteien19