Deutsche Poetik: Band 2 [2. Aufl. Reprint 2020]
 9783112377024, 9783112377017

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Deutsche Poetik. Theoretisch-praktisches

Handbuch der deutschen Dichtkunst. Nach den Anforderungen der Gegenwart von •

Prof. Dr. C. Beyer. Zweite Auflage.

Kweiter- Wand.

Stuttgart. G. I. Göschen'sche Verlagshandlung. 1887.

L. Hofbuchdruckerei Lu Guttenberg (T. Grüuinger) in. Stuttgart.

Vorwort. Der vorliegende zweite Teil meiner deutschen Poetik, auf den bereits die Vorrede zum ersten Band Bezug nehmen mußte, enthält im

engen Anschluß an die im ersten Band abgehandelte Vers- und Formen­ lehre die vollständige Lehre von den Gattungen der Poesie und

vollendet somit den Auf- und Ausbau

einer Wissenschaft der

deutschen Poetik vom Standpunkte der Gegenwart. Schon eine flüchtige Durchsicht desselben wird ergeben, daß es

dem Verfasser nicht nur darum zu thun war, Wesen, Begriff und Ge­ setz rc. der einzelnen Dichtungsgattungen vollständig klar zu legen,

sondern auch den Feinheiten in der Technik rc. nachzugehen, alle auf

die innere Struktur bezüglichen Gesichtspunkte zu markieren und der auszubauenden Poetik neue, fruchtbare Gebiete zu erschließen.

Ins­

besondere wurde auch eine wissenschaftlich zuverlässige Darlegung der

Entstehung und Entwickelung (d. i. der Geschichte) sämtlicher Dichtungs­ arten erstrebt, um eine enge Verbindung der Poetik mit der Litteratur­

geschichte auch durch diesen Band herzustellen.

So wurde es möglich, die das weite System der Poetik bildenden Lehrsätze abzuleiten und anzuordnen, und neue, nicht geahnte Gesichts­

kreise zu

erschließen, so daß kaum eine Seite in diesem Werke sich

finden dürfte, welche nicht Neues, Interessantes, litterarhistorisch Wert­

volles böte. Man vgl. beispielshalber nur die, eine vollständige Dra^ maturgie ergebenden §§ 20—43, 149—177 rc., ferner jenen, den Be­

griff der didaktischen Poesie darstellenden Abschnitt, dir Paragraphen über

IV Romanze und Ballade, Travestie und Parodie, Volksepos und Kunst­ epos, Roman und Novelle, Drama und dramatisches Gedicht, sowie insbesondere auch die zum erstenmal abgehandelten musikalisch drama­

tischen, wie musikalisch kirchlichen Formen, welche in einer hoffentlich auch den speziellen Forscher und Musiker befriedigenden Vollständigkeit diesem Teil einverleibt sind und deren Charakteristisches (z. B. von Singspiel und Vaudeville, Kantate und Oratorium, Oper und Musik­ drama, Operette und Schauspiel mit Musik rc.) eingehend dargelegt werden konnte. Erleichtert wurde das Streben des Verfassers durch das Ent­ gegenkommen hervorragender Fachgelehrten und namhafter Dichter, welche Privat- wie öffentliche Bibliotheken erschließen halfen und mich mehr oder weniger bei den Korrekturen unterstützten. Dankbar er­ wähne ich besonders den aus meinen Rückertbüchern wohlbekannten Rückertfreund Karl Putz, den musikalischen Schriftsteller und Hofkapellmeister Max Seifriz, den 1. Custos der k. k. Hofbibliothek

Dr. Faust Pachter, Hofrath Dr. v. Zoller, Geh. Hofrath Dr. v. Wehl, Rektor Dr. Blancke, Gymnasialdirektor Dr. Authenrieth, Professor Dr. Siebenlist-Preßburg, Viktor v. Scheffel, Professor Dr. Joh. Minckwitz, Bibliothekvorstand Professor Dr. Wintterlin u. a. Er­ freulich war auch am Ende meiner langjährigen Arbeit im Dienste eines für unsere ganze Kultur bedeutungsvollen Unternehmens die ausnahmslos anerkennende Beurteilung derselben seitens der geachtetsten Kritik, die wärmsten schriftlichen und mündlichen Beifallsäußerungen von den ersten Dichtern unserer Nation und unvermutete Auszeich­ nungen poesiekundiger Fürsten, welche die Dichtkunst mehrfach för­

derten und in ihren Trägern ehrten. Indem ich dem deutschen Publikum den vorliegenden zweiten Band darbiete, hege ich den Wunsch, daß demselben eine gleich wohl­ wollende Aufnahme zu teil werden möge, und somit das ganze Werk erkannt werde: als Vereinigung alles, seit Aristoteles, Horaz und Opitz auf den Gebieten der Poetik Gebotenen; als ein zuverlässiges Quellenwerk und Nachschlagebuch für den Litterarhistoriker; als ein Hülfsbuch für den Dichter; als ein Lernbuch für den studierenden Jüngling und die bil­ dungsuchende Jungfrau; als ein allseitiges, umfassendes Handbuch deutscher Poesie für den Lehrenden wie für den

gebildeten Laien; als ein Beitrag zur Einführung in die deutsche Litteratur; als ein Führer, welcher imstande sei, der Formlosigkeit zu steuern und manchen begabten, in den Fesseln materialistischer oder pessimistischer Weltanschauung schmachtenden Musenjünger aufzurütteln zu einem durch die Kunst motivierten Idealismus und zu ewig währenden idealen Dichterthaten. Stuttgart, am Geburtstage Goethes 1882.

Dr. C. Geyer.

Znhalts-VerMchnis. Deutsche Poetik.

Zweiter Teil.

Aie AicHLungsgcrLLurrgerr. Tiniettung.

Charakter der Poesie und Einteilung derselben. Seite

1. Objektive und subjektive Poesie.................................................................... 2. Bolkspoesie und Kunstpoesie.......................................................................... 3. Einteilung der Poesie in klassische,romantische und moderne Poesie. 4. Einteilung der Poesie nach Stoffund Form.......................................... (Lyrische, didaktische, epische und dramatische Poesie) .... 5. Einteilungsschema der Poesie....................................................................

§ § § § §

1 2 6 7 7 9

Erstes Hanptstnck: Leariff und Umkreis von Lyrik, Didaktik, Epik nnd Dramatik. I. § 6. § 7. § 8. § 9. § 10. § 11. § 12.

II.

§13. § 14. § 15.

16. 17. 18. 19.

Didaktik.

Begriff des didaktischen Gedichts und der didaktischen Poesie ... 18' Schiller und Rückert als Begründer einer echten didaktischen Poesie: der Gedankenlyrik; ferner das Gesetz der Didaxis......................................... 20 Der Didaktiker ein wahrer Dichter............................................................... 23 III.

§ § § §

Lyrik.

Begriff der Lyrik.......................................................................................................10 Stoffe der Lyrik; das lyrische Gedicht —Gelegenheitsgedicht ... 11 Eigenart des Lyrikers............................................................................................12 Anforderungen an den Lyriker.......................................................................... 13 Das paläontologische (primitive) Element der Lyrik..................................... 15 Umfang des lyrischen Gedichts.......................................................................... 16 Stil im allgemeinen, und Stil der Lyrik.................................................... 16

Epik.

Begriff deQ Epik...................................................................................................... 24 Anforderungen an den Epiker.......................................................................... 24 Geschichtliche Stellung und Entwickelung der Epik................................... 25 Epischer Stil..................................................................................................... 26 Proben des epischen Stils........................................................................... 27

VIII IV. § § § § § § § § § § § § § §

20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.

§ 34. § 35. § 36.

§ § § § § § §

37. 38. 39. 40. 41. 42. 43.

Seite Begriff der Dramatik........................................................................................... 29 Handlung, Fabel und Charaktere im Drama.............................................. 31 Das Lyrische und Epische im Drama. Die Episoden.............................. 32 Anforderungen an die Handlung...................................................................... 33 Die Aristotelische Forderung an das Drama.............................................. 35 Die handelnden Personen (Charaktere). Der Held................................... 36 Stoff des Drama................................................................................................ 37 Idee des Drama, Idealisieren, Ideale.......................................................... 38 Tendenz des Drama...........................................................................................40 Das Motivieren im Drama................................................................................ 41 Aktion und Reaktion im Drama. Seine Dreiteilung............................. 41 Teile des Drama und Umfang desselben....................................................42 Inhalt der Akte. Prolog/ Epilog.............................................................. 43 Schema für den Bau des Drama und Beispiele der Bauart... 46 Beispiele für den Bau ganzer Drarnen.................................................. 47 Gesetze, Regeln, innere Beziehungen und Feinheiten im Bau des Drama 47 Hamlet als Beispiel des Baues eines Drama.............................................. 49 Auftritt, Scene und Scenenwechsel in der dramatischen Dichtung . 51 Monologscenen, Dialogscenen, Botenscenen............................................52 Liebesscenen, Ensemblescenen.......................................................................... 53 Maffenscenen...................................................................................................... 54 Monolog und Dialog in den dramatischen Dichtungen............................. 54 Sprache und Form des Drama.................................................................... 54 Anforderungen an den dramatischen Dichter im allgemeinen ... 56 Aufführbarkeit der dramatischen Dichtung....................................................58 Die Dekoration bei Aufführung der dramatischen Dichtung ... 59 Die Aufgabe der Schauspieler bei Vorführung der dramatischen Dichtung 59 Erfolg der dramattschen Dichtung.................................................................... 61

V. § 44. § 45. § 46. § 47.

Dramatik.

Übergänge -er Gattungen der poeste.

Einteilung der Übergangsformen.................................................................... 62 Darstellung der häufigsten Übergangsformen . ."...................................63 Genesis und historische Verbindung der Dichtungsarten..... 64 (Eine historisch-philosophische Betrachtung im Umriß.) Übersichtstafel sämtlicher poetischer Formen................................................... 68

Zweites Hauptstiick: Die lyrischen Dichtungen. § 48.

Einteilung der lyrischen Dichtungen.............................................................. 70

I. Formen ruhiger Empfindung. Das Lied und seine Formen.

§ 49. § 50.

Begriff und Einteilung..................................................................................... 71 Anforderungen an das Lied im allgemeinen............................................. 72

IX BoMied. Seite

§ 51. § 52.

§ 53. § 54. § 55.

§ § § §

56. 57. 58. 59.

Begriff, Charakter und Dichter des Bollsliedes.........................................73 Das Volkslied als Beweis besonderer deutscher dichterischer Naturanlage und poetisch-schöpferischer Bolkskrast......................................78 Das Volkslied als Naturpoesie........................................................................... 81 Geheimnisse in der Bildung des Volkslieds ............................................... 82 Einteilungsversuch der Volkslieder..................................................................... 87 Beispiele des Volksliedes................................. 91 Wanderung durch die geographischenBezirke des BoMieds ... 94 Das geistliche Volkslied...................................................................................... 95 Zur Geschichte und Litteratur des Volksliedes...............................................96 Das Volkslied der letzten Decennien............................................................... 98

Kunstlied. § 60. § 61.

Mission des Kunstliedes...................................................................................... 99 Einteilungsprinzip Hes Kunstliedes................................................................... 100 Formen des Kunstliedes. Weltliches Lied.

§ 62. § § § §

63. 64. 65. 66.

§ 67. § 68.

Das Vaterlandslied unddas Bardiet.......................................................... 101

Das Bardiet.................................................................................................... 103 Das Naturlied.................................................................................................... 107 Minne- oder Liebeslieder .............................................................................. 109 Das komische Lied.............................................................................................. 113 Das gesellige Lied...............................................................................................116 1. Gesellschaftliches Lied........................................................................... 116 2. Anakreontisches Lied ................ ...........................................................117 3. Skolion.................................................................................................. 118 Elegisches Lied....................................... 119 Idyllisches Lied.....................................................................................................122 Geistliches Lied.

§ 69.

Geistliches oder andächtiges Lied...................................................................123 1. Das religiöse Lied.................................................................................123 2. Das Kirchenlied........................................................................... 125

§ 70.

Die verschiedenen Formender Begeisterungslyrik und das Gemein­ same derselben 132 Die Ode............................................................................................................... 134 Die lyrische Rhapsodie.........................................................................................139 Hymnus (Hymne)................................ 141 Dithyrambus......................................................................................................... 145 Elegie..................................................................................................................... 146 Nänie..................................................................................................................... 152 Nottz über die Lyrik aller Litteraturen........................................... . 153 Anthologien und Hilfsmittel........................................................................ 157

II.

§ § § § § § §

71. 72. 73. 74. 75. 76. 77.

Lyrik der Begeisterung.

X

Drittes Hauptstück: Die didaktischen Dichtungen.

Seite § 78. Einteilung der didaktischen Dichtungen........................................................ 159 I.

§ 79.

Symbolische Didaktik.

Fabel............................................................................................................ 160 a. Tierfabel...........................................................................................163 b. Fabel,die leblose Gegenstände redend einführt......................... 164 Parabel............................................................................................................ 167 Paramythie.................................................................................................. 171 Sinnbild....................................................................................................... 174 Allegorie....................................................................................................... 175 Rätsel............................................................................................................. 179 a. Das Worträtsel................................................................................ 179 b. Charade oder Silbenrätsel........................................................... ISO c. Logogriph..................................................................................... 181 d. Anagramm..................................................................................... 182 e. Palindrom (Doppelrätsel)........................................................... 183 f. Die Homonyme........................................................................... 184

§ § § § §

80. 81. 82. 83. 84.

§ § § §

85. 86. 87. 88.

Satire.............................................................................................................185 Travestie....................................................................................................... 191 Parodie............................................................................................................ 193 Humoristische Dichtungen .............................................................................. 195

§ § § § § § § § § § §

89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99.

Die ideale Gedankenlyrik............................................................................. 200 Kulturhistorisches Gedicht............................................................................. 203 Sinngedicht oder Epigramm........................................................................ 203 Die Priamel oder der Schnepper..............................................................207 Semen............................................................................................................. 209 Gnome.............................................................................................................210 Epistel............................................................................................................ 212 Heroide. . ......................................................................................................215 Kurze lyrisch-didaktische Formen.................................................................. 218 Wirkliches Lehrgedicht.................................................................................. 219 Großes Lehrgedicht....................................................................................... 222

II.

Lehrgedichte mit besonderer Tendenz

III.

Eigentlich didaktische Gedichte.

Viertes Hauptstück: Dir epischen Dichtungen. § 100.

I. § 101.

Einteilung der epischen Poesie

............................................................. 227

Aus dem Leben der Wirklichkeit — dem Erlebnisse — erblühende epische Gattungen.

Poetische Erzählung.................................................................................. 228 1. Humoristische poetische Erzählung................................................. 229 2. Ernste poetische Erzählung........................................................... 230

XI Seite

§ 102. § 103. § 104.

Epische Rhapsodie (erzählende Rhapsodie)................................................... 231 Die Idylle......................................................................................................... 231 Beschreibendes Gedicht................................................................................... 236

n. Aus der Sagenwelt (der Überlieferung) schöpfende epische Gattungen. § 105. § 106. § 107.

8

108. § 109.

§ § § § §

110. 111. 112. 113. 114.

§ 8

115. 116. 117. 118. § 119.

§ 120.

§ 121.

§ 122.

Die Sage......................................................................................................... 240 Mythus............................................................................................................... 246 Legende............................................................................................................... 250 «. Ernste Legende ................................................................................... 251 ß. Komische Legende................................................................................... 252 Das Märchen.................................................................................................... 253 Romanze und Ballade................................................................................... 262 1. Allgemeines, Gemeinsames und Unterscheidendes zur Begriffs­ begrenzung von Romanze und Ballade................................. 263 2. Die Romanze. Romaneska. Romancero.......................................264 3. Die Ballade......................................................................................... 268 Epos — Epopöe oder Heldenlied.................................................................. 274 Einteilung des Epos und Geschichtliches.................................................. 279 Die Bolksepen....................................................................................................282 Aufzählung sämtlicher Bolksepen.................................................................. 283 Analyse sämtlicher Bolksepen nach Inhalt, Konzeption, Ausführung rc. 1. Die klassischen Bolksepen der Griechen: Ilias und Odyssee . 283 2. Die indischen Nationalepen: MahLbhLrata und RLmlljana . 285 3. Die deutschen Bolksepen: Mbelungen, Gudrun rc........................... 289 4. Die Bolksepen der Finnen, Esten und Lappen............................291 a. Das finnische Bolksepos KalekvLla............................................ 291 b. Kalewipoeg......................................................................................... 294 c. Das Bolksepos der Lappen....................................................... 297 Gemeinsame Ausgangspunkte od. Bergleichsmomente sämtl. Bolksepen 300 Die Kunstepen....................................................................................................302 Charakteristische Gruppen oder Arten des Kunstepos........................... 304 Altromantisches oder höfisches Epos............................................................. 304 Vorführung der altromantischen Epen....................................................... 306 1. Parzipal................................................................................... - - . 307 2. Tristan und Isolde............................................................................. 308 3. Jwein.................................................................................................... 311 4. Rolandslied.............................................................................................. 313 5. Der rasende Roland..............................................................................315 Das neuromantische Epos............................................................................. 317 1. Wielands Oberon................................................................................... 317 2. Ernst Schulzes Cäcilie........................................................................317 3. „ „ Bezauberte Rose....................................................... 318 4. Kinkels Otto der schütz........................................................................ 319 5. Redwitz' Amaranth .............................................................................. 320 6. Hofmanns von Nauborn Ritter Konrad Beyer von Boppard 320 Das religiöse Epos.................................... 322 1. Die Messiade von Klopstock............................................................. 322 2. Die göttliche Komödie von DanteAlighieri................................... 323 3. Das verlorene Paradies von Milton............................................ 323 Das idyllische Epos (Eidyllion)................................................................ 325 1. Luise von Boß.........................................................................................325 2. Jukunde, von Theobul Kosegarten.................................................. 326 3. Hannchen und die Küchlein, von Eberhard........................... - 326 4. Hermann und Dorothea, von Goethe............................................ 327

XII Seite

§ 123.

§ 124.

§ 125.

III.

§ § § § § § § § § § § § §

126. 127. 128. 129. 130. 131. 132. 133. 134. 135. 136. 137. 138.

Das historische Epos (Heldenepos)........................................................ 329 1. Das Schah-Nameh des Firdusi....................................................... 329 2. Rostem und Suhrab, von Rückert.................................................. 331 3. Vergils Äneis......................................................................................... 332 4. Das befreite Jerusalem, von Torquato Tasso............................ 333 5. Die Lusiaden des Camoens.............................................................. 334 6. Scherenbergs historische Epen.............................................................. 335 Das komische, humoristische, satirische Epos............................................. 337 1. Die Eselsjagd, von Fritz Hofmann.................................................. 337 2. Nibelungen im Frack, von Anastasius Grün................................. 339 3. Tulifäntchen von Karl Jmnrermann.............................................340 Das Tierepos..................................................................................................... 342 1. Reineke Fuchs, von Goethe............................................................. 342 2. Rollenhagens Frosch-Meuseler............................................................. 344 3. Der Muckenkrieg, von H. C. Fuchs.................................................. 345

Dem Leben der Wirklichkeit nachgebildete prosaische Gattungen. Roinan und Novelle. Begriff, Verbreitung und Bedeutung des Romans................................. 347 Verhältnis des Romans zum Epos............................................................. 349 Verhältnis des Romans zum Drama.................................................. 350 Stoff des Romans......................................................................................... 352 Idee des Romans................................. 353 Bau des Romans ......................................................................................... 356 Der Held des Romans....................................................................................356 Die übrigen Charaktere des Romans........................................................ 359 Das Idealisieren im Roman.........................................................................360 Charakteristisches in der Technik unseresRomans.................................... 361 Stilgesetze des Romans.................................................................................... 362 Ästhetische Anforderungen an den Roman ......................................... 364 Grundlage des guten deutschen Romans derNeuzeit.............................. 366

Arten des Romans. § § § §

§ § I § § §

139. Einteilung der Romane nach Jean Paul................................................... 367 140. Einteilung nach Form und Inhalt.............................................................. 367 141. Einteilung in Tendenzromane und Stoffromane.................................. 371 142. Unsere Einteilung der Romane................................................................... 372 1. Der historische Roman....................................................................... 372 2. Der philosophische Roman.................................................................. 374 3. Der moderne Roman....................................................... 374 4. Der volkstümliche Roman oder die Dorfgeschichte .... 375 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich charakteristische Stilproben . ..... ............................................................. 375 144. Zur Geschichte und Litteraturdes Romans.....................................381 145. Novelle...................................................................................................... 388 146. Anforderungen an die Novelle, wie an denNovellisten .... 390 147. Beispiele lesenswerter Novellen und charakteristischeStilproben . . 391 148. Litteratur der Novelle......................................................................... 399

XIII Fünftes Hauptstück: Die dramatischen Dichtungen. Seite § 149.

Einteilung der dramatischen Poesie............................................................ 403

§ 150. § 151.

Monolog............................................................................................................. .404 Dialog.............................................................................................................. 406 1. Lyrischer Dialog..................................................................................407 2. Didaktischer Dialog............................................................................ 407 3. Epischer Dialog..................................................................................408 4. Dramatischer Dialog............................................................................ 409 Dramatisierte Begebenheit (Dramolet)........................................................ 410

I.

§ 152.

Formell dramatische Gedichte.

II. § § § § § § § § § §

§ § § §

§ § § § § § § § §

§ § §

Eigentliche Dramen.

Einteilung und Benennung der eigentlichen Dramen........... 413 Das dramatische Gedicht............................................................. 413 Tragödie — Trauerspiel . ............................................................................ 421 Der Held der Tragödie................................................................... 425 Die poetische Gerechtigkeit..............................................................428 Eigenartiges in der Technik der Tragödie................................. 431 Die griechische Tragödie im Vergleich mit der unserigen.... 434 Die Technik der Tragödie an Schillers Wallenstein prakttsch erläutert 439 Verschiedene Benennung und Einteilung der Tragödien.... 449 Unsere Einteilung der Tragödie nebst Begründung ........................... 450 1. Sagenhaft-heroische (altklassische)Tragödien................................ 450 2. Philosophische Tragödien............................................................... 451 3. Geschichtliche oder heroischeTragödien............................................451 4. Bürgerliche Tragödien..................................................................... 452 5. Schicksalstragödie................................................................................ 454 163. Litteratur und Entwickelung der Tragödie. Der griechische Chor. Analysen der wichtigsten Tragödien aller Völker................456 164. Schauspiel (Drama)......................................................................................... 465 165. Einteilung der Schauspiele.............................................................................. 466 166. Litteratur des Schauspiels nebst Analyse und Würdigung hervor­ ragendster Schauspiele.............................................................. 468 167. Komödie oder Lustspiel................................................................................... 475 168. Anforderungen an die Handlung im Lustspiel...................................... 478 169. Einteilung der Lustspiele nach derStoffquelle . ................................... 479 170. . Einteilung der Lustspiele nach denLebenskreisen des Helden, sowie nach ihrer Tendenz und Herkunft.............................................................481 171. Einteilung nach Entwickelung und Verwickelung, sowie das Ideal eines deutschen Lustspiels ................ ............................................ 483 172. Einteilung nach Form und Ausdehnung................................................. 484 173. Posse, Lokalposse, Zauberposse, Schwank................................................... 485 174. Die Tierkomödie.............................................................................................. 488 175. Verschiedenartige Benennungen bestimmter dramatischer Gattungen und ungewöhnliche Namen einzelner dramatischer Dichtungen . . 490 176. Parodistische und travesüerende Dichtungen verschiedener dramatischer Gattungen......................................................................................... 491 177. Litteratur der Komödie und Angabe von Proben................................ 493 178. Verzeichnis dramatischer Autoren, Sammlungen von Dramen aller Arten, Übersetzungen und Quellenschriften............................ 500 153. 154. 155. 156. 157. 158. 159. 160. 161. 162.

XIV III. MusckaUsch-dramatisch-weltUche und kirchUch-musikaUsche Formen. § 179.

Seite Einteilung dieser Formen............................................................................ 503 I.

§ § § § § § § § §

180. 181. 182. 183. 184. 185. 186. 187. 188.

§ § § §

189. 190. 191. 192.

Mustkatisch-dramatisch-weltUche Formen.

Das Melodrama.............................................................................................. 503 Das Vaudeville und das Sing- oder Liederspiel................................ 505 Das Schauspiel mit Musik............................................................................. 507 Die Oper im allgemeinen. Begriffliches . . . ...................................508 Die ernste (große) Oper in Deutschland . . ...................................509 Die komische Oper in Deutschland.............................................................510 Die Operette....................................................... 511 Das Intermezzo. (Zwischenspiel).............................................................512 Entstehung und geschichtliche Entwickelung derOper in Italien, Frankreich und Deutschland ...................................................................513 Erste und älteste deutsche Oper............................................................. 517 Das Geheimnis der Wagnerschen Opernreform...................................... 520 Wagners Tetralogie......................................................................................... 524 Wagners Stilcharaktere und seine Leitmottve............................................525 Vorschriften, Gesichtspunkte und Winke für dieLibretto-Dichtung, und Beispiele besserer Librettos.................................................................. 527

II.

§ § § § § § § § § § §

193. 194. 195. 196. 197. 198. 199. 200. 201. 202. 203.

GirchUch-mustKalische Formen.

Einteilung der geistlichenFormen undBegründung derselben . . 528 Der Choral......................................................................................................... 529 Das deutsch-accentuierendePrinzip und derChoral..............................531 Die Motette....................................................................................................532 Psalm ...............................................................................................................533 Die Kantate......................................................................................................... 534 Die Passion.......................................................................................................... 536 Die Messe......................................................................................................... 538 Das Requiem....................................................................................................540 Das Oratorium.............................................................................................. 541 Analyse vorzüglicherOratorien derNeuzeit,sowie Litteratur des Oratoriums. Weltliche Oratorien............................................................. 543

Schlußbemerkung............................................................................................................... 546

Anhang. Sach- und Namenregister für Band 1 und 2.................................................. .547

Die

Sämtliche Künste lernt und treibet der Deutsche; zu jeder Zeigt er ein schönes Talent, wenn er sie ernstlich ergreift.

Eine Kunst nur treibt er, und will sie nicht lernen, die Dichtkunst. Darum Pfuscht er auch so; Freunde, wir haben's erlebt.

Goethe.

Einleitung. Charakter der Poesie und Einteilung derselben. § 1. Objektive und subjektive Poesie. 1. Alles durch menschliche Thätigkeit Entstandene leitet seinen Ursprung entweder aus dem Gebiete der Geistes- oder dem der Sinnen­ welt her: aus dem Anschauungs- und dem Empfindungsreiche. Auch die Poesie hat ihren Ursprung entweder in einem derselben, oder in beiden gemeinschaftlich. 2. Je weniger der äußere anregende Stoff als solcher ersichtlich ist, je unbedeutender er ist, desto subjektiver wird die Poesie erscheinen. 3. Objektiven Charakter wird die Poesie an sich tragen, wenn der von ihr behandelte Stoff als das Wesentliche, Bestimmende oder Beabsichtigte entgegentritt. 1. Von der Außenwelt erhält der Dichter die Anregung, oder den Stoff, welchen er nach innerer Aneignung in seinem Gedichte verwertet. Das Ge­ dicht entsteht somit aus der Durchdringung der dichterischen Subjektivität mit der von außen entgegen tretenden Objektivität.

2. Zu jedem objektiven Stoffe muß der Lyriker von seiner Subjektivität Man könnte

hinzusetzen.

vergleichen,

an welchem

einen

geringfügigen

Stoff

einem

sich die subjettive Empfindung

glatten Stamme

des Dichters empor-

rantt und fest hält. Je einfacher und geringfügiger der Stoff ist, desto be­ deutender wird sich das Überwiegen des Subjekttven vor dem Objettiven nötig machen muffen, desto mehr wird sich die dichterische Schöpsungskraft zu bewähren haben. In

folgendem

Gedichte

von

Martin

Greif

überwiegt

Zuthat den objektiven geringfügigen Stoff um ein Bedeutendes: Am Buchenbaum. Ich sah im Herbst einen Buchenbaum Im leeren Felde steh'n; Im fahlen Laube sah ich kaum Ein grünes Blättlein weh'n. Lang stund ich da in tiefem Traum Ihn anzuseh'n. Beyer, Deutsche Poetik. IL

die

subjettive

2 Der Sommer und die Sieb' sind heiß Ihr weiß ich keinen Dank; Sie sengte mich auf alle Weis', Das grüne Laub entsank! Zuletzt entschwand sie still und leis Und ließ mich krank. Jeder Dichter, der aus seinem Leben, aus seiner Phantasie mitteilt, der sein Urteil ausspricht, der sich selbst zum. Helden seiner Dichtung macht, schreibt

subjektive Poesie. Nicht der zu besingende Gegenstand, sondern der durch denselben hervorgerufene Gemütszustand ist der wahre Inhalt des subjekttven Gedichts. Der Dichter dieses subjektiven Gedichts ist dabei nur insofern objek­ tiv, als er seine Personen ihre eigenen (subjektiven) Empfindungen aussprechen läßt. Seinen Gedichten ist immerhin seine Individualität ausgeprägt. Sein Geist, seine Anschauungs- und Gefühlsweise leuchten aus ihnen hervor. Ein bestimmter Dichter wird eine Person in einem besondern Falle nicht ebenso einführen, wie ein anderer zweiter, weil er eben sein ganzes Ich mit in die Dichtung hineinbringt. Anders wird z. B. der Jüngling, die Mutter, ein König, oder ein Bauer im gleichen Vorkommniffe bei diesem Dichter sprechen als bei jenem. Anders wird die Anschauung des einzelnen Dichters gefärbt erscheinen. Wesentlich bleibt nur, daß nicht gegen die Wahrheit verstoßen

ist, daß der Menschheit Seele und seines ganzen Volkes Herz auch des Dichters Seele, des Dichters Herz sei, daß er die dunklen Gefühle, die im Herzen

wunderbar schlafen, (vgl. Schillers Der Gras von Habsburg Str. 5, dessen Die Macht des Gesanges Stt. 1, sowie Goethes Der Sänger Str. 5) gewaltig zu wecken vermöge, daß er da, wo Qual und Weh den Mund der anderen Menschen verstummen macht, noch ihre Leiden klagt.

3. Objekiv schreibt der Dichter, wenn er in die Geschichte, in das Ge­

biet des von Andern Erlebten, in die Außenwelt, in das Räumliche, Zeitliche eingreist, ohne mit seinem Urteil darüber in den Vordergrund zu treten. Während der subjektive Dichter nur giebt, was er fühlt, oder was er in seinem Herzen erlebt, während dieser seinen Leser oder Hörer nötigt, mit ihm zu em­ pfinden, was in seiner Brust vorgeht, entzieht sich der objektiv gestaltende Dichter

den Blicken des Lesers; nie schaut er dirett aus seinen Dichtungen hervor, nie zeigt er sich als Held derselben. Sein Stoff in eigenartiger Verarbeitung und Darstellung ist es, was das Interesse des Hörers feffelt und feffeln will.

§ 2. Volkspoeste und Kunstpoesie. Die Einteilung der Poesie in subjektive und objektive deckt sich im wesentlichen mit der Einteilung in Volkspoesie und Kunst­ poesie. 1. Die Volkspoesie erblüht aus der dichterischen Fähigkeit eines Volkes. Sie ist Darstellung des wirklichen Lebens in seiner Naivetät und Wahrheit.

3 2. Die Kunstpoesie dagegen entreiss dem individuellen Arbeiten des Einzelnen und der Einzelnen. Sie reflektiert das wirkliche Leben in der idealisierenden Phantasie und Empfindung des gebildeten Kunst­ dichters. 1.

Die ursprüngliche Volkspoesie (Naturpoesie) war meist objektive Poesie,

Hervorbrechen der Empfindung mit dazwischen liegender, unmittelbarer Dar­ stellung der Wirklichkeit oder des nach dem Typus derselben Erdichteten. Sie war wesentlich beschreibend, auch wo es fich um Darlegung des subjekttven Gefühls handelte: ste bedurfte daher weniger der schönen äußern Form, als

einer Alle gleichmäßig ergreifenden poetisch-naiven Ein Beispiel der Volkspoefie möge dies illustrieren:

Sprache voll

Wohllauts.

Es wollt' ein Mägdlein tanzen gehn, Sucht Rosen auf der Heide, Was fand sie da am Wege stehn? Eine Hasel, die war grüne. „Nun grüß' dich Gott, Frau Haselin! Bon was bist du so grüne?" „Nun grüß' dich Gott, seins Mägdelein! Bon was bist du so schöne?"

„Bon was daß ich so schöne bin, Das kann ich dir wohl sagen: Ich eß' weiß Brod, trink kühlen Wein, Davon bin ich so schöne." „Ißt du weiß Brod, trinkst kühlen Wein Und bist davon so schöne, Auf mich so fällt der Ahle Tau, Davon bin ich so grüne." „Hüt' dich, hüt' dich, lieb Haselin, Und thu' dich wohl umschauen; Ich hab' dabeim zween Brüder stolz, Die wollen dich abhauen." „Und hau'n sie mich im Winter ab, Im Sommer grün' ich wieder; Verliert ein Mägdlein ihren Kranz, Den find't sie nimmer wieder." (Aus Uhlands BoMieder Bd. 1. S. 66.)

2.

Die Kunstpoesie unterscheidet sich von der Naturpoesie dadurch,

daß sie durch geeignete Gestaltung des Stoffes,

den ste mit der Naturpoesie

gemeinschaftlich haben kann, irgend eine bestimmte, beabsichtigte Idee zu Tage fördert. Die nachfolgenden drei Bearbeitungen des gleichen Stoffes

mögen dies beweisen.

a. Die Verlassene von Geibel. O singt nur ihr Schwestern mit fröhlichem Mund, Und fübret den Reigen im Lindengrund Mit den Burschen bei Zithern und Geigen! — Mch aber laßt gehn und schweigen.

4 Was blickt ihr mir nach, und was wollt ihr von mir? Ich habe die Freude getragen wie ihr In der Brust mit Lachen und Scherzen — Nun trag' ich den Tod im Herzen.

Durch alle Wipfel der Lenzhauch geht, Ich bin der Baum, der laublos steht; Die Wasser rieseln so helle, Ich bin die vertrocknete Quelle.

Die Treue, die Treue, daraus ich gebaut, Sie ist mit dem Schnee vor der Sonne zertaut; Wie Spreu vor dem Winde, so 'stiebet Meine Liebe, die ich geliebet.

b.

Die Verlassene, von Martin

Greif.

Denk' ich nach, was ich nun bin, Seit er mich verlassen, Tauscht' mit mir kein' Bettlerin Wahrlich auf der Sttaßen.

Geh' ich aus den Bittgang mit, Weichen sie zur Seiten. Tanzen! Gott, mein Lebtag nit — Das Gesichterschneiden! Mach ich, was ich machen will, Niemand thu' ich's rechte: Trutzig heiß' ich, wenn ich still, Red' ich, heiß' ick schlechte.

Tret' ich in die Kirche ein, Geht es an's Gedeute; Donnert recht der Pfarrer d'rein, Blinzeln alle Leute.

Abends kann ich vor der Thür' Keine Stunde bleiben. Noch am liebsten ist es mir, Meine Gänse treiben. Komm ich an der Godel Haus, Muß' ich mich verfärben — Wollt', ich wär' zum Dorf hinaus Oder könnte sterben. NB. Die Sprache dieser Bearbeitung hat nur hie und da etwas Gekünstelte-, Verzwicktes, weil sie den Volkston treffen will, ohne doch die eigentliche Dialektform zu wagen. Vgl. z. B. kein' für fei' u. s. w.

c.

Das verlassene Mägdlein, von Ed.

Früh', wann die Hähne krähn, Eh' die Sternlein verschwinden, Muß ich am Herde stehn, Muß Feuer zünden. Schön ist der Flammen Schein, Es springen die Funken; Ich schaue so drein, In Leid versunken.

Mörike.

5 Plötzlich, da kommt es mir, Treuloser Knabe, Daß ich die Nacht von dir Geträumet habe. Thräne auf Thräne dann Stürzet hernieder; So kommt der Tag heran — O ging' er wieder!

Diese drei ungemein anschaulichen Bearbeitungen könnten die Überschrift

„Gebrochene Treue" tragen.

Bei allen ist ein verlassenes Mädchen der Gegen­

stand der Scene und die Trägerin der Idee. Während sich bei Geibels Dichtung der Dichter vordrängt, (sofern näm­ lich der für ein Bauernmädchen zu ideale, metaphorische Ausdruck in der

dritten Sttophe und ihre rhetorische Pathettk in der vierten zu Erwägungen über den Dichter herausfordern), bringen die beiden letzten Arbeiten die Em­ pfindung in so natürlicher, einfach schlichter, ja naiv wahrer Weise zum Aus­ druck, daß kein Mensch an den Dichter als solchen erinnert wird. Und dennoch sind diese Dichtungen subjekttv. Sie zeichnen sich gewisser­ maßen durch ihren symbolischen Charakter aus, da der Stoff nur das Äußere

der abstratten Idee und der tiefen Empfindung ist. So trägt denn die Kunstpoesie ebenso dem objeMven Charatter Rechnung, wie sie als unmittelbarer Erguß des subjektiven Empfindens des Dichters die Idee mit der Empfindung vereint. Dies ist besonders ein Erkennungsmerkmal der Kunstpoefie Goethes, wie das nachfolgende Beispiel zeigen möge: Blumengruß.

Der Sttauß, den ich gepflücket, Grüße dich viel tausendmal! Ich habe mich ost gebücket Ach, wohl ein tausendmal, Und ihn an's Herr gedrücket Wie hunderttausendmal!

(Goethe.)

Als ein Beispiel vollendeter Kunstpoesie kann auch das so bekannte Ge­ dicht Die sterbende Blume von Rückert gelten, wo die Idee der Vergäng­ lichkeit mit ergreifender Wahrheit zum Ausdruck gebracht ist, dabei aber überall

das

subjettive Fühlen

des

übersttahlt. Derjenige Kunstdichter,

deutschen,

tiefinnigen Dichtergemütes

das

welcher die Natur in ihrer Einfachheit,

Poem

in ihrer

naiven Schönheit aufzufaffen und wiederzugeben versteht, so daß seine Kunstdichtung gleichsam den Eindruck der Naturdichtung macht, ist der echte Kunst­ dichter.

Er ist dem Genius Shakespeares verwandt, der den Beifall ablehnend

auf die Natur (besonders in folgender Stelle seines Wintermärchens IV. 3} hinweist:

Perdita:

Ich hörte, Daß, nächst der großen schaffenden Natur, Auch Kunst es ist, die diese bunt färbt.

6 Polyxenes:

Sei's: Doch wird Natur durch keine Art gebessert, Schafft nicht Natur die Art: so, ob der Kunst, Die, wie du sagst, Natur bestreitet, giebt es Noch eine Kunst, von der Natur erschaffen. Du siehst, mein holdes Kind, wie wir verrnählen Den edlern Sproß dem allerwild'sten Stamm, Befruchten so die Rinde schlecht'rer Art Durch Knospen edler Frucht: Dies ist 'ne Kunst, Die die Natur verbessert — mind'stens ändert: Doch diese Kunst ist selbst Natur.

§ 3. Einteilung der Poeste in klafstsche, romantische un­ moderne Poeste. In Bezug auf das Gebiet, dem der Stoff entlehnt ist, kann man die Poesie in geistliche und weltliche einteilen; ferner in ernste und komische Poesie, insofern sie traurrge, mitleidsvolle, strafende, erziehliche, oder aber belebte, heitere, den Humor erregende Stimmung hervorzuzaubern bezweckt. Häufiger teilt man sie in klassische, roman­ tische und moderne Poesie ein. Wie man unter einem Klassiker einen Dichter versteht, der anderen zum Vorbild dient, so begreift man unter klassischer Poesie eine muster­

gültige, fehlerlose, einfach erhabene Poesie in relativer Vollendung. Vorzugsweise hat man bisher die Poesie der Griechen und Römer klassisch

genannt, und neuere Dichtungen hat man mit diesem Epitheton ornans nur dann belegt, wenn sie in der Einfachheit und Regelmäßigkeit des Baus, in der Gediegenheit der Form, in der Idealisierung und in der Erhabenheit des innern Gehaltes anerkannt, daß Rückert rc. allen hat diese Dichter

mit jenen Poesien vergleichbar waren. Heutzutage hat man die Dichtungen eines Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Anforderungen an vollendete Kunstwerke entsprechen, und man als deutsche Klassiker bezeichnet. (Vgl. Bd. I. S. 88.)

Die Bezeichnung klassisch ist selbstverständlich nur relativ zu verstehen; denn der menschliche Geist entwickelt sich in stetem Aufbau auf das Vorhandene, und

es

laßt sich erwarten,

daß Geister kommen werden,

welche

größer sein

werden, als Wieland, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert rc.

Unter romantischer Poesie versteht

man diejenige

Poesie,

welche

dem Geiste des mittelalterlichen Rittertums entspricht, welche der Frauenver­ ehrung und den religiösen Anschauungen des Mittelalters dient, nach welchen

Anschauungen das Wunder und die dämonischen, feenartigen, geisterhaften Wesen eine Rolle spielen. Da in den Anschauungen, Empfindungen und Dichtungen des Mittelalters fich ein dunkler Drang nach dem Jenseits und dem Über­ natürlichen zeigt; da ferner das Ahnungsvolle, Phantasttsche allenthalben her­ vortritt, so begriff man unter Romantik das Wunderbare und Rätsel­

hafte. Seit dem letzten Decennium des vorigen Jahrhunderts pflegte eine ganze Dichterschule diese Poesie. Das Wort „romantisch" wurde zuerst

7 litterarischer Parteiname, als Tieck 1800 seine Gedichte unter dem mit voller

Unbefangenheit gewählten Titel gegeben hatte. (Vgl. R. Köpke:

„Romantische Dichtungen" heraus­ „Ludwig Tieck." I. 265.) Die romantische

Schule erstrebte Verjüngung der mittelalterlichen Poesie und eine der Litteraturen, besonders der romantischen, zur Weltlitteratur.

Vereinung Ihre mit

Fichtes Idealismus und Schellings Naturphilosophie durchtränkte Weltanschauung versuchte eine Art Verbindung von mittelalterlich-christlicher Schwärmerei und Pan­

theismus. Die Gedichte der romanttschen Dichter (vgl. Bd. I. S. 58 und 88) zeichnen sich durch eine gewisie Überschwenglichkeit aus, durch eine märchenhafte

Behandlung des Stoffs, den man auch in demselben Sinne romantisch nennen kann, wie man etwa eine Gegend durch dieses Attribut charatterisiert. Moderne Poesie endlich nennt man diejenige Poesie, welche in dem Anschauungskreise unserer Generatton sich bewegt, welche ihre Figuren und Helden der Gegenwart entsprechend zeichnet, welche absichtlich zu dem Traum­

und Phantasieleben der romanttschen Poesie einen Gegensatz bildet und dem Realismus der modernen Zeit mit ihren Empfindungen, Bestrebungen, Kämpfen, Kriegen, Kulturfortschritten und Eroberungen auf allen Gebieten Rechnung trägt und das Edelmenschliche, Vernünftige und Freiheitliche pflegt. Freilich

schält sich der moderne Dichter in der Einfachheit und Gediegenheit seines Kunstwerkes ebensowenig vom klassischen Dichter los, als er in Bezug auf An­ schaulichkeit und Lebendigkeit der bilderreichen Phantasie und im Geschmack der Darstellung hinter dem romantischen Dichter zurückbleiben will.

§ 4. Einteilung der Poesie nach Stoff und Form. 1. Die geläufigste, allgemeinste und bezeichnendste Einteilung der Poesie ist die in lyrische, didaktische, epische und drama­ tische Poesie. 2. Diese Einteilung entbehrt nur scheinbar des einheitlichen Fundaments. 3. Bei näherer Betrachtung liegt dieses Fundament a. im Zweck, b. im Ursprung und Stoff der Poesie. 1. Die Einteilung der Poesie in lyrische, didakttsche, epische und dramattsche Poesie ist späteren Datums. Platon kennt (in der Stelle Rep. II. 379 A. in freilich nur vorübergehender Erwähnung) nur Epos und Tragödie: („Totolde

nov zmg, — sc. elolv ol Tvyxdvei 6

cu'y,

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tisqI

xvrcot — Tp> ev Eugene Sue sei!! Ivo, Die Ahnen. * »A vrai dire, ce n’est point ici un roman historique, c’est plutöt de la philosophie de l’histoire on action: eveil de l’idee nationale en Allemagne, premieres velleites de reforme et d’independance du joug ultramöntain, point de depart de la Civilisation de la Prusse, toutes idees abstraites, accrochees ä des episodes historiques et expliquees par des incidens et des personnages de pure fantaisie. Ces sorteö d’ouvrages exigeraient un long commentaire.< Am Schluß seiner Besprechung S. 153 sagt Bour­ deau: Le genre du roman historique et politique adöpte par M. Freytag, est, sinon faux, du moins un genre de transition: justement abandonne en France et en Angleterre, il n’est plus guere cultive

374

qu’en Allemagne. En cela les Allemands retardent de trente annees. Ils negligent trop, encore aujourd’hui, le roman psychologique, l’etude des sentimens et des caracteres etc.) II. Der philosophische Roman nimmt Veranlasiung, gewisse Anstchten über wiffenschaftliche und künstlerische Gegenstände durch seine Charaktere aus­ sprechen zu lasten, oder aber das Leben der gegenwärtigen Zeit mit Rücksicht auf die Zukunft zu malen. Dieses Raisonnement wird mehr oder weniger im philosophischen Roman Hauptsache, da dieser Roman weniger des Helden als des Raisonnements wegen geschrieben ist. Der philosophische Roman ver­ einigt alle Formen, die wir als Tendenzromane betrachtet haben. (§ 141.) Bald sucht der philosophische Roman in religiösen Dingen Belehrung zu geben (Spinoza von Auerbach), bald Fragen der spekulativen Philosophie zu erörtern (Spinoza von Auerbach, sowie Fr. Fries' Julius und Evagoras); bald behandelt er die bessere Sitte (Jakobis Waldemar, ferner Al. v. UngernSternbergs Paul); bald liefert er ein großes Kulturgemälde des Jahrhunderts (Gutzkows Die Ritter vom Geist); bald hat er ein pädagogisches Interesse (Gutzkows die Söhne Pestalozzis): bald dient er einer bestimmten Kunst, welch letztere Gattung des philosophischen Romans auch als Künstlerroman bezeichnet wird. Das Raisonnement desselben kann ins Bereich der dramatischen Kunst fallen (Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, ferner Aug. Lewalds Theater­ roman), ins Bereich der Malerei (Tiecks Sternbalds Wanderungen, Heinses Ardinghello), in das der Musik (Heinses Hildegard von Hohenthal, Brachvogels Friedemann Bach), u. s. w. III. Der moderne Roman (Zeitroman). Der moderne Roman ist der Roman der Gegenwart und heißt auch Zeitroman, sofern er das Bild der Zeit und ihrer Sitten giebt. Der Zeitroman wurzelt im Erlebten, das er nicht gerade ideal darzustellen braucht. Er liebt freierfundene Stoffe, die er dem Geist und Inhalt der gegenwärtigen Kulturperiode entsprechend wählt. So schildert z. B. Samarow in Scepter und Kronen die Begebenheiten von 1866, neben welchen er zwei Liebesgeschichten giebt. Er weiß seinen Stoff (z. B. selbst durch Einführung in die Kabinette der Staatsmänner, durch Belauschung Napoleons und Eugeniens, durch Entrollung von Verschwörungen, Erzeugung dämonischen Schauders rc.) lebenswahr und anziehend zu gestalten. Spielhagens In Reih und Glied schildert die Lassallesche Arbeiterbewe­ gung (Gutmann ist Lassalle, der romantische König ist Friedrich Wilhelm IV. rc.), Auerbachs Auf der Höh' spiegelt bayerische Zustände unter Ludwig I. Brachvogels sämtliche Romane kann man als Zeitromane bezeichnen. Sein erster Roman war Friedemann Bach, von dem er sagt: „Ich habe in Narziß zu schildern versucht, wie ein solcher Charakter ist, im Friedemann Bach dagegen, wie jeder unter ähnlichen Verhältnissen ein ähnlicher Charakterwerden kann." Im Trödler zeigt er mit Geschick und Kunst, wie nur drei Dinge ewig bestehen und uns sicher zu Gottes Thron führen: treue Liebe, bescheidener Sinn und gute Thaten. Sein bedeutendster Roman Ein neuer Falstaff führt aus, wie ein edler Charakter und großer Künstler

375 durch den Hohn und den Spott, den die Häßlichkeit seiner Erscheinung Hervorrust, zur Verachtung und Haß gegen die Menschheit sich hinreißen läßt, wie er den Adel seiner selbst preisgiebt und in den Sttudel des Gemeinen ver­ sinkt, aber doch durch allen Zweifel und alle Verirrung sich hindurchringt zur Reinheit und Klarheit der Anschauung, weil er die leidenschaftliche, lebendige Liebe zu einem schönen liebenswürdigen und edlen Wesen nicht aufgeben kann. Er findet den Ausgang aus dem Labyrinth der falschen Grundsätze, in die er sich hineingepredigt, — und den Zugang zum Herzen der Geliebten. Beliebte moderne Romane (zum Teil im Stil des Zeitromans ausgeführte Novellen) aus den letzten 20 Jahren sind: E. Werner, Gesprengte Fesseln; Stahl, Ein weiblicher Arzt; Wilcken, Am Hof; Vict. Sales, Eine Bekanntschaft auf der Straße; Ohorn, Der Klosterzögling: Hiltl, Eine Kabinetsintrigue; Müldener, Aus der Verbrecherwelt; Hermann, Jud und Christ; v. Gottschall, Welke Blätter; Ludolf, Die Tochter des Spielers; Gaboriau, 12 Millionen; I. Krüger, Der Jesuit und sein Zögling; Dewall, Eine Mesalliance; S. Kohn, Ein Spiegel der Gegenwart; H. Hopfen, Arge Sitten; R. Byr, Eine geheime Depesche; Höcker, Geld und Frauen; Hirschfeld, Carriere.) Für weitere Beispiele vgl. I. 68 unter Zeitroman. IV. Der volkstümliche Roman oder die Dorfgeschichte. Er ist der Idylle verwandt und beschränkt sich auf Stoffe aus dem Volksleben und aus den volkstümlichen Anschauungskreisen. Somit könnte man ihn auch den Roman des Volkslebens nennen. Die Neubegründer dieser zu allen Zeilen ge­ pflegten Gattung sind Heinrich Zschokke (f 1848) und Berth. Auerbach (t 1882).

Bekannte Beispiele des volkstümlichen Romans oder der Dorfgeschichte aus der allerletzten Zeit (etwa von 1860—1882) sind: Beuthien, Sleswig-Hollsteener Buerngeschichten; Eötvös, Ungarische Dorfgeschichten; Hans Hopfen, Bayerische Dorfgeschichten, und deffen Böswirt; H. Kletke, Der Savoyardenknabe; Molitor, Dorfgeschichten; Gust. Nieritz, Seppel; Raimund, Bauernleben; Rosen, Der Buchenhof; Rosegger, Die Schriften des Waldschulmeisters; Schall, Oberöster­ reichische Bauerngeschichten; Schaumberger, Fritz Reinhardt rc.; Scheitlin, Der Segen der Bibel; Schöps, Dorfgeschichten; Snieders, Der Großknecht; Vacano, Dorfbilder; Herm. Schmid, Der Bauernrebell, Das Schwalberl; A. Brook (Pseud. für Antonie Brökel in Kiel) Schutzlos aber nickt hülslos (2. Aufl. 1874.) Für weitere Beispiele vgl. I. 73.

u. a.

§ 143. Beispiele lesenswerter Romane und geschichtlich cha­ rakteristische Stilproben. 1. Als instruktive Beispiele, welche den historischen Fortschritt des Romans charakterisieren (und die für erschöpfende Kenntnis dieses Kunst­ genres ein jeder kennen sollte), erwähnen wir: 1. 2. 3.

Grimmelshausens Simplicissimus (Ausg. v. Keller 1862). Wielands Geschichte des Agathon, und deffen Abderiden. Gottwerth Müllers Siegfried von Lindenberg.

376 4. Jean Pauls Siebenkäs. 5. Schillers Geisterseher. 6. Gustav Freytags Soll und Haben. 7. Luise von Francois Die letzte Reckenburgerin. 8. Scheffels Ekkehard. 9. Ebers Ägyptische Königstochter.

10. R. Hamerlings Aspasia. 11. Gottfried Kellers Der grüne Heinrich.

2. Für Kenntnis des Stil-Fortschritts beschränken wir uns auf nachstehende drei charakteristische Stilproben epochebildender Werke auf dem Gebiete der Romanlitteratur : 1. aus dem humorreichen Romane Simplicissimus, dem hervorragendsten litterarischen Erzeugniffe des 17. Jahrhunderts (Analyse s. I 52.)

2. aus dem bedeutungsvollen, die Erziehung der Menschheit zur Tugend darstellenden philosophischen Roman Agathon, dem Lieblingswerke Wielands, dem Vorbild aller Ritterromane und späteren Romane aus der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts. (I 54).

3. aus dem vortrefflichen Roman Der grüne Heinrich von Gottfried Kelleraus der letzten Hälfte unseres Jahrhunderts. (Neue Ausgabe 1880.) Stilproben aus drei Jahrhunderten. 1. (17. Jahrhundert.) Stilprobe aus Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus, das ist: Beschreibung des Lebens eines seltsamen Vaganten, genannt Melchior Sternfels von Fuchsheim. (In der Neu­ zeit herausgeg. durch Brockhaus, Reclam und Meyer.) Neunzehntes Kapitel.

Wie Hanau von Simplicio und Simplicius von Hanau eingenommen wird. Da es tagte, fütterte ich mich wieder mit Weizen, begab mich zum nächsten auf Gelnhausen und fand daselbst die Thore offen, welche zum Teil verbrannt

und jedoch noch halber verschanzt waren.

Ich ging hinein, konnte aber keines

lebendigen Menschen gewahr werden; hingegen lagen die Gaffen hin und her mit Toten überstreut. Meine Einfalt konnte nicht ersinnen, was vor ein Un­ glück das Ort in einen solchen Stand gesetzt haben müßte. Ich erfuhr aber

ohnlängst hemach, daß die Kaiserische Völker etliche Weimarische daselbst über­

rumpelt. Kaum zween Steinwürfe weit kam ich in die Stadt. Als ich mich derselben schon satt gesehen hatte, kehrte ich wieder umb, ging durch die Aue nebenhin und kam auf eine gänge Landstraße, die mich vor die herrliche Fe­ stung Hanau trug.

Sobald ich deren erste Wacht ersähe, wollte ich durchgehen;

aber mir kamen gleich zween Musketiere auf den Leib, die mich anpackten und in ihre Corps de Garde (Hauptwache) führten. Ich muß dem Leser nur auch Zuvor meinen dermaligen visierlichen Aufzug erzählen, ehe daß ich ihm sage, wie mir's weiter ging; denn meine Kleidung und Gebärden waren durchaus

seltsam, verwunderlich und widerwärtig, so daß mich auch der Gouverneur hat abmalen lassen.

Erstlich waren meine Haare in dritthalb Jahren

weder auf

377 Griechisch , Deutsch, noch Französisch abgeschnitten, gekrempelt,

noch gekräuselt,

noch gelüfft worden; sondern sie. stunden in ihrer natürlichen Verwirmng noch mit mehr als jährigem Staub anstatt des Haar-Plunders, Puders, oder Pul­ vers durchstreut, so zierlich auf meinem Kopf, daß ich darunter herfürsahe mit meinem bleichen Angesicht wie eine Schleier-Eule, die knappen will, oder sonst auf eine Maus spannt. Der übrige Habit stimmte mit der Hauptzier überein;

denn ich hatte meines Einsiedlers Rock an, wann ich

denselben^ anders noch

einen Rock nennen darf, dieweil das erste Gewand, daraus er geschnitten worden, gänzlich verschwunden und nichts mehr davon übrig gewesen, als die bloße Form, welche mehr als tausend Stücklein allerhand färbiges, zusammengesetztes, oder durch vielfältiges Sticken an einander genähtes Luch noch vor Augen

stellte.

Meine Schuhe waren aus Holz geschnitten und die Schuhbändel aus

Rinden

von Lindenbäumen gewebt;

die Füße selbst sahen

so

krebsrot

aus,

als wann ich ein Paar Sttümpfe von Spanisch Leibfarbe angehabt, oder sonst die Haut mit Fernambuc gefärbt hätte. Ich glaube, wenn mich damals ein Gaukler, Marttschreier oder Landfahrer gehabt und vor einen Samojeden oder Grönländer ausgegeben, daß er manchen Narren angettoffen, der einen Kreuzer

an mir versehen hätte u. s. w. 2. (18. Jahrhundert.) Stilprobe aus Wielands Geschichte des Agathon. (Göschensche Ausg. 1853 IV. 40 ff.) Wie ähnlich ist alles dies einem Fiebertraume, wo die schwärmende Phan­ tasie ohne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Bettachtung

zu ziehen, die betäubte Seele von einem Abenteuer zu dem andern, von der Krone zum Bettlermantel, von der Wönne zur Verzweiflung, vom Tartaros ins Elysium fortreißt! Und ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so unwesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein unbeständiges Spiel des blinden Zufalls, oder unsichtbarer Geister,

die eine grausame Be­

lustigung darin finden, uns zum Scherze bald glücklich, bald unglücklich zu machen?

Oder ist es diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle Majestät der Natur ankündiget, ist es dieser alles belebende Geist, der die mensch­ lichen Sachen anordnet: warum herrschet in der moralischen Welt nicht eben diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch die Elemente, die Jahres- und Tageszeiten,

die Gestirne und die Kreise

des Himmels: in

ihrem gleichförmigen Laus erhalten werden? Warum leidet der Unschuldige ? Warum

sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches Schicksal die Tugend­ haften? Sind unsere Seelen den Unsterblichen verwandt, sind sie Kinder des

Himmels: warum verkennt der Himmel sein Geschlecht, und tritt auf die Seite seiner Feinde? Oder, hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich überlasten:

warum sind

wir keinen Augenblick

unsers Zustandes

Meister?

Warum ver­

nichtet bald Notwendigkeit, bald Zufall die weisesten Entwürfe?

Hier hielt Agathon eine Zeit lang ein. Sein in Zweifeln verwickelter Geist arbeitete, sich los zu winden, bis ein neuer Blick auf die majestätische Na­

tur, die ihn umgab,



eine andere Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte.

„Was sind, fuhr er mit sich selbst fort, meine Zweifel anders, als Ein-

378 gedungen der eigennützigen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen glücklicher als ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her.

Hat sich die Natur binnen

dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplatz einer grenzenlosen Voll­ kommenheit, weil Agathon ein Sklave, und von Psyche getrennt ist?

Schäme

dich, Kleinmütiger, deiner trübsinnigen Zweifel, und deiner unmännlichen Klagen! Wie kannst du Verlust nennen, deffen Besitz kein Gut war? Ist es ein Übel,

deines Ansehens, deines Vermögens, deines Vaterlandes beraubt zu sein? Alles desien beraubt, warst du in Delphi glücklich, und vermißtest es nicht. Und warum nennst du Dinge dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall giebt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkür steht, sie zu erlangen oder zu erhalten? — Wie ruhig, wie heiter und glücklich floß mein Leben in Delphi hin, eh' ich die Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechs­

lungen kannte; eh' ich genötigt war, mit den Leidenschaften anderer Menschen,

oder mit meinen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß meines Da­

seins einem undankbaren Volk aufzuopsern, und unter der vergeblichen Bemüh­ ung, Thoren oder Lasterhafte glücklich zu machen, selbst unglücklich zu sein! Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des Mißvergnügens am besten. Es gab Augenblicke, Tage, lange Reihen von Tagen, da ich

glücklich war; glücklich in den frohen Stunden, wenn meine Seele, vom An­ blick der Natur begeistert, in tiefsinnigen Betrachtungen und süßen Ahnungen, wie in den bezauberten Gärten der Hesperiden, irrte; glücklich, wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe aller Bedürfniffe, aller Wünsche ver­ gaß, und nun zu verstehen glaubte, was die Wonne der Götter sei; glücklicher, wenn in Augenblicken, deren Erinnerung den bittersten Schmerz zu versüßen genug ist, mein Geist in der großen Betrachtung des Ewigen und Unbegrenzten sich verlor. — Ja, du bist's, alles beseelende, alles regierende Güte — ich

sah, ich fühlte dich! Ich empfand die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich macht; ich genoß die Glückseligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit von Augen­

blicken und Augenblicken den Wert von Jahrhunderten giebt.

Die Macht der

Empfindung zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der genossenen Glückselig­

keit heilet den gegenwärtigen Schmerz und verspricht eine bessere Zukunft. — Diese allgemeinen Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen, fließen wie ehemals um mich her; meine Seele ist noch eben dieselbe, wie die Natur, die

mich umgiebt. — O Ruhe meines delphischen Lebens, und du, meine Psyche!

euch allein, von allem was außer mir ist, nenne ich mein! u. s. w. 3. (19. Jahrhundert.) Stilprobe aus Gottfried Kellers

grüne Heinrich.

3. Band, S. 1.

Der

Erstes Kapitel.

Arbeit und Beschaulichkeit. Ich schlief fest und traumlos bis zum Mittag;

noch immer der warme Südwind und es regnete fort. ster und erblickte das Thal auf und nieder,

als ich erwachte, wehte Ich sah aus dem Fen­

wie Hunderte von Männern am

Wasser arbeiteten, um die Wehren und Dämme herzustellen, da in den Bergen

aller Schnee schmelzen mußte und

eine große Flut zu

erwarten

war.

Das

379 Flüßchen rauschte schon stark und graugelblich daher; für unser Haus war gar

keine Gefahr,

der die

da es an einem sicher abgedämmten Seitenarme lag,

Mühle trieb; doch waren alle Mannspersonen fort, um die Wiesen zu schützen', und ich saß mit den Frauensleuten allein zu Tische. Nachher ging ich auch hinaus und sah die Männer ebenso rüstig und entschlosien bei der Arbeit, als sie gestern die Freude angefaßt hatten. Sie schafften in Erde, Holz und Steinen, standen bis über die Kniee in Schlamm und Waffer, schwangen Äxte und

trugen Faschinen und Balken umher,

und wenn so acht Mann unter

einem

schweren langen Baume einher gingen, hielten die Witzbolde unter ihnen keinen Einfall zurück; nur der Unterschied war gegen gestern, daß man keine Tabaks­

pfeifen sah.

Ich konnte nicht viel helfen und war den Leuten eher im Wege;

nachdem ich daher eine Strecke weit das Waffer hinaufgeschlendert,

kehrte ich

oben durch das Torf zurück und sah auf diesem Gange die Thätigkeit auf allen ihren gewohnten Wegen. Wer nicht am Waffer beschäftigt war, der fuhr ins Holz, um die dortige Arbeit noch schnell abzuthun, und auf einem Acker sah

ich einen Mann so ruhig und aufmerksam pflügen, als ob es weder der Nach­ tag eines Festes, noch eine Gefahr im Lande wäre.

Ich schämte mich, allein

so müßig und zwecklos umherzugehen, und um nur etwas Entschiedenes zu thun, entschloß ich mich, sogleich nach der Stadt zurückzukehren. Zwar hatte ich leider nicht viel zu versäumen und meine ungeleitete haltlose Arbeit bot mir in diesem Augenblicke gar keine lockende Zuflucht, ja, sie kam mir schal und nichtig vor; da aber der Nachmittag schon vorgerückt war und ich

durch Kot und Regen

in die Nacht hineinwandern mußte, so ließ eine ascetische Laune mir diesen Gang als eine Wohlthat erscheinen, und ich machte mich trotz aller Einreden

meiner Verwandten ungesäumt auf den Weg. So stürmisch und mühevoll dieser

war,

legte

ich

doch

die bedeutende

Strecke zurück wie einen sonnigen Gartenpfad; denn in meinem Innern er­ wachten alle Gedanken und spielten fort und fort mit dem Rätsel des Lebens,

wie mit einer goldenen Kugel, und ich war nicht wenig überrascht, mich un­

versehens vor der Stadt zu befinden.

Als ich vor unser Haus kam, merkte

ich an den dunteln Fenstern, daß meine Mutter schon schlief; mit einem heim-

kehrenden Hausgenossen schlüpfte ich ins Haus und auf meine Kammer, und am Morgen that meine Mutter die Augen weit auf, als sie mich unerwartet

zum Frühstück erscheinen sah. Ich bemerkte sogleich, daß in unserer Stube eine kleine Veränderung vor­ gegangen war. Ein Lotterbettchen stand an der Wand, welches die Mutter

aus Gefälligkeit von einem Bekannten gekauft, der dasselbe nicht mehr unter­

zubringen wußte; es war von der größten Einfachheit, leicht gebaut und nur mit weiß und grünem Stroh überflochten und doch ein ganz artiges Möbel. Aber auf demselben lag ein ansehnlicher Stoß Bücher, an die fünfzig Bändchen,

alle gleich gebunden, mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf dem Rücken

versehen und durch eine starke vielfache Schnur zusammengehalren. Es waren Goethes sämtliche Werke, welche ein Trödler, der mich mit alten Büchern und vergilbten Kupferblättern in ein vorzeitiges gelindes Schuldentum zu ver-

380 locken wußte, hergebracht hatte, um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf an­ zubieten.

Vor einigen Jahren hatte ein deutscher Schreinergeselle, welcher in

unserer Stube etwas zurechthämmerte, dabei von ungefghr gesagt:

„Der große

Goethe ist gestorben", und dies Wort klang mir immer wieder nach.

„Der

unbekannte Tote schritt fast durch alle Beschäftigungen und Anregungen und überall zog er angeknüpfte Fäden an sich, deren Enden in seiner unsichtbaren

Hand verschwanden.

Als ob ich jetzt alle diese Fäden in dem ungeschlachten

Knoten der Schnur, welche die Bücher umwand, beisammen hätte, fiel ich über denselben her und begann hastig ihn aufzulösen, und als er endlich aufging, da fielen die goldenen Früchte des achtzigjährigen Lebens auf das Schönste auseinander, verbreiteten sich über das Ruhebett und fielen über desien Rand

aus den Boden, sammenzuhalten.

daß Ich

ich alle Hände voll zu thun hatte, den Reichtum zu­ entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom

Lotterbettchen und las dreißig Tage lang, indesien es noch einmal Winter und wieder Frühling wurde; aber der weiße Schnee ging mir wie ein Traum vor­ über, den ich unbeachtet von der Seite glänzen sah. Ich griff zuerst nach allem, was sich durch den Druck als dramatisch zeigte, dann las ich alles Gereimte, dann die Romane, dann die italienische Reift, und als sich der Strom hierauf in die prosaischen Gefilde des täglichen Fleißes, der Einzelmühe verlief, ließ ich das Weitere liegen und fing von vorn an und entdeckte diesmal die ganzen Sternbilder in ihren schönen Stellungen zu einander und dazwischen einzelne seltsam glänzende Sterne, wie den Reineke Fuchs oder den Benvenuto

Cellini. So hatte ich noch einmal diesen Himmel durchschweift und vieles wieder doppelt gelesen und entdeckte zuletzt noch einen ganz neuen hellen Stern: Dichtung und Wahrheit. Ich war eben mit diesem zu Ende, als der Trödler hereintrat und sich erkundigte, ob ich die Werke behalten wolle, da sich sonst ein anderweittger Käufer

gezeigt habe.

Schatz bar bezahlt werden, was

jetzt

Unter diesen Umständen mußte der

über meine

Kräfte ging;

die Mutter

sah wohl, daß er mir etwas Wichttges war, aber mein dreißigtägiges Liegen und Lesen machte sie unentschloffen und darüber ergriff der Mann wieder seine

Schnur, band die Bücher zusammen, schwang den Pack auf den Rücken und empfahl sich. Es war, als ob eine Schar glänzender und singender Geister die Stube verlieben, so daß diese auf einmal still und leer.schien; ich sprang auf, sah

mich um,

die

und würde mich wie in einem Grabe gedünkt haben,, wenn nicht

Stricknadeln meiner

Mutter ein

Ich machte mich ins Freie;

freundliches

Geräusch

und das formenreiche Gebirge lagen im milden Schein

indem meine Blicke alles umfaßten,

Vergnügen,

verursacht

hätten.

die alte Bergstadt, Felsen, Wald, Fluß und See der Märzsonne,

und

empfand ich ein reines und nachhaltiges

das ich früher nicht gekannt.

Es war die hingebende Liebe

an

alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen

Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet. Diese Liebe steht höher als das künstlerische Herausstehlen des Einzelnen zu eigen­ nützigem Zwecke,

welches

zuletzt immer zu Kleinlichkeit und Laune führt;

sie

381 steht auch höher als das Genießen und Absondern ^nach Stimmungen und romantischen Liebhabereien, und nur sie allein vermag eine gleichmäßige und dauernde Glut zu geben. Es kam mir nun alles und immer neu, schön und merkwürdig vor und ich begann, nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt, das Wesen und die Geschichte der Dinge zu sehen und zu lieben. Obgleich ich nicht stracks mit einem solchen fix und fertigen Bewußtsein herum­ lief, so entsprang das nach und nach Erwachende doch durchaus aus jenen dreißig Tagen, sowie deren Gesamteindrucke noch folgende Ergebnisse ursprünglich zuzuschreiben find. u. s. w.

§ 144. Bnr Geschichte und Litteratur des Romans. Da der Roman ein Bild des wirklichen Lebens ist, so müssen selbstredend diejenigen Völker, welche das bewegteste Leben führen, die meisten interessanten Romane aufzuweisen haben; also Engländer, Fran­ zosen, Amerikaner, Deutsche rc. Wir streifen kurz die fremden Litteraturen, um sodann die Ge­ schichte der deutschen Romanlitteratur in ihren wesentlichen Vertretern aufzurollen, soweit dieselben nicht bereits Bd. I § 18, sowie § 126 bis 144 d. Bds. erwähnt sind. I. Griechen. Der Roman in unserem Sinne konnte bei den Griechen selbst in ihrer Blütezeit nicht gedeihen. Man hatte dort zu jener Zeit noch kein häusliches Leben; alles war öffentlich, die Geschäfte wie das Vergnügen, die Staatsangelegenheiten wie die olympischen Spiele und das Theater. Daher kannte man auch nicht eine ver­ borgene Liebe mit ihren Leiden und Freuden, wie eine solche eine Hauptrolle in unseren Romanen spielt. Erst als in Griechenland das öffentliche Leben aufhörte und ein jeder sich auf seine Familie beschränkte — als die Blüte der Litteratur vorüber war, begann der griechische Roman im besseren Sinne unter dem Ramen: „milesische Märchen". Diese sind von Aristides verfaßt und enthalten Scenen aus dem Leben Milets, der Vaterstadt der Hetären. Als die ersten griech. Romandichter sind zu nennen: 1. Antonius Diogenes (2. Jahrh, n. Chr.; er schrieb: Die Wunder jenseit Thule). 2. Lucius aus Paträ, und Jamblichus, beide im 2. Jahrh, n. Chr. 3. 200 Jahre später Heliodorus, Achilles Tattus, Longus, Xenophon aus Ephesus. 4. Um 600 n. Chr. Chariton. Endlich

5. aus dem 11.—13. Jahrh. Eumathius, Theodorus, Prodromus und Rikotas Eugenianus, welch letztere wegen ihrer erotischen Stoffe den Beinamen Erotiker trugen. (Eine Geschichte des griech. Romans schrieb Erwin Rohde.) II. Italiener. Diesen genügte die Novelle und das Epos, weshalb ihnen der Roman — mit Ausnahme einer Art Ritkerroman — fast 1>is in die Neuzeit fehlte. Da war es denn Alessandro Manzoni, welcher in Verehrung Walter Scotts 1825 in seinen klassischen I promessi sposi (Die Verlobten)

382 den historischen Roman begründete.

(Inhalt: Don Rodrigo, ein vornehmer

Wollüstling, welcher sein Auge auf die Braut eines Seidenwebers gerichtet hat, hintertreibt deren Trauung; doch kann er nicht Erhörung finden. Die poetische Gerechtigkeit läßt ihn durch die Pest hinwegraffen, worauf die Verfolgte den Geliebten heiratet. Goethe urteilt über diesen Roman, „man werde von der Bewunderung zur Rührung, von der Rührung zur Bewunderung hingerisien".) Die bedeutendsten Nachfolger Manzonis, zu denen fast alle berühmten Staats­ männer zählen, sind: Giov. Rosini aus Pisa; Ces. Cantü (Margherita Pusterla, Mail. 1837); Lucrezia Marinella (L'Enrico Mail. 1844); Massimo dÄzeglio;

Domenico Guerazzi, besten letztes Werk Beatrice Cenci berechtigtes Aufsehen erregte u. a. III. Spanien. Die Romane (novela) erblühten hier aus der romanischen Dichtung. Ursprünglich waren es gehaltlose Ritterromane. Don Miguel de Cervantes de Saavedra (f 1616) in seinem humoristischen Don Quijote, d. i. Leben und Thaten des sinnreichen Junkers Don Quijote aus der Mancha, parodierte dieselben. Übersetzt wurde derselbe u. a. von E. Zoller.

(Inhalt des Don Quijote: Ein durch die Lektüre von Ritterromanen überspannt gewordener Landedelmann, der Alles glaubt, was die Romane er­ zählen, faßt den Entschluß, fahrender Ritter zu werden. Zur Rüstung wählt er Waffenstücke verschiedener Zeiten und zum Knappen den Bauern Sancho Pansa, einen gutmütigen, einfältigen, täppischen, zuweilen schalkhaften Menschen, der gern lügt und besonders das Essen liebt. Windmühlen sieht er für Riesen an, Wirtshäuser für Ritterburgen, Stalldirnen für Ritterfräulein. Man er­ klärt ihn endlich für toll und bringt ihn in die Heimat zurück, wo er in eine Krankheit verfällt, nach welcher er seine vernünftige Anschauung wieder erlangt. Der Roman wurde vielfach nachgeahmt, z. B. vom Engländer Butler im Hudibras; von Wieland im Don Sylvio von Rosalva u. a.) Cervantes wurde Begründer des Liebesromans. Ende des 16. Jahrh, entstanden auch die komischen (Schelmen-) und die Schäfer-Romane. Die Bewunderung für Walter Scott schuf den historischen Roman Gomez Arias von Telesforo de Trueba y Cosio. Man übersetzte die englischen Romane. Beliebte Originalromane ent­ hält die Coleccion de novelas histöricas 1832—35. Gefeierte Rom andichter sind: Espronceda, Soler, Mariano Jose de Larra, Jorge Montgomery, Fernan Caballero (begr. d. span. Sittenroman), Perez Galdos, Juan Valera, Fernandez y Gonzales u. a. IV. Frankreich. In Frankreich gab es zuerst prosaische Ritterromane. Diese wurden sodann im 16. Jahrh, verdrängt durch den weltberühmten phan­ tastischen, witzsprudelnden, aber auch unflätigen satirischen Roman des Francois Rabelais: Pantagruel und Gargantua rc. (Inhalt: Der Riese Gargantua nimmt aus der Notre-Dame-Kirche in Paris die Kirchenglocken weg und hängt sie seinem Riesenroß als Schellen an. Er schlichtet den Krieg der Bäcker und Weinbauern und stillt seinen Durst mit Lattichsalat, wobei er sechs im Salat versteckte Pilger beinahe mit verschluckt hätte u. s. w. Der Roman verhöhnt j)ie politischen Institutionen seiner Zeit und bietet vorttefftiche Gedanken über

383 Erziehung, Litteratur, Philosophie rc.) Nachgeahmt wurde der Roman von Fischart in der „Affenteuerlichen und Naupengeheuerlichen Geschichtkittemng. Von Thaten und Nahten der vor kurzen, langen weilen Vollenwolbeschreiten Helden und Herren Grandgusier, Gargantua und Pantagruel, Königen in Utopien und Nienenreich. Etwan von M. Rabelais französisch entworfen, nun aber ober­ schrecklich lustig in ein deutsches Modell Dergoffen durch Huldrich Elloposkleron 1575 (von eUoip — ellops Fisch und axX^Qog — skleros — hart: Fischhart). Nach Rabelais machte sich der galante Schäferroman nach spanischen und italienischen Mustern geltend. (Den bedeutendsten Astree von Honore d’ürfe haben wir bereits S. 369 erwähnt.) Dann brach sich der historische Roman Bahn, sowie der die bürgerlichen Verhältnisse von Paris behandelnde Roman. Scarron führte das komische Element der italienisch-spanischen Romanük in die französische Litteratur durch seinen Roman comique ein. Fonälon schrieb 1698 den besten Roman des Jahrhunderts: Les aventures de Telemaque. Nun begründete Alain Rene Lesage durch feinen Diable boiteux 1707 eine neue Art satirischer Romane, die zur Schule hindrängten, welche zwischen Klassizis­ mus und Romanttzismus in der Mitte steht und Moral, Natur und Gemütsleben in ihre Kreise zogen. — Bedeutendes Aufsehen erregte Voltaire (Candide rc.), Rousseau (Heloise), u. a. Charles Antoine Pigault Lebrun (f 1835), der den komischen Roman pflegte, und Paul de Kock (1794—1871) wählten häufig Stoffe aus den Sphären des Gewöhnlichen, Niedrigen. Ihnen stellten sich durch zarte würdevolle Auffassung Frau Sophie Gay und Frau Cottin entgegen. Die Romantiker Vict. Hugo, Alfr. de Vigny, Alex. Dumas, Lacroix, Morimee verhalfen dem Roman zur unbestrittenen Herrschaft. Den historischen Roman pflegte Barginet, Paul de Muffet u. a., den Sittenroman Balzac, Frau Mazure, Frau Foa, Hortense Allart u. a. Außerdem ist erwähnenswert der Begründer des Seeromans Eugene Sue, der über Voltaire und Lesage zu stellen ist. / Voltaire liefert Karikaturen, Lesage schlechte Charaktere, Eugene Sue stellt den Schurken herrliche tugendhafte Charaktere (die bedenklichen Les mysteres du peuple ausgenommen) gegenüber. Muster des guten Romans ist sein von Theod. Hell deutsch übersetzter Ewiger Jude, sowie seine Geheim­ nisse von Paris. Dieselben sind vom Geist der Wahrheit und der christlichen Humanität durchzogen. Beide Romane sind Zeitbücher, weshalb sie vom Lese­ publikum aller Länder förmlich verschlungen wurden. Von den Seeromanen, die Sues Ruf begründeten, erwähne ich nur: Kemock le pirate, sowie La Salamandre. Im Liebesroman hat sich die auch für Frauen-Emancipation wirkende George Sand hervorgethan, die wie Eugene Sue dem Roman sociale Ideen vermählte. Jol pflegte den Abenteuerroman, Blaze den Soldatenroman, Nodier den phantastischen. Poettsch bedeutend sind die Romane der Sophie Gay und in der Neuzeit des Alphonse Daudet, dessen 1874 von der Akademie gekrönter Sittenroman Fromont jeune et Risler aine ins Deutsche über­ tragen wurde und 1876 schon drei Auflagen erlebt hatte. Vielgelesen sind

384 noch: Stael-Holstein, Lavier de Maistre, Jony, About, Flaubert (dessen karthag. Roman S^lammbo 1862 und L’education sentimentale Aufsehen erregten), V. Cherbuliez, in neuester Zeit der zweiselhafte Emile Zola u. a. V, England. Der englische Roman ist aus den Prosabearbeitungen der Metrical romances entstanden und erreichte bereits Anfangs des 18. Jahrh, eine nennenswerte Verbreitung. Der Begründer des neueren englischen Ro­ mans ist Daniel Defye (1661—1731), dessen Robinson Crusoe durch Campes berühmte Nachbildung auch in Deutschland ungemein populär wurde. Samuel Richardson (f 1761) schuf durch seine Romane Pamela, Grandison, Clarissa Hariowe den von Hermes nach Deutschland verpflanzten Familienroman. Fiel­ ding (f 1754 mit Tom Jones), Sterne (f 1768 mit Tristram Shandy), Smottet (f 1771 mit Peregrine Pickle) begründeten den humoristischen Fa­ milienroman. In unserem Jahrhundert drängte sich der Sensationsroman in den Vordergrund, sowie der durch Walter Scotts (t 1832) Waverley-Novels begründete historische Roman, der von epochebildender Bedeutung für die Romanlitteratur aller Nationen wurde. Beliebt wurden auch die in Deutschland viel­ fach verbreiteten Gesellschastsromane Bulwer-Lyttons. Charles Dickens (geb. 1812) und Thackeray, der Begründer des Sittenromans, pflegten in der Neu­ zeit den alten humoristischen Familienroman. Vielgelesene Romane schrieben noch Marryat, Trollope, Collins, Kingsley, Mrs. Wood.. Der allergrößten Beliebtheit unter allen Romanschriftstellern Englands erfreut sich unstreitig Mary Evans, die unter dem Pseudonym George Eliot die weltberühmten Romane The Mill on the floss, Felix Holt, Adam Bede, Middlemarch und Daniel Deronda rc. veröffentlicht hat rc. VI. Niederlande. Erst Ende des vorigen und Anfangs dieses Jahr­ hunderts begann die niederländische Romanlitteratur sich zu entfalten. Tie Schriftstellerinnen Wolff und Deken liebten den Roman in Briefform. Breno Daalberg schrieb Sensattonsromane. Den historischen Roman pflegte Jac. van Len­ nep (f 1868), der seine Stoffe der vaterländischen Geschichte entlehnte. Neben ihm Frau Bosboom Toussaint, ferner Schimmel u. a. Der niederländische Auerbach ist Cremer. Der populärste Romanschriftsteller aber ist neben Snieders der in alle Sprachen übersetzte Hendrik (— Heinrich) Conscience. Seinen Ruf begründete der flämische Roman „Der Löwe von Flandern", ein historischer Roman höheren Stils, dessen Handlung den Kampf sämtlicher flandrischer Städte gegen französische Usurpation umschließt. Ebenso bekannt wurde bei uns seine von Zoller u. a. übertragene Dorfgeschichte Der Rekrut u. a. VII. Schweden und Norwegen. Erwähnenswert ist der Romantiker Almqvist, sowie durch seine Pflege des historischen Romans Crusenstolpe; ferner die vielgelesene Frederike Bremer, Frau Flygare-Carlen, Frau Knorring, Palmblad, Ridderstad, Mettin, Schwarz, Topelius (schwedisch schreibender Finne) und von den Neueren besonders Rydberg, u. a. Von den Norwegern ist zu nennen : Björnson, Lie, Thoresen (Dorfgesch.), Colban, Glöersen und der nur deutsch schreibende Henrich Steffens 0- 1845. Vgl. dessen Romane Malkolm und Die

vier Norweger rc.). ....

385 VIII. Dänen. Ihre bedeutendsten Romanschriftsteller sind Jngemann (schrieb Ritterromane), Frau Gyllemburg, Blicher, Carl Bernhard, Goldschmidt,

Ewald, Rumohr, Thisted, Drachmann, Jacobsen, Schandorph, Carit Etlar, Hauch und Andersen. Obwohl die Beliebtheit des Romans um die Mitte unseres Jahrhunderts sich steigerte, so ist doch nur der Name Bergsöe und seit 1870

G. Brandes von Bedeutung.

IX. Roman.

Russen.

In Rußland wurde die Novelle

mehr gepflegt als der

Die bedeutendsten Romanschriftsteller und zugleich Novellisten sind: Tur­

genjew ; Bulgarin, der historische Romane schrieb; und besonders der Meister des Romans: Gogol. Außer diesen sind in unserer Zeit gelesen: Dostojewskij, Pisiemski, Tschernischewski (Vers, des berühmten Tendenzromans: Was ist zu thun?), Frau Pawlow, Helene Weltmann (die historische Romane schrieb) und viele andere.

X. Ungarn. Der Roman wurde besonders durch den Piaristen Andreas! Dugonics in die ungarische Litteratur eingeführt, sowie durch Könyi. Bedeu­ tender als diese waren Jostka, Eötvös (f 1871), Kemeny, der historische

Zustände trefflich malte, besonders aber der durch Humor und Phantasie glän­ zende, unübertroffene Moriz J6kai. (Die größte Berühmtheit erlangte deffen Nevleten vär, Das namenlose Schloß, dessen Mottv der französischen Geschichte entlehnt ist, während der wesentliche Teil der Geschichte in Ungarn spielt. Ein französischer Legitimist rettet die 11jährige Tochter Maria Antoinettens und flüchtet mit ihr nach Ungarn, wo er am Neusiedler See ein Schloß — das

keinen Namen hat — ankauft. Zum Schluß acclimatisiert und nationalisiert sich der Retter und Ritter, wird Ungar rc.) XL Nordamerika.

Die hervorragendsten

nordamerikanischen Roman­

schriftsteller sind Cooper und Washington Irving. An sie reiht sich Hawthorne u. a. XII. Deutschland. Beim Abscheiden des Mittelalters — also mit dem

Erlöschen, der deutschen Heldensage — entstand bei uns zunächst eine Art Prosa­ epos, Prosaerzählungen, Übersetzungen von Ritterromanen rc. als Nachklänge der Rittersage: z. B. a. Eine Bearbeitung der Sage vom hörnernen Siegfried. (Inhalt: Siegfried von Santen kommt im Wald zum Schmiede Minner, wo er mit einem Schlag den Amboß spaltet.

Der erschreckte Meister

schickt ihn in den Wald mit dem Auftrag, den furchtbaren Lindwurm zu töten;

in Wirklichkeit will er ihm den Untergang bereiten.

Siegfried erlegt den Drachen,

badet sich im Blute dieses Ungeheuers, wodurch seine Haut bis auf eine durch ein Lindenblatt verdeckte Stelle hörnern wird. Nun erschlägt er den treu­ losen Schmied rc.) b. Weißkunig (Inhalt: Lebensgeschichte des Kaisers Maxi­

milians, der den von ihm entworfenen Plan durch seinen Geheimschreiber MaxTreitzsauerwein ausführen ließ.) c. Übersetzungen aus dem Französischen: Die Haimonskinder (I. 45); Die schöne Magelone; Melusina; Genofeva rc. rc.

Das Aufkommen der italienischen Renaissancedichtung erzeugte die arkadischen

Schäferromane und phantastische, romanartige Erzählungen, z. B. Das Buch der'

Liebe; Fortunatus mit seinem Seckel und Wunschhütlein; Wickrams Goldfaden (1557, neu durch Cl. Brentano 1809 herausgeg.), sowie das I. 49 A. a.

Aufgeführte.

Beyer, Deutsche Poetik. II.

25

386 Als Gegensatz zur Hof- und Volksdichtung entstand im 17. Jahrhundert der gelehrte, höfische Roman, sowie der Abenteuer- und Schelmenroman. (Auf­ zählung

naden

s. I

eine

Anfangs des

18. Jahrh, gewannen die Robinsv-

außerordentliche Verbreitung;

es erschienen über 40 verschiedene

52 A. a.)

Robinsone, ein geistlicher, ein jüdischer, ein medicinischer, ein westfälischer u. s. w. Das sich emporhebende Bürgertum ermöglichte

im 18. Jahrh.' den Familien­

roman, sowie — nach Walter Scotts Vorgang — den historischen Roman. Nach dem Romanversuche Gellerts (Die schwedische Gräfin) haben Wieland

und neben ihm Musäus und Hermes die ersten vollkommenen deutschen Original­ romane geschrieben. (I 54 1. und 55 m.) Durch Schillers großartige Bühnen­

erfolge (I 56) wurde für die Folge die deutsche Litteratur in neue Bahnen gelenkt; man verließ das Gebiet des Romans und der Novelle und suchte Er­ folge im Drama. Da war es Goethe (I 57), der die alten Versuche wieder

aufnahm und den deutschen Roman auf die neue Stufe echt künstlerischer Dar­ stellung emporhob. Er schrieb (seit 1807) die für die Wanderjahre bestimmten Novellen, zu denen auch die Wahlverwandtschaften gehören sollten, die jedoch während der Arbeit äußerlich wie innerlich zum Roman fich gestalteten. Der Vater des humoristischen Romans (der den Prometheusfunken des Romans

— den Humor — von den Engländern Sterne, Swift, Fielding entlehnte) wurde Jean Paul (vgl. I. 58 auch seine Nachfolger).

Eine eigenartige Färbung erhielt der Roman der Romantiker. auf das.christlich mystische Gebiet hinüber und trug

mehr

Er leitete

oder weniger

eine

gewisie Voreingenommenheit für Weichlichkeit, Sentimentalität, Abenteuerlichkeit, Farbenpracht rc. zur Schau (Aufzählung I 60).

Auf Goethe blickend hatten es fich die Vertteter des jungen Deutschlands (I 61) zur Aufgabe gemacht, eipe geistvolle Prosa zu bieten und das geist­ reiche Element,

die geistreiche Unterhaltung in den Roman

einzuführen.

Die

charakteristischen Reden der Romanhelden benützten sie, das jedesmalige Handeln

zu motivieren,

bunten Färbung

zu erklären,

ohne doch der dramatischen Lebendigkeit und

zu entbehren.

Der Leser

der

sollte die behagliche Freude des

Dichters am geistreichen Gespräch jedoch nicht merken.

Da nun aber beim je­

weiligen Begegnen der Charaktere des Romans deren Gespräch häufig in poinüerte, der Befriedigung und Selbstbespiegelung der Sprechenden gewidmete Phrasen auslief, so mußte es den Anschein gewinnen,

als ob manche Unter­

redung nur den glänzenden Phrasen zuliebe geschrieben sei; ja, es mußte fich fragen, ob durch die Spielereien des Scharfsinns, des Geistreichthuns und Geist­

reichtums nicht die schönen Bilder und Empfindungen der produzierenden Phantafie in den Hintergrund gedrängt wurden. So wurde es denn mit Jubel begrüßt, als sich allmählich — wie von selbst

— eine neue gesunde Epoche in der Romanlitteratur vollzog durch Freytag, Keller, Reuter, L. v. Francois, Ebers, Gutzkow, Scheffel u. a.: durch Freytag, der das

Volk bei seiner Arbeit aufsucht und indem er die Arbeit verherrlicht, den modemen socialen, aus dem vollen Menschenleben schöpfenden Roman bot; durch Keller,

der durch seine objektive Darstellung, wie durch seine sonnigklare Erzählungs-

387 weise den epischen, volkstümlichen Roman ausbaute; durch Reuter, der neue Muster des humoristischen Romans und in „Ut mine Stromttd" vielleicht den

besten Roman der Gegenwart lieferte, dessen volle Anerkennung leider das Idiom beschränkt; durch Luise v. Francois, die in anmutender Weise zeigte, wie ein moderner Roman philosophisch oder enger gefaßt pädagogisch sein kann, ohne durch Ebers,

abstoßend zu wirken;

der seine Historie und sein wiffenschaft-

liches Material in der Form eines historischen Romans darbietet u. s. w. Diese Schriftsteller stellten stch auf den Boden eines gesunden Realismus, auf welchem in den letzten Decennien manche gute Pflanze emporgeblüht ist. Der deutsche Roman ist durch sie mindestens gesunder, naturgemäßer, der Wirklichkeit des Lebens entsprechender geworden.

Zum Schluß dieser Zeichnung im großen Umriß haben wir im Anschluß an I S. 72 noch jene Romandichter zu nennen, welche innerhalb der letzten Periode von 1870 bis in die Gegenwart (eventuell auch noch von 1860—70) durch irgend eine nennenswerte oder berühmt gewordene Leistung sich bemerk­ lich machten, ohne in Bd. I § 18 oder in den §§ 126—143 irgendwo ge­

nannt zu sein (wir erwähnen dabei auch einige Fremde, Deutsche übersetzten Romane bei uns Einfluß übten):

sofern deren

ins

a. Historischer Roman: Außer den I S. 68 und 72 und 372 II ff. genannten Romanschriftstellern sind zu erwähnen: Adami, Breier, Brog, Busch, F. Dahn, Diez, Egan, Frenzel, Gayette-Georgens, Grant, Hamerling, Ernst Harmening, M. Hartmann, L. Herbert, Th. Hemsen, Ed. Jost, Kirchbach, Landsteiner, Langer, A. v. Liliencron (Giovanna 1881, behandelt die fran­ zösische Revolution), Lippert, v. Maltitz, Konr. Ferd. Meyer (Georg Jenatsch, aus dem 30jähr. Krieg), Otftied Mylius, Neumann-Strehla, Norden, Philippson,

Reichenbach, Rüffer, F. L. Schubert, Levin Schücking (ein Meister des historischen Sittenromans), H. I.

Schwarz,

F. Sonnenburg,

P.

Stein,

v. Veltheim,

Zistler u. a. b. Philosophischer Roman: Außer den I 72 und II 374 ff. Ge­ nannten:

v. Auer, Belot, Brommer, Büchner, Erlburg, A. Fuchs, Pfarrius,

C. M. Sauer, Sttfft u. a. c. Moderner Roman (Zeitroman):

Außer den I 68

und II 374

Genannten: Adolay, Aimars, v. Amyntor, Anthony, Auersberg, Av6-Lallemant, Belani, Berger, BerkiM Beta, v. Bibra, Billig, M. Bormann, G. F. Bom,

v. Brackel,

T. S. Braun, G. v. Brühl, Collins, Dehnike,

Domi­

nikus, Dungern, Ebeling, Egan, K. Elmar, Fastenau, Ferry, Feuillet, Fr. Friedrich, Fritze, Gensichen, Gerstenberg, Grimard, W. Grothe, Baronin v. Grotthus, R. E. Hahn, Haidheim, Ed. Hammer, Heimburg, F. Helm, Henry,

Herzog,

Heßlein, v. Hillern, Hirschfeld, Höcker,

O. Hom,

I. P. Jakobsen,

Jensen, Katsch, v. Keller, E. Kellner, Kettnacker, v. Keffel, Kittl, Klee, G.

Knöpfer, E. Kronau, Kohlenegg. Krane, Krabbe, C. Kraus, Krause, Theod. und Anni Küster, L'Arronge, Mahler, H. Martin, Mels, Mitzlaff, O. Moser, L. Mühl­

feld, Müller v. Königswinter, Nentwig, Olivier, Pflug, O. Pollak, Gust, zu

Putlitz, Rafael, Reid, Reinfels, v. Roskowska, Rothenfels, El. Schack von Jgar,

388 Max von Schlägel, H. Seidel, Smidt, Steen, Streckfuß, Tarnow, Vely, Verena,

. F. Th. Vischer, Vollmer, Walther, Weller, Widdern, Ziemsien u. a. d.

Volkstümlicher Roman

I 73 und II 375 ff. Genannten:

A. Beneke,

Biursten,

Brandrupp,

und

Dorfgeschichte:

Außer

den

Alar^on, Allwey, Anzengruber, A. Becker, Ernst, E. Höfer, Holtei, Hans Hopfen,

Kleinsteuber, Lenzen, B. Lohmann, Neumeister, Scheibe, Schmeichel, Silberstein, Steltzig, Weber, I. Westphal, Wichert u. a. Einzelne Romanschriftsteller, die von uns weder I § 18 noch II 8 126 bis

143 genannt wurden, ließen ihre z. T. recht gediegenen Romane im Feuilleton von Zeitungen oder in periodisch erscheinenden Journalen erscheinen. Gediegene Romane finden sich aber auch noch in folgenden Publikationen: Album, Bibliothek

deutscher Originalromane; Album, eine Unterhaltungsbibliothek; Bibliothek klassi­ scher Romane; Museum, Bibliothek der besten Romane; Originalbibliothek deutscher

Volksromane; Illustrierte Nomanbibliothek; Transatlantische R.B.; Neue R.B.; Günthers deutsche R.B.; Romanmagazin des Auslands; Roman- und Novellen­ bibliothek; Roman- und Novellenmappe; Wiener Romane; Deutsche Romanzeitung; Deutsche Romanbibl. zu Über Land und Meer; Illustrierte Romane aller Nationen; Schäfers Romanblätter rc. (Vgl. auch S. 402 d. Bds.) Über die Geschichte des Romans haben geschrieben Wolff (Allg. Gesch.

des Romans. Jena 1841.1850); Eichendorff (Der deutsche Roman im 18. Jahrh. Leipzig 1851); Cholevius (Die bedeutendsten deutschen Romane des 17. Jahrh. 1866); Fr. Kreyßig (Vorlesungen über den deutschen Roman der Gegenwart. Berl. 1877. 2. Ausl.); Felix Bobertag (Gesch. des Romans und der ihm ver­

wandten Dichtungsgattungen in Deutschland.

Bis jetzt 2 Bände erschienen) rc.

§ 145. Novelle. 1. Novelle ist eine künstlerisch ausgeführte, anmutige, frische, oft kühne Darstellung einer pikanten, interessanten Begebenheit: eine ansprechende, fesselnde Kunst-Erzählung, welche dem Bedürfnis einer erfahrenen, reifen, gebildeten Konversation entspricht. (Durch diese scharfe Begrenzung ist wohl ihre Verschiedenheit von der einfachen Erzählung, ferner von der kunst- und planlosen, unveredelten Er­ zählung des gewöhnlichen Lebens, sowie auch von „der als Anekdote bezeichneten kurzen Erzählung einzelner interessanter Äußerungen, Züge oder Handlungen zur Genüge präzisiert. Näheres bringt die Äus-

führung sub 1 und 3.) 2. Wie von der einfachen Erzählung nach unten, so unterscheidet sich die Novelle auch' nach oben von dem meist größeren, in den Situationen verwickelteren Roman, zu dem sie sich verhält, wie eine Episode aus dem Leben des Helden zu dessen völliger Entwickelung, oder wie ein Abschnitt aus der Weltgeschichte zur Weltgeschichte selbst. 3. Das Wort Novelle stammt von dem ital. novella oder dem französischen nouvelle und bedeutet soviel als Neuigkeit, kleine Neuig-

389

keit, Anekdote. Boccaccio (im Decamerone) verlieh der Novelle kunst­ vollere Ausbildung. 4. Goethe faßte die Novelle wie Boccaccio auf. Die freie Form der Gegenwart verlieh ihr aber erst Tieck. Eine kleine Novelle heißt Novellette. (Beispiele der Novellette lieferte Rosenthal-Bonin im Heiratsdarnrn, sowie Wickede u. et.) 1. In der Theorie wie in der Praxis unterscheidet man zwischen Novelle und Erzählung folgendermaßen: Eine ruhig vorwärts schreitende Geschichte, welche

die Begebenheiten der Reihe nach vom Anfang an vorführt und auf künstlerische Tüchtigkeit hinsichtlich der Erfindung und Ausführung verzichtet, heißt in der Regel nur Erzählung. Zur Novelle wird die Erzählung, wenn sie einen mehr dramattsch bewegten Ausdruck annimmt und bei den wichtigeren Momenten und Situationen verharrt, wenn sie ferner ihrem Helden a priori Bedeutung verleiht und durch dessen Schicksal volles Interesse erzeugt, wenn sie endlich nach der Hauptsache

sofort abschließt, das Minderbedeutende der Ergänzung des Lesers überlassend. — Um ein Beispiel anzugeben, so läßt die Erzählung den Helden vom Vater­ hause weggehen, begleitet ihn nach Hause und schildert in ungekünstelter Weise noch das erlebte, häusliche Glück; die Novelle dagegen beginnt außen, greift zurück in kunswollen Jntermezzo's und bricht nach der Heimkehr des Helden ab,

(Vgl. den Schluß der Novelle

nachdem sie seine Zukunft hat ahnen lassen. Heyses S. 396 d. Bds.)

2. Während der Roman

die Einheit in

einer Reihe von

Handlungen

bietet, ist die Novelle eine einzelne Geschichte in möglichst einfacher durchsichtiger Weise. Sie verhält sich zum Roman, mit dem sie die Einteilung gemein hat,

wie die poettsche Erzählung zum Epos,

wie

der

Kreisausschnitt zum

Kreis.

Während der Roman das gesamte Leben und somit alle Verhältnisse und Beziehungen

des Helden umfaßt, hat die Novelle, die sich mit einem Lebensabschnitt begnügt, nur ein specielles, ein individuelles Interesse; während ferner der Roman den Charakter sich

erst

entwickeln läßt,

genügt

der Novelle

ein bereits

fertiger

Charakter, den sie in eine Situation versetzt, in welcher er sich bewähren soll.

Es ist daher die Novelle,

als Episode

aus

dem Leben des Helden, in

der

Regel kürzer, als der Roman, obwohl die Kürze kein notwendiges Erfordernis

der Novelle ist.

Gar mancher ostensibel angezeigte Roman ist nur eine Novelle.

Goethes Wahlverwandtschaften stehen zwischen Novelle und Roman. (3it romanhafter Breite ist hier die Geschichte der unglücklichen Liebe beider Paare behandelt; aber die Beschränkung auf ein Liebesverhältnis engt diesen Roman fast zur Novelle ein.) Steffens' Roman Die Familie Walseth

und Leith (1827) und Die vier N orweger sind zusammengefügte Novellen.

Steffens hat ihnen den Namen Novellencyklus gegeben.

Der berühmte Nor­

weger hat das Verhältnis der Novelle zum Roman ähnlich genommen, wie das der epischen Rhapsodie zur Epopöe aufzufaffen ist. Im Roman muß sich alles aus

den gegebenen Verhältnissen entwickeln

und gewissermaßen als Folie einer höheren Weltordnung Novelle darf auch der Zufall walten.

erscheinen, in der

390 Im allgemeinen muß man zugeben, daß der Roman, im Gegensatz zur Novelle, eine bestimmte Richtung auf die Sitte und das Historische nimmt, was

bei der Novelle durchaus nicht nötig ist.

Der Roman mit seinen vielen Personen

repräsentiert die Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit und wird dadurch lokal,

ja national — historisch.

In diesem Sinne könnte man sagen, daß jeder

Roman national, historisch sei, wenn nicht für die Mitwelt, so doch für die Zu­

kunft. (Wilhelm Meister und Der Titan sind für uns bereits eben solche geschichtliche Denkmale geworden, wie der Simplicissimus.) Die Novelle stellt

ihre Figur und deren Geschick von der Gesellschaft abgesondert dar und bezweckt nur allgemein menschliches Jntereffe, wobei allerdings zuzugeben ist, daß eine

Vereinigung

von Novellen dem Ganzen ein historisches Gepräge zu verleihen

im Stande ist. 3. Man bezeichnete ursprünglich jede eng begrenzte Erzählung oder Geschichte

in Prosa als Novelle. So enthält z. B. die älteste, italienische Novellensammlung aus dem 13. Jahrhundert (die Cento novelle änliche) viele Novellen, die wir eben historische Anekdoten nennen würden. Erst durch den Decamerone des Boccaccio (j* 1375), der keine einzige seiner an die Sage oder Geschichte sich

anlehnenden hundert Novellen erfunden hat, erhielt die italienische Novelle kunst­ mäßigere Form und Ausbildung. Durch ihn wurde sie eine interessante, lebhaftere Erzählung, wie eine solche den Anforderungen der Ge­ bildeten entspricht.

4. Goethe war der erste Dichter, der die Novelle in diesem Sinne auffaßte (in Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, diesen kleinen humoristisch sprudelnden Novellen im geistreichen Konversationston). Er nennt als sein Vor­ bild den Decamerone, während der gelehrte Julian Schmidt meint,

Diderots

Jacques le fataliste habe größeren Einfluß auf ihn geübt. In neuester Zeit hat die Novelle die größte. Verbreitung in Zeitschriften gefunden.

Tieck war es, welcher der Novelle eine unserer Zeit entsprechende

freiere Form verlieh, indem er sich ihrer

bediente,

um interessante, wichtige

Fragen und Ideen klarzulegen. Er gab ihr auf diese Weise das Raisonnement des philosophischen Romans, wodurch sie natürlicherweise auch an

Ausdehnung gewinnen mußte. Die gute Novelle, welche mit der flachen, banalen Feuilletonnovelle gewifler

Vielschreiber nichts gemein hat, bietet nunmehr durch die Aussprüche ihrer

Personen ein Bild der Zeit, und vermittelt auch die Resultate aus den Gebieten der Wissenschaft, der Moral und der Kunst rc.

Die Novelle in Versen pflegte besonders auch Paul Heyse. Novelley in Versen 1863. 1870 rc.)

§ 146.

(Vgl.

Ges.

Anforderungen an Lie Novelle, wie an den Novellisten.

1. Die Novelle verlangt einen fesselnden Grundgedanken, rasche Handlung, anziehende Gestalten, leichte, geistreiche, quellsprudelnde Darstellung, versöhnenden Schluß.

391 2. Daher muß sie die Prüfung eines geistreichen, erfahrenen Erzählers zu bestehen vermögen.

gebildeten,

I. Im Gegensatz zum Roman mit seiner bewußten, klaren, künstlerischen Komposition, seiner passenden Einleitung, Charakteristik der Figuren, Verwickelung, Katastrophe u. s. w. verlangt die Novelle die allereinfachste Anlage und Aus­ führung.

Ihr Reiz liegt in der leichten,

flüchtigen Zeichnung,

Bezugnahme auf Grundsätze, auf Sitte und Zeit.

nicht in der

Sie muß sich durch Geist

und Neuheit ihres Grundgedankens auszeichnen, wie durch poetisch-künstlerische

Abrundung, und infolge der geringeren Verwickelungen durch rasch fortschreitende Handlung. Ihre Gestalten müssen anziehend und bedeutend sein, die Verwickelung

einfach, leicht, effektvoll und geistvoll, die Darstellung, wie der ganze Plan klar, natürlich. Die sog. Breite des Epos, Episoden und lange Schilderungen sind dem Begriff der Novelle durchaus zuwider. Ebenso ist das Wunderbare in der Novelle, wie jedes nebensächliche, dem Begriff widersprechende Moment nicht am Platze. Auch darf die Katastrophe nicht eine drückende, unbehagliche Wirkung auf's Gemüt üben. Nur auf diese Weise wird die Novelle die Stelle einer geist­ vollen, pikanten Unterhaltung im gesellschaftlichen Leben zu vertreten vermögen.

2. Die Anforderungen an den Novellisten sind selbstredend keine geringen. Als in den Salons der Berliner Frauen, einer Bettina, einer Rahel u. a. die

bedeutendsten

Geister

verkehrten,

war

die Blütezeit der deutschen No­

velle. Berlin als Hauptort des Salons war auch das gsinsttgste Terrain für die Novelle. Berlin ist auch heute noch die beste Schule für den Novellen­ dichter, von dem man mehr als je die Fähigkeit einer leichten, angenehmen Unterhaltung, große Weltkenntnis, gründliches Wissen, Geist, Humor, Phantasie, besonders Fluß, Einfachheit und Klarheit der Erzählung fordern muß. Ähr

wer das menschliche Leben und Streben kennt und es mit universellem Sinn zu beurteilen versteht,

wird seine Leser

blicken lassen können.

Er wird verstehen, oft mitten in unaufgeklärte Begeben­

in

die

einzelnen Episoden desselben

heiten hinein zu versetzen, um zur rechten Zeit Aufklärung über Veranlassung und Beginn der Begebenheit zu geben. Vor allem wird er neue Gedanken zu bieten vermögen, die auch den Gebildeten interessieren und ihm zu der Über­

zeugung verhelfen, daß er sich in guter Gesellschaft befinde. Nicht immer leistet der Novellendichter zugleich auch Bedeutendes auf dem Gebiete des Romans. So hat sich z. B. Tieck, einer der besten Novellisten,

mehrfach im Roman versucht. Aber die besten seiner Romane (selbst der 1840 erschienene Vittoria Accorombona nicht ausgenommen) machen lediglich den Eindruck weit ausgeführter Novellen.

§ 147. Beispiele lesenswerter Novellen und chärMeristtsche Stilproben. I. Als instruktive Beispiele, welche die verschiedenartige Behand­ lung der Novelle ersehen lassen, erwähnen wir:

392 1. Tiecks Zauberschloß.

2. Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehe. 3. Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. 4. Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag.

5. W. Hauffs Die Bettlerin vom Pont des arts, sowie Phantasien im Bremer Ratskeller.

6. Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts. 7. Leopold Schefers Die Überschwemmung.

8. Ebers Eine Frage. 9. Ludwig Foglars Glaubensselig. 10. Prinz Emil zu Schönaich-Carolaths Tauwasser. 11. Paul Heyses Novellen in Versen, ferner Marion, und L'Arrabbiata.

12. Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla, Züricher Novellen und Das Sinngedicht.

II. Für Illustration des Stilfortschritts und der Stileigenheit beschränken wir uns auf drei charakteristische Proben: 1. aus Tiecks Zauberschloß, einer jener ersten Novellen, durchweiche

eine freiere Form der Novelle eingeleitet wurde; 2. aus L'Arrabbiata von Paul Heyse, einer

der vorzüglichsten

Novellen der Gegenwart; 3. aus einer dramatisch gehaltenen Frauennovelle (Durch Leid zu Freud) von der gern gelesenen Novellistin L. A. Weinzierl.

1. Aus Das Zauberschloß von Tieck. „Nur

nicht auf

diese Art raisonniert!"

rief der alte Freimund

aus;

„das Leben läßt sich nun einmal nicht so bettachten und noch weniger nach einigen Maximen einrichten. Hast du nicht die Fähigkeit, jeden einzelnen Fall

recht als einen einzelnen, aus seinen fernen und nächsten Bedingnissen herausgestalteten zu erwägen, ihn mit Geschicklichkeit nach seinen Umständen zu lenken,

und

ihn so seiner Bestimmung

entgegenzuschicken,

so

wirst du niemals

ein

brauchbarer Geschäftsmann werden, ja, auch als Privat immer nur an Zufällig­

keit laborieren, ohne deines Lebens froh zu werden!" „Zufälligkeit,

Zufälle!"

antwortete ihm

eben, die uns allenthalben zu thun machen. indem noch obenein, wenn etwa — —"

Schwieger:

„diese sind

es

ja

Und vollends, wenn nun gar,

„Donnerwetter!" rief Freimund, indem ihm der Wachsstock aus der Hand fiel, mit welchem er mühsam in einen Wandschrank hineinleuchtete; „Sebasttan! Angezündet!" Der Diener kam, hob die Wachsschere vom Boden auf und Freimund legte tiefatmend das lange thönerne Rohr, an welchem er geraucht hatte, auf

den Tisch.

Mit 'einem Seufzer setzte er sich auf den Sopha, in tiefen Gedanken

verloren.

Der Diener brachte das Licht, Freimund nahm es in die Linke, die

Pfeife in die Rechte, und ging wieder an den Schrank, mühsam und ängstlich in Papieren suchend, indem ihm große Schweißttopfen von der (Stirne rannen.

Es war in den heißesten Tagen des Julius und dem Kramenden war es sehr

393 mühsam, das Licht zu lenken, mit der rechten Hand die Akten zu sondern, sie

anders zu packen und schnell einzusehen, und wieder, auf Augenblicke mindestens, die Pfeife festzuhalten, drohte.

die

dem umklammernden Munde zu entfallen

immer

„Wenn es heller Sommertag ist", fing Schwieger bescheidenen Tones

an, „indem die Sonne scheint, dazu auch der Schrank dem Fenster gegenüber steht, und man das Rauchen nicht lassen will, so könnte unmaßgeblich das

Licht und die ganze Qual, die es macht, als überflüssig erscheinen."

Freimund drehte sich

mit einem verwunderten Gesichte herum, sah dem

alten Freunde mit aufgeriffenem Auge ins Antlitz,

setzte das brennende Licht

verdrießlich auf den Tisch und sagte halb lachend, halb zornig: „Dummer Mensch! Konntest du mir denn das nicht früher sagen?" „Einem Salomo", antwortete jener, „der alles so genau kalkulieren und im weisheitsvollen Leben sich »durch nichts will stören lassen, sagen wollen, er

brauche am hellen Tage keine Kerze, hieße sich doch zu viel herausnehmen." rc. 2. Aus L'Arrabbiata von Paul Heyse. (5. Aust. S. 44.) Es war keiner außer ihm (Antonio) in den zwei Kammern, durch die er nun hin und her ging. Zu den offenen Fensterchen, die nur mit hölzernen Läden verschloffen werden, strich die Lust etwas erfrischender herein, als über

das ruhige Meer, und in der Einsamkeit war ihm wohl. Er stand auch lange vor dem kleinen Bilde der Mutter Gottes und sah die aus Silberpapier daraufgeklebte Sternenglorie andächttg an.

Doch zu

beten fiel ihm nicht ein.

Um

was hätte er bitten sollen, da er nichts mehr hoffte? Und der Tag schien heute still zu stehn. Er sehnte sich nach der Dunkel­ heit, denn er war müde, und der Blutverlust hatte ihn auch mehr angegriffen, als er sich gestand. Er fühlte heftige Schmerzen an der Hand, setzte sich auf

einen Schemel und löste den Verband.

Das zurückgedrängte Blut schoß wieder

hervor, und die Hand war stark um die Wunde angeschwollen. sorgfältig und kühlte sie lange.

lich die Spur von Laurellas Zähnen. war ich und verdien' es nicht beffer. den Giuseppe zurückschicken.

Er wusch sie

Als er sie wieder vorzog, unterschied er deut­

Sie hatte recht, sagte er. Eine Bestie Ich will ihr morgen das Tuch durch

Denn mich soll sie nicht Wiedersehen. — Und nun

wusch er das Tuch sorgfältig und breitete es in der Sonne aus, nachdem er sich die Hand wieder verbunden hatte, so gut er's mit der Linken und den Zähnen konnte.

Dann warf er sich auf sein Bett und schloß die Augen.

Der helle Mond weckte ihn aus einem halben Schlaf, zugleich der Schmerz

in der Hand.

Er sprang

eben wieder auf,

Bluts in Wasser zu beruhigen, Wer ist das? rief er und öffnete.

um die pochenden Schläge des

als er ein Geräusch

an seiner Thür

hörte.

Laurella stand vor ihm.

Ohne viel zu fragen, trat sie ein.

Sie warf das Tuch ab, das sie über

den Kopf geschlungen hatte, und stellte ein Körbchen auf

den Tisch.

Dann

schöpfte sie tief Atem. Du kommst dein Tuch zu holen, sagte er; du hättest dir die Mühe sparen können, denn morgen in der Frühe hätte ich Giuseppe gebeten, es dir zu bringen.

Es ist nicht um das Tuch, erwiderte sie rasch.

Ich bin auf dem Berg

394 gewesen, um dir Kräuter zu holen, die gegen das Bluten sind. hob den Deckel vom Körbchen. Zu viel Mühe, sagte er und ohne alle Herbigkeit,

geht schon besser, viel bester;

Da!

Und sie

zu viel Mühe.

Es

und wenn es schlimmer ginge, ging es auch nach

Verdienst. Was willst du hier um die Zeit? Wenn dich einer hier träfe! weißt, wie sie schwatzen, obwohl sie nicht wissen, was sie sagen. Ich kümmere mich um keinen, sprach sie heftig.

Du

Aber die Hand will ich

sehen und die Kräuter darauf thun, denn mit der Linken bringst du es nicht

zustande. Ich sage dir, daß es unnötig ist. So laß es mich sehen, damit ich's glaube.

Sie ergriff ohne weiteres die Hand, die sich nicht wehren konnte und band die Lappen ab. Als sie die starke Geschwulst sah, fuhr sie zusammen und schrie auf: Jesus Maria! Es ist ein bischen aufgelaufen, sagte er,

das

geht weg

in einem Tag

und einer Nacht. Sie schüttelte den Kopf: So kannst du eine Woche lang nicht auf's Meer. Ich denk' schon übermorgen. Was thut's auch?

Indessen hatte sie ein Becken geholt und die Wunde von neuem gewaschen,

was er litt wie ein Kind. Dann legte sie die heilsamen Blätter des Krautes darauf, die ihm das Brennen sogleich linderten, und verband die Hand mit Streifen Leinwand, die sie auch mitgebracht hatte.

Als es gethan war, sagte er:

Ich danke dir.

Und höre, wenn du mir

noch einen Gefallen thun willst, vergieb mir, daß mir heut so eine Tollheit

über den Kopf wuchs, und vergiß das alles, was ich gesagt und gethan habe. Ich weiß selbst nicht wie es kam. du wahrhafüg nicht. dich kränken könnte.

Du hast mir nie Veranlaffung dazu gegeben,

Und du sollst schon nichts wieder von mir hören,

Ich habe dir abzubitten,

fiel sie ein.

Ich

was

hätte dir alles anders und

bester vorstellen sollen und dich nicht aufbringen durch meine stumme Art.

Und

nun gar die Wunde. — Es war Notwehr, und die höchste Zeit, daß ich meiner Sinne wiedermächtig wurde. Und wie gesagt, es hat nichts zu bedeuten. Sprich nicht von

Vergeben.

Du hast mir wohlgethan, und das danke ich dir.

Und nun geh

schlafen, und da — da ist auch dein Tuch, daß du's gleich mitnehmen kannst.

Er reichte es ihr, aber sie stand noch immer und schien mit sich zu kämpfen. Endlich sagte sie:

Du hast auch deine Jacke eingebüßt um meinetwegen, und

ich weiß, daß das Geld für die Orangen darin steckte. Es fiel mir alles erst unterwegs ein. Ich kann dir's nicht so wieder ersetzen, denn wir haben es nicht, und wenn wir's hätten, gehört' es der Mutter. Aber da hab' ich das

silberne Kreuz, das mir der Maler auf den Tisch legte, als er das letztemal bei uns war.

im Kasten

Ich hab' es seitdem nicht angesehen und mag es nicht länger

haben.

Wenn du es verkaufst — es

ist wohl

ein paar Piaster

wert, sagte damals die Mutter —, so wäre dir dein Schaden ersetzt, und was

395 fehlen sollte,

will ich suchen mit Spinnen zu verdienen.

Nachts,

wenn die

Mutter schläft.

Ich nehme nichts, sagte er kurz und schob das blanke Kreuzchen zurück,

das sie aus der Tasche geholt hatte. Du mußt's nehmen, sagte sie. Wer weiß, wie lang du mit dieser Hand nichts verdienen kannst. Da liegt's und ich will's nie wieder sehen mit meinen Augen.

So wirf es ins Meer. Es ist ja kein Geschenk,

das ich dir mache;

es ist nicht mehr als dein

gutes Recht, und was dir zukommt.

Recht? Ich

habe kein Recht auf irgend was von dir.

Wenn du mir

später einmal begegnen solltest, thu mir den Gefallen und sieh mich nicht an, daß ich nicht denke, du erinnerst mich an das, was ich dir schuldig bin.

Und

nun gute Nacht, und laß es das Letzte sein. Er legte ihr das Tuch in den Korb und das Kreuz dazu und schloß den Deckel darauf. Als er dann aufsah und ihr ins Gesicht, erschrak er. Große schwere Tropfen stürzten ibrv über die Wangen. Sie ließ ihnen ihren Lauf. Maria Santiffima! rief er, bist du krank? Du zitterst von Kopf bis zu Fuß.

Es ist nichts, sagte sie. Ich will heim! und wankte nach der Thür, das Weinen übermannte sie, daß sie die ©tim gegen den Pfosten drückte und nun laut und heftig schluchzte. Aber ehe er ihr nachkonnte, um sie zurück zu halten, wandte sie sich plötzlich um und stürzte ihm an den Hals. Ich kann's nicht ertragen, schrie sie und preßte ihn an sich, wie sich ein

Sterbender ans Leben klammert, ich kann's nicht hören, Worte giebst,

Gewisien.

und mich von' dir gehen heißest mit

daß du mir gute

all der Schuld

auf dem

Schlage mich, tritt mich mit Füßen, verwünsche mich! — oder wenn

es wahr ist, daß du mich lieb hast, noch, nach all dem Bösen, das ich dir gethan habe, da nimm mich und behalte mich und mach mit mir, was du willst. Aber schick mich nicht so fort von dir! — Neues, heftiges Schluchzen

unterbrach sie. Er hielt sie eine Weile sprachlos in den Armen. Ob ich dich noch liebe? rief er endlich. Heilige Mutter Gottes! meinst du, es sei all mein Herzblut aus der kleinen Wunde von mir gewichen? Fühlst du's nicht da in meiner Brust hämmern, als wollt' es heraus und zu dir? Wenn du's nur sagst, um mich zu versuchen oder weil du Mitleiden mit mir hast, so geh, und ich will auch das noch vergessen.

Du sollst nicht denken, daß du mir's schuldig bist,

weil

du weißt, was ich um dich leide. Nein, sagte sie fest und sah von seiner Schulter auf und ihm mit den nassen Augen heftig ins Gesicht, ich liebe dich, und daß ich's nur sage, ich hab es lange gefürchtet und dagegen getrotzt.

Und nun will ich anders werden,

denn ich kann es nicht mehr aushalten, dich nicht anzusehen, wenn du mir auf

der Gasse vorüberkommst.

Nun

will ich dich auch küssen, sagte sie,

dir sagen kannst, wenn du wieder in Zweifel sein solltest:

daß du

Sie hat mich geküßt,

und Laurella küßt keinen, als den sie zum Manne will. Sie küßte ihn dreimal, und dann machte sie sich los und sagte:

Gute

396 Nacht, mein Liebster!

Geh nun schlafen und heile deine Hand, und geh nicht

mit mir, denn ich fürchte mich nicht, vor keinem als nur vor dir. Damit huschte sie durch die Thür und verschwand in den Schatten der

Mauer.

Er aber sah noch lange durchs Fenster, aufs Meer hinaus, über dem

alle Sterne zu schwanken schienen. Als der kleine Padre Curato das nächste Mal aus dem Beichtstuhl kam, in dem Laurella lange gekniet hatte,

hätte gedacht, sagte er bei sich selbst, lichen Herzens erbarmen würde?

den Dämon Eigensinn nicht

lächelte er still in sich

hinein.

Wer

daß Gott sich so schnell dieses wunder­

Und ich machte mir noch Vorwürfe, daß ich

härter

bedräut hatte.

Aber unsere Augen sind

kurzsichtig für die Wege des Himmels. Nun so segne sie der Herr und lasse mich's erleben, daß mich Laurellas ältester Bube einmal an seines Vaters Statt übers Meer fährt! Ei ei ei! LÄrrabbiata!" (Schluß der Novelle.) 3. Aus Durch Leid zu Freud von L. A. Weinzierl. (Frauennovelle.) Ortmann, welcher fortan an jedem Abend einige Viertelstunden mit Hildegarde zu verplaudern pflegte, brachte auch die Bücher, welche ihr vor­ gelesen wurden. „Ich müßte mich arg irren," sagte er, als er drei Bände von ver­ schiedener Größe, doch alle von mäßiger Dicke nur, aus den Taschen seines Rockes zum Vorschein brachte, „wenn Sie mir nicht warmen Dank zollen

würden für diese Bücher. lichen Humors

in

sich;

Dies kleine Büchlein hier schließt eine Fülle köst­

unter seinem Einfluß wird man geneigt,

Welt und

Leben als lustige Komödie — wohlgemerkt nicht als Farce! — anzusehen. Es ist Scheffels Liederbuch Gaudeamus. In dem zweiten Bande, in Hebbels Nibelungen-Trilogie, finden Sie als Gegensatz markerschütternde Tragik."

„Ich kenne das Werk," sagte Hildegarde, „und ich teile Ihre Bewunde­ rung dafür, ja, vielleicht werden Sie finden, daß ich zu weit darin gehe. Oft

schon bin ich meines

ketzerischen

Geschmacks

wegen

gescholten worden,

aber

doch muß ich bekennen, daß mir die Nibelungen erst in dem Hebbelschen Aus­

schnitt Genuß bereiten ..." „Nun, wenn auch nicht reumütig, sehen Sie bei diesem Geständnis doch gehörig zerknirscht aus. Das ist immer etwas! Übrigens finde ich diese Ihre Anficht nicht unbegreiflich." „Etwas vor allem macht mir die Hebbelsche Tragödie — wie soll ich nur sagen? — „angenehm" ist da kein richtiges Wort, und doch muß ich es

gebrauchen, — daß der Dichter trotz des grausen Schluffes uns versöhnt ent­

läßt,

denn

wir empfangen den Eindruck der Notwendigkeit eines solchen: die

alte Zeit, das alte. Geschlecht, welches nicht zu verzeihen vermochte, mußte untergehen, damit das neue, desien Hauptgesetz nicht mehr die Rache war, sich geltend machen konnte.

In den Schlußworten Dietrichs von Bem: „Im Namen

Deffen, der am Kreuz erblich!" mit denen er die zu schwer gewordene Krone von König Etzels Haupte nimmt — bringt

der Dichter zum Ausdruck,

die Liebe fortan und nicht mehr der Haß herrschen sollte." „Herrscht sie etwa jetzt im neunzehnten Jahrhundert?"

daß

397 „In jedem edeln und guten Herzen!" „Da herrschte sie auch vorher, oder meinen Sie, daß das, was man christliche Tugend nennt, nicht auch früher gekannt und geübt worden wäre?"

„Gott bewahre mich vor dieser Ansicht! Eine Hölle war die Welt, denke ich, zu keiner Zeit, aber: „Verzeihe denen, die dich beleidigen," — „Thue,

wie du willst, daß man dir thue," — „Vergiß deiner selbst, um deines Nächsten willen" — und daß dieser Nächste nicht nur Weib und Kind, Familie,

Freunde, Vaterlandsangehörige, und im ausgedehntesten Falle ein Fremder, der durch seine Individualität imponierte, sei, sondern alle Menschen, die ärmsten und elendesten inbegriffen, hat doch nur wohl mit Christi Lehre Eingang gefunden.

Was früher nur Neigung, war dann Pflicht." „Man wird es Ihnen auch bestreiten, — nicht ich, denn auch ich^glaube an die civilisatorische Macht, die das Christentum hatte." „Nicht mehr hat?" fragte Hildegarde sanft, „ist die Verheißung zu Ende?" Ortmann sah vor sich hin. „Nein," sagte er nach einer Pause in herz­

lichem Tone, „fern sei es von mir, Ihnen gegenüber dies andeuten zu wollen. Wo noch Glaube ist, ist auch die Kraft." — Einmal brachte Ortmann einen Strauß dunkelroter Nelken mit. Hilde­ garde empfing ihn voll Freude. „Eben diese Gattung Nelken" — sagte sie,

den Dust einziehend — „ist die verbreitetste in Venedig; wie viele derselben steckten mir die Blumenmädchen auf dem Marcusplatze zu!" „Blumenmädchen! wie schön das dieser Truden ansichtig ..."

dem Fremden klang

und ward man

„Urahne, Großmutter, Mutter und Kind," recitierte Hildegarde. „Nun," sagte Ortmann lachend, „Kind war keine mehr, es waren sehr reife Schönheiten. Ich muß gestehen, daß, als ich später hörte, eine der ersten Maßregeln der neuen Regierung in Venedig sei gewesen,

die Blumenmädchen

zu pensionieren und durch frischen Nachwuchs zu ersetzen, ich meinen Beifall nicht versagte. — Sie kennen also Venedig, Fräulein Müller?" „Es war die glücklichste Zeit meines Lebens, die ich dort verlebte! Ich sühlte mich anfänglich wie geblendet, und dann stieg mir, glaube ich, all die

Schönheit zu Kopfe.

Ich war nie so ausgelaffen heiter, weder vorher, noch

später, als in jenen Tagen."

„Und doch nennen viele Venedig düster und traurig." „Ich

weiß

nicht, inwiefern ich geneigt wäre,

während der Regen- und

Sturmzeit in dieses Urteil einzustimmen. Im Frühling fühlte ich mich entzückt von allem, was mich umgab: blauer Äther, goldene Sonne, Meeresspiegel.. . doch ich will Sie mit meiner Rhapsodie verschonen, genug, daß ich in Venedig zum erstenmale zu der Überzeugung gelangte, das Leben sei doch sehr schön!" „Ich denke, wir wechseln den Gesprächsgegenstand, Fräulein Müller, Sie

werden mir zu aufgeregt! Der Schönheitsrausch — ich bitte um Verzeihung, aber Sie selbst brauchten den Vergleich — scheint noch nicht ganz verflogen zu sein." „Ach, und wie lange mußte ich von diesen Erinnerungen zehren!

und farblos wurden sie aber trotzdem nicht."

Duft-

398 „Ihr Gedächtnis ist also sehr gut?

Sie vergessen nicht leicht?"

„Ich vergesse gar nicht."

„Nie und niemals?" Hildegarde schüttelte ernsthaft den Kopf.

„Gott behüte Sie! Das ist ungesund." . „Was soll ich thun? Es ist einmal so." Ortmann zog

die Augenbraunen

in

die Höhe

und

meinte,

es sei ein

bedenklicher Fall, wüßte er, wie ihn zu behandeln, er thäte es gleich, aber Äskulap selbst konnte nicht Lethe verschreiben, — wie sollte er es versuchen!

„Sie hingegen, Herr Doktor, vergessen oft," sagte Hildegarde schelmisch lächelnd. „Ich!" rief Ortmann, seine Promenade durchs Zimmer plötzlich zu Ende bringend und vor Hildegarde stehen bleibend. „Was hätte ich vergessen?"

„Zum Beispiel: Den Dank einzufordern für die Wahl des dritten Buches, welches Sie mir damals brachten. Und mein Dank ist warm in der That!" „Aha! Dachte ich's doch, daß es Ihnen lieb sein würde, das Buch

kennen zu lernen.

Nun, geschieht Ihrem Heroworship, Ihrer Rückertverehrung

in dieser Biographie Genüge?" „Doktor Beyer, der Verfasser, nennt sein Buch ein Denkmal — und mit treuer Sorgfalt hat er die Steine für den Bau zusammengetragen und sinnreich in­ einander gefügt; so ist denn ein Ganzes entstanden, an dem gewiß jeder, der das Buch zur Hand nimmt, Freude haben kann, brächte er sogar nicht von vorne herein das gleiche Interesse für den Gegenstand mit, wie es bei mir der Fall gewesen." „Also: er lobt Rückert nicht nur, er zeigt vor allem, daß er allen Lobes

würdig sei — so meinen Sie? Eine Biographie soll auch in dieser Art geschrieben sein. — Nun wünschte ich aber weitere Vergeßlichkeiten nachgewiesen

zu haben!

Zum Beispiel?"

Ortmann zog einen Stuhl heran und saß rittlings darauf nieder, Hilde­

garde voll in das Gesicht sehend.

„Meine Augen müssen in der That um vieles besser sein, ich sehe sehr wohl, wie entrüstet Sie mich anblicken," bemerkte Hildegarde lächelnd.

„Meine

Frage betrifft auch meine Augen, Sie sagten mir seit lange nichts mehr darüber?"

„Sind Sie Ihrer Gefangenschaft so sehr müde schcyr?

Leicht begreiflich..."

Er wartete, Hildegarde jedoch sagte nichts. „Nun," fuhr er ausstehend fort, „da müssen wir wohl dem Vöglein den

Käfig öffnen.

Ich gedachte Sie morgen aus meiner Behandlung zu entlassen,

kann Ihnen aber auch heute ankündigen: Sie sind geheilt." „Geheilt!" Hildegarde schlug die Hände entzückt zusammen,

blitzten, die Züge belebten sich kvunderbar.

die Augen

„Ah, ich bin frei, ich kann wieder

thun und beschließen, was und wie ich will? ..." In eben dem Maße, als die ihrigen sich erhellten,

hatten

des Arztes

Züge sich verdüstert. „Ja, ja," sagte er, „gehen Sie und reisen Sie nach dem Süden; was sollte Sie auch nur in den deusschen Landen festhalten?"

„Eine kleine Weile jedoch muß ich Sie bitten, diese Eile noch zu mäßigen.

Hören Sie mich an! u. s. w."

399

§ 148. Litteratur der Novelle. Die große Zahl der Novellisten gebietet um so mehr eine Be­ schränkung auf die wichtigsten Namen, als die meisten der in I § 18 sowie in den §§ 126—145 genannten Romanschriftsteller auch No­ vellen geschrieben haben. Von den italienischen Novellisten stehen am höchsten G. Boccaccio (Decamerone, eine Novellensammlung, die von W. Soltau u. a. ins Deutsche übertragen wurde); ferner Sacchetti; Bandello; Casti; Soave. Von den spanischen sind zu nennen: Cervantes; Montalvan; Juan Manuel; Juan Puiz. Von den Franzosen: Lafayette; Scarron; Florian; Rabelais; Marmontel; Voltaire; Eugene Sue; Viktor Hugo; Alexander Dumas u. a. Von den Engländern: Thackeray; Walter Scott; Dickens; Bulwer; Defoe u. a. Die Romanschriftsteller der Rusten, Dänen (s. S. 385) haben zugleich Novellen geschrieben.

In Deutschland sind (bis zu Tieck) als Novellendichter zu erwähnen: Georg Wickram (Das Rollwagenbüchlein 1555, neu herausgeg. durch H. Kurz 1865), ferner Ende des vorigen und anfangs dieses Jahrhunderts: Wieland; Engel; Musäus; Klinger; Thümmel; Schiller; Goethe; E. Wagner; Heinse; Jakobi; Jung-Stilling; Fouque; Eichendorff; Spindler; E. Th. A. Hoffmann; H. v. Kleist; Lafontaine; Jean Paul; Müllner; Houwald; Novalis; Hippel; Benzel-Sternau; Langbein; Tromlitz u. a. Da seit Tieck die Novellendichtung die gewaltigste Ausdehnung erhalten hat, so war es kein Leichtes, die ganze bezügl. Litteratur zu vereinigen und zu rubrizieren. Die von mir mit Sorgfalt und Umsicht getroffene Anordnung ergiebt viele Gruppen, von denen ich hier unter Nennung der Vertreter Folgendes zur Orientierung gebe, ohne für die Qualität des einzelnen überall einzutreten. ^Jch erwähne hierbei auch einzelne jener fremden Novellisten, deren Novellen in guten deutschen Übersetzungen Eigentum unserer Nation wurden und — wie dies bek Novellen Cremers, Etlers, Bergsöes, Bret-Hartes rc. nachweislich ist einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf einzelne deutsche Dichter übten): 1. Historische Novellen (v. Bolanden: über Friedrich II rc.; Brachvogel: Godin; Gottwald; Hiltl; H. Hirschfeld; L. Mühlbach; Proschko; Stern rc.); 2. Kulturhistorische (K. Braun-Wiesbaden; Mindermann; W. H. Riehl und von Bolanden: Fortschrittlich); 3. Sociale (Sacher-Masoch; G. Möser; Krüger; Th. Küster rc.); 4. Kriminalnovellen (Engelberg: Habicht; Rogans deutsche Kriminalbibliothek; Fr. Friedrich; Temme rc.); 5. Moralische (Zschokke; O. Glaubrecht; A. Wildenhahn; L. A. Weinzierlrc.); 6. Psychologische (Freyburger, Aus dem Seelenleben rc.; Luise Otto-Peters rc.); 7. Humoristische (Emst Eckstein: Hackländer; H. König; Gerstäcker; Anna Löhn; Willis Ölckers;

R. Schmidt-Cabanis rc.); 8. Liebesnovellen (Goldschmidt; Reichenau; Mahlke; v. Münchhausen; Brentano): 9. Künstlernovellen (v. Stemberg; Hagen; v. Stavenow; Ottfried, Schubert-Novellen; Leop. Schefer); 10. Musiker­ novellen (Scheurlin; Collins): 11. Theaternovellen (Müldener; Smidt,

400 Devrientnovellen; Hopf, Theaterhumoresken); 12. Soldatennovellen (P. Lenz, Militär. Humoresken; v. Winterfeld); 13. Seenovellen (Lothar;. I. Prölß; R. Lindau; Rosenthal-Bonin rc.); 14. Bauernnovellen (Auerbach; Blanche; Rosegger; Herm. Schmid; M. Tenger); 15. Elsässische (Alex. Weill; Flaxland); 16. Frankfurter (Pfeiffer); 17. Weichselnovellen (Almar)^ 18. Wiener Novellen (Blechner; Mügge); 19. Holländische (Glaser); 20. Niederländische (Glaser); 21. Belgische (Graviere); 22. Venetianische (v. Gaudy); 23. Dänische (C. Etlar); 24. Schweizer Novellen (A. Hartmann; Zschokke); 25. Züricher Novellen (Gottsr. Keller); 26. Lübecker (W. Jensen);. 27. Amerikanische Novelletten (v. Wickede); 28. Kalifornische (Bret Harte);. 29. Italienische (Homberger); 30. Hochlands Novellen (v. Dyherrn; A. Silberstein); 31. Ostsee-Novellen (Rethwisch); 32. Gespenster-Novellen (Bergsöe); 33. Charakter-Novellen (Alfr. Meißner); 34. Zeit-Novellen (Trebitz, Aus der Zeit für die Zeit; Feodor v. Wehl); 35. Kosmopolitische Novellen (Rosenthal-Bonin, Unterirdisch Feuer. Mehrfach übersetzt, neuerdings von Al­ fred Ipsen; ferner Feod. Wehl, Allerweltsgeschichten) u. s. w. Unter dem Titel „Novellenbuch" haben Novellen veröffentlicht: L. Foglar;. Philippson; Mützelberg; Johannes Scherr; L. Schücking; F. v. Stengel; Feod. Wehl; Wilbrandt rc. Weitere, zum Teil vortreffliche, vielgelesene Novellen haben gelieferte Alarcon; Anzengruber; Bettina v. Arnim; Luise Astow; v. Auer; Av6-Lallemant; I. Bach; Gräfin Ballestrem; A. Becker; M. Berger; M. Bern; Bernardin; Bibra; Birch-Pfeiffer; Blumenhagen; Blüthgen; Bodenstedt; Brandt; Bresler; A. Broock; Brunner; E. v. Brunow; A. Büchner; E. v. Bülow; Julie Burow; Dahn; Detlef; Diefenbach; K. Dilthen; Dincklage; Dingelstedt; Duller; Dünheim; Ida v. Düringsfeld; Ebers; Elfried v. Taura; Ernst; Luise Esche; Marie von Ebner-Eschenbach; G. Flammberg; v. Francois; Agnes Franz;. Franzos; Frenzel; Frey; Freytag; Fuchs; Füllborn; Galen; Luise v. Gall;. E. Gehe; M. Giese; Girndt; Glaßbrenner; Gödeke; Rud. v. Gottschall; Gra­ bowski; Gregorovius; Griepenkerl; Th. Griesinger; H. Grimm; I. Groffe; Groß; Klaus Groth; Grothe; Baronin v. Grotthus; Gubitz; B. v. Guseck; Gutzkow; Gustav vom See; Haffner; Gräfin Hahn-Hahn; Luise Haidheim;. Hainau; Halm; Henr. Hanke; E. Harmening; M. Hartmann; W. Hauff; K. Heigel; Heinrichs; Hensler; Hermann; Herchenbach; Herloßsohn; Heusinger; P. Heyse; Wilhelmine v. Hillern; G. Höcker; Edm. Hoefer; Hoffmann; K. v. Holtei; Hans Hopfen; M. Horn; O. v. Horn; H. v. Hülsen; Hutterus; Wilh. Jensen; Juncker; Jmmermann; Kempner; Keffel; Johanna Kinkel;. Gottsr. Kinkel; Kletke; E. Koch; W. Koch; Kohlenegg; L. Kompert; Th. König; Kosiak; L. Kruse; Kugler; Kuh; G. Kühne; Kürnberger; H. Kurtz; E. Laddey; Lehmann; Leixner; Fanny Lewald; F. Lexow; R. Lindau; Lindendorf; Lohmann^ H. Lorm; Ludwig; Sophie Mai; Marbach; H. Marggraff; Martin; Mauthner^ L. Maurice; E. Marlitt; K. F. Meyer; M. Meyr; Mosen; W. Müller^ O. Müller; Mühlfeld; B. Möllhausen; Th. Mundt; Otfr. Mylius; Marie Nathusius; Benedikte Naubert; Emma Niendorf; Notz; Olfers; Luise Otto-Peters;.

401 Henr. v. Paalzow; L. Parisius; Perl; G. Pfarrius; Karoline Pichler; Piening; Polko; H. Presber; H. Pröhl; R. Prutz; G. zu Putlitz; W. Raabe; Raimund; Joh. Rank; G. Rau; Math. Raven; Reichenau; Reinow; Reinwald; Rellstab; Reuter: M. Ring; Riotte;-J. Rodenberg; O. Roquette; L. Rosen; Rosenthal-

Bonin ; Rothenburg; O. Ruppius; Rutenberg; F. v. Saar; L. Sal»mon; Salz­

brunn; G. Sand; I. Satori; C. M. Sauer; V. v. Scheffel; Th. Scheibe; M. v. Schlägel: Schlencker; Schlieben; A. Schlönbach; A. Schmidt; Adele und

Johanna Schopenhauer; 'Amalie Schoppe; Schwarz;

I. Gräfin Schwerin;

A. Schreiber; Schütze;

Senoa;

Seidel;

Solitaire;

Schwartz:

F. Spielhagen;

Stahl; Stein; A. v. Sternberg; L. Steub; Ad. Stifter; F. Stolle; Stoltze; L. Storch: Th. Storm; V. v. Strauß; Streckfuß; Stuhlmann; Fanny Tarnow; M. Tenger; Telmann; Tharau; v. d. Traun; v. Tschabuschnigg; v. Üchtritz;

Vacano;

Wachenhusen;

v.

Wachsmann;

Waiblinger;

M.

Waldau;

Wald­

müller; E. v. Waldow; F. I. v. Wangenheim; Feod. v. Wehl; Ottilie Wildermuth; Willkomm; Amalie Winter; Wittmann; Wolf; Caroline v. Wolzogen; Ziegler; Ziemffen u. a. Zu den populärsten, bedeutendsten Vertretern künstlerisch vollendeter No­ vellen der Gegenwart zählen Paul Heyse und Gottfr. Keller. Heyse, der mit Novellen in Versen begann (Die Brüder; Die Braut von Cypern; Urica) und von dem einige Novellen in der leichten graziösen Sphäre des fein stnnlichen Abenteuers sich bewegen, hat doch — wie kaum ein anderer — wahre Kabinetsstücke von psychologischer Tiefe, von feffelnder Anmut und ge­ winnendem Humor geschrieben (z. B. Die Blinden, L'Arrabbiata, Marion rc.).

Und Keller, der gottbegnadete Erzähler, durchläuft in seinen Züricher Novellen, den Leuten von Seldwyla rc. (wie ja auch in seinem jüngst erschienenen

Novellencyklus: Das Sinngedicht) die ganze Skala vom graziös Lächelnden bis zum kräftig Komischen, ohne je den Boden einer gesunden Wirklichkeit zu ver­ laffen. In letzter Zeit haben auch die Novellen Konr. Ferd. Meyers (z. B.

Der Heilige) berechtigtes Auffehen erregt. Unter den Frauen haben sich einen hervorragenden Platz erobert: helmine

v. Hillern

durch

die

gesunde

Idee

ihrer Novellen;

Wil­

Fanny Lewald

durch ihren Universalismus, wie durch reflektierende Verständigkeit und Freimut;

Marie von Ebner-Eschenbach durch ihre volkstümliche Erzählungsweise; Gräfin Ballestrem durch ihre glänzende, espritreiche Diktton; Gräfin Keyserling; Luise Otto;

Emma Laddey;

durch

psychologische Schärfe

die geistreiche Wiener Schriftstellerin Antonie Weinzierl und

bestrickende

Anmut

eines

edlen,

dramatisch

belebten Süls u. a. Indem wir noch auf die Namen der von uns I § 18 sowie II § 126—145

unter den Romanschriftstellern bereits genannten Novellisten verweisen, führen wir noch jene periodisch erscheinenden Schrijten an, in welchen beachtenswerte Novellen jener Schriftsteller sich finden, die hier nicht genannt werden konnten, oder die meist nur für Journale und Feuilletons größerer Zeitungen geschrieben haben. Es sind: Belletristische Hausbibliothek: Neues belletristisches Lesecabinet; Kriminal­ geschichten, herausgeg. von Vollert; Leipziger Lesecabinet; Hamburger NovellenBeyer, Deutsche Poetik. II.

26

402 zeitg.; Preußische N.-Z.; Novellen-Almanach; Illustrierter Nov.-Almanach; Nov.Bibliothek; Nov.-Sammlung; Nov.-Album; Nov. aus der Theaterwelt; Neue belletristische Originälbibliothek; Transatlantische Novellen; Christliche Nov.-Bi­ bliothek; Deutsche Nov.-Flora; Nov.-Magazin; Deutscher Novellenschatz (heraus­ gegeben von»P. Heyse und Hermann Kurtz 1870—76. 24 Bände; enthält 86 Novellen unserer besten zeitgenössischen Novellisten); Novellenschatz des Aus­ landes (herausgegeben von Heyse und Kurtz 1870—76. 14 Bände; enthält 57 Novellen aller europäischen ^Sprachen in guten Übersetzungen); Italienische Novellisten (herausgegeben von P. Heyse); Italienischer Novellenschatz (heraus­ gegeben von Adelbert v. Keller); Amerikanische Novellisten; Salonbibliothek; Roman- und Novellenbibliothek; Sauerländers Unterhaltungsbibliothek; Sen­ sationsnovellen; Eisenbahn- und Unterhaltungsbibliothek; Deutsches Novellen­ buch; Gartenlaube; Daheim; Über Land und Meer; Jllustr. Welt; Buch für Alle; Illustriertes Familienjournal; Jllustr. (Webersche) Zeitung: Neue Jllustr. Zeitung rc.

404

I. Formell dramatische Gedichte.

§ 150. Monolog. 1. Wenn der gedanklich bewegte Mensch zu sich selbst spricht, um über sich zur Klarheit zu gelangen; wenn das überquellende, aus allen Tiefen nach außen drängende und flutende Gemüt sich objektiviert, um vor sich selber als dem eigenen Vertrauten sich zu erschließen; wenn der Held sich unbelauscht glaubt und laut denkt, so entsteht ein Selbst­ gespräch oder ein Monolog. 2. Man unterscheidet zwei Arten von Monologen: a. Monologe, die selbständige, für sich bestehende, vollständig abgerundete Gedichte bilden; b. Monologe, welche integrierende Bestandteile von Dramen oder auch von Epen sind. (S. 52 und 54 d. Bds.) 1. Beim Nachdenken über irgend einen Gegenstand oder bei Einwirkung irgend einer äußeren Begebenheit, bei lebhafter Erregung irgend einer Leiden­ schaft sucht das aufgeregte Gefühl sich auch in der Einsamkeit in Worten aus­ zusprechen, sucht es das Chaos der in ihm wogenden Ideen, Betrachtungen und Leidenschaften in's Klare zu bringen. Dadurch wird jedes lyrische Gedicht,

wenn es keine epischen Bestandteile in sich trägt, zum Monolog.

Wir geben

demselben aber nur dann den Namen „Monolog", wenn das Gesangartige fehlt und das Gedicht lediglich eine Rede ist; also nicht gesungen, sondern nur ge­ sprochen sein will.

2.

a. Jener Monolog, welcher ein selbständiges Gedicht bildet, stellt

eine Person in irgend einer Situation mehr oder weniger dramatisch dar, oder führt sie sprechend ein. (Beispiel: Die Verlassene von Geibel S. 3 a d. Bds.) b. Diejenigen Monologe, welche eigentlichen Dramen eingereiht sind, dienen dazu, einer handelnden Person Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln, einen Entschluß zu fasten, die Beweggründe des eigenen Handelns darzulegen rc. (S. 52

a d. Bds.) Der eigentlich dramatische Monolog entkeimt dem Bedürfnis des Helden, sich vor sich selbst klar zu werden, das Facit aus den seitherigen Erfahrungen und Handlungen zu ziehen und Entschlüste ahnen zu lassen. Daher sind die Monologe im Drama Ruhe- und Entwickelungspunkte, durch welche ein Einblick in Motive und Zielpunkte ermöglicht, das Selbstbesinnen und Entscheiden be­

zeichnet, das Vergangene entschleiert, das Zukünftige prophezeit und der Seelen­ zustand des Redenden enthüllt wird. Prolog und Epilog im Drama sind Monologe,

von denen ersterer

eilte

historische Einleitung in das Drama, letzterer ein Schlußwort am Ende des­ selben bietet. (S. 46 d. Bds.) Auch in den Epen finden sich Monologe,

welche dazu zu machen.

dienen, die inneren Gedanken und Gefühle des Helden lautbar

405 Beispiele der Monologe. a. Der Monolog ein selbständiges Gedicht.

Beispiel: Die Verlassene von Geibel S. 3 d. Bds.

Weiteres Beispiel:

Serenade von Friedr. Halm.

b. Monolog aus einem Drama. Aus Macbeth von Shakespeare.

(1. Aufzug 7. [lefcte] Scene.)

Macbeth:---------Wär's abgethan, so wie's gethan ist, dann wär's gut, Man thät' es eilig. — Wenn der Meuchelmord Aussperren könnt' aus seinem Netz die Folgen, Und nur Gelingen aus der Tiefe zöge: Daß mit dem Stoß, einmal für immer, alles Sich abgeschlossen hätte; — hier, nur hier, — Auf dieser Schülerbank der Gegenwart, — So setzt' ich weg mich über's künst'ge Leben —

Doch immer wird bei solcher That uns schon Vergeltung hier: daß, wie wir ihn gegeben Den blut'gen Unterricht, er, kaum gelernt, Zurück schlägt, zu bestrafen den Erfinder: Dies Recht, mit unabweislich fester Hand, Setzt unsern selbstaemischten, gist'gen Kelch An unsre eignen Lippen. — Er kommt hieher, zwiefach geschirmt: — Zuerst Weil ich sein Better bin und Unterthan, Beides hemmt stark die That; dann, ich — sein Wirt, Der gegen seinen Mörder schließen müßte Das Thor, nicht selbst das Messer führen. — Dann hat auch dieser Duncan seine Würde So mild getragen, blieb im großen Amt So rein, daß seine Tugenden, wie Engel Posaunenzüngig, werden Rache schrein Dem tiefen Höllengreuel seines Untergehens: Und Mitleid, wie ein nacktes neugebornes Kind, Auf Windstoß reitend, oder Himmels Cherubim Su Ross', auf unsichtbaren, luft'gen Rennern, lasen die Schreckensthat in jedes Auge, Bis Thränenflut den Wind ertränkt. —

Ich habe keinen Stachel, Die Saiten meines Wollens anzuspornen, Als einzig Ehrgeiz, der, zum Aufschwung eilend, Sich überspringt und jenseits niederfällt: — (Lady Macbeth tritt auf.) c. Monolog aus dem Epos Rostem und Suhrab von Rückert.

(Ges, Ausg. XII. 158.) (Gesdehem schilt im Selbstgespräch über seine Tochter, welche Suhrab ent­ gegen gezogen ist:)

„Wenn sie nur unversehrt vom Abenteuer kehrt, So sei nichts auf der Welt dem Töchterchen verwehrt; Nur solch ein zweiter Ritt sei nicht von ihr begehrt! Doch weniger mit ihr zürn' ich als auf Hedschir;

406 Sein Unfall riß mein Kind so hin mit Kampfbegier. Wer aber rettet mir mein Täublein aus den Krallen Des Habichts, dem zum Raub der Kampfhahn selbst gefallen? Thu' ich die Psort' hier auf, daß ich zur Hüls' ihr eile, Damit der alte Bogt des jungen Thorheit teile? Wart' ich geduldig, bis der Himmel und ihr Glück, Ihr Mut und kluger Rat mir bringt mein Kind zurück? Weitere Beispiele von guten dramatischen Monologen sind:

Der Monolog Goethes in Jphigenia auf Tauris (1. Aufz. 1. Auftr.: Heraus in eure Schatten rc.); der Monolog Tells in Schillers Tell (4. Ausz. 3. Scene: Durch diese hohle Gaffe rc.); die Monologe Solimans und Zrinys

in Körners Zriny;

Wallensteins Monolog

in Schillers Wallenstein (1. Aufz.

4. Auftr.: Wär's möglich rc.; ferner: Du hasts erreicht Oktavio rc.) u. s. w. Lyrisch gefärbt ist der bekannte Monolog Johannas in der Jungfrau von

Orleans (4. Auftr. des Prologs: Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften, Ihr traulich füllen Thäler lebet wohl! Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln, Johanna sagt euch ewig Lebewohl! rc. rc.

ferner

ebenda:

4. Akt 1. Auftr.:

Die Waffen ruhn rc.);

ebenso

der Mo­

nolog in Torquato Taffo (4. Akt 5. Auftr.: Ja gehe nur und gehe sicher weg rc.) u. s. w. Man vgl. auch die Monologe in Grandjeans Lorenz Schlau­

meier, ferner Saphirs Das Sololustspiel; Pauls Er kommt ; Görners Er kommt

zu spät; Blondels Der höhere Bummler; Haffners Jsaias Luchs; Görners Theatralische Studien; Leiden eines Choristen von Levaffor; Blochs komische Soloscenen; Kühlings Album für Soloscenen rc. rc.

§ 151. Dialog. 1. Dialog ist eine Unterredung: im engeren Sinn zwischen zwei, im weiteren zwischen mehreren Personen. (S. 54 d. Bds.) 2. Man unterscheidet, lyrische, didaktische, epische und dramatische Dialoge. Wie der Monolog so vergegenwärtigt auch der Dialog die Stimmung eines Menschen oder einer bestimmten symbolisch aufgefaßten Zeit. Man nennt'ihn der äußeren Form nach lyrisch, wenn die einzelnen Personen ihre subjeküven Gefühle aussprechen;

didaktisch, wenn

durch

ihn

einer bestimmten Lehre Ausdruck gegeben werden sott; episch, wenn er der Mitteilung eines Ereigniffes dient, also erzählender Natur ist. Im dramatischen

Dialog muß Handlung sein, d. h. durch denselben muß sich mehr oder weniger deutlich irgend ein bestimmter Wille entwickeln, der auf den Gang der Be­ gebenheit einwirkt. (Vgl. S. ,52.) Der dramatische Dialog muß somit auf

ein bestimmtes Ziel, auf Entfaltung der Handlung gerichtet sein und den Be-

407 dingungen dienen, an welche Entwickelung und Verwickelung des Dramas ge­ knüpft sind. Im Singspiel (s.

letztes Hauptstück) bezeichnet Dialog die Redepartie im

Gegensatz zu den Gesangspartieen, im alten Drama die Redepartie der Schau­ spieler im Gegensatz zu den gesungenen Chorpartieen.

Beispiele des Dialogs.

Lyrischer Dialog.

Lebensmelodien, von A. W. Schlegel.

(Abgekürzt.)

Der Schwan. Mich erquickt das Blau der heitern Lüfte, Mich berauschen süß des Kalmus Düfte, Wenn ich in dem Glanz der Abendröte Weich befiedert wiege meine Brust.

Der Adler. Ich jauchze daher in Gewittern, Wenn unten den Wald sie zersplittern, Ich frage den Blitz, ob er töte, Mit ftöhlich vernichtender Lust. Der Schwan. Bon Apollo's Winken eingeladen, Darf ich mich in Wohllautströmen baden, Ihm geschmiegt zu Füßen, wenn die Lieder Tönend weh'n in Tempels Mai hinab. Ich throne bei Jupiters Sitze: Er winkt und ich hol^ ihnr die Blitze. Dann fenF ich im Schlaf das Gefieder Auf seinen gebietenden Stab.

Der Adler.

Der Schwan.

Ahndevoll betracht' ich oft die Sterne, In der Flut die tiefgewölbte Ferne, Und mich zieht ein innig rührend Sehnen Aus der Heimat in ein himmlisch Land.

Der Adler. Ich wandte die Flüge mit Wonne Schon früh zur unsterbüchen Sonne, Kann nie an den Staub mich gewöhnen, Ich bin mit den Göttern verwandt. Der Schwan. Willig weicht dem Tod ein sanftes Leben, Wenn sich meiner Glieder Band' entweben, Löst die Zunge sich: melodisch feiert Jeder Hauch den heil'gen Augenblick. Die Fackel der Toten verjünget, Ein blühender Phönix, entschwinget Die Seele sich frei und entschleiert, Und grüßet ihr göttliches Glück re. rc.

Der Adler.

Weiteres Beispiel: Die Wallfahrt nach Kevlaar von H. Heine.

Didaktischer Dialog.

Der grüne Zweig, von Fr. Rückert.

Deutscher General. Ihr deutschen Grenadier, Weil ihr nunmehr seid in Frankreich, So schmückt das Haupt euch allzugleich Mit grüner Zweige Zier; Brecht sie euch ab allhier!

408 Deutscher Grenadier.

Ihr Brüder, eilt euch doch, Brech' jeder sich den grünen Zweig, Und schmückt euch rechten Siegern gleich; Ruft alle: Deutschland hoch! Und hoch der grüne Zweig!

Der Franzos.

Deutscher General.

Mein deutscher Herr Gen'ral! Es tragen eure Leut', zum Putz Biel grüne Zweig' auf ihrem Mutz; Mein deutscher Herr Gen'ral, Geschieht uns das zum Trutz? Mein bester Herr Franzos! Nein gar nicht euch zum Trutz geschichts; Die grünen Zweig' bedeuten nichts, Es sind Feldzeichen bloß, Nicht Siegeszeichen groß.

Deutscher Grenadier. Hört ihr des Feldherrn Wort? Ihr lieben deutschen Grenadier, Werst ab von euch die eitle Zier; Die Zweige sind verdorrt Durch dieses einz'ge Wort.

Der Franzos.

Ihr Deutschen, euer Glück Ist dieses, daß ihr selber thut Die grünen Zweig' von eurem Hut. Wir rissen sonst in Stück Die Zweig euch samt dem Hut.

Deutscher Grenadier. Franzosen, euer Glück Ist dies, daß man's uns nicht erlaubt; Eh' ihr die Zweig' uns rißt vom Haupt, Rrssen wir euch in Stück, Wenn es uns wär' erlaubt. Deutscher General.

Damit nicht einen Strauß Es mit dem grünen Zweig noch setzt; Soldaten, macht euch fertig jetzt, Wir ziehn nunmehr nach Haus, Weil doch der Krieg ist aus.

Tambour. Weil wir nun ziehen heim, So rühr' ich meine Trommel gleich; Ihr Brüder, von dem grünen Zweig Singt heimwärts einen Reim; Ich schlag' den Takt zugleich.

Als Sieger aus Frankreich Ziehn wir nach Haus, doch bringen wir Kein' grünen Zweig, o Deutschland, dir; O liebes deutsches Reich, Kommst auf kein' grünen Zweig.

Die Soldaten.

Weiteres Beispiel: „Begegnung" von H. Heine.

Epischer Dialog.

(Aus Rückerts Nal und Damajanti.)

(Damajanti sendet ihre Dienerin Kesini in den Palasthof, damit diese erforsche, wer der Wagenlenker sei. Sie ahnt, es sei ihr Gemahl, der nur eine andere Ge­ stalt angenommen habe.)

409 „Glückliche Ankunft, Mann-Tiger! Willkomm biet' ich dir, edler Krieger! Höre von mir, o ehrenfester, Das Damajantiwort, o bester: Wie habt ihr diesen Weg genommen, Und wie seid ihr hierher gekommen? Sage mir das mit rechtem Sinn; Hören Wills die Widarberin."

Kesini.

Wahuka.

Kesini.

„Dem Ajodiaherrn ward kund, O schönste, aus Brahmanenmund: Mit des morgenden Tages Strahl Ist Damajanti's Gattenwahl. Dieses gehört, ist schnell entschlossen Dör Fürst mit Hundertmeilenrossen, Mit windeiligen hergekommen, Und hat zum Fuhrmann mich genommen."

„Doch jener von euch der dritte Mann, Wer ist er und wessen? sag mir an! Und wer bist du und wessen? sprich! Und wie kam dies Geschäft an dich?"

Wahuka., „Als Punjasloka's Fuhrmann bekannt, Warschneja, so ist jener genannt, Der, als er verloren seinen Herrn, Trat in Dienst bei Ritupern. Ich selber bin ein Rossekenner, Ein im Fahren geübter Renner, Wahuka nennen mich die Männer. Wie du siehst ist meine Gestalt, Bei Ritupern ist mein Aufenthalt; Er hat mich zu Rosseleitung Gedingt und zu Speisebereitung." u. s. w. Weiteres Beispiel des epischen Dialogs: Der Wanderer von Goethe;

Das Kind.im Walde und ich von Aug.

Kuhn; ferner Das Licht im

Thale von Friedr. Kind u. a.

Dramatischer Dialog. Als Beispiele des dramatischen Dialogs

erwähnen wir:

Die Probe des

folgenden Paragraphen S. 409: Der Tod Napoleons von Chamisio; ferner Shakespeare's König Lear (1. Akt 1 Sc.); Lessings Nathan der Weise (3. Aufz.

7. Auftr. Saladin: So ist das Feld hier rein rc.); Schillers Wallensteins Tod (2. Akt 5. Auftr. Jsolani: Hier bin ich rc.); Schillers Wilhelm Teil (1. Akt 2. Auftr.

Gertrud: So ernst mein Freund rc.); Hebbels Nibelungen

(1. Akt 8. Sc. Kriemhild: Seid mir willkommen rc.); v. Gottschalls Mazeppa (3. Aufz. 5. Auftr. Jfflant: Ein Abgesandter rc.). Ferner vgl. das deklamat. Zwiegespräch

Frauenfreundschaft

von Elsholtz rc.

von

Mart. Böhm;

sowie

Komm

her!

410

§ 152. Dramatisierte Gegebenheit (Dramotet). 1. Die.dramatisierte Begebenheit ist nicht bloß Gespräch, sondern sie enthält eine abgeschlossene Begebenheit. 2. Sie ist ein kleines Drama, ein Dramolet. (Vgl. die Dramolete Eingeregnet, von Fritzsche; Poly Henrions sPseud. für Kohlenegg^ In der Bastille; R. Hahns Künstlerdramolet Ein Sechziger, rc.) 1.

Die dramatisierte Begebenheit nähert

sich

in ihrem Bau

und nach

ihrem Dialog dem Drama, von dem sie sich unterscheidet: a. durch den Mangel eines tiefer eingreifenden Kampfes sich entgegenstehender Gefühle und Situationen,

b. durch das Fehlen einer lebendigen Handlung. 2. Es giebt genug sogenannte einaktige Dramen, die nichts weiter sind, als dramatisierte Begebenheiten (ich erwähne nur „Das Attentat auf Bis­ marck"). Der Stoff der dramatisierten Begebenheit ist meist deskriptiv episch in äußerlich dramatischer Form. Nicht selten ist sie eine Allegorie oder die Sym­ bolisierung einer Idee (vgl. des Verfassers „Kaiserjubelfeier", Leipzig, Hirsch­

feld 1877). rc. Beispiel der dramatisierten Begebenheit. Der Tod Napoleons, von Chamisso.

(Nach Alessandro Manzoni.)

(Napoleon. Montholon. Antomarchi, der Arzt. Europa, Geschichte und Poesie, Erscheinungen. Stumme Umgebung: Bertrand, seine Frau und vier Kinder; der Abt Vtgnali, Marchand und sechs Bedienten. Zwei englische Offiziere. Longwood, am 5. Mai 1821.)

Napoleon (auf dem Sterbebette), Montholon, Antomarchi. Montholon. Des Fiebers Glut hat ausgetobt, er scheint zu ruhn. Napoleon (im Schlafe).

Mein Heer! Montholon.

Er träumt — Napoleon. Dem Adler folgt und mir; hinan!

Montholon. Von Schlachten, lenkt im Geiste noch die Völker. Napoleon. Sieg!

Montholon. O scharfer Mißlaut dieses Wortes hier und jetzt! Napoleon (erwachend). Wer bin ich?

Montholon.

Herr und Kaiser. Napoleon.

Wo?

111 Montholon. Du bist, o Herr,

Inmitten deiner Treuen. Napoleon.

Wo? Montholon. Ein Felsensitz.................

Napoleon. Sankt Helena?!

Montholon. Du sprichst es aus. Napoleon.

Die Zeit ist um, Abtrünnig werd' ich selber mir, so wie die Welt. — Die mein annoch sich nennen ruft herbei; ich will Abrechnen mit dem Leben. Montholon (die Thüre öffnend) Tretet alle her! (Gefolge, die Kinder knieen am Bette.)

Napoleon.

Daß ich geliebt bin worden, legt ihr Zeugnis ab. Habt Dank! Ich aber scheide hin. Bald haben sie, Mit deren Kronen ich gespielt, den Haß gekühlt. Sie ließen uns nur unsrer Thaten Ruhm zurück. Ihr werdet bald, aus selbst ertönter Haft erlöst, Mein stolz durch mich gewesnes Frankreich Wiedersehn, Und trauern an dem vielgeliebten Seinestrand. O grüßt mein Frankreich, grüßet mir mein heimisch Land! Wär' Frankreich dieser nackte sturmgeschlagne Fels, Ich wollt' ihn lieben. Montholon. Frankreich finden wir, o Herr, Nur immerdar, wo dein geweihtes Haupt verweilt.

Nap oleon. Nicht also, nein, — mein Frankreich grüßt und meinen Sohn. Entfernet mch; nicht sollet ihr mich weinen sehn, — Grüßt meinen Sohn, den grausam mir entfremdeten; — Mein Sohn, mein Sohn! Antornarchi. Gehorcht dem Kaiser, tretet ab! (Napolein ist mit verhülltem Antlitz zurückgesunken. Alle heften fragend die Augen auf Antomarchi, bei unverwandt den Kranken betrachtet. Sie entfernen sich zögernd.)

Antimarchi (allein bei Napoleon. Vordergrund und verhüllt sein Antlitz.)

Lange Pause.

Er wirst sich in einen Sesiel im

Lösch' aus du Stern der Herrlichkeit! (ES erscheinm Europa, Geschichte und Poesie.

Napoleon streckt die Arme nach ihnen aus.)

Europa. Napoleon! Weltherrscser einst, in Fesseln nun Verschmachtender; Zurück vor dir nicht fordernd das vergoffne Blut,

412 Das teure meiner Kinder, nein, den hohen Preis, Um welchen fließen es gesollt, erschein^ ich dir. Es rangen zwei Weltalter um die Herrschaft; du Stiegst auf, du Schicksalsmächtiger, da ward es füll; Mcht Friede; schweigsam lagen sie zu Füßen dir; Du FranMn nicht, nicht Washington, du hast gebaut Vergänglich für die trunkne Lust des Augenblicks. Du sankst, du stirbst — ich frage bang: wem beug' ich nun Den jochgewohnten Nacken? Weh! Napoleon.

Mein Sohn, mein Sohn!

Europa. O hättest Freiheit du geschafft nach deiner Macht, Noch ständen aufrecht deine Bilder, unentweiht Bon Händen, die zu heben unvermögend sind Das dir entsunk'ne, dein gewicht'ges Herrscherschwert. Geschichte. Standbilder eines Mannes stürzen Knaben um, Umsonst bemüht, zu tilgen meines Griffes Spur Zukünst'gem Alter, schwerem Urteil aufbewahrt.

Poesie. Zu sckmäh'n, zu schmeicheln haben Knechte nur vermocht; Jungfräulich deines Namens ist annoch mein Mund, Hinfort geweiht zu ewigem Gesang, mein Held! Europa. Ihr Griffel, ihre Lyra, meine Thränen, die Der eig'nen Schmach ich weine; rückgewendet dies Hienieden. — Jenseits . . .? Kaiser auf! Der Schleier reißt! (Napoleon stirbt, die Erscheinungen verschwinden. Bei dem Ausatmen Napoleons erhebt sich Antomarchi schnell und tritt zu dem Toten, den er lange betrachtet; er geht sodann nach der Thür. — Mo ntholon und das Gefolge kommen ihm entgegen.)

Montholon.

Der Kaiser? Antomarchi.

Weint! Das war er! Länger zügelt nicht Die bleiche Furcht, von diesem Kerker aus, die Welt. Verbeugt vor dem euch, der ihn schlug; — zerstreuet euch, Das Liebesopfer eures Lebens ist erfüllt! (Montholon hat den Kaisermantel über die Leiche ausgebreitet, der Abt ein Kruzifix darauf gelegt; alle weinen. Zwei englische Offiziere dringen ein. Der Vorhang fällt.)

Weitere Beispiele

der dramatisierten Begebenheit sind:

1. Faust.

Ein

Versuch von Ad. v. Chamiffo; 2. Normannscher Brauch von Uhland; 3. Die

Blumen von Kerner; 4. H. Neumanns Die Auferstehung; 5. Kohleneggs Für nervöse Frauen;

6. Schlesingers Die Gustel von Blasewitz;

7. Feod. Wehls

Ein Pionier der Liebe; 8. Semele von Schiller; 9. Raupachs Der Platzregen als Eheprokurator; 10. Drei Kampfer von Fr. Hofmann; 11. F. Zells Seit

Gravelotte; 12. Ludw. Eckardts Savoyen-schweizerisch; 13. Das Lied der süßen Liebe und die wilde Jagd von Fr. Storck; 14. Vor Belfort von Ludw. Egler;

15. Vom Rhein zur Elbe von Jul. Rodenberg u. s. w.

413

n. Eigentliche Dramen. § 153. Einteilung und Benennung der eigentlichen Dramen. Wir teilen die eigentlichen Dramen ein in solche, welche sich zur Aufführung vor unserem heutigen Durchschnittspublikum nicht eignen, (dramatische Gedichte, Buchdramen rc.), sowie in aufführbare, durch ihre lebensvolle Handlung theatralisch wirksame Dramen. Wir handeln demgemäß die eigentlichen Dramen in nachstehender Folge ab: 1. Dramatisches Gedicht, 2. Tragödie, 3. Schauspiel, 4. Lustspiel, 5. Posse. Aristoteles (II. Kap. seiner Poetik) nennt als Charaktere der handelnden Personen entweder bessere, als zu unserer Zeit, oder eben solche, oder schlechtere: also außergewöhnliche, gewöhnliche und niedere Personen. Die höheren Personen verlangen ernste Darstellung, die gewöhnlichen und die niederen Personen dagegen

können erfolgreich nur durch Komik eingeführt werden. Aristoteles unterscheidet somit zwischen Tragödie und Komödie. Der Unterschied zwischen Komödie und Tragödie liegt ihm darin, daß die Komödie niedrigere, dagegen die Tragödie (oder das Schauspiel höheren Stils) vorzüglichere Personen darzustellen be­ zweckt. Für unsere Einteilung und Benennung der verschiedenen Arten des Drama

ist die Art und Weise, wie dasselbe schließt, maßgebend. Die höchste Form des Drama, die Tragödie oder das tragische Drama, hat unglücklichen Ausgang (Untergang, Tod des Helden). Die Uhr ist bei dem Helden abgelaufen^ und bleibt stehen.

.

Dem tragischen Drama steht das Drama mit glücklichem Ausgang gegen­ über, sowie das edle Lustspiel (Komödie) mit seiner Unterart, der Poffe rc.

Ein Drama, welches trotz seines ernsten Gehalts glücklichen Ausgang nimmt, ohne dabei die Heiterkeit des Lustspiels zu teilen, heißt Schauspiel. Das Schauspiel liegt also zwischen Tragödie und Komödie in der Mitte.

Eine eigene Art von Drama bildet das sogenannte dramatische Ge­

dicht.

Es ist wegen Mangels an Handlung wenig für die Auffühmng geeignet

und kann daher als Buchdrama bezeichnet werden.

Wir führen es zuerst vor^

§ 154. Das dramatische Gedicht. 1. Dramatisches Gedicht nennt man jenes Drama, welches seine Darstellung mehr erzählend als handelnd ausbreitet, welches mehr innere Empfindungen und bereits geschehene Fakta schildert und im Dialog mitteilt, als wahrhafte Thaten in unmittelbarer Präsenz vor

414 den Augen des Zuschauers entrollt und geschehen läßt, welchem daher leidenschaftsvolle Konflikte und große Kämpfe in der Entwickelung der Handlung mangeln. 2. Es ist kein eigentlich theatralisches Stück und eignet sich nur bedingungsweise für die Aufführung. 3. Dagegen ist es als Buchdrama mehr als alle übrigen Dramen namentlich der Jugend als Lektüre zu empfehlen. I. Das dramatische Gedicht, welches man wegen seiner gemütlichen, er­

zählend fortschreitenden Handlung die Tragödie des Gemüts nennen könnte, ist in seinem ernsten Stoff wie in seinem Aufbau ost nicht von der Tragödie zu unterscheiden. In Anordnung, Form und Ausführung erreicht es den eigent­ lichen Kunstzweck der Tragödie; auch geht ihm keineswegs das dramatische Leben ganz ab. Nur der Goetheschen Forderung: „Vor allem laßt recht viel ge­ schehen" entspricht es nicht. 2. Tieck charakterisiert das dramatische Gedicht, wenn er im Phantasus (1. Abtheilung) sagt: „Häufig, wenn wir vom Dramatischen sprechen, ver­

wechseln wir dieses mit dem Theatralischen, und wiederum ein mögliches besseres Theater mit unserem gegenwärttgen und seiner ungeschickten Form; und in dieser Verwirrung verwerfen wir viele Gegenstände und Gedichte als unschicklich, weil sie sich freilich auf unserer Bühne nicht gut ausnehmen würden. Sehen wir also

ein,

daß ein neues Element erst das dramatische Werk als ein solches beur­

kundet, so ist wohl ohne Zweifel eine Art der Poesie erlaubt, welche auch das beste Theater nicht brauchen kann, sondern^in der Phantasie eine Bühne für die Phantasie erbaut und Komposittonen versucht, die vielleicht zugleich lyrisch,

episch und dramatisch sind, die einen Umfang gewinnen, welcher gewiffermaßen

dem Roman untersagt ist, und sich Kühnheiten aneignen,

die keiner

andern

dramatischen Dichtung ziemen. Diese Bühne der Phantasie eröffnet der roman­ tischen Dichtkunst ein großes Feld." Es ist klar, daß solche Stücke auf unser heutiges Durchschnittspublikum bei Aufführungen auf der Bühne keine oder nur geringe Wirkung üben. Das Publikum langweilt sich, wenn ihm innere Kämpfe gemalt oder erzählt werden.

Es verlangt die sogenannten theatralischen Dramen mit rascher, wahrnehmbarer, anschaulicher Handlung.

Ein theatralisches Drama übt durch seine lebhafte

Handlung immer seine Wirkung auf die Menge aus,

während ein nur dra­

matisches Stück höchstens die feinfühlige Elite des Geistes bestiedigt, den soge­ nannten Bildungspöbel aber, der im Theater die besten Plätze einnimmt, kalt läßt.

Das zur Auffühmng bestimmte sogenannte theatralische Drama verlangt, wie A. W. Schlegel gesagt hat, „jenen entschiedenen Rhythmus, der den Puls­ schlag beschleunigt und das sinnliche Leben in rascheren Schwung bringt".

Diese

die Handlung beherrschende und beschleunigende Schwungkraft, die für das Drama als solches wirklich noch wesentlicher wird, als die lebendige Gestaltung der handelnden Personen, diese Schwungkraft ist Sache des unmittelbaren dra-

mattschen Instinktes, — aber diesen haben weder Goethe noch Uhland, Rückert gehabt, ja, Rückert von diesen Dreien sicher am allerwenigsten.

noch

415 3. Immerhin wird sich der Gebildete beim Lesen des dramatischen Gedichts erquicken.

Er wird sich in eine höhere Sphäre des Seins gerückt fühlen, in­

dem er seinen eigenen Charakter vergleicht,

den Blick an den Seelengemälden

labt und mit dem vorgeführten Helden Teilnahme empfindet. So geringschätzig man sich über die dramattschen Gedichte einzelner Dichter

ausgesprochen hat, denen Mangel an künstlerischer Architektonik, an dramattscher Pointiemng, an einer Gestalten schaffenden Charakteristik und an dichterischem Schwung vorgeworfen wurde, so verdienen sie doch gewiß gelesen zu werden,

ehe man sie bloß mit ihren Titeln in die Rumpelkammer der Litteraturgeschichte wirft. Wir wenigstens haben uns an einzelnen dramatischen Gedichten auch hinsichtlich der Technik der Scene und der charakteristischen Momente in der Entwickelung nur erfreuen können, wo uns bei unserer Betrachtung die ganze

Persönlichkeit der betreffenden Dichter zur Seite stand. Viele dramatische Ge­ dichte sind immerhin dramatische Kunstwerke, wenn auch keine theatralischen, sie sind schön und beredt in den lyrischen Stellen, intereffant und lehrreich in den mehr didaktischen rc. Haben diese Dramen den eigentlichen Zweck der theatra­ lischen Darstellung verfehlt, so haben sie doch genug innere Würde und Ge­ diegenheit, Einfachheit der Charaktere, schöne Vorbilder hoher Begeisterung und standhaften Mutes (Rückerts Colombo, Heinrich IV.), edler Freundesliebe (Rückerts Jonathan, David), Freundestteue (Sebastian, Las Casas), Frauen­ hoheit (Anacaona), in sich, so daß sie sich zu einer lohnenden und erhebenden Lektüre sowohl für die reifere Erfahrung,

wohl eignen. Goethe sagt richtig:

als auch besonders für die Jugend

„Roman und Drama sind

nicht eine Lektüre für

die Jugend, weil der Jugend das sittliche unbeirrte Verständnis, die vollendete Reife für geistig gesunde Aufnahme von Charatterbildern, Konflitten und Situa­ tionen fehlt, welche eine überwundene physische und psychische Entwickelungs­

periode, einen Umblick in der Wett, eine gewisse Ausweitung des Gesichtskreffes, ein (Streben nach Objektivität des Urteils voraussetzt. Gerade unser größter

Dramatiker, Shakespeare, wird am allerwenigsten in eine Jugendbibliothek paffen, weil auf die Jugend das Dämonische und Bösarttge der Charattere, das Leiden­

schaftliche der Konflitte, das Zweideutige der (Situationen — wie sie in einem Drama vorkommen und bei Shakespeare in der großartigsten Weise — nicht abschreckend, sondern aufstachelnd, verführerisch und verderblich wirken."

Selbst­

redend meint Goethe nicht die Primaner unserer Gymnasien, deren Urteilsfähig­

keit und Reife die Behandlung einzelner Shakespearescher Stücke sogar ratsam erscheinen lassen.

rade,

Der Mangel an zu großer Leidenschaft und peinvoller Schuld ist es ge­ vermöge deflen die dramatischen Gedichte (vor allem die von Rückert)

nicht nur unbedenklich, sondem zugleich als ein wirksames Bildungsmittel zur Veredlung der Sitten und des Verstandes in die Hände der Jugend gegeben werden können. Ein Vorzug hierbei ist, daß die dramattschen Gedichte das Ekelerregende, Lasterhafte ausgeschloffen haben, womit nicht gesagt sein soll, daß dies in den

416 theatralischen Dramen nötig sei.

(Es hat z. B. Shakespeare in Richard TIL

das Laster durchaus poetisch eingeführt; Richard III. begeht eine Schandthat nach der andern.) Die Befriedigung des sittlichen Gefühls der Jugend liegt

darin, daß jede schlechte That ihre Strafe insofern in sich birgt,

als

sie als

Folge der vorhergehenden erkannt wird, sowie daß die Strafe den Verbrecher ereilt und der Satz illustriert wird: „Alle Schuld rächt sich auf Erden." Bei Goethes „Mitschuldigen", wo eine ganze Familie, Vater, Tochter, Gatte, Lieb­ haber sich gegenseitig auf den nächtlichen Schleichwegen des Lasters treffen,

findet sich keine Sühne der verletzten Sittlichkeit. Der Dichter verurteilt selbst die Einführung des Lasters in seinen „Mitschuldigen". Das heitere, burleske Wesen erscheint auf dem düstern Familiengrunde als von etwas Bänglichem begleitet, so daß es bei der Vorstellung im Ganzen ängstigt, wenn es im Ein­ zelnen ergeht. Die widergesetzlichen Handlungen verletzen das ästhetische und moralische Gefühl, und deswegen konnte das Stück auf dem deutschen Theater

keinen Eingang finden.

Analysen und Proben aus dramatischen Gedichten. 1. Kaiser Heinrich IV. von Fr. Rückert. (1. und 2. Teil.) 1. Teil.

Der Kaiser Heinrich IV. geht nach

um

Canossa,

sich

vom

Bann lösen zu lassen. Die lombardischen Edlen empfangen ihn an der Grenze und erbieten sich, ein Heer gegen den Papst zu werben. Heinrich zeigt sich

unmännlich und von religiösen Vorurteilen eingenommen. Er ist unselbständig und besonders kurzsichtig gegen die Schlauheit des Papstes, als dieser für ein Gottesurteil die halbe Hostie ißt und ihm die andere Hälfte reicht. (Leider versäumt Rückert in der Canosiascene den erhabensten Principienstreit des Mittelalters darzustellen, er legte die ganze Scene nur einem Erzähler in den Mund rc.) Rudolf wird Gegenkaiser.

Der-Papst lehnt es ab, Rudolf in den Bann zu

thun. Da sammelt sich bei Regensburg ein Heer zum Beistand für Heinrich. Mainz erhebt sich. Der Kampf beginnt. Heinrich ist siegreich und zieht nun

nach Rom, um sich dort die Kaiserkrone aufsetzen zu laffen.

Rufen:

„Hoch Deutschland,

Mit den begeisterten

wir siegen" werden die Mauern erstiegen.

hoch,

Heinrich hält siegreichen Einzug in Rom, während bischof Wipert, den Heinrich als Clemens III.

der Papst

entflieht.

Erz­

einsetzt, empfängt den festlich

einziehenden Kaiser und seine Gemahlin Bertha vor dem Hauptaltar der Peters-

kirche und setzt ihnen die Kaiserkrone auf. — Im 2. Teil zeigt uns der Dichter zunächst Heinrichs Toleranz im Gegen­ satz zur Intoleranz des Papstes.

Heinrich verweist

Ansinnen, Rudolfs Grabdenkmal umzustoßen und

verzeiht dem Grafen von Luxemburg

streuen.

Er

Bayern.

Einzelne Scenen schildern

und

den

einbrechende Prüfungen.

mahlin stirbt, als er eben nach Italien ziehen muß.

Konrad wird gemeldet.

dem Bischof Werner

die Asche in

das

den Fluß zu Herzogen von Heinrichs Ge­

Der Abfall seines Sohnes

Papst Urban tritt aus seiner Passivität heraus und macht

sich populär durch seinen Aufruf zum Kreuzzug.

Auch Heinrich V., vom Vater

417 zum Könige eingesetzt, trennt sich von ihm und wird ein scheinbar gefügiges Werk­

zeug der Kirche. kleinodien ab.

Er nimmt den Kaiser gefangen und fordert ihm die Reichs­

Allein Heinrich IV. entflieht und erhält allerwärts Unterstützung;

die Städte erheben sich und die angrenzenden Länder nehmen drohende Mienen

an.

Heinrich V. sinnt: „wie endigen?"

Da

kommt die Nachricht vom Tode

des Vaters, welch letzterer ihm die Reichskleinodien mit seinem Segen sendet. Nun wirft Heinrich V. die Maske ab. Er weist die Anmaßung der Kirche zurück, um das Ansehen des Staats zu heben. Die päpstlichen Legaten schickt er heim und setzt, trotz päpstlichen Verbotes, die Bischöfe ein. Ohne seine aus England ankommende Braut erst zu begrüßen, eilt er mit seinem Heere nach

Rom. Die Enttäuschung des Papstes ist groß. Er wird mit allen seinen Kardinälen gefangen genommen, bis er Heinrich V. zum römischen Kaiser gekrönt, ein ehrliches Begräbnis dem Vater, Heinrich IV., gewährt und endlich die In­ vestitur eingeräumt hat. Boten kehren zurück und verkünden der harrenden Braut Mathilde, daß aus dem Könige ein Kaiser geworden und daß die Hochzeit stattfinden werde, sobald die Leiche des Vaters beigesetzt sei. Schluß: Leichenzug von Bischöfen, worunter auch der Bischof von Speier, der einen Zipfel des Bahrtuchs tragen muß, um den Sieg der weltlichen deutschen Macht über die geistliche römische Anmaßung zu illustrieren.

Schlußchor: Geb zu deinen Vätern ein Und zu deinem Weib in Frieden! Und was nie im Leben dein, Sei im Tode dir beschieden: Ruh und Sieg Nach Kampf und Krieg, Sieg und Ruh dem Müden!

errlich hast du dich erkühnt, aiserlicher Stamm der Franken! Wenn die Kron' am höchsten grünt, Fängt die Wurzel an zu kranken; Doch der Ruhm * Jn's Heiligtum Nimmt sie auf, die sanken.

t

Deutsche Treu und deutscher Mut, Hüte dieser Schwelle Feier, Nimm dein Heiligtum in Hut Vor dem Fremden, dem Entweihn! Deutscher Dom Am deutschen Strom, Sei gegrüßt, o Speier! 2. Torquato Tasso, von Goethe.

Analyse. Torquato Taffo, italienischer Dichter, weilt am Hofe des Herzogs Alphons von Ferrara. Er liebt die geistvolle, schöne Schwester des Beyer, Deutsche Poetik. II.

27

418 Herzogs, Leonore von Este.

Als er sein herrliches Werk, das befreite Jerusalem,

vollendet hat, überreicht er es dem Herzoge.

Die Prinzessin krönt ihn dafür.

Er bietet hierauf dem vielgeltenden Antonio seine Freundschaft an, wird aber

kalt zurückgewiesen. Da fordert er Antonio zum Zweikampf heraus und wird verhaftet. Tasio argwöhnt bei den verschiedenen Vermittlungsversuchen überall Verrat; er fordert seine Entlassung vom Herzog und erhält sie. Als er von der Prinzessin Abschied nimmt, erkühnt er sich, ihr seine Liebe zu gestehen.

Die Fürstin weckt ihn aus

seinen thörichten

Träumereien

durch

ihr rasches:

Hinweg! und verursacht dem unglücklich Liebenden das bitterste Leid. Am Ende findet er in Antonios Freundschaft noch Trost und Hoffnung. Neben

den beiden Hauptpersonen, Tasso und Antonio, zeichnet Goethe zwei interessante Frauencharaktere, die edle und geistreiche, dem Dichter im Stillen geneigte Prinzesfin Eleonore und die Gräfin Eleonore Sanvitale, die fröhlich-liebenswürdige Freundin der Prinzessin. Die fünfte Person ist der kunstsinnige kluge Herzog Alphons, der Ehrfurcht gebietende Herrscher. Die Handlung geht — wie die kurze Probe schon zeigen möge — mehr im Gemütsleben der Personen als in der äußeren That vor sich. Das Stück bietet ausgedehnte Schilderungen Italiens und gewährt die genußreichste Lektüre; ein Theaterstück ist es nicht. Der übermäßig ausgedehnte Dialog hat für ein theatralisches Stück dieselben Mängel, wie der Rückertsche. Probe

aus Torquato Tasso,

von Goethe

(2. Aufz. 1. Auftritt).

Saal. Prinzessin. Tasso. Tasso. Und sah ich hier mit Staunen nicht zuerst, Wie herrlich man den tapfern Mann belohnt? Als unerfahrner Knabe kam ich her, In einem Augenblick, da Fest auf Fest Ferrara zu dem Mittelpuntt der Ehre Zu machen schien. O! welcher Anblick war's! Den weiten Platz, auf dem in ihrem Glanze Gewandte Tapferkeit sich zeigen )ottte, Umschloß ein Hreis, wie ihn die Sonne nicht So bald zum zweitenmal bescheinen wird. Es saßen hier gedrängt die schönsten Frauen, Gedrängt die ersten Männer unsrer Zeit. Erstaunt durchlief der Blick die edle Menge; Man rief: Sie alle hat das Vaterland, Das Eine, schmale, meerumgebne Land, Hierher geschickt. Zusammen bilden sie Das herrlichste Gericht, das über Ehre, Verdienst und Tugend je entschieden hat. Gehst du sie einzeln durch, du findest keinen, Der seines Nachbarn sich zu schämen brauche! — Und dann eröffneten die Schrankeir sich; Da stampften Pferde, glänzten Helm und Schilde, Da drängten sich die Knappen, da erklang Trompetenschall, und Lanzen krachten splitternd,

419 Getroffen tönten Helm und Schilde, Staub, Auf einen Augenblick, umhüllte wirbelnd Des Siegers Ehre, des Besiegten Schmach. O laß mich einen Vorhang vor das ganze, Mir allzuhelle Schauspiel ziehen, daß In diesem schönen Augenblicke mir Mein Unwert nicht zu heftig fühlbar werde.

Prinzessin.

Wenn jener edle Kreis, wenn jene Thaten Zu Müh^ und Streben damals dich entflammten, So tonnt' ich, junger Freund, zu gleicher Zeit Der Duldung stille Lehre dir bewähren. Die Feste, die du rühmst, die hundert Zungen Mir damals priesen und mir manches Jahr Nachher gepriesen haben, sah ich nicht. Am stillen Ort, wohin kaum unterbrochen Der letzte Wiederhall der Freude sich Verlieren konnte, mußt' ich manche Schmerzen Und manchen traurigen Gedanken leiden. Mit breiten Flügeln schwebte mir das Bild Des Todes vor Den Augen, deckte mir Die Aussicht in die immer neue Welt. Nur nach und nach entfernt' es sich, und ließ Mich, wie durch einen Flor, die bunten Farben Des Lebens blaß, doch angenehm erblicken, Ich sah lebend'ge Formen wieder sanft sich regen. Zum erstenmal trat ich, noch unterstützt Von meinen Frauen, aus dem Krankenzimmer, Da kam Lucretia voll ftohen Lebens Herbei und führte dich an ihrer Hand. Du warst dfr erste, der im neuen Leben Mir neu und unbekannt entgegen trat Da hofft' ich viel für dich und mich; auch hat Uns bis hieher die Hoffnung nicht betrogen. Tasso.

Und ich, der ich betäubt von dem Gewimmel Des drängenden Gewühls, von so viel Glanz Geblendet, und von mancher Leidenschaft Bewegt, durch stille Gänge des Palasts, An deiner Schwester Seite schweigend ging, Dann in das Zimmer trat, wo du uns bald Auf deine Frau'n gelehnt erschienest — mir Welch ein Moment war dieser! O vergieb! Wie den Bezauberten von Rausch und Wahn Der Gottheit Nähe leicht und willig heilt; So war auch ich von aller Phantasie, Bon jeder Sucht, von jedem falschen Triebe Mit Einem Blick in deinen Blick geheilt. Wenn unerfahren die Begierde, sich Nach tausend Gegenständen sollst verlor, Trat ich beschämt zuerst in mich zurück,

420 Und lernte nun das Wünschenswerte kennen. So sucht man in dem weiten Sand des Meers Vergebens eine Perle, die verborgen In füllen Schalen eingeschlossen ruht. Prinzessin.

Es fingen schöne Zeiten damals an, Und hätt' uns nicht der Herzog von Urbino Die Schwester weggeführt, uns wären Jahre Im schönen ungetrübten Glück verschwunden. Doch leider jetzt vermissen wir zu sehr Den frohen Geist, die Brust voll Mut und Leben, Den reichen Witz der liebenswürd'gen Frau.

Tasso. Ich weiß es nur zu wohl, seit jenem Tage, Da sie von hinnen schied, vermochte dir Die reine Freude niemand zu ersetzen. Wie oft zerriß es meine Brust! Wie oft Klagt' ich dem füllen Hain mein Leid um dich! Ach! rief ich aus, hat denn die Schwester nur Das Glück, das Recht, der Teuern viel zu sein? Ist denn kein Herz mehr wert, daß sie sich ihm Vertrauen dürste, kein Gemüt dem ihren Mehr gleich gestimmt? Ist Geist und Witz verloschen? Und war die Eine Frau, so trefflich sie Auch war, denn alles? Fürstin! o verzeih! Da dacht' ich manchmal an mich selbst, und wünschte Dir etwas sein zu können. Wenig nur, Doch etwas, nicht mit Worten, mit der That Wünscht' ich's zu sein, im Leben dir zu zeigen, Wie sich mein Herz im Stillen dir geweiht. Doch es gelang mir nicht, und nur zu oft That ich im Irrtum, was dich schmerzen mußte, Beleidigte den Mann, den du beschütztest, Verwirrte unklug, was du lösen wolltest, Und fühlte so mich stets im Augenblick, Wenn ich mich nahen wollte, fern und ferner, u. s. w. Bur Litteratur Les dramatischen Gedichts.

Die Anzahl der dramatischen Gedichte ist im Verhältniffe zu den übrigen Dramen nur gering. Wir rechnen unter die Gattung derselben außer den genannten: Körners Hedwig und Tony; Zevlitz' Herr und Sklave; Tiecks

dramatifierte Märchen; Platens polemisch-satirische Komödien; Jmmermanns Trauerspiel in Tyrol; Oskar Elsners Die Wacht am Rhein; Uhl and s

Schildeis und sein Ständchen, sowie zum Teil sogar seine Dramen; in gewissem

Sinn auch A. Werners Martin Luther (vgl. S. 34 d. Bds.), sowie Aug. Spechts Der Verfluchte. Ferner fittd als dramatische Gedichte zu nennen: Julius Mosens. Heinrich der Finkler, Otto III., Rienzi, Herzog Bernhard,

421 Der Sohn des Fürsten, — da in diesen historischen Gemälden das subjektiv Lyrische und Rhetorische dominiert, die Handlung aber mangelnd oder zu unbedeutend ist. Eine Fortbildung

des dramatischen Gedichts

zum

bühnengerechten

sog.

historischen Drama hat Raupach' in seinem Cyklus Hohenstaufen, sowie Herrig

in seinen Werken: „Jerusalem" und „Alexander" versucht, welche großartige Wendepunkte der Geschichte darstellen , den Übergang des Alten zum Neuen,

den Kampf geschichtlicher Prinzipien. nähern sich

dem

(Sie wurden nie aufgeführt.)

bühnengerechten Drama

W.

Molitors

Maria

Noch mehr Magdalena;

Otto Prechtlers Adrienne; ferner von Paumgartens Rudolf von Habsburg; Ed. Rüffers Lorelei; Adolf Calmbergs Jürgen Wullenweber, sowie Calmbergs Leyer und Schwert; Julius Ernsts Der Eremit von Juste; Linggs Berthold Schwarz; Ferd. Stoltes Neuer Faust; besonders aber Feod. Wehls Hölderlins Liebe, sowie Fr, Halms Camoens und sein Saktiges dramattsches Gedicht Gri­ seldis, dessen Sprache wie ein über den etwas unnatürlichen Stoff gebreiteter, loser Schmuck erscheint, und dessen Heldin allzu peinlichen Quälereien und

Prüfungen ausgesetzt ist rc.

§ 155. Tragödie — Trauerspiel. 1. Unter Tragödie versteht man ein trauriges Schauspiel, ein Trauerspiel, ein Drama mit unglücklichem Ausgang. Es stellt den Kampf eines hervorragenden Charakters gegen die Macht äußerer Ver­ hältnisse oder auch der eigenen Leidenschaft so dar, daß der Held, wenn er auch unterliegt, doch moralisch siegt, wodurch die sittliche Idee Siegerin bleibt. 2. Das Schicksal des Helden erzeugt die tragische Stimmung und die tragische Poesie, deren Begriff wir I S. 100 entwickeln konnten. 3. Die Tragödie bringt eine höhere Wahrheit zum Ausdruck. Dies nennt man ihre Tendenz. 4. Schon bei den Alten war Tragödie (iQoycydla) ein erhabenes Gedicht von traurigem Ausgang, worin nur erhabene Personen (Götter, Könige, Prinzen, Helden rc.) auftraten. 5. Die Tragödie unterscheidet sich in wesentlichen Stücken vom Epos wie vom Roman. (III

1. Schopenhauer nennt das Trauerspiel die erhabenste Dichtungsart 731), den Gipfel der Dichtkunst sowohl in Hinsicht auf die

Größe der Wirkung, als auch auf die Schwierigkeit der Schöpfung, ja, er be­ zeichnet es als die höchste poetische Leistung (II 298. III 480), welche

die innere Bedeutung,

das Wesen der Welt weit mehr

als selbst die aller-

wichtigsten und allergroßartigsten physikalischen Wahrheiten hervortreten läßt (VI 215), welche das schwere Leiden, die Not des Daseins vorsührt, wobei

die Nichtigkeit

alles menschlichen Strebens das letzte Ergebnis ist (VI 472).

Nach Schiller ist die Tragödie dichterische Nachahmung einer zusammen­ hängenden Reihe von Begebenheiten (einer vollständigen Handlung), welche uns

422 Menschen in einem Zustande des Leidens zeigt,

und

zur Absicht hat, unser

Mitleid zu erregen. Man sollte zur Erläuterung oder Erschöpfung des Begriffs zusetzenDurch

jenes starke Beherrschtsein von heftigen Gefühlen, Affekten, Begehrungen, das die Stimme der Mäßigung und Klugheit nicht beachtet, welches man Leiden­ schaft nennt;

ferner durch Rücksichtslosigkeit, Verbrechen, Unentschloffenheit rc.

verstößt der Held der Tragödie gegen bestimmte unabänderliche Gesetze und zieht sich so sein Schicksal zu. Glück und Unglück wechseln. Endlich erscheint der Rächer (Peripetie oder Umschlag). Vergebens sucht der tragische Held nach

einem Halt. Der Schluß ist Tod, Ruin, Untergang. So eröffnet die Tragödie einen erhabenen Einblick in das unendliche Walten der Vorsehung, in die Schick­ sale des Menschen.

Rach Hans Herrig (in Osk. Blumenthals Neuen Monatsheften IV 424)

ist die moderne Tragödie die wahre Kunst der Erlösung, der Freiheit, die nicht

wie die antike sich bei der schließlichen Ergebung in die Gesetze des Weltalls beruhigt und resigniert, sondern durch Entsagung über dieselben triumphiert. Das Wort des Heilands: Vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun, ist auch das letzte Wort der Tragödie. Die Welt weiß nicht, was sie thut, aber der Held hat es erfahren, und hat nun nur noch die letzten Seufzer für sie übrig: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt", und „Es ist vollbracht!" Der Schleier der Maja ist zerronnen; der Vorhang schwebt langsam nieder. (Aug. Siebenlist, Schopenhauers Philosophie der Tragödie 1880 S. 43.)

2. A. W. Schlegel sagt (Sämtl. Werke V 41): „Wenn wir die Bezieh­ ungen unseres Daseins

bis

an

die

äußerste Grenze

der Möglichkeiten über­

schauen, wenn wir deffen ganze Abhängigkeit von einer unübersehlichen Ver­ kettung der Ursachen und Wirkungen erwägen; wie wir schwach und hülslos gegen den Andrang unermeßlicher Naturkräste und streitender Begierden an die Küste einer unbekannten Welt ausgeworfen werden, gleichsam bei der Geburt

schon schiffbrüchig; wie wir allen Irrtümern, allen Täuschungen ausgesetzt sind,

deren jede verderblich werden kann; wie wir in der Leidenschaft unsern eignen Feind im Busen tragen; wie jeder Augenblick im Namen der heiligsten Pflichten die Aufopferung der süßesten Neigungen von uns forbem, und durch einen

plötzlichen Schlag

uns

alles Schwer-Erworbene

rauben kann;

wie mit jeder

Erweiterung des Besitzes die Gefahr des Verlustes steigt, und wir den Tücken

des feindseligen Zufalls nur um so mehr Blößen darbieten: dann muß jedes nicht dem Gefühl verschloffene Gemüt von einer unaussprechlichen Wehmut

befallen werden, gegen die es keine andre Schutzwehr giebt, als das Bewußt­ sein eines über das Irdische hinausgehenden Berufs. Dies ist die tragische Stimmung; und wenn die Betrachtung des Möglichen als lebendige Wirklich­

keit aus dem Geiste heraustritt, wenn jede Stimmung die auffallendsten Bei­ spiele von gewaltsamen Umwälzungen menschlicher Schicksale,

vom Unterliegen

des Willens dabei oder bewiesener Seelenstärke, in der Darstellung durchdringt und beseelt: dann entsteht tragische Poesie."

(Vgl. I S. 100.)

423 3. Tragisch wird die Stimmung im Trauerspiel durch seine Tendenz, sofern die Schrecknisse auf der Bühne dem Zuschauer „die Bitterkeit und Mutlosigkeit des Lebens, also die Nichtigkeit alles Strebens entgegenhalten" und zur Über­

zeugung bringen, daß das Leben ein schwerer, ernster Traum sei.

der Tragödie

ist

also Erzielung

von Resignation,

Entsagung,

Die Tendenz

mutiges

und

gelasienes Betrachten des Todes, die Hervorrufung echter Wehmut, die neben

dem Schmerz auch den Trost bietet: ähnlich der Lanze des Peleus, welche die Wunden schuf und wieder heilte. Wenn das Glück des Helden im 5. Akt scheitert, empfindet der Zuschauer eine gewiffe Erhebung des Gemüts, ein

Genügen unendlich höherer Art, als es der Anblick des noch so sehr beglückten Helden zu gewähren vermocht hätte. Man fühlt das Bedürfnis der Erlösung und stimmt Seneka bei, daß der Unglückliche der Glückliche sei. (Vgl. Maria Stuart, wenn sie auf dem Gang zur Richtstätte sagt: „Jetzt hab' ich nichts mehr auf der Erde"; oder den sterbenden Palmire in Voltaires Palmire: „Die Welt ist für Tyrannen, lebe du!" oder Shakespeares sterbenden Brutus: „Besänftige, Cäsar, dich: nicht halb so gern bracht' ich dich um, als mich u. s. w." Schopenhauer meint (II

316):

,,Wäre

nicht das Erheben über alle Zwecke

und Güter des Lebens, dieses Abwenden von ihm und seinen Lockungen und das hierin schon liegende Hinwenden nach einem anderartigen, wiewohl uns

völlig unfaßbaren Dasein die Tendenz des Trauerspiels: wie wäre es denn überhaupt möglich, daß die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens im grellsten Lichte uns vor Augen gebracht, wohlthätig auf uns wirken und ein hoher Genuß für uns sein könnte? Zwar nicht eigentliches Quietiv des Willens, zwar nicht aus immer erlösend vom Dasein, sondern nur auf Augenblicke bildet

diese Darstellung noch nicht einen Weg aus dem Leben,

sondern

bloß

einen

Trost in demselben, bis die dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde,

den Ernst ergreift. Ähnlich sagt Otto Liebmann (Zur Analysis der Wirklichkeit.

Straßburg

1876 S. 560): „Das spezifisch Befriedigende der Tragödie liegt in der deutlicheren oder undeutlicheren Erregung

des ernsten Bewußtseins:

Mögen

Schuld und

Schicksal, Situationen und Charaktere, Zufall und Leidenschaften noch so störend, verwirrend, vernichtend in das menschliche Leben eingreifen, die höchsten und edelsten Bestrebungen vereiteln, das Beste, Daseinswürdigste unbarmherzig zer­

knicken, die Unschuld morden, den Bösewicht triumphieren lassen, — es giebt eine moralische Weltordnung, welcher stets das letzte Wort verbleibt, welche zu­ weilen sichtbarlich, zuweilen auch für uns unmerklich, alles Unrecht sühnt, alles unverdiente Leiden wieder gut macht, alle sittlichen Disionanzen so oder so auf­

löst. Vertraue darauf!" (Vgl. des Näheren die mehrfach citierte Quellenschrift Aug. Siebenlists über Schopenhauers Philosophie der Tragödie S. 24—45.) Neben jener auf Entsagung und Resignation gerichteten Absicht kann die Tragödie noch eine spezielle Tendenz verfolgen. So liefert z. B. die roman­ tische Jungfrau von Orleans den Nachweis, wie die fromme Schwärmerei eines reinen Gemüts Wunder wirken kann! Maria Stuart zeigt, daß die Nichtbeherr­

schung der Leidenschaft selbst auf dem Throne ins Unglück führt u. s. w.

424 4. Das Wort Tragödie ist abzuleiten von tgdyog Bock und

Gesang.

Es bildete ursprünglich die Bezeichnung für jeden mimischen Chorgesang oder Dithyrambus, welcher bei den üblichen Bocksopfern gelegentlich der grie­

chischen Dionysusfeste angestimmt wurde, indem sich der Chor zur Nachahmung der Satyrgestalt in Bocksfelle hüllte. Das Wort tragoedia bedeutete 1. Bocks­

gesang , weil dem Sieger in der Tragödie ein Bock geschenkt wurde (vgl. die Inschrift der zu Marseille 150 n. Chr. gefundenen, jetzt in Orford be­ findlichen Marmortafel: „und zum Preise wurde der Bock gegeben"),2. Gesang der Böcke, d. h. der Satyrn, welche mit den Böcken identifiziert werden; 3. Bocksopsergesang, vorgetragen dem Dionys zu Ehren, denn be­ kanntlich ist der T^ayog das Opfer des Dionysos, weil der Bock die Weinreben

benagt, was ein deutsch gegebenes Epigramm besagt: „Benagenur, oBock, meine Wurzeln, es wird mir doch noch soviel Wein übrig bleiben, um dich dazu zu verspeisen." (Näheres s. weiter unten unter Litteratur.)

In welcher Art aus dem Dithyrambus, den Arion schon (ca. 600 v. Chr.) von kunstmäßig einstudierten Chören aufführen ließ, die Tragödie entstand, haben wir unter Litteratur dargelegt. Aristoteles nennt bereits die Tragödie die Darstellung einer bedeutenden, in sich abgeschlosienen Handlung von gewissem Umfange in an­ genehmer Sprache, ausgeführt von Handelnden und nicht durch Erzählung, sondern durch Mitleid und Furcht die Reinigung (Katharsis) solcher Affekte vollbringend (xu^agaig twv Tca^pdicov. Vgl. Arist. poet. cap. VI).

Gustav

Rümelin (Reden, Aufsätze rc. Tübingen 1875 S. 382)

inter­

pretiert diese Anschauung des großen Denkers von Stagira dahin, daß die Tragödie durch Erweckung von Furcht und Mitleid eine Entlastung des Gemüts

von dem Druck eben dieser Stimmung bewirke. — Bernays, wohl der beste Katharsiserklärer, übersetzt: Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid und Furcht die erleichternde Entladung solcher (mitleidigen und furchtsamen) Gemütsaffekttonen. — Mitleid und Furcht nennt Klein (Gesch. d. Dramen V 338) ein tragisches 'Zwillingspaar, dem sodann Aug. Siebenlist (a. a. O. 55)

seine Stellung im Sinne Schopenhauers anweist. — Auch Otto Ribbeck (An­ fänge und Entwickelung des Dionysoskultus 1869 S. 59) erblickt die Aufgabe

der Tragödie in der Befreiung des belasteten Gemüts, in der Entladung stür­ mischer Affekte.

Durch die Musen Melpomene und Tragödie und die Komödie dar;

Thalia

stellt die bildende Kunst die

jene hält die tragische Maske in der Hand,

diese die komische. 5. Vergleichen wir die Tragödie

mit

dem Epos und

dem Roman,

so

finden wir, daß es sich in diesen drei Dichtungsgattungen um eine hervor­ ragende, das Jntereffe in Anspruch nehmende Persönlichkeit Handelt. Alle drei

zeigen das Eingreifen von Verhältnissen, die oft nicht vorauszusehen und zu beherrschen sind. Alle drei bedingen endlich das Eintreten von Neben­ personen, welche das Schicksal des Helden verzögern oder auch rascher herbei­ führen helfen.

425 Dabei sind aber doch große Verschiedenheiten zu bemerken. Während die Tragödie (wie auch der Roman) den Eingriff einer höheren Macht in das menschliche Dasein — jedoch eines Einzelnen — darstellt, zeigt

dies das

Volks-Epos im großen Leben ganzer Völkerfamilien. Während der Held in der Tragödie gegen eine unsichtbare Macht ankämpfen muß, der er nicht gewachsen ist,

läßt er

sich im Roman vom Schicksal und oft durch Zufälligkeiten und

andere Personen bestimmen, im Epos dagegen kämpft er nur gegen äußere Feinde und geht im Verein mit helfenden Freunden in der Regel siegreich aus dem Kampfe hervor. Wenn in der Tragödie die Nebenpersonen gerne als

Repräsentanten einer ganzen Klasse von Menschen, als eine verkörperte Gattung von Charakteren, als Träger gewisser Ideen angesehen werden wollen, gehören dieselben im Roman nur einer gewissen Zeit und ihrer Bildung an. Im

Epos sind die Personen natürliche Menschen mit ihren verschiedenen Eigen­ schaften, guten oder bösen, keine Symbole wie in der Tragödie. Franz Keim, der so rasch bekannt gewordene Dichter der Tragödie Sulamith, sagt scharf­

sinnig: Im Epos herrscht die Begebenheit, in der Tragödie die Person; im Epos fragt man: Was wird dem Helden begegnen, in der Tragödie: Was wird er thun? u. s. w.

§ 156. Der Held der Tragödie und die poetische Gerechtigkeit. 1. Der Held der Tragödie muß sich durch Bedeutendheit (Bedeutsamkeit, Gewichtigkeit, Nimbus) und Mut auszeichnen, um den entgegen tretenden Schwierigkeiten (d. i. dem tragischen Konflikt) gewachsen zu erscheinen. 2. Dabei braucht er in sittlicher Beziehung nicht vollkommen zu sein. 3. Das Geschick des Helden bedingt den einfachen tragischen Kon­ flikt oder eine sittliche Kollision. 4. Er erstrebt meist das Rechte und bewirkt das Gegenteil. Dies ist die sogenannte tragische Ironie. 5. Der Held geht weiter, als es nach menschlicher Berechnung klug ist. Dies führt seinen Untergang herbei und macht das Ende tragisch. 1. Der tragische Held nimmt den Kampf mit den widrigen Verhältnissen (d. i. dem tragischen Konflikte) auf. Ans diesem Konflikt erwachsen Leiden: ver­ schuldete (z. B. wenn Don Cäsar in der Braut von Messina sich tötet); unverschuldete (z. B. wenn Jphigenia das Opfer des Gelöbnisses ihres Vaters Agamemnon wird); Physische (z. B. Maria Stuarts Gefangenschaft);

psychische (z. B. Ferdinand und Luise in Schillers Kabale und Liebe) u. s. w.

Soll uns der tragische Held nicht erbärmlich

oder jämmerlich erscheinen,

so muß er sich durch Größe und Hoheit des Charakters, sowie durch Energie,

Kraft, Konsequenz, Unbeugsamkeit und ^Begeisterung auszeichnen, besonders wenn er ein Repräsentant der Bildung, Sitte und Geistesthätigkeit seines Volkes sein

426 soll. Wo seine innere Freiheit in Kampf mit der äußern Notwendigkeit tritt, darf er keine Gefahr achten, er muß das Unerreichbare erstreben, und nicht

zurückschrecken, wenn ihm auch noch so viele Schwierigkeiten (tragische Konflikte)

in den Weg treten. Der Prinz von Homburg von Kleist verliert zwar den Mut.

Aber bald

gewinnt er den Sieg über Feigheit und über menschliche Liebe zum Leben; er verachtet sich und erhebt sich zu einer des Helden würdigen Idealität. Auch

bei König Lear überragt der hohe ideale Sinn die menschlichen Schwächen. — Uriel Akosta von Gutzkow, welcher nicht einmal aus innerer Nötigung sich untreu wird, ist kein gelungener tragischer Held. 2. Der Held

braucht nach

rein moralischem Begriffe

in

der Tragödie

gerade nicht immer ein sittlich hoher Charakter zu sein, ebensowenig wie im Epos. Ja, er kann sogar ein Verbrecher sein (z. B. Karl Moor, Richard HL), sofern sein Verbrechen eine Verirrung (d^agiia) ist. Der Charakter darf

weder zu schuldlos sein, um die Wehmut zu verdienen, noch zu schuldvoll für diese. Die Tragödie will sittliche Unvollkommenheit der Charaktere; denn sie würde der Geschichte widersprechen, wollte sie Strafe vorführen ohne Schuld des Helden. (Calderons Standhafter Prinz ist ausnahmsweise ein Held, welcher schuldlos leidet.) Aristoteles sagt (Poet. 13): „Zuerst ist es klar, daß weder tugendhafte Männer aus Glück in Unglück übergehend erscheinen dürfen (denn das erweckt weder Furcht noch Mitleiden, sondern vielmehr Unbehagen), noch böse (schlechte) Menschen aus Unglück in Glück, (denn das wäre am wenigsten

tragisch, insofern es gar keine unserer Anforderungen an eine Tragödie erfüllt, da es weder unser Gerechtigkeitsgefühl befriedigt, noch auch Mitleid oder Furcht erweckt), noch endlich einen vollendeten Bösewicht, der aus Glück ins Unglück stürzt:

denn eine solche Darstellung möchte wohl unserem Menschlichkeitsgefühle

Genüge thun, aber uns weder Mitleiden noch Furcht einflößen;

denn das Mit­

leid richtet sich auf den, der unverdient leidet; die Furcht auf einen unseres­ gleichen. Daher wird, was solchen geschieht, weder Mitleid erwecken noch Furcht. So bleibt nur, der zwischen den bezeichneten in der Mitte ist.

Das ist aber

ein solcher, der weder durch Tugend und Gerechtigkeit sich erhebt, noch durch Laster und Verderbtheit in's Unglück kommt, sondern durch irgendwelche Ver­ irrung (durch einen bestimmten Fehltritt). Und zwar muß es ein Hochange­ sehener und Beglückter sein, wie z. B. Ödipus, Thyestes, und sonst aus der­

gleichen erlauchten Geschlechtern die hervorstechenden Männer."

Ein tadelloser

Tugendheld oder ein vollkommener Weiser wird nicht durch seine Schuld unter­ gehen,

da er zur rechten Zeit

den Zwiespalt

mit einer andern Macht durch

Entsagung seines eigenen Willens aufheben wird. Wenn den Helden der Widerspruch zwischen Gesinnung und Verhältnisien in seinem Streben nur nicht

wankend macht,

wenn er im Konflikt mit den

Verhältnisien und beim Eingreifen des Schicksals nur nicht von seinem Willen

abläßt,

wenn er im Unglück, in seinen der Schuld

entwachsenen Leiden nur

nicht kleinmütig sich zeigt, wenn er seine Freudigkeit nur nicht verliert, so sind wir für ihn gewonnen und interessieren uns für ihn. Wenn wi.r auch schließ-

427 lich das Unglück als die Folge seiner Schuld anerkennen muffen (vgl. Romeo, der seine Schuld noch am Sarg vermehrt), so entziehen wir ihm doch unsere

Teilnahme nicht. Wir rechnen ihm diese Schuld (tragische Schuld) nicht an, wir erklären sie vielmehr daraus, daß er die Ordnung der Dinge gestört hat, daß er sich gegen die Gesetze einer Welt auflehnte, daß er zu viele Gegner fand, denen er trotz seiner Energie zum Opfer fiel, daß er Unglück hatte; mit

einem Worte: wir erklären die tragische Schuld des Helden aus seiner geistigen Anlage, aus den Verhältnissen, ohne ihn dafür verantwortlich zu machen. 3. Das Tragische,

das wir I S. 100 erörtert haben, und wozu Ari­

stoteles schon den gewaltsamen Tod, heftigen und anhaltenden Schmerz, Ver­

wundungen 2C. zählt, kann im Trauerspiel nur dann von Wirkung sein, wenn es mit Notwendigkeit aus dem sittlichen Konflikt des Helden erwächst, wenn Unglück eintritt, obgleich der Held in allen Pflichten treu ist, wenn der Strom der äußeren Verhältnisse trotz alles ehrlichen Antämpfens seinen Untergang durch das schließliche Eingreifen des Schicksals bedingt, wenn die individuelle Freiheit in Widerspruch mit höherer Naturnotwendigkeit gerät. (Beispiele: Hektor's Untergang, Siegfried's Tod.) Wenn der Tod durch Zufall eintritt (z. B.

im Schiffbruch, im Gewitter), so kann man wohl auch von einem tragischen Ende im gewöhnlichen Sinn sprechen, nicht aber im Sinn der Tragödie, Held in Kamps mit der bestehenden Weltordnung tritt.

wo der

Man unterscheidet in der Tragödie zunächst das Tragische des fachen Konflikts (z. B. Ödipus' Jähzorn. Egmonts Unschlüssigkeit) Tragischen der sittlichen Kollision (Beispiele:

ein­ vom

Antigone, die mit Pietät

und Staatsgesetz, das die Bestattung des Bruders untersagte, in Konflikt gerät, ferner Wallenstein, bei dem die Gehorsam fordernde Unterthanenpflicht den Kon­ flikt bedingt, ferner der Tyrann Macbeth, der alle ermordet, welche ihm un­ bequem sind. Sein Eingriff in die Weltordnung führt feinen Untergang herbei, der tragisch, wehmuterzeugend wirkt, weil er eine sittliche Bedeutung hat und weil man sagt, daß er bei seinem Charakter so handeln mußte). Hier ist es das Zusammentreffen

von unüberwindlichen,

kollidierenden Verhältnissen und

Hindernissen, also die Situation, dort der eigenartige Charakter. 4. Man nennt es tragische Ironie, wenn der Held in die Schlingen

des seiner harrenden Strafgerichts verfällt,

wo

er schon im Begriff ist, den

Weg der Schuld zu verlassen, wenn er das Rechte zu thun vermeint und das

Gegenteil erreicht, wenn er also das Unglück auf fein Haupt heraufbeschwört — gerade durch die Mittel, die er zur Abwehr ergriffen hat. Vgl. den Ödipus in der Sophokleischen Tragödie,

oder den Orestes, der die Mutter erschlägt,

um den gemordeten Vater zu rächen, und der nun als Muttermörder von den Furien verfolgt wird.

Das Tragische liegt hier in der Situation,

in die der

Held gerät, indem er den Willen der Gottheit ausführt und dann doch untergeht. Hier liegt freilich die Auffassung des Werkzeugs nahe: Ihr laßt den Armen schuldig werden; Dann überlaßt ihr ihn der Pein — Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

428 Es ist die echteste Tragik, wo selbst Sühne ohne neue Pflichtverletzung nicht mehr möglich ist. (Vgl. Pessimistenbrevier S. 299.) 5. Beim

Tragischen

des

einfachen Konflikts

geht der Charakter

durch seine Schuld unter, die tragisch und ethisch sein kann. (Beispiel I 102.) Es beruhigt und versöhnt hierbei die Wahrnehmung einer sitt­ lichen Weltordnung

neben der

Mangelhaftigkeit menschlichen Daseins.

Beim

Tragischen der sittlichen Kollision sieht man durch den Untergang des Helden die unerbittlichen Pflichten und Forderungen einer moralischen erfüllt, ersieht man die Wahrheit des Schillerschen Ausspruchs:

Weltordnung

„Es giebt keinen Zufall Und was euch blindes Ohngefähr erscheint, Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen." Eine gewisse Genugthuung (tragische Gerechtigkeit I. 101. 3; vgl. auch den folgenden Paragraphen 157) gewährt der Hinblick auf

„Das große gigantische Schicksal, Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt." (Schiller.)

Es wird die Entladung von den trüben und beengenden Stimmungen des Tages herbeigeführt, welche nur durch den Jammer und das Fürchterliche

in die Welt kommen. (Freytag, Technik des Drama, sowie Masings, die tragische Schuld.) Wenn der Held die ihm von der Vorsehung gesetzten Schranken überspringt, wenn er weiter geht, als es nach menschlicher Berechnung klug oder naturgemäß erscheinen mag, so wachsen ihm die Folgen seiner That (Schuld)

über den Kopf und er wird durch innere Notwendigkeit zu einem Ausgang fortgeriffen, den er nicht ahnte: er geht unter. Daher ist das Grundgefühl

des Tragischen die Wehmut. Da die Geschichte reich an solchen Beispielen ist, so giebt es viele historische Tragödien. 5. Wallenstein geht unter durch unbegrenzte Herrschsucht,

in seinem Herrscherberuf Entschuldigung findet; samkeit

des königlichen Sinnes,

der sich

Maria Stuart

die allerdings durch Unbeug-

nicht durch unwürdige

Behandlung

erniedrigen läßt.

§ 157. Die poetische Gerechtigkeit. Der Untergang des Helden muß der Beweis einer Gerechtigkeit sein, welche die Schuld sühnt. Dem Fehltritte des Helden muß die Nemesis, das Eingreifen des Schicksals, auf dem Fuß folgen. In der Antigone nötigt z. B. die List der mit Strafe bedrohten Wächter die Antigone zur wiederholten Übertretung der Staatsgesetze, wodurch ihre

Entdeckung erfolgt.

In Maria Stuart spricht der unzeittge, für die Heldin

begangene Mordversuch gegen sie u. s. w. Sühne heißt poetische Gerechtigkeit.

Die in der Tragödie eintretende

Jene Sühne des frommen Glaubens, die

429 nicht in der Tragödie einzutreten braucht,

kann man die ewige Gerechttgkeit

nennen. Das tragische Element kennzeichnet die innere Freiheit gegenüber der

äußeren Notwendigkeit, sich

als

unergründliche Macht

die aber keine Naturnotwendigkeit ist, des

ewigen Schicksals darstellt.

Es

sondern

ist nicht

unbedingt nötig, daß der Held stirbt, wenn nur der Totaleindruck ein wahrhaft tragischer ist,

wenn uns nur das Gefühl erhebt,

eine Bestätigung fand.

daß die große sittliche Idee

Dadurch, daß der Held sein Leben für Wahrheit und

Recht in die Schanze schlägt, wird das Interesse gesteigert und dem moralischen

Siege Bedeutung verliehen. Dieser Sieg macht das Tragische der Idee des Schönen entsprechend; er bewirkt das Gefühl der sittlichen Läuterung durch die Wahrnehmung, daß alle Fehltritte, aus welchen die Leiden erwuchsen, eine Sühne erhalten müssen.

Die Tragödie muß so angelegt sein, daß der Widerstreit von Verhältnissen und Pflichten des Helden den tragischen Ausgang anschaulich herbeiführen. Die widerstreitenden Verhältnisse verwickeln und steigern sich bis zur Katasttophe immer mehr, bis endlich dieser ttagische Ausgang die Lösung wird: „Alle Schuld rächt sich auf Erden." Dieser Gedanke wirtt so gewalttg, weil er unseren sittlichen Begriffen entspricht. Er befriedigt trotz des Untergangs des Helden. Wer die ihm von der Vorsehung gesteckten Grenzen mutwillig durchbrechen will, stürzt sich in Verhältnisse, die

sein Lebensglück vernichten,

ja,

mitunter seinen Tod

herbei­

führen: Dies ist die Lehre des Trauerspiels: die Wirklichwerdung jenes in der Menschenbrust liegenden Wunsches, daß der Mensch erntet, was er säet, die sog. poetische Gerechtigkeit. Der Philosoph des Pessimismus freilich, Arthur Schopenhauer, will (nach Siebenlist a. a. O. 155 ff.) nichts von dieser poetischen Gerechttgkeit wissen;

er nennt sie ebenso Philist er ei, wie Kants Postulate eines belohnenden Gottes und einer belohnt werdenden unsterblichen Seele. Er meint, daß nur Philister, welche an moralischem Werte Hiobs vernünftelnden Freunden gleich zu achten seien, die poetische Gerechtigkeit erfunden hätten, damit die Tugend doch wenigstens zuletzt etwas nütze. Nur im ungenialen z. B. Jffland'schen Drama setze sich die Tugend zu Tische, wenn sich das Laster erbreche. Nach Schopenhauer (II. 299 ff.) stellt bloß die glatte, optimistische, protestantisch-

rationalistische oder eigentlich jüdische Weltansicht die Forderung einer poettschen

Gerechtigkeit auf, während doch jeder, der etwas moralisch Ausgezeichnetes leiste, den Lohn dafür abweise (IV. 262). Der wahre Sinn des Trauerspiels sei

die tiefere Einsicht, daß das vom Helden Abgebüßte nicht seine Partikularsünden seien, sondern die Erbsünde, d. h. die Schuld des Daseins selbst, denn Calderon

habe recht, wenn er sage: Die größte Schuld des Menschen ist, daß er geboren

ward.

Ja, Schopenhauer, deffen pessimistische Philosophie treffend als philo­

sophisches Requiem bezeichnet wurde, behauptet, daß alle großen Tragiker — Sophokles, Shakespeare, Calderon, Goethe — dem Prinzip der poetischen Ge­ rechtigkeit geradezu Hohn gesprochen und sie vernachlässigt hätten.

„Was haben

430 die Kordelien, die Desdemonen, die Ophelien verschuldet?

Im König Ödipus,

im Hamlet, im Lear, im standhaften Prinzen, in Egmont u. s. w. fällt der Unschuldige, der Edle, der Tugendreiche; das Laster triumphiert: yeXaxn d*ex&Qoi (Soph. Elektra 1153 ed. Dind.). Und liegt nicht in dem un­ schuldigen Leiden und Tod der Dejaniere die Poesie gerade darin,

wirkliche Schuld auf ihr lastet,

daß keine

sondern des Anscheines dieser Schuld nur so

viel, daß sie sich dämm Unmhe und Angst, und daß die andern ihr dämm Vorwürfe machen? (Gmppe, Ariadne S. 188.) Und sogar Schiller läßt den

Carlos und Posa elend enden!" A. Siebenlist betrachtet die poetische Ge­ rechtigkeit, die a. a. O. 177 „roh materialistische Gerechtigkeit" genannt ist, als einen Eindringling in den Haushalt der Tragödie, denn für die Tragödie als der erhabensten Dichtgrt müsse auch die erhabenste Moral Geltung haben, und demnach müßten Gelüste, wie z. B. die Blutrache, oder das jüdische „Äug' um Auge, Zahn um Zahn" in ihr verstummen; hier gelte vielmehr: „Rechtet einer mit dir um den Mantel, so gieb ihm auch den Rock!" und „Schlägt dich einer auf den rechten Backen, so halte ihm auch den linken hin!" endlich: „Mein ist die Rache!" Wenn wir auch diese ewig gültige, versöhnende, mit unserer Forderung einer ewigen Gerechtigkeit im Einklang stehende Anschauung gern acceptieren, und wenn uns auch nichts ferner liegt, als eine moralische, „protestantischoptimistische Tragödie" zu befürworten, so läßt doch der Hinblick auf viele

wertvolle Tragödien,

welche

die

poetische Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen,

bei der Anschauung und der ethischen Substanz unseres Jahrhunderts die Her­ vorkehrung der poetischen Gerechtigkeit unseren Tragikern für neue Schöpfungen eindringlichst empfehlen. Der große Lessing, der in seiner Emilia Galotti der ewigen Gerechtigkeit Ausdruck verleiht („Dort erwarte ich Sie vor dem Richter unser Aller!"), ver­

wirft doch die poetische Gerechtigkeit nicht, wenn er auch sagt: noch eine andere Gerechtigkeit giebt,

als

die poetische."

„Gut, daß es

Dies beweisen seine

Aussprüche z. B. im 79. Stück der hamburgischen Dramaturgie, wo er sich über Weißes Richard III. vernehmen läßt: „Er (Richard) ist so ein abscheulicher

Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so völlig keinen einzigen ähn­ lichen Zug mit uns selbst finden, daß ich glaube, wir könnten ihn vor unsern

Augen den Martern der Hölle übergeben sehen,

ohne

das

geringste

für ihn

zu empfinden, ohne im geringsten zu fürchten, daß, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen folge, sie auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das Unglück, die Strafe, die ihn trifft?

Nach so vielen Miffethaten, die wir mit

ansehen müssen, hören wir, daß er mit dem Degen in der Faust gestorben ist. Als der Königin dieses erzählt wird, läßt fie der Dichter sagen: Dies ist etwas!

— Ich habe mich nie enthalten können, bei mir nachzusprechen: nein, das ist gar nichts! Wie mancher gute König ist so geblieben, indem er seine Krone

wider einen mächtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch als ein Mann auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich für den Unwillen

schadlos halten, den ich das ganze Stück durch über den Triumph seiner Bos-

431 heilen empfunden? .... Sein Tod selbst, welcher wenigstens meine Gerechtig­ keitsliebe befriedigen sollte, unterhält noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil

weggekommen! denke ich: aber gut, daß es noch eine andere Gerechtigkeit giebt, uls die poetische!" rc.

Vorzügliche Vertreter der Poet. Gerechtigkeit waren 1. Samuel Johnson, her s. Z. klassisch gebildete Shakespeare-Kritiker und Vorläufer der von Siebenlist (a. a. O. 161) aufgezählten Antishakespeareomanen. 2. Julius

Frauenstädt und 3. Gottlieb Fichte,

welch letzterer sich also vernehmen läßt:

„Im Trauerspiele sind wir nicht eher befriedigt, bis wenigstens die Ehre des unschuldig Verfolgten gerettet und seine Unschuld anerkannt, der ungerechte

Verfolger aber entlarvt ist und die gerechte Strafe erlitten hat, so angemessen es auch dem gewöhnlichen Laufe der Dinge sein mag, daß dies nicht geschehe; zum sichern Beweise,

daß wir es nicht von uns erhalten können,

dergleichen

Gegenstände, wie die Handlungen moralischer Wesen und ihre Folgen sind, bloß nach der Kausalität der Naturgesetze zu betrachten, sondem daß wir sie notwendig mit dem Begriffe des Rechtes vergleichen muffen. Wir sagen in solchen Fällen, das Stück sei nicht geendigt; und ebensowenig können wir bei Vorfällen in der wirklichen Welt, wenn wir z. B. den Bösewicht im höchsten Wohlstände, mit Ehre und Tugend gekrönt, oder den Tugendhaften verkannt, verfolgt und unter tausend Martern sterben sehen, uns befriedigen, wenn nun

alles aus und der Schauplatz auf immer geschloffen sein soll. Unser Wohl­ gefallen an dem, was recht ist, ist also keine bloße Billigung, sondern es ist

mit Interesse verbunden." (I. G. Fichte, Versuch einer Kritik aller Offenbarung 1793, S. 48 ff.) Siebenlist (a. a. O. S. 161 ff.) weist nach, wie Schopen­ hauer den „hausbackenen" Standpunkt besonders Fichtes bekämpft, indem er zugleich (a. a. O. 165) auszuführen versucht, daß sich auch Aristoteles im

13. Kap. seiner Poetik im allgemeinen ablehnend

gegen die poetische Gerech­

tigkeit verhalte u. s. w.

§ 158.

Eigenartiges in der Technik der Tragödie.

1. Die Tragödie als die gewaltigst wirkende und schwierigste Dichtungsgattung verlangt von ihrem Dichter das ernsteste Studium, die größte Darstellungsgabe und Menschenkenntnis. Hier bewährt sich der Ausspruch, daß der Gott der Dichtkunst zugleich der Gott der Weisheit sei. Alle im § 20 ff. d. Bds. (S. 29—62) gegebenen Vorschriften sind auch für den Bau der Tragödie maßgebend. Besondere Beachtung erfordern jedoch außerdem noch: a. der Stoff, b. die Entwickelung der Handlung, c. Sprache und Form der Tragödie. a. Der Stofs. Die Tragödie lehnt sich bei der Wahl des Stoffes gem an den Mythus, an die Sage, an die Geschichte an. (Vgl. S. 37 d.

432 Bds.)

Am liebsten nimmt sie ein Bruchstück aus

ragenden, hochgestellten Menschen,

Verhältnisie mit sich bringt,

dem Leben

weil das Leben

eines

hervor­

eines solchen großartigere

welche Unbedeutendes übersehen

Dieses

lasten.

Bruchstück braucht nicht historisch treu verwendet zu werden. Den griechischen Tragikern war Homer und seine Nachfolger (die sogen, cyclischen Epiker) die Fundgrube für ihre Stoffe. Die Athener, die doch sonst das Neue liebten, verlangten auf ihrer tragischen Bühne allbekannte typische Figuren; sie wünschten alte liebgewordene historische Stoffe von Äschylus, von Sophokles und dann von Euripides dramatisch dargestellt zu sehen. Die ältesten deutschen Dramatiker schöpften aus der Litteratur z. B. Hans

Sachs aus der Bibel, aus Boccaccio, aus dem deutschen Heldenbuch,

andere

aus der Weltgeschichte 2c. Shakespeare schöpfte aus Sage und Geschichte. Wir Deutsche seit Lessing ebenfalls. Die Anlehnung an das Geschichtliche hat den Vorzug der Anschaulichkeit und des Jnterestes, und Jean Paul (in „Dorsch." S. 500) bemerkt daher treffend: „Ein bekannter historischer Charakter, z. B. Sokrates, Casar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und setzt sein Kognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen. Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung." b. Die Entwickelung der Handlung. Die Entwickelung der Hand­

lung verlangt die Herbeiführung und logische Anordnung spannender Ereigniste, sowie geschickte, psychologische Motivierung des Darzustellenden. Hierzu ist dem Dichter eine genaue Kenntnis des Lebens — auch in seinen Verirrungen nötig, sowie ein scharfes und vorurteilsreies Beurteilungsvermögen in harmonischer Ver­ bindung mit dem richtigen Takt und Gefühl. Maß und Würde sind hier im eminenten Sinn zu fordern. c. Sprache und Form.

Um

die

handelnden Personen

scharf,

klar

und bestimmt zu zeichnen, ist vom Dichter der Tragödie die edelste Sprachund Ausdrucksweise zu verlangen. (Vgl. § 38 S. 54 d. Bds.) Der höchste Wohllaut und Schwung, einer metaphorisch blendenden, glänzenden Diktion, und eines energisch sententiösen, in Stichomythien ergreifenden Ausdrucks ist in der Tragödie am Platz. Ein wesentliches Erfordernis der Tragödie ist

Derselbe verträgt keine

Untermischung

der sogen,

leidenschaftlicher Partien

tragische mit

Stil.

Tiraden,

sententiösen Schnörkeln und lyrischen Exkursen; es herrscht bei ihm eine dem Schwulst (S. 54 d. Bds.) entgegengesetzte Naivetät, sowie die reinste Sprache des Gemüts in allen Affekten und in voller Wahrheit.

Er vereint die Plasti­

zität des Ausdrucks eines Lessing mit der malerischen Individualisierung eines

Shakespeare. Zur Kenntnis des tragischen Stils wie überhaupt der Eigenart in der Technik der Tragödie ist zu empfehlen das Studium des bahnbrechen­

den klaren Lessing, des freilich nicht immer theatralischen Goethe, des zuweilen phrasenhaften, doch bewundernswerten Schiller, des talentvollen, nur hie und da schrullenhaften Kleist, der wegen eines Fehlers (angeblicher Aberglaube)

von

der Kritik verhöhnten

Stücke: Müllners

Schuld

und

Raupachs

Müller

und sein Kind, des durch Vertiefung und Charakteristik imponierenden Shake-

433 speare, des

durch

wunderbare Lösung der selbstgeschaffenen Verwicklungen wie

durch theatralische Technik hochbedeutenden Calderon (von dem Klein in Gesch. d. Drama XI 18 ff. meint, daß ihm zu einem ganzen spanischen Shakespeare der bacchische, gotttrunkene, poetische Humor fehle), des durch leidenschaftliche Knappheit sich auszeichnenden Alfieri, des altclassischen Ödipus rex, sowie der (besonders im Lustspiel) durch ihren intelligenten, espritreichen Dialog und

den scenischen Ausbau hervorragenden Franzosen. (Vgl. weiter unten Litteratur der Tragödie.) Über Lessings Sprache urteilt Aug. Lehmann (in Forschungen über Lessings Sprache. Braunschweig 1875. Vorwort V): „Klarheit und Wahrheit, Einfachheit und Natürlichkeit, Lebhaftigkeit, Kürze, Kraft und Kernhastigkeit, Gewandtheit und klangreiche Harmonie sind die Gestirne der Lessing'schen Sprache/ Und

von Goethe bemerkt Jakob Grimm (Rede auf Schiller. Berlin. Dümmler. 1871. S. 318) im allgemeinen: „Seine ganze Rede fließt überaus gleich und eben, reichlich und gemessen; kaum daß ein unnötiges Wörtchen steht: Kühnheit Zurückhalten, Kraft und Milde, alles ist vorhanden. Hierin kommt Schiller nicht bei, der fast nur über ein auserwähltes Heer von Worten bietet, mit dem er Thaten ausrichtet, und Siege davonträgt, Goethe aber

und ihm ge­ ver­

mag der schon entsandten Fülle seine Redemacht aus ungeahntem Hinterhalte, wje es ihm beliebt, nachrücken zu lassen. Man könnte sagen. Schiller schreibe

mit dem Griffel in Wachs, Goethe halte in seinen Fingern einen Bleistift zu leichten, kühnschweifenden Zügen. Goethe schaltet demnach in der Schrift­ sprache Königlich". Um eine Vornehmheit im sprachlichen Ausdruck zu beweisen, bedienten sich schon I. H. Schlegel, I. W. Brawe 0- 1758 im Trauersp. Brutus), Weiße, dann aber der bahnbrechende Lessing der gebundenen Rede. (Bd. I

S. 311.)

Seitdem

entstanden

sogar auch

gereimte Tragödien (z. B. Faust

von Goethe). Schiller schreibt an Goethe bezüglich der Umarbeitung des Wallenstein

aus Prosa in poetische Form: „Seitdem ich meine prosaische Sprache

in eine

poetisch-rhythmische verwandle, befinde ich mich unter einer ganz anderen Gerichts­

barkeit als vorher, selbst viele Motive, die in der prosaischen Ausführung recht gut am Platze zu stehen schienen, kann ich jetzt nicht mehr brauchen; fie waren

bloß gut für den gewöhnlichen Hausverstand, dessen Organ die Prosa zu sein scheint; aber der Vers fordert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungs­

kraft, und so mußte ich auch in mehreren meiner Motive poeüscher werden ....

Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muß, in Versen

wenigstens anfänglich konzipieren." Der dramatische Vers der griechischen Tragödie

war — wie S. 55 d.

Bds. erwähnt — der trimeter jambicus mit seinen schönen Cäsuren g _ v _ (Vgl. Aristoteles Poet. c. 4. g. E. Rhetor. 3,8.)

Beyer, Teutsche Poetik. II.

28

434

§ 159. Die griechische Tragödie im Vergleich mit der unserigen. 1. Die Architektonik bei unseren Tragödien ist verwickelter und kunstvoller, als bei den griechischen. 2. Die griechische Tragödie entnimmt ihren Stoff hauptsächlich der Sage und Geschichte; die deutsche verwendet auch erfundene, unserer Zeit und Sitte entsprechende Stoffe. 3. In der griechischen Tragödie greifen die Götter zur Herbei­ führung der Katastrophe ein, in der unserigen schafft sich der Held sein Schicksal selbst. 4. Bei den Griechen war der Heroismus ein treibender Faktor, bei uns ist es vorwiegend die Liebesintrigue. 5. Unsere Tragödie gestattet mehr philosophische Behandlung als die griechische. 6. Ferner bietet sie würdigere Behandlung und Darstellung der Personen. 7. Bei den Griechen wurde der Wert einer Tragödie, abgesehen von ihrer Anlage und Ausführung, hauptsächlich nach ihrer Aufnahme seitens des Publikums bestimmt, während bei uns neben ihrer Technik die ethische Tendenz mit entscheidend ist. 1. (§ 102

Die griechische Tragödie, deren Grundtypus der Dithyrambus war d. Bds.), zeichnete sich durch Einfachheit der Grundhandlung und

durch absichtsvolle, durchsichtige Ausführung aus. Die Griechen brauchten nicht viel mehr zu thun, als ihre Handlung durch deren Träger geschickt erzählen zu lasten, da ja die Helden schon an und für sich bekannt und interessant genug waren. (S. 430 d. Bds.) Ein "Held, der den Griechen von Jugend an

teuer war,

hatte keinerlei künstliche Verwicklungen und geschraubte Knoten zu

seiner Einführung nötig.

Die Tragödie führte ihn meist nahe am Ziele der von

ihm repräsentierten Handlung ein; die Katastrophe trat ost schon im vorletzten Akte ein — man wartete nur mit begeisterter Spannung auf den letzten Akt. — Diese Ausführung würde man bei der deutschen Tragödie geradezu unerhört finden.

Natürlich konnten die einfach heroischen Stoffe eines Euripides und Sopho­

kles nichts von den Verwicklungen unserer Tragödie wisten, well fie meist den

einfachen Zeiten entnommen waren, wo nur Freie und Sklaven, Fürsten und Heroen verkehrten; die Verwicklung war durchsichttg, einfach; nur in Beobachtung der Natur (vgl. Argwohn zwischen Kreon und Ödipus; Geschwisterliebe zwischen

Anttgone, Polynikes und Jsmene) waren sie bedeutend, obwohl auch hier nicht übersehen werden darf,

daß ihre den

einfachsten Verhältnisten entsprungenen

Beobachtungen wenig philosophisch-abstrakte Reflexionen zeigten. Schopenhauer sagt daher mit Recht: Shakespeare ist viel größer als Sophokles; gegen Goethe's

Iphigenie könnte man die des Euripides beinahe roh und gemein finden. (Vgl. die Darlegung Aug. Siebmlist's a. a. O. S. 359 ff., wie Schopen-

435 Hauer das Trauerspiel der Neueren höher stellt als das der Alten.

S. 362:

„Die griechische Tragödie ist ein lautes Weh

über

Besonders

das Posienspiel

des Lebens und seine Nacht und Verworrenheit: Auf diesem Boden kann Glück und Ruhe nimmermehr gedeihen, sogar nicht einmal die Pflicht erfüllt werden!

Selbst wer das Beste will, begeht trotz seines Willens Verbrechen!") 2. Die Fabel der griechischen Tragödie ist in der griechi­

schen Sage und Geschichte begründet, während die deutsche Tragödie häufig genug als Darstellung einer erdichteten Handlung nach ihrer inneren Veranlassung anzusehen ist.

Die reiche griechische Heroengeschichte machte dem

Dichter die eigene Erfindung überflüssig; er brauchte seinem gegebenen, historischen Stoffe durch dichterische Behandlung lediglich Wert und Interesse zu verleihen.

Bei der griechsschen Tragödie befriedigte und fesselte das durch den Stoff und den Helden bedingte nationale Interesse, das die deutschen Tragödien (Tell und einige andere ausgenommen) bis 1870 wenig kannten, weshalb wir alle

künstlichen oder künstlerischen Mittel für Erzeugung des Interesses mußten. 3. Die Mittel und die treibenden Agentien

Tragödie unterscheiden sich wesentlich von den unserigen.

anwenden

bei der griechischen Die Griechen liebten

unvorhergesehene Ereignisse, den deus ex machina, das Dazwischentreten höherer Wesen, wenn sie es auch verschmähten, die Götter in einer Weise in die Handlung eingreifen zu lassen, wie es z. B. Shakespeare mit seinem Geist beliebte. Bei den Griechen leiten und lenken die Götter das Ganze unsichtbar. So muß z. B. Ägisth von Argos entfernt werden und Orest eben zur Zeit ankommen, als der an Agamemnon begangene Mord gerächt werden soll.

Der

nach unseren Begriffen hier waltende Zufall wird von den Griechen wie ein schon vorhandenes Fatum angesehen. Anders ist es freilich mit Zufälligkeiten,

die zur Beschleunigung der Handlung im Laufe der Stücke eintraten. Die Erscheinung der Götter lag in der griechischen Volksreligion begründet und der Dichter bediente sich mit vollem Rechte des Volksglaubens, indem er

ihn der Bühne dienstbar machte. Der Fluch des Schicksals und die Vorverkündigung wurden vom Volksglauben anerkannt. Uns fehlerr Orakel und Seher, jene Organe einer verletzten Gottheit,

welche

z. B. Müllner (in der Schuld)

nimmermehr durch seine Zigeunerin oder (in der Albaneserin) durch seine dä­ monischen Mächte zu ersetzen imstande ist. (Nur Wallenstein liest emsig in

ben Sternen und Johanna kämpft mit dem schwarzen Ritter rc.) Unseren christlichen Begriffen von der Vorsehung widerstrebt das Walten «eines harten Verhängnisses,

das selbst den Unschuldigen vernichtet, oder min­

destens sein Lebensglück zerstört.

Das Erhabene, wahrhaft Befriedigende liegt

uns in der durch die< Tragödie verkörperten Wahrheit, daß eine ewige Gerech­ tigkeit auch den Höchstgestellten ereilt, sobald er — Schuld begeht, daß aber die Idee siegt, wenn auch der einzelne untergeht, daß Weltordnung und Gesetz unwandelbar sind, auch wenn die Edelsten dagegen den Kampf aufnehmen (S. 427 d. Bds.). Aber die Änderung des Lebensschicksals, die Umkehr in

andere Bahnen liegt im freien Willen des Helden.

Deshalb

ist unser Held

436 freier, verantwortungsreicher,

als der einer psychologischen Gestaltung

weniA

fähige typische Held der Griechen, über dessen Haupt sein Schichal schwebt. Wir haben für Fatalismus nur Leichtsinn, Unbesonnenheit.

Die Verschiedenheit unserer tragischen Helden wird auch durch unsere christ­ liche Anschauung bedingt. Schopenhauer sagt in dieser Beziehung: Wie der stoische Gleichmut von der christlichen Resignation von Grund aus sich dadurch

unterscheidet, daß er nur gelaffenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der un­ abänderlich notwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben des Wollens: ebenso zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unter­ werfen unter die unausweichlichen Schläge des Schicksals, das christliche Trauer­ spiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlaffen der Welt, im Bewußtsein ihrer Wertlosigkeit und Nichtigkeit. Es würde sich hienach die Wirkung des antiken zu der des modernen Trauerspiels zwar nicht völlig, aber doch beiläufig wie der Wert einer negativen zu dem einer positiven Größe stellen. (Vgl. Siebenlist a. a. O. 42.)

4. Die Anschauungen der Griechen von dramatischer Vollkommenheit mußten auch aus inneren Gründen von den unsrigen abweichen. Bei ihnen findet man allenthalben Heroismus, heroische Sujets, der Schwerpunkt ihrer Kata­ strophen fällt in die Staatsidee, in den Staatszweck, während bei uns die Liebe und die Liebesintrigue als ein Hauptmotiv der Tragödie eine große Rolle spielt. Bei den Griechen hatte das Weib eine untergeordnete Stellung, während

es uns ebenbürtige Genossin ist,

so

daß unsere Tragödien eine Reihe hoch­

erhabener Frauencharaktere aufweisen. Wie somit die Griechen die modern­ ideale Liebe (die Geschlechtsliebe) als treibendes Moment in der Tragödie nicht benützen konnten, so würden sie auch eine Tragödie nicht anerkannt haben, in welcher diese modern-ideale Liebe das belebende Agens gewesen wäre. Gebrochene Herzen aus verschmähter Liebe würden ihnen eben geradezu unver­

ständlich gewesen sein. Allerdings hat Euripides in der Alkestis und im Hippolyt eine zärtliche Gattin und ein Weib im Kampf mit Unschuld und sinnlicher

Leidenschaft vorgeführt;

aber

die

Behandlung

und

dichterisch

leidenschaftliche

Entfaltung unterscheidet sich doch grundwesentlich von unserer modern-deutschen, aus dem Christentum erwachsenen Behandlungsweise.

Die Griechen besaßen große Helden mit einer gewaltigen Leidenschaft; ich erinnere an den zürnenden Achill, den rasenden Aias, die rachebrütende Elektra

(Ttafoov el Grevels Stnkijv), die alles der Pietät opfernde Antigone, die rachesüchtige Medea rc.; aber sie besaßen aus dem obigen Grund keine Liebes­ helden, keinen Romeo, keine Julia. Siebenlist (a. a. O. S. 424) sagt: Von Äschylos darf man behaupten, er habe nicht ohne volles Bewußtsein von den

gewöhnlichen erotischen Stoffen keinen Gebrauch gemacht.

Wenigstens rechnet

er es sich bei Aristophanes sogar zum Verdienst an, niemals ein liebendes Weib auf die Bühne gebracht zu haben.

Dafür schildert er eine Abart der Liebe,

Pie, mag sie auch ihrer ideellen Seite nach nichts Bedenkliches haben, gleichwohl immerhin etwas Fremdartiges an sich trägt, das dem modernen Menschen selbst durch Paul Heyses Tragödie Hadrian, in welcher das Verhältnis dieses edlen

437 Kaisers zu dem schönen Jünglinge Antinous dramatisch behandelt wird, bloß AM weniges näher tritt rc. Mit Recht sagt Klein (Gesch. des Drama III 536): Der griechische Kunst- und Staatsgeist konnte die Liebe nur individua­

lisiert, verhüllt und maskiert, gleichsam in festbegrenzten, naturbestimmten, in sich selbst abgeschlosienen, also immer noch selbstischen Formen erschauen. Über den Nattonalitätsbegriff,

den Staats- und Familienkultus, die Stammesliebe und

Freiheit, und Aufopferung für diese Liebe und Freiheit erhob sich die Mensch­ heitsidee der Griechen nicht. Nur unter dieser Gestalt tritt die Liebe in ihrem

Drama

auf,

als

Haupttriebfeder

und

Läuterungsmotiv.

Vater-,

Bruder-

Schwesterliebe, Aufopferungsliebe für Staat und Stadt: darin verläuft und -erschöpft sich der ttagisch-ethische Reinigungsprozeß im griechischen Drama. Die Geschlechterliebe, selbst in ihrer reinsten Form als bräutliche und Gattenliebe,

tritt hinter jene so entschieden zurück, daß sie in der ungefälschten, großen Tragödie nicht als Hauptmotiv wirken, nicht als heroische Leidenschaft sich

hervorstellen darf. — 5. Bei unseren meist philosophischen Wahrnehmungen, wo Wunsch mit Wunsch, Empfindung mit Gefühl, Leidenschaft mit verdeckter Begierde kämpfen, gestaltet fich natürlich die Darstellung und Bearbeitung der Tragödie Philosophischer. Wir haben auch weit mehr Bedürfnis zur Menschenbeobachtung, um das Raffinement verkehrter Bildungen verstehen zu lernen und in die Kombination der Leidenschaft und des Affekts einzudringen, als dies bei den

Griechen der, Fall war.

Weiter ist unser geistiges und nationales Leben ein

so eigenartiges, daß uns dadurch schon eigene Bahnen gezogen sind. Unsere Philosophische Entwickelung drängt uns, z. B. die Leidenschaft eigenartig, typisch zu verwerten.

Die Leidenschaft an sich hat sich im Leben der Völker, im Laufe

ver Jahrhunderte mit dem Streben nach Besitz, Wohlstand, Glück und LiebesGemeinschaft, mit der Veredlung der Lebensweise und dem zunehmenden Luxus, mit dem Emporquellen des Lasters (man betrachte den Hof eines Ludwig XIV.),

mit dem kriechenden Wesen,

mit Neid und Verstellung anders entfaltet,

als

i>as ftüher bei den einfachen Griechen, ja, selbst noch zur Zeit des schwelgerischen

Tiberius und seiner Nachfolger der Fall war. Bei der griechischen Tragödie war

es das Eingreifen der Götter,

Las Handeln gottähnlicher Personen, welche den musikalischen Rhythmus,

oder

die

Deklamation, die rhetorischen Erörterungen, die Chorgesänge zwischen jedem Akte

und den ganzen feierlichen Ton der Tragödie erzeugten. Bei uns wird der Ton und die Haltung der Tragödie durch Zeichnung der Seelenzustände, durch Psychologische Motivierung, durch philosophische Entfaltung der eigenartigen Ideen

geschaffen. Natürlich mußten die Alten innerhalb der Grenzen des allgemeinen bleiben, während wir bis in's Detail der Leidenschaft und Empfindung zur

Erreichung

unserer Absicht

vordringen können.

Bei

den Griechen mußte die

wenig philosophisch wirkende Tragödie dem großen Volke verständlich sein. Bei uns kann der Dichter schon einige Schritte dein Publikum voraus sein (nach Lessing soll er es sogar).

In dieser Hinsicht kann man Goethe keinen Vor-

tvurf machen wegen der philosophischen Durchdringung seiner Iphigenie.

„Ich

438 bewundere,

(sagt Manso, dem wir hier folgen),

eine deutsche Iphigenie, ich

setze sie ohne Bedenken weit über die griechische, ich glaube, so würde der philo­

sophische Euripides geschrieben haben, wenn er in unseren Tagen gelebt hätte, aber diese sanft gehaltenen Charaktere, diese feineren Schattierungen der Leiden­

schaft, dieser hohe Adel in den Gesinnungen, diese gedankenschweren Sentenzen^ diese so abgemessenen Verse sind nicht für die trägen Herzen und blöden Augen

und dicken Ohren des Volks." Ich für meinen Teil zweifle nicht an der, wenn auch zukünftigen volks­ tümlichen Bedeutung und Bestimmung 4wn Kunstwerken, die das Volk auf deraugenblicklichen Bildungsstufe schwer versteht. 6. Endlich sind unsere Helden menschlicher, als die der Griechen, wasmit unserer nationalen und religiös sittlichen Bildung zusammenhängt. Mensch­

lichkeit, Toleranz, Versöhnlichkeit rc. sind Charaktereigentümlichkeiten unserer, die stilleren Tugenden des Herzens pflegenden Nation geworden; den Griechen zeichnete eine exponierte Vaterlandsliebe aus, die ihn zur Tapferkeit, zur Härte, ja, zur Grausamkeit führte. Wenn nun die Tragödie die poetische Zeichnung des wirklichen Lebens einer bestimmten Zeit ist, so bedingt das die Verschieden­

heit unserer und der griechischen Charaktere. Eine dem Feinde die Augen ausbohrende Hekuba, ein Orest und eine Elektra, die kalten Herzens über den Tod der Mutter zu Rat gehen, endlich eine Frau als Opferschlachterin rc. würden

bei unserer Anschauung geradezu widerlich wirken und dadurch unmöglich fein. Freilich hatten es die griechischen Dichter insofern leichter, als .sie durch den bequemen Fatalismus den größeren Teil der Schuld ihrem tragischen Helden abnahmen und den Gestirnen zuschoben.

Ihr unglücklicher Held konnte aus

Teilnahme rechnen trotz seiner unnatürlichen, menschenunwürdigen Handlungs­ weise. — (Orestes, der die Mutter töten muß, erregte Mitgefühl, denn der

Gott hat ihm ja seine That befohlen und die Unterlassung mit furchtbarer Strafe bedroht u. s. w.) 7. Während wir mit Aristoteles den Vorzug unter den Trauerspielen des Sophokles dem König Ödipus geben, haben die Griechen den Preis der

in Anlage und Ausführung weit geringeren Antigone zuerkannt, so daß die­ selbe 32mal aufgeführt wurde und dem Dichter als Lohn für die Festauf­ führung, welche eigentlich gottesdienstlich war, die Befehlshaberstelle über das nach Samos befehligte Heer eintrug. Den Wert einer Tragödie bestimmte bei den Griechen (wie das vor­ stehende Beispiel zeigt) vorzugsweise die Aufnahme und das Interesse des

Publikums. Für unsere Beurteilung ist diese Aufnahme zwar auch nicht unwesentlich^ doch ist sie nicht in der obigen Weise maßgebend. Unsere Anforderungen sind andere geworden nicht nur hinsichtlich der Technik, sondern besonders was unsere

heutigen Begriffe von Sitte,

Tugend und die durch das Christentum ausge­

bildete und vervollkommnete Sittlichkeit betrifft. Wir würden z. B. eine Tra­ gödie mit unsittlichen Tendenzen zu verwerfen haben und wenn sie den be­ geistertsten Beifall des Theaterpublikums finden würde.

Die griechische Tragödie

439 mit ihrem wirkungerhöhenden, erläuternden, beifallkündenden Chor würde auch

in der äußern Darstellung bei uns keinen Erfolg mehr haben. Sie wurde am Tage unter freiem Himmel aufgeführt. Die Darsteller trugen meist etwas ent­ stellende Masken, lange schleppende Gewänder, den Bühnenschuh (Kothurn von xdxfroQvog). Unsere Zeit, welche lebensvolle Wahrheit verlangt, würde solche Mummerei belächeln u. s. w.

§ 160. Die Technik -er Tragödie an Schillers Wallenstein praktisch erläutert. Nachdem wir bereits § 35 S. 49 d. Bds. eine Tragödie nach ihrer formellen Seite als Beispiel für den Bau des Drama analysiert haben, erübrigt noch, eine einzelne Tragödie in ihrer Anlage und in ihrem Werden dem Blicke klar zu legen. Wir wählen die durch ihre kräftige Charakteristik, durch ihre großartige Bewegung geschichtlicher Personen, wie durch ihre sich stets steigernde Energie der Handlung hochbedeutende Tragödie Wallensteins Tod von Schiller und entwickeln hierbei: x 1. Den ihr zu Grunde liegenden geschichtlichen Stoff im Umriß; 2. Die Handlung in ihrem Verlauf; 3. Die Charakteristik. 1. Geschichtliches in der Tragödie Wallensteins Tod.

Der Held Albrecht Graf von Waldstein, Herzog von Friedland und Generalisiimus der österreichischen Armee im 30jährigen Kriege, wurde am 15. Sep­

tember 1583 von utraquistischen Eltern auf dem Gute Hermanik in Böhmen geboren. Früh verwaist wurde er in das Jesuitenconvikt gebracht und katholisch erzogen. Er bezog 1594 (nach andern 1599) die Universität Altdorf bei Nürnberg, wo er sich durch unruhiges, jähzorniges Wesen wiederholte Karzer­

strafen zuzog.

Der Markgraf Karl von Burgau zu Jnnspruck nahm ihn als

Pagen in seinen Dienst (vgl. 4. Akt 2.

Auftr.,

wo Gordon sagt,

daß er

gleichzeitig mit ihm Page am Hof von Burgau gewesen sei und hinzufügt, Wallen­ stein sei dort zur katholischen Kirche übergetreten). Nach längeren Reisen durch

Frankreich,

Niederlande,

Padua in Mathematik,

Deutschland rc.

setzte Wallenstein seine Studien

Politik und besonders in Astrologie fort.

zu

Im Jahre

1606 machte er einen Feldzug gegen die Türken mit und wurde Hauptmann.

Er vermählte sich mit einer reichen, bejahrten Wittwe und konnte nun als Besitzer ausgedehnter Ländereien in Mähren und von 14 Gütern in Böhmen am Hof des Mathias zu Wien glänzend austreten.

um sie dem Erzherzog Ferdinand fügung

zu

stellen,

So warb er 200 Reiter,

1617 im Kriege gegen Venedig zur Ver­

wofür seine Ernennung

Grafenstand wurde er 1617 erhoben,

zum Obersten erfolgte.

In den

3 Jahre nach dem Tode seiner Frau,

als er sich mit der Tochter des Grafen v. Harrach vermählte.

Von den Re-

440 bellen 1619 vertrieben, warb er 1000 Kürassiere und kämpfte ruhmvoll in der Schlacht am weißen Berge (8. November 1620) gegen Friedrich V. Zur Belohnung wie zur Entschädigung für seine verwüsteten Güter belehnte ihn der Kaiser Ferdinand (1622) mit der Herrschaft Friedland in Böhmen und erhob ihn 1623 zum Fürsten und 1624 zum Herzog von Friedland. Als sich 1626 König Christian V. von Dänemark an die Spitze der Protestanten stellte, rettete Wallenstein den Kaiser aus großer Verlegenheit, indem er sich erbot, .50,000 Mann zu werben, wenn ihm die Oberbefehlshaberstelle mit der Berechtigung über­ tragen würde, brandschatzen und die Anführerstellen selbst vergeben zu dürfen. Die Soldaten ergriff ein wunderliches Grauen, wenn Wallenstein ernst und schweigsam durck ihre Reihen ritt. Sein Anzug war fast phantastisch. Hosen und Mantel waren von Scharlach; sein Reiterrock von Elennshaut; sein Halskragen war spanisch gekräuselt; auf seinem Hute trug er eine rote Feder und um den Leib eine breite rote Binde. Der bayerische General Tilly verlangte Hülsstruppen; Wallenstein forderte dafür Unterwürfigkeit. Der stolze Tilly verweigerte diese und erhielt die Truppen nicht. Am 18. April 1626 schlug Wallenstein den Grafen von Mans­ feld an der Deffauer Brüche. Dieser wandte sich durch Schlesien nach Ungarn. Wallenstein folgte ihm (3. Akt 15. Auftritt) und Mansfeld ging nach Dal­ matien, wo er starb. 1627 vertrieb Wallenstein die weimarschen Truppen aus Oberschlesien und brach durch die Mark Brandenburg in Mecklenburg ein, vertrieb die Herzöge, und eroberte Schleswig und Jütland. Im Mai 1628 verlor er in fruchtlosen Stürmen auf das von Dänen und Schweden gut verteidigte Stralsund mehr als 12,000 Mann (1. Akt 5. Auftritt: „Den Admiralshut rißt ihr mir vom Haupt"), 1629 schloß er mit den Dänen Frieden und lebte nun mit großer Pracht in Güstrow, wo Kepler sein Hof­ astrolog war. Eine Flut von Klagen über Brandschatzungen und Erpressungen, in neutralen Landen veranlaßte den Kaiser auf dem Reichstag zu Regensburg 1630, ihn zurückzurufen. Wallenstein, der sich in Memmingen befand, zog sich nun auf seine Güter nach Böhmen zurück, und seine Truppen kamen unter Tillys Oberbefehl. Als aber Gustav Adolf Fortschritte machte und die Sachsen sich der böhmischen Grenze näherten, erhielt Wallenstein den Auftrag, Unter­ handlungen mit den Sachsen anzuknüpfen und sie vom schwedischen Bündnis zu trennen. Nun drangen die Schweden in Bayern ein. Tilly fiel am Lech. Wallenstein wurde bestürmt, die Oberfeldherrnwürde anzunehmen. Der Kaiser mußte (April 1632) die demütigende Bedingung eingehen, daß er nie beim Heere erscheinen wolle, und Wallenstein das Recht habe, frei zu schalten und zu begnadigen, daß er beim Frieden Mecklenburg wieder erhalte, und daß ihm während des Krieges im Notfall alle kaiserlichen Erbländer offen stehen sollten. Schnell warb er ein Heer von 40,000 Mann (1. Akt 5. Auftritt: Es ist leichter 60,000 Mann aus nichts hervorzulocken), eroberte im April 1632 Prag, vereinigte sich bei Eger mit den bayerischen Truppen, die sich seinen An­ ordnungen fügen mußten und belagerte Nürnberg (1. Akt 5. Auftritt), wo Gustav Adolf vergeblich sein Lager stürmte (August 1632). Nach des letzteren

441 Abzug wandte er sich mordend und brennend nach dem Norden.

Gustav Adolf

zog ihm nach und lieferte ihm am 16. November 1632 die berühmte Schlacht

bei Lützen, die Gustav Adolf das Leben kostete.

Der zum erstenmal besiegte

Wallenstein mußte verwundet und mit dem Verlust seiner Geschütze das Schlacht­

feld verlaffen, das die Schweden unter Bernhard von Weimar behaupteten.

Im

folgenden Jahre marschierte er neu ausgerüstet gegen Schlesien, wagte aber nicht einmal das kleine Häuflein Schweden anzugreifen, (1. Akt 5. Auf­

tritt), weshalb er in

den Verdacht

geriet,

mit den Schweden im Bund

zu

ftehen, um sich durch Unterstützung der Protestanten zum Könige von Böhmen Zu erheben. (1. Akt 5. Auftritt „indem er mir zur böhm'schen Ktvn' ver­

helfe.") Als Wallenstein am 11. Januar 1634 zu Pilsen dem versammelten Kriegsrate seine Beschwerden gegen den Kaiser wegen mehrfacher Konttaktsverletzungen vorgelegt hatte, und die Generäle teilweise für seine Absicht ge­ wonnen waren, erkannte man auf Anzeige Ottavio Piccolominis, Gallas' und Äldringers in Wien die Gefahr. Unterm 18. Februar 1634 wurde Wallen­ stein entsetzt und mit seinen beiden Generälen Jllo und Terzky geächtet. Zu­ gleich wurden verläffige Generäle befehligt, sich Wallensteins lebendig oder tot zu bemächtigen. Die Verschworenen töteten ihn am 25. Februar 1634, nach­ dem sie seine vertrautesten Freunde bei einem Gastmahl niedergemacht hatten. Schweigend und mit ausgebreiteten Armen empfing er der Hellebarde tötlichen

Stoß in die Brust. Von seinen Papieren konnte keines den Nachweis des ihm schuldgegebenen Verrats liefern. Sein Biograph Fr. Förster will sogar seine Unschuld bebewiesen haben. Seine Gelder, seine Besitzungen wurden denen gegeben, die seinen Unter­ gang herbeigesührt hatten. — Wallenstein war unermüdlich thätig, ehrsüchtig, ein Feind der Geistlichkeit,

ohne Achtung vor der Religion, verschwenderisch in Errichtung von Gebäuden und in Unterhaltung eines glänzenden Hofstaats. Nach seiner Ächtung schien er die Vereinigung mit dem Feind gesucht zu haben, welche für den Kaiser von unberechenbar schlimmen Folgen gewesen wäre rc. — Schiller hat seiner Tra­ gödie die beiden nicht historischen (erdichteten) Personen Max, Sohn des Picco­ lomini, und Thekla eingefügt. Es sind Idealfiguren, habenen das sentimentale Element hinzufügen.

2. Die

Handlung

Erster Akt.

über sein Geschick.

des Saturn.

der

Tragödie

welche dem Ernst-Er­

in ihrem Verlauf.

Wallenstein ratschlagt im astrologischen Turme mit Seni

Alles ist günstig,

Wallenstein

freut sich über den Stand

Da beginnen bereits die Fäden seines späteren Schicksals.

Terzky

meldet, daß der Unterhändler Sesina gefangen sei und alle Briefe in des Kaisers Hand sich befänden. Um sich zu retten, müsse man vorwärts; Wallen­ stein erschrickt.

Noch könnte er die Freiheit des Willens beweisen, wenn nicht

alles sich zu seinem Untergang vereinigte.

Der Gesandte Schwedens, Wrangel,

verlangt raschen Entschluß und bietet die Krone Böhmens.

Wallenstein kann

442 nicht mehr zurück.

Er glaubt auf das Heer rechnen zu können und den Schweden

trauen zu dürfen.

Doch erinnert er sich seiner Pflicht und wird wankelmütig.

Die Gräfin Terzky zeigt verlockend die Größe des Erfolgs und erinnert an des Kaisers Undank. So spinnen sich in der Exposition die Faden, die das Netzbilden, um den Helden zu umstricken. Der Schritt ist geschehen, welcher Wallen­ stein in's Unglück führt. Die eigentliche Tragödie beginnt. Zweiter Akt.

Max will Wallenstein retten durch ernste Warnung und-

Hinweis auf die Pflicht. Es ist zu spät. Wallenstein hat mit den Schweden abgeschlosien und Eilboten nach Prag geschickt, um von dort gegen den Kaiservorzugehen. Er vertraut dem Oktavio, der aber insgeheim zum Kaiser hält und alle Pläne Wallensteins vereitelt. Das kaiserliche Manifest, welches Wallenstein ächtet und dem Oktavio das

Kommando überträgt, führt den wankelmütigen Isolani zur Pflicht zurück. Den ernsten Buttler kann Oktavio dem Wallenstein nur dadurch untreu machen^ daß er ihm nachweist, wie ihn Wallenstein um den Grafentitel gebracht habe. Dies entflammt Buttlers Rache. Oktavio ahnt dessen plötzlich entstehende schwarzen Mord-Pläne, ohne sie zu beabsichtigen. Max will dem Vater nicht folgen, da sein Weg der krumme sei. Er liebt Thekla, Wallensteins Tochter, und will nur von seinem Herzen sich leiten lassen. Den Argwohn seines Vaters Oktavio, daß er gegen ihn kämpfen könne, widerlegt er durch die Erklärung, er werde fechtend fallen, oder die vom Vater zurückgelassene Bedeckung aus Pilsen führen. Er vergißt, dem Vater die Ab­ schiedshand zu reichen, fällt ihm aber um den Hals, als dieser fragt, ob er

keinen Sohn mehr habe. Dritter Akt. Die Terzky erblickt in der Liebe des Max zu Thekla das willkommene Mittel, welches Max an Wallenstein unlöslich binden soll. Thekla soll Max ermutigen, damit er für Wallenstein eintrete. Aber Thekla erbebt vor dem Vergehen des Vaters. Dieser will nichts von der Werbung des Max hören und ruft aus, zuschlagen."

er

gedenke die Thekla nur „um ein Königsscepter los­

Die Warnung der Gemahlin, er möge nicht bis in die Wolken

fort bauen, beachtet er nicht. Hier beginnt eigentlich schon die Peripetie: der Umschlag der Hand­ lung zum Unglück. Die Hiobsposten lösen sich rasch ab. Buttler scheint der alleinige Treue zu sein. Er meldet Oktavio's Verstellung, das vereitelte Unternehmen zu Prag, den Abfall der Regimenter und die Ächtung. Diese Mitteilung fordert Wallensteins höchste Thatkraft heraus. Er ent­ schließt sich mit frischer Energie zum Kampf für sein Leben. Den Freunden ruft er Mut zu und rechnet vor, daß er mit den 5 Regimentern Terzky'scher

Truppen und mit „Buttler's

wackern Scharen," zu denen 16,000 Schweden

am folgenden Tag stoßen würden, stark genug sei. Am meisten schmerzt ihn Oktavio's Verrat, und er neigt sich mit um so größerem Vertrauen zu Buttler hin,

der kalt für ihn bleibt und nun seinen Fall um so sicherer vorbereitet.

Buttler sieht kaum, wie die Pappenheimer, durch Wallensteins Worte gefesselt, schon halb für ihn gewonnen sind,

als er durch

die schlaue Nachricht,

daß

443 Terzky's Grenadiere die kaiserlichen Ndler von ihren Fahnen reißen, Wallenstein wieder abspenstig macht.

Max.

Dieser ist gekommen,

sie dem

Neue Hoffnung durch das Erscheinen des

Abschied zu nehmen.

Wallenstein sucht ihn an

sich zu feffeln. In heftigem Kampfe mit sich glaubt Max von Pflicht und Eid sich gebunden. Er ist unschlüssig und legt die Entscheidung in Thekla's

Hand.

Thekla ruft:

Wahrheit und Unschuld siegen.

„Fort, eile, deine gute

Sache von unsrer unglückseligen zu trennen." Zur Entscheidung drängend fordert ihn Wallenstein auf, den Kampf mit ihm zu wagen. Aber Max will

nur die ihm anvertrauten Regimenter wegführen;

zu kämpfen mit ihm wolle

er vermeiden, denn auch feindlich sei ihm sein Haupt noch heilig. Schon rücken die Pappenheimer vor's Schloß, um Max zu befreien; sie töten den Adjutanten Wallensteins; und als Wallenstein vom Altan den empörten Sinn in's alte Bette des Gehorsams zurücklenken will, da werden seine Worte durch kriege­ risches Spiel und durch ein Hoch auf den Kaiser erstickt. Ein ergreifender Moment von tragischer Bedeutung hat sich herausgebildet. Die Truppen des Max dringen unter klingendem Spiel in den Saal. Wallenstein giebt Max frei und wendet ihm den Rücken. Wie schwer wird Max die Trennung! Er

fleht vergeblich: Noch einmal zeige mir Dein verchrtes Antlitz. Er wendet sich an die Base Terzky, an die Herzogin, und zweideutigen Blickes an Buttler mit der Bitte, ihm die Hand darauf zu geben, daß er Wallenstein's Leben schützen wolle. Dieser zieht die Hand zurück und Jllo ruft, er möge die Ver­ räter in seines Vaters Lager suchen. Schmerzlich bewegt reißt er sich los; in

Verzweiflung — den Tot suchend — giebt er sich seinem

Schicksal

hin.

wer mit mir geht, der sei bereit zu

„Der Rachegöttin weih ich eure Seelen!

sterben!" so ruft er abgehend den Seinen zu. Vierter Akt. Wallenstein begiebt sich nach Eger, da er sich in Pilsen

nicht mehr sicher fühlt. Den Empfang hat ihm Buttler bereitet. Das Ver­ hängnis rückt näher und näher. Jeden Rettungsweg schneidet Buttler ab; an Böhmens Grenze soll Wallensteins Gestirn untergehen. Der Kommandant Gordon, der Jugendfreund Wallensteins, glauben, daß dieser ein Verräter sei.

will's nicht

Aber die Unterhaltung Wällensteins mit

dem Bürgermeister, die Gordon mit Buttler anhört, hebt seine Zweifel.

ihn Wallenstein mit Buttler bemerkt,

spricht er unbefangen mit ihm,

früherer Zeit. Nun scheint eine günstige Wendung einen

unerwarteten

Sieg errungen,

aber

gefallen. Buttler enthüllt Gordon seinen Plan.

einzutreten.

Die Schweden

gegen Max —

Als wie in

haben

und dieser ist

Dieser will nicht teilnehmen, bis

ihn Buttler unter Vorzeigung des kaiserlichen Manifests für die Folgen ver­

antwortlich macht,

falls der Streich nicht

vor Ankunft der Schweden geführt

sei. Bei einem Gastmahl zur Feier der anrückenden Schweden sollen Jllo und Terzky fallen; beide sollen Wallenstein im Tode vorangehen. Nochmals sucht Gordon das Felsenherz Buttlers zum Edelmut zu stimmen.

mächtig ruft er:

„Ihn rette ein Gott

Vergebens!

aus Eurer fürchterlichen Hand."

Ohn­

Die

444 letzte Nacht des allmächtigen Helden ist gekommen.

Noch einmal verkehrt Wallen­

stein mit den Seinigen. Er fühlt Theklas Schmerz; doch hält er sie stark genug, um die Todesnachricht aus des Boten Munde zu vernehmen; sie — vor kurzem noch im Glück — und jetzt im Übermaß des Schmerzes!

Sie ermannt sich. Die Sehnsucht nach dem Geliebten laßt den Entschluß in ihr reifen, noch in der Nacht nach dem Kloster zu eilen, wo sein Leichnam liege.

Welchem Schicksal wird sie entgegen gehn?

Dem Stallmeister, der die

Pferde schafft, kündet sie an, daß er nicht zurückkehren werde. sie in schmerzlichstem Bewegtsein „Gute Nacht". Fünfter Akt.

Der Mutter sagt

Buttler trifft die Anordnungen für das Reifen seiner

schwarzen Pläne. Wallenstein erhofft vom nächsten Tage den Anfang neuer Macht. Dem schwedischen Hauptmann giebt er die Versicherung, daß die Festung dem Einzug offen stehen solle. Hiermit hört er auf, sich in seinen Plänen als General zu zeigen. Nur als fühlender Mensch tritt er noch auf. Er spricht wehmütig über den Tod

des Max. Er ist ruhebedürftig und will zu Bett gehen. Am Himmel ist noch Leben; er sieht seinen Stern, den Jupiter, mit Wolken bedeckt. Seine Schwester erzählt ^ängstliche Träume. Er fühlt sich trotzdem sicher und geht ohne Waffen zur Rühe; auch das Zerspringen der Ordenskette, des frühesten

Zeichens kaiserlicher Gunst, erklärt er plötzlich sehr vernünftig. Noch scherzt er darüber, wie Gordon einst am Hof zu Burgau immer den Sittenrichter spielte und wie sich seine Weisheit so schlecht bewährt habe.

Seni meldet

die böse Konstellation und beschwört Wallenstein, sich den Schweden nicht zu vertrauen. Vergebens! Schon sind die Freunde im Schloß gefallen, und

Wallenstein

geht,

um — wie er doppeldeutig sagt — einen langen Schlaf

zu thun. Da naht in Buttler das schwarze Verhängnis. zurückhalten. erschallen.

Der Diener mahnt,

den Herzog

Man hält sie für schwedische.

donnert Buttler.

Gordon stürzt hinaus.

nicht zu

Gordon will diesen

stören.

Trompeten

„Auf Euern Posten, Kommandant!"

Der Kammerdiener fällt durchbohrt.

Dumpfe Stimmen, Waffengetöse, Mord: Das Schicksal hat sich an Wallen­ stein vollzogen.

Angsterfüllt kommt die Terzky, welche Thekla nicht finden kann, und deren Mann nicht zurückkehrt, um den Bruder zu suchen. Gordon stürzt herein, um die schwarze That zu verhindem, denn nicht die Schweden sind's: Oktavio ist

eingezogen. Da trifft ihn Buttlers eisig kaltes: „Zu spät!" Das ganze Schloß ist in Bewegung. Oktavio tritt ein,

wird;

als eben Wallensteins Leichnam weg getragen

er macht Buttler verantwortlich,

Zurückschiebt.

Die Terzky klagt ihn als

der jedoch

die Schuld auf

den Urheber

ihn selbst

des Unglücks

an

und

erbittet Beisetzung des Leichnams Wallensteins in der von ihm gestifteten Kart­

hause.

Dann sinkt sie mit den Worten nieder: „Ich habe Gift."

Ein Kurier

erscheint und bringt dem Oktavio den Fürstenhut, — der ihn nicht mehr

freuen kann.

Der Vorhang fällt.

445 Der Zuschauer hat

den Eindruck, daß Auflehnung gegen göttliche

Ordnung und Sebstüberhebung die Strafe im Keime mit sich führen. 3. Die Charakteristik. 1. Wallenstein,

dieser

Held

des

vollkommensten

Dramas

Schillers,

ist streng genommen zu wenig handelnder General und zu viel peripatetischer, phrasenhafter Philosoph. Er steht im Gegensatz zu dem groben, starrköpfigen, stierhalsigen, schnurrbärtigen, kaiserlichen Generalissimus, wie er uns durch Van Dyks Skizze und durch einen alten Stich erhalten ist. Schiller strebt kraftvoll aus dem weichen Elemente subjektiver Empfindungskämpfe heraus, und ihm gelang die Zeichnung der Soldateska, aber sein Wallenstein ist doch immerhin

für seine Zeit zu ideal. Er hat zwar Kraft und Selbstgefühl; aber er ist unentschloffen. Er glaubt an die Sterne und an seine Abhängigkeit von ihnen.

Wirken und schaffen möchte er, immer weiter es bringen, nur um nicht un­ thätig zu sein. Seine ursprüngliche Abstcht war weder Verrat noch Abfall vom Kaiser. Es ist ein planloses Spiel mit seiner Kraft. Ist er sich doch bewußt, alles zu können, was er will. Ihm fehlen nicht die Bedingungen für die weitest gehenden Pläne, die er nicht beabsichtigt; es reizt ihn lediglich, mit der Möglichkeit des Überschreitens seiner Bahn, wie seiner Macht zu spielen.

So schaute er sich versuchsweise um nach Freunden, so begann er mit den Schweden versuchsweise zu verhandeln. Er will nur der Mittelpunkt für alle Möglich­ keiten sein, ohne ernstlich die Abirrung von der Bahn des Rechtes zu planen. Daß der Strudel sein Schiff mit fortschnellen könnte, dies kömmt ihm, dem Willens­ stärken Steuermann, nie in den Sinn. Aus keiner Äußerung geht hervor,

daß es ihm um Verrat oder Abfall zu thun sei.

Im Gegenteil:

es

bleibt

die Vermutung nicht ausgeschloffen, daß er die besten Ziele und Zwecke im Auge hatte. Im Dienste Österreichs hat er Deutschland lange Jahre hindurch mit Krieg verheert und überschwemmt; vielleicht weidete er sich jetzt am Gedanken,

endlich für Deutschlands Ruhe und Frieden — und

nicht aus Egois­

mus — in die Schranken treten zu können, — also für ein hohes, edelmensch­

liches Ziel zu wirken?! Es ist ein Vorzug großer Naturen,

daß sie das auch aussprechen, was

sie.denken, und daß sie selbst diejenigen Pläne offenbaren, die einer Mißdeutung fähig sind, weil sie in ihren Thaten sich

Und konnte sich denn Wallenstein, nicht

wie ein Fürst fühlen,

des

geraden

Weges

bewußt

sind.

der die ausgedehntesten Vollmachten besaß,

der für seine

niemand Rede

großen Pläne

zu

stehen brauchte? Aber es gab eine

kurzsichtige

Umgebung,

die

im

Mißverständnis

des

Wortgeistes ihn zur Verteidigung des Wortsinnes zwang. Von hier an beginnt Wallensteins Abhängigkeit. Der Scherz verwandelt sich in Ernst. Schrittweise wird Wallenstein zur That gedrängt, die er belächelt,

weil er sie nie wollte, die ihm undenkbar erscheint, weil er sich für dm einzigen

Faktor der That hält, weil er die weltbewegende That ist. So erklärt sich das Zaudem, die Unentschloffenheit dieses Schlachtmfürsten. Alle Umstände vereinigen sich, ihn zu schieben; seine Umgebung erklärt sich für

446 ihn; der Erfolg wird ihm als glänzend gemalt; die Schweden bieten 12,000 Mann Hülfstruppen:

trotzdem zögert er.

mit dem, was er vermöchte,

Er gefiel sich ja nur im Kokettieren

was er aber nicht will.

Die Ausführung ent­

setzt ihn, und schwerwiegend ist ihm schon der Fluch der Nachwelt,

achtung der Menschheit.

Erst die Einsicht, daß man sein Spiel

und der Gedanke, daß ein schwacher Kaiser ihn richten würde,

die Ver­

denunzierte,

ihn, den All­

mächtigen, ja, endlich der beleidigte Stolz, Etwas eingestehen und möglicherweise .abbitten zu sollen, was er nie wollte, sowie die Überredung der Terzky, die ihn

an seinen Schwächen erfaßt und zur Rache entflammt, drängen ihn zu einem Entschkusie, vor dem sein Herz erbebt, machen ihn zum Verräter am Kaiser, fressen Majestät er bis zum letzten Abend nicht bezweifelt, ja, desien Ordensauszeichnung er noch in der Todesnacht trägt.

Hätte er den Verrat in der That geplant, so würde er schweigend genug günstige Veranlassungen gefunden haben, sich mit den Schweden zu vereinigen. Aber er hatte nur das Gefühl, wie ihm Anerkennung dafür gebühre, daß er seine Gewalt nicht mißbrauche. Wie zu seinem eigenen Erstaunen sieht er sich zur Notwehr gezwungen und zum Kamps herausgefordert, in welchem er am liebsten gegen sich selbst

Partei nehmen möchte. Diese Thatsache sichert ihm unsere Teilnahme,

unser Mitgefühl.

Denn

es ist ein Unterschied, das Verbrechen mit allem Vorbedacht geplant und aus.geführt zu haben, oder gegen den besseren Willen in den Strudel des Verbrechens .gerissen zu werden.

Wir nehmen seine Partei gegen den kalten Oktavio, dem

er sein ganzes Vertrauen geschenkt, das weder durch Warnungen, noch durch -Bitten seiner Freunde erschüttert werden kann, und wir fühlen ihm die furchtibare Enttäuschung nach, die sein Herz trifft und ihm den Glauben an die

Menschheit rauben muß.

Es berührt tragisch,

diesen

Glauben durch die er­

heuchelte Treue Buttlers wieder aufleben zu sehen; Buttler, der doch nur durch

den Vorteil an ihn gekettet zu sein schien, teilt jetzt sein Geschick, das so wenig versprechend erscheinen muß. Es läßt einen tiefen Blick in Wallensteins Herz thun, wie rückhaltslos er Buttler vertraut, dem selbst Max mißtraut.

Daß er auch von Buttler betrogen wird, regt unsere Teilnahme neu «an.

Wir sehen ihn durch eine Kette von Umständen zum Verbrechen geführt. Das Unglück hat seinen Blick umdüstert. Früher hatte er Buttler durch­ schaut und gegen Erteilung des Grafentitels gesprochen; jetzt traut er sich kein

anderes Urteil mehr zu, als das der Sterne. „Die (Sterne lügen nicht/' sagt er gläubig und läßt sich nicht auf Einzelheiten in Beurteilung Ottavios

und Buttlers ein. Es schmerzt uns für Wallenstein, wie sich Max von seinem Herzen losreißt, um so mehr, als wir sehen, wie Wallenstein im Gmnde dem Scheiden­ den recht geben muß. Vielleicht beneidet er Max, der blutenden Lieb' und Freundschaft der Treue für seinen Kaiser opfert.

Der Heldentod des Max und

die Wirkung auf Thekla

-Vertrauen auf dm Sieg feiner Sache.

Herzens

erschüttern sein

447 Wer ungebeugt fühlt er sich im Glauben an die glückverheißenden Ge­

hoffnungsvoll zieht er in Eger ein, das sein Grab werden soll.

stirne;

Er­

greifend wirkt das menschlich innige Fühlen Wallensteins. Angesichts der schlimmen Konstellatton drängt sich ihm der Gedanke an die Vergänglichkeit auf. Er stellt Betrachtungen über den Tod

ergreift uns tief.

des Max an.

Diese

Milde

im Unglück

Wir erkennen: Wallenstein ist ein Held, der ein menschliches

Herz hat, das wie das unserige empfindet, das des Lebens Lust und Leid zu erfassen vermag. Dies zeigt der Schluß der Tragödie, und dies sichert dem Helden unsere herzlichste Anteilnahme an seinem Unglücke zu.

Trotz aller Warnungen geht er ruhig zu Bette. Wehmütig fühlen wir die rührende Katastrophe, und es ergreift uns die Doppeldeutigkeit der so ab­

sichtslos gesprochenen letzten Worte langen Schlaf zu thun." 2. Die Gräfin Terzky.

mit tragischer Gewalt:

„Ich

denke

einen

Sie ist eine hochverständige, klug berechnende,

weltgewandte Frau. Sie redet sich ein, daß es ihrem Bruder um die Krone Böhmens zu thun sei, und weiß ihn durch alle Künste der Überredung dahin

zu bringen, gegen den Kaiser in Aufwallung zu geraten und ihre Gedanken für die feinigen zu halten. Unermüdet ist sie den Plänen des Bruders zugethan; sie ist überall thätig und hat einen wesentlichen Anteil am Verhältnis des Max zu Thekla. Sie kann das tragische Ende des Bmders nicht überleben

und zeigt sich als eine wirkliche Heldin, die durch den Tod sühnt, durch ihren Anteil an der Katastrophe verschuldete.

was sie

3. Max. Ein herrlicher, großangelegter Charakter voll Kraft, Unschuld und Reinheit der Gesinnung, voll Milde, Freundschaft und Treue. Er erscheint wie ein guter Genius unter all den finstern Gestalten in Wallensteins unheil­ bringender Umgebung. Ohne Falsch steht er den Machinationen seiner Um­

gebung gegenüber da.

Nicht einen Augenblick strauchelt

und bietet alles auf,

er auf

den Pfaden

Offenen Blicks tritt er

an Wallenstein hinan

diesen zur Pflicht zurückzuführen.

Wallenstein läßt ihn

der Wahrheit und des Rechts.

in sein Herz sehen und gesteht, daß es für ihn leider keine Wahl mehr gebe. Da trennt sich Max blutenden Herzens. Es zeugt von der tiefsten Kenntnis des menschlichen Herzens, Dichter den Abschied des Max von der Thekla darstellt.

Diese Scene

ist von

einer

wunderbaren Schönheit und Gewalt.

allen Versuchungen geht Max rein und siegreich hervor. scheiden und diese bestärkt

wie

ihn in der Treue

Pflichtgefühl kämpfen den schwersten Kampf.

gegen

Aber

der

Aus

Er läßt Thekla ent­

den Kaiser.

Liebe

und

er folgt der Pflicht und

geht — in den Tod, den er im Kampf mit den Schweden findet. 4. Thekla. Eine ebenso bedeutende, ja, in vielen Stücken noch wunder­ barere Figur ist Thekla. hat ihr

die

Natur

Sie ist unschuldig und wahr — wie Max.

die sanften

Saiten

des

Dazu

Herzens ihrer Mutter gegeben.

Unverbildet aus der klösterlichen Erziehung hervorgegangen, ist sie tief empfäng­ lich für

die Liebe

zw Max,

der ihr ganzes Herz erfüllt.

Sie gelobt Treue

und übt sie; ja, sie beweist die Treue durch Aufopferung in Beantwortung

448 der ernsten Frage des Max zu Gunsten der Rechtlichkeit und zu Ungunsten des

Besitzes

der

Liebe.

ermannt sich ihr

Niedergeschmettert von

was der Bote vom Tode des Max weiß.

des Geliebten

um alles zu hören,

Ihr erschüttertes edles Frauenherz,

der vom Vater

aber

sch-mt brechen zu wollen;

sie,

der Todesnachricht

Heldenherz in schmerzlichstem Gefühle,

ererbte Heldensinn veranlaßt

ungesehen noch in der Nacht zum Grabe des Geliebten aufzubrechen, —

wie es scheint, um nicht wiederzukehren, sondern am Grabe ewig mit dem Ge­ liebten vereint zu bleiben.

5. Wallensteins Gattin. Eine edle Erscheinung! Treu und ohne Murren fügt sie sich in ihr Geschick. Sie hat eine Ahnung vom Unglück, nicht aber vom Niedergang des ganzen Glücks. Da sie einmal schon die Demütigung des Gemahls erlebt, so fürchtet sie nur, es könne wieder so werden wie nach Regensburg, und sie beklagt, daß sodann Thekla ihre kaiserliche Pathe ver­

loren habe. Sie nimmt innigen Anteil am Unglück der ihr in allen Stücken gleichenden Tochter. 6. Oktavio. In der Beurteilung des Charakters Oktavios darf nicht

übersehen werden, wie er es für die erste Pflicht hält, in den gewohnten Bahnen

des Herkommens fortzuwandeln und dem Kaiser das Gelöbnis der Treue zu halten. Nicht ein gemeiner Verräter ist er, der aus Eigennutz und Ruhmsucht

Wallenstein betrügt.

Wäre dies der Fall, so würde die Pointe der Handlung

nicht mehr in der Person Wallensteins gipfeln, desien Auflehnung gegen die bestehende Ordnung als seine eigenste Schuld seinen Untergang herbeiführeu

mußte.

Der Dichter stellt Oktavio höher als Buttler.

Wenn er ihn auch als

des Edlen, Schönen, Hohen bar zeichnet, so läßt er ihn doch keine gemeinen, niedrig-leidenschaftlichen Ränke anwenden. Er läßt ihn mit Geist und schlauer Berechnung handeln. Oktavio warnt den Wallenstein nicht vor dem Abgrund,

aber er stößt ihn auch nicht hinein. Von den Schwächen der Menschen zieht er Vorteil. Mit großer Schlauheit weiß er Buttler und Jsolani dem Wallen­ stein abspenstig zu machen.

Es ist seine Liebe zu

Eine Seite seines Herzens bringt ihn uns näher.

Max und sein Schmerz, ja, seine Entrüstung über Wallensteins Tod. Wir fühlen mit ihm den Verlust des Sohnes, den ihm der Fürstentitel nicht er­

setzen kann. 7. Wrangel.

Wrangels Charakter vereint klaren Blick und vorsichtige

Berechnung mit freundlichem,

Entgegenkommen. 8. Terzky und

welcher

sich

für den Diplomaten fast 9.

etwas zu kordialem

Jllo.Terzky steht als Mensch höherals Jllo,

nicht ganz beherrschen

kann. Ihre Genußsucht kennt

nicht das-

sittliche Moment der Pflicht. Sie drängen Wallenstein von That zu That. Dieser widerspricht ihnen nicht, weil er an die Folgen nicht glaubt, weil er die Fäden der Handlung in seiner eigenen Hand vereinigt glaubt. Die Nach­

richt vom

Siege

der

ein Fest und vergessen zu gehen.

Schweden überwältigt

der Wachsamkeit,

Terzky

und Jllo.

um Wallenstein

Sie feiern

im Tode voraus

449 10. Jsolani.

Jsolani ist das Bild der Charakterlosigkeit, der Schwäche,

der Unschlüsfigkeit, der Zaghaftigkeit, des Wankelmuts. 11. Gordon.

Der alte brave Gordon verbindet mit Treue gegen seinen

Kaiser wirkliche Anhänglichkeit an seinen ehemaligen Jugendgenosien Wallenstein. Er ist ohne Entschlossenheit und Thatkraft. Zwar giebt er dem Wallenstein

genug Andeutungen nahenden Mißgeschicks, aber er wagt es doch nicht, ihn offen

zu warnen, oder gar zu retten.

Er ist bemüht, den Tod Wallensteins abzuwehren

und läßt dann alles geschehen, weil er vor den Folgen erzittert, für die ihn der schlaue Buttler verantwortlich macht. Kaum ist er weggeeilt, um den Angriff der Schweden

abzuwehren, als ihn sein Herz zurücktteibt, den Tod Wallensteins zu verhindern. 12. Deveroux und 13. Macdonald. Diese Beiden sind niedrige, charatterlose Werkzeuge Buttlers, — unterthänig und servil gegen den Mächttgen, nichts­

würdig und teuflisch gegen den Wehrlosen, und wäre er — wie hier — ihr Wohlthäter. 14. Buttler. Buttler ist der eiskalte Egoist, welcher demjenigen Schurken­

dienste leistet, der ihn bezahlt. Er ist tteu, solange er Nutzen von seiner Treue verspürt. Er lebt nur seinen Privatinteresien, kennt keine Dankbarkeit, und macht aus seinem Charakter kein Hehl. Wallenstein vereitelt seine Erhebung in den Grafenstand, weil er Buttler ge­ nau kennt. Dieser glaubt sich vom Kaiser gekräntt und geht zu Wallenstein über. Als er durch Oktavio den Wallenstein als Veranlassung seiner Kränkung erkennt, verläßt er diesen und kehrt zum Kaiser zurück, um sich an Wallenstein zu rächen. Er weiß sich in einer Weise zu verstellen, die schlecht zu seinem seit­

herigen aufbrausenden Charakter passen mag. Es ist unwahrscheinlich, daß einem so rachesüchügen, aufwallenden Menschen, der Beobachtung vieler gegen­

über, die Verstellung in der von Schiller angegebenen Weise gelingen wird. Auch ist nicht anzunehmen, daß er seine schwarze That mit Vemunstgründen zu

beschönigen

sucht.

Dies

hat

er

nicht nötig,

da

er den Vorwand der

Rache mit. dem Befehl der Urteilsvollstteckung decken durste. denn

in Wirklichkeit seine Handlung

als eine gute That,

So

bezeichnet er

die Anspruch

auf

Belohnung habe, da durch sie das Reich von einem furchtbaren Feinde befreit

worden sei.

Sein lohnsüchttger,

worten noch

einmal zu Tage,

egoistischer Charakter tritt in seinen Schluß­ er reise nach Wien,

um den Beifall sich

zu

holen, den der geschwinde Gehorsam von dem gerechten Richter fordern dürfe.

§ 161. Verschiedene Benennung und CinteUung der Tragödien. 1. Die Tragödien wurden von jeher sehr verschieden benannt und rubriziert. Einige Schriftsteller unterschieden: a. Tragödien des be­ siegten Konflikts, b. Tragödien des siegenden Konflikts, c. Tragödien der Schuld, d. reine Tragödien, e. Tragödien der Liebe. 2. Andere teilten ein in: a. antike, b. romantische und c. moderne Tragödien. 3. Eine mehr philosophische Anordnung scheidet in: a. Charaktertragödien, b. Prinzipientragödien, c. Sittentragödien. Beyer, Deutsche Poetik. H.

29

450 1. Die Tragödie des besiegten Konflikts ist jene Tragödie, in welcher den Helden selbst eine verlockende Belohnung (wie z. B. Liebesglück) nicht von seinen Grundsätzen abwendig machen kann, für die er in den Tod geht. In der Tragödie des siegenden Konflikts zeigt sich der Held der Ver­

suchung nicht gewachsen.

Dennoch ändert

er sein Geschick nicht;

der Konflikt

nimmt eine solche Wendung, daß der Held aus Verzweiflung oder aus Strafe für seine Schwäche den Tod' erleidet. In der Tragödie der Schuld verstößt der Held entweder gegen gött­

liche und menschliche Ordnung, oder er unterläßt es, mit Energie für seine Pflicht einzutreten (Hamlet, Egmont), oder aber er wählt zwischen zwei sich

entgegenstehenden Pflichten (Max' Abschied von der Geliebten in Wallensteins Tod) so, daß die Verhältnisie, wie sie jetzt liegen, seinen Untergang herbeisühren.

In der reinen Tragödie geht der Held nicht von seiner großen Sache ab, auch wo er den Untergang voraussieht. Er kann schuldvoll oder (wie Calderons standhafter Prinz) schuldlos sein.

' In der Tragödie der Liebe kann der Held am Verrat der Geliebten zu Grunde gehen, oder aber beide Geliebte fallen am Ende den sich dem tra­ gischen Konflikt entgegentürmenden Verhältniffen zum Opfer (Romeo und Julia). 2. Die antiken Tragödien sind bekanntlich die Tragödien der Griechen; die. romantischen haben ein Muster in der Jungftau von Orleans, und die modernen Tragödien haben ihre Beispiele in den Tragödien der Liebe (z. B. Grillparzers Des Meeres und der Liebe Wellen [$ero und Leanders; Julius

Mosens Wendelin und Helene ic.). 3. Zu den Charaktertragödien zählen die Tragödien der Leiden­ schaft und der einfachen Schuld (Beispiele: Othello, Macbeth). Prinzipientragödien (z. B. Sophokles' Antigone).

sind

die

Tragödien

des

sittlichen

Konflikts

Sittentragödien sind auf dem Gebiet der Tragödie dasselbe, der Zeitroman auf dem des Romans ist (A. E. Brachvogels Narziß).

was

§ 162. Unsere Einteilung -er Tragödie nebst Begründung. Als eine allen Anforderungen genügende, erschöpfende Einteilung der Tragödie dürfte sich die nachstehende Rubriziemng der sämtlichen Tragödien empfehlen: I. Sagenhaft-heroische (altklassische) Tragödien; II. Philosophische; HI. Geschichtliche oder heroische, sowie politische; IV. Bürgerliche; V. Moderne Schicksalstragödien.

i. Kagenhaft-heroWe (aMaUche) Tragödien. Es sind dies die später (S. 456) zu erwähnenden Tragödien der klassischen Völker.

Sagenkreise sind Der Prometheus-Mythus; das mit Fluch beladene

451 Haus der Labdakiden (Ödipodie); das verderbenbringende Haus der Pelopiden

(Orestie) rc.

Vgl. 8 163 S. 456 ff. d. Bds.

n. Philosophische Tragödien. Hierzu gehören die im vorigen Paragraphen unter 3 aufgeführten Arten. Ein Beispiel aus unserem Jahrhundert ist: Gutzkows Uriel Akosta. Goethes Faust ist ebenso philosophische als bürgerliche Tragödie (vgl. S. 453 d. Bds.).

ui. Geschichtliche oder heroische TraMen. Bei der historischen Tragödie braucht

sich der Dichter weder sklavisch an

die Sage noch an die Geschichte zu halten, wie dies Schiller z. B. im Tell, in Maria Stuart und in der Jungfrau vonDrleans auch nicht gethan hat. (S. 40. d. Bds.) Der Dichter darf dem Charakter und der Handlung zuliebe nach Gutdünken abändern, wie die Sage ja auch mit den Jahrhunderten sich

ändert; ja, er muß sogar ändem, um die Begebenheiten seiner dichterischen Idee entsprechend zu gestalten und die Bedeutung seiner Handlung zu erhöhen. (S. 38 d. Bds.) „Egmont" bietet Begebenheiten, von denen die Geschichte durchaus nichts weiß; mehr noch „Don Carlos", deffen Charakter durch Schiller in einer Weise idealisiert wurde, daß er nicht mehr dem geschichtlichen entspricht. Der Dichter soll nur beim Idealisieren weder die historische Treue der Idee antasten, noch auch das Kostüm (d. h. den historischen Gebrauch der Zeit, zu denken, zu handeln, zu reden, sich zu kleiden rc., wobei er freilich nicht gerade historische und anttquarische Gelehrsamkeit des Publikums im minutiösen Maße voraussetzen soll). Aristoteles (Poet.

erhellt

c.

IX. Ausg. von Susemihl

aus dem Gesagten auch noch dies,

daß

S.

75)

sagt:

„Es

nicht das die Aufgabe des

Dichters ist, das wirklich Geschehene zu berichten, sondern vielmehr darzustellen, wie etwas geschehen kann und was möglich ist nach den Gesetzen der Wahr­ scheinlichkeit oder Notwendigkeit. Der Geschichtschreiber und der Dichter unter­

scheiden sich nicht (etwa) von einander durch die Darstellung in ungebundener und in gebundener Rede. Denn es könnte das Werk des Herodotos in Verse gebracht sein, und es würde doch immerhin nur ein Geschichtswerk bleiben in

Versen, wie sonst ohne Verse.

Vielmehr das ist der Unterschied, daß der Ge­

schichtschreiber darstellt, was wirMch geschehen ist, der Dichter dagegen, wie Etwas geschehen kann.

Deshalb ist denn auch die Poesie philosophischer und

erhabener, als die Geschichte; denn jene stellt mehr das Allgemeine, diese mehr das Einzelne dar." Femer (a. a. O. S. 77. 9): „Klar ist es mithin hier­ nach,

daß der Dichter mehr an der Fabel seine schöpferische Dichterkrast be­

währen muß, als an den Versen.

Denn Dichter ist er eben vermöge der nach­

ahmenden Darstellung, und der Gegenstand dieser Darstellung ist die Handlung.

Andererseits aber, wenn er dabei wirklich Geschehenes darstellt, kann er nicht minder seine schöpferische Dichterkraft beweisen. Denn es steht ja dem nichts im Wege, daß manches von dem wirklich Geschehenen auch nach aller Wahr­

scheinlichkeit so geschah, ja, gar nicht anders geschehen konnte, und indem er es von dieser Seite her darstellt, wird er an ihm zum Dichter, rc.

452 (Schiller äußert über die Ansicht des Aristoteles bezüglich des Verhältniffes des tragischen Dichters zum Geschichtschreiber in einem Briefe an Goethe

vom 5. Mai 1797: „Daß er in der Tragödie das Hauptgewicht in die Ver­ knüpfung der Begebenheiten legt, heißt recht den Nagel auf den Kopf getroffen. Wie er die Poesie und Geschichte mit einander vergleicht und jener eine größere

Wahrheit als dieser zugesteht, das hat mich auch sehr von einem solchen Ver­ standesmenschen erfreut.") Sofern die historffche Tragödie an Personen anknüpft, die als Träger der Geschichte bedeutungsvoll sind, so nennt man sie auch die heroische. Beispiele

der historischen oder heroischen Tragödie sind:

Schillers Wallenstein und sein

Fiesko, sowie Goethes Egmont> Werners AMa, Raupachs Nibelungenhort, Hebbels Nibelungen, Laubes Graf Eflex, G. Büchners Dantons Tod, Julius Mosens Cola Rienzi, Niffels Die Florentiner, Eduard von Schenks Belisar, Gust. Freytags Die Fabier, R. Gisekes Kurfürst Moritz von Sachsen, Rud.

v. Gottschalls Herzog Bernhard von Weimar, und sein Mazeppa rc., Alb. Lindners Die Bluthochzeit, G. zu Putlitz' Don Juan d'Austria, Aug. v. Maltitz' Hans Kohlhas, Bernh. Scholz' Hans Waldmann, R. Prölß' Katharina Howard, Grabbes Hohenstaufen rc. Hieher gehört auch die politische Tragödie Macchiavelli von Elise Schmidt, sowie Osw. Marbachs Manfred der Hohenstaufe; H. Friedrichs Servet; Roquette Die Protestanten in Salzburg; Emil Pirazzis Rienzi der Tribun; Geibels Sophonisbe; P. Lohmanns Strafford rc.; Gregorovius' Der

Tod des Tiberius; Groffes Unglinger rc.

IV. Kurgerllche Tragödien. Es sind jene Tragödien, bei welchen Personen und Konflikte des bürger­ lichen Lebens die Motive bilden. Der Philosoph des Pessimismus Schopen­ hauer verhält sich der bürgerlichen Tragödie gegenüber mehr ablehnend als anerkennend, wenn er auch (nach Kuhs Hebbelbiographie II 586) Hebbels

Maria Magdalena in mancher Beziehung gelobt hat.

Nach ihm müffen im

Trauerspiele nur bedeutende, hochstehende, königliche, fürstliche Personen auftreten, deren Thun in's Große geht. Ebenso wie ein Lustspiel von Fürsten nicht leicht

gelingen könne, weil ihr Thun in's Große gehe, so glücke auch das bürgerliche Trauerspiel nicht leicht,

denn das Leben en detail sei fast immer Lustspiel,

wenn es auch noch so verdrießlich sei.

Die Unglücksfälle, welche eine bürger­

liche Familie in Not und Verzweiflung setzen, seien in den Augen der Großen und Reichen meistens sehr geringfügig und durch menschliche Hülfe, ja, bisweilen

durch eine Kleinigkeit zu beseitigen:

nicht tragisch erschüttert werden.

solche Zuschauer können daher von ihnen

Hingegen seien die Unglücksfälle der Großen

und Mächtigen unbedingt furchtbar, auch keiner Abhülfe zugänglich, da Könige

durch ihre eigene Macht sich helfen müßten oder untergehen. daß der Fall von der Höhe am tiefsten sei;

Dazu komme,

den bürgerlichen Personen fehle

es demnach an Fallhöhe. Aug.

Dem gegenüber wendet der unparteiische Interpret Schopenhauers, Dr. Siebenlist (a. a. O. S. 64), mit Recht ein, daß es ein Gebiet im

453 Menschendasein giebt,

auf dem die zahlreichen Schichten der Gesellschaft samt

und sonders gleich hoch dastehen; und auch der Abgrund, der zu ihren Füßen gähnt, ist gleich jäh und gleich tief für sie alle. Da ist kein Stand mehr und kein Rang; da gilt nicht die Krone, da gilt nicht der Fürstenstab. Nur

das Herz ist nötig in diesem Ringen um Glück oder Weh, um Leben oder Tod.

Und was immer Mensch heißt, hat hier Zutritt und zahlt hier mit kostbarem Blute,

das

die Walstatt färbt.

Mag

also Schopenhauer noch so bedenklich

den Kopf schütteln, wo es sich um die bürgerliche Tragödie handelt, mag der Stagirite die vomehme Abgeschloffenheit des Trauerspieles auf die Spitze treibend gar die Erklärung abgeben, lediglich die auf den Höhen der Menschheit Wan­ delnden, vom Schlage des Ödipus und Thyestes, und solcher, die ähnlichen erlauchten Geschlechtern angehören (oi (neyccl do^rj ovrtg, otov Oldinovg xal oi ix tolovtidv yevcov enigxxveig),

xal

feien

im Grunde

zur Tragödie zulässig: die großen Dichter der Neuzeit haben in dieser Beziehung durch die That alle die Skrupel und Zweifel Andersdenkender besiegt und mit

ihren Werken gezeigt, daß es Lieblinge des Unheils giebt in jedem Stande, und in jedem Stande einen Adel des Leidens, den das Schicksal erteilt mit wuchtigem Ritterschlag (Pessimistenbrevier 320). Lessings Miß Sara

Schillers Kabale und Liebe, und Hebbels Maria Magda­

Sampson,

lena sind bürgerliche Trauerspiele — ja, sind Shakespeares Romeo und Julia (Klein, Gesch. d. Drama XII 506), Goethes Stella (W. Scherer,

deutsche Rundschau 1876.

IV 66 ff.) und Faust etwas anderes? — und

dennoch werden sie vor hoch und niedrig ihre Wirkung thun,

besten Tragödien, Ja,

gäbe

deren Kronengold und Herrscherpurpur

es bloß

den

einzigen

bürgerlichen

so gut wie die

das Auge blendet.

Faust Goethes:

wie viele

Dutzende der Blaublutstragödien möchte man nicht missen für den Einzigen? Ruht doch (nach I. I. Baumann, 6 Vorträge 1874. S. 134/ der fort­ währende Zauber dieser Dichtung gerade darin, daß die Angelegtheit für das Faust'sche Element im Menschen allen Lesern stets einwohnt.

Nachdem Siebenlist noch

durch

eine Reihe

anderer Gründe die Gleich­

berechtigung der bürgerlichen Tragödie mit der „adeligen" dargethan, widerlegt er auch die Einwürfe in Bezug auf die Fallhöhe, indem er ausrust: Sollte

Fausts großes Herz, sein ungestümer Lebensdrang, sein überreiches Gemüt, sein tiefes Wissen,

all seine „Philosophie, Juristerei und Medicin und leider auch

Theologie" nicht mindestens gleich hoch postieren,

als das funkelndste Diadem

aus Diamanten und Edelsteinen? Ich glaube also, für die tragische Muse sind

bloß die Leidenschaften, die Willensbewegungen vorhanden; die tragische Muse sieht, wie Gott, nur die Herzen rc. Am meisten fällt in dieser Frage, wie sonst, Lessings Stimme in die Wagschale, der hn 14. Stück der Hamb.

Dramat. sagt: Wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen . . . Man thut dem mensch­ lichen Herzen unrecht, man verkennt die Natur, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren rc.

Von guten bürgerlichen Tragödien erwähnen wir außer den genannten

454 noch: Goethes Clavigo; Ifflands Albert von Thurneisen; Gutzkows Volkstrauer­ spiel Liesli; Bulthaupts Ein korsisches Trauerspiel; Richard Voß' Luigia San-

felice rc.

V. Kchicksalslrasödie. Diejenige Gattung von Tragödien nennt man Schicksalstragödien, welche die Idee zum Ausdruck bringen, daß das Los der Menschen schon vor der Geburt voraus bestimmt sei, so daß die besten Bemühungen, demselben zu entfliehen, dem Untergang desto sicherer entgegenführen.

Von der sittlichen Freiheit

und freien Selbstbestimmung, von der sittlichen Zurechnungsfähigkeit ist bei der Schicksalstragödie keine Rede, wohl aber vom blinden Schicksal (fatum, Be­

stimmung).

Der Held leidet schuldlos

für

andere und

verfällt seinem Ver­

hängnis. Diese Gattung hat daher nicht den sittlichen Wert der übrigen Tra­ gödien, und ist daher nicht selten als Abart (Verirmng) der Tragödie bezeichnet worden. Vischer sagt: „Was den Griechen normal war, ist uns abnorm; daher ist eine moderne Schicksalstragödie eine schlechte Tragödie." Während man bei

den übrigen Tragödien innere Beftiedigung hat, (sofern man den tragischen Ausgang als notwendig nach den vorausgegangenen Konflikten und Kämpfen erkennt), so ergreift bei der Schicksalsttagödie eine Versttmmung und Unruhe, ja, Enffetzen das Gemüt; denn wir wiffen, es ist keine sittliche Freiheit, die den Helden so und nicht anders handeln läßt, sondern vorausgesetzte Bestim­ mung, weshalb sein Streben, seine Anstrengungen, sein edler Charakter, das

gespensüsche, unheimliche Verhängnis nicht abzuwenden vermögen.

Die

Ab­

sicht der Tragödie, reinigend, erhebend zu wirken, erreicht die Schicksalsttagödie

nicht.

Zudem steht sie ganz im Widerstreit zu unserer christlichen Anschauung

von der Gerechtigkeit einer Vorsehung. Der Schillersche Versuch (Braut von Messina), das griechische Fatum als ttagisches Motiv zu verwerten, hat zu den modernen deutschen Schicksalstra­ gödien geführt, von denen Andreas Borschke im Programm des Wiener Schotten­ gymnasiums (1872 S. 5) ein ziemlich vollständiges Verzeichnis liefert.

Die deutsche Schicksalstragödie unterscheidet sich wesentlich von der Schick­ salsttagödie der Griechen.

Bei den alten Griechen war einmal — wie schon

früher erwähnt — der Fluch des dunkeln Schicksals und die Vorherverkündigung desselben durch Orakel und Seher Sache des Glaubens und ihrer Welt­

anschauung, welche ganz mit der jüdischen Sttafe bis in s dritte und vierte Glied übereinstimmt; — und dann war ihnen der tragische Held nicht ohne Schuld, die er im Zustand der Freiheit begangen, und die als Mangel weiser Mäßig­

ung erscheint. Die Zahl der modernen Schicksalsttagödien ist nicht gering. Als die bekannteren sind zu erwähnen: Zacharias Werners (f 1823)

Das Schloß an der Ostsee, Luther, Attila, Wanda, Der 24. Februar;

Ad.

Müllners (t 1829) Der 29. Februar, Die Albaneserin und die trefflich gearbeitete Tragödie Die Schuld (vgl. weiter unten die Analyse); Hou Walds

(t 1845) Der Leuchtturm, Das Bild,

Fluch und Segen;

Otto Ludwigs

455 Der Erbförster;

Hölzls Die Gräfin Osinsky;

Mich. Beers (f 1833) Die

Bräute von Arragonien, sowie Struensee, zu denen Beers Bruder, Meyerbeer,

begleitende Mufik schrieb;

besonders aber des österreichischen Schillers Grill­

parzers Die Ahnftau. Der modernen Schicksalstragödie, gegen welche Castelli gemeinschaftlich mit Aloys Jeitteles (Der Schicksalsstrumpf) und Platen (Die ver­ hängnisvolle Gabel) ihre satirische Geißel schwangen, näherte fich von den Neueren

besonders Gutzkow mit seinen Tragödien Der 13. Februar, und Wullenweber.

Als typische Vertreter der ganzen Richtung find dem Studium zu empfehlen: Müllners Schuld, und Grillparzers Ahnftau. Müllners Schuld hat (nach Siebenlist a. a. O. Seite

151)

folgendes Argument:

„Hugo

von Oerindur

hat einen Karlos auf tückische Weise getötet, um desien Frau Elvira heiraten zu können. Später wird entdeckt, daß die Beiden Brüder find. Den Mord aber bringt man damit

in Zusammenhang,

daß

die schwangere Mutter

der

Brüder einst eine Bettlerin beleidigt habe, die ihr darauf den Fluch gegeben, der Sohn, den fie unter dem Herzen trage, solle seinen älteren Bruder um­ bringen. Nun suchen Hugo und seine Gattin durch Selbstmord ihre Unthat zu

sühnen." Ungleich höher als diese die Menschen zu Puppen erniedrigende Tragödie steht Grillparzers Ahnfrau. S. A. Byk versucht diese Erstlingsdichtung Grill­ parzers mit dem Gesetze des tragischen Monismus in Einklang zu bringen, indem er (Physiologie des Schönen 1878. S. 279) sagt: „Wiewohl die Ahn­

ftau in Grillparzers gleichnamigem Trauerspiel die im Drama sich abspielen­ den Ereignisie nicht selbst herbeigeführt hat, so können wir doch ihrer Erscheinung die Berechtigung nicht absprechen, da erst durch sie das Spukhafte in ein Werk

ewiger Gerechtigkeit umgewandelt wird,

infolge

dessen die unerhörten Schick­

salsschläge, die auf einander folgenden Unglücksfälle, welche eine ganze Familie

bis auf ihren letzten Sprößling vernichten, einen ethischen Charakter gewinnen, der uns mit ihrer Furchtbarkeit aussöhnt und die Handlung zu einem harmonischen Ganzen abschließt. In dieser harmonischen Gestaltgebung liegt hier die Not­

wendigkeit der gespenstischen Erscheinung.

Die Erscheinung dieser ruhelos umher­

irrenden Sünderin, deren verbrecherische Liebe die einzige ganges ihres Geschlechtes ist,

versöhnt uns

mit

Ursache des

dem Schicksal

Unter­

beruhigt

und

unser morälisches Gewissen. Wir begreifen, daß das Unglück, welches das Haus der Borotin's heimsucht, weder das Werk einer mutwilligen Schicksals­ laune, noch eine unverdient verhängte Strafe ist, sondem

daß sich

hier

ein

ethischer Reinigungsprozeß vollzieht, dessen Notwendigkeit im Wesen der ethischen

Idee ftlbst liegt, die ebenso, wie die physisch-organische Natur in ihrer leben­ digen Thäügkeit, alles Unassimilierbare abstößt und entfernt." über die Ahnfrau

Gödekes

Grundriß III. 384 ff.

(Vgl. übrigens

sowie Grillparzers

Werke

2. Aufl. 1874 II S. 140 ff.) — Klarer hat schon Schopenhauer das Unter­ fangen, dem bloßen, reinen, offenbaren Zufall eine Absicht unterzulegen, einen Gedanken genannt (V 216), der an Verwegenheit seines Gleichen suche

— einen Gedanken übrigens, der, je nachdem man ihn versteht, der absurdeste oder der tiefsinnigste sein kann.

456 Manche interessante Gesichtspunkte bietet, neben Siebenlists Ausführung, auch „Die moderne Heinrich Schmitt (Berlin 1874).

antike Schicksalstragödie"

und

erschöpfender von Eugen

§ 163. Litteratur und Entwickelung der Tragödie. Der griechische Chor. Analysen der wichtigsten Tragödien. aller Völker. Da die klassischen Tragödien neben den englischen und spanischen einen nachweislichen Einfluß auf die Gestaltung unserer deutschen Tra­ gödie ausübten und das Studium der hervorragendsten derselben, die in guten Übersetzungen vorhanden sind, gefordert werden muß, so mußten

wir denselben die gebührende Beachtung widmen. Zum Verständnis des Schillerschen, auf Einführung des griechischen Chors gerichteten Bestrebens mußte dieser Chor kurz beleuchtet werden, wie auch das Wesentliche über das Äußere der griechischen Bühne einzufügen war. a. Griechen. Die griechische Tragödie ist aus religiöser Gelegenheitspoesie entstanden: aus dem für die Dionysosfeste bestimmten Dithyrambus, wo ein Chor in Verkleidung, die Sänger in Bocksfellen, an Gestalt den Bacchus begleitenden Satyrn entsprechend, singend den Altar

umtanzte.

Schon früh-

zeittg legte der unter den griechischen Stämmen durch geistigen Adel sich auszeichnende Dorier die Satyrmaske ab; der dithyrambische Chor wurde würdiger; nur

die Landbewohner behielten

die Vermummung

Chor durch nur einen Chorführer

bei.

Zuerst

wurde der

geleitet, der sich nach und nach

immer mehr vom Chor abschälte, die Thaten des Gottes erzählte, Mythen und Sagen heranzog, um sodann sogar die Landesheroen zu feiern.

Damit waren diese dramatischen Aufführungen an dem Punkte angelangt, wo aus ihnen die weltliche Tragödie geboren wurde. Dies geschah durch den Attiker Thespis (540 v. Chr.), der den Dithyrambus dialogisch umarbeitete und den Vorsänger zum Schauspieler

erhob,

insofern letzterer feinen Gesang

in Wechselunterhaltung mit dem Chore durch Bewegungen und mimische Geber-

den begleitete.

Die ernstere Seite der Dithyramben, welche zur Winterzeit die

Leiden des Dionysos beklagten, ging in die Tragödie über. Durch Peisisttatos (560—527 v. Chr.) Gunst wurde diese Art von Tragödie zum Hauptteil der Dionysosfeier erhoben,

bei- welcher ein Wettstreit agonistisch von verschiedenen

Dichtern verschiedener Tragödien aufgeführt wurde. Etwa 50 Jahre nach Thespis ließ der in seinen Werken so erhabene Äschylus dem Erzähler nicht mehr durch den Chor antworten, sondern durch einen Zwischenredner.

Er brachte somit zwei Personen auf

sich in mimischer Rede unterhielten. Nach Äschylus kam Sophokles,

der Vollender

die Bühne,

die

der Tragödie und der

Schöpfer erhabener weiblicher Charaktere-, er führte die Tragödie in's Gebiet des Menschlich-Schönen, ließ die durch Äschylus in's Übernatürliche gehobenen Götter menschlicher erscheinen und hielt überhaupt Maß.

457 Euripides ging über ihn hinaus.

Er gab der leidenschaftsvollen Ent­

wickelung des menschlichen Gemüts Raum und führte durch besondere Hülfe (deus ex machina) herbei.

den Schluß

zuweilen

Die antike Tragödie konnte das in unserer Tragödie zu Entwickelnde meist voraussetzen, sofern dasselbe durch Mythus und Geschichte feststehend war. Somit bot sie nur das, was uns heutzutage Peripetie und Katastrophe bieten; alles Übrige vermittelte der Prolog. Der griechische Chor. Wesentlich war für die griechische Tragödie, wie überhaupt für das griechische Drama, der Chor, der mit der eigentlichen Hand