Kognitive Grundlagen lexikalischer Hierarchien: Untersucht am Beispiel des Französischen und Spanischen 9783110916508, 9783484305069

Ever since antiquity conceptual hierarchies have been an indispensable element in western thinking on knowledge structur

201 31 9MB

German Pages 266 [268] Year 2006

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Table of contents :
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungen und typographische Konventionen
Vorwort
1 Lexeme - lexikalischer Wandel - lexikalische Relationen
1.1 Ein neuer Blick auf lexikalische Hierarchien
1.2 Methodik
1.3 Das Lexikon
1.4 Substantive
1.5 Grammatikalisierung vs. Lexikalisierung
1.6 Lexikalische Relationen
1.7 Fazit
2 Basisebene und untergeordnete Ebenen
2.1 Die Basisebene
2.2 Die untergeordnete Ebene
2.3 Fazit
3 Hyperonyme gemeinsprachlichen Ursprungs oberhalb der Basisebene
3.1 Kognitive Eigenschaften von Oberbegriffen
3.2 Die Repräsentation von Oberbegriffen
3.3 Sprachliche Eigenschaften der Hyperonyme
3.4 Kollektiva
3.5 Kollektiva vs. Individuati va - Meronymie vs. Hyponymie
3.6 Die Entstehung von Hyperonymen in der Gemeinsprache
3.7 Fazit
4 Hyperonyme fachsprachlichen Ursprungs
4.1 Wissenschaftliche Oberbegriffe und Taxonomien
4.2 Die sprachliche Fixierung wissenschaftlicher Konzepte
4.3 Die Entterminologisierung fachsprachlicher Entlehnungen
4.4 Fazit
5 Semilexikalische Substantive oberhalb der Basisebene
5.1 Passe-partout-Substantive: ein Paradoxon
5.2 Die Entstehung von Passe-partout-Substantiven
5.3 Vom gesichtwahrenden Substantiv zum syntaktischen Platzhalter
5.4 Passe-partout-Substantive: grammatische Substantive?
5.5 Delokutiver Wandel von Passe-partout-Substantiven
5.6 Indefinitpronomina: eine neue Etappe der Grammatikalisierung
5.7 Fazit
6. Die „Dekonstruktion“ logischer Hierarchien: Fazit und Ausblick
7. Literaturverzeichnis
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Kognitive Grundlagen lexikalischer Hierarchien: Untersucht am Beispiel des Französischen und Spanischen
 9783110916508, 9783484305069

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Linguistische Arbeiten

506

Herausgegeben von Peter Blumenthal, Gereon Müller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Klaus von Heusinger und Richard Wiese

Wiltrud Mihatsch

Kognitive Grundlagen lexikalischer Hierarchien untersucht am Beispiel des Französischen und Spanischen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 13 978-3-484-30506-9 ISBN 10 3-484-30506-1

ISSN 0344-6727

© M a x Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein U n t e r n e h m e n der K G. Saur Verlag G m b H , M ü n c h e n http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: L a u p p & Göbel G m b H , Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

VII

Abkürzungen und typographische Konventionen

IX

Vorwort

XI

1

Lexeme - lexikalischer Wandel - lexikalische Relationen 1.1 1.2 1.3 1.4

Ein neuer Blick auf lexikalische Hierarchien Methodik Das Lexikon Substantive 1.4.1 Typische Substantive 1.4.2 Atypische Substantive 1.5 Grammatikalisierung vs. Lexikalisierung 1.6 Lexikalische Relationen 1.6.1 Die Charakteristika lexikalischer Relationen 1.6.2 Die Entstehung lexikalischer Relationen 1.6.3 Hyponymie und Kohyponymie 1.7 Fazit

1 1 4 7 9 12 14 16 23 23 31 35 40

2

Basisebene und untergeordnete Ebenen 2.1 Die Basisebene 2.1.1 Visuelle Wahrnehmung und Basisebene 2.1.2 Sprachliche Eigenschaften 2.1.3 Entstehung und Wandel von Lexemen der Basisebene 2.1.4 Die Relevanz der Basisebene für Grammatik und Lexikon 2.2 Die untergeordnete Ebene 2.2.1 Untergeordnete Ebenen und Expertise 2.2.2 Prototypen 2.2.3 Nichtprototypische Substantive unterhalb der Basisebene 2.2.4 Hyponyme von Basislexemen und ihre Entstehung 2.2.5 Exkurs: Kohyponymie vs. Hyponymie 2.2.6 Morphologisch opake Hyponyme unterhalb der Basisebene 2.2.7 Sekundäre formale Anbindung opaker Hyponyme an Basislexeme 2.2.8 Wenn sich Hyponyme von ihren Hyperonymen der Basisebene lösen . . . . 2.3 Fazit

43 43 46 47 50 52 54 57 58 63 64 71 74 76 85 87

3

Hyperonyme gemeinsprachlichen Ursprungs oberhalb der Basisebene 3.1 Kognitive Eigenschaften von Oberbegriffen 3.2 Die Repräsentation von Oberbegriffen

89 89 91

VI

3.3 Sprachliche Eigenschaften der Hyperonyme 3.4 Kollektiva 3.4.1 Gruppenkollektiva 3.4.2 Genuskollektiva 3.4.3 Grenzbereiche 3.5 Kollektiva vs. Individuativa - Meronymie vs. Hyponymie 3.6 Die Entstehung von Hyperonymen in der Gemeinsprache 3.6.1 Funktionale Substantive und Ad-hoc-Kategorien 3.6.2 Die Entstehung von Gruppenkollektiva 3.6.3 Die Entstehung von Genuskollektiva aus Gruppenkollektiva 3.6.4 Pluraliatantum 3.6.5 Vom Pluraletantum zur flektierten Pluralform 3.6.6 Neue Hyperonyme 3.6.7 Hyperonyme und das Problem der Disjunktion 3.6.8 Gründe für die Entstehung der Hyperonyme 3.6.9 Die Instabilität der Hyperonyme 3.7 Fazit

92 98 103 103 105 109 115 115 116 123 128 133 136 137 141 143 149

4

Hyperonyme fachsprachlichen Ursprungs 4.1 Wissenschaftliche Oberbegriffe und Taxonomien 4.1.1 Die konzeptuelle Homogenität wissenschaftlicher Oberbegriffe 4.1.2 Basislexeme in wissenschaftlichen Taxonomien 4.1.3 Alltagskonzepte in der Wissenschaft 4.2 Die sprachliche Fixierung wissenschaftlicher Konzepte 4.3 Die Entterminologisierung fachsprachlicher Entlehnungen 4.3.1 Basislexeme und Kategorisierungskonflikte 4.3.2 Verlust der Fachsprachensemantik und Arbeitsteilung 4.3.3 Völlige Integration der Fachwörter in die Gemeinsprache 4.3.4 Die alltagssprachliche Semantik entterminologisierter Hyperonyme 4.4 Fazit

151 153 161 165 166 168 175 180 181 184 186 190

5

Semilexikalische Substantive oberhalb der Basisebene 5.1 Passe-partout-Substantive: ein Paradoxon 5.2 Die Entstehung von Passe-partout-Substantiven 5.2.1 Nähesprachliche Kommunikationsstrategien 5.2.2 Distanzsprachliche Strategien bei Wortfindungsproblemen 5.3 Vom gesichtwahrenden Substantiv zum syntaktischen Platzhalter 5.4 Passe-partout-Substantive: grammatische Substantive? 5.5 Delokutiver Wandel von Passe-partout-Substantiven 5.6 Indefinitpronomina: eine neue Etappe der Grammatikalisierung 5.7 Fazit

191 191 192 192 198 201 208 209 216 224

6

Die „Dekonstruktion" logischer Hierarchien: Fazit und Ausblick

225

7

Literaturverzeichnis

229

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1:

Arbor porphyriana

2

Abb. 2:

Die Extensionen von Antonymen

24

Abb. 3:

Die Intensionen von Antonymen

24

Abb. 4:

Die Extensionen komplementärer Lexeme

24

Abb. 5:

Die Intensionen komplementärer Lexeme

25

Abb. 6:

Ausschnitt aus einem Netzwerkmodell

30 6

Abb. 7:

Konflikt zwischen Nähe und Similarität (nach Goldstein 2002: 195)

31

Abb. 8:

Gestalten und kontradiktorische Negation

33

Abb. 9:

Lexikalisierung: von der kontradiktorischen zur konträren Negation

34

Abb. 10:

Die Ebbinghaus-Illusion (Eysenck 22001: 39)

34

Abb. 11:

Hyponymie: extensionale Inklusionsbeziehung

36

Abb. 12:

Die Extensionen von Kohyponymen

36

Abb. 13:

Hyponymie: intensionale Inklusionsbeziehung

36

Abb. 14:

Die Intensionen von Kohyponymen

37

Abb. 15:

Hyponymie: Modifikation des Oberbegriffs

37

Abb. 16:

Metasprachliche Hyponymie: von der Extension zur Intension

38

Abb. 17:

Merkmalsmengen explodieren auf der Basisebene

44

Abb. 18:

Frequenzen von Substantiven in Abhängigkeit der Generalisierungsebene. . . .48

Abb. 19:

Genus und Derivation von Obstbaumbezeichnungen

81

Abb. 20:

Volksetymologie eng. tuberose

83

Abb. 21:

Lexikalische Netze unterhalb der Basisebene

87

Abb. 22:

Konzeptueller Bruch oberhalb der Basisebene

89

Abb. 23:

Die Frequenzen der Substantive verschiedener Ebenen im Vergleich

95

Abb. 24:

Quasihyperonymie

97

Abb. 25:

Teil - Ganzes - Gruppierung

110

Abb. 26:

Vom Gruppenkollektivum zum Genuskollektivum

124

Abb. 27:

Sortenplural vs. Individuenplural

130

Abb. 28:

Konjunktion und Disjunktion

140

Abb. 29:

Singular und Plural in Abhängigkeit der Generalisierungsebene

145

Abb. 30:

Fachbegriffe oberhalb der Basisebene (Schwarze 2001:18)

151

Abb. 31:

Singular und Plural bei spanischen Kultismen

163

Abb. 32:

Singular und Plural bei französischen Kultismen

164

Abb. 33:

Sprachliche Arbeitsteilung bei Expertenkategorien oberhalb der Basisebene 183

Abb. 34:

Völlige Integration fachsprachlicher Hyperonyme in die Gemeinsprache . . . 186

VIII Abb. 35:

Bedeutungserweiterung vs. -Spezialisierung funktionaler Substantive

191

Abb. 36:

Die Entstehung nähesprachlicher Passe-partout-Wörter

197

Abb. 37:

Semantische Landkarte der Indefinitpronomina (Haspelmath 1997: 64)

219

Abb. 38:

Die französischen Indefinitpronomina (Haspelmath 1997: 260f.)

219

Abb. 39:

Die spanischen Indefinitpronomina

220

Abb. 40:

Substantivanhebung im Englischen (nach Kishimoto 2000: 560)

223

Abkürzungen und typographische Konventionen

afr. altgr. am. eng. am. sp. asp. bpg· dt. eng. eusp. fr. germ. ie. it. kat. lat. meng. mf. mhdt. mlat. pg· sard. sp. vlt.

altfranzösisch altgriechisch amerikanisches Englisch amerikanisches Spanisch altspanisch brasilianisches Portugiesisch deutsch englisch europäisches Spanisch französisch (Proto)germanisch indoeuropäisch italienisch katalanisch lateinisch mittelenglisch mittelfranzösisch mittelhochdeutsch mittellateinisch portugiesisch sardisch spanisch vulgärlateinisch

kursiv KAPITÄLCHEN

,einfache Anführungszeichen'

sprachliche Formen Konzepte Signifikate

Vorwort

Logisch strukturierte Hierarchien sind seit der griechischen Antike ein nicht wegzudenkendes Element abendländischer Wissensstrukturen. Erst in den letzten Jahrzehnten begann man sich der Grenzen dieser Strukturen bewusst zu werden. Insbesondere die Tatsache, dass Konzepte der so genannten Basisebene bildhaft und damit autonom sind und eben nicht, wie bisher angenommen wurde, über ihre Oberbegriffe definiert werden, stellt eine uniforme Struktur von Alltagshierarchien in Frage. In dieser Arbeit sollen die Konsequenzen der Basisebene fur das Verständnis lexikalischer Hierarchien analysiert werden. Mein Interesse für die Lexikologie wurde in einem Hauptseminar bei Brigitte SchliebenLange geweckt. Sie regte mich dazu an, in meiner Zulassungsarbeit einen Vergleich der strukturellen Semantik und der noch recht jungen Prototypensemantik zu unternehmen. Dabei wurde mir bewusst, dass viele Erkenntnisse der kognitiven Semantik im Grunde genommen noch gar nicht zu Ende gedacht waren. Just in dieser Zeit kam Peter Koch nach Tübingen und rief zusammen mit Andreas Blank das Projekt DECOLAR ins Leben, das sich mit Fragen der diachronen kognitiven Lexikologie befasst. Mein ganz besonderer Dank gilt also Brigitte Schlieben-Lange, die mein Interesse fiir die Lexikologie geweckt hat, und natürlich Peter Koch, der mich bei meiner Arbeit stets unterstützt hat und dem diese Arbeit ihre Grundlagen verdankt. Sehr dankbar bin ich Richard Waltereit, dessen Arbeiten das letzte Kapitel der Arbeit inspiriert haben. Zahlreiche Anstöße verdanke ich Paul Gevaudan zur Beschreibung lexikalischen Wandels sowie Ulrich Detges im Bereich der Grammatikalisierung. In den ersten beiden Jahren der Promotion wurde ich durch das Graduiertenkolleg „Integriertes Linguistikstudium" gefördert. Meinen damaligen Mitkollegiaten und Mitkollegiatinnen verdanke ich anregende Einblicke in die unterschiedlichsten linguistischen Bereiche. Danken möchte ich aber auch meinen Kollegen und Kolleginnen des SFB 441 für die vielen Anregungen. Wertvolle Ratschläge und muttersprachliche Urteile verdanke ich außerdem allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Mittwochskolloquiums, Susana Arechaga, Heidi Aschenberg, Klaus Böckle, Sarah Dessl Schmid, Jean-Pierre Durafour, Andrea Fausel, Sam Featherston, Barbara Job, Dorothee Kaiser, Brenda Laca, Reinhard Meisterfeld, Luis Maria Minguez, Antonia Neu, Ilona Pabst, Clara Perez, MarieRose Schoppmann, Jos Swanenberg, Heli Tissari, Bernhard Wälchli und Alberto Zuluaga. Herzlichen Dank an Georges Kleiber und Martin Riegel, die es mir erlaubten, einen ersten Entwurf des 3. Kapitels im Rahmen der Journee „La relation partie-tout" 1999 vorzustellen, sowie an Johannes Kabatek für die freundliche Einladung nach Freiburg ins Montagskolloquium. Ganz besonders möchte ich mich bei Konstanze Jungbluth bedanken, die es mir ermöglichte, am Austauschprogramm Deutschland-Argentinien PROALAR teilzunehmen, sowie bei den argentinischen Gastgebern, denen ich wichtige Anstöße zur Fachsprachenproblematik verdanke. Den Herausgebern der Linguistischen Arbeiten, besonders Peter Blumenthal, möchte ich für die Aufnahme in diese Reihe danken, dem Niemeyer Verlag für die freundliche Betreuung und ganz besonders Reinhild Steinberg für die kompetente Unterstützung beim „letzten S c h l i f f ! Meiner Familie und Detlef danke ich für ihre moralische Unterstützung. Tübingen, im Februar 2006

Wiltrud Mihatsch

Brent Berlin (Folk Classification Bulletin 1978, aus Berlin 1992: 171), abgedruckt freundlicher Genehmigung des Autors.

1

Lexeme

lexikalischer Wandel - lexikalische Relationen

1.1

Ein neuer Blick auf lexikalische Hierarchien

Substantive können in weitaus höherem M a ß als andere Wortarten sehr spezifische Konzepte wie beispielsweise B L A U M E I S E bis hin zu höchst generischen Konzepten wie T I E R versprachlichen. Bisher wurde angenommen, dass Substantive verschiedener Generalisierungsebenen unabhängig von der Generalisierungsebene durch Hyponymie verbunden sind, d. h. durch logische Inklusionsbeziehungen, wobei auf der Ebene der Intension der jeweilige Unterbegriff oder das Hyponym alle semantischen Informationen des Oberbegriffs bzw. des Hyperonyms sowie zusätzliche semantische Informationen besitzt. Danach müsste man Baum als , Pflanze mit einem verholzten Stamm' umschreiben können. Seit der Antike ist es üblich, Konzepte in solche hierarchischen Wissensstrukturen einzubetten. Das „genus proximum", also der Oberbegriff, und die „differentiae specificae", die spezifischen unterscheidenden Merkmale, bilden seit Aristoteles auch die Grundlage von Definitionen (s. auch Evens et al. 1980: 119). So wurde der Mensch im Gegensatz zum Tier als vernunftbegabtes Lebewesen definiert. Die Vorteile dieser altbewährten Struktur liegen auf der Hand: Wissen wird in Hierarchien von „oben" nach „unten" vererbt. Wenn wir wissen, dass alle Menschen vernunftbegabt sind und dass Sokrates ein Mensch ist, wissen wir auch, dass Sokrates vernunftbegabt ist. Hierarchische Strukturen sind daher auch die Grundlage für die aristotelischen Syllogismen, die auf Propositionen beruhen, bei denen die conclusio logisch von den Prämissen abgeleitet werden kann: Alle Α sind B. Alle Β sind C. Alle Α sind C.

Diese Strukturen erlauben eine ökonomische Informationsspeicherung, denn bei den einzelnen Begriffen müssen zusätzlich zur Position in der Hierarchie nur noch die differentiae specificae memorisiert werden. Solche Hierarchien können unendlich erweitert werden, indem durch das Hinzufügen neuer Informationen zu bestehenden Begriffen weitere Subkategorien gebildet werden sowie durch Abstraktion gemeinsamer Merkmale mehrerer Begriffe neue Oberbegriffe entstehen können. Dargestellt werden Hierarchien traditionell in Form von Baumdiagrammen. 1 In der Darstellung der arbor porphyriana in Abb. 1 befinden sich die Begriffe der höheren Generalisierungsebenen im Baum weiter oben. Rechts und links des Stammes werden die differentiae specificae, d. h. die unterscheidenden Merkmale der Unterbegriffe, angegeben:

' Bei Abb. 1 handelt es sich um eine Darstellung der arbor porphyriana bei Ramon Llull, Logica Nova (ed. 1512 von Jordi Costilla, zit. in Llinares 1968). Bereits in der Isagoge von Porphyr im 3. Jahrhundert n. Chr. werden die aristotelischen Kategorien in Form von Baumdiagrammen dargestellt (Prechtl/Burkard 1999, s.v. Porphyr).

2

Abb. 1:

Arbor porphyriana

Hierarchische Strukturen sind auch heute noch in wissenschaftlichen Taxonomien von großer Bedeutung. Logische Inklusionsbeziehungen gewannen im 20. Jahrhundert in der Lexikologie große Bedeutung (s. Evens et al 1980: 119-122). Die lexikalische Relation der einseitigen Implikationsbeziehung oder Inklusion wird seit Lyons (1963) „Hyponymie" genannt und gilt als wichtiges Strukturprinzip des Lexikons, besonders im nominalen Bereich (Miller 1998: 24, Cruse 2002b: 3). In der Computerlinguistik spielt die Hyponymie von allen lexikalischen Relationen die größte Rolle (Pustejovsky 1995: 24), vor allem in Ontologien der künstlichen Intelligenz (Stein 2005: Kap. 2), so z.B. in elektronischen lexikalischen Netzen wie WordNet (Miller 1998) oder EuroWordNet (Vossen 1998).

3 Im Zentrum dieser Untersuchung steht nun die Frage nach der psychologischen und sprachlichen Realität dieses Organisationsprinzips in der Alltagssprache, denn einige Beobachtungen lassen Zweifel an einer uniformen taxonomischen Organisation des Lexikons aufkommen. Analog zur hierarchischen Ordnung der Konzepte wurde beispielsweise für künstliche Sprachen seit dem 17. Jahrhundert immer wieder vorgeschlagen, die Inklusionsrelation der Intensionen in den Signifikanten abzubilden (Guiraud 1968: 74f.). Bei Borges (1960: 141) findet sich in Anlehnung an diese Entwürfe folgender Vorschlag: a ab abo aboj aboje

animal ,Tier' mamifero , Säugetier' Carnivora ,Fleischfresser' felino ,Katze' gato ,Hauskatze'

Das Anwachsen der Intensionen bei den spezifischeren Ebenen spiegelt sich hier im Anwachsen der Lautketten. Betrachtet man die natürlichsprachlichen spanischen Entsprechungen, wird schnell klar, dass eine solche isomorphe Versprachlichung in den natürlichen Sprachen nicht existiert. Allein beim Verhältnis von sp. gato ,Katze' zu gato siames .Siamkatze' scheint sich die größere semantische Spezifizität des Unterbegriffs in einem längeren Signifikanten zu spiegeln. Oberhalb von gato hingegen sind keine solchen Analogien erkennbar (s. auch Croft 2 2003: 220), im Gegenteil, gato ist sogar am kürzer als seine Hyperonyme. Noch stärkere Zweifel an einer logischen hierarchischen Ordnung von Konzepten lässt die Entdeckung aufkommen, dass manche Substantive wie eng. horse offensichtlich nicht durch die Modifikation ihres Hyperonyms erlernt und definiert werden können: (1)

eng. horse: ? equine animal (s. Cruse 1986: 140, vgl. Lyons 1977: 293).

Die Besonderheiten solcher Substantive der mittleren Generalisierungsebene wurde erstmals in Arbeiten von Brown (1958), Rosch et al. (1976), dann auch Hoffmann (z.B. 1986) sowie Berlin (z.B. 1972, 1992) und anderen untersucht. Sie zeigten, dass nicht alle Hierarchieebenen einer Taxonomie den gleichen kognitiven Status besitzen. Die bei Rosch et al. (1976) als „Basisebene" bezcichnctc Ebene, auf der sich zum Beispiel Konzepte wie PFERD, TISCH, VOGEL, HUND oder HOSE befinden, ist psychologisch und sprachlich salienter als die über- und untergeordneten Ebenen. Die Lexeme sind hier in der Regel kürzer, morphologisch einfacher, älter und stabiler als die der anderen Ebenen. Basiskonzepte befinden sich auf der höchsten Ebene, auf der noch ein einziges mentales Bild das Konzept repräsentieren kann (s. Rosch et al. 1976), sie sind daher vermutlich holistisch-bildhaft repräsentiert. Basiskonzepte durchbrechen so die Logik der klassischen Inklusionsbeziehungen, denn sie stellen eigenständige Konzepte dar, die nicht über ihre Oberbegriffe definiert werden können. Das psychologische Phänomen der Basisebene wurde in den 80ern zusammen mit dem bekannteren Konzept des Prototypen eine wichtige Grundlage der sich neu formierenden Kognitiven Linguistik (s. Kleiber 1993, Lakoff 1987, Taylor 2 1995: 46-51, Ungerer/Schmid 1996). Während der Prototyp in der kognitiven Linguistik sehr fruchtbar wurde, wovon auch der Begriff „Prototypensemantik" zeugt, blieb die Basisebene bis auf wenige

4 Analysen 2 in der Linguistik eher unbeachtet, obwohl ihr Potential durchaus erkannt wurde. Und so gibt es im Rahmen der Kognitiven Linguistik nach wie vor kaum Untersuchungen zur Konsequenz der Basisebene für unser Verständnis lexikalischer Hierarchien. Dies ist mehr als erstaunlich, zumal die Kognitive Linguistik ja betont, dass formallogische Strukturen wie logische Inklusionsbeziehungen nicht der sprachlichen und mentalen Wirklichkeit entsprechen und stattdessen unscharfe Kategoriengrenzen angenommen werden müssen. Ausgerechnet die klassisch strukturierten lexikalischen Hierarchien wurden jedoch in der Kognitiven Linguistik nie wirklich demontiert, wie z.B. auch Kleiber (1993: 89), Koch (2001b: 1144) und Ungerer (1994) kritisch anmerken: In short, the prototype-cum-periphery model is already on the way to becoming a new orthodoxy. In contrast, the notion of basic level has been pursued much more cautiously and its explosive implications for the hierarchical organization of lexical concepts and lexical meanings have been more or less neglected. (Ungerer 1994: 148)

Auch Linguisten, die keine ausgesprochenen Anhänger der Kognitiven Linguistik sind, bedauern das Mauerblümchendasein der Basiskonzepte. Albrecht (1997: 27) hält gerade die Erkenntnisse zur Basisebene für den wichtigsten Beitrag der Kognitiven Linguistik zur Semantik. Dennoch wurden bis heute die Konsequenzen der Basisebene für unser Verständnis der konzeptuellen Organisation des gemeinsprachlichen Lexikons kaum untersucht. Nach wie vor spielen in den meisten linguistischen und nicht-linguistischen Bereichen klassische Hierarchien eine wichtige Rolle, da eine solch altehrwürdige Tradition, die seit Aristoteles grundlegender Bestandteil des westlichen Denkens ist und außerdem durch ihre Logik eine sehr elegante, einfache Wissensorganisation bietet, schwer zu revidieren ist (s. auch Murphy 2002: 39, Ungerer/Schmid 1996: 63).

1.2

Methodik

Im Mittelpunkt dieser Analyse stehen lexikalische Daten des Französischen und Spanischen, punktuell ergänzt durch Daten weiterer, auch nicht-indoeuropäischer Sprachen. Der synchronen onomasiologischen Analyse („Wie sind Hierarchien versprachlicht?") folgt dabei eine semasiologische synchrone und diachrone Analyse („Woher stammen die Bezeichnungen, wie sind sie strukturiert, wie entwickeln sie sich typischerweise weiter?"), denn bereits Rosch (1978: 35) vermutet, dass sich die Basisebene auch diachron bemerkbar macht: On a more speculative level, in the evolution of languages, one would expect names to evolve first for basic-level objects, spreading both upward and downward as taxonomies increased in depth. (Rosch 1978: 35)

2

Besonders die Arbeiten von Ungerer und Schmid sind hier zu nennen. Bemerkensweiterweise findet der Begriff der Basisebene auch in der computerlinguistisch orientierten Arbeit von Vossen (1995) Beachtung.

5 Gerade die Betrachtung der Diachronie erlaubt Einblicke in die kognitiven Grundlagen lexikalischer Hierarchien, denn semantischer Wandel reflektiert kognitive Prozesse (vgl. Blank/Koch 1999: 1, Robert 1997: 27f„ Sweetser 1990: 45f.). Aufgrund der außergewöhnlich guten Datenlage sind für einen solchen Ansatz romanische Sprachen geradezu prädestiniert. Besonders interessant sind polygenetische Wandelprozesse, also „Trampelpfade", die übereinzelsprachlich und unabhängig voneinander immer wieder zu beobachten sind, daher sollen auch Daten anderer Sprachen in die Analyse einfließen. Die linguistische Analyse wird ergänzt durch die Diskussion von Evidenz aus den unterschiedlichsten Bereichen wie z.B. Spracherwerb, Psycholinguistik und Neurolinguistik, um auf breiter Basis eine Erklärung der beobachteten sprachlichen Muster zu finden (vgl. Lakoff/Johnson 1999: 79f„ Talmy 2000: 3). Ein grundsätzliches methodologisches Problem bei lexikologischen Arbeiten stellt die Abgrenzung des zu untersuchenden Konzeptbereichs dar. Wählt man eine kleine inhaltliche Domäne wie z.B. Farbadjektive, ist es oft schwer, daraus allgemeine Aussagen zum mentalen Lexikon abzuleiten. Wählt man dagegen sehr allgemeine Strukturen des Lexikons wie Wortart oder Numerus, so werden eigentlich keine genuin lexikalischen Phänomene untersucht, sondern grammatische Aspekte des Lexikons. Die Wahl der Substantivhierarchien als Untersuchungsgegenstand vermeidet beide Extreme: Hierarchien existieren unabhängig von spezifischen inhaltlichen Domänen und man umschifft so die Scylla der Idiosynkrasien des Lexikons und kann auf diese Weise allgemeine Strukturprinzipien des Lexikons untersuchen. Gleichzeitig droht hier nicht die Charybdis eines Abdriftens in die Grammatik, denn es handelt sich bei lexikalischen Relationen um ein spezifisch lexikalisches Phänomen. Aus praktischen Gründen beschränke ich mich auf eine breite Auswahl konkreter Individualnomina, da hier bisher am meisten Untersuchungen in Linguistik, Ethnobiologie und Psychologie vorliegen, und diese außerdem einen zentralen Bereich des Substantivlexikons darstellen. Den theoretischen Rahmen der Untersuchung bildet vor allem die Kognitive Linguistik, ergänzt durch andere, meist funktionalistische Theorien, z.B. Arbeiten der Grammatikalisierungsforschung, Natürlichkeitstheorien und typologische Arbeiten. Die Kognitive Linguistik geht im Gegensatz zu generativen Theorien von Kontinua aus, z.B. von der Annahme, dass zwischen Lexikon und Grammatik kein qualitativer, lediglich ein gradueller Unterschied besteht. Für die Fragestellung dieser Arbeit sind allerdings besonders die Spezifika des Lexikons von Bedeutung. Diesen Spezifika wird in anderen funktionalistischen Ansätzen wie z.B. der Natürlichkeitstheorie meist mehr Aufmerksamkeit geschenkt (Wurzel 1994b: 42). Natürlichkeitstheorien gehen davon aus, dass die einzelnen sprachlichen Bereiche wie Phonologie, Morphologie und Syntax jeweils ihnen eigene Tendenzen des Abbaus von Markiertheit und Aufbau von Natürlichkeit besitzen (Kilani-Schoch 1988: 35-40). Wichtige Erkenntnisse zur Verschiedenheit von Grammatik und Lexikon stammen besonders aus dem Kölner Unityp Projekt („Language Universals Research and Language Typology") (s. z.B. Seiler 2001: 323). Sprachliche Phänomene werden dabei zu Funktionen zusammengefasst, die auf Skalen angeordnet werden. Diese Skalen zeigen wichtige universelle, aber auch typologische Form-/Funktionskorrelate auf, die oft auch Pfade des Sprachwandels erfassen können (Seiler 2001: 325). Für diese Untersuchung sind besonders die Arbeiten zur so genannten Apprehension wichtig, d. h. zur sprachlichen Erfassung von Gegenständen (Seiler 2001: 334f.). Dieser Ansatz unterscheidet hierbei zwischen den Polen größtmöglicher Prädikativität und damit hohem semantischen Gehalt (hier finden sich stark

6 markierte Wortbildungsprodukte bis hin zu syntaktischen Einheiten, s. Vogel 1996: 87) und Indikativität, also ganzheitlicher Etikettierung mit geringer Deskriptivität. Hier finden sich vor allem stark lexikalisierte bzw. grammatikalisierte schwach markierte Einheiten (Seiler 2001, Vogel 1996:76, 87). Eine wichtige Rolle spielen natürlich auch die Arbeiten von Lyons und Cruse, die einen Schwerpunkt auf die möglichst genaue Beschreibung und Erklärung speziell des Lexikons legen. Die Daten stammen überwiegend aus Lexika, sowohl synchronen Lexika des zeitgenössischen Französischen, Spanischen und weiterer Sprachen als auch etymologischen bzw. historischen Wörterbüchern. Diese lexikographischen Daten werden ergänzt durch punktuelle semantische und grammatische Urteile von Muttersprachlern zu konstruierten Beispielen sowie Korpusdaten. Die Korpusbeispiele wurden meist aus CREA, FRANTEXT und dem Korpus gesprochener Sprache ELICOP entnommen. Die quantitativen Daten, d. h. die Frequenzen bestimmter Substantive in Abhängigkeit von der Generalisierungsebene sowie die Proportionen von Singular- und Pluralformen in Abhängigkeit von der Generalisierungsebene und Fachsprachlichkeit stammen aus CREA und FRANTEXT. Die spanischen Daten stammen aus dem Korpus der Real Academia CREA, das gewählte Subkorpus umfasst die im Gesamtkorpus enthaltenen, zwischen 1994 und 1999 in Spanien veröffentlichten Romane (20 Romane, 1488835 Wörter), das Korpus wurde am 7.11.2003 konsultiert. Die französischen Daten stammen aus FRANTEXT, es handelt sich um ein Subkorpus von 22 zwischen 1990 und 2000 veröffentlichten Romanen (1549607 Wörter). Konsultiert wurde das Korpus am 31.10.2003. Bei den Daten aus CREA und FRANTEXT handelt es sich also um schriftliche, aber nicht technische Texte. Hier mag der Sprachgebrauch stark normativ bestimmt bzw. literarisch gefärbt sein. Außerdem ergibt sich bei manchen interessanten Lexemen das Problem, dass in den begrenzten Subkorpora keine oder nur sehr wenige Belege verfugbar sind. Die Begrenzung der gewählten Subkorpora ist zum einen durch die Vergleichbarkeit bedingt, da FRANTEXT überwiegend auf literarischen Texten basiert. So musste dieselbe Beschränkung auf das Subkorpus von CREA angewendet werden. Zum anderen ist der begrenzte Umfang der Subkorpora nötig, da die Auszählung eine aufwendige semantische Interpretation erfordert. Gezählt wurden lexikalische Einheiten, daher wurden von der gesuchten Bedeutung deutlich abweichende polyseme Lesarten, z.B. konventionalisierte figurative Bedeutungen, aber auch Belege anderer Wortarten, lexikalisierte Syntagmen und eindeutige Ellipsen, Vorkommen in Phraseologismen sowie Komposita ausgeschlossen. Da zählbare Konkreta wie fr. chene ,Eiche' im Zentrum der Untersuchung stehen, wurden daher auch Materialbezeichnungen wie fr. chene .Eichenholz' ausgeklammert. Die Auszählung orientiert sich für diese Unterscheidungen meist an den Angaben in MOL. PR gibt zu viele schwach lexikalisierte Syntagmen und Kollokationen an, daher wurden bei den französischen Belegen hier meist die den bei MOL angegebenen Syntagmen, Kollokationen, Polysemien etc. entsprechenden Einträge ausgeklammert, sofern diese äquivalent sind. Häufig sind diese Unterscheidungen jedoch nicht eindeutig zu treffen. In den Abbildungen 18, 23, 29, 31 und 32 entspricht die erste Zahl einer Tabellenzelle der absoluten Frequenz, nach dem Schrägstrich wird die auf 1500000 Wörter normalisierte Frequenz angegeben. Wo vorhanden werden in Klammern außerdem die Ergebnisse der Frequenzwörterbücher von Juilland/Brodin/Davidovitch (1970) und Juilland/Chang-Rodriguez (1964) genannt, die eine repräsentativere Korpusgestaltung aufweisen und beispielsweise auch technische Texte

7 berücksichtigen, jedoch keine mündlichen Daten enthalten. Allerdings werden hier Lexeme, keine lexikalischen Einheiten gezählt. Daher sind diese Daten ebenfalls nur von begrenzter Aussagekraft. Insgesamt erlaubt die quantitative Auswertung einen ersten Einblick und stützt die vorgestellten Thesen, allerdings sind hier noch genauere und repräsentativere Auswertungen vor allem größerer Subkorpora gesprochener Sprache wünschenswert.

1.3

Das Lexikon

Trotz verschiedenster Einschätzungen der Position des Lexikons unterscheiden alle zeitgenössischen linguistischen Theorien zwischen Inhaltswörtern und Funktionswörtern. Schöne Gegenüberstellungen finden sich bei Emonds (1985: 159-162) und Lyons (1995: 65-74). Die Unterschiede zwischen Inhaltswörtern und Funktionselementen, aber auch zwischen lexikalischen Einheiten und größeren syntaktischen Einheiten wie z.B. zwischen Substantiven und ganzen Nominalphrasen oder Sätzen sind für eine psychologisch realistische Analyse lexikalischer Hierarchien unerlässlich, da es sehr wahrscheinlich ist, dass die Natur einer Relation vom Typus der durch sie verbundenen Elemente bestimmt wird. Eine der auffälligsten und unstrittigsten Charakteristika der grammatischen Elemente ist ihre begrenzte und geringe Anzahl (Emonds 1985: 159) gegenüber der großen und offenen Anzahl der lexikalischen Einheiten (s. Aitchison 3 2003: 5ff.). Auch semantisch unterscheiden sich Inhaltswörter von Funktionswörtern. Grammatische Konzepte sind auf bestimmte Konzeptbereiche beschränkt (Talmy 2000: 24-32). Talmy (2000: 40) zeigt, dass grammatische und lexikalische Elemente komplementäre Funktionen innehaben, wobei erstere als Gerüst für Inhaltswörter dienen. Er nimmt an, dass grammatische Konzepte ein Subsystem der lexikalischen Konzepte darstellen. Während nach Ansicht Talmys grammatische Konzepte auf Grundkonzepte beschränkt sind, wie sie auch in der Kindersprache oder der „naive science" zu finden sind, ist das Lexikon seiner Meinung nach offen für alle denkbaren Konzepte, also auch wissenschaftliche Konzepte (Talmy 2000: 21-24). Meines Erachtens kann man jedoch noch weiter gehen. Betrachtet man das Kernlexikon, also maximal unmarkierte Lexeme der Gemeinsprache, und grammatische Konzepte, wird man feststellen, dass es sich um weitgehend komplementäre Mengen handelt. Lexeme für grammatische Konzepte, die im Französischen meist flexivisch ausgedrückt werden wie zum Beispiel fr. futur ,Zukunft' (PR), sind oft gelehrten Ursprungs und gehören damit nicht zum Kernlexikon. Zum Kernlexikon gehören dagegen Basislexeme wie fr. chaise ,Stuhl', die wiederum keine potentiellen grammatischen Konzepte sind. So ist das Lexikon zwar offen und kann alle denkbaren Konzepte versprachlichen, Kernlexikon und Funktionswörter sind jedoch semantisch weitgehend komplementär. Da Funktionswörter stark an den Satzkontext gebunden sind (s. Lehmann 1995b: 1252), sind sie eher keine autonomen Speichereinheiten des Langzeitgedächtnisses. Sie sind sehr schnell verarbeitete, aber flüchtige, da schwer memorisierbare, Elemente automatisierter Sequenzen. Sie sind stark regeldeterminiert, oft obligatorisch und werden eher unbewusst verarbeitet (Bybee/Hopper 2001: 2, 11, Friederici 1998: 263). Lexeme referieren dagegen auf Außersprachliches und sind eher „autonom", d. h. als semantisch und formal (relativ)

8 kontextunabhängige Einheiten gespeichert und können daher bewusst ausgewählt werden. Sie werden langsamer verarbeitet als Funktionswörter, aber besser behalten (Detges Ms: I i , Friederici 1998: 263, s. auch Kilani-Schoch 1988: 38f„ Knobloch 2000: 5, 41). Intuitiv sind wir in der Lage, Inhaltswörter vom Kontext gelöst zu analysieren. Die Frage „Was bedeutet Tisch?" kann so durchaus beantwortet werden (vgl. Blank 2001b: 7). Bei Funktionswörtern ist dies nur schwer möglich, da sie meist nur als Teile von syntaktischen Konstruktionen auf Diskursebene eine fassbare Bedeutung besitzen. Inhaltswörter und Funktionswörter zeigen also wichtige Unterschiede in der kognitiven Verarbeitung, die auf unterschiedliche zugrunde liegende Gedächtnistypen hinweisen. In der kognitiven Psychologie werden heute drei Gedächtnistypen unterschieden. Das episodische und das semantische Gedächtnis zählen zum deklarativen Gedächtnis. Darin sind Informationen in Form von relativ festen Einheiten im Langzeitgedächtnis gespeichert und dem Bewusstsein zugänglich. Dabei wird das episodische Gedächtnis, das konkrete Erlebnisse speichert, unterschieden vom semantischen Gedächtnis, das generisches Wissen speichert. Das semantische Wissen entsteht vermutlich durch Dekontextualisierung aus episodischem Wissen. Das prozedurale Gedächtnis hingegen umfasst Routinen, Regeln und Prozeduren im Langzeitgedächtnis, die dem Bewusstsein nicht unbedingt zugänglich sind. So kann ein geübter Tänzer oft nur unzulänglich erklären, worin die genauen Schrittfolgen bestehen. Ein Überblick zu den Gedächtnistypen findet sich bei Roediger/Marsh/Lee ( 3 2002). In Bezug auf Sprache bedeutet dies, dass die semantische Seite des mentalen Lexikons Teil des dem Bewusstsein zugänglichen semantischen Gedächtnisses ist, Texte und Propositionen im episodischen Gedächtnis gespeichert werden können, Grammatik und Phonologie dagegen Teil des unbewussten prozeduralen Gedächtnisses ist (Givön 2002: 10, 17ff., Knobloch 2000: 51, vgl. Levelt 1989: 11). Beim Sprechen werden sprachliche Informationen aus dem Langzeitgedächtnis ins Arbeitsgedächtnis abgerufen, zwischengespeichert und verarbeitet. Hier werden auch Sätze produziert und interpretiert. Dabei unterscheiden sich Langzeitgedächtnis und Arbeitsgedächtnis darin, dass auditive Information im Arbeitsgedächtnis länger und bevorzugter gespeichert wird als visuelle Information. Beim kurzfristigen Memorieren von Einkaufslisten tendiert man beispielsweise dazu, sich die Listen in Gedanken herzusagen, um die phonologische Information in der artikulatorischen Schleife zu halten (s. Baddeley/Gathercole/Papagno 1998, Kintsch 1982: 157-163). Im Langzeitgedächtnis allerdings ist auditive Information keine präferierte Kodierung. Hier wird eine semantische Kodierung, besonders aber Bildlichkeit, bevorzugt (Anderson 3 2001: 142, Kintsch 1982: 206-210). Die konkreten Äußerungen verharren nur kurze Zeit im Arbeitsgedächtnis in der artikulatorischen Schleife, länger behalten wird meist nur die Bedeutung, nicht die exakte sprachliche Form (Anderson 3 2001: 142, Kintsch 1982: 157-163, 196f.). Die Tatsache, dass lexikalische Konzepte Speichereinheiten des semantischen Gedächtnisses sind, bedeutet nun allerdings nicht, dass lexikalische Einheiten völlig starre Einheiten sind. Die konventionelle gespeicherte Bedeutung erzeugt zwar die Illusion einer einheitlichen kohärenten Bedeutung mit relativ klaren Kategoriengrenzen. Sie ist aber gleichzeitig flexibel (s. Geeraerts 1990: 201, Taylor 2 1995: 53), denn die lexikalische Bedeutung wird immer in mehr oder weniger starkem Maß vom Kontext moduliert (vgl. Schwarz 1992: 133). Die Unterscheidung von Inhalts- und Funktionswörtern ist auch korreliert mit der Lateralisierung der Gehirnhemisphären (hierzu Springer/Deutsch 4 1998, aber auch Ender 1994). Die linke Gehirnhemisphäre arbeitet bei den meisten Menschen eher verbal sequentiell-

9 analytisch (Ender 1994: 238-241, Springer/Deutsch "1998: 258). Die Informationsverarbeitung besteht hier in einer gezielten Konzentration auf einen routinisierten Verarbeitungsmodus. Pulvermüller (1998: 13f.) argumentiert, dass es durchaus lokale Unterschiede zwischen Nervenzellen gibt, die unterschiedliche Verarbeitungstypen favorisieren. So sind in der linken Gehirnhemisphäre wahrscheinlich eher langsamleitende Nervenfasern zu finden, die auch geringe Zeitverzögerungen erfassen und so z.B. für die Unterscheidung von Phonemen geeignet sind, neuronale Vernetzungen sind hier eher kleinräumig und damit für konzentrierte Informationsverarbeitungsprozesse geeignet (s. auch Springer/Deutsch 4 1998: 274f.). Die linke Hemisphäre ist besonders auf die automatisierte prozedurale Informationsverarbeitung wie Syntax, besonders die Produktion und Rezeption längerer Sätze und Phonologie spezialisiert (Ender 1994, Heeschen/Reischies 1981). Die rechte Hemisphäre arbeitet eher nichtverbal, global, visuell-räumlich und holistisch-gestalthaft. Die neuronale Organisation ist weit vernetzt, hier wird eher konventionalisierte, aber nicht automatisierte Information verarbeitet (Birbaumer/Schmidt 5 2003 : 694f., Springer/Deutsch 4 1998: 2 5 8 282, Zaidel 2001). Funktionswörter sind folglich viel stärker in der linken Gehirnhälfte lokalisierbar als Inhaltswörter (Ender 1994: 213f., Schwarz 1992: 52f.). Die rechte Hemisphäre besitzt dagegen die syntaktischen Fähigkeiten eines zwei- bis dreijährigen Kindes (Ender 1994: 240, 249), aber den (rezeptiven) Wortschatz eines vierzehnjährigen Jugendlichen (Birbaumer/Schmidt 5 2003 : 697, Zaidel 1972 und 1978 zit. in Heeschen /Reischies 1981: 43). Da besonders konkrete Inhaltswörter stärker ganzheitlich und damit rechtshemisphärisch gespeichert werden, scheinen Propositionen oder Merkmalslisten psychologisch als Repräsentationsmodus für solche lexikalische Konzepte eher unplausibel zu sein. Lexikalische Bedeutung kann lediglich ad hoc sekundär in Merkmale zerlegt werden. Kontextmodulationen lexikalischer Bedeutung und die Ad-hoc-Generierung von neuen Lexemen, z.B. durch Wortbildung, sind linkshemisphärisch angesiedelt und beruhen auf Prozessen des Arbeitsgedächtnisses (vgl. Cronin-Colomb 1995, Schwarz 1992: 133).

1.4

Substantive

Lexikalische und funktionale Kategorien unterscheiden sich substantiell voneinander. Funktionswörter sind an syntaktische Prozesse gebunden und werden im prozeduralen Gedächtnis gespeichert, während Inhaltswörter an Speichereinheiten des semantischen Langzeitgedächtnisses gebunden sind. Dabei handelt es sich nun um eine sehr grobe Einteilung. Da speziell Substantive Gegenstand der Arbeit sind, ist es wichtig, diese von anderen lexikalischen Wortarten abzugrenzen. Häufig wird davon ausgegangen, dass Substantive und Verben universell sind (Langacker 1991: 5, 1999: 40f., Lehmann/Moravcsik 2000: 733, s. auch Coseriu 1992: 375). Dixon (1982) konnte zeigen, dass Adjektive nicht universell sind. Dafür spricht auch die Tatsache, dass bei Versprechern häufig Adjektive durch Substantive ersetzt werden, während bei Substantiven und Verben hier die Wortart erhalten bleibt (Aitchison 3 2003: 105). Ob Substantive universell sind, ist dagegen nicht restlos geklärt. Allerdings zeigt beispielsweise das Sprachensample bei Rijkhoff (2002: 18), dass die meisten Sprachen zwischen Verben und Substantiven unterscheiden.

10 Neben typischen mit bestimmten Wortarten assoziierten Flexionskategorien scheinen Wortarten mit bestimmten Konzepten korreliert zu sein. Vor allem Konzepte für Objekte werden durch Substantive versprachlicht, Handlungen und Prozesse durch Verben, Eigenschaften durch Adjektive (Croft 2000: 89). Neurolinguistische Beobachtungen zeigen überdies, dass konkrete Nomina in visuellen Hirngebieten verarbeitet werden, Handlungsverben auch in motorischen Gebieten (Birbaumer/Schmidt 5 2003: 705, Pulvermüller 1998: 29). Allerdings versprachlichen zahlreiche Substantive und Verben auch andersartige Konzepte. Womöglich werden von typischen Konzepten ausgehend die Wortarten auch auf andere Bereiche übertragen (Langacker 1999: 40f.). Mit den typischen Konzepten hängen nun aber deutlich die Funktionen der Wortarten zusammen: Referenz ist die wichtigste Funktion von Substantiven, Modifikation die von Adjektiven und Adverben, Prädikation die von Verben (Croft 2000: 89). Die Funktionen bestimmen dabei die formalen Strukturen, nicht umgekehrt: Aber ein Wort ist offenkundig noch kein Substantiv oder Verbum, nur weil es einem bestimmten formalen Schema folgt, sondern im Gegenteil drückt es sich in einem bestimmten formalen Schema aus, weil es Substantiv oder Verbum ist [...](Coseriu 1992: 377)

Es liegt also eine starke Korrelation von Konzepten, Funktion und Morphosyntax der Wortarten vor, die allerdings offen fur Abweichungen ist. Es soll nun gezeigt werden, dass vor allem die Unterscheidung zwischen Substantiven und Verben konzeptueller Natur ist. Der Unterschied geht deutlich über rein syntaktische Eigenschaften hinaus. Eine Reihe von Unterschieden in der Verarbeitung entsprechen interessanterweise denen zwischen lexikalischen und funktionalen Kategorien, sind aber schwächer ausgeprägt. Dabei sind Substantive „lexikalischer", Verben „grammatischer" (siehe auch Gentner/Boroditsky 2001: 216). Ein Unterschied zwischen Substantiven und Verben, der auffallende Parallelen mit der Unterscheidung von Inhaltswörtern und Funktionswörtern zeigt, ist zum Beispiel die Produktivität. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von allerdings hochfrequenten Funktionswörtern gegenüber einer offenen Menge von deutlich weniger frequenten Inhaltswörtern. Innerhalb der Inhaltswörter übersteigt nun die Anzahl der Substantive deutlich die der Verben und Adjektive: Die absolute type-Anzahl der Substantive ist im Englischen und anderen Sprachen wesentlich größer als die der Verben, das Verhältnis beträgt etwa 3:1 (Aitchison 3 2003: 113, Fellbaum 1998b: 84, Gentner/Boroditsky 2001: 232). Dagegen ist die tokenAnzahl, die Häufigkeit der einzelnen Lexeme, bei Verben sehr viel höher als bei Substantiven (Gentner 1981: 163ff.). Damit liegen Verben in der Häufigkeit und Quantität zwischen den „lexikalischeren" Substantiven und den Funktionswörtern. Die größere Anzahl von Substantiven hat zur Folge, dass sie wesentlich mehr Synonyme besitzen als Verben (Langenmayr 1997: 351). Generell ist die Klasse der Substantive wesentlich offener für neue Mitglieder als die der Verben oder Adjektive. Entlehnung ist deutlich häufiger bei Substantiven anzutreffen als bei anderen Wortarten (Haugen 1972: 97), während Verben seltener entlehnt werden, noch seltener Funktionswörter. Der größere Bedarf für nominale Konzepte hat zur Folge, dass Sprachen außerdem meist mehr Wortbildungsmittel bereitstellen, um neue Substantive zu bilden als Adjektive oder Verben (vgl. Baker 2002 und Bauer 2002, s. auch Haspelmath 2002: 68). Substantive können in stärkerem Maß als andere Wortarten alle möglichen Konzepte versprachlichen, auch sehr Substantiv-untypische Konzepte (Flaux/van de Velde 2000: 1).

11 Der Vergleich funktionaler und lexikalischer Kategorien hat gezeigt, dass Inhaltswörter konzeptuell autonomer sind als Funktionswörter, die stark vom (syntaktischen) Kontext abhängen. Innerhalb der Kategorie der Inhaltswörter sind Verben stärker an den sprachlichen Kontext gebunden als Substantive. Koch (2004: 424) bezeichnet Verben deshalb als „Scharniere" zwischen lexikalischer Semantik und Satzsemantik. Verben sind relational, denn sie halten Leerstellen bereit, die im Satz gefüllt werden müssen. Sie aktivieren also ganze Frames bzw. Propositionen (Blank 2001b: 22, Engelkamp/Zimmer/Mohr 1990: 190). Sätze und Verben sind eng miteinander verwoben, da Verben die Satzstruktur bestimmen (s. Druks 2002: 313). Verben sind konzeptuell weniger autonom als Substantive (Engelkamp/Zimmer/Mohr 1990: 190). (Konkrete) Substantive sind syntaktisch und konzeptuell dagegen autonomer als Verben und daher semantisch reicher und konkreter, während Verben (und auch Adjektive) oft vage sind (s. auch Engelkamp 1988: 305f., Engelkamp/Zimmer/Mohr 1990: 190) und erst dann konkret vorstellbar werden, wenn ihre Leerstellen besetzt sind (Engelkamp/Zimmer/Mohr 1990: 191). Für die größere syntaktische und konzeptuelle Autonomie von Substantiven und die stärkere Abhängigkeit von Verben vom sprachlichen Kontext gibt es eine Reihe von Anzeichen. Bei Wortassoziationstests rufen Verben im Gegensatz zu Substantiven mehr syntagmatische als paradigmatische Antworten hervor, außerdem ist bei den Antworten die Variation größer als bei Substantiven und Adjektiven (Cramer 1968: 68f.). Bei Substantiven tauchen bei Wortassoziationstests im Gegensatz zu den anderen Wortarten meist Assoziationen mit derselben Wortart auf (Aitchison 3 2003: 105). Verben und Adjektive sind also insgesamt viel schwächer paradigmatisch organisiert als Substantive (Kleiber/Tamba 1990: 30f.), infolgedessen sind auch hierarchische Strukturen bei Verben viel schwächer ausgeprägt. Ein weiteres Anzeichen für die stärkere syntaktische Einbettung von Verben ist die Tatsache, dass Verbformen übereinzelsprachlich mehr Flexionssuffixe als Substantive aufweisen. Wenn eine Sprache nominale Flexionsmorpheme besitzt, dann besitzt sie auch verbale, nicht umgekehrt. Es gibt kaum rein nominale Flexionskategorien, die meisten sind auch verbal (Lehmann/Moravcsik 2000: 744f.). Verben sind also auch morphologisch syntagmatisch stärker eingebunden, während Substantive formal unabhängiger sind. Typische Substantive, also Konkreta, werden im Erstspracherwerb vor typischen Verben erworben (cf. Bloom 2000: 89-92). Frühe Substantive werden in der Regel ostensiv erlernt, also auch mit nur minimaler linguistischer Information (vgl. Gentner/Boroditsky 2001: 216ff.). Verben werden dagegen mit Hilfe des linguistischen Kontexts erlernt (Gentner/Boroditsky 2001: 217, Tomasello 1995). Noch später werden Funktionswörter erlernt. Im Spracherwerb und auch bei Erwachsenen sind Verben außerdem lange Zeit noch fehleranfälliger als Substantive (Gentner 1981: 162f.), sie sind schwerer ohne sprachlichen Kontext erkennbar als Substantive (Bloom 2000: 209ff.) und werden von Vorschulkindern im Gegensatz zu Substantiven häufig semantisch dem syntaktischen Kontext angepasst. Bei Missverhältnissen passen jedoch auch Erwachsene Verben eher an den Kontext an als Substantive (Gentner 1981: 165, Besson et al. 2001). Beispielsweise wird in einem Satz wie The lizard worshipped meist das Verb, nicht das Substantiv, reinterpretiert, um einen sinnvollen Satz zu erhalten. Daher geben Versuchspersonen hier häufig Paraphrasen wie The small gray reptile lay on a hot rock and stared unblinkingly at the sun (Gentner 1981: 165), lizard wird im Unterschied zu worship eher wörtlich verstanden. Bei Verben besteht also ein enger Zusammenhang mit dem syntaktischen Frame, sie sind flexibler und gleichzeitig kontextabhängiger als Substantive. Verben werden von Versuchspersonen insgesamt als

12 weniger bildlich vorstellbar eingeschätzt als Substantive (Druks 2002: 290f.). Bei Substantiven scheint dagegen zwischen Konzept und Referenten im Gedächtnis ein engerer Zusammenhang zu bestehen als bei Verben (Engelkamp 1988: 305f.). 3 Typische konkrete Substantive werden eher rechtshemisphärisch verarbeitet, also kontextunabhängig und gestalthaft, sie sind Speichereinheiten des semantischen Langzeitgedächtnisses. Verben, Adjektive, Syntax und Funktionswörter sowie Phonologie sind linkshemisphärisch angesiedelt, sie werden in der Tendenz prozedural, analytisch-sequentiell und kontextabhängiger verarbeitet (Ender 1994, Hillert 1987: 86f.). Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass Substantive „lexikalischer" und kontextautonomer und somit bessere Speichereinheiten des semantischen Gedächtnisses sind als Verben. Dies erklärt womöglich, wieso Substantive oft intuitiv als typische Lexeme betrachtet werden - und zwar von Vertretern unterschiedlichster theoretischer Ausrichtungen: [...] Ν is certainly the unmarked word class, while Ρ is the least numerous and hence plausibly the most marked. (Emonds 2000: 8, Fußnote 9) When psychologists think about the organization of lexical memory it is nearly always the organization of nouns that they have in mind. (Miller/Fellbaum 1992: 204)

1.4.1

Typische Substantive

Substantive scheinen typische Lexeme zu sein. Innerhalb der Kategorie der Substantive sind wiederum zählbare Konkreta wie Baum oder Haus zentral. Für die Typikalität zählbarer Konkreta sprechen zahlreiche Beobachtungen. So werden im Erstspracherwerb Konkreta sehr früh, zunächst ostensiv, also über visuellen Input, gelernt (Cruse 2000: 52). Aber auch Erwachsene zeigen noch klare Präferenzen für bildhafte Speichereinheiten (vgl. Hillert 1987: 37). Konkreta werden tendenziell noch vor anderen Nomina, wie z.B. Massennomina, aber auch vor typischen Verben und Adjektiven erworben (Bloom 2000: 89-92, Clark 1993: 28ff., 44, Gentner 1982). Basiskonzepte werden dabei noch vor Konkreta anderer Ebenen erlernt (Markman 1989: 70f.). Bezeichnungen für ganze Objekte werden vor solchen für Teile oder Beziehungen erlernt (Bloom 2001: 164-169, Clark 1993: 50). Objektbezeichnungen sind auch in Sprachen wie Mandarin oder Japanisch ontogenetisch primär (Bloom 2000: 91 f.), obwohl alle Substantive dieser Sprachen Transnumeralia sind und es daher keine Unterscheidung zwischen zählbaren und unzählbaren Substantiven gibt. Die Präferenz für ganze Objekte ist so stark, dass Kinder häufig sogar Adjektive als Substantive interpretieren, Massennomina als zählbare Nomina (Bloom 2000: 107). Beim Substantiv-

3

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass im Deutschen Substantive groß geschrieben werden, während in vielen anderen Sprachen nur Eigennamen groß geschrieben werden, die ja typische autonome Etiketten sind. In englischen Buchtiteln hingegen werden alle Inhaltswörter, Pronomina sowie unterordnende Konjunktionen groß geschrieben (vgl. Gibaldi 2 1998: 89f.), womöglich liegt hier eine Implikationsskala vor: Werden Verben groß geschrieben, dann werden auch Substantive groß geschrieben, werden Substantive groß geschrieben, werden auch Eigennamen groß geschrieben. In der Tat scheinen historisch zunächst Eigennamen in der Schrift markiert zu werden, dies kann dann auf Gattungsbegriffe und Substantive allgemein übertragen werden (Raible 1991: 32f.).

13 erwerb spielt also die Gestalthaftigkeit der Konzepte bis ins Vorschulalter universell eine große Rolle, später werden einzelsprachliche Präferenzen wichtiger (Imai/Gentner 1997). Insgesamt erfordert der Substantiverwerb von Konkreta eher Ostension. Untypischere Substantive werden dagegen eher über den linguistischen Kontext, z.B. durch Definitionen, vermittelt (s. auch Bloom 2000: 19Iff.). Auch psychologische Evidenz weist darauf hin, dass Konkreta die besseren Speichereinheiten und damit optimale Lexeme sind. Konkreta werden aufgrund ihrer (nach der dualen Kode-Theorie zusätzlichen) bildlichen Repräsentation von allen Substantivtypen am besten wiedererkannt und behalten (Opwis/Lüer 1996: 402). Prototypische Substantive bezeichnen physische Objekte, die gute prägnante Gestalten abgeben (zur Gestalttheorie s. Goldstein 6 2002: 183-205), d. h. ganze statische Objekte mittlerer Größe, die gut abgrenzbar von der Umgebung sind (s. auch Mayerthaler 1987: 41, Vogel 1996: 110, 154). Am besten trifft dies alles auf Konkreta auf der Basisebene zu, denn Basiskonzepte beruhen auf einer einheitlichen, aber nicht zu detaillierten Gestalt. Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung fur die Konzeptualisierung ist durchaus nahe liegend. Die visuelle Wahrnehmung ist der wichtigste, im Kortex am stärksten repräsentierte, am tiefsten verarbeitete Sinn des Menschen (Eysenck 2 2001: 13, Goldstein 6 2002 : 85, 112). In vielen Situationen scheint unser Gedächtnis eine weit höhere Kapazität für die Verarbeitung und Speicherung visueller Information zu besitzen als für akustische und abstrakt-verbale Information, wie z.B. Paivios Theorie der dualen Kodierung zeigt (Anderson 3 2001: 142). Auf der visuellen Wahrnehmung bauen wahrscheinlich höhere kognitive Prozesse auf (s. auch Arnheim 1976: 26, Murray 1995: 22f.). Es gibt zahlreiche Hinweise für analoge Speicherung und Verarbeitung von Wissen (ein Überblick findet sich bei Opwis/Lüer 1996). Das Alltagsdenken beruht insgesamt eher auf bildlicher Vorstellung und Erfahrungswissen als auf analytischen Denkprozessen (Wessells 3 1994: 346, 353), wofür eine Reihe von Beobachtungen aus der kognitiven Psychologie sprechen, z.B. der Nachweis mentaler Rotation geometrischer Figuren bei räumlichen Aufgaben (s. Johnson-Laird 1983: 146f.) oder die Tatsache, dass visuelle Analogien bei der Konzeptverarbeitung erhalten bleiben. Das Konzept ELEFANT ist „größer" als MAUS (Kintsch 1982: 206-209). So wird mehr Zeit benötigt, um Details von Konzepten kleinerer Objekte als die größerer zu konzeptualisieren. Die visuelle Konzeptbildung beginnt mit der unbewussten Wahrnehmung präkognitiver Aspekte wie Größe, Konturen, Bewegungsrichtungen. Einfache Gestalten und räumliche Tiefe werden dann zu globaleren Gestalten zusammengefasst und erst diese sind der bewussten Wahrnehmung zugänglich (Roth 5 1996: 232-237). Es ist bekannt, dass Bilder eine besondere Rolle im Langzeitgedächtnis spielen (Kintsch 1982: 206-210). Bildhafte Gestalten sind also eng verbunden mit dem deklarativen semantischen System (Sucharowski 1996: 74), zumal Konkretheitspräferenzen eher im Langzeitgedächtnis als im Kurzzeitgedächtnis zu finden sind (Paivio 1983: 314f.). Gute Gestalten sind geschlossen, kontinuierlich, klar abgegrenzt, harmonisch, einfach, nicht ambig, heben sich deutlich vom Hintergrund ab und werden schneller einem sprachlichen Zeichen zugeordnet (Blank 1997: O S HS, Murray 1995: 16). Zahlreiche Ergebnisse legen nahe, dass Konkreta vereinfachte bildhafte Gestalten zugrunde liegen, die so erinnert und auch weiterverarbeitet werden können (Ender 1994: 267-276). Konkreta mit möglicher bildlicher Repräsentation werden daher besser behalten als Abstrakta (Opwis/Lüer 1996: 402, Paivio 1983). Auch die schnelle Verarbeitung aus logischer Sicht eigentlich semantisch komplexer Wörter spricht für eine

14 holistische Speicherung von Lexemen. Die Dekomposition ist dabei fakultativ und wird nur bei Bedarf vorgenommen (Schwarz 1992: 89). Das deklarative semantische Gedächtnis und das prozedurale Gedächtnis bevorzugen also unterschiedliche Repräsentationsmodi. Parallele semantische Eigenschaften von Simplizia und Propositionen sind daher unwahrscheinlich. Die Zerlegung von Wortbedeutung in Merkmale ist eine intellektuell anspruchsvolle Arbeit, wie Lexikologen und Lexikographen bestätigen können, und dient nicht der Repräsentation von Wortbedeutung von Konkreta im Langzeitgedächtnis, sondern wird lediglich sekundär bei Bedarf hergeleitet. So kann Wortbedeutung im Diskurs modifiziert werden oder auch analysiert werden, das trifft besonders auf regelhafte Polysemie zu, die nicht unbedingt gespeichert sein muss (Cruse 1986: 6871). Typische Substantive sind auch die natürlicheren Substantive. Nun ist eine Natürlichkeitstheorie des Lexikons bisher wenig ausgebaut, sicher ist jedoch anzunehmen, dass natürliche unmarkierte Lexeme solche für ganzheitliche, nicht weiter analysierbare bildhafte Konzepte sind (vgl. Kilani-Schoch 1988: 38f„ Mayerthaler 1987: 44-47). Ganz ähnlich argumentiert Geeraerts (1999: 105), der vorschlägt, eine lexikalische Natürlichkeitstheorie auf der Prototypensemantik aufzubauen. Die Typikalität von Konkreta schlägt sich auch in der Morphologie nieder. Konkreta, jedenfalls solche auf der Basisebene, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt werden wird, sind im Gegensatz zu untypischen Substantiven wie z.B. Nomina actionis meist kurze unmarkierte Simplizia (vgl. Croft 2000: 89, Mayerthaler 1987: 45f.).

1.4.2

Atypische Substantive

Substantive können im Gegensatz zu anderen Wortarten alle denkbaren Konzepte ausdrücken, auch für Substantive sehr atypische Konzepte, zum Beispiel Qualitäten wie fr. blancheur ,Weiße' oder honte ,Güte' oder auch Handlungen wie lecture ,Lektüre' oder achat ,Kauf (vgl. Flaux/van de Velde 2000: 1). So gibt es neben zählbaren Konkreta zahlreiche abweichende Substantivtypen. Kontinuativa, Kollektiva und Abstrakta sind untypische Substantive, die fast gleichzeitig mit Verben relativ spät erworben werden (Gentner 1982: 307). Interessanterweise setzt sich also das Kontinuum zwischen Funktionswörtern und Inhaltswörtern, Verben und Substantiven bis in die Kategorie der Substantive fort. Atypische Substantive sind markierter als die ontogenetisch und phylogenetisch primären holistisch-rechtshemisphärisch gespeicherten Konkreta (s. auch Mayerthaler 1987: 41). Worin weichen nun die verschiedenen atypischen Substantive von typischen Substantiven ab? Unzählbaren Substantiven, d. h. Massennomina wie sp. harina ,Mehl' und Kollektiva wie sp. rebano ,Herde' liegen, wenn überhaupt, schlechte Gestalten zugrunde. Massennomina und viele Kollektiva bilden keine geschlossenen stabilen Gestalten mit einer spezifischen Kontur, sie erscheinen daher insgesamt weniger konkret (Kleiber 1994a: 61). Sowohl Kollektiva als auch Massennomina können außerdem intern komplex sein, vor allem Kollektiva wie z.B. fr. troupeau ,Herde' vereinen Individuen zu einer Gesamtgestalt und sind so komplexer als die einfachen geschlossenen Gestalten der typischen Substantive wie fr. table ,Tisch' oder chat ,Katze' (vgl. Langacker 1990: 63-70). Kollektiva wie troupeau ,Herde' können außerdem eine starke relationale Komponente enthalten, da das Kollektivum erst durch die Verbindung mehrerer Individuen untereinander konstituiert wird. Sehr

15 generische Kollektiva wie groupe ,Gruppe' sind außerdem nicht absolut, denn sie brauchen wenigstens implizit eine Ergänzung, wenn sie in nicht-mathematischem Sinn gebraucht werden (Flaux/van de Velde 2000: 61). Zahlreiche Kollektiva gehören so zu den relationalen Substantiven, die in ihrer Referenz von anderen Entitäten abhängen. Sie halten Leerstellen bereit, d. h. sie sind über Beziehungen zu anderen Substantiven definiert. Die Leerstellen müssen häufig implizit oder explizit besetzt werden (Kubczak/Schumacher 1998, vgl. Lehmann/Moravcsik 2000: 748). Relational sind neben vielen Kollektiva z.B. auch Verwandtschaftsbezeichnungen, (Körper)teilbezeichnungen, deverbale und deadjektivische Substantive. Im Unterschied zu Verben oder Präpositionen, die eine Beziehung selbst bezeichnen, bezeichnen relationale Substantive jedoch häufig die Einheiten selbst, die Referenten entsprechen also guten Gestalten, sie sind allerdings konzeptuell über ihre Beziehung zu anderen Einheiten definiert, eine Tante ist Tante kraft ihrer Nichten oder Neffen. Auch Teilbezeichnungen sind relational, denn ein Teil ist immer ein Teil eines Ganzen und kann ohne das Ganze nicht existieren, so ist eine Kante immer ein Teil einer Figur. Daher sind viele Partitiva semantisch und bisweilen syntaktisch nicht autonom: (2)

*J'ai vu un bord ,Ich habe einen Rand gesehen' (Flaux/van de Velde 2000: 42)

Noch untypischere Substantive sind Nomina actionis wie fr. destruction ,Zerstörung' und Nomina qualitatis wie fr. blancheur ,Weiße'. Diese Substantive drücken Vorgänge oder Eigenschaften aus (vgl. Bosque 1999: 51, Leisi 4 1971: 27f.). Erst wenn die Leerstellen besetzt sind, sind sie sinnlich vorstellbar (zum Problem der Konkretheit vs. Abstraktheit s. Kleiber 1994a: 48-64). Die generische Lesart wie in Die Zerstörung ist eine Tätigkeit (Seiler 1986: 38) ist daher häufig problematisch. Der Grund besteht darin, dass solche Substantive wie Sätze zur Aktualisierung tendieren. Sie sind insgesamt referentiell nicht stabil, da ihre Referenz sehr stark kontextuell bestimmt wird (vgl. Kleiber 1981: 45f.). Genau genommen handelt es sich um Prädikate, die in Argumente verwandelt werden. Sehr wahrscheinlich werden sie wie andere untypische Substantive jedoch metaphorisch wie Objekte behandelt, d. h. semantisch reifiziert (s. Talmy 2000: 43f.). Abstrakta im eigentlichen Sinn sind dagegen nicht sinnlich wahrnehmbar, z.B. Zeit, Sinn, Wesen, Grammatik (s. Kleiber 1981: 65). Sie sind von anderen Konzepten unabhängig, während Nomina actionis z.B. für die Referenz von anderen Konzepten abhängig sind (Kleiber 1981: 65, vgl. auch Flaux/van de Velde 2000: 74). Die eigentlichen Abstrakta sind also konzeptuell autonom, aber nicht sinnlich wahrnehmbar. Ihnen liegt keine visuelle Gestalt zugrunde, sie werden aber möglicherweise ebenfalls metaphorisch reifiziert. 4

4

Langacker postuliert ein Substantivschema THING, das allen Substantiven zugrunde liegt und das im visuellen System verankert ist, da es metaphorisch vom Prototypen des physischen Objektes abgeleitet ist (Langacker 1987: Kap. 5), denn auch bei der Nominalisierung entsteht der Eindruck, dass Information gebündelt und reifiziert wird. Bolinger drückt dies folgendermaßen aus: „The quality of the noun is that it captures a concept on the wing and holds it still for inspection. Nouns name things because children leam the solid world first, and go on to solidify mentally whatever they think or talk about." (Bolinger 1980: 27)

16

1.5

Grammatikalisierung vs. Lexikalisierung

Im Gegensatz zum ungesteuerten natürlichen semantischen Wandel durch Grammatikalisierung wurden bisher die Besonderheiten des natürlichen semantischen Wandels im Lexikon kaum untersucht. Den natürlichen, d. h. ungesteuerten, unbewussten lexikalischen Wandel, dessen Besonderheiten auf den folgenden Seiten behandelt werden, nenne ich in Analogie zur Grammatikalisierung Lexikalisierang (ein entsprechender Vorschlag stammt auch von Moreno Cabrera 2 2004: 249-254). Lexikalisierung wird außerdem abgegrenzt von nichtnatürlichem lexikalischen Wandel, der z.B. durch fachsprachlichen Einfluss, Sprachkontakt oder Sprachnormierung lexikalische Einheiten verändert (vgl. Wurzel 1994a: 99). Grammatikalisierung ist der in den letzten Jahren am intensivsten erforschte Typ nicht bewusst initiierten, nicht intendierten und (in der Regel) nicht durch Sprachkontakt verursachten semantischen Wandels (vgl. Wurzel 1994a: 99). Ausgangspunkt der Grammatikalisierung sind innovative expressive Diskursstrategien (Detges Ms.: 31-38, 427). Dabei handelt es sich in der Regel um ganze Konstruktionen, nicht nur isolierte Lexeme (Himmelmann 2004: 31). Bei der Entstehung des Futurs auf der Grundlage von Verben der Fortbewegung wie z.B. aller ,gehen' + Infinitiv im Französischen und ir α ,gehen zu' + Infinitiv im Spanischen unterstreicht der Specher zunächst expressiv durch die Benutzung von Bewegungsverben seine Bereitschaft und dezidierte Absicht, etwas zu tun, da die Tatsache, dass man sich an einen bestimmten Ort begibt, der erste konkrete Schritt vieler Handlungen ist (Detges Ms.: 147-187). Die Betonung des unmittelbaren Beginns einer Handlung dient als Beglaubigung des sicheren Eintreffens eines Ereignisses in der Zukunft. Das Gesagte steht dabei in kontiger Beziehung zum Gemeinten. Wird die Innovation von einer kritischen Masse an Sprechern als Strategie übernommen und auch in Kontexten eingesetzt, in denen die Fortbewegung nicht Teil einer zukünftigen Handlung sein kann, reanalysiert der Hörer die Bedeutung als Futur (Detges Ms.: 159-187). Die Reanalyse wird dabei durch das Prinzip der Referenz gesteuert (Detges/Waltereit 2002: 156): Assume that the conventional semantics of the sound chain you hear corresponds to what seems to be meant in the situation. (Detges/Waltereit 2002: 156)

Heine/Kuteva (2002) stellen zahlreiche Grammatikalisierungspfade vor. Da Substantive im Mittelpunkt der Arbeit stehen, bietet es sich an, besonders einige Grammatikalisierungsprozesse von Substantiven zu betrachten. Ein häufiger Grammatikalisierungspfad verläuft beispielsweise von Körperteilbezeichnungen zu Präpositionen (vgl. Heine/Kuteva 2002), also gerade eher untypische relationale Substantive sind hier Quelllexeme für Grammatikalisierungsprozesse. Gruppenkollektiva wie z.B. sp. grupo ,Gruppe' oder manada ,Herde' können durch Grammatikalisierung quantifizierende Kraft bekommen (Bosque 1999: 2 3 26). Typischerweise gewinnt bei der Grammatikalisierung oft gerade die Relationalität der Substantive die Oberhand, konkrete visuelle Information geht dabei verloren. Adpositionen wie z.B. fr .face ä ,angesichts, gegenüber' bezeichnen nur noch die relative Position eines Gegenstandes, Quantoren wie una manada ,eine Menge' nur noch abstrakte Quantitäten. Bei der zunehmenden Konventionalisierung und Routinisierung grammatischer Konstruktionen ist ein starker Frequenzanstieg verbunden mit Obligatorisierung, d. h. prozedural gesehen Automatisierung, zu beobachten. Es entstehen unbewusste, hochfrequente Rou-

17 tinen (Detges Ms.: If.)· Die Routinisierung und Konventionalisierung wird begleitet von einem Wechsel des Gedächtnistyps. Diskursstrategien, die zunächst Ad-hoc-Bildungen des Arbeitsgedächtnisses bestehend aus statischen deklarativen lexikalischen Einheiten sind, werden routinisiert. Durch die Memorisierung, Reanalyse und Konventionalisierung von strategisch eingesetzten Konstruktionen in konkreten Äußerungen entsteht schließlich prozedurales, automatisiertes und damit dem Bewusstsein weniger zugängliches Wissen (vgl. Givön 2002). Nach dem ACT-Modell (Adaptive Control of Thought) von Anderson (s. Anderson 1983) wird deklaratives Wissen durch häufige Übung prozedural (s. auch Seel 2000: 215). Besonders bei motorischen Abläufen spielt die Routinisierung eine große Rolle. Durch Übung werden die Bewegungsabläufe verinnerlicht und automatisiert. Auch Sprechen wird geübt und dadurch routinisiert. Es wäre unökonomisch, wenn Sprechen nur auf deklarativem Wissen beruhen würde, da dieses Aufmerksamkeit verlangt, während prozedurales Wissen im Hintergrund ablaufen kann und damit sehr robust, also wenig störungsanfallig, ist (vgl. Gruber/Mandl 1996: 595-603). Dies erklärt auch, wieso Grammatikalisierung unidirektional ist. Ursprünglich expressive, nun routinisierte Konstruktionen können nicht oder nur unter Anstrengung wieder expressiv und bewusst gemacht werden (Haspelmath 1999, s. auch Lehmann 2002: 14f.). Will man grammatische Regeln formulieren, so ist das nur durch eine bewusste Ent-Automatisierung, oft mit Hilfe der Schrift, sekundär möglich, d. h. prozedurales Wissen muss in deklaratives Wissen verwandelt werden. Umgekehrt garantiert beim Zweitspracherwerb die Kenntnis grammatischer Regeln noch nicht die flüssige Beherrschung einer Sprache (Knobloch 2000: 5). Mechanismen des semantischen Wandels, die man bei Grammatikalisierungsprozessen beobachtet, wie Metonymie oder auch taxonomische Generalisierung finden sich zwar auch im Lexikon, dennoch ist Grammatikalisierung nicht einfach ein spezieller Fall von Bedeutungswandel, wie Hopper/Traugott (1993: 97) oder auch Traugott/Dasher (2002: 283) annehmen, denn Grammatikalisierung ist außerdem Prozeduralisierung. Der lexikalische Bedeutungswandel, besonders die Frage nach seiner Universalität, wurde bisher lang nicht so systematisch untersucht wie Grammatikalisierungsprozesse: Diachronic phonologists and diachronic semanticists have not even begun collecting the systematic cross-linguistic data that would allow us to arrive at empirically well-founded universals of sound change and universals of lexical semantic change. Whereas for grammaticalization we now have Heine & Kuteva's (2002) World Lexicon of Grammaticalization, we are still waiting for a World Lexicon of Sound Change and a World Lexicon of Lexical-Semantic Change. [...] In all these areas we are far from really understanding language change. (Haspelmath 2004: 26f.)

Auf den folgenden Seiten soll in Analogie zur Grammatikalisierung Evidenz für das Phänomen der Lexikalisierung diskutiert werden, eines unidirektionalen nicht intendierten Bedeutungswandels, durch den sprachliche Einheiten stärker ins Lexikon integriert werden (vgl. auch Wurzel 1994a). Lexikalischer Bedeutungswandel scheint auf den ersten Blick wesentlich heterogener zu sein als grammatischer Bedeutungswandel, denn das Lexikon ist im Gegensatz zur Grammatik generell bewusstem Wandel zugänglich und prinzipiell für alle vorstellbaren Konzepte offen. Lexeme können außerdem durch die unterschiedlichsten Mechanismen wie Entlehnung, Wortbildung und Bedeutungswandel und alle Kombinationen dieser Mechanismen entstehen (Gevaudan Ms: 60-70, Koch 2001a: 19). Bei der Kontextmodulation bestehender lexikalischer Einheiten, aber auch bei der Entstehung völlig neuer lexikalischer Einheiten werden durch Prozesse des Arbeitsgedächtnisses wie z.B.

18 Komposition, Abstraktion, Detailmodifikation etc. ad hoc neue Konzepte geschaffen. Diese Konzepte können sehr substantivuntypisch sein, da sie noch keine Einheiten des Langzeitgedächtnisses sind, sondern Ergebnis von Prozessen des Arbeitsgedächtnisses (Zaidel 2001: 1, 19, vgl. auch Klix 1984: 11). Meist wird Lexikalisierung als Idiomatisierung bzw. Fossilisierung morphologisch durchsichtiger Wörter zu morphologisch nicht mehr analysierbaren Wörtern definiert (Himmelmann 2004: 34-37, Lehmann 2002: 13, Lipka 1977: 155, 161). Als Lexikalisierung in Analogie zur Grammatikalisierung bezeichne ich in Anlehnung an Blank (2001a: 1603) und Wischer (2000: 358f.) darüber hinaus alle semantischen, morphologischen, syntaktischen und phonologischen Prozesse, durch die neue lexikalische Einheiten, d. h. sowohl Simplizia mit neuen Bedeutungen als auch Entlehnungen und Wortbildungsprodukte, ins Lexikon integriert werden oder noch lexikalischer werden. Nach Himmelmann (2004: 38) sind diese Prozesse Fälle von Konventionalisierung und werden daher wie Grammati kalisierungsprozesse von morphologischer Fusion und phonologischer Erosion begleitet. Im Gegensatz zur Grammatikalisierung ist hier jedoch nur eine einzelne Lexie, nicht auch der syntagmatische Kontext, d. h. eine ganze Konstruktion, von der Konventionalisierung betroffen. Es soll gezeigt werden, dass ganz bestimmte Pfade des Bedeutungswandels die Lexikalisierung begleiten. Lexikalisierungsprozesse werden in dieser Untersuchung eine wichtige Rolle für die Erklärung von lexikalischem Wandel bei der Entstehung und dem Zerfall von Hierarchien spielen. Wie auch bei der Grammatikalisierung beginnt die Lexikalisierung mit einer Innovation auf der Diskursebene. Im Unterschied zur Grammatikalisierung handelt es sich allerdings nicht um eine syntaktisch komplexere Konstruktion, die einer Kommunikationsstrategie dient, sondern (in der Regel) um ein neues Wort oder zumindest ein spezielles Syntagma, das häufig ein neues Konzept versprachlicht. Die Versprachlichung kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise erfolgen: durch Bedeutungswandel aus einer bestehenden lexikalischen Einheit, aber auch durch Wortbildungsprozesse und Entlehnung. Gerade viele Wortbildungsverfahren, z.B. Nominalisierungsverfahren und Komposition, aber auch Bedeutungswandelmechanismen wie Metapher und Metonymie, sind sehr produktiv, neue lexikalische Einheiten werden so häufig ad hoc im Diskurs gebildet und nur in Ausnahmefallen ins permanente Lexikon aufgenommen. Auf einer Party kann ein Sprecher zum Beispiel ad hoc das Kompositum Getränketisch schaffen, um auf den Tisch, auf dem die Getränke stehen, zu referieren. Auf Diskursebene sind kreativen Prozessen kaum Grenzen gesetzt (s. Durafour 2001: 160). Neue Bezeichnungen werden meist analytisch über etabliertere Konzepte (bzw. lexikalische Einheiten) konzeptualisiert. So ist Getränketisch aus seinen Bestandteilen und dem Kontext verständlich. Durch Innovation können sehr unterschiedliche Konzepte versprachlicht werden, im Bereich der Substantive beispielsweise auch für Substantive sehr untypische Konzepte wie Prozesse oder Eigenschaften im Falle von Nomina actionis oder Nomina qualitatis. Diese werden oft auch rhetorisch eingesetzt, um auf eine besondere Art und Weise auf konkrete Gegenstände zu referieren. Im Unterschied zu den expressiven Kommunikationsstrategien, die den meisten Grammatikalisierungsprozessen zugrunde liegen, handelt es sich hier nicht unbedingt um expressive Strategien der Ad-hoc-Kategorisierung von Referenten. Wie auch bei Grammatikalisierungsprozessen kommt jedoch bei der Lexikalisierung das Referenzprinzip zum Zug, denn Hörer reanalysieren diese Lexeme bei häufigem Auftreten. Da Substantive häufig dazu dienen, um auf Gegenstände zu referieren, extrahiert der Hörer hier im Unterschied zur Grammati-

19 kalisierung vor allem gute visuelle Gestalten. Der Zugang zum Referenten wird so häufig direkter. Beispielsweise sind transparente Wortbildungsprodukte über ihre Komponenten definierbar, ein Küchenstuhl ist ein in der Küche verwendeter Stuhl. Lexikalisierte Komposita dagegen beruhen eher direkt auf einem v o m Referenten abstrahierten, globalen und wenn möglich gestalthaften Konzept und sind nicht mehr so leicht verbal definierbar. Ein Rollstuhl ist wesentlich mehr als ein Stuhl, der rollt (s. Ungerer/Schmid 1998). Aus einer analytischen Konzeptualisierung entsteht so bei Konventionalisierung ein holistisches Konzept (Lehmann 2002: Iff.). Unidirektionale Pfade des Bedeutungswandels sind besonders aus der Grammatikalisierungsforschung bekannt, aber es gibt eine Reihe von Arbeiten (z.B. Blank 2001a, Breal 7 1924, Brown 2001, Koch 1999b, Sweetser 1990), die nahe legen, dass es solche regelmäßigen Trampelpfade des Wandels auch im Lexikon gibt. In den letzten Jahrzehnten wurden besonders deverbale Nominalisierungsverfahren eingehend untersucht. Nomina actionis sind sehr produktiv, also geeignet fur Ad-hoc-Bildungen im Diskurs. Ein Prozess wird durch Nominalisierung reifiziert, z.B. fr. achat , K a u f oder sp. compra , K a u f . Der Prozess wird als statische Entität konzeptualisiert. Je schwächer solch ein Substantiv lexikalisiert ist, desto eher müssen die Leerstellen gefüllt werden: (3)

Er ging gerade aus seinem Zimmer hinaus. *Beim Verlassen stolperte er. (Kubczak/Schumacher 1998: 279)

Daher finden sich meist Verwendungen mit besetzten Leerstellen: 127 (4)

[...] ayudaba a su esposo en la compra de los plätanos [...] (La Naciön (13/10/1996): „Paciente fallecida", Costa Rica, CREA) 5

Bei zunehmender Lexikalisierung gehen die durch das zugrunde liegende Verb bereitgestellten Leerstellen verloren. Das Substantiv kann dann auch ohne explizit oder implizit gefüllte Leerstellen verwendet werden: (5)

Cuando nazca el nino, tendräs que ocuparte de la compra tu sola [...] (Sänchez (1995): Et palacio varado, CREA) 6

Nomina actionis erfahren so eine zunehmende Typisierung. Aus der individuierten Proposition wird ein Konzept, aus dem Ereignis wird ein Sachverhalt ohne räumliche und zeitliche Situierung (Lehmann 1982). Der Verbframe wird dabei immer weiter reduziert, Leerstellen werden optional oder fallen völlig weg. Das Substantiv wird immer absoluter, autonomer und weniger relational. Noch auffälliger ist die Konkretisierung von Nomina actionis, z.B. entwickelt sich aus l'achat ,das Einkaufen' die Bedeutung ,das Eingekaufte, der K a u f (s. Blank 1997: 393f.), ebenso sp. compra ,das Einkaufen, das Eingekaufte'. Diese sind typischere Substantive, da sie auf Gegenstände referieren. Allerdings sind sie häufig noch nicht völlig typisch, da sie Referenten nicht aufgrund inhärenter visueller Merkmale klassifizieren, sondern aufgrund des Vorkommens in einem Frame. Achat ,das Eingekaufte' kann auf jeden Referenten

5 6

,[...] sie half ihrem Mann beim Einkauf der Bananen [...]' ,Wenn das Kind auf die Welt kommt, musst du dich allein um den Einkauf kümmern [...]'

20 referieren, der Gegenstand eines Kaufaktes ist. Bei weiterer Lexikalisierung können, ebenfalls durch das Referenzprinzip, inhärente Eigenschaften der Referenten Teil der Substantivbedeutung werden. So wird aus asp. ropa ,Beute' sp. ropa ,Kleidung', dessen Bedeutung sich auf inhärente Eigenschaften der Referenten stützt. Meist handelt es sich, wie in Kapitel 3 gezeigt werden wird, um Gestalten, die auf der Basisebene angesiedelt sind. Bereits Breal ( 7 1924: 137-142), Collin (1918: 54f.) und Paul ( 10 1995: 99f.) beobachteten die regelmäßige Konkretisierung von Abstrakta und Nomina actionis und qualitatis und die Seltenheit des entgegengesetzten Prozesses. Den Wandel vom Nomen actions zum konkreten Substantiv nennt Breal ( 7 1924: 137) „epaississement du sens". In der Tat ist eine intensionale Verdichtung typisch für Substantive. Laut Breal ( 7 1924: 120f.) und Collin (1918: 54f.) findet sich der Prozess der Abstraktion dagegen häufiger bei Verben. Bemerkenswert bei diesen Beobachtungen ist aber außerdem, dass sie in Verbindung gebracht werden mit bestimmten soziokulturellen Situationen. Breal ( 7 1924: 140) stellte fest, dass Abstrakta, aber auch Nomina actionis, konkretisiert werden, sobald sie aus Religion, Wissenschaft und Institutionen in die Gemeinsprache integriert werden. Während also die Entstehung von Abstrakta und in gewissem Maß auch von Nomina actionis auf Grund des distanzsprachlich präferierten Nominalstils an die Hochsprache gebunden zu sein scheint, dominiert in Zeiten des kulturellen Umbruchs und Traditionsverlusts die Konkretisierung. Natürlicher semantischer Wandel, ob nun Grammatikalisierung oder Lexikalisierung, ist ein typisch nähesprachliches Phänomen. Wie auch zahlreiche Grammatikalisierungsprozesse sind die semantischen Wandelprozesse von Nomina actionis zu Konkreta metonymische Wandelprozesse, die in Frames stattfinden (s. Koch 1999a: 147). Oft geht die Lexikalisierung sehr schnell und unauffällig vor sich und ist häufig bereits Teil von Innovationen. Bei Konversionen wird beispielsweise aus einem Adjektiv eine Personenbezeichnung. Dabei findet in vielen Fällen eine semantische Anreicherung statt. Das Substantiv liberal in John is α liberal wurde in einer Befragung von Versuchspersonen als semantisch reicher beurteilt als das Adjektiv in John is liberal, da es zusätzlich zur Adjektivbedeutung stereotypische Informationen übermittelt (Markman 1989: 122-125). Eng. blonde ,Blondine' bezeichnet nicht einfach Menschen mit blonder Haarfarbe, sondern typischerweise blonde, attraktive, glamouröse Frauen (Wierzbicka 1988: 472). Auch bei Tests mit Kindern wurde ein entsprechender Unterschied zwischen Substantiven und Adjektiven festgestellt (Markman 1989: 128ff.). Auch der Verlust der Relationalität von Substantiven ist ein Fall von Lexikalisierung, beispielsweise zu beobachten in der Entwicklung der Verwandtschaftsbezeichnung sp. tio ,Onkel' zu tio ,Typ' (MOL) 7 . Auch beim Spracherwerb und in der Umgangssprache wird die Relationalität leicht aufgehoben zugunsten einer reicheren autonomen Gestalt mit inhärenten, oft perzeptuellen Eigenschaften. Eng. uncle wird von Kindern zunächst häufig als absolutes Substantiv interpretiert, z.B. mit der Bedeutung .freundlicher Mann mit Pfeife' (Keil 1989 zit. in Gentner/Boroditsky 2001: 222). Bei Befragungen werden fur solche Substantive wie z.B. auch Großmutter oft zunächst visuelle Charakteristika von Referenten angegeben, die mit der Verwandtschaftsbeziehung nichts zu tun haben, z.B. „alte, weißhaa-

7

Dieses Substantiv nimmt nach Verlust der Relationalität dann allerdings pragmatische Funktionen als Platzhalter an und wird so wieder Lexikon-untypisch, s. 5.3.

21 rige Frau", die der schnellen Kategorisierung dienen. Erst bei einer reflektierten Kategorisierung werden relationale Eigenschaften bevorzugt (Weinert/Waldmann 1988: 168). Umgekehrt geht bei der Verwandlung von Substantiven in andere Wortarten eher Information verloren. Das Substantiv Winter bezeichnet die Jahreszeit mit all ihren Eigenschaften wie Wetter, Feiertagen und typischen Aktivitäten. Das hiervon abgeleitete Adjektiv winterlich bezeichnet dagegen nur einzelne klimatische Eigenschaften, es erfahrt also im Vergleich zum Substantiv eine „deconcentration" (Coseriu 1968: 14). Durch das Referenzprinzip werden also Substantive immer autonomer, semantisch stabiler und bildlicher. Die Existenz eines sprachlichen Zeichens, besonders eines Substantivs, suggeriert womöglich die Existenz eines einzelnen Dings, vor allem konkrete Referenten unterstützen dabei die Tendenz zur Verdinglichung auch bei Simplizia (Lipka 1977: 161). Dagegen beobachtet man Leerstellengewinne und zunehmende syntagmatische Bindungen typischerweise bei Grammatikalisierungsprozessen, z.B. bei der Entstehung von Präpositionen. Hier wird gerade die Relation, z.B. die Lokalisierung eines Körperteils relativ zum Ganzen, zur Hauptbedeutung. Typische Pfade der Lexikalisierung von Substantiven weisen also klare Tendenzen auf: analytisch abstrakt relational dynamisch temporär komplexe Gestalt

—> holistisch —> konkret —> absolut —» statisch —> konstant —»einfachere Gestalt

Während bei der Grammatikalisierung die Prädikativität wächst, wächst bei der Lexikalisierung die Indikativität (Moreno Cabrera 2 2004: 249-254). Aus untypischen Substantiven werden typische Substantive. Blank (1997: 246) stellt fest, dass die Konkretisierung von Abstrakta oder Nomina actionis, also typische Fälle der Lexikalisierung, auf Metonymie beruhen. Wie auch bei der Grammatikalisierung (vgl. Detges/Waltereit 2002: 165-168) spielt auch bei der Lexikalisierung offensichtlich nach bisherigen Beobachtungen die Metapher keine Rolle. In den folgenden Kapiteln wird gezeigt werden, dass auch taxonomischer Wandel hier bedeutsam ist. Die Lexikalisierung von Adjektiven und Verben müsste dagegen gesondert untersucht werden. Gehen Substantive ins semantische Langzeitgedächtnis über, so erweisen sich manche Eigenschaften der Ad-hoc-Konzepte als ungünstig für die Speicherung. Günstig sind rechtshemisphärisch verarbeitete bildhafte Konzepte, da Bilder ideale Speichereinheiten des Langzeitgedächtnisses sind (vgl. Kintsch 1982: 206-210, Paivio 1983: 314f.). Auch Frames sind gut geeignet als Einheiten des Langzeitgedächtnisses, allerdings sind diese komplexer als einfache visuelle Gestalten. Daher beruhen typische Substantive nach der Reanalyse meist auf einfachen Gestalten und so verblassen Frames oft bei zunehmender Lexikalisierung. So wie Prozeduren bei der Routinisierung weiter optimiert werden, werden auch Gestalten bei zunehmender Konventionalisierung optimiert, sie werden noch pointierter, und gleichzeitig durchschnittlicher (Arnheim 1976: 88, Wulf 1922 zit. in Murray 1995: 55). Wulf zeigte Versuchspersonen verschiedene Zeichnungen. Als sie diese einige Zeit später nachzeichneten, wurde im Vergleich zur Vorlage sowohl Assimilation, Harmonisierung,

22 Symmetrisierung und Vereinfachung als auch Pointierung und Kontrasterhöhung beobachtet (Metzger 1986: 130-160, Wulf 1922 zit. in Murray 1995: 55-58). Diese bildliche Konzeptformation scheint automatisch vor sich zu gehen, denn Schemata ohne räumliche Tiefe sind schon in Kinderzeichnungen angelegt und auch in der Geschichte der Malerei ist zu beobachten, dass die frühe bildende Kunst sehr schematisch ist, perspektivische Darstellungen gewinnen erst in der Renaissance die Oberhand (Arnheim 1976: 270f.). Die Präferenz des Langzeitgedächtnisses für holistische visuelle Informationen, besonders Konturen, bestimmt also zumindest das substantivische Kernlexikon, und so bekommt das Prinzip der Referenz im Lexikon eine spezielle Bedeutung. Bei Lexikalisierung bewirkt das Referenzprinzip, dass bei einem konzeptuell komplexen Konzept durch hörerseitige Reanalyse einer Ad-hoc-Kategorie die Bedeutung direkt vom Referenten abgeleitet wird, wodurch eine semantische Abkürzung entsteht. Der Zugriff auf lexikalisierte Elemente ist daher holistisch, nicht kompositional (Lehmann 1995b: 1263). Die Bedeutung von Wortbildungsprodukten 8 nimmt eine eigene konkrete Gestalt an und wird so von ihren Ausgangselementen semantisch unabhängig. Aber auch alle anderen Prozesse, durch die über Reanalyse typischere stabilere Lexeme entstehen, sind Lexikalisierungsprozesse, durch die konzeptuell autonomere Bedeutungen entstehen. Allerdings stellen Lexikalisierungsprozesse nur einen Teil der zu beobachtenden lexikalischen Wandelprozesse dar. Nicht-natürlicher Bedeutungswandel kann wie Wortbildungsund Entlehnungsprozesse Rohstoff für die Lexikalisierung liefern. Während jedoch Wortbildungsverfahren sowie Entlehnung klar Verfahren der Innovation sind, deren Produkte durch Lexikalisierung ins Lexikon integriert werden können, die aber per se keine Lexikalisierungsprozesse darstellen, ist es deutlich schwieriger, bei Verfahren des reinen Bedeutungswandels Lexikalisierung von anderen Prozessen abzugrenzen. Ein Fall von lexikalischem Bedeutungswandel ohne Lexikalisierung sind meines Erachtens Metaphern, da diese sehr häufig auch bewusst dazu eingesetzt werden, abstrakte Konzepte durch konkrete zu konzeptualisieren (s. auch Paul 101995: 94-97). Sie dienen dazu, eher untypische, besonders abstrakte Konzepte zu versprachlichen. Dies heißt nicht, dass es sich bei der Metapher um ein marginales Verfahren handelt, im Gegenteil. Nicht nur bei Lexikalisierung ist Polygenese zu beobachten, auch viele Metaphern entstehen polygenetisch (s. Lakoff/Johnson 1980, 1999: Kap. 4), neben abstrakten Konzepten wie VERSTEHEN aus physischen Konzepten wie ERGREIFEN auch Konkreta wie Bezeichnungen für KOPF aus Bezeichnungen für runde Gefäße (Blank 1998). Auch Innovationsprozesse, die auf bewussten Kategorisierungsprozessen beruhen, sind häufig polygenetisch. Bei taxonomischem Wandel, d. h. Bedeutungsspezialisierung und -generalisierung, ist die Beantwortung der Frage, ob es sich um Lexikalisierung handelt, komplexer. Laut Breal

8

Der Status der Wortbildungsmorphologie, die j a wie die Syntax kompositional ist und hauptsächlich der Schaffung neuer motivierter Einheiten dient, ist ambig. Der Unterschied zwischen Wortbildungsprozessen und Flexion bzw. Syntax besteht darin, dass Wortbildungsprodukte im Unterschied zu Propositionen leichter konventionalisiert werden und stärker dem Sog der Lexikalisierung ausgesetzt sind. So können ganze Paradigmen bzw. Derivationsaffixe lexikalisiert werden, so wird beispielsweise neben den älteren abstrakteren Bedeutungen fr. -isme in ganzen Reihen spezialisiert auf die Ableitung von Bezeichnungen von Ideologien (Laca 2001: 1217, 1222). Solche Lexikalisierungsmuster sind also zwischen freier Innovation durch Wortbildung und Lexikalisierung einzelner Elemente anzusiedeln.

23 ist Bedeutungserweiterung historisch bedingt, wie z.B. der Wandel von lat. pecunia ,Viehreichtum' zu pecunia ,Reichtum' oder lat. spatium .Rennbahn' zu lat. spatium ,Raum' nahe legen (Breal 7 1924: 117-123). Bedeutungsverengung ist nach Ansicht Breals natürlich und ungesteuert.

1.6

Lexikalische Relationen

1.6.1

Die Charakteristika lexikalischer Relationen

Typische Lexeme sind zwar konzeptuell autonom, gleichzeitig haben Wortassoziationstests gezeigt, dass paradigmatische Relationen im Lexikon, besonders bei Substantiven, von großer Bedeutung sind. Paradigmatische Wortassoziationen sind am stärksten bei zählbaren Konkreta (Cramer 1968: 67f., 75), weniger typische Substantive zeigen hier schwächere Assoziationen. Verben und in noch stärkerem Maß Funktionswörter sind dagegen stärker syntagmatisch organisiert. Die heute bekannten paradigmatischen lexikalischen Relationen wurden von Lyons (1963) systematisiert, wobei die Beziehungen selbst im Grunde genommen schon seit der Antike bekannt sind. In den meisten neueren Arbeiten wird von folgenden paradigmatischen lexikalischen Relationen ausgegangen: Synonymie, verschiedene Arten von Gegensatzrelationen (vor allem kontradiktorische und komplementäre Antonymie), Hyponymie, Kohyponymie und meistens Meronymie (oder Partonymie). Lexikalische Relationen können durch logische Beziehungen zwischen bestimmten Satztypen, die die zu untersuchenden Wörter enthalten, festgestellt werden. Häufig werden sie auch durch Klassenrelationen wie Identität, Inklusion, Disjunktion, Intersektion und Union beschrieben (Cruse 2000: 28-33), wobei es sich hier entweder um Klassen oder Mengen von Denotata, also Extensionen, oder intensional um Mengen von Merkmalen handeln kann. Die formale Semantik, aber auch Lyons und Cruse, arbeiten mit Satzbeziehungen oder Relationen zwischen Extensionen von Lexemen, also wahrheitssemantisch. Dabei handelt es sich durchaus um eine semantische Relation, da die Inklusion der Extensionen ja nur zwischen generischen Referentenklassen besteht (s. Kleiber/Tamba 1990: 15). Dieser Ansatz trifft keine Annahmen über die konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Beziehungen. In der Strukturellen Semantik ergeben sich die Relationen dagegen aus den Beziehungen der Merkmalsmengen von Signifikaten, die durch Kommutation für die lexikalischen Einheiten herausgearbeitet werden (Coseriu 1968, 1978, Geckeier 1971). Daneben gibt es auch reine Beziehungen zwischen Referenten. Hierbei handelt es sich nach Cruse um Pararelationen, also Relationen, die nur in bestimmten Situationen bzw. bei bestimmten Referenten im Diskurs vorliegen (Cruse 1986: 98f.), also keine Relationen auf der Ebene sprachlicher Bedeutung sind. Bei Wortpaaren wie eng. pet und dog ist auf Sememebene keine Beziehung festzustellen. So ist ein Hund zwar meist ein Haustier, aber eben nicht zwangsläufig (Cruse 1986: 99). Besonders die Meronymie wird oft als Beziehung zwischen Referenten oder Konzepten eingeschätzt (Blank 2001b: 33). Ist es also einfach nur so, dass Finger typischerweise als

24 Teil einer Hand auftreten, oder wird das Konzept FINGER tatsächlich über die Zugehörigkeit zur Hand definiert? Als Beispiele für diese verschiedenen Ansätze sollen zunächst knapp Antonymie und Komplementarität beschrieben werden (nach Allwood/Andersson/Dahl 1973, Cruse 1986, 2000 und Schwarz/Chur 1993: 119-128). Antonymie ist typisch für Adjektive. Die Relation zwischen zwei Sätzen, die Antonyme wie z.B. lang und kurz enthalten, sind konträr, sie können nicht gleichzeitig wahr sein. Die Verneinung des einen Satzes impliziert jedoch nicht die Bejahung des anderen Satzes: (6)

Der Weg ist nicht lang.

—• Der Weg ist kurz.

Die Extensionen der Antonyme sind exklusiv disjunkte Mengen, d. h. sie schließen sich gegenseitig aus, gleichzeitig sind sie nicht komplementär, denn Antonyme sind graduierbar (s. Cruse 1986:206-214).

Abb. 2:

Die Extensionen von Antonymen

Ihre Intensionen überlappen sich dagegen. Geht man von Merkmalsmengen aus, so könnte bei lang und kurz in der Schnittmenge das Merkmal „Dimension der Länge" stehen, bei den einzelnen Antonymen könnte spezifiziert sein, welches Ende der Skala betroffen ist.

Abb. 3:

Die Intensionen von Antonymen

Sätze mit komplementären Lexemen, meist Adjektiven wie tot und lebendig, sind dagegen kontradiktorisch: (7)

Sie ist lebendig



Sie ist nicht tot.

Die Negation impliziert die Affirmation der komplementären lexikalischen Einheit: (8)

Sie ist nicht lebendig —>

Sie ist tot.

Die Extensionen der komplementären lexikalischen Einheiten sind komplementär, sie teilen sich eine Domäne restlos auf:

Abb. 4:

Die Extensionen komplementärer Lexeme

25 Die Intensionen, z.B. Merkmalsmengen, überlappen sich, wobei die unterscheidenden Seme der Negation des komplementären Elements entsprechen.

Abb. 5:

Die Intensionen komplementärer Lexeme

Häufig handelt es sich auch hier um Adjektive, die allerdings nicht graduierbar sind. Weitere Gegensatzrelationen finden sich bei Cruse (1986). Obwohl lexikalische Relationen inzwischen Lehrbuchwissen sind, sind jedoch viele auch grundsätzliche Fragen zu lexikalischen Relationen nach wie vor offen. So gibt es kein klares Kriterium für die Abgrenzung lexikalischer Relationen (s. Evens et al. 1980: 233). Die Zahl der vorgeschlagenen Relationen variiert stark. Die Zahl reicht von fast fünfzig bei Apresyan/Mel'cuk/Zolkovsky (1970) bis zu drei Relationstypen bei Werner (1954: 181), der Similarität, Kontiguität und Kontrast aufzählt (s. auch Blank 1997: 137-156, Koch 2001b). Cruse gibt als heuristisches Kriterium zur Bestimmung lexikalischer Relationen die Systematizität im Wortschatz an. Lexikalische Relationen sind rekurrente abstrakte Relationen, die unabhängig von bestimmten semantischen Domänen auftreten (Cruse 1986: 84f., 2000: 145f.). Ein weiteres Problem ist die Unterscheidung lexikalischer Relationen von außersprachlichen Beziehungen zwischen Referenten. Ist die Teil-Ganzes-Relation oder Meronymie eine lexikalische oder eine außersprachliche Beziehung? Wegen dieser Schwierigkeit ist die Meronymie weniger gut untersucht als andere Relationen (s. auch Miller/Johnson-Laird 1976: 242), zumal sie auch formal am schwierigsten zu definieren ist (Aitchison 3 20 03: 101, Cruse 1986: 178, Fußnote 7, Pustejovsky 1995: 24). Die Meronymie wird nicht einhellig als lexikalische Relation betrachtet, sie taucht beispielsweise nicht in den Untersuchungen des europäischen Strukturalismus auf (Cruse 1986: 180), da sie als außersprachliche Relation betrachtet wird. Auch Blank (2001b: 33) stellt fest, dass es sich bei der Meronymie um eine Beziehung zwischen Konzepten, nicht zwischen einzelsprachlichen Bedeutungen handelt. Auch die Frage, was lexikalische Relationen oder semantische Relationen verbinden, ist nicht geklärt. Handelt es sich um Lexeme, um lexikalische Einheiten, oder womöglich um Facetten, also Bedeutungsnuancen, die feiner sind als lexikalische Einheiten (vgl. Cruse 2000: 147)? Nach Cruse (1986: 84) bestehen lexikalische Relationen vor allem zwischen lexikalischen Einheiten, d. h. relativ stabilen lexikalischen Form-Bedeutungseinheiten. So liegt beispielsweise Hyponymie zwischen den lexikalischen Einheiten fr. meuble ,Einrichtungsgegenstand' und fr. table ,Tisch' vor, nicht jedoch fr. table ,Tabelle' (Cruse 2000: 103-124, 147). Lexikalische Relationen können auch zwischen zwei lexikalischen Einheiten eines einzigen Lexems bestehen; beispielsweise bei der Autohyponymie zwischen eng. dog ,Hund' und dog ,Rüde' (Cruse 2000: 110). Aber auch Facetten, also feinere Bedeutungsnuancen, können unabhängige Beziehungen eingehen (Cruse 2000: 114f.). Welche Aspekte lexikalischer Einheiten werden nun genau verbunden? Nimmt man an, dass es eine Unterscheidung zwischen einzelsprachlicher Wortbedeutung, d. h. Signifikat, und außersprachlichem Konzept gibt, stellt sich die Frage, ob die lexikalische Relation

26 Signifikate oder Konzepte oder beide verbindet. Hierfür gibt es unterschiedliche Vorschläge, die auch je nach Relationstyp variieren. Blank (1997: 58) betrachtet die klassischen Relationen Synonymie, Antonymie, Hyponymie und Kohyponymie als einzelsprachliche Relationen, Kontiguitätsbeziehungen wie Meronymie dagegen verbinden seiner Meinung nach Konzepte, nicht Signifikate bzw. Sememe (Blank 2001b: 33). Cruse, der sich in den letzten Jahren zunehmend kognitiv orientiert, betrachtet lexikalische Relationen generell als Relationen zwischen Konzepten, erst sekundär zwischen Wörtern (Cruse 2002a: 544). Fellbaum schlägt dagegen im Rahmen der Arbeiten zu WordNet vor, dass es hier Unterschiede zwischen den Typen lexikalischer Relationen gibt. Besonders bei der Antonymie seien oft ganze Lexeme, nicht nur die Inhaltsseite lexikalischer Einheiten, verbunden (Fellbaum 1998a : 8f.), allerdings gibt es nach diesem Ansatz neben direkten Antonymen zwischen Lexemen, z.B. wet und dry, über die Synonymie mit dem Antonym auch indirekte Antonymie zwischen Konzepten, z.B. dry und moist über wet (s. Miller 1991: 199f.). Murphy (2000: 331 f., 2003: 42f.) hält lexikalische Relationen für bewusstes metasprachliches enzyklopädisches Wissen, d. h. Wissen über Wörter vom Typ „das Gegenteil von hot ist cold", nicht jedoch für direkte Beziehungen zwischen Konzepten. Metasprachliches Wissen wird durch Schriftlichkeit und Schulbildung gefördert (Murphy 2000: 341). Sie begründet ihren Ansatz unter anderem damit, dass Synonyme ja nur ein Konzept versprachlichen, die Relation also zwischen zwei ganzen Wörtern bestehen muss, und dass die typische Antonymie außerdem ganze Lexeme, also mehrere polyseme Lesarten, nicht nur lexikalische Einheiten, einander gegenüberstellt. Allerdings gibt es hier Gegenbeispiele: Das Antonym von eng. big ,dick' ist slim ,schlank', das von big ,groß' ist small,klein'. Laut Murphy (2003: 216) ist dieser Ansatz insgesamt vor allem bei Gegensatzrelationen, nicht aber bei Hyponymie sinnvoll. Es wird sich jedoch zeigen, dass dieser innovative Ansatz auch bei manchen hyponymischen Relationen sehr erhellend ist. Bei morphologischen Relationen bestehen die Relationen außerdem sowohl zwischen Konzepten oder Signifikaten als auch zwischen Signifikanten. Es kann also vorläufig festgehalten werden, dass lexikalische Relationen Beziehungen zwischen Extensionen, Referenten, Konzepten, Signifikaten, Lexemen, lexikalischen Einheiten und lexikalisches (Meta)wissen sein könnten. Ungeklärt ist auch die wichtige Frage, wie lexikalische Relationen mental repräsentiert sind, ob sie beispielsweise als fester Bestandteil lexikalischer Einheiten gespeichert sind oder auf Diskursebene errechnet werden, ob sie also explizit zwischen Konzepten oder Signifikaten bestehen oder nur auf der Ebene der Referenz sichtbar werden. Sind sie also im Langzeitgedächtnis gespeichert oder müssen sie bei Bedarf im Arbeitsgedächtnis jedes Mal erneut errechnet werden? Es gibt klare Evidenzen für die Speicherung von Relationen, nämlich offensichtlich automatisierte Antworten bei Wortassoziationstests. Je schneller eine Antwort gegeben wird, desto wahrscheinlicher ist eine Speicherung, da die „Errechnung" einer Antwort zeitaufwendig ist. Außerdem zeigen Wortassoziationstests, dass Konzepte oder Signifikate untereinander engere Relationen eingehen als Signifikanten. Bei Wortassoziationstests sind rein formale Beziehungen über Lautähnlichkeiten sehr selten (Raible 1981: 14, Fußnote 22). Häufiger sind auf der Ebene der Form hingegen syntagmatische Beziehungen. Syntagmatische Beziehungen schließen von vorneherein die sprachliche Form mit ein, da sie auch auf Diskursebene zwischen aktualisierten lexikalischen Einheiten zu finden sind, während paradigmatische Relationen in absentia funktionieren, weshalb der Signifikant keine Rolle

27

spielen muss. Interessanterweise spielen aber lautliche Assoziationen bei Fremdwörtern und Abstrakta eine größere Rolle (Bleasdale 1983: 197, Raible 1981: 15), vielleicht, weil hier konzeptuelle Relationen im Langzeitgedächtnis zu schwach sind. Relationen scheinen nach den Ergebnissen der Wortassoziationstests vor allem bei Substantiven gespeichert zu sein. Paradigmatische Beziehungen sind bei Substantiven am stärksten ausgeprägt, weniger bei Adjektiven, noch geringer ist ihr Anteil bei Verben (Cramer 1968: 67ff., Miller 1991: 156f.). Paradigmatische Beziehungen sind besonders stark bei zählbaren Konkreta verankert (Cramer 1968: 67f., 75), also bei typischen, in der Regel sehr vertrauten und stark lexikalisierten Substantiven. Hier beobachten wir bei Wortassoziationstests sehr einheitliche, schnelle und zahlreiche Assoziationen. Betrachtet man die einzelnen Relationen, so scheinen Gegensatzrelationen und Kohyponymie am stärksten gespeichert zu sein, sie sind bei Wortassoziationstests am stabilsten und häufigsten, danach findet man Kontiguitätsbeziehungen wie butterfly - net und auch syntagmatische Beziehungen. Synonyme und Hyperonyme sind sehr schwach repräsentiert, noch schwächer Hyponyme, so auch bei Assoziationen, die bei Aphasie und Versprechern sichtbar werden (Aitchison 3 2003 : 86-90). Neben Wortassoziationstests weisen auch Versprecher und Sprachstörungen auf gespeicherte Relationen hin, da eine mit der Zieleinheit eng verbundene Einheit leicht irrtümlicherweise aktiviert werden kann. Es ist unplausibel, dass sie dabei erst errechnet werden, da die Reaktionen sehr schnell sind und außerdem Errechnungen kognitiv immer aufwendiger sind als das Abrufen von Speichereinheiten. Allerdings sind die paradigmatischen Relationen nicht angeboren, sie sind kognitiv vermutlich komplexer und abstrakter als syntagmatische Relationen. Sie sind häufig geradezu metasprachlich (Raible 1981: 20) im Vergleich zu syntagmatischen Relationen, die ja im Diskurs direkt beobachtbar sind. Kinder und Versuchspersonen mit niedrigem Bildungsgrad geben vorwiegend syntagmatische Antworten vom Typ fr. rouge ,rot' - sang ,Blut' an (Raible 1981: 19). Der Übergang von syntagmatischen Assoziationen wie rouge - sang zu paradigmatischen Assoziationen wie rouge ,rot' - vert ,grün' findet im Grundschulalter statt (s. Sucharowski 1996: 32). Dieser Wandel hängt vermutlich mit dem durch Schulbildung, Lesen und Schreiben, besonders aber auch die rhetorische Nutzung von lexikalischen Relationen im Unterricht geförderten metasprachlichen Wissen zusammen (Murphy 2000: 340f.). Gerade die wichtigsten semantischen Relationen spielen eine wichtige Rolle im Schulunterricht (Chaffin/Herrmann 1988: 314). Auch ältere Personen neigen dagegen wieder eher zu syntagmatischen Antworten (Riegel/Riegel 1964: 74 zit. in Langenmayr 1997: 190f„ s. auch Sucharowski 1996: 32). Diese Beobachtungen legen nahe, dass zumindest die früh erlernten Konkreta sicher nicht über Bedeutungsrelationen konstituiert werden, sondern konzeptuell autonom sind, so dass die Beschreibung typischer Substantive als autonome Speichereinheiten nicht revidiert werden muss. Wie die Relationen aber genau entstehen und welche Bedeutung sie für das mentale Lexikon besitzen, muss noch geklärt werden. Sind womöglich syntagmatische Beziehungen Vorgänger mancher paradigmatischer Beziehungen? Sind vielleicht Katze und Hund deshalb so starke Kohyponyme, weil sie häufig gemeinsam genannt werden? Es gibt auch Hinweise für eine unterschiedliche hemisphärische Verarbeitung der verschiedenen Relationstypen. Manche Relationen werden rechtshemisphärisch verarbeitet, z.B. kontextuelle situativ-konkrete Assoziationen wie Bier und durstig (Ender 1994: 233f., Glezerman/Balkoski 1999: 157, Heeschen 1979), aber auch Relationen von Gestalten (Ender 1994: 208, 267-271). Vor allem Kontiguitätsbeziehungen und damit auch Meronymie,

28 aber auch syntagmatische Relationen, werden rechtshemisphärisch verarbeitet, d. h. sie sind fest als Gruppierungen von Gestalten oder als konkrete Situationen gespeichert. Andere Relationen werden eher linkshemisphärisch, d. h. analytisch-verbal verarbeitet, sie werden eher errechnet als gespeichert. Hier werden vor allem taxonomische Beziehungen verarbeitet (einen Überblick bietet Ender 1994: 208f., 233, s. auch Heeschen 1979). Hierbei handelt es sich vermutlich eher um abstrakte Strukturschemata bzw. Algorithmen als konkrete Wortkombinationen (s. auch Ender 1994: 241). Patienten mit Verletzungen der linken Hemisphäre können Hyponym und Hyperonym wie cat - animal nicht unterscheiden, animal wird zwar mit dog, cat oder goat assoziiert, jedoch nicht als übergeordnete Kategorie verstanden (Glezerman/Balkoski 1999: 216). Ivanov (1978: 39 zit. in Sucharowski 1996: 50) untersuchte die Veränderungen im Synonymen-, Antonymen- und Homonymenverständnis bei Patienten. Die Fähigkeit zur Unterscheidung lässt nach seinen Ergebnissen deutlich mit dem Verlust der linken Hemisphärenaktivität nach. Die klassischen Bedeutungsbeziehungen scheinen also eher linksseitig verarbeitet zu werden, eigentlich ein erstaunliches Ergebnis. Linkshemisphärische Prozesse sind komplexer, schlechter gespeichert, ontogenetisch und phylogenetisch jünger als rechtshemisphärische Prozesse, die bei Kindern noch dominieren (Glezerman/Balkoski 1999: 57f.). Diese Beobachtungen bestätigen auch die Arbeiten von Klix, Hoffmann und anderen, die eine Reihe wichtiger Experimente im Bereich der lexikalischen Relationen durchgeführt haben. Sie kommen zu einer fundamentalen Unterscheidung zwischen innerbegrifflichen und zwischenbegrifflichen Beziehungen (Klix 1984: 18-23). Zwischenbegriffliche Relationen, z.B. Meronymie 9 und andere kontiguitätsbasierte Relationen, wie z.B. Handlungsträger - Handlung Bauer - säen, oder Objekt - Lokation Reh - Wald (Klix 1984: 18f.) verbinden ganzheitliche, oft bildhafte Konzepte. Kognitiv sind Kontiguitätsrelationen immer schon vorhanden, sie müssen nur wahrgenommen, nicht hergeleitet werden (s. auch Blank 1997: 344). Sie können nicht grundlegend durch kognitive Operationen erzeugt oder abgeändert werden, es handelt sich um assoziative Beziehungen zwischen ganzen (autonomen!) Begriffen. Sie sind daher nicht abhängig von Schulart, Alter etc. und werden von Kindern besser erkannt als innerbegriffliche Beziehungen (Klix 1984: 2 Iff., 42, 53-56). Schon von jungen Kindern wurde beispielsweise in einem Experiment die Instrumentrelation zu 100% erkannt, die Teil-Ganzes-Relation zu 97%, deutlich vor Kohyponymie, die zu 92%, und Hyponymie, die zu 85% erkannt wurde (Klix 1984: 56). Zwischenbegriffliche Beziehungen sind leicht speicherbar, werden schnell entdeckt, übertragen und angewandt (cf. Hoffmann/Trettin 1980: lOOff.). Sie entsprechen den Beziehungen, die Wüster ( 3 1991: 13) ontologische Beziehungen nennt - also räumliche, zeitliche, ursächliche, in einem Wort kontige, Beziehungen zwischen Individuen, die nach Ansicht von Wüster nur mittelbar und nicht notwendigerweise zwischen Begriffen selbst bestehen. Zwischenbegriffliche Relationen sind also gespeicherte rechtshemisphärische kontiguitätsbasierte Relationen zwischen ganzen, wenn möglich gestalthaften Konzepten. Es handelt sich um Relationen in Frames, die klar von similaritätsbasierten Relationen unterschieden werden müssen (s. Koch 1999a: 152,2001a: 18f.).

9

Meronymie wird von Klix nicht eingeordnet, gehört aber klar zu den zwischenbegrifflichen Beziehungen (s. Preuß/Cavegn 1990: 31 lf.).

29 Durch aufwendigere kognitive Prozesse erzeugt sind hingegen innerbegriffliche Beziehungen. Zu den innerbegrifflichen Beziehungen zählen Relationen zwischen einem Konzept und seinen Attributen, Hyponymie, Kohyponymie und Kontrastrelationen. Es handelt sich also um die klassischen lexikalischen Relationen, die auf Similarität und Kontrast basieren. Sie bestehen nicht direkt wahrnehmbar zwischen Konzepten, sondern müssen nach Ansicht von Klix und Hoffmann durch Merkmalsvergleiche aus den verbundenen Konzepten abgeleitet werden. Sie sind also implizit in der Bedeutung der Konzepte angelegt, gleichzeitig beruhen sie aber auf einem Erzeugungs- und Erkennungsalgorithmus. Sie sind ad hoc anforderungsabhängig bildbar, in der Regel dann aber nur zeitweilig im Arbeitsgedächtnis gespeichert, sehr flüchtig und nur mühsam bei Bedarf im Langzeitgedächtnis speicherbar (vgl. Klix 1984: 11). Im Langzeitgedächtnis sind in der Regel nur Prozeduren, nicht die Relationen zwischen den Begriffen abgespeichert (Klix 1984: 17f., 42f., van der Meer 1998: 233). Innerbegriffliche Beziehungen entsprechen in Wüsters Terminologie den logischen Beziehungen, d. h. unmittelbaren semantischen Beziehungen zwischen Konzepten, nicht Individuen (Wüster 3 1991: 10). Ihre Beherrschung hängt von der Schulbildung des Sprechers ab (Klix 1984: 53ff.), denn solche Deduktionsformalismen sind schwer umzusetzen (van der Meer 1998: 230). Versuchspersonen, selbst Studierende höherer Semester, haben häufig Schwierigkeiten bei der Herleitung klassischer Relationen und Definitionen, die ja auf Merkmalsvergleichen beruhen (Neimark 1983: 124). Innerbegriffliche Prozeduren kommen so vermutlich auch bei der Verarbeitung von Kontexteinfluss auf aktivierte Wörter zum Zug, denn dieser ist getrennt vom holistischen lexikalischen Zugriff (vgl. Friederici 1998: 255). Lexikalische Bedeutung im Langzeitgedächtnis unterscheidet sich qualitativ von der aktuellen flexibel gehandhabten Bedeutung einer lexikalischen Einheit im Arbeitsgedächtnis (Schwarz 1992: 13Iff.). Daher muss Wortbedeutung eher holistisch abgespeichert sein, während die Zerlegung nur bei Bedarf mit einiger Anstrengung sekundär möglich ist (s. auch Blank 1997: 58, Schwarz 1992: 89, Ungerer/Schmid 1996: 32f.). Die logischen innerbegrifflichen Relationen scheinen also im Diskurs hergeleitet zu werden, während kontiguitätsbasierte zwischenbegriffliche Relationen wie Meronymie rechtshemisphärisch bildhaft gespeichert sind. Allerdings scheint es innerhalb der innerbegrifflichen Relationen Abstufungen zu geben: Während Über- und Unterordnung aufwendiger zu sein scheinen, scheint Nebenordnung oder Kohyponymie kognitiv primitiver zu sein, so erkennen Vierjährige zu 92% Nebenordnungsbeziehungen, aber nur zu 85% Unterordnungsbeziehungen (Klix 1984: 56). Ausgerechnet die innerbegrifflichen Beziehungen Kohyponymie und Antonymie sind außerdem sehr häufige stabile Assoziationen bei Wortassoziationstests, Aphasie und Versprechern (Raible 1981: 16) und spielen schon bei Kindern eine wichtige Rolle. Dies spricht dafür, dass manche innerbegrifflichen Relationen gespeichert sind. Es stellt sich hier die Frage, ob bei der Speicherung innerbegrifflicher Relationen eine qualitative Veränderung eintritt und ob diese auf konzeptueller oder metasprachlicher Ebene angesiedelt sind. Hier ist ein Blick auf konkrete Modelle zur mentalen Repräsentation lexikalischer Relationen aufschlussreich. Zum einen sind hier Merkmalsvergleichsmodelle z.B. von Rips/Shoben/Smith (1973) zu nennen (einen Überblick gibt Murphy 2002: Kap. 7, Wessells 3 1994: 262f.). Relationen werden in diesen Modellen bei Bedarf errechnet, sie sind also nicht explizit gespeichert. Semantische Relationen ergeben sich in Merkmalsmodellen aus dem Verhältnis der Merkmalsmengen der lexikalischen Einheiten (Cruse 2002a: 543). Diese Modelle sind mit den Merkmalsanalysen der strukturellen Semantik vereinbar. Eine

30 zusätzliche explizite Speicherung der Relation wäre redundant und könnte in diesen Modellen nicht erklärt werden. Um Typikalitätseffekten gerecht zu werden, wird jedoch angenommen, dass häufige Assoziationen eher explizit abgespeichert werden, Relationen zwischen selteneren Lexemen eher deduziert werden (s. Opwis/Lüer 1996: 361, Rips/Shoben/Smith 1973). Dieses Modell kann also vor allem innerbegriffliche Relationen erfassen (vgl. Preuß/Cavegn 1990: 311), wird aber zwischenbegrifflichen Relationen nicht gerecht, die unmittelbar zwischen ganzen Konzepten bestehen. Netzwerkmodelle (z.B. Collins/Loftus 1975, Collins/Quillian 1969, zu einem Überblick s. Murphy 2002: 204-210) sind Konkurrenzmodelle zu Merkmalsvergleichmodellen. Hier sind die Relationen durch „beschriftete Verbindungen" gespeichert, sie werden nicht errechnet (Chaffin/Herrmann 1988: 290, Schwarz 1992: 82, Wessells 3 1994: 262). Die Wortbedeutung kann holistisch sein oder aber sich aus der Position im Netzwerk ergeben (Cruse 2002a: 544). Diese Modelle sind besonders mit der Annahme des metasprachlichen Charakters von Relationen vereinbar (s. auch Murphy 2002: 209). Relationen selbst sind nicht weiter analysierbare Etiketten zwischen Wortbedeutungen. Der Vorteil dieses Modells für Computeranwendungen wie WordNet besteht vor allem in der Speicherökonomie. Information wird nicht redundant gespeichert, sondern vererbt:

Abb. 6:

Ausschnitt aus einem Netzwerkmodell

Da Eigenschaften über Relationen vererbt werden und nicht bei jeder lexikalischen Einheit erneut gespeichert werden, müssten Erkennungs- und Reaktionszeiten bei größerer Distanz anwachsen (s. Hillert 1987: 56). Die Beantwortung der Frage Ist ein Kanarienvogel ein Tier? dauert in der Tat länger als die Beantwortung der Frage Ist ein Kanarienvogel ein Vogel? (Collins/Quillian 1969). Da nach diesem Modell die einzelnen Knoten seriell abgerufen werden, addieren sich die Suchzeiten (Collins/Loftus 1975, s. auch Hillert 1987: 54f.). Allerdings erfolgt bei Prototypen die Zuordnung schneller, als es die Distanz im Netzwerk nahe legen würde (Hillert 1987: 55f.). Die kürzere Erkennungszeit von Ein Bär ist ein Tier im Vergleich mit Ein Bär ist ein Säugetier ist hingegen dadurch erklärbar, dass Alltagstaxonomien den Knoten Säugetier nicht enthalten (Hillert 1987: 56). Dieses Modell ist mit der Generierung innerbegrifflicher Relationen nicht vereinbar. Generell haben diese Modelle ein Problem mit der Kreativität. Wie kann in einem solchen Modell die Entstehung von lexikalischen Relationen erklärt werden? Beide Modelle erklären also nur bestimmte Aspekte bzw. Typen von lexikalischen Relationen. Merkmalsmodelle erklären Ad-hoc-Vergleichsprozesse, Netzwerkmodelle metasprachliche Relationen (s. auch Murphy 2002: 209). Beide erklären aber nicht, wie gespeicherte, nicht errechnete semantische Beziehungen, d. h. vor allem zwischenbegriffliche Relationen, zwischen gestalthaften Konzepten repräsentiert sind. Die Arbeiten von Koch (z.B. 2001b) und Blank (z.B. 1997: 137-156) legen nun allen lexikalischen Beziehungen die drei kognitiven Assoziationsprinzipien Similarität, Kontrast und Kontiguität zugrunde, die auf Aristoteles' De memoria et reminiscentia zurückgehen

31 (s. Blank 1997: 133, Waltereit 1998: 3, zur Interpretation hyponymischer Relationen auf der Basis von Similarität und Kontiguität, s. Koch 2005). Diese Relationen sind fundamental bei der Gestaltbildung und Figur-Grundeffekten. Gestalten können zu größeren Gestalten gruppiert werden, in Abb. 7 aufgrund von Kontiguität in Zeilen oder aufgrund von Similarität und Kontrast in Spalten (vgl. Blank 1997: 134-137, Blank 2001b: 41):

• Ο · Ο · Ο • ο · ο ·

ο

• ο · ο ·

ο

Abb. 7:

Konflikt zwischen Nähe und Similarität (nach Goldstein 6 2002: 195)

Synonymie beruht auf Similarität, Gegensatzrelationen wie auch Kohyponymie auf Similarität und Kontrast, Meronymie auf Kontiguität von Konzepten. Diese lexikalischen Relationen können Relationen zwischen ganzen Gestalten oder Gestalten und größeren Gruppierungen von Gestalten oder Teilen von Gestalten sein und sind damit gut im semantischen Langzeitgedächtnis speicherbar. Darüber hinaus verbinden sie nicht nur Konzepte im Langzeitgedächtnis, sondern bereits im Arbeitsgedächtnis und spielen schon bei der Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Innovationen, die auf bildlichen Prinzipien beruhen, können so ohne große qualitative Veränderungen konventionalisiert werden. 10 Allerdings ist es problematisch, Hyponymie durch diese kognitiven Assoziationen zu erfassen.

1.6.2

Die Entstehung lexikalischer Relationen

Bisher wurden lexikalische Relationen fast ausschließlich aus der synchronen Perspektive betrachtet. Es ist so gut wie nichts darüber bekannt, wie sie entstehen, sich wandeln oder auch verschwinden. 1 ' Gerade der Aspekt der Entstehung könnte jedoch Licht in die Frage nach der Repräsentation der lexikalischen Relationen bringen. Ein möglicher Ansatz wäre die Annahme, dass sich semantische Relationen womöglich sekundär aus der lexikalischen Bedeutung zweier lexikalischer Einheiten ergeben. Semantisch können Relationen aber auch durch die Ableitung einer neuen lexikalischen Einheit aus einer anderen entstehen, z.B. durch Merkmalsisolation, -Subtraktion, logische Operationen wie Negation, aber auch durch analoge Verfahren wie die Verbindung von kontigen Gestalten. Da es sich dabei zunächst um Innovationen im Diskurs handelt, können hier also auch logische Operationen neue Konzepte aus bestehenden Konzepten bilden. Besonders bei logischen Operationen ist das abgeleitete Konzept zunächst stark abhängig vom Grundkonzept, da ersteres kein autonomes Konzept darstellt und lediglich durch das Ursprungs-

10

Vielleicht werden die Relationen außerdem auf abstrakter Ebene als „image schemas" (s. Lakoff 1987) konzeptualisiert, z.B. als Behälter-Inhalt-Schema. Leider wurde der Ansatz der image schemas bisher nicht weiter ausgebaut (vgl. Cruse 2002a: 549f.). " Roelcke (1995) hat immerhin einen Klassifikationsvorschlag für den Wandel lexikalischer Relationen erarbeitet.

32 konzept gestützt wird. Vor allem weniger frequente lexikalische Einheiten werden in der Tat häufig über andere, frequentere, lexikalische Einheiten konzeptualisiert. Die Ableitung einer lexikalischen Einheit von einer bestehenden lexikalischen Einheit liegt beispielsweise bei Wortbildungsverfahren vor. Die Beziehung besteht sowohl auf Form- als auf Inhaltsseite, sie ist zunächst kompositional und gerichtet (vgl. Bybee 1985: 118). Besonders Antonyme entstehen häufig durch Derivation, z.B. leserlich - unleserlich. Auch durch reinen Bedeutungswandel können neue lexikalische Einheiten von bestehenden abgeleitet werden und so neue lexikalische Relationen entstehen. Es besteht dabei eine starke formale Verbindung zwischen den lexikalischen Einheiten, nämlich eine Identität der Signifikanten. Auch hier besteht zunächst Direktionalität. Reiner Bedeutungswandel erzeugt allerdings sehr selten Antonyme und Kohyponyme (Blank 1997: 207-229). Häufiger ist dagegen die Metapher. Da hier das alte und das neue Konzept unterschiedlichen Domänen angehören, besteht keine Verwechslungsgefahr. Metaphorische Similarität zählt allerdings interessanterweise nicht zu den lexikalischen Relationen. Daneben können bestehende lexikalische Einheiten durch häufige Kookkurrenz im Diskurs zusätzlich zu mehr oder weniger starken semantischen Verbindungen syntagmatische Relationen entwickeln, die auch bestehende paradigmatische Relationen bewusster machen können, z.B. zwischen Hund und Katze. Nach Ansicht von Miller/Johnson-Laird (1976: 249f.) entstehen lexikalische Relationen gerade aus dem Satzgebrauch. Vielleicht werden dann solche Konzepte als kontige Konzepte gespeichert, wodurch auch bestehende semantische Assoziationen wie Similarität und Kontrast salienter werden. Besonders Antonyme sind oft im Diskurs syntagmatisch kontig, es entsteht also zusätzlich zur semantischen Relation eine syntagmatische Relation zwischen ganzen Zeichen (s. auch Murphy 2000: 338f.). Ein besonderer Fall syntagmatischer Stütze einer semantischen Relation sind metasprachliche Definitionen. Ontogenetisch werden paradigmatische Systeme jedenfalls sicher auch syntagmatisch aufgebaut (Raible 1981: 30), bei Konventionalisierung können sie sich dann durch Typisierung aus dem Syntagma lösen und paradigmatisch werden, d. h. zunächst explizit gelernte Relationen können Teil der impliziten Wortbedeutung werden (s. auch Cramer 1968: 157). Bei der Lexikalisierung neuer Konzepte muss sich nun auch die Qualität der Relationen ändern, denn die Qualität des neuen Konzeptes ändert sich bei Lexikalisierung. Das der lexikalischen Einheit zugrunde liegende Konzept wird autonomer, wenn möglich gestalthaft. Tendenziell müssten daher bei der Lexikalisierung aus innerbegrifflichen Beziehungen zwischenbegriffliche Beziehungen werden. Am Beispiel Antonymie und Komplementarität soll nun skizziert werden, welche qualitativen Veränderungen lexikalische Relationen bei der Lexikalisierung erfahren. Gegensätze entstehen bei Adjektiven häufig durch sehr produktive Derivationsprozesse. Verfahren mit morphologischen Parallelen zur Satznegation wie fr. non- und sp. no- sind nur kontradiktorisch bzw. komplementär, nicht konträr (vgl. Varela/Martin Garcia 1999: 5021), besitzen also die Bedeutung der syntaktischen Negation bzw. der Komplementarität. Auch das spanische Negativpräfixe a- (Rainer 1993: 211, α- ist jedoch nach Varela/Martin Garcia 1999: 5021 konträr) erzeugt ebenfalls vor allem Komplementäre, sp. des-, dis- und in- dagegen vor allem konträre Antonyme. Analog gilt dies auch für die entsprechenden Präfixe des Französischen. So stellt man einen klaren semantischen Unterschied zwischen sp. no racional,nicht rational' und irracional .irrational' fest (vgl. Rainer 1993: 211). Die kontradiktorischen Präfixe sind grammatischer, die konträren lexikalischer, was offensichtlich auch Auswirkungen auf die Semantik hat.

33 Im Falle der komplementären Gegensätze kann das Ausgangskonzept Α ein autonomes Konzept sein, das abgeleitete Konzept Β wird dabei zunächst verbal negativ über Α definiert.

Abb. 8:

Gestalten und kontradiktorische Negation

Es handelt sich um eine typische logische Relation, die zeitaufwendig, da analytisch ist. 12 Hinweise dazu geben Verarbeitungsgeschwindigkeiten. Beim Verstehen von negierten Sätze wird zunächst vermutlich eine eingebettete affirmative Annahme verarbeitet, dann die Negation, denn negierte Sätze erfordern mehr Zeit zum Verstehen als affirmative Sätze (einen Überblick bietet Anderson 3 2001: 411). Das Konzept Β ist also nicht autonom. Dagegen sind Relationen zwischen opaken lexikalischen Einheiten tendenziell konträr, also antonymisch und verbinden autonome Konzepte. Dies zeigt auch die schnellere Verarbeitung des opaken bachelor gegenüber dem analytischen unmarried (Fodor/Fodor/Garrett 1975: 521 f.), wie auch sp. ton to ,dumm' mehr ist als no inteligente ,nicht intelligent'. Dieser Unterschied ist zum einen in den Suffixen selbst angelegt, so sind die stark konventionalisierten Derivationssuffixe wie sp. in- eher konträr. Sp. imoral und fr. immoral u n m o r a lisch' (PR) bedeuten daher nicht dasselbe wie sp. amoral und fr. amoral ,amoralisch' (MOL, PR s.v. amoral). Allerdings ist auch eine klare Tendenz zur konträren Antonymie im Verlauf der Lexikalisierung zu beobachten und so finden sich auch bei fr. amoral (PR) schon konträre Interpretationen, die es immoral annähern. Die logische Negation der Kontradiktion deckt eine größere Extension ab, dagegen besteht die Relation der Kontrarität nun zwischen zwei eigenständigen Konzepten, deren Extensionen kleiner sind, da sie semantisch reicher sind. Und so ist die Negation der konträren lexikalischen Einheiten auch nicht das Äquivalent des positiven Konzepts, no deshonesto ,nicht unehrlich' ist extensional weiter gefasst als honesta ,ehrlich' (vgl. Varela/Martin Garcia 1999: 5021). Die Erklärung für diese diachrone Tendenz vom kontradiktorischen zum konträren Gegensatz bei der Lexikalisierung ist meines Erachtens, dass bei der Lexikalisierung das negativ definierte Lexem über das Referenzprinzip (s. 1.5.) zusätzliche, wenn möglich auch visuelle, Informationen aufnimmt und ein eigenes positiv definiertes Konzept wird:

12

Fr. non-voyant,nicht Sehender' ist der politisch korrekte Ausdruck für aveugle ,Blinder' (s. PR s.v. non-voyant). Vermutlich liegt dies daran, dass es kein eigenes starkes Konzept ist, sondern abgeleitet und somit schwächer als das autonome Adjektiv aveugle ,blind' ist und daher (noch) keine zusätzliche pejorative Bedeutung besitzt.

34

Abb. 9:

Lexikalisierung: von der kontradiktorischen zur konträren Negation

Obwohl zwei selbständige Konzepte entstehen, verbindet sie jedoch eine starke Gegensatzrelation, der Gegensatz wird bei der Lexikalisierung sogar polarisiert. Allerdings ist die Polarisierung oft auch schon auf Diskursebene zu beobachten. Fr. Elle η 'est pas gentille ,sie ist nicht nett' wird meist als Gegensatz von Elle est gentille ,sie ist nett' eingesetzt. Gibt es sowohl ein primäres als auch ein abgeleitetes Gegenwort, so ist das abgeleitete Wort jedoch immer weniger stark polarisiert. Ungut ist weniger negativ als schlecht (Lenz 2002: 519). Auf der Ebene der visuellen Wahrnehmung ist nun bekannt, dass Kontraste verstärkt werden (Arnheim 1976: 67), da beispielsweise gerade Strukturgrenzen, d. h. Konturen, wichtige Informationen sind.13 Hierzu sind eine Reihe optischer „Täuschungen" bekannt, die auf dem Prinzip der Kontrasterhöhung basieren, z.B. die Ebbinghaus-Illusion (Eysenck 22001: 39). Durch Kontrasterhöhung wirkt der mittlere Kreis der linken Figur größer, der rechten kleiner, als vom Reiz her zu erwarten wäre:

Ο ο

ο ο

Abb. 10:

ο

Die Ebbinghaus-Illusion (Eysenck 2 2001:39)

Bei der Erinnerung von Perzepten, d. h. der Entstehung von Konzepten, verstärken sich Kontraste zunehmend. So zeigte Wulf (1922) Versuchspersonen Zeichnungen, die sie einige Zeit später nachzeichnen sollten. Dabei wurde beobachtet, dass im Vergleich zur Vorlage Gestalten assimiliert, aber auch pointiert wurden, Kontraste also übertrieben wurden (Wulf 1922 zit. in Murray 1995: 55-58, vgl. auch Metzger 1986: 130-160). Bei der Speicherung tendieren also sowohl Similarität als auch Kontrast dazu, erhöht zu werden. Die Tatsache, dass häufig konträre Relationen direkt bei der Bildung von Adjektiven entstehen und nicht erst nach dem Erscheinen kontradiktorischer Relationen, kann durch das schon bei Wahrnehmungsprozessen und nicht erst Konzeptualisierungsprozessen wirksame starke Wahrnehmungsprinzip der Kontrasterhöhung erklärt werden, aber auch durch lexikalisierte Wortbildungsmuster (s. Laca 2001: 1222), besonders bei den stärker konventionalisierten negativen Präfixen nach dem Muster der zahlreichen schon lexikalisierten Ableitungen. So ist zum Beispiel bei unschön immer noch das logische Verhältnis zu schön transparent, dennoch ist unschön aber schon auf dem Weg zu einem eigenständigen Konzept,hässlich'. Dies trifft analog auch fur andere Sinnesbereiche zu (Birbauraer/Schmidt 2003 5 : 324).

35 Konträre Präfixe sind inhärent dann schon negativ besetzt, so dass sie fast nur noch positive Basen haben können (vgl. Zimmer 1964: 36). Für Lexikalisierungsmuster und gegen einen globalen Bedeutungswandel des Präfixes spricht die Tatsache, dass un- oder fr. und sp. indagegen bei deverbalen Adjektiven noch kontradiktorische Antonyme schaffen, z.B. fr. illisible .unleserlich' (PR). Am Beispiel der Antonymie wurde hier gezeigt, wie bei Lexikalisierung aus analytischen Konzepten, die in innerbegrifflicher Relation zur Basis stehen, semantisch autonome lexikalische Speichereinheiten werden, die durch zwischenbegriffliche Beziehungen verbunden sind. Es wird zu klären sein, wie sich Hyponymie und Kohyponymie bei Lexikalisierung entwickeln.

1.6.3

Hyponymie und Kohyponymie

Hyponymie und Kohyponymie scheinen besonders bedeutend für die Organisation von Substantiven zu sein, während zum Beispiel Gegensatzrelationen vor allem bei Adjektiven eine Rolle spielen. Nun ist gerade die klassisch definierte Hyponymie nach den bisher diskutierten Ansätzen eine innerbegriffliche Beziehung zwischen Merkmalsmengen von Konzepten (s. auch Blank 2001b: 31), keine Beziehung zwischen ganzen Konzepten oder Gestalten. Substantive sind nun typische Lexeme und Konkreta sind durch ihre Gestalthaftigkeit besonders gute autonome Speichereinheiten des mentalen Lexikons. Wie lässt sich dies vereinbaren? Die Definition, die am wenigsten Annahmen über die kognitive Natur der Relation trifft, ist die, die über Satzrelationen operiert (Cruse 1986, Lyons 1977: 292). Bei der Hyponymie besteht zwischen zwei Sätzen, die ein Hyponym und ein Hyperonym enthalten, eine Relation der unilateralen Implikation (s. a. Schwarz/Chur 1993: 124f.). Ein Satz Α impliziert einen Satz Β genau dann, wenn es nicht möglich ist, gleichzeitig Α zu behaupten und Β zu verneinen. This is a dog impliziert einseitig This is an animal (Cruse 1986: 89, Lyons 1977: 292), This is an animal impliziert nicht This is a dog. Hyponymie ist transitiv, d. h. Implikationsbeziehungen werden bei Verkettung mehrerer Hyponymiebeziehungen vererbt (Kleiber/Tamba 1990: 15f., Lyons 1977: 292). Die Eigenschaft der Vererbung bzw. der Transitivität bei hyponymischen Beziehungen erzeugt eine große deduktive Kraft, die auch die historische Bedeutung der Hyponymie in den Wissenschaften und in den letzten Jahren besonders in Computeranwendungen erklärt (s. Evens et al. 1980: 119-122, 128). Folgender Syllogismus ist korrekt: Eine Tulpe ist eine Blume Eine Blume ist eine Pflanze Eine Tulpe ist eine Pflanze

Durch die Satzrelation kann die Hyponymie von ähnlichen, aber eher wahrscheinlichkeitsbestimmten Relationen abgegrenzt werden (vgl. Wierzbicka 1985: 268): (9)

A dog is ^necessarily a pet. (vgl. Cruse 1986: 93, 99)

36 Sätze, die Kohyponyme enthalten, sind hingegen inkompatibel. It 's a cat impliziert It 's not a dog (Cruse 1986: 93, Lyons 1977: 288), kohyponymische Substantive verhalten sich also wie konträre Antonyme, sind jedoch nicht gradierbar. Die Satzrelation erfasst die logischen Eigenschaften der Hyponymie, nicht jedoch die Natur der psychologischen Repräsentation. Satzrelationen an sich können außerdem die Hyponymie nicht von Relationen abgrenzen, die man intuitiv nicht als Hyponymierelationen bezeichnen würde, die sich aber logisch wie Hyponymiebeziehungen verhalten, wie in Beispiel (10): (10)

? a policeman is a kind of son. (s. Wierzbicka 1985: 259)

Zwischen Sätzen, die policeman und son enthalten, besteht eine Beziehung einseitiger Implikation, intuitiv würde man sie aber nicht als hyponym bezeichnen. Durch Satzrelationen können solche Grenzfalle nicht erklärt werden. Betrachtet man die Extension oder Denotation von Lexemen, so liegt bei der Hyponymie eine Inklusionsbeziehung zwischen den Mengen aller Denotata vor (Cruse 1986: 87), die Extension des Hyperonyms schließt die Extension des Hyponyms ein, die Menge aller Hunde ist beispielsweise eine Teilmenge der Menge aller Tiere:

Abb. 11:

Hyponymie: extensionale Inklusionsbeziehung

Bei Kohyponymen liegen, wie auch bei Antonymen, auf der Ebene der Extension exklusiv disjunkte Mengen vor:

Abb. 12:

Die Extensionen von Kohyponymen

Die klassische intensionale Definition beruht meist auf der klassenlogischen Inklusionsrelation von Merkmalsmengen, wie z.B. in Arbeiten des europäischen Strukturalismus (s. Coseriu 1968, Geckeier 1971). Die Merkmalsmenge des Hyponyms enthält die Merkmalsmenge des Hyperonyms sowie zusätzliche Merkmale (vgl. Kleiber/Tamba 1990: 8, Lyons 1977: 291).

Abb. 13:

Hyponymie: intensionale Inklusionsbeziehung

Die intensionale Definition erklärt auch die Transitivität der Hyponymiebeziehung, die sich aus den gemeinsamen Merkmalen von Hyperonym und Hyponym ergibt.

37 Die Intensionen der Kohyponyme überlappen sich hingegen. In der Schnittmenge befinden sich die Merkmale des Hyperonyms, Kohyponymie basiert also sowohl auf Kontrast als auch auf Similarität:

Abb. 14:

Die Intensionen von Kohyponymen

Logisch kann daher eine lexikalische Einheit nur schwer über eines seiner Kohyponyme definiert werden, da die kontrastierenden Merkmale subtrahiert und die zusätzlichen Merkmale addiert werden müssen (Kleiber/Tamba 1990:23): (11)

? tabouret: une chaise (sans dossier) ,Hocker: ein Stuhl (ohne Rückenlehne)'

Die Definition über das Hyperonym vom Typ „tabouret: siege (sans dossier)" , Hocker: Sitzgelegenheit (ohne Rückenlehne)' ist dagegen logisch einwandfrei. Wie in 2.2.4 erklärt werden wird, handelt es sich beim kohyponymischen Vergleich dennoch um ein in der Alltagssprache übliches und problemlos verständliches Definitions- und Konzeptualisierungsverfahren. Die Definition von Hyponymie und Kohyponymie über Merkmalsmengen erklärt, wieso Klix Hyponymie und Kohyponymie als innerbegriffliche Beziehungen betrachtet, denn die inneren Strukturen von Begriffen stehen hier offensichtlich in Beziehung (Klix 1984: 18). Die intensionale Inklusionsbeziehung ist auch mit Ansätzen kompatibel, die die lexikalische Bedeutung nicht restlos in Merkmale zerlegen. Sie kann auch durch eine Modifikation des ganzen Oberbegriffs erfolgen, der nicht weiter zerlegt werden muss:

Abb. 15:

Hyponymie: Modifikation des Oberbegriffs

Dabei wird das Hyperonym nicht zerlegt, das Hyponym nur teilweise. Auch hier hängt das Hyponym konzeptuell vom Hyperonym ab, nicht umgekehrt. Cruse (1986: 91, 123f.) merkt an, dass Hyponyme häufig einer Paraphrase entsprechen, bei der das Hyperonym syntagmatisch modifiziert ist. Eng. kitten kann paraphrasiert werden als young cat. Hyponyme müssten demnach konzeptuell markierte Begriffe sein, da sie in Abhängigkeit von ihrem Hyperonym definiert werden. Kleiber/Tamba (1990: 9f.) sind allerdings der Meinung, dass die intensionale Definition der Hyponymie nicht der psychologischen Realität entspricht, wogegen die Inklusionsrichtung der Extensionen wie auch der Satzimplikation, die ebenfalls Extensionsrelationen erfasst, eher der Sprecherintuition entspricht als die der Intensionen. Wichtig für ihre Argumentation ist dabei die Feststellung, dass auf referentieller Ebene prinzipiell keine semantische Implikation vorliegt, da Referenz ja nur eine Verbindung zwischen Namen und Objekt herstellt (s. auch Bosredon/Tamba 1987: 109). Fr. peniche ,Frachtkahn' und bateau ,Schiff können auf dasselbe Objekt referieren. Die Kookkurrenz

38 der Begriffe im Diskurs ist begrenzt auf wenige Konstruktionen, z.B. die anaphorische Wiederaufnahme oder die Ankündigung einer Aufzählung: (12)

II y avait beaucoup de bateaux: des peniches, des voiliers... (Bosredon/Tamba 1987: 108) 14

Gerichtetheit entsteht laut Bosredon/Tamba (1987) lediglich in Bezug auf solche Äußerungstypen, wie z.B. auch bestimmte Definitionsverfahren (Bosredon/Tamba 1987: 113f.). Sekundär kann dann erst über die explizite metasprachliche Definition einer lexikalischen Einheit durch eine andere die Relation zwischen den beiden Begriffen hergestellt werden: Extension

Abb. 16:

Intension

Metasprachliche Hyponymie: von der Extension zur Intension

So ist die Bedeutung von oiseau ,Vogel' nicht einfach in moineau ,Spatz' enthalten, sondern das Merkmal lautet „ist ein Vogel". Die extensionale Inklusion ist so Teil der Intension, und es sind daher nicht automatisch alle Seme des Hyperonyms Seme des Hyponyms (Kleiber/Tamba 1990: 14f.), d. h. es müssen auch nicht alle Merkmale vererbt werden. Die generische Klasseninklusion wird so ein Teil der Intension. Daher sind auch Sätze wie *Ces tulipes sont des fleurs ,Diese Tulpen sind Blumen' (Kleiber/Tamba 1990: 17) tautologisch. Generische Sätze, die Hyponym und Hyperonym enthalten, sind dagegen meist metasprachlich (Bosredon/Tamba 1987: 107) und tauchen zum Beispiel in lexikographischen Definitionen und didaktischen Kontexten auf. Diese Analyse ist mit einer Annahme einer Relation zwischen ganzen Zeichen, nicht nur Konzepten, vereinbar. Die Relation ist hier auf der metasprachlichen Ebene angesiedelt. Die intensionale Definition der Hyponymie hat vor der extensionalen (und damit auch der Satzrelation) generell den Vorteil, dass sie die Hyponymie von der rein extensionalen Inklusion unterscheiden kann. Die Extension von eng. son schließt die von policeman ein, denn jeder Polizist ist ein Sohn (s. Wierzbicka 1985: 259, s. Bsp. 10). Dennoch handelt es sich intuitiv nicht um eine Hyponymiebeziehung, da „ist ein Sohn" sicher nicht Teil der Bedeutung von policeman ist. Etwas anders sieht der Fall von funktionalen Substantiven wie eng. pet aus. Auf der Ebene der Referenz besteht meist eine Inklusionsrelation zwischen pet und dog, intensional und extensional aber liegt keine Inklusionsrelation vor. Andere Beobachtungen kann allerdings auch die intensionale Definition nicht erfassen, z.B. die Typikalität mancher hyponymischer Beziehungen. Cruse geht davon aus, dass es typische und weniger typische Arten von Hyponymie gibt. So werden stallion — horse und spaniel - animal als weniger gute Beispiele für Hyponymie beurteilt als horse - animal. Prototypisch ist laut Cruse das Alltagskonzept „kind o f , da Hyperonym und Hyponym hier

14

,Es gab viele Schiffe: Frachtkähne, Segelschiffe...'

39 dieselbe Perspektive besitzen, benachbarte Knoten in einer Taxonomie besetzen und die beste Unterteilung einer Domäne darstellen. Am typischsten ist seiner Meinung nach die Beziehung zwischen Basislexem und Hyperonym, also z.B. horse - animal (Cruse 1994: 174-176, vgl. Cruse 1986: 137). Typisch sind dabei biologische Taxonomien, die vielleicht Vorbild für andere Bereiche sind (Cruse 1986: 144, Cruse 2002a: 545). Cruse (1986: 136145, 1994: 175f.) unterscheidet daher zwischen dem Spezialfall der „KIND/TYPE OF"Beziehung, der „taxonymy", und der logischen Beziehung der Hyponymie (s. a. Kleiber/Tamba 1990: 23). Daher ist die Inklusionsbeziehung kitten - cat nicht taxonomisch: (13)

? Α kitten is a type of cat. (Cruse 1986: 137)

Die „type of'-Relation oder Taxonymie ist also ein Spezialfall der Hyponymie. Ein weiterer Nachteil der intensionalen Definition ist der, dass sie zwischen Hyponymie, z.B. von fr. tulipe ,Tulpe' und fleur ,Blume', und der Relation zwischen fr. bouquin ,Schmöker' und livre ,Buch', die man intuitiv als Synonymie klassifizieren würde, nicht unterscheiden kann (siehe hierzu auch Cruse 1986: 287f.). In allen Fällen liegt logisch gesehen Merkmalsinklusion auf der Ebene der Intension vor, beispielsweise enthält fr. bouquin , Schmöker' im Vergleich zu livre ,Buch' ein zusätzliches Merkmal, das die Konnotation betrifft, nämlich die diaphasische Information „informell" (vgl. Landheer 1990). Die Extension unterscheidet hier allerdings Hyponymie von Synonymie, denn die Extensionen von bouquin und livre sind äquivalent, während bei Hyponymie extensionale Inklusion vorliegen muss (s. Kleiber/Tamba 1990: 12ff.). Der problematischste Aspekt der meisten intensionalen Definitionen ist jedoch die Zerlegung in Merkmale, die wie oben gezeigt, bestenfalls heuristisch ist und keinesfalls der mentalen Repräsentation typischer Lexeme im Langzeitgedächtnis entspricht. Die Repräsentation eines Hyponyms in Form einer Definition über sein Hyperonym ist also vor allem bei wenig lexikalisierten Wortbildungsprodukten wie z.B. durchsichtigen Komposita wie Küchenstuhl anzunehmen. Die kognitive Grundlage der Hyponymie ist also nach wie vor ungeklärt: Now we can ask [...] whether the inheritance links in semantic networks are explicit in memory, or whether they are epiphenomenal consequences of the nature of neural instantiation of memories. I leave this important issue open. My inclination is to think that inheritance hierarchies [...] are implicit - that there are no overt inheritance hierarchies in the brain, only inheritance. My sense is that inheritance is not very well understood formally yet, particularly in this more general psychological context. (Jackendoff 2002: 185f.)

Das Wissen um extensionale Inklusionsbeziehungen, aber auch um intensionale Vererbungsrelationen sagt noch nichts über die mentale Repräsentation der Hyponymie aus. Bei Assoziationstests ergibt sich außerdem ein erstaunliches Bild, wenn man bedenkt, dass Hyponymie traditionell als strukturelle Grundlage des Substantivlexikons betrachtet wird. Sehr selten werden nämlich Hyperonyme oberhalb der Basisebene genannt, noch seltener Hyponyme darunter. Ganz ähnliche Ergebnisse liegen auch bei Versprechern und Aphasie vor. Besonders Kohyponyme werden häufig verwechselt, gleichzeitig sind sie bei Störungen sehr stabil, nicht aber Hyponym und Hyperonym (Aitchison 3 2003 : 86-90). Kinder erkennen zwischenbegriffliche Beziehungen viel treffsicherer als innerbegriffliche Beziehungen, innerhalb der innerbegrifflichen Beziehungen fallt ihnen außerdem das Erkennen von Kohyponymie deutlich leichter als Hyponymie (Klix 1984: 56).

40 Demnach scheint die Hyponymie eine Relation zu sein, die eher einer Erkennungsprozedur denn einer gespeicherten Relation entspricht. Die logische Inklusionsbeziehung ist insgesamt kognitiv ungünstig. Versuchspersonen haben oft Schwierigkeiten mit logischen Definitionen (s. Neimark 1983), die trainiert werden können, aber eben keine Alltagsstrategien sind. Hyponymie ist bildungsabhängig und selbst wenn sie erlernt wird, ist sie nicht die bevorzugte Relation im Alltagsdenken (Miller/Johnson-Laird 1976: 294). Taxonomien setzen immer schon eine gewisse Reflexion über Kategorisierung voraus. Sie sind abstrakter als die rein perzeptuelle Similarität oder Kontiguität (vgl. Blank 1997: 344). Für die Errechnung und gegen die Speicherung der hyponymischen Beziehungen sprechen auch Beobachtungen aus der Neurolinguistik. Hyponymie wird meist linkshemisphärisch, also analytisch, propositional und zeitabhängig verarbeitet, auch kohyponymische Beziehungen werden links verarbeitet (s. Heeschen 1979), während rechtshemisphärisch nur in beschränktem Maß auch Assoziationen zwischen konkreten Substantiven und Hyperonymen gespeichert zu sein scheinen (s. Day 1977 zit. in Ender 1994: 221 f.). Kohyponymie und Hyponymie werden bei Klix (1984: 18) als innerbegriffliche Beziehungen betrachtet, sie sind in der Tat flüchtig und nur bedarfsabhängig bildbar, da sie das Ergebnis komplexer Ableitungsprozesse sind, also im Arbeitsgedächtnis angesiedelt sind (Klix 1984: 18, 42ff.). Vor allem Hyponymie scheint also auf anspruchsvollen Prozeduren zu beruhen, die aber z.B. durch metasprachliche Etiketten gespeichert werden können. Insgesamt ist dies ein unbefriedigendes Ergebnis angesichts der Bedeutung der holistischen Speicherung von lexikalisierten Substantiven im Langzeitgedächtnis. Auch wenn man davon ausgeht, dass zentrale Substantive holistisch als gute Gestalten gespeichert sind, ist eine Relation zwischen zwei Gestalten, wie bei der Antonymie vorgeschlagen wurde, bei der Hyponymie (wohl aber der Kohyponymie, s. 2.2.5) nicht möglich, da sich die beiden Konzepte auf unterschiedlichen Generalisierungsebenen befinden (vgl. auch Jackendoff 1996: 551). Bei den oberen Ebenen stößt man außerdem auf das Problem, dass die Konzepte selbst nicht mehr bildlich vorstellbar sind: So kann Kleidungsstück nicht durch eine einzige einfache Gestalt repräsentiert werden, da es zu generisch ist. Diese Beobachtungen wurden bisher kaum in der Erforschung taxonomischer Strukturen beachtet. Vermutlich liegt dies daran, dass wir durch die Tradition abendländischer Bildung die Bedeutung taxonomischer Wissensstrukturen in der Alltagssprache stark überschätzen (vgl. Iris/Litowitz/Evens 1988: 285, Oerter 1988). Bisher wurden also zahlreiche Fragen aufgeworfen, die nach wie vor nicht beantwortet werden konnten. Wie entsteht Hyponymie diachron? Was geschieht bei der Lexikalisierung mit Hyperonym, Hyponym und Hyponymie? Gibt es überhaupt eine einheitliche Hyponymierelation? Werden hierarchische Beziehungen insgesamt überbewertet, wie Dittmann (2002: 302) vermutet?

1.7

Fazit

Die logische Inklusionsbeziehung gilt seit der Antike als wichtigstes Strukturprinzip von Konzeptsystemen. Seit dem zwanzigsten Jahrhundert wird besonders ihre Bedeutung für die Organisation von Substantiven betont. Da nun Lexeme Speichereinheiten des semanti-

41 sehen Gedächtnisses sind, das bildhafte Gestalten bevorzugt, spielen diese auch im Lexikon eine große Rolle. Konkreta sind wichtiger Bestandteil des Kernlexikons. Werden neue Lexeme ins Lexikon integriert, optimieren sie ihre Speichereigenschaften und werden zu typischeren gestalthaft repräsentierten Lexemen, ein Prozess des natürlichen Bedeutungswandels, den ich in Analogie zu Grammatikalisierung Lexikalisierung genannt habe. Dennoch scheinen gerade zentrale Lexemen durch analytische lexikalische Relationen verbunden zu sein. Es wurde gezeigt, dass lexikalische Relationen besonders im Fall von analytischen logischen Relationen auf der Basis von Merkmalsmengen erst im Diskurs hergeleitet werden können und dass zwischen ganzen gestalthaften Konzepten im Langzeitgedächtnis eher kognitive Assoziationen wie Similarität und Kontiguität eine Rolle spielen. Am Beispiel der Antonyme konnte demonstriert werden, wie diachron aus logischen innerbegrifflichen Relationen Relationen zwischen ganzheitlichen Konzepten entstehen können. Die kognitive Natur der Hyponymie ist jedoch nach wie vor nicht geklärt. Handelt es sich um metasprachliche Relationen vom Typ „ein Wal ist ein Säugetier"? Oder aber um logische Beziehungen zwischen Merkmalsmengen der lexikalischen Einheiten? Oder handelt es sich um kognitive Assoziationen zwischen Gestalten?

2

Basisebene und untergeordnete Ebenen

2.1

Die Basisebene

Die mentale Repräsentation lexikalischer Alltagshierarchien auf der Basis logischer Inklusionsbeziehungen zwischen Merkmalsmengen ist problematisch, da eine holistische Speicherung lexikalischer Einheiten zumindest für Konkreta plausibler ist. Die Zerlegung in Merkmale kann dagegen nur Post-hoc-Prozeduren entsprechen. Zahlreiche Substantive sind außerdem semantisch autonom und werden daher nicht über ihre Hyperonyme definiert. Wie bereits gezeigt, ist die Definition „pferdeartiges Tier" von Pferd zirkulär (s. Cruse 1986: 140, Lyons 1977: 293). Lexikographische Definitionen, die klassischerweise auf dem genus proximum und differentiae specificae beruhen, wirken oft überflüssig, pedantisch oder einfach banal, da eine holistische Bedeutungswiedergabe, z.B. über ein Bild, bei vielen Substantiven einleuchtender wäre (s. auch Kolde 2000). Rosch et al. (1976) zeigen, dass besonders Substantive der Basisebene wie Pferd durch einheitliche Schemata oder Bilder repräsentierbar sind. Das Phänomen der Basisebene wurde in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt. Brown (1958) stellte fest, dass die informativste Benennung von Gegenständen auf einer bestimmten Hierarchieebene in der Mitte einer Taxonomie angesiedelt ist. Grundlegend sind auch die Arbeiten von Anthropologen bzw. Ethnolinguisten wie Berlin (z.B. 1972, 1992), und anderen, die biologische Alltagstaxonomien („folk taxonomies") untersuchen. Berlin unterscheidet grob fünf Hierarchieebenen. Die mittlere Ebene, von Berlin „generic level" genannt, ist salienter als die anderen Ebenen. Genera sind beispielsweise Hund, Eiche oder Buche. Konzepte dieser Ebene werden historisch zuerst versprachlicht, deren Lexeme sind morphologisch meist undurchsichtig. In der kognitiven Psychologie wurde das Phänomen auch für Bezeichnungen von Artefakta untersucht, grundlegend ist Rosch et. al. (1976), wichtig sind auch neuere Arbeiten wie Johnson/Mervis (1997), Murphy/Wisniewski (1989) und Tanaka/Taylor (1991). Ein sehr guter Überblick findet sich bei Murphy (2002: Kap. 7). Rosch et al. (1976) stellten in einer Reihe von Experimenten fest, dass in dreistufigen Hierarchien die mittlere Ebene, die so genannte Basisebene, am salientesten ist. Hoffmann und Kämpf (1985) replizierten Roschs Beobachtungen im Deutschen und nennen die Konzepte der mittleren Ebene „Primärbegriffe" als die generellsten noch sensorisch repräsentierbaren Begriffe einer Hierarchie (s. auch Hoffmann 1986: 106-110 und Mangold-Allwinn et al. 1995: 122). In psychologischen Experimenten hebt sich die Basisebene durch eine Reihe von Charakteristika von anderen Ebenen ab. Eine Drossel wird zunächst als Vogel erkannt, nicht als Drossel (Hoffmann 1986: 153). Die Zuordnung zu Basiskategorien erfordert insgesamt den geringsten Aufwand (Hoffmann/Zießler/Grosser 1984: 78-81). Bei Kindern ist das Ergebnis noch ausgeprägter: Vorschulkinder benennen Objekte am häufigsten auf der Basisebene, seltener auf der untergeordneten Ebene und sehr viel seltener auf der übergeordneten Ebene (Waxman/Hatch 1992: 160, s. auch Murphy 2002: 213). Nach der klassischen Definition der Hyponymie müssten aber gerade Hyperonyme am frühesten erlernt werden, da

44 sie nach der intensionalen Definition die wenigsten Merkmale enthalten (Taylor 21995: 252). Tatsächlich aber werden Basiskonzepte am frühesten erlernt und mit zwei Jahren beherrscht. Sie erfahren in der Ontogenese keine nennenswerten Veränderungen (Mervis/Rosch 1981:93). Versuchspersonen zählen für die Basisebene am meisten Merkmale auf (Rosch et al. 1976: 391), deutlich weniger auf der übergeordneten Ebene und im Verhältnis zur Basisebene kaum zusätzliche Merkmale auf der untergeordneten Ebene. Diese Beobachtung wäre nun durchaus mit der intensionalen Definition der Hyponymie zu vereinbaren. Die Merkmalsmengen wachsen nach unten an, allerdings eben nicht kontinuierlich. Bei Konzepten der Basisebene liegt eine sehr lange Liste von Merkmalen vor (s. auch Wierzbicka 1985: 163): (^xyz

übergeordnete Ebene Basisebene untergeordnete Ebene

Abb. 17:

C~

fghijklmnopqrstuvwxyz abcdefghijklmnopqrstuvwxyz

Merkmalsmengen explodieren auf der Basisebene

Basislexeme wie Hund, Katze, Hose, Rock besitzen die maximale Anzahl gemeinsamer Merkmale und heben sich gleichzeitig maximal von ihren Kohyponymen ab.1 Merkmale der Basiskonzepte weisen die größte „cue validity" auf: Cue validity is a probabilistic concept; the validity of a given cue χ as a predictor of a given category y (the conditional probability of y/x) increases as the frequency with which cue χ is associated with category y increases and decreases as the frequency with which cue χ is associated with categories other than y increases. (Rosch et al. 1976: 384)

Die rechnerische Lösung anhand der „cue validity" ist allerdings problematisch, denn Rosch gibt keine Methode zur Merkmalsfmdung an. Es ist außerdem unwahrscheinlich, dass Merkmale der mentalen Realität von Konkreta entsprechen. Wichtig ist aber die Beobachtung, dass zwischen Basisebene und übergeordneter Ebene ein Bruch zu beobachten ist. Weitere Beobachtungen bestätigen diesen Eindruck. So befinden sich Basiskonzepte auf der höchsten Ebene, auf der die Interaktion mit dem Konzept noch mit einem einheitlichen motorischen Programm verbunden ist (Rosch et al. 1976: 393-398). Die Benutzung einer Sitzgelegenheit ist mit klaren motorischen Programmen verbunden, nicht aber die eines Möbelstücks. Die Basisebene ist die höchste Ebene, auf der Konzepte durch eine einheitliche Gestalt bzw. Form repräsentiert werden können (Rosch et al. 1976: 398—405), während andere Ebenen womöglich eher analytisch repräsentiert sind. Mit der Gestalthaftigkeit hängt auch

1

Dies könnte erklären, wieso Basiskonzepte nur schwer über die Modifikation von Oberbegriffen definierbar sind. Sie müssten durch eine sehr große Anzahl von Merkmalen modifiziert werden. Intuitiv erscheint aber auch eine sehr vollständige Definition auf der Basis des genus proximum und der differentiae specificae hier nicht sehr glücklich.

45 die Bedeutung von Teilen für die Basisebene zusammen. Hier werden am meisten Teile aufgezählt (Tversky 1990: 338). In neueren Arbeiten wird die Kontur sogar als das wichtigste Kriterium überhaupt betrachtet: „Recent theorists have suggested that shape may be much more important to the basic level than even Rosch et al. suspected" (Barsalou 1992: 183), denn die Kontur ist die bei der Kategorisierung von Gegenständen am schnellsten erfasste visuelle Information. Die „cue validity" auf der Basis von Merkmalen ist also sicherlich eine Konsequenz der gestalthaften Organisation der Basisebene. Merkmale wurden meines Erachtens sehr wahrscheinlich von den Versuchspersonen sekundär hergeleitet, dienen jedoch nicht der mentalen Repräsentation. Durch ihre Gestalthaftigkeit sind Basiskonzepte optimale Einheiten des Langzeitgedächtnisses. Nach Rosch et al. (1976: 388) sind folgende Konzepte fur Artefakta auf der Basisebene anzusiedeln: GITARRE, APFEL, HAMMER, HOSE, TISCH und AUTO, bei biologischen Taxonomien beispielsweise AHORN, BIRKE, EICHE, FORELLE. Letztere scheinen allerdings intuitiv spezifischer zu sein als die Artefakta der Basisebene. Rosch et al. (1976) hatten sich bei der Feststellung der Basisebene an den Kriterien der Ethnobiologen orientiert, mussten aber schon früh (s. Rosch et al. 1976: 392f.) feststellen, dass sich die biologischen Oberbegriffe BAUM, FISCH und VOGEL wie die Basiskonzepte der nichtbiologischen Kategorien verhalten. Die hier als „superordinates" klassifizierten biologischen Begriffe wurden in der Psychologie und der kognitiven Linguistik mittlerweile als Basiskonzepte identifiziert. In Folktaxonomien der Ethnolinguisten werden Konzepte wie BÄUM, FISCH und VOGEL nach wie vor nicht als Konzepte der generischen Ebene, die etwa der Basisebene entspricht, sondern als übergeordnete Konzepte betrachtet (s. Berlin 1992), nämlich als Konzepte der „life form". Hierbei handelt es sich um Gruppen von perzeptuell ähnlichen Genera, die sich meist nicht mit wissenschaftlichen biologischen Kategorien decken. Sie sind sprachlich gut etabliert, können aber auch kovert sein (Berlin 1992: 189). Die generische Ebene darunter, die sich meist mit biologischen Kategorisierungen deckt, ist in ethnobiologischen Taxonomien aufgrund der Expertise der Sprachgemeinschaft im Bereich von Flora und Fauna die sprachlich salientere (Berlin 1992: Kap. 2). Die Informationsdichte und die Mühelosigkeit der Kategorisierung auf der Basisebene aufgrund der Gestalthaftigkeit erinnert interessanterweise an die Diskussion der so genannten „natural kinds" im Umkreis der analytischen Sprachphilosophie bei Kripke (1972) und Putnam (1975: 229-241) (s. auch die kritischen Einschätzungen von Lakoff 1987: 34f., 1999: 451, 459, und Markman 1989: Kap. 5). Vor allem biologische Speziesbezeichnungen wie Zitronenbaum oder Tiger oder chemische Substanzen wie Gold, die wissenschaftlich untersucht werden können und eine reiche semantische Struktur aufweisen, werden zu den natürlichen Arten gezählt. Ihre Extension wird laut Kripke und Putnam durch Zeigen auf den Referenten festgelegt (s. auch Carlson 1991: 387f.). Die diskutierten natürlichen Arten, z.B. Tiger oder Zitrone befinden sich nun (zufallig?) auf der Basisebene oder darunter und sind immer Substantive (vgl. Carlson 1991, Lakoff 1987: 34f.). Hier sind sich auch, wie ethnobiologische Studien gezeigt haben, alltägliche und wissenschaftliche Kategorisierungen am ähnlichsten. Viele dieser Begriffe entsprechen also vermutlich autonomen Gestalten der Basisebene oder, bei Expertise, der untergeordneten Ebene, deren Bedeutung nicht von Oberbegriffen abhängt. So wird ein Delphin weiterhin als Delphin bezeichnet, selbst nachdem der Delphin als SÄUGETIER und nicht mehr als FISCH klassifiziert wurde (Carlson 1991: 386). Verfechter der natürlichen Arten behaupten, „many people can attest anecdotally to the observations that natural kind terms are among the most difficult to learn of a new lan-

46 guage being acquired" (Carlson 1991: 396), da natürliche Arten kaum deskriptiven Gehalt aufweisen und eher Expertenkategorien sind. Die Arbeiten zur Basisebene betonen dagegen gerade die Tatsache, dass Basislexeme ontogenetisch und phylogenetisch primär sind, was nahe legt, dass hier übereinzelsprachlich starke Übereinstimmung herrscht. Der Eindruck der Indexikalität der natürlichen Arten wird meines Erachtens gerade durch die perzeptuellen Eigenschaften von Basiskonzepten verursacht.

2.1.1

Visuelle Wahrnehmung und Basisebene

Die Definition der Basisebene als abstrakteste Ebene, deren Konzepte durch eine einheitliche Gestalt repräsentiert werden können, gilt heute als die wichtigste Definition. Nun werden bei der visuellen Wahrnehmung zahlreiche Informationstypen erfasst. Bei der Wahrnehmung von Objekten werden zunächst die unterschiedlichen Eigenschaften eines visuellen Reizes getrennt verarbeitet. Treisman (1987 zit. in Goldstein 62002: 208-212) identifizierte Primitiva der präkognitiven Wahrnehmung wie Helligkeit, Kontrast, Größe, Form, Bewegung, Farbe und Ort. Daraus werden automatisch einfache Gestalten und Informationen zur Raumwahrnehmung erstellt (Goldstein 6 2002 : 211). Es handelt sich hier noch um eine präkognitive unbewusste Stufe der Wahrnehmung (Roth 5 1996: 254). Erst die nächste Stufe ist der Aufmerksamkeit zugänglich (Goldstein 6 2002: 211). Bewusst wahrgenommen werden nämlich trotz getrennter Verarbeitung verschiedener Eigenschaften des visuellen Stimulus nur ganze Objekte (s. a. Roth 5 1996: 254ff.). Insgesamt ist also die Wahrnehmung ganzer Objekte die primitivste Stufe der bewussten Wahrnehmung, ein automatischer und daher müheloser Vorgang (Roth 5 1996: 253-256, zur neuronalen Grundlage der Gestaltwahrnehmung s. Engel/Singer 1997). Gestaltprinzipien sind automatische Gesetze des Sehens, die „willensmäßig schwer oder gar nicht außer Kraft zu setzen" sind (Roth 51996: 259). Gestalten hängen wiederum eng mit dem Phänomen der Basisebene zusammen, denn ,,[p]ilot studies showed that objects are quite recognizable from only the outline tracing of a two-dimensional projection of their shapes" (Rosch et al. 1976: 387, s. auch MangoldAllwinn et al. 1995: 133ff). Basiskonzepte werden schnell, unbewusst und automatisch aus visueller Information abgeleitet, wodurch kein direktes Abbild von Referenten, sondern eben eine abstraktere, vereinfachte, regelmäßigere und gleichzeitig ausgeprägtere hauptsächlich formbasierte Repräsentation auf der Basis von optimierten Gestalten entsteht. Schon bei der Wahrnehmung von Objekten findet dabei ein Ausfullen von Lücken, eine Regularisierung und auch eine stärkere Ausprägung auffälliger Merkmale statt (Metzger 1986: 130, 146, 154-181). Bei Phänomenen wie Prototyp und Basisebene handelt es sich um optimierte Gestalten im Langzeitgedächtnis (s. Rosch et al. 1976: 433f.). Die Basisebene ist damit eine kognitive Voreinstellung der Objektkategorisierung (Zimmer 1985: 326) und daher meines Erachtens auch direkt beim ostensiven Erlernen von Wörtern beteiligt (vgl. Lyons 1995: 83). Sie wird beim Referenzprinzip (s. 1.5) wirksam, das den Bedeutungswandel bei Prozessen der Lexikalisierung lenkt. Zu klären ist allerdings, wie exakt die Basisebene bestimmt werden kann. Es wurde gezeigt, dass ethnolinguistische Arbeiten die salienteste Ebene gerade unter Roschs Basisebene ansetzen. Hier scheint es sich um eine Besonderheit biologischer Kategorien zu handeln, die eng mit der Expertise in einer Domäne zusammenhängt. Außerdem zeichnet sich die Basisebene oft nicht ganz so klar ab, wie man es sich vielleicht wünschen würde. Zum Teil

47 liegt dies sicher daran, dass die Basisebene nicht unbedingt eine einzige diskrete Ebene darstellt. Man muss sich vorstellen, dass es eine Grauzone gibt, in der nicht ganz klar ist, ob noch eine Gestalt vorstellbar ist oder nicht. Es gibt eine eindeutige Gestalt für KUH, es ist aber nicht klar, ob es auch eine für VIERBEINER gibt. Es gibt eine Gestalt für L A U B B A U M , doch gibt es noch eine sinnvolle, einheitliche Gestalt für B A U M ? Allerdings ist die Grauzone sicher nicht beliebig ausdehnbar. Weder für TIER noch für PFLANZE im biologischen Sinn existiert eine einheitliche Gestalt.

2.1.2

Sprachliche Eigenschaften

Basiskonzepte sind privilegierte Speichereinheiten des semantischen Langzeitgedächtnisses und müssten daher auch besonders zentralen lexikalischen Einheiten zugrunde liegen. Allerdings ist Vorsicht geboten bei der unreflektierten Übertragung (wahrnehmungs) psychologischer Phänomene auf sprachliche Gegebenheiten und umgekehrt - Medium der psychologischen Experimente sind neben Bildern vor allem Wörter, besonders bei Benennungstests (eine Kritik der Vermischung der Ebenen findet sich z.B. bei Koch 1995 und 1996). Es muss nun am sprachlichen Material selbst überprüft werden, inwieweit diese Wahrnehmungsphänomene für sprachliche Strukturen relevant sind. Ein Problem besteht grundsätzlich darin, dass alltagssprachliche Hierarchien in der Regel keine saubere Trennung der Ebenen vornehmen, sondern Überlappungen und Sprünge aufzeigen (Geeraerts/Grondelaers/Bakema 1994: 136f.). Alltagssprachliche Ebenen entsprechen außerdem nicht immer uniformen wissenschaftlichen Ebenen. Die Relation Vogel - Spatz entspricht aus biologischer Sicht Säugetier - Hund, nicht Hund - Spaniel, wie alltagssprachlich angenommen wird. Sowohl Vögel als auch Säugetiere sind biologische Klassen (s. Cruse 1986: 118). Außerdem scheint man an die Grenzen der Übertragbarkeit zu stoßen, wenn man die Ergebnisse von Benennungspräferenzen genauer betrachtet. Zum einen entsprechen Laborsituationen nicht denen ungesteuerter Kommunikation, wie Kleiber (1997) gezeigt hat, denn im Labor sind die Aufgaben meist metasprachlich. So entspricht die Auflistung von Merkmalen, die Erkennung lexikalischer Relationen und andere typische Aufgaben in keiner Weise Aufgaben der Alltagskommunikation. Bei Aussagen vom Typ ζ.'α, c 'est un Ν ,Das ist ein N ' werden in natürlichen Kommunikationssituationen nun oft gerade Lexeme der spezifischeren Generalisierungsebenen, nicht der Basisebene benutzt, da die „Standardeinstellung" der Basisebene für den Gesprächspartner wenig informativ wäre (Kleiber 1997: 78). Lexeme auf der Basisebene werden dagegen in Alltagssituationen vor allem bei der Wiederaufnahme benutzt, wo also keine neue Information übermittelt wird. Bei der Einführung eines Referenten werden durchaus häufig untergeordnete Lexeme eingesetzt, übergeordnete Lexeme sind dagegen sowohl im Labor als auch in der Alltagskommunikation selten (Mangold-Allwinn et al. 1995: 15Iff.). Aber auch im Labor ergaben sich hier Abweichungen, denn ohne Zeitdruck werden bei Bildbenennungsaufgaben mehr spezifische Substantive angegeben, lediglich bei Zeitdruck geben Versuchspersonen bei der Benennung von Bildern überwiegend Basislexeme an (Mangold-Allwinn et al. 1995: 128). Trotz oder vielmehr gerade wegen der Widersprüche zeigen die Ergebnisse, dass die Basisebene linguistisch relevant ist. Basiskonzepte sind Standardeinstellungen bei Konkreta, „kognitive Voreinstellung" (Zimmer 1985: 326), und sind daher am wenigsten informativ.

48 Geht es also nicht um Informationsübermittlung, ist die Basisebene die Standardebene der Benennung. Dies löst meines Erachtens auch Levelts Hypernymproblem bei der Sprachproduktion (Levelt 1989: 201). Das Hypernymproblem besteht darin, zu erklären, wieso Sprecher Hyponyme Hyperonymen vorziehen, obwohl Hyperonyme referentiell immer auch korrekt wären, wo ein Hyponym korrekt wäre. Levelt (1989: 212f.) löst das Problem dadurch, dass er annimmt, dass sich die Kernbedeutungen von Hyperonym und Hyponym unterscheiden und außerdem immer das spezifischste Element aktiviert wird, aber meines Erachtens liefert hier die Basisebene eine viel mächtigere wahrnehmungspsychologisch fundierte Erklärung. Untergeordnete Substantive enthalten dagegen mehr Information als Basislexeme, sie erfordern weitere kognitive Prozesse, um zusätzlich zur Verarbeitung der Basiskonzepte Detailinformation zu erfassen. Sie benötigen also mehr Zeit zur Verarbeitung, sind aber informativer und werden daher aufgrund der Griceschen Maxime der Quantität in vielen Situationen bevorzugt. Vergleicht man die type-Anzahl der verschiedenen lexikalischen Einheiten auf unterschiedlichen Generalisierungsebenen, stellt man fest, dass die Zahl der Lexeme auf der Basisebene die der anderen Ebenen weit übertrifft (Cruse 1986: 146), allerdings scheint dies bei biologischen Kategorien nicht zuzutreffen. Hier ist die weitaus größte Zahl von Lexemen unterhalb der Basisebene, z.B. unter BAUM anzutreffen (Berlin 1992: 15), untergeordnete Substantive verhalten sich dabei wie Basislexeme (s. 2.2.1). Auch eine eigene Korpusauswertung der Textfrequenzen, d. h. der token-Anzahl einiger Substantive, ist äußerst aufschlussreich (zur Erläuterung der Datengewinnung s. 1.2). Schaut man sich die Häufigkeit der Substantive an, stellt man fest, dass die lexikalischen Einheiten der Basisebene, hier fr. voiture ,Auto' und eusp. coche ,Auto', fr. arbre ,Baum' und sp. ärbol ,Baum', zumindest tendenziell auch in ihrer Tokenfrequenz am häufigsten sind (vgl. auch Geeraerts/Grondelaers/Bakema 1994: 36f.):

fr. vehicule(s) ,Fahrzeug(e)' sp. vehiculo(s) ,Fahrzeug(e)' fr. voiture(s) ,Auto(s)' sp. coche(s) ,Auto(s)' fr. limousine(s) ,Limousine(n)' sp. limusina(s) ,Limousine(n)' Abb. 18:

Belege 34/33 27/27

(9)

294/285 (64) 617/622 (65) 6/6 4/4

fr. plante(s) ,Pflanze(n)' sp. planta(s) ,Pflanze(n)' fr. arbre(s) ,Baum/Bäume' sp. ärbol (es) ,Baum/Bäume' fr. chene(s) ,Eiche(n)' sp. roble(s) ,Eiche(n)'

Belege 48/46 (52) 39/39

(54)

207/200 (54) 194/195 (74) 17/16 4/4

Frequenzen von Substantiven in Abhängigkeit der Generalisierungsebene

Bemerkenswert ist der sprunghafte Anstieg der Frequenz auf der Basisebene, der sowohl gegenüber der untergeordneten Ebene als auch der übergeordneten Ebene enorm ist. Gegenüber den oben vorgestellten Beobachtungen, wonach untergeordnete Ebenen besonders bei der Neueinfuhrung eine Rolle spielen, ist es allerdings erstaunlich, dass die spezifischeren Substantive nach der Auszählung durchweg seltener sind als Hyperonyme, zumal es

49 sich ja bei fr. chene und sp. roble ,Eiche' um biologische Konzepte handelt. Hier bestätigt sich jedoch die Vermutung, dass Konzepte wie B A U M , die in den ethnolinguistischen Arbeiten (z.B. Berlin 1992) als weniger salient als die der Genusebene, z.B. EICHE, gelten, auf der psychologischen Basisebene angesiedelt sind. Substantive oberhalb der Basisebene sind hier etwas häufiger als Substantive unterhalb der Basisebene. Es gibt neben Frequenzen eine Reihe weiterer linguistischer Indizien aus dem Aufbau lexikalischer Hierarchien in Ontogenese und Phylogenese, aber auch ihrem Verfall, wie schon Rosch et al. (1976: 428) vermuteten. Aus der Ontogenese liegen konkrete Ergebnisse vor. Im Spracherwerb sind Basiskonzepte die ersten, deren sprachliche Bezeichnungen von Kindern erlernt und beherrscht werden (Rosch et al. 1976: 417). Auch phylogenetisch scheinen Basislexeme primär zu sein. Die Tatsache, dass Basislexeme die kürzesten und morphologisch undurchsichtigsten Lexeme einer Hierarchie sind (Cruse 1986: 146, Lakoff 1987: 46, Rosch et al. 1976, Taylor 2 1995: 46-51), weist darauf hin, dass diese auch am ältesten sind. Dies trifft auch auf lexikalische Einheiten der jungen American Sign Language zu (Newport/Bellugi 1978: 52f.). Interessanterweise stellt Berlin fest, dass sowohl Lexeme auf der Ebene der Lebensform wie z.B. Baum, als auch solche auf der Ebene der Genera wie z.B. Eiche durch primäre Lexeme versprachlicht sind, während darüber und darunter seltener Simplizia zu finden sind (Berlin 1992: 15ff., 29-34). Basislexeme und untergeordnete Lexeme im Bereich der Pflanzen und Tiere sind also oft sehr stabil, morphologisch einfach und gehören daher sicher zu den ältesten Lexemen einer Hierarchie (s. Rosch 1978: 35). Man kann mit großer Sicherheit hieraus schließen, dass in einer Sprache, die Hyperonyme oberhalb und Hyponyme unterhalb der Basisebene besitzt, auch die Basisebene versprachlicht ist, nicht umgekehrt (Koch 2001b: 1151). Bisher gibt es zur Phylogenese vor allem sehr gute Arbeiten aus der Ethnobiologie, allerdings besitzen diese, da sie Sprachen mit junger Schrifttradition untersuchen, naturgemäß eine geringe diachrone Tiefe auf. Ethnolinguistische Arbeiten weisen jedoch darauf hin, dass die verschiedenen Ebenen in einer bestimmten Reihenfolge versprachlicht werden (Anderson 1986: 200, Berlin 1992: 275). Demnach entstehen vermutlich zunächst Bezeichnungen für Genera wie EICHE, danach die diesen übergeordneten Lebensformen wie B A U M , anschließend subgenerische Bezeichnungen für Konzepte wie S T I E L E I C H E und erst ganz am Schluss Lexeme mit der Bedeutung TIER und P F L A N Z E . Nun bieten gerade die romanischen Sprachen einen privilegierten Zugang zu diachronen Daten. Schaut man sich die Liste der Lexeme bei Rosch et al. (1976: 388) an und betrachtet die äquivalenten Lexeme im Spanischen und Französischen, stellt man fest, dass Oberbegriffe oft nicht erbwörtlich sind: So sind fr. animal ,Tier', plante ,Pflanze' und vehicule ,Fahrzeug' Latinismen. Viele andere sind morphologisch komplex, wie vetement Kleidungsstück', das ein deverbales Substantiv ist (PR). Auf der untergeordneten Ebene findet man zahlreiche morphologisch komplexe Lexeme, die meist von Basiskonzepten abgeleitet sind, wie z.B. fr. pomme golden ,Golden Delicious' und fr. minijupe ,Minirock'. Diese Lexeme (und Konzepte) sind deutlich jünger als selbst die meisten Hyperonyme oberhalb der Basisebene, pomme golden ist seit 1959 belegt (PR, s.v. golden), minijupe seit 1966 (PR), während fr. pomme erbwörtlich und jupe eine mittelalterliche Entlehnung aus dem Arabischen übers Italienische ist (DHLF). Das lateinische Lehnwort vehicule ,Fahrzeug', Transportmittel' ist im Französischen seit dem 16. Jahrhundert (DHLF) belegt, limousine ,Limousine' dagegen seit 1902 (DHLF). Es wurde aus dem Französischen als limusina ins Spanische entlehnt (MOL). Spezifische Substantive finden sich häufig nicht einmal in ge-

50 meinsprachlichen Lexika, denn sie sind abgesehen von biologischen Genera wie z.B. fr. chene ,Eiche' oder sp. roble ,Eiche' starken Veränderungen der Lebenswelt unterworfen. Bei den Basislexemen findet man wie zu erwarten viele stabile Erbwörter, z.B. fr. marteau ,Hammer', sp. martillo ,Hammer', fr. poire ,Birne', sp. pera ,Birne', sp. mesa ,Tisch', fr. chaise ,Stuhl', fr. oiseau ,Vogel', sp. ave ,Vogel', fr. arbre ,Baum', sp. ärbol ,Baum' und viele andere (DCECH, DHLF, PR). Einige wurden bereits im Lateinischen aus Substratsprachen übernommen, wie z.B. fr. chemise ,Hemd', sp. camisa ,Hemd', oder sp. cama ,Bett'. Sogar einige biologische Genera, die sich in mancher Hinsicht wie Basislexeme verhalten, stammen sehr wahrscheinlich aus keltischen Substratsprachen, beispielsweise sp. abedul,Birke', fr. bouleau ,Birke', sp. salmon ,Lachs' und fr. saumon ,Lachs' (DHLF). Bei Berlin beschränkt sich die diachrone Information der untersuchten Sprachen aufgrund der begrenzten historischen Information meist auf durchsichtige Lexeme und sehr junge Wandelprozesse. Aber da die romanischen Sprachen in großer diachroner Tiefe belegt sind, können auch vertikale Bewegungen, bei denen aus phylogenetisch eigentlich sekundären Hyperonymen durch Spezialisierung Hyponyme auf der Basisebene entstehen, beobachtet werden, wie z.B. sp. vestido ,Kleid' aus vestido ,Kleidungsstück', während laut Berlin Hyperonyme ja eigentlich später als Basislexeme entstehen. Basislexeme sind dennoch auch in den romanischen Sprachen tendenziell morphologisch und semantisch unabhängig von anderen Ebenen, dies spiegelt sich auch im Genus, besonders in einer Sprache mit drei Genera wie dem Deutschen. Auf der Basisebene, auf der konzeptuell die wichtigsten Unterschiede angelegt sind, sind alle Genera vertreten, sie werden durch verschiedene Genera differenziert (Zubin/Köpcke 1986: 148). Im Deutschen finden wir fem. Hose, mask. Rock, neutr. Hemd und mask. Hammer, fem. Säge, neutr. Beil, im Französischen fem. jupe ,Rock', fem. chemise ,Hemd', mask, pull ,Pullover' und mask, marteau ,Hammer', fem. scie ,Säge', im Spanischen f e m . f a l d a ,Rock', fem. camisa ,Hemd', mask, pantalon ,Hose' und mask, martillo ,Hammer' sowie fem. sierra ,Säge'. Außerdem sind Basislexeme wesentlich produktiver als Lexeme anderer Generalisierungsebenen, z.B. häufiger Ausgangsbasis für Ableitungen (Schmid 1996). Der psychologische Begriff der Basisebene hat also klare sprachliche Auswirkungen (für gute Zusammenfassungen der sprachlichen Konsequenzen der Basisebene s. Kleiber 1993: 55-70, Lakoff 1987: 46, Taylor 2 1995: 46-51, Ungerer/Schmid 1996: Kap. 2).

2.1.3

Entstehung und Wandel von Lexemen der Basisebene

Es entsteht in der Literatur manchmal der Eindruck einer uniformen, monomorphemischen stabilen Basisebene, deren Lexeme irgendwie schon immer da waren: Items at this level [generic level, W.M.] are particularly likely to be morphologically simple, and to be ,original' in the sense that they are not borrowed by metaphorical extension from other semantic areas. (Cruse 1986: 146) Aber auch Basiskonzepte sind nicht naturgegeben und müssen irgendwie entstehen - und sind ihrerseits vor Wandel nicht gefeit. Basislexeme können sich wie andere Lexeme aufgrund von Expressivität oder Tabu wandeln. Davon sind meist ganz bestimmte Konzepte betroffen, z.B. bestimmte Tiere durch Tabu, wie fr. belette ,Wiesel' < ,Schönchen' (Ullmann 3 1963: 190, s. auch DSSPIL: 135). Weiterhin sind nur zentrale, häufig gebrauchte,

51

bekannte Basiskonzepte und Lexeme der „generic level" sprachlich unmarkiert (s. Berlin 1972: 58). Selbst Konzepte und damit Lexeme auf der Basisebene können marginal sein, z.B. bestimmte seltene Tiere oder für den Menschen wenig bedeutende Tiere, Pflanzen und Artefakta. Auch Referenten von Basiskonzepten können sich außerdem ändern. Besonders im Bereich der Artefakta ist dies häufig der Fall, so dass hier Bezeichnungen für neue Basiskonzepte gefunden werden müssen. Ganz auffallig ist dies bei Kleidung, Musikinstrumenten oder technischem Gerät. Hosen waren in der Antike noch nicht gebräuchlich, daher sind heute die Bezeichnungen für HOSE in Europa sehr vielfaltig (vgl. DSSPIL: 425). Auch der technische Bereich ist ständigem Wandel unterworfen, daher werden hier immer neue Bezeichnungen für neue Basiskonzepte benötigt, z.B. für AUTO: Hier sind die Bezeichnungen in den romanischen Sprachen noch vielfaltiger, z.B. fr. voiture, eusp. coche, am. Sp. carro, Cono Sur auto, it. macchina, pg. automovel oder carro. Aber auch bei biologischen Kategorien gibt es Instabilität auf der Basisebene, z.B. dann, wenn sich die Umwelt wandelt oder der Mensch sich neue Lebensräume erschließt, wenn beispielsweise europäische Siedler in Amerika auf ihnen unbekannte Pflanzen und Tiere stoßen. Wie auch andere Lexeme können Lexeme der Basisebene durch verschiedene Verfahren des Bedeutungswandels entstehen, wobei metaphorische Similarität und konzeptuelle Kontiguität hier wie auch in anderen Bereichen dominieren (vgl. Blank 2001b: 73). Die Entstehung kann sich also unabhängig von der Taxonomie abspielen (aber nicht notwendigerweise, taxonomischer Wandel wird in den folgenden Kapiteln eine wichtige Rolle spielen). Ein spezieller Wandeltyp, die horizontale Verschiebung über Metaphern oder kotaxonomischen Wandel, also mehr oder weniger starke Similarität, wird von Berlin als erster Schritt der horizontalen Wortschatzerweiterung auf der Ebene der Genera analog zu bereits existierenden Genera genannt (Berlin 1972: 55f.). Berlin nimmt an, dass diachron eine ethnobiologische Nomenklatur von der Genusebene 2 aus zunächst analog über Similarität horizontal expandiert, oft verbunden mit Komposition oder Derivation, und dass erst im Anschluss andere Ebenen durch vertikale Differenzierung und Generalisierung entstehen (Berlin 1972: 55-58, 1992: 272-275). Horizontaler Bedeutungswandel durch Kohyponymensprünge als reiner Bedeutungswandel sind eher selten (Blank 1997: 207). Dies mag damit zusammenhängen, dass diese Relationen immer zwischen Lexemen einer semantischen Domäne bestehen, die sich, zumindest unterhalb der Basisebene, semantisch nur minimal unterscheiden und Polysemie die Kommunikation hier gefährden würde (Blank 1997: 217). Kohyponymische Übertragung kann jedoch bei der Übertragung von Bezeichnungen auf ähnliche Referenten in einer neuen Umgebung beobachtet werden, wodurch es kaum Verwechslungsmöglichkeiten gibt. So wurde aus dem eusp. tigre ,Tiger' in der neuen Welt tigre ,Jaguar' (Blank 1997: 377). Kohyponymischer Wandel liegt auch bei sp. burro ,Esel' aus dem spätlat. bürrlcus .kleines Pferd' vor (DCECH s.v. borrico). Viel häufiger noch als kohyponymischer Bedeutungswandel ist kohyponymischer Bedeutungswandel im Zusammenhang mit Wortbildungsverfahren. So entsteht fr. arbrisseau ,Strauch' aus vlt. *arboriscellum , Bäumchen' (DHLF).

2

Allerdings handelt es sich u m Genera, d. h. psychologisch gesehen Unterbegriffe, obwohl eigentlich die Lebensform bei biologischen Kategorien psychologisch der Basisebene enspricht. Hier erhöht Expertise die Salienz einer untergeordneten Ebene, s. 2.2.1.

52 Nun findet man sicher die meisten kohyponymischen Übertragungen bei Lexemen unterhalb der Basisebene, denn diese ähneln sich sehr, während sich Basiskonzepte ja gerade durch ihre maximale Distinktivität auszeichnen. Basiskonzepte entstehen horizontal, also naturgemäß eher metaphorisch aus Lexemen anderer Domänen als kotaxonomisch. Häufig jedoch entstehen Pflanzenbezeichnungen auch unterhalb der Basisebene durch Metaphern kombiniert mit Wortbildungsverfahren aus Tierbezeichnungen, z.B. sp. diente de leon L ö wenzahn'. Oft werden auch Meerestiere metaphorisch von Landtieren abgeleitet, z.B. sp. lobo marino ,Seehund' (wörtlich ,Seewolf), erizo de mar ,Seeigel'. Im amerikanischen Spanisch enthalten viele Baumbezeichnungen das Substantivpalo ,Pfahl', das in Komposita wie palo borracho ,Chorisia insignis' (wörtlich betrunkener Baum') jedoch ,Baum' bedeutet, im informellen nordöstlichen Afrobrasilianischen bedeutet das entsprechende pau auch isoliert ,Baum', nach ADLP ein Afrikanismus. Wie in allen anderen Bereichen auch spielt aber vermutlich die metonymische Übertragung, auch gekoppelt mit Wortbildung oder Entlehnung, die größte Rolle bei der Entstehung von Basiskonzepten, z.B. deverbal über die Funktion bei sp. atornillador Schraubenzieher' (wörtlich .Schrauber') und fr. tournevis ,Schraubenzieher' (wörtlich ,dreht Schrauben'). Entlehnungen finden sich vor allem bei technischen Neuerungen, aber auch bei Musikinstrumenten oder Bekleidung. So sind die Basiskonzepte fr. piano ,Klavier', guitare ,Gitarre' ebenso wie pantalon ,Hose' und ihre spanischen Entsprechungen entlehnt (DHLF, PR). Da es sich bei den romanischen Sprachen nicht um die Entstehung einer Taxonomie aus dem Nichts handelt, sondern um Wandelprozesse innerhalb einer bestehenden Taxonomie, können Basislexeme auch durch Bedeutungserweiterung oder Spezialisierung entstehen, wie in 2.2.2, 3.6.9 und 4.3.4 gezeigt werden wird.

2.1.4

Die Relevanz der Basisebene für Grammatik und Lexikon

Wie auch der Begriff des Prototypen, allerdings in deutlich geringerem Maß, wurde versucht, die Basisebene, die bei Konkreta festgestellt wurde, auch auf Bereiche außerhalb konkreter Substantive anzuwenden. Nimmt man allerdings die Existenz einer globalen Gestalt als Grundlage der Basisebene an, stößt man schnell an die Grenze der Übertragbarkeit. Bei Substanzen wie Gold, die ja durchaus konkret sind, die jedoch keine intrinsische Form aufweisen, ist die Basisebenendefinition als höchste Ebene mit einer gemeinsamen Form unmöglich. Vielleicht spielen hier andere perzeptuelle Merkmale, die einen Informationskomplex bilden, eine Rolle. Auch fur meronymische Strukturen wurde eine Basisebene vorgeschlagen, wonach z.B. eng. hand, foot, eye der Basisebene angehören, arm, leg, face der übergeordneten Ebene und finger, toe, pupil der untergeordneten Ebene (Foley 1997: 126). Es ist sicher richtig, dass es in meronymischen Strukturen unterschiedlich saliente Ebenen gibt, allerdings handelt es sich hier nicht um Generalisierungsebenen, sondern um unterschiedlich stark zerlegte, d. h. bessere und schlechtere Gestalten. Daneben gibt es, wenn auch in geringerem Maß, auch bei Teilbezeichnungen Hyponymie, z.B. fr. organe ,Organ' - cceur ,Herz', diese sind aber eher selten und die Hyperonyme sind meist gelehrt. Hier kann man von einer Basisebene reden, denn das Kriterium der Gestalt kann in beschränktem Maß auch hier funktionieren, wenngleich Teile keine guten autonomen Gestalten darstellen. So ist das Kriterium der einheitlichen motorischen Programme auf der

53 Basisebene zum Beispiel bei Körperteilen sinnvoll, z.B. ist GREIFEN typisch für H A N D . Insgesamt sind aber Taxonomien von Teilen eher schwach ausgeprägt, die Einbettung in meronymische Hierarchien überwiegt hier. Teile sind eher übers Ganze definiert, nicht taxonomisch, H A N D wird also besser als „Teil des Arms" denn als „Extremität" definiert. Bei Abstrakta gibt es ebenfalls Hyponymie und damit Taxonomien, z.B. Tugend - Ehrlichkeit. Hier kann man sicher nicht von einer Basisebene im engeren Sinn sprechen, denn es liegen weder Gestalten noch motorische Programme vor. Alle Abstrakte werden außerdem spät erworben und werden oft metaphorisch über Konkreta konzeptualisiert (Ungerer 1994: 157f., vgl. Lipka 1977: 161 f.). Sie kommen also generell nicht als Basiskonzepte in Frage. Dennoch scheinen beispielsweise Ärger und Freude konzeptuell primitiver zu sein als die Oberbegriffe Gefühl oder Emotion. Durch unterschiedliche Salienzgrade entstehen vielleicht basiskonzeptähnliche Effekte. Die taxonomische Struktur von Abstrakta ist insgesamt eher schwach ausgeprägt. Bei anderen Wortarten ist das Konzept der Basisebene ebenfalls problematisch. Bei Verben könnte man als Kriterium motorische Programme und beteiligte Körperteile (oder auch Werkzeuge) heranziehen, so wäre walk ein Basiskonzept, nicht aber move, das keine konkreten motorischen Programme und Körperteile evoziert (vgl. Ungerer 1994: 151). Ebenso wäre sp. hablar .sprechen' ein Basiskonzept, comunicar .kommunizieren' ein Oberbegriff (vgl. Cuenca/Hilferty 1999: 49, Fußnote 5). Verben sind, wie in 1.4. gezeigt wurde, insgesamt schwächer paradigmatisch und damit taxonomisch organisiert. Falls man eine Basisebene annimmt, ist diese bei Verben sicher weniger bedeutend als bei Substantiven. Außerdem werden motorische Programme bei vielen gerade auch sehr geläufigen Verben genauer erst durch Aktanten auf Satzebene festgelegt. Es macht motorisch einen großen Unterschied, ob man Kartoffelpüree oder ein Steak isst oder ob ein Vierbeiner oder ein Zweibeiner läuft. Bei Adjektiven ist anzunehmen, dass es auch hier unterschiedlich saliente Generalisierungsebenen und Benennungspräferenzen gibt. Ungerer (1994: 153f.) nimmt an, dass Adjektive der Basisebene typische polare Antonyme sind wie eng. big/small, long/short, hard/soft etc. Übergeordnete Adjektive sind nach dieser Analyse die neutralisierten lexikalischen Einheiten, z.B. long in five yards long. Bei Farben wird es schwierig, ein übergeordnetes Adjektiv zu finden: farbig und bunt sind streng genommen keine Hyperonyme, denn eine rote Tasche ist keine bunte Tasche. Farbig und bunt sind also eher „kollektiv" und bezeichnen eine Kombination mehrerer Farben. Oft findet man auf oberen Generalisierungsebenen keine Adjektiva, sondern Substantive, z.B. rot - Farbe, süß - Geschmack. Problematisch ist bei Adjektiven außerdem, dass das wichtige Kriterium der Gestalt hier wegfällt, da für die typischen Adjektive sekundär aus Gestalten einzelne Eigenschaften isoliert werden müssen. Unterschiedliche Salienz kann hier vermutlich sehr unterschiedliche Gründe haben, bei Farben sind fokale Farben wie ROT physiologisch primitiver (s. Kay/McDaniel 1978). Vermutlich sind diejenigen Adjektiva am salientesten, die am leichtesten aus Gestalten zu extrahieren und visuell repräsentierbar sind. Sie sind aber eben abgeleitet von Basiskonzepten. Adjektive gehorchen also anderen kognitiven Prinzipien als konkrete Substantive. Am problematischsten ist die Annahme einer Basisebene bei Funktionswörtern. Hier greift weder das Kriterium der einheitlichen Form, noch das der einheitlichen motorischen Programme. In der Grammatik hat die Basisebene also meines Erachtens keinen Platz.

54 Die Basisebene sollte am besten auf konkrete zählbare Substantive beschränkt bleiben, sie könnte bei einer weiter gefassten Definition bestenfalls auf nichtdiskrete Konkreta und Verben ausgeweitet werden. Konkreta der Basisebene sind zentrale Lexikoneinheiten (Hillert 1987: 37): [...] en conjunto, las caracteristicas del nivel basico parecen adecuarse mejor a los nombres comunes que a otras clases gramaticales. Parece ser que los nombres comunes concretos tienen un estatuto privilegiado en el lexico mental; dicho de otra manera, son elementos prototipicos dentro de la clase del nombre, que, a su vez, es prototipico respecto a las demäs partes de la oraciön. (Cuenca/Hilferty 1999: 49, Fußnote 5) 3

2.2

Die untergeordnete Ebene

Basisebene und untergeordnete Ebenen werden deshalb in einem Kapitel behandelt, weil sie kognitiv und sprachlich sehr eng zusammenhängen, während übergeordnete Ebenen sich qualitativ deutlich von den restlichen Ebenen unterscheiden. Im Folgenden sollen nun die Besonderheiten der untergeordneten Ebene gegenüber der Basisebene beschrieben werden. Die Daten stammen vor allem aus biologischen Alltagstaxonomien, da hier im Unterschied zu den meisten Artefakta neben sehr jungen untergeordneten Lexemen auch sehr alte Lexeme und damit auch vertikale Bewegungen zu finden sind und hier außerdem der Einfluss der Expertise besonders gut zu zeigen ist. Sowohl untergeordnete als auch übergeordnete Lexeme sind weniger salient, seltener bei Benennungsaufgaben und Assoziationen, werden von Kindern später erlernt und sind, wie noch gezeigt werden wird, sprachlich insgesamt markierter als die der Basisebene. Sie sind morphologisch und konzeptuell komplexer als Basislexeme, instabiler und seltener (s. Rosch et al. 1976) und werden oft ad hoc gebildet, werden aber nicht unbedingt konventionalisiert. Sprachlich sind andere Ebenen weniger produktiv als die Basisebene, sie dienen seltener als Grundlage für Wortbildungsprozesse oder Bedeutungswandel und werden vermutlich häufiger durch den sprachlichen Kontext erlernt, nicht direkt über die Referenz (vgl. Bloom 2000: 192). Daneben unterscheiden sich jedoch übergeordnete und untergeordnete Substantive in einigen wichtigen Punkten. Bei Benennungs- und Zuordnungszeiten von Bildern ist bei der Zuordnung von Namen zu Bildern die Reaktionszeit für Basislexeme am kleinsten, am größten bei Hyponymen, bei Hyperonymen oberhalb der Basisebene ist die Zuordnungszeit etwas schneller als bei Hyponymen unterhalb der Basisebene (Rosch et al. 1976: 412ff.). 4 Die Beobachtung, dass Unterbegriffe langsamer benannt werden als Basisbegriffe, liegt

3

4

,[...] insgesamt scheinen die Charakteristika der Basisebene besser zu Gattungssubstantiven zu passen als zu anderen grammatischen Klassen. Konkrete Gattungsnomina scheinen einen privilegierten Status im mentalen Lexikon zu besitzen, in anderen Worten, sie sind prototypisch innerhalb der Klasse der Substantive, die wiederum in Bezug auf die anderen Wortarten prototypisch ist.' Hoffmann/Kämpf (1985: 221 f.) stellen dagegen Ergebnisse vor, wonach Oberbegriffe insgesamt am langsamsten und seltensten benannt werden.

55 daran, dass im Verhältnis zu Basiskonzepten zusätzliche Merkmale geprüft werden müssen (Gauthier et al. 2000: 144). Bei freier Benennung von Bildern werden fast immer Basislexeme angegeben, sehr selten Hyponyme und fast keine Hyperonyme (Rosch et al. 1976: 424). Insgesamt ist die Erkennung von Unterbegriffen also sehr zeitaufwendig, dennoch werden untergeordnete Substantive bei freier Benennung und auch in vielen natürlichen Kommunikationssituationen gegenüber Basislexemen bevorzugt, da sie am informativsten sind. Bei Attributnennungen fällt auf, dass bei Unterbegriffen zu den Attributen der Basiskonzepte noch einzelne perzeptuelle Attribute hinzukommen (Hoffmann/Zießler/Grosser 1984: 85, Rosch et al. 1976: 391 f.). Bei Oberbegriffen hingegen werden oft nur einzelne, vor allem funktionelle Attribute aufgezählt oder aber mehrere Unterbegriffe genannt (Hoffmann 1986: 69-72, Ungerer 1994: 150, Ungerer/Schmid 1996: 74). Daraus folgt auch, dass bei Unterbegriffen und ihren sprachlichen Benennungen, z.B. Esstisch und Küchentisch, die große innerkategorielle Similarität der Basisebene bestehen bleibt (s. auch Berlin 1992: 17, Rosch et al. 1976: 391). Ein entsprechendes Bild ergibt sich auch bei der Nennung motorischer Programme von Versuchspersonen. Sehr wenige tauchen bei Oberbegriffen auf, z.B. gibt es kein spezielles motorisches Programm für fr. meuble ,Möbelstück', wohl aber für chaise ,Stuhl'. Die motorischen Programme der Unterbegriffe wie z.B. chaise pliante ,Klappstuhl' entsprechen etwa denen der Basisebene (s. Rosch et al. 1976:396). Es gibt leider wenige systematische Untersuchungen zur mentalen Repräsentation von Unterbegriffen, wie Biederman et al. (1999: 132) feststellen. Meist wird davon ausgegangen, dass spezifischere Konzepte weitgehend die Konturen der Basisebene übernehmen, die geringfügig durch Details modifiziert werden (Rosch et al. 1976: 398^t05). Das bedeutet auch, dass Unterbegriffe weniger gute Speichereinheiten des Langzeitgedächtnisses sind, das ja rechtshemisphärisch gespeicherte einfache Gestalten bevorzugt. Globale Merkmale wie Konturen werden insgesamt schneller verarbeitet als lokale Merkmale. Will man einzelne Eigenschaften wie Farben oder Details fokussieren, so handelt es sich um sekundäre, zeitaufwendige Prozesse bewusster Wahrnehmung lokaler Merkmale (Mangold-Allwinn et al. 1995: 133-137, 229f.). Ein sprachlicher Reflex dieses Phänomens ist die Tatsache, dass auch Adjektive, die ja einzelne Eigenschaften bezeichnen, ontogenetisch und womöglich phylogenetisch aus substantivischen Gestalten extrahiert sind, so werden beispielsweise Farben in manchen Sprachen über Objekte verstanden und so auch versprachlicht, z.B. das Adjektiv orange über die Fruchtbezeichnung Orange (vgl. auch Klix 1993: 215, Wierzbicka 1985: 187). Rosch et al. (1976: 421) untersuchen leider nicht den Unterschied zwischen übergeordneten und untergeordneten Substantiven beim Spracherwerb. Einige spätere Studien belegen, dass Hyponyme vor Hyperonymen gelernt werden, andere beobachten das Gegenteil. Nach Mervis/Crisafi (1982) beginnen Kinder mit etwa 2,5 Jahren damit, auf der Basisebene zu kategorisieren, mit 4 Jahren auf übergeordneter Ebene. Spezifische Substantive tauchen nach den Ergebnissen dieser Arbeit erst im Alter von 5 - 6 Jahren auf. Waxman/Hatch (1992: 160f.) hingegen beobachten, dass Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren mehr untergeordnete als übergeordnete Substantive produzieren, nämlich 89% auf Basisebene, 77% auf der untergeordneten Ebene, nur 22% auf der übergeordneten Ebene. Betrachtet man das Alter der lexikalischen Einheiten, so fallt schnell auf, dass Substantive unterhalb der Basisebene meist deutlich jünger sind als Substantive oberhalb der Basisebene. Wie bereits erwähnt ist fr. vehicule ,Fahrzeug' seit dem 16. Jahrhundert belegt

56 (DHLF), limousine ,Limousine' dagegen seit 1903 (PR). Es wurde später aus dem Französischen ins Spanische entlehnt (MOL). Nach Berlins Beobachtungen entstehen zunächst Hyponyme unterhalb der Basisebene, d. h. Genusbezeichnungen wie z.B. Eiche, danach Basislexeme wie Baum (zur Verschiebung der Salienz durch Expertise s. 2.2.1), anschließend subgenerische Bezeichnungen wie Stieleiche, erst zuletzt manchmal übergeordnete Substantive wie Pflanze (Berlin 1992: 272-275, s. auch Anderson 1986: 200, Berlin 1972: 53, 59). Die Differenzierung von der Basisebene abwärts scheint also ontogenetisch früher aufzutreten, während Generalisierung später wahrscheinlich im Zuge wissenschaftlicher Bestrebungen an Bedeutung gewinnt (vgl. Berlin 1972: 59). Seltsamerweise verschwinden aber spezifische Bezeichnungen häufiger bei gesellschaftlichem Wandel als Hyperonyme (vgl. Dougherty 1978: 77), obwohl übergeordnete Substantive stärker kulturell geprägt zu sein scheinen und obwohl ontogenetisch und phylogenetisch früh auftretende sprachliche Einheiten bekanntlich stabiler sind als später entstandene. Interessanterweise finden sich in der American Sign Language, die sich erst im Industriezeitalter etabliert hat, auch bei biologischen Begriffen am meisten konsistente Zeichen auf der Basisebene, außerdem besitzt sie einige Lexeme für Oberbegriffe, aber sehr wenige auf den unteren Ebenen (Rosch et al. 1976:427). Zur Anzahl der Lexeme ist zu sagen, dass oberhalb der Basisebene nur noch wenige Lexeme existieren und unterhalb der Basisebene nur noch wenige Subkategorien unterschieden werden. Lediglich bei feineren biologischen Unterscheidungen fallt auf, dass auf der „generic level" unter der Ebene der „life forms" wie z.B. Baum eine Explosion der Bezeichnungen verzeichnet werden kann, unter der Ebene des Genus jedoch deutlich weniger Lexeme vorliegen (vgl. Wierzbicka 1985: 231). In biologischen Taxonomien scheint also die Basisebene nach unten verschoben zu sein. Hier liegen vor allem unter der Ebene der Genera, also der Unterbegriffe bei Rosch, Kontrastivpaare von zwei oder drei Taxa vor, häufig Komposita oder Syntagmen mit Adjektiven wie z.B. chene-liege ,Korkeiche' und chene vert .Steineiche' (wörtlich ,grüne Eiche') (PR s.v. chene). In anderen Taxonomien findet man solche komplexen Substantive dagegen meist unterhalb der Basisebene, häufig sind sie außerdem nicht sehr stark konventionalisiert, z.B. chemise de sport ,Sporthemd' (PR s.v. chemise) (vgl. Berlin 1992: 17). Bei der morphologischen Struktur fallt auf, dass Basislexeme häufig Simplizia, Lexeme anderer Ebenen oft komplex sind, wobei sich untergeordnete Substantive (in biologischen Taxonomien Spezies) darin von übergeordneten Substantiven abheben, dass sie sehr häufig von ihren Hyperonymen der Basisebene abgeleitet sind (Anderson 1986: 197, Berlin 1992: 34, Taylor 2 1995: 49), während man durch Derivationsprozesse und endozentrische Komposition auf der Grundlage eines Hyponyms nie Hyperonyme bilden kann (Kleiber/Tamba 1990: 24), lediglich durch Bedeutungserweiterung (s. auch Anderson 1986: 197). Oft werden allerdings konzeptuelle Verbindungen zwischen Abstraktionsstufen erst deutlich, wenn man bei der Analyse über die Taxonomie selbst hinausgeht. Wortfamilien bilden Mikrosysteme in Hierarchien (Kleiber/Tamba 1990: 26-29) und erzeugen häufig ein Netz zwischen Substantiven der Basisebene und darunter, so gilt z.B. ein Diminutiv hier für alle Hyponyme eines Basislexems, so ist chaton .Kätzchen' sowohl mit dem Ausgangssubstantiv chat ,Katze' als auch denen der Ebene darunter, z.B. chat angora , Angorakatze', verknüpft. Diese Mikrosysteme äußern sich auch in meronymischen Strukturen. Tversky (1990) zeigt, dass Meronyme auf der Basisebene ein dichtes Begriffsnetz auch für die Hyponyme bereitstellen. Bezeichnungen für Teile sind dabei dem Basislexem und seinen Hyponymen

57 gemeinsam, fr. tronc ,Stamm' ist ein Meronym von arbre ,Baum\ aber auch seinen Hyponymen wie beispielsweisepommier ,Apfelbaum'. Fr. pitale Blütenblatt' ist ein Meronym von fleur ,Blume' und all seinen Hyponymen. Hyperonyme oberhalb der Basisebene wie z.B. animal ,Tier' oder plante ,Pflanze' im biologischen Sinn teilen diese dichten semantischen Netze nicht mehr (vgl. Kleiber/Tamba 1990: 26-29). Basislexeme und ihre Hyponyme bilden also ein dichtes morphologisches und semantisches Netz, das die konzeptuelle Abhängigkeit der Unterbegriffe von ihnen übergeordneten Basiskonzepten reflektiert.

2.2.1

Untergeordnete Ebenen und Expertise

Im Unterschied zur Basisebene werden Unterbegriffe nicht völlig holistisch verarbeitet, sondern die Gestalt der Basisebene wird durch linkshemisphärische, zeitaufwendige Entdeckungsprozeduren, nämlich durch Detailinformationen, ergänzt. Dies spiegelt sich auch in der morphologischen Komplexität vieler untergeordneter Substantive. Allerdings wurde auch gezeigt, dass gerade bei biologischen Taxonomien nicht nur Lebensformen wie Baum, die nach Roschs Kriterien Basislexeme sind, sondern auch Genera wie Eiche, die Roschs Unterbegriffen entsprechen, sprachlich und vermutlich konzeptuell wie Basislexeme strukturiert sind. Auf beiden Ebenen findet man meist Simplizia, z.B. sp. roble ,Eiche' und ärbol ,Baum'. Nach Roschs Ergebnissen sind jedoch auch bei biologischen Bezeichnungen Basislexeme salienter als ihre Hyponyme. Eine Studentenbefragung in den USA ergab beispielsweise tree, fish und bird als Basislexeme, nicht maple, trout und sparrow, wie die Ergebnisse von Berlin nahe legen würden (Dougherty 1978, Rosch et al. 1976: 39Iff.). Der kulturelle Hintergrund bzw. der individuelle Kenntnisstand des Sprechers, z.B. der fehlende Kontakt zur Natur, scheint also die Salienz zu beeinflussen. Unter bestimmten Bedingungen und in manchen Bereichen können Unterbegriffe jedoch genauso holistisch und direkt wie Basiskonzepte verarbeitet werden. In der Expertiseforschung wird vorgeschlagen, dass Experten durch ihr größeres und stärker vernetztes Vorwissen und Erfahrung im Kurzzeitgedächtnis größere „chunks", also Informationsbündel, verarbeiten können (Gruber/Mandl 1996: 595f.). Unterbegriffe werden bei großer Vertrautheit wie auch Basiskonzepte als Informationsbündel bzw. Gestalten holistisch gespeichert und gleich schnell verarbeitet wie Basiskonzepte (Zimmer 1984). Sie sind dann konzeptuell unabhängig von Basiskonzepten, d. h. sie bauen nicht mehr auf der Gestalt eines Basiskonzeptes auf. Besonders eingehend untersucht wurde dieses Phänomen bei der Gesichtererkennung. Das Konzept GESICHT ist ein Basiskonzept, individuelle Gesichter hingegen benötigen eigentlich zusätzliche Verarbeitungsschritte. Da aber Menschen „Gesichterexperten" sind, werden Gesichter wenn möglich automatisch auf der Ebene des Individuums benannt und identifiziert (Tanaka/Gauthier 1997), denn diese Unterscheidung ist fur Menschen in vielen Situationen lebenswichtig. Indizien für den Einfluss von Expertise kommen auch aus anderen Bereichen, z.B. der Wahrnehmung von Vogelarten bei Vogelexperten. Auch sie kategorisieren Unterbegriffe genauso holistisch wie Basisbegriffe. Bei Naturvölkern besteht notwendigerweise eine starke Expertise bei biologischem Wissen. Auch Europa war bis zur Industrialisierung stark agrarisch geprägt. Sprachlicher Reflex dieser Expertise sind sicher die zahlreichen Simplizia in biologischen Taxonomien auf der Ebene unterhalb der Basisebene, z.B. sp. pino ,Kiefer', roble ,Eiche', haya ,Buche', oder fr. hetre ,Buche', chene ,Eiche', orme ,Ulme', charme , Hainbuche', pin ,Kiefer' (Gougenheim 1975: 45f.,

58 Guyot/Gibassier 1960: 20-36). Aufgrund von Expertise, d. h. vor allem einer starken Vertrautheit mit Exemplaren, nicht unbedingt einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, werden daher häufig holistisch verarbeitete Unterbegriffe noch vor Basiskonzepten versprachlicht (vgl. Berlin 1992: 275). Ergebnisse aus der kognitiven Psychologie zeigen daneben, dass zwar Unterbegriffe Verarbeitungsmerkmale der Basisebene annehmen können, dass dadurch aber die Basisebene nicht ihre kognitiven Eigenschaften verliert, nur wird eben die Verarbeitung der Unterbegriffe bei Experten genauso gut wie die der Basisebene (Johnson/Mervis 1997, Tanaka/Taylor 1991: 475). Allerdings können die sprachlichen Etiketten der Basisebene an Salienz verlieren, wenn sie bei Expertise seltener gebraucht werden als ihre Hyponyme, so dass die Benennung auf der Basisebene dann sehr selten und marginal wird. Gerade kulturell bedeutende Folkgenera besitzen manchmal keine Lexeme auf der Ebene der Lebensform bzw. der Basisebene (Berlin 1992: 188ff.). Eine besondere Rolle für die Expertise spielt die Domestizierung von Pflanzen und Tieren (vgl. Berlin 1992: 24), bei der Säugetiere eine besondere Position einnehmen, weshalb beispielsweise im Englischen mammal weniger frequent ist als seine Hyponyme (Rosch et al. 1976: 432). Die Basisebene ist also trotz ihrer perzeptuellen Salienz nicht immer unbedingt die auch sprachlich salienteste Ebene (vgl. Tanaka/Taylor 1991: 480). Die vorteilhafte holistische Konzeptualisierungsstrategie der Unterbegriffe geht verloren, wenn die Vertrautheit schwindet. Oft verschwinden damit auch die untergeordneten Substantive. Alltagssprachliche biologische Taxonomien werden bei Urbanisierung von unten nach oben abgebaut (Berlin 1972: 83, Brown 1979: 805, Dougherty 1978: 77). Dies erklärt auch, wieso die früher entstandenen biologischen Hyponyme im Gegensatz zu den deutlich später versprachlichten Hyperonymen wie z.B. fr. plante ,Pflanze' oder animal ,Tier' dann verschwinden. Der Aufbau und der Abbau von Taxonomien ist also nicht symmetrisch und Salienz ist nicht exklusiv an die Basisebene gebunden.

2.2.2

Prototypen

Ein weiterer Faktor, der neben der Expertise die vertikale Struktur von Taxonomien von der Basisebene abwärts durchbrechen kann, ist der Prototyp. Der Begriff des Prototypen ist wesentlich bekannter als die Basisebene und war bisher in der Kognitiven Linguistik wesentlich fruchtbarer. Prototypen sind typische Mitglieder einer Kategorie, wobei oft nicht klar ist, ob Prototypen Referenten, Konzepte, Teilbedeutungen eines polysemen Lexems oder Lexeme sind (vgl. Koch 1995: 34-39) - oder aber verschiedene lexikalische Einheiten, die zu einem Hyperonym in hyponymischer Beziehung stehen (siehe Koch 1996: 125). Hier werde ich von Unterbegriffen, also Konzepten, ausgehen, die auch versprachlicht sein können. Im Unterschied zur Basisebene gibt es bei der Einschätzung des Prototypen für die Linguistik zwei Ansätze, die auf unterschiedlichen Auffassungen der Begründerin E. Rosch beruhen. Die ältere Auffassung, die Standardversion, betrachtet den Prototypen als mentale Repräsentation einer Kategorie, also als psychologisches Prinzip der konzeptuellen Ökonomie und der Konstitution von Kategorien (im Gegensatz zu Stereotypen, die soziale Konventionen reflektieren, s. Geeraerts 1985: 31). Kategorienmitglieder sind nicht gleichwertig, sondern können zentral oder marginal sein. Ein Prototyp ist überindividuell recht

59 stabil. Er ist kein individuelles Exemplar, sondern ein Schema (Kleiber 1993: 3Iff., 40). Die Zugehörigkeit eines Referenten oder auch eines Konzepts zu einer Kategorie ergibt sich aus dem globalen Grad der Ähnlichkeit mit dem Prototypen (Kleiber 1993: 34). In der Standardversion verdankt der Prototyp seine Zentralität nicht der Vertrautheit der Referenten oder der Gebrauchsfrequenz von Bezeichnungen, sondern der Typikalität der Eigenschaften (Kleiber 1993: 42). Er garantiert die Einheit einer Kategorie. Der Prototyp muss also nicht unbedingt ein reales Exemplar sein, sondern ist eine mentale Repräsentation, der ein spezifisches Konzept zugeordnet werden kann. Daher können dem idealen Prototypen auch mehrere Objekte zugeordnet werden, bzw. kann der konkrete Vertreter des Protoypen auch je nach Kulturraum variieren. In Mitteleuropa wird eher der Spatz dem Prototypen zugeordnet, in Nordamerika das Rotkehlchen (Blank 2001b: 48). Allerdings spielt die Häufigkeit der Referenten sicher auch eine Rolle: Sperlingsvögel stellen die meisten Vogelarten (Burnie 2001: 336). Die in dieser Arbeit relevante, Anfang der 70er entworfene Standardversion der Prototypentheorie von E. Rosch wird Mitte der 70er von der von Kleiber (1993) als „erweiterte Version" bezeichneten Variante abgelöst (s. Rosch 1978). Die Sichtweise ist nun eine semasiologische, untersucht wird Polysemie. Prototypen dienen nicht mehr der Konstitution von Kategorien, sondern sind lediglich Oberflächeneffekte bedingt durch Faktoren wie Vertrautheit oder Frequenz. Diese erweiterte Version ist natürlich breiter anwendbar als die Standardversion und so fand sie in den verschiedensten linguistischen Bereichen Anwendung (s. Lakoff 1987). Dennoch ist nach Ansicht Kleibers (1993: 29) die Standardversion nicht überholt. Sie ist insgesamt beschränkt auf bestimmte Phänomene, hat aber eine höhere Erklärungskraft und spielt eine herausragende Rolle für die lexikalische Semantik. In dieser Arbeit wird daher hauptsächlich auf die Standardtheorie zurückgegriffen. Ein wichtiger Beitrag der Prototypen zur kognitiven Linguistik ist also die Erkenntnis, dass Kategorien nicht klassisch strukturiert sind, also auf notwendigen und ausreichenden Bedingungen aufbauen und so klare Kategoriengrenzen besitzen, sondern flexible Kategorien sind, die es erlauben, neue Sachverhalte flexibel zu kategorisieren und mit Bekanntem in Verbindung zu setzen. Gleichzeitig müssen Kategorien aber auch Kriterien für die Zugehörigkeit liefern, denn bei völliger Offenheit verliert eine Kategorie ihre Daseinsberechtigung. Der Prototyp dient hier als stabile Vergleichsgröße (s. auch Giammatteo/Albano/Trombetta 2003). Der Prototyp stellt eine Maximierung der Informationsdichte eines an sich schon sehr informativen gestalthaften Basiskonzeptes dar. Im Prototypen sind die Basiskonzepte weiter optimiert, sie sind noch prägnantere distinktivere Gestalten (Rosch et al. 1976: 433, Ungerer/Schmid 1996: 72). Prototypen werden am häufigsten genannt, am schnellsten identifiziert und vom Kind als erste erlernt. Prototypische Referenten werden auf der unteren Ebene schneller kategorisiert als auf der Basisebene. Hoffmann/Kämpf (1985: 225) stellen fest, dass auch hochtypische Konzepte auf einer auffalligen einfachen Gestalt beruhen. Referenten, die Prototypen ähnlich sind, werden daher häufiger auf der untergeordneten Ebene benannt (Hoffmann/Kämpf 1985: 225, für eine Diskussion widersprüchlicher Ergebnisse s. aber Mangold-Allwinn et al. 1995: 13Iff.), während nichtzentrale, aber nicht allzu marginale Mitglieder eher auf der Basisebene bezeichnet werden. Im Unterschied zu anderen Unterbegriffen beruhen also prototypische Unterbegriffe auf holistischen eigenständigen Gestalten. Durch den starken Prototyp entsteht trotz der Gradiertheit der Basiskategorie in periphere und zentrale Unterkategorien der Eindruck einer uniformen, klar abgegrenzten Katego-

60 rie, die aber eben nicht durch eine Liste notwendiger und hinreichender Merkmale beschreibbar ist (s. auch Geeraerts 1990: 201). Prototypen sind sehr stabil. WernickeAphasiker beispielsweise zählen als Kategorienbeispiele vor allem Prototypen auf, diese scheinen also weniger störungsanfallig zu sein als andere, analytischere, Unterbegriffe (vgl. Hillert 1987: 84, Leuninger 1986: 233f.). Die Gestaltoptimierung durch den Prototypen erklärt auch, wieso Prototypen nur unter der gestalthaften Basisebene zu finden sind. Es gibt keine Prototypen auf den anderen Ebenen (Schmid 1998: 23ff., Ungerer/Schmid 1996: 72), denn Oberbegriffe haben keine einheitliche Gestalt. Daher gibt es hier keine Prototypeneffekte, höchstens Salienzeffekte durch Häufigkeiten oder Vertrautheitsgrade (Kleiber 1993: 98f.). Unter Unterbegriffen kann man sich ebenfalls kaum noch eine Gestaltoptimierung vorstellen, höchstens bei sehr starker Expertise. Prototypen garantieren also Informationsdichte und Stabilität gepaart mit Flexibilität (Geeraerts 1997: 113-118). Marginalere Unterbegriffe sind asymmetrisch vom Prototypen abgeleitet, Testpersonen setzen Kategorien mit dem Prototypen in Bezug, nicht umgekehrt (Mervis/Rosch 1981: 97, vgl. Langacker 1987: 371ff.). Prototypische Substantive wie fr. moineau , Spatz' können daher aufgrund ihrer Typikalität die gesamte Basiskategorie repräsentieren (Descles 1987: 194): (14)

Un oiseau, c'est un moineau. ,Ein Vogel ist ein Spatz'

(15)

?Un oiseau, c'est une autruche. ,Ein Vogel ist ein Strauß'

Weitere sprachliche Indizien, die auf eine Unterscheidung von Prototypen und Nichtprototypen hinweisen, sind Heckenausdrücke. Basislexeme, die auf Prototypen verweisen, können mit Heckenausdrücken wie par excellence verwendet werden, solche, die auf marginale Kategorienmitglieder verweisen, typischerweise mit Heckenausdrücken wie loosely speaking (ein Überblick findet sich bei Taylor 21995: 75-80). Strictly speaking dagegen ist ein Anzeichen für die eher wissenschaftlich korrekte Einordnung eines Konzepts über ein Hyperonym bei geringer Ähnlichkeit mit einem Prototypen. Prototypen stellen also eine starke Kohäsion auf der horizontalen Ebene her und optimieren auf vertikaler Ebene Basiskonzepte. Sie üben eine Art Sogwirkung auf andere Kategorien aus und garantieren die Kohärenz einer Kategorie. Allerdings erklärt die Prototypenstruktur einer Kategorie nicht, wie Außengrenzen gezogen werden (Lutzeier 1993: 208f.). Womöglich liegen solche klaren Außengrenzen aber vor allem bei wissenschaftlich gestützten Substantiven vor, während rein alltagssprachliche Substantive wie Stuhl ja in der Tat keine klaren Außengrenzen besitzen. Ob ein Holzklotz als Stuhl bezeichnet werden kann, hängt stark vom Kontext und der globalen Ähnlichkeit mit dem Prototypen ab. In manchen Sprachen deuten Syntagmen oder Komposita, die Substantive reduplizieren, auf Prototypen hin, dog-dog im kolloquialen Englisch bezeichnet prototypische Hunde, daher kann diese Bildung nicht mit Ausdrücken verwendet werden, die eine näherungsweise Klassifizierung nahe legen: (16)

*It's a kind of [kansv] dog-dog. (Rohdenburg 1988a: 210)

Prototypen werden außerdem von Informanten oft metasprachlich als Boss oder Chef einer Gruppe bezeichnet (Berlin 1992: 141). Das enge Verhältnis zwischen Prototyp und Basiskonzept schlägt sich in der Tat häufig darin nieder, dass beide durch ein einziges Lexem versprachlicht werden. So ist lat. herba

61 schon im Lateinischen polysem und bedeutet sowohl ,Gras' als auch .krautige Pflanze'. Bei Letzterer handelt es sich um eine Lebensform neben ,Baum', wie auch heute noch fr. herbe und sp. hierba (LEW s.v. herba, MOL, PR), es handelt sich also um eine erstaunlich stabile Polysemie von Hyponym und Hyperonym 5 . Gevaudan (1997) spricht hier von vertikaler Polysemie. 6 Die Bezeichnung des Prototypen kann dabei durch Bedeutungsspezialisierung des übergeordneten Basislexems entstehen. Vermutlich spielt hier die häufige Verwendung des Basislexemes für den Prototypen eine Rolle, obwohl diese auch häufig auf der untergeordneten Ebene benannt werden. Die Bedeutung von bird in / wish I could fly like a bird referiert beispielsweise nur auf prototypische Vögel, weder auf Pinguine noch auf Strauße (Cruse 2000: 121). Swanenberg (2000, 2002) beobachtet im Bereich der Vogelbezeichnungen die häufigere Benennung eines typischen spezifischeren Konzepts durch ein eher übergeordnetes Lexem auf Genusebene. Die Verwendung eines Hyperonyms für ein Hyponym ist insgesamt sehr unauffällig und semantisch prinzipiell korrekt. Und so liegt es auch nahe, dass Bedeutungsspezialisierung typischerweise von Basiskonzepten ausgeht, wobei der Prototyp ein starkes Attraktionszentrum darstellt (Blank 2001b: 88): (17)

lat. avis ,Raubvogel'

(18)

altgr. δρύς ,Baum'

(19)

lat. pomum .Obstfrucht'

sard, ave .Adler' (Blank 1997: 205, Fußnote 106) -> .Eiche' (Guyot/Gibassier 1960: 18). spätlat. .Apfel' (Schön 1971: 105)

Allerdings kann die Spezialisierung auch durch die Häufigkeit eines Referenten in einem bestimmten Frame bedingt sein, z.B. der Geflügelzucht oder dem Bauernhof (Blank 1997: 205): (20)

spätlat. auca ,Vogel'

—» fr. oie ,Gans', it. oca (zool.) .Gans'

(21)

aeng./«go/,Vogel'

—> meng, fowl .Geflügel'

Im Frame der Jagd beobachtet man Spezialisierungen von Basislexemen mit der Bedeutung .wildes Säugetier' oder , Vogel' auf bestimmte Tiere, die typische Jagdbeute sind: (22)

lat. bestia .wildes Tier'

(23)

sp. venado ,Wild'

fr. biche ,Hirschkuh' (Koch 1995: 32) —> sp. venado .Hirsch' (MOL)

Im Frame der Landwirtschaft entstehen so auch Bezeichnungen für bestimmte landwirtschaftlich genutze Pflanzen: (24)

dt. Kraut .unverholzte Pflanze' -> süddt. Kraut .Kohl' (EWD)

Die Bedeutungsverengung von Basislexemen kann aber auch als Folge der Lexikalisierung von untergeordneten Substantiven entstehen, s. 2.2.8.

5

6

Diese kann allerdings kommunikationsstörend sein (Blank 2001b: 20). Häufig wird der Prototyp daher besonders in Fachsprachen markiert, z.B. durch Adjektive wie echt oder Reduplikationen wie im Falle des lateinischen biologischen Terminus Rosa rosa. Vgl. den Terminus „Neutralisierung" in der strukturellen Semantik (Geckeier 1971: 195f.).

62 Auch die Bedeutungserweiterung eines Substantivs vom Prototypen zum Basiskonzept ist nicht selten zu beobachten, da der Prototyp ein Basiskonzept optimiert und so für die ganze Kategorie eintreten kann. Die Bedeutungserweiterung ist gegenüber der Bedeutungsspezialisierung semantisch allerdings sehr auffallig, da hier in der Phase der Innovation plötzlich Referenten bezeichnet werden, die mit der spezielleren lexikalischen Einheit zunächst nicht bezeichnet werden konnten. Im Folgenden werden nur Fälle der Bedeutungserweiterung vom Hyponym zum Basislexem beschrieben. Es gibt jedoch auch Fälle von Bedeutungsgeneralisierung oberhalb der Basisebene, z.B. germ. *deuza ,wildes Tier' zu dt. Tier ,Tier' (Koch 1995: 32), diese finden vermutlich meist nur unter ganz bestimmten Umständen statt, nämlich unter wissenschaftlichem Einfluss (s. 4.2). 7 Die Generalisierung vom Prototyp zum Basiskonzept wie auch der umgekehrte Prozess scheint dagegen natürlich bzw. ungesteuert zu sein, zumal in biologischen Folktaxonomien ja auch Unterbegriffe sehr salient sind und zuerst versprachlicht werden (vgl. Berlin 1972: 66ff.): (25)

Western Apache t'iis ,Cottonwood-Baum' in Berlin 1972: 68)

—> t'üs ,Baum' (Basso, pers. Mitteilung, zit.

(26)

lat. baca ,(Beere), Lorbeere'

- > fr. baie ,Beere' (DHLF)

(27)

lat. passer ,Spatz' —> sp. päjaro, pg. passaro (vgl. rum. pasäre ,Vogel') (Blank 1997: 204f., Koch 1995: 30)

,kleiner Vogel'

Auch die Generalisierung kann durch einen (meist später verschwindenden) Frame verursacht werden, in dem nur der Prototyp auftritt, wo sich also die Referentenmenge des Prototypen und die des übergeordneten Substantivs der Basisebene decken. Der Einfluss von Hyponymen auf ein übergeordnetes Substantiv ist vermutlich auch bei fr. chene ,Eiche' zu beobachten. Im Französischen liegen viele endozentrische lexikalisierte Syntagmen auf der Basis von chene vor, z.B. chene kermes ,Kermeseiche', chene vert oder yeuse ,Steineiche', chene rouvre ,Stieleiche', chene-liege .Korkeiche' (PR s.v. chene). Fr. chene umfasst also sehr heterogene Referenten. Im Lateinischen lagen in diesem Bereich dagegen viele Simplizia vor, z.B. ilex ,Steineiche', süber,Korkeiche' (PGLD). Im Spanischen gibt es nun v. a. für die immergrünen Eichen, die in Spanien wesentlich weiter verbreitet sind als in Frankreich, eigene Bezeichnungen, z.B. encina, carrasca .Steineiche', quejigo ,Quercus faginea, Bergeiche', coscoja, chaparro, ,Kermeseiche', alcornoque ,Korkeiche'. Sp. roble ist dagegen lediglich der Oberbegriff für alle sommergrünen Eichen (DRAE). Sp. roble ,Eiche' und encina .Steineiche' sind Kohyponyme: (28)

7

8

[...] es un roble quercus que esta entre medias de la encina y el roble. Tiene la hoja como la encina pero se le cae. [Hervorh. von mir] (ORAL (1991): Charla, Espana, CREA) 8

Fälle gemeinsprachlicher Generalisierung oberhalb der Basisebene (s. Berlin 1992: 194f.) müssten näher untersucht werden, da sie perzeptuell schwierig nachzuvollziehen sind. Wälchli (2005: 37 Fußnote 10) fuhrt Beispiele aus der schwedischen Gebärdensprache an, wo Zeichen eine Erweiterung von ,Apfel' zu ,Frucht' und von ,Stuhl' zu .Möbelstück' erfahren. Womöglich liegt hier eine Ellipse eines koordinativen Kompositums (s. auch 3.6.2) vor. ,[...] sie ist eine Quercus Eiche, die zwischen der Steineiche und der (sommergrünen) Eiche angesiedelt ist. Sie hat Blätter wie die Steineiche, verliert sie aber.'

63 Fr. chene ,Eiche' ist dagegen aufgrund der nach wie vor konzeptuell und morphologisch abhängigen, weniger salienten Hyponyme generischer, denn fr. chene , Eiche' und chene vert .Steineiche' sind Hyperonym und Hyponym (PR s.v. chene). Der Prozess der Bedeutungserweiterung schreitet sicher nur ganz allmählich voran. Daher gibt es eine feine Abstufung der Konventionalisierung von übergeordneten Lesarten. So ist das geschlechtsneutrale eng. cow ,Rind' gegenüber cow ,Kuh' weniger etabliert als dog ,Hund' gegenüber dog ,Rüde'. (29)

? That cow is a bull.

(30)

That dog is a bitch. (Lyons 1977: 309).

Bedeutungserweiterung und Bedeutungsspezialisierung, durch die Basislexeme oder prototypische Substantive entstehen, sind klare Fälle natürlichen lexikalischen Bedeutungswandels, also Lexikalisierung, da typischere Substantive entstehen.

2.2.3

Nichtprototypische Substantive unterhalb der Basisebene

Es wurde gezeigt, dass Basiskonzepte gestalthaft repräsentiert sind. Je stärker holistisch ein Konzept ist, desto autonomer ist es (vgl. Bybee 1985: 117). Neben Basiskonzepten werden Expertenkategorien, aber auch Prototypen unterhalb der Basisebene holistisch repräsentiert. Nichtprototypische Unterbegriffe werden dagegen eher analytisch verarbeitet, da zusätzlich zur Gestalt der Basisebene Details verarbeitet werden müssen. Sie werden in Abhängigkeit von der Basisebene konzeptualisiert, die dann als Gedächtnisstütze fungiert. Dafür spricht auch die Tendenz nichtprototypischer Substantive zur morphologischen Komplexität und ihre diachrone Ableitung von Basislexemen. Allerdings trifft dies nicht auf völlig untypische marginale Unterbegriffe zu. Hoffmann und Kämpf (1985) stellten fest, dass sowohl sehr untypische als auch hochtypische Referenten eines Basiskonzepts mit Lexemen der untergeordneten Ebene bezeichnet werden. Unterbegriffe mittlerer Prototypikalität werden dagegen vor allem mit dem Basislexem bezeichnet, die Tulpe also als Blume, besonders unter Zeitdruck (Hoffmann/Kämpf 1985: 225). Diese Unterbegriffe werden zwar häufig durch Basislexeme bezeichnet, dennoch findet hier (wenn kein besonderer Frame vorliegt) im Unterschied zu Prototypen eher kein vertikaler Bedeutungswandel statt, denn sie ergänzen die Basiskonzepte durch wenige, aber entscheidende Merkmale. Autohyponymie würde hier Verwirrung stiften. Hier finden zwar semantische vertikale Verschiebungen statt, allerdings fast ausschließlich in Kombination mit morphologischen Verfahren, wie im Falle der Komposita Sonnenblume, Ringelblume und vielen anderen. Bei solchen relativ zentralen, aber nicht prototypischen Unterbegriffen finden sich zahlreiche Lexeme, die durch verschiedene Wortbildungsprozesse, aber auch Lexikalisierung von Syntagmen von Basislexemen abgeleitet wurden, wie z.B. sp. pez rojo ,Goldfisch', ein exotischerer Fisch, der aber klare Ähnlichkeit mit den Prototypen zeigt, während zentralere einheimische Fische oft durch primäre Lexeme versprachlicht sind wie sp. trucha ,Forelle' oder salmon ,Lachs'. Die morphologische Komplexität dient bei diesen Lexemen auch der Gedächtnisstütze, denn es ist nachgewiesen, dass bei neuen, unvertrauten Wörtern häufig die sprachliche Form sehr salient ist (Baddeley/Gathercole/Papagno 1998, Chaffin 1997), während stabile vertraute Lexeme eher über die Semantik aktiviert

64 werden (Chaffin 1997). Die morphologische Komplexität reflektiert außerdem die Semantik des Unterbegriffs, denn sie bildet morphologisch das durch zusätzliche Merkmale modifizierte Basiskonzept ab (Ungerer 1999). Basislexeme sind also nicht nur wichtige Attraktionspunkte bei Lexikalisierungsprozessen, sie sind auch wichtige Expansionszentren bei Innovationsprozessen (vgl. Schmid 1996, Ungerer 1994, 1999). Solche Hyponyme unterhalb der Basisebene entsprechen der klassischen Definition der Hyponymie, sie werden am besten über ein modifiziertes Hyperonym erfasst. Während jupe ,Rock' besser bildlich als verbal (z.B. „eine Art Kleidungsstück") repräsentiert wird, wird die Definition „sehr kurzer Rock" einem Unterbegriff wie minijupe ,Minirock' durchaus gerecht.

2.2.4

Hyponyme von Basislexemen und ihre Entstehung

Auf der untergeordneten Ebene sind häufig Komposita und lexikalisierte Syntagmen anzutreffen, die das Basislexem und ein Determinans enthalten wie z.B. fr. minijupe oder sp. minifalda ,Minirock'. Im Deutschen und Englischen sind hier Komposita sehr frequent, im Französischen und Spanischen wie auch in anderen romanischen Sprachen eher Syntagmen und Derivationsprodukte. Viele Bezeichnungen sind Ad-hoc-Bildungen und werden nicht konventionalisiert. Beim Kopf bzw. Determinatum dieser komplexen Lexeme scheint es sich zumindest auf den ersten Blick meist um das Basislexem, also das Hyperonym des Kompositums, zu handeln: So ist Baum das Hyperonym von Apfelbaum, fr. jupe ,Rock' ist das Hyperonym von minijupe ,Minirock'. Die Hyponymie zwischen Kopf und dem gesamten Kompositum scheint typisch für endozentrische Komposita zu sein (Haspelmath 2002: 87). Die Determinantia der Komposita oder Syntagmen sind sehr häufig Adjektive oder adjektivisch gebrauchte Substantive, denn Adjektive werden typischerweise eingesetzt, um zwischen zwei Mitgliedern einer Spezies zu unterscheiden, die mit demselben Substantiv benannt sind (Dixon 1977: 63, zit. in Vogel 1996: 193). Aus Ökonomiegründen ist die Zahl der versprachlichten, morphologisch sichtbaren Merkmale meist auf eines beschränkt, semantisch sind diese Bildungen natürlich meist schon bei der Entstehung reicher. Adjektive und andere Determinantia bei Komposita und lexikalisierten Syntagmen beschränken sich meist auf dauerhafte, referenzmodifizierende, inhärente Funktionen (vgl. Bolinger 1967) oder entwickeln sich im Verlauf der Lexikalisierung dazu. Im Vergleich zu den modifizierenden lexikalischen Elementen in Komposita und lexikalisierten Syntagmen ist die Bedeutung von Derivationsaffixen sehr abstrakt. Allerdings gibt es hier im Unterschied zur Flexion neben der abstrakten Wortbildungsbedeutung sehr häufig auch semantisch konkretere analogische Lexikalisierungsmuster, wenn nämlich ganze Serien von Wortbildungsprodukten analog lexikalisiert werden (Laca 2001: 1222), z.B. fr. -ier und sp. -al, -o für Baumbezeichnungen. Diese Muster bilden eine Zwischenstufe zwischen der abstrakteren Wortbildungsbedeutung und der konkreteren Wortbedeutung. Im Bereich der Substantive unterhalb der Basisebene sind im Französischen und Spanischen vor allem zwei verschiedene Typen von Derivationsaffixen von Bedeutung: zum einen die Ableitung von der Basis durch Modifikation des Ausgangssubstantivs (Coseriu 1968: 13), z.B. durch Diminutive, wie im Falle sp. fruta ,Frucht' —> am. sp. frutilla ,Erdbeerart'. Kopf ist hier das Ausgangslexem, das Derivationsaffix modifiziert das Lexem. Oft ist die semantische Spezifizierung durch die Modifikation sehr vage und trägt selbst keine Information zum Derivationsprodukt bei. Durch das Derivationsaffix wird jedoch angezeigt, dass eine Ableitung von einem Basisle-

65 xem vorliegt und dass das derivierte Substantiv konzeptuell vom Ausgangssubstantiv, meist dem Basislexem, abweicht. Zum anderen können Derivationsaffixe aber auch die Funktion des Kopfes übernehmen. Daher ist in diesem Fall eine Ableitung vom Basislexem, das ja semantisch Kopf des Hyponyms ist, unmöglich. Hier nimmt das Derivationsaffix den Platz eines Basislexems ein. So entspricht das Suffix fr. -ier in Baumbezeichnungen wie pommier ,Apfelbaum' (< ,Apfel-SUFFix') der Bedeutung , B a u m \ Zu der Rolle der Komposita für die Bildung von untergeordneten Substantiven liegen einzelne sehr gute Untersuchungen vor (z.B. Ungerer/Schmid 1998), nicht allerdings zur Derivation: The theory of categorisation developed in prototype semantics distinguishes three levels of categorisation [...]. Although there is probably some relevant correlation between derivational expression and the non-basic-level status of a category, no studies seem to have been devoted to this question. (Laca 2001: 1224)

Meist wird angenommen, dass durch all diese Verfahren automatisch Hyponyme des Kopfes entstehen. Hier läge also Bedeutungsverengung verbunden mit Derivation oder Komposition vor (s. Gevaudan 1999: 17, 27). Endozentrische Komposita sind in der Tat in den meisten Sprachen sehr häufig. Baumbezeichnungen entstehen in germanischen Sprachen häufig durch solche Komposita, z.B. dt. Apfelbaum und eng. apple tree. In den romanischen Sprachen werden klassischerweise Obstbaumbezeichnungen durch Derivation von Fruchtbezeichnungen abgeleitet, z.B. ir.pomme ,Apfel' —> pommier .Apfelbaum', sp. manzana ,Apfel' —• manzano ,Apfelbaum' (vgl. Koch 1999b). Da zu einem bestimmten Zeitpunkt zahlreiche analog gebildete Obstbaumbezeichnungen vorlagen, wurden Suffixe wie sp. -al, -ero und fr. -ier in solchen Reihen lexikalisiert und spezialisierten sich besonders auf Baumbezeichnungen. Sie besitzen in diesen Bildungen die Bedeutung ,Baum' oder ,Strauch', stammen jedoch von Suffixen, die zunächst der Bildung von Ähnlichkeitsadjektiven dienten (vgl. Rainer 1993: 194, 398, 479, 488f.). Auch hier kann man daher von hyponymischer Ableitung sprechen: (31)

sp. -ah z.B. almendral,Mandelbaum',

rosal .Rosenstrauch' (Rainer 1993: 398)

(32)

sp. -ero: z.B. albaricoquero

(33)

sp. -o: z.B. castano ,Kastanienbaum', frambueso

(34)

fr. -ier. z.B. cerisier .Kirschbaum', poirier .Birnbaum',pommier ,Apfelbaum'

,Aprikosenbaum' (Rainer 1993: 488) ,Himbeerstrauch' (Rainer 1993: 622)

Vor allem exotischen, außereuropäischen, also relativ jungen Baumbezeichnungen liegen auffalligerweise eher Syntagmen mit fr. arbre und sp. ärbol ,Baum' zugrunde, vermutlich aufgrund des Fehlens einer bekannten Fruchtbezeichnung, die als Ausgangselement dienen könnte. Hier liegen lexikalisierte Syntagmen wie z.B. fr. arbre ä pain .Brotfruchtbaum' (PR s.v. arbre), arbre ä caoutchouc ,Kautschukbaum' (PR s.v. arbre) oder sp. ärbol de la canela (alternativ: canelo) ,Zimtbaum', (Chil. .Magnolienbaum') und ärbol del pan .Brotfruchtbaum' (MOL s.v. ärbol) vor. Im amerikanischen Spanisch gibt es außerdem eine lexikalische Einheit, die nur in Syntagmen mit der Bedeutung .Baum' auftritt, nämlich am. sp. palo ,Pfahl/Baum/Strauch' in Verbindung mit Adjektiven (MOL s.v. palo), z.B. palo

66 santo ,Bulnesia sarmientoi', wörtlich ,heiliger Pfahl/Baum' (Argentinien, Paraguay; Seibert 1996: 96-99). Dem Basiskonzept B Ä U M nebengeordnet ist das Basiskonzept KRAUTIGE PFLANZE. Dem entspricht beispielsweise das sp. hierba, das alte Wort für PFLANZE, das aber schon im Lateinischen vor allem krautige Pflanzen bezeichnete (so wird es als Kohyponym zu arbor gebraucht), aber auch den Prototypen ,Gras' (OLD). Am bekanntesten ist sicher die spanische Ableitung hierbabuena ,Minze' (wörtlich ,gutes Kraut'). In MOL wird unter dem Eintrag hierba eine lange Liste weiterer lexikalisierter Syntagmen aufgeführt. Das Deutsche besitzt eine Reihe von Komposita mit Kraut, wie z.B. Heidekraut, Scharbockskraut und Schöllkraut. Die gemeinsprachliche Bedeutung von dt. Pflanze, eng. plant, fr. plante und sp. planta ist ebenfalls ,krautige Pflanze' (s. 4.3.4). Bisweilen finden sich auch diese lexikalischen Einheiten in Syntagmen oder Komposita mit der Bedeutung ,krautige Pflanze/Strauch' meist für außereuropäische Pflanzen: (35)

eng.

eggplant,Aubergine'

(36)

sp. planta de Navidad,Weihnachtsstern'

(CSD)

Ähnliche Strukturen sind bei Tierbezeichnungen zu beobachten. Es gibt keine gemeinsprachlichen Komposita auf der Basis von Substantiven mit der Bedeutung ,Tier' im wissenschaftlichen Sinn wie Wirbeltier oder Säugetier oder im mikroskopischen Bereich Moostierchen9 oder Bärtierchen. Die (meist) gemeinsprachlichen Komposita und Syntagmen enthalten analog zu den Pflanzenbezeichnungen Köpfe auf der Basis der Lebensform, d. h. der Basisebene, z.B. dt. Tier mit der gemeinsprachlichen Bedeutung ,Säugetier'. Meist handelt es sich auch hier um neuere Bezeichnungen exotischer Säugetiere, z.B. Schnabeltier, Gürteltier und Faultier. Im Spanischen findet man animal de bellota ,Schwein' (< , Eicheltier'). Viel häufiger sind allerdings im Spanischen und Französischen Syntagmen auf der Basis des weniger gelehrten sp. bestia oder fr. bete ,Säugetier': (37)

sp. bestia de carga ,Lasttier, v. a. Esel oder Maultier' ( M O L s.v.

(38)

am.sp. gran bestia ,Tapir' ( M O L s.v.

(39)

fr. bete feroce/fauve

(40)

fr. bete ä cornes , Horntier' (PR s.v. bete)

bestia)

bestia)

,Raubtier' (PR s.v. bete)

Interessanterweise ist fr. bete offensichtlich polysem und bedeutet auch ,Insekt', nicht aber ,Vogel' oder ,Fisch', was beispielsweise in bete ä bon Dieu ,Marienkäfer' (PR s.v. bete) zum Ausdruck kommt. Nun sind die Konzepte SÄUGETIER und INSEKT in vielen Sprachen nicht versprachlicht. Im Falle von SÄUGETIER wurde in 2.2.1 bereits erläutert, dass aufgrund der großen Bedeu-

9

Die Diminutivform ist eigentlich redundant, da der fachliche Terminus Tier j a Tiere aller Größen bezeichnet. Selbst beim wissenschaftlichen Terminus Tier schwingt also die speziellere gemeinsprachliche Bedeutung ,Säugetier', zumindest die Größe, mit, dessen kleinste Vertreter noch unendlich größer als Moostierchen und ähnliche Tierchen sind.

67 tung der Säugetiere fur den Menschen hier die Expertise sehr groß ist und daher feinere Unterscheidungen wichtiger sind als das mögliche Basiskonzept S Ä U G E T I E R . Auch viele kultivierte Pflanzen besitzen im Tzeltal keine Bezeichnung auf der Basisebene, nur darunter, da sie zu salient sind (Berlin 1992: 172). INSEKT hingegen ist ein wissenschaftliches Konzept und geht auf Aristoteles zurück (vgl. DSSPIL: 191), darunter fallen perzeptuell sehr heterogene Referenten, die häufig nicht sehr salient sind. Es handelt sich also hier um eine typische Restkategorie. Klarer ist das Bild bei Komposita, die Bezeichnungen für ,Fisch' enthalten. Im Deutschen und Englischen liegen zahlreiche Komposita vor, die auch hier wieder häufig exotische, weniger einheimische, Fische bezeichnen, z.B. Kugelfisch, Goldfisch, eng. globefish, goldfish. Auch im Französischen und Spanischen liegt in diesem Bereich eine große Zahl von Komposita und lexikalisierten Syntagmen vor, z.B. sp. pez espada .Schwertfisch', sp. pez globo ,Kugelfisch', sp .pez luna ,Mondfisch' (alle MOL s.v. pez), und fr. poisson lune ,Mondfisch', fr. poisson-epee ,Schwertfisch', fr. poisson-chat ,Wels' (alle PR s.v. poisson) und viele andere. Interessant ist auch die altfranzösische Bildung craspois ,Wal\ wörtlich vermutlich ,fetter Fisch' (LDAF s.v. craspois), die eine vorwissenschaftliche Konzeptualisierung reflektiert. Auch eng. jelly-fish .Qualle' und starfish .Seestern' reflektieren eine weiter gefasste gemeinsprachliche Lesart von fish (OED s.v. fish). Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Bildungen auf der Basis von Bezeichnungen mit der Bedeutung ,Vogel'. Im Deutschen und Englischen gibt es zahlreiche Komposita, z.B. dt. Eisvogel, Webervogel, eng. blackbird. Im Spanischen und Französischen beobachtet man Komposita und Syntagmen auf der Basis von sp. päjaro .(kleiner) Vogel', sp. ave .(großer) Vogel' und fr. oiseau , Vogel', z.B. sp .päjaro bobo .(Riesen)pinguin', sp .päjaro carpintero ,Specht', sp. avefria .Kiebitz', sp. avetarda .Trappe', fr. oiseau-mouche ,Kolibri' (PR s.v. oiseau-mouche), fr. oiseau-chameau .Strauß' (Darmesteter 1967: 142) oder auch fr. outarde .Trappe' (< lat. avis tarda .schwerfälliger Vogel') (DHLF s.v. outarde, Gougenheim 1975:49). Da gerade in biologischen Taxonomien Unterbegriffe durch Expertise saliente autonome Konzepte werden, findet man solche endozentrischen Ableitungen auch auf der Basis von Lexemen unterhalb der Basisebene, z.B. fr. chene-liege .Korkeiche', fr. chene vert .Steineiche', fr. chene rouvre ,Stieleiche' (PR s.v. chene), sp. roble albar ,Quercus petraea' (MOL s.v. roble). Meist handelt es sich heute allerdings um in wissenschaftlichen Kontexten gebrauchte Bezeichnungen, zumal im Verlauf der Urbanisierung hier die Kenntnis der Laien in den letzten beiden Jahrhunderten in Europa stark abgenommen hat. Bezeichnungen wie Stieleiche kennt heute nur der interessierte Laie oder der Experte. Insgesamt überwiegen in der Gemeinsprache endozentrische Komposita mit Köpfen der Basisebene (bzw. der „life form" oder Lebensform bei Berlin 1992), also auf der Grundlage von Konzepten wie B A U M , K R A U T I G E PFLANZE, S Ä U G E T I E R , FISCH, V O G E L . Bei Expertise entstehen auch analoge Bildungen auf der Basis von Substantiven unterhalb der Basisebene. Substantive höherer Generalisierungsebenen wie Tier und Pflanze sind dagegen so gut wie nie Teil von Ableitungen der Gemeinsprache. Neben den Fällen, bei denen durch Modifikation eines Basislexemes ein Hyponym entsteht, gibt es zahlreiche bisher kaum beachtete Fälle, bei denen durch Komposition, Syn-

68

tagmen und Derivation Kohyponyme entstehen. 10 Logisch ist es dann problematisch, diese als endozentrisch zu bezeichnen, da der Kopf dann kein Hyperonym, sondern ein Kohyponym ist, das intensional nicht in einer Inklusionsbeziehung zum Kompositum bzw. Syntagma steht. Berlin (1972: 55f.) stellte fest, dass in ethnobiologischen Taxonomien vermutlich zuerst generische Lexeme durch Analogie bzw. einen Vergleich zu bestehenden generischen Lexemen entstehen, also durch kohyponymische Übertragung. Auch Swanenberg (2000) beobachtet, dass statt Bezeichnungen fur V O G E L in Komposita unterhalb der Basisebene in niederländischen Varietäten oft mus ,Spatz' auftaucht. So ist grasmus ,Dorngrasmücke', ein prototypischer Vogel, also spatzenähnlich (Swanenberg 2000: 151-163). Die Tatsache, dass eine Ableitung und das Element, das auf den ersten Blick Kopf der Bildung zu sein scheint, Kohyponyme sein können, zeigt sich darin, dass der „ K o p f (im folgenden Beispiel fr. prune ,Pflaume') negiert werden kann, ohne dass das Derivationsprodukt (fr. prunelle ,Schlehe' (< ,Pfläumchen') verneint werden muss: (41)

Ce n'est pas une prune, c'est une prunelle. ,Das ist keine Pflaume, das ist eine Schlehe'

Auch die Koordination, z.B. Es gab Spechte und Finken ist nur bei Kohyponymen möglich (Cruse 1986: 94f.), zumindest schließt sie Hyponymie aus. Diese Implikation wird bisweilen in der Werbung benutzt, Landheer (1998: 400) nennt diesen Effekt „paradoxe hyponymique", der zum Beispiel in Slogans vom Typ fr. II y a les chocolats et il y a Lindt ,Es gibt Pralinen und es gibt Lindt' (Grunig 1990: 100) zum Einsatz kommt. Die Satzstruktur suggeriert Kohyponymie, dadurch wird das Hyperonym chocolat ,Praline' zu einem Kohyponym von Lindt ,Pralinen von Lindt' und nimmt die Bedeutung gewöhnliche Praline' an, Lindt wird dagegen zu einem besonders wertvollen Vertreter der Kategorie umgedeutet. Aber auch lexikalisierte Wortbildungsprodukte unterhalb der Basisebene zeigen häufig diese Struktur. Der Kopf des Kompositums ist dabei meist der Prototyp, der entweder mit demselben Lexem versprachlicht ist wie das Basiskonzept oder aber formal davon unabhängig ist. Dies ist konzeptuell nicht verwunderlich, optimiert der Prototyp doch die Basiskategorie und garantiert die Kategorienkohärenz auf der Basisebene. Morphologische Ableitungen auf der Basis von Kohyponymie sind daher fast ausschließlich unterhalb der Basisebene und auf der Grundlage von Prototypen anzusetzen, bei Expertise auch darunter. Auf der Basisebene sind die Konzepte hingegen meist zu heterogen fur kohyponymische Übertragungen. Durch den engen Zusammenhang von Prototyp und Basiskonzept können hyponymische und kohyponymische Ableitungen jedoch oft kaum unterschieden werden: On voit ainsi que les mots repertories sous la paraphrase „Sorte de X " designent des hyponymes de leur base, mais s'en distinguent, le plus souvent [ . . . ] [Hervorh. von mir] (Delhay 1996:

220)" Solche Kohyponyme entstehen auch in Syntagmen durch Modifikatoren, die lediglich eine Abweichung vom Prototypen andeuten, z.B. bestimmte intensionale Adjektive wie fr .faux,

10

Allerdings müssen kohyponymische und hyponymische von metaphorischen Ableitungen unterschieden werden. Eng. silverflsh ist eben kein Fisch, sondern ein Insekt (Berlin 1992: 28). " ,So sieht man, dass sich die Wörter, die unter die Paraphrase „Art X " fallen, H y p o n y m e ihrer Basis bezeichen, sich jedoch meist [...] davon unterscheiden.'

69 s p . / a l s o , dt. falsch, eng. mock etc., wie in eng. false lilac, false cypress (Berlin 1972: 57), fx. faux acacia .falsche Akazie, Robinie', sp. plätano falso ,Acer pseudoplatanus', ,Bergahorn' (Bustos Gisbert 1986: 168). Interessanterweise können auch Diminutiva und (pejorative) Augmentativa (z.B. fr. -asse) diese Funktion übernehmen, die Delhay (1996: 199) als „Xd ist kein richtiges x" umschreibt (s. auch Dal 1991: 233, Jurafsky 1996). Durch die Basis, d. h. den Prototypen, wird eine Ähnlichkeit mit dem Prototypen ausgedrückt, durch das Suffix oder Adjektiv gleichzeitig eine Abweichung vom Prototypen: (42)

cognasse

,wilde Quitte' (< co/wg-SUFFix ,Quitte-SUFFlx') (Delhay 1996: 349)

So gehören petit cypres ,Heiligenkraut'(~ santoline), wörtlich ,kleine Zypresse', petit houx .stechender Mäusedorn', wörtlich ,kleine Stechpalme' fragori) und petit ifJIvette ,kriechender Günsel', wörtlich ,kleine Eibe', anderen botanischen Familien an als ihre Bestandteile cypres ,Zypresse', houx ,Stechpalme' und i f , Eibe' (Delhay 1996: 181). Manche Ableitungen auf der Grundlage von Diminutiva beruhen auf einem Größenunterschied zum Prototypen. Semantisch gesehen setzen alle Dimensionsadjektive und damit auch Diminutiva, die Kleinheit ausdrücken, automatisch einen Vergleichsmaßstab voraus (Bierwisch 1987). Der „ K o p f und die Ableitung stehen so zwangsläufig bereits zum Zeitpunkt der Bildung in kohyponymischem Verhältnis: (43)

sp. camisa ,Hemd' —* camisön .Nachthemd' (.Hemd-AUGMENTATIVSUFFIX')

(44)

sp. camisa .Hemd' —> camiseta

,T-shirt' (,Hemd-DIMlNUT!VSUFFlx')

In vielen Sprachen finden sich Bildungen, bei denen das Kompositum auf der Basis einer domestizierten Pflanzenart eine Wildpflanze bezeichnet, z.B. eng. horse apple oder skunk cabbage (Berlin 1972: 57), sp. cabrahigo .wilde Feige'. Der Grund für die modifizierenden Tierbezeichnungen ist vermutlich meist der, dass die wilden Arten nicht Menschen, sondern Tieren Nahrung bieten. Wildpflanzen werden im Spanischen auch oft mit Hilfe des Adjektivs loco ,wild' von kultivierten Pflanzen abgeleitet, so zum Beispiel avena loca ,wilder Hafer' oder higuera loca .wilder Feigenbaum' (Bustos Gisbert 1986: 162). In einem Aguaruna-Mythos werden wilde Spezies auch durch Reduplikation von domestizierten Spezies abgeleitet (Berlin 1992: 162f.). Sehr zahlreich sind auch kohyponymische Ableitungen wilder Tierarten von entsprechenden domestizierten Tierarten und umgekehrt, je nach Salienz bzw. Bekanntheitsgrad einer Tierart. S p . j a b a l i .Wildschwein' stammt über eine Ellipse vom arabischen Adjektiv gabali .wild'. Im Arabischen modifizierte es das Lexem für .Schwein'. Noch im 17. Jahrhundert konkurriert es mit puerco monies, wörtlich .Bergschwein', vom selben Bildungstyp, gleichzeitig existierte der Ausdruck puerco jabali. Auch gato monies .Bergkatze' und cabra monies ,Bergziege' gehorchen diesem Muster (Garcia Mouton 1997: 236-240). Fr. sanglier ,Wildschwein' geht zurück auf mlat. singularis (porcus) ,alleine lebendes Schwein' (DHLF). Interessant ist auch der umgekehrte Fall, bei dem bei der Einführung unbekannter Haustiere die Bezeichnung von ähnlichen Wildtieren abgeleitet wird. So wird das Schaf bei den Tzeltal zunächst bei der spanischen Eroberung als tunim cih ,Baumwollhirsch' versprachlicht. Gewinnen die domestizierten Arten an Bedeutung, können die morphologisch komplexen Bezeichnungen durch Ellipse verkürzt werden. Dann werden die nun weniger salienten wilden Formen wiederum markiert, z.B. als Kompositum te7tikil cih

70 .Hirsch', wörtlich , W a l d s c h a f (Berlin 1972: 82f.). Es gibt eine Reihe weiterer Fälle kohyponymischer Ableitung, wie z.B. eng. hedge sparrow ,Heckenbraunelle', wörtlich ,Heckenspatz' (Rohdenburg 1988b: 291). Fr. laurier-rose ,Oleander', wörtlich ,Rosenlorbeer' (Darmesteter 2 1967: 142) 12 bezeichnet eine Pflanze, die zu einer anderen botanischen Familie als der Lorbeer gehört (s. DHLF). Kohyponymische Ableitungen auf der Basis verschiedener Wortbildungsverfahren sind also eher die Regel als die Ausnahme, und zwar in vielen Sprachen weltweit (z.B. auch im Songhay, s. Nicolai' 1997: 313). In vielen Fällen sieht die Ableitung wie eine hyponymische Ableitung aus, da der Kopf und die Ableitung logisch in hyponymischem Verhältnis stehen, dennoch handelt es sich häufig um eine kohyponymische Ableitung, da in der Ableitung selbst die Lesart des Kopfes einem impliziten Vergleichsstandard, oft einem Prototypen, entspricht. So setzen fr. mirtijupe und sp. minifalda ,Minirock' einen Vergleich mit einem Rock durchschnittlicher Länge voraus. Dasselbe gilt für fr. petite cuiller ,Teelöffel' (< ,kleiner Löffel'), sp. cucharilla ,Teelöffel' (< ,Löffel-DiMiNUTivsuFFix') oder fr. petit doigt ,kleiner Finger' (vgl. aber Delhay 1996: 180). Zahlreiche Bildungen, die oberflächlich wie hyponymische Ableitungen von einem Basislexem aussehen, stehen also tatsächlich in kohyponymischer Beziehung zu einem Bestandteil. Vermutlich kohyponymisch waren auch Bildungen wie lat. mälum punicum und mälum grenatum .Granatapfel', mälum cydonium ,Quitte', mälum persicum ,Pfirsich' (> fr. peche), Mattianum mälum ,Apfel' (> sp. manzana) und viele andere, die in Größe, Farbe und Form Äpfeln ähneln. Lat. mälum bedeutete schon früh ,Apfel' und nicht mehr nur ,Frucht', ,Stück Obst' (OLD). Die Ableitung von lat. mälum ist noch sichtbar im sp. melocotön ,Pfirsich' aus lat. mälum cotonium ,Apfel + Quitte' (evtl. weil Quitten und Pfirsiche mit Flaum bedeckt sind) (DCECH s.v. melon) (s. Guyot/Gibassier 1960: 61, 66f., Menendez Pidal 5 1925: 188). Allerdings kann eine Ableitung auch synchronisch wie eine kohyponymische Ableitung aussehen, wenn die usprünglich übergeordnete Basis später eine Bedeutungsspezialisierung erfahren hat. Lat. nux bezeichnete verschiedene Nussarten wie Walnuss, Haselnuss und Mandel (DHLF s.v. noix, OLD). Fr. noix und sp. nuez bezeichnen die Walnuss, nur in Syntagmen und in botanischen Ausdrücken (s. MOL, PR s.v. noix) könnte es sich noch um die allgemeinere Bedeutung handeln, z.B. in fr. noix d'acajou .Cashewnuss', noix de pecan ,Pekannuss', noix de coco ,Kokosnuss', noisette ,Haselnuss', sp. nuez de pacana .Pekannuss' 1 3 ( M O L s.v. nuez), aber aus diachroner Perspektive auch avellana .Haselnuss', eine Ellipse von Abelläna (nux) ,Nuss aus Abella' (MOL s.v. avellana). Ganz klar ist es hier meist aber nicht, ob es sich um eine hyponymische oder kohyponymische Ableitung handelt. Der Übergang ist also fließend, j e ähnlicher die Ableitung semantisch dem Prototypen ist, desto eher handelt es sich um eine kohyponymische Ableitung. Der fließende Übergang

12

13

Fr. laurier-sauge dagegen bezeichnet den gewöhnlichen Lorbeer. Diese Bezeichnung entstand 1803 nach der Bildung kohyponymischer Ableitungen (s. DHLF s.v. laurier) und diente vermutlich der stärkeren Abgrenzung, die durch die neuen Kohyponyme nötig geworden war. Die alternativen Bezeichnungen nuez chiquita .kleine Nuss' und nuez lisa .glatte Nuss' fur .Pekannuss' (MOL s.v. nuez) weisen deutlich auf eine Ableitung von .Walnuss' hin, da hier spezifische Eigenschaften wie Größe und Beschaffenheit der Schale explizit mit denen der Walnuss kontrastiert werden. Hier handelt es sich um eine in Europa noch nicht allzu bekannte Nussart. Bei der Entstehung der Ableitung bedeutete nuez sicher vor allem schon ,Walnuss'.

71 kann auch dadurch entstehen, dass sich durch neue Ableitungen vom Prototypen automatisch implizite Hyperonyme entwickeln (vgl. Langacker 1987: 373-376). Wenn neue kohyponymische Subkategorien horizontal an einen Prototypen angebunden werden, wird der Prototyp sozusagen „ausgebeult". Bei der Einführung des Weizens und des Sorghums bei den Tzeltal wird das Lexem für ,Weizen' von ?isim ,Mais' abgeleitet, nämlich kaslan ?isim ,kastilischer Mais', ebenso das neue Lexem für Sorghum moro ?isim ,maurischer Mais'. Daraufhin erfahrt das Substantiv ?isim ,Mais' eine Bedeutungserweiterung a u f , G e t r e i d e ' 1 4 (Berlin 1972: 74f.). Nun gibt es auch Fälle von reinem kohyponymischem Bedeutungswandel ohne morphologische Prozesse, allerdings vor allem bei Framewechsel (Blank 1997: 209-212), wenn beispielsweise unbekannte Tiere und Pflanzen in einer neuen Lebenswelt benannt werden müssen, z.B. in Lateinamerika: (45)

sp. cardo ,Distel' —• cardon verschiedene Bedeutungen, z.B. ,Puya chilensis', .Cephalocereus senilis' (MOL s.v. cardo und cardon)

(46)

sp. alerce ,Lärche' 219)

—» ,Fitzroya patagonica', Zypressenart aus Südchile (Seibert 1996:

Auch aus dem Indoeuropäischen sind zahlreiche kohyponymische Verschiebungen bekannt, z.B. ie. *bhägö-s vermutl. ,Buche', dem im dorischen Dialekt des Griechischen phagos ,Eiche' entspricht, russisch buz ,Holunder', im Lateinischen fagus ,Buche' und viele andere (Kronasser 1952: 106 zit. in Blank 1997: 212). Die Entstehung dieser Bezeichnungen ist wahrscheinlich alltagssprachlich, da hier über biologische Unterscheidungen hinweggegangen wird und dies nicht einmal morphologisch markiert wird. Kohyponymische Komposita wie roble australiano ,Grevillea robusta' (wörtlich a u s t r a lische Eiche' (http://www.floraguide.es/arboles/Grevillearobusta.htm, 16.12.2002), ein australischer Baum, sind dagegen vermutlich eher unter wissenschaftlichem Einfluss entstanden, da der Kontakt mit diesen nordamerikanischen und australischen Bäumen im nichtenglischen Sprachraum zumindest häufig über Naturwissenschaftler und nicht einfach Siedler wie in Lateinamerika hergestellt wurde.

2.2.5

Exkurs: Kohyponymie vs. Hyponymie

Genau wie die Hyponymie zählt auch die Kohyponymie nach Klix (1984: 18) zu den innerbegrifflichen Beziehungen. Nach der intensionalen Definition über Merkmalsmengen müsste die Nebenordnung oder Kohyponymie aufwendiger als die Hyponymie sein, da logisch zunächst die Zuordnung zu einem gemeinsamen Hyperonym festgestellt, dann erst verschiedene zusätzliche Merkmale geprüft werden müssten. Kohyponymie spielt daher in der Lexikologie, aber auch in der Computerlinguistik und Terminologie gegenüber der Hyponymie eine sehr geringe Rolle und wird eher als Nebenprodukt der Hyponymie betrachtet.

14

Dagegen erfährt eng. corn ,Getreide' eine Bedeutungsspezialisierung je nach Gebiet und den dort bevorzugten Getreidesorten. Im schottischen Englisch bedeutet corn ,Hafer', im britischen Englischen ,Weizen' und im amerikanischen Englischen ,Mais' (Blank 1997: 507).

72 Tatsächlich ist die Kohyponymie bisher völlig unterschätzt worden. Kohyponymie, also Similarität innerhalb einer Domäne, ist kognitiv deutlich weniger komplex als Hyponymie. Sie fällt Kindern leichter als hyponymische Beziehungen (Klix 1984: 56) und scheint aufgrund der Ergebnisse von Wortassoziationstests, Versprechern und aphasisch bedingten Fehlern (d. h. die Vertauschung von Kohyponymen) (s. Aitchison 32003 : 86-99, Leuninger 1986: 231 f., 237, Miller/Johnson-Laird 1976: 248f.) stabiler zu sein als Hyponymie. Klasseninklusion ist dagegen fur Kinder sehr schwer zu fassen, Hyponym und Hyperonym werden daher bei einer Frage wie „Are there more oaks or more trees?" oft als Kohyponyme reinterpretiert15 (Markman/Horton/McLanahan 1980: 229). Dies hängt mit der Tendenz von Kindern, aber auch Erwachsenen zusammen, anzunehmen, dass zwei kookurrierende Wörter sich auf einer Generalisierungsebene befinden, also in ihrer Extension nicht überlappen („mutual exclusivity constraint", s. 2.2.4 und Bloom 2001: 164f., Clark 1993: 6 2 65). Außerdem sprechen natürlich die zahlreichen kohyponymischen Wortbildungsprodukte dafür, dass Kohyponymie kognitiv nicht komplexer sein kann als Hyponymie. Meines Erachtens ist der Grund für die Bedeutung der Kohyponymie die mögliche bildliche Stütze durch Gestaltbeziehungen, denn Kohyponyme befinden sich auf einer Generalisierungsebene und Kohyponymie kann daher auf der Basisebene und darunter auf direkten Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen zwischen Gestalten beruhen, die außerdem durch Kontiguität verstärkt werden können. Die Häufigkeit von Kohyponymen in Syntagmen schafft außerdem oberflächliche Zusammenhänge von Wortpaaren, wie z.B. Hund und Katze (Klix 1984: 67). Hyponym und Hyperonym, die verschiedenen Generalisierungsebenen angehören, können dagegen nicht direkt über Gestalten verglichen werden. Die Bedeutung der Kohyponymie kommt auch in ethnobiologischen Taxonomien und Sprecherurteilen zum Ausdruck. Informanten bezeichnen kohyponymische Lexeme häufig als „Gefährten" oder „Brüder", erkennen also diesen Relationstyp (Berlin 1992: 145). Diese Art der horizontalen Kategorisierung hat, neben der übermächtigen gelehrten Tradition vertikaler Inklusionsbeziehungen, auch in Europa eine lange Tradition. Die Römer haben wie auch die Griechen Tiere taxonomisch in Arten und Gattungen eingeteilt. Nun wurde jede Art dabei auf einen Typus, also auf einen Prototypen, zurückgeführt. Die verschiedenen Repräsentanten einer Spezies werden aufgrund von kohyponymischen Ähnlichkeiten zum Typus, z.B. RIND oder PFERD, beurteilt (Biville 1997: 59). Aufschlussreich ist auch die semantische Entwicklung, die viele wissenschaftliche Bezeichnungen von Kategorienebenen einer Taxonomie bei der Übernahme in die Gemeinsprache erfahren. Es gibt eine Reihe ursprünglich gelehrter Wörter zur Bezeichnung von taxonomischen Einteilungen wie z.B. fr. genre .Gattung', espece ,Art', type ,Typ', sorte ,Sorte', classe ,Klasse', sp. genero ,Gattung', tipo ,Typ', especie ,Art' und clase ,Klasse'. Ab dem 17. Jahrhundert werden viele dieser Begriffe wie auch Ordnung, Familie, Reich zu Bezeichnungen bestimmter Rangebenen biologischer Taxonomien. Aus vielen dieser Bezeichnungen werden in der Alltagssprache unabhängig voneinander aus der Bezeichnung hierarchischer vertikaler Beziehungen Bezeichnungen horizontaler Beziehungen der Annäherung. So wird fr. espece de seit Ende des 16. Jahrhunderts verwendet, wenn man eine Person oder eine Sache nur sehr grob über die Ähnlichkeit meist zu einem Kohyponym

15

Allerdings handelt es sich hier u m eine Koordination, die auch Erwachsene dazu veranlasst, die koordinierten Substantive als K o h y p o n y m e zu interpretieren (s. Grunig 1990: 100).

73 kategorisieren kann (DHLF). Auch genre de und sorte de entwickeln später die Bedeutung der horizontalen Annäherung (Rouget 1997), sie sind heute also polysem. Sie besitzen wie auch sp. especie, dt. Art und eng. kind und sort sowohl die philosophische bzw. biologische Bedeutung, die auf der Klasseninklusion beruht als auch die umgangssprachliche Bedeutung der Annäherung auf der horizontalen Ebene (s. auch Dal 1991: 214). Beispiel (47) kann sich auf drei pizzaähnliche Gerichte oder aber drei Pizzasorten beziehen: (47)

II m ' a fait manger trois genres de pizzas. (Rouget 1997: 289) 1 6

Oft erfahren solche „Approximativa" neben den semantischen Veränderungen deutliche phonologische und syntaktische Veränderungen. Sie werden zu pragmatischen Elementen, nämlich zu Heckenausdrücken, die der spontanen approximativen Kategorisierung dienen. In der approximativen Bedeutung sind eng. kind of und sort of phonologisch stark verkürzt (z.B. zu kinda und sorta) und können dann nicht mehr der logischen Inklusion dienen: (48)

? A dog is a .../kanav/...animal. (Cruse 1986: 138, s. auch Rohdenburg 1988a: 210)

In diesen Verwendungen handelt es sich nicht mehr um vollwertige Substantive, eher um Determinatoren des Kopfes einer Nominalphrase. Die diachrone Entwicklung der oben besprochenen Heckenausdrücke, aber auch psycholinguistische Beobachtungen (s. Aitchison 32003 : 96-99) zeigen also, dass vertikale Bewegungen anspruchsvoller sind als horizontale Bewegungen und eher nach Bedarf im Diskurs hergestellt werden. Die Kohyponymie ist also in der Alltagssprache mindestens genauso wichtig wie hyponymische Beziehungen. Hier geht es um Vergleiche mit einer Norm (Yaguello 1998: 24), die immer horizontal sind. Vermutlich ist also die kohyponymische Ableitung phylogenetisch und ontogentisch primitiver als die hyponymische Ableitung (s. auch Dittmann 2002: 304). Tentativ kann man sagen, dass hyponymische Ableitungen tendenziell bei untypischeren Kategorienmitgliedern zu finden sind, z.B. päjaro bobo ,(Riesen)pinguin', oder in Fällen, wo wissenschaftlicher Einfluss wahrscheinlich ist, wie bei der Benennung exotischer Tiere und Pflanzen, die vermutlich zuerst von Naturkundlern beschrieben wurden, z.B. arbre ä pain ,Brot(frucht)baum'. Daher findet man hier auch die Ableitung von Hyperonymen oberhalb der Basisebene. Nach Wierzbicka wird ein Apfel nicht als eine Art Frucht kategorisiert, wohl aber exotischeres, weniger vertrautes Obst: „I think of paw-paws as of ,some kind of (tropical) fruit'" (Wierzbicka 1985: 217). Gerade zentrale, aber nicht prototypische untergeordnete Substantive werden dagegen oft kohyponymisch, nicht aber hyponymisch abgeleitet. Allerdings ist hier paradoxerweise auch eine starke Inferenz der morphologischen Struktur zu beobachten, die vielleicht durch wissenschaftlichen Einfluss erklärt werden kann. Liegen formal scheinbar endozentrische, aber semantisch einem Bestandteil nebengeordnete Komposita oder Syntagmen vor, stört die morphologisch suggerierte hyponymische Lesart bei der Koordination von Simplizia und den davon abgeleiteten Kohyponymen, möglich ist die Gegenüberstellung eng. coats and macs, nicht aber *coats and raincoats (Rohdenburg 1988b: 295). Häufig sind solche Unterbegriffe sogar für den Laien endozentrisch, für Experten exozentrisch, so sind z.B. Wühlmaus und Spitzmaus für den Laien,

16

,Er hat mich dazu gebracht, drei Arten Pizza zu essen.'

74 nicht aber den Biologen, Mäuse (Rohdenburg 1988b: 287, 291). Selbst in Fachtexten wird es allerdings eher vermieden, Kopf und abgeleitetes Kohyponym aneinanderzureihen (Rohdenburg 1988b: 288), da nach Ansicht Rohdenburgs hier die morphologische Relation zu explizit ist. Eine befriedigende Erklärung steht hier noch aus.

2.2.6

Morphologisch opake Hyponyme unterhalb der Basisebene

Werden morphologisch komplexe Substantive unterhalb der Basisebene, die ein Hyperonym oder Kohyponym enthalten, lexikalisiert, werden sie also zu autonomen Lexemen, geht oft gleichzeitig die morphologische Anbindung an die Taxonomie verloren, da sie nun direkt und nicht mehr über die Bestandteile referieren (vgl. Menendez Pidal 5 1925: 202, Ungerer 1999). Im Französischen ging aufgrund des starken Lautwandels die morphologische Motiviertheit eher verloren als im Spanischen, vgl. sp. avetarda ,Trappe' und fr. outarde ,Trappe' (< lat. avis tarda) ,schwerfalliger Vogel' (DHLF, Gougenheim 1975: 49, MOL s.v. avetarda). Aber auch durch Ellipse 17 werden morphologisch komplexe Wörter undurchsichtig. Auch hier ist die formale Veränderung Symptom für semantischen Wandel, durch den aus der kompositionalen Bedeutung eine holistische Bedeutung wird. Nun sind bei den besprochenen Hyponymen unterhalb der Basisebene zwei Typen von Ellipsen möglich, die Ellipse des Determinans und die Ellipse des Determinatums. Im ersten Fall entsteht der Eindruck der vertikalen Polysemie (s. Gevaudan Ms.: 116), z.B. bei der Entstehung von Schirm R e genschirm' durch Ellipse von Regen-, falls das dem Determinatum zugrunde liegende Substantiv noch unabhängig existiert. Bei der weitaus häufigeren Ellipse des Determinatums (Blank 1997: 293) entsteht bei adjektivischen Determinantia der Eindruck des Wortartwechsels, z.B. im Falle von Abelläna (nux) ,Nuss aus Stadt Abella' (MOL s.v. avellana). Die Ellipsen behalten das vom Determinatum bestimmte Genus bei, vgl. sp. mask, pantalön(es) vaquero(s) ,Jeanshose' und mask, vaquero(s) Jeans'. Dieser Ellipsentyp ist sehr häufig bei Kleidungsstücken und muss auch bei fr. tailleur (< costume tailleur) (Blank 1997: 528) angenommen werden. Ellipsen sind aber auch im Bereich der Biologie häufig anzutreffen:

17

(49)

fr. gentiane .Enzian' < (botan.) lat. (herba) Gentiana ,Enziankraut' (Ott 1874: 10)

(50)

fr. dinde ,Pute' < (poule) d'Inde ,Henne aus Indien' (die Pute wurde im 16. Jahrhundert aus Mexiko nach Frankreich gebracht, s. DHLF, Gougenheim 3 1968: 78)

Blank (2001b: 89f.) betrachtet Ellipsen als eine Art von Bedeutungswandel, nämlich als Übertragung der Bedeutung eines Kompositums auf einen daneben noch isoliert existierenden Bestandteil, der dadurch polysem wird. Das bedeutet aber, dass dazu die Komponente, die die Bedeutung des gesamten Kompositums übernimmt, zur Zeit der Ellipsenbildung noch außerhalb des Kompositums separat existieren muss. Findet man Beispiele, wo Ellipse stattfindet, die Einzelkomponenten unabhängig aber nicht mehr existieren, wäre das der Beweis gegen Blanks Analyse und spräche für eine Abkürzung an den Morphemgrenzen auf Formebene. Ellipse betrachte ich daher entgegen Blank in Übereinstimmung mit Rainer (1993: 676) und Gevaudan (Ms.: 148f.) nicht als eine Art des Bedeutungswandels, sondern als häufige formale Kürzungserscheinung bei Lexikalisierung.

75 (51)

fr.

sanglier
Ich habe Obst gegessen.' ,lch habe ein Hemd gekauft. —> Ich habe Kleidung gekauft.'

105 chung Vieh, ein Stück Vieh. Sp. rebaho, fr. troupeau und die deutsche Entsprechung Herde können in solchen Konstruktionen dagegen nicht erscheinen.

3.4.3

Grenzbereiche

Neben diesen typischen Kollektiva gibt es Grauzonen, in denen der Kollektivcharakter nicht eindeutig bestimmbar ist. Zwischen Kollektiva und Massennomina wird beispielsweise häufig nicht klar unterschieden (Kuhn 1982a: 84f.). In der Tat sind die Grenzen zwischen Kollektiva und Stoffbezeichnungen oft fließend. Sind die Elemente perzeptuell homogen und schwach individualisiert, so nimmt die semantische Nähe zu Stoffnomina zu (vgl. Curat 1999: 126f., Langacker 1990: 70f.). Interessant sind dabei auch die diachronen Übergänge. Zahlreiche romanische Kollektiva stammen von lateinischen Pluralformen des Neutrums ab, so auch fr. entrailles ,Eingeweide, Innereien' aus spätlat. intralia .Innereien' (DHLF). Diese Pluralformen werden lexikalisiert als Kollektiva, um häufig erneut pluralisiert zu werden (z.B. Baldinger 1950: 126, 173, 223), denn hier kann die Konzeptualisierung zwischen einer homogenen Masse und einer Vielheit von Individuen schwanken. Fast immer bleibt dieser Typus diachron im Grenzgebiet zwischen Kontinuativa und Kollektiva und schwankt zwischen der Pluralität von Individuen (vgl. Meisterfeld 1998: 114-116) und der ungegliederten Masse, zwischen Plurale- und Singularetantum. Die Grenze zu Stoffnomina befindet sich dort, wo keine getrennten Individuen mehr konzeptualisiert werden. Bei vielen Genuskollektiva, die mehrere individualisierte Basiskonzepte zusammenfassen, die aber als homogen konzeptualisiert werden, ist ähnliches zu beobachten. Hier kann die Homogenität sie in die Richtung der Stoffnomina rücken: Wie Massennomina können sie auf kleinste Teile referieren. So können, wie bereits in Beispiel (10) und (11) gezeigt wurde, Genuskollektiva auf ein Individuum referieren. Logisch gesehen sind die oft als Kontinuativa beurteilten Lexeme sp.fruta ,Obst', ropa ,Kleidung' oder ganado ,Vieh' also keine Kollektiva, denn sie können theoretisch auf ein Element referieren, dennoch erfordern Genuskollektiva aber interessanterweise im Diskurs meist pluralische Referenten, z.B. arabische Gattungskollektiva (Kuhn 1982b: 62, s. auch Corbett 2000: 13, Fußnote 4). Auch im Walisischen erfordert die unmarkierte Kollektivform eine pluralische Kongruenz, sie ist also nicht eigentlich transnumeral, sondern kollektiv (Kuhn 1982b: 66). Hier ist also eine Diskrepanz zwischen der logischen Eigenschaft der Divisivität, die Genuskollektiva (zumindest bis zur Grenze des einzelnen Individuums) mit Massennomina teilen, und dem Default-Fall der pluralischen Referenz zu beobachten. Die entgegengesetzte Grenze ist bei sehr unspezifischen, von der Basisebene losgelösten Substantiven wie Gruppe erreicht. Gerade Individuativa sehr ähnliche Kollektiva wie sp. rebano ,Herde' sind weniger typische Substantive, da sie relational sind (s. 1.4.2) und daher explizit oder implizit eine Ergänzung benötigen, z.B. un rebano de elefantes ,eine Herde Elefanten'. Ohne Ergänzung werden solche Kollektiva oft absolut, indem sie eine implizite Ergänzung bekommen, un rebano bezeichnet meist eine Schafherde (MOL s.v. rebano). Gruppenkollektiva sehr ähnlich sind sp. docena ,Dutzend', nitmero ,Anzahl', grupo ,Gruppe', serie ,Serie' etc. (Bosque 1999: 23f.), fr. (bon) nombre ,Anzahl', multitude ,Menge', foule de ,Menge', die oft nicht mehr zu den Kollektiva gerechnet werden, sondern die Funktion von Quantoren übernehmen (Borillo 1997: 109, Flaux 1999: 475). Ausgangspunkt für die Grammatikalisierung von Quantoren sind häufig sehr unspezifische Gruppen-

106 kollektiva wie sp. grupo ,Gruppe' oder serie ,Serie', d. h. relationale Substantive, die wie Quantoren oft nur mit Ergänzungen gebraucht werden können (Bosque 1999: 24). Solche generischen Kollektiva wie sp. grupo und fr. groupe ,Gruppe' brauchen wenigstens implizit eine Ergänzung, wenn sie in nicht mathematischem Sinn gebraucht werden (Flaux/van de Velde 2000: 61). Im Verlauf der Grammatikalisierung werden diese relationalen Substantive zu reinen Mengenindikatoren. Häufig bleibt dann auch von der Gegenstandsqualität nur eine sehr abstrakte, nicht mehr bildlich vorstellbare Quantitätsbestimmung übrig: (12)

fr. combien y en avait-il? Des paquets/Une centaine/Une foule (Borillo 1997: 109) 9

Viele solcher Quantoren sind polysem. Neben der neuen quantifizierenden Funktion besitzen sie häufig noch die ältere lexikalische Bedeutung. Auch manada ,Herde' (Bosque 1999: 23ff.) besitzt noch beide Funktionen, ebenso fr. foule ,(Menschen)Menge' - une foule de souvenirs ,Eine Menge Erinnerungen' (Borillo 1997: 109). In (13) liegt bei sp. manada die lexikalische Bedeutung vor, in (14) die quantifizierende: (13)

Actualmente, la poblacion lobuna de Castilla y Leon oscila entre 1.000 y 1.500 ejemplares [...]. El nümero de manadas se ha triplicado en Valladolid [...] (El Norte de Castilla 18/11/2002, Espana, CREA) 1 0

(14)

a traves de mi vida he danado que manada de (http://www.laneros.com/archive/index.php/t-4645.html, 25.04.2005) 1 1

cosas

[...]

Relationale Substantive, die nun nicht zu den typischen autonomen Substantiven gehören, sind aufgrund ihrer Relationalität geradezu prädestiniert für die expressive Quantifikation anderer Substantive und werden oft grammatikalisiert. Wie auch bei der Entstehung von Adpositionen aus Partitiva, meist Körperteilbezeichnungen, entsteht auch hier aus einem relationalen Substantiv ein Funktionswort, das nicht mehr bildlich vorstellbar ist. Bei der Lexikalisierung ist das Gegenteil der Fall. Kollektiva werden durch Lexikalisierung spezifischer. Aus rebano ,Herde' wird so das autonomere, spezifischere und bildhaft repräsentierbare rebano ,Schafherde' (MOL). Weiterhin ist eine Grauzone zwischen Kollektiva und flexivischem Plural zu beobachten. Beide Kategorien beruhen auf einer Pluralität von Individuen. Besonders stark ist die Ähnlichkeit bei Genuskollektiva, deren Elemente homogen, aber individualisiert sind, während Gruppenkollektiva oft auf heterogenen Elementen beruhen. Zählbar sind nur homogene Entitäten, Äpfel oder Früchte, nicht Äpfel und Birnen. Und so sind Kollektiva und Plurale oft austauschbar, fr. la flore des Andes ,Die Flora der Anden' referiert auf dasselbe wie les plantes des Andes ,Die Pflanzen der Anden'. Formal unterscheidet sich der Plural von Kollektiva darin, dass er flexivisch ist, während Kollektiva lexikalische Kategorien sind, die z.T. durch ganz spezifische Derivations- und Kompositionsverfahren entstehen können. Der Plural ist damit formal wesentlich markierter als die semantische Kategorie der Kollektiva. Allerdings ist die Pluralflexion ein inhärenter Flexionstyp im Gegensatz zu Kongruenz und Kasus, die von der syntaktischen Umgebung bestimmt werden. Inhärente Flexion ist 9 10

11

,wie viele gab es? Ein Haufen/Hunderte/eine Menge' ,Momentan schwankt die Wolfspopulation zwischen 1000 und 1500 Exemplaren [...] Die Anzahl der Rudel hat sich in Valladolid verdreifacht [...]' ,1m Lauf meines Lebens habe ich eine Menge Dinge kaputtgemacht [...]'

107 Wortbildungsverfahren sehr ähnlich, da sie vom Satz unabhängige Information bereitstellt und wie Derivationsprozesse, allerdings seltener, blockiert werden kann (Haspelmath 2002: 81 f.)· Innerhalb der Nominalflexion befindet sich der Numerus so eher am lexikalischen Ende des Kontinuums nahe den Seinsarten, also der Unterscheidung zwischen Individuativa und Massennomina, mit denen die Möglichkeit der Pluralflexion korreliert ist (vgl. Bybee 1985: 85). Allerdings gibt es auch einen wichtigen Unterschied zwischen flexivischem Plural und Kollektiva. Der flexivische Plural wird meist erst im Diskurs an Substantive angefügt und beruht dann auf Prozessen des Arbeitsgedächtnisses, während Kollektiva als ganze Speichereinheiten des mentalen Lexikons aktiviert werden. Damit ist der Plural semantisch flexibler als Kollektiva. In der Tat kann er im Unterschied zu Kollektiva sowohl kollektive als auch distributive Vielheiten bezeichnen. Dabei handelt es sich um eine (zumindest in den indoeuropäischen Sprachen) der Kategorie des Plurals inhärente Ambiguität: (15)

Die Soldaten erhielten hundert Mark. (Link 1991: 427)

(15) hat zwei Lesarten, das Beispiel kann distributiv interpretiert werden, dann erhält jeder Soldat hundert Mark, oder aber kollektiv, dann erhalten alle zusammen hundert Mark. Beim distributiven Plural wird jeder einzelne Referent gesondert konzeptualisiert, und so bezieht sich das Prädikat hier auf jeden einzelnen Soldaten, während beim kollektiven Plural die Gruppe, nicht der Einzelne, betrachtet wird. Die distributive, also logisch aufzählende und nicht holistische Lesart ist dem flexivischen Plural vorbehalten und gegenüber der kollektiven Lesart auch in den meisten Sprachen semantisch wesentlich markierter (s. Gil 1995: 324f., Link 1998: 23, 35f.). Verstehenstests haben gezeigt, dass Distributivität kognitiv anspruchsvoller ist als Kollektivität und dass Versuchspersonen daher die kollektive Lesart vorziehen 12 (Frazier/Pacht/Rayner 1999: lOOf.). Distributive Quantoren sind eher entlehnt, vgl. sp. cada jeder', das aus dem Griechischen ins Vulgärlatein entlehnt wurde und das erbwörtliche todos ,alle' (s. Gil 1995: 354f., Fußnote 21, Haspelmath 1995: 377f.). Im Nahuatl können überhaupt nur von Substantiven, die belebte Wesen bezeichnen, Substantiven distributive Pluralformen gebildet werden. Substantive mit unregelmäßigen Pluralmorphemen oder Stammveränderung, die ja eher ihre eigene lexikalische Repräsentation haben und nicht über Regeln erzeugt werden (vgl. Bybee 1985: 134), drücken im Übrigen oft Kollektivität aus (vgl. Biermann 1982: 238ff.). Spezielle Distributivmarker treten andererseits in vielen Sprachen nicht beim oberen Segment der Belebtheitshierarchie auf (Corbett 2000: 114). Vermutlich liegt dies daran, dass hier die Individuen salienter sind und die distributive Lesart damit kognitiv einfacher ist und nicht markiert werden muss. In 1.3 wurde gezeigt, dass es qualitative semantische Unterschiede zwischen Lexikon und Grammatik gibt, die verarbeitungs- und speicherungsbedingt sind. Nun ist die Kollektivität in den romanischen Sprachen eine lexikalische Kategorie, der Plural ist hingegen eine flexivische Kategorie. Auch wenn die Grenzen zwischen Flexion und Derivation fließend sind, beobachtet man, dass Derivationsaffixe die Referenz des Stammes in der Tendenz stärker verändern als Flexionsmorpheme. Erstere sind für den Stamm „relevanter" als letztere, die dafür eine höhere „lexical generality" besitzen (Bybee 1985: 82-87) und daher semantisch allgemeiner und meist obligatorisch sind. Die Flexion ist semantisch und morphologisch

12

Allerdings fanden Frazier/Pacht/Rayner (1999: 101), dass dies nicht auf Kinder zutrifft.

108 regelmäßiger und kompositionaler als die Derivation, aber auch abstrakter. In der Tat ist die kollektivische Pluralität perzeptuell direkt erfassbar. Kollektiva sind holistisch konzeptualisierte Gruppierungen. Daher sind sie auch gute Speichereinheiten des semantischen Gedächtnisses, denn die (bildhafte) mentale Speicherung eines Konzeptes als konkretes Objekt ist kognitiv besonders günstig (Paivio 1971: 207). Kollektiva stellen einen Spezialfall von lexikalisierten Frames dar, die eine Pluralität von mehr oder weniger homogenen Elementen zusammenfassen - ein lexikalischer Plural sozusagen. Bei der Lexikalisierung von pluralisch markierten Substantiven, häufig auch bei der Entstehung unregelmäßiger Pluralmarkierungen, wird nur die kollektive Lesart lexikalisiert. So bezeichnet die unregelmäßige Pluralform fr. yeux meist ein Augenpaar, der Plural ist hier kollektiv, der regelmäßige Plural ceils aber bezeichnet, auch distributiv, diverse Arten von Öffnungen (Grevisse/Goosse 13 1993: 797), die nicht unbedingt paarweise auftreten. Auch im Klassischen Arabischen sind Plurale mit Stammalternanz kollektiv, rein affixale Plurale distributiv (Corbett 2000: 209). Diese Tendenz von Pluralen, bei der Lexikalisierung zu Kollektiva zu werden, ist besonders deutlich beim Wandel der ursprünglichen lateinischen Neutra zu sehen. Aus dem Neutrum Plural lat. vascella ,kleine Gefäße' wird der feminine Singular sp. vajilla G e schirr' (DCECH s.v. vaso). Im Italienischen entstand aus pluralischen Neutra sogar ein lexikalisiertes Muster zur Bildung des kollektiven Plurals (vgl. Ojeda 1995). Beispielsweise bezeichnet der lexikalisierte Plural oft eine konkrete Gruppierung von Körperteilen, so bezeichnet le dita alle Finger einer Person, der flexivische Plural i diti dagegen Finger allgemein. Umgekehrt können sich aber diachron auch durch Grammatikalisierung aus Kollektivsuffixen Pluralmorpheme entwickeln (Corbett 2000: 119, 266), besonders häufig ist dies in Kreolsprachen zu beobachten, so entsteht der Pluralmarker ban, z.B. ban lera R a t ten' im Mauritiuskreol aus fr. bände ,Truppe, Bande' (Bollee 1977: 37). Der distributive Plural ist dagegen abstrakter und kognitiv aufwendiger als der kollektive Plural. Weniger als vier Gegenstände werden noch distributiv als genaue Anzahl spontan wahrgenommen. Dieses Phänomen wird als „subitizing" bezeichnet (Hurford 1987: 93). Interessanterweise ist bei sehr hohen Numeralen oft eher keine distributive Lesart des Plurals zu beobachten (van der Does 1998: 252). Je mehr Entitäten vorliegen, desto weniger salient ist die einzelne Entität und desto unwahrscheinlicher ist es, dass die genaue Anzahl wahrgenommen (nicht gezählt!) wird. Will man höhere Zahlen genau erfassen, müssen die Entitäten gezählt werden, ein Prozess, der auf kognitiven Prozessen des Arbeitsgedächtnisses beruht, nicht auf direkt speicherbaren Bildern. Distributivität ist logisch interpretierbar, Kollektivität eher perzeptuell: [...] distributive predication has universal quantificational force and is thus equipped with a precise logical interpretation. By contrast, the collective mode is mostly vague and indeterminate, even when made explicit by means of adverbs like together. (Link 1998: 35)

In Klassifikatorsprachen wird meist nur der distributive Plural durch Klassifikatoren markiert, sie treten also bei sehr hohen Zahlen in kollektiver Lesart seltener auf (Aikhenvald 2000: 100, Greenberg 1972: 6). Bei höheren Numeralia treten die Individuen in den Hintergrund, daher ist hier die distributive Lesart problematischer. Interessanterweise sind höhere Numeralia im Gegensatz zu niedrigen Numeralia auch eher Köpfe von Nominalphrasen, vgl. lat. duae feminae ,zwei-NOM.FEM.PL Frauen-NOM.PL' und lat. sex milia feminarum ,sechstausend-NOM.PL Frauen-GEN.PL' (Hurford 1987: 189). Nur die distributive Lesart verlangt in der Regel auch die morphologische Pluralableitung vom Singulativ in keltischen

109 Sprachen. In manchen Sprachen sind Klassifikatoren außerdem bei sehr niedrigen Zahlen nicht obligatorisch (Greenberg 1972: 6). Hier befinden wir uns bemerkenswerterweise noch im Bereich des „subitizing". Bei höheren Zahlen ist die Distributivität also kognitiv aufwendig, kann nicht mehr holistisch erfasst werden, sondern muss durch Rechenoperationen hergeleitet werden. Hierbei spielt auch die Sprache eine zunehmende Rolle (siehe Hurford 1987: 116). Der Plural kann im Unterschied zu Kollektiva sowohl kognitiv einfachere kollektive als auch distributive Vielheiten bezeichnen. Kollektionen hingegen sind immer ganzheitliche, bei Konkreta bildhaft gespeicherte Konzepte. Der distributive flexivische Plural basiert auf Denkprozessen des Arbeitsgedächtnisses, die lexikalischen Kollektiva auf der Speicherung im Langzeitgedächtnis. Bei Lexikalisierung entstehen Kollektiva, bei Grammatikalisierung der flexivische distributive (und kollektivische) Plural.

3.5

K o l l e k t i v a vs. Individuativa - M e r o n y m i e vs. H y p o n y m i e

Kollektiva oberhalb der Basisebene in Taxonomien von Individuativa sind kein Randphänomen, sondern scheinen eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Markman (s. Markman 1985: 39) hat 18 Sprachen 13 untersucht und festgestellt, dass von den untersuchten übergeordneten Substantiven insgesamt durchschnittlich 34% Massennomina (bzw. Kollektiva) sind. Selbst im Japanischen, dessen Substantive Transnumeralia sind, schätzte der Informant mehrere Substantive semantisch eher als Massennomina ein (Markman 1985: 37). In der American Sign Language beträgt der Anteil der Massennomina hier sogar 68% (Markman 1985: 39). Von der Basisebene abwärts liegen dagegen meist Individuativa vor (Markman 1985: 38f.). Unterzieht man einen Konzeptbereich einzelner Sprachen der systematischen Analyse, ergibt sich ein noch auffalligeres Bild. Allein im Bereich der Bekleidung finden wir eine große Zahl an Kollektiva bzw. Massennomina mit der Bedeutung ,Kleidung, Aufmachung', z.B. im Französischen accoutrement ,seltsame Aufmachung', costume ,Aufmachung, Kostüm, T r a c h t \ f r i n g u e s , sapes, nippes,frusques, alle mit der Bedeutung ,Klamotten', garderobe ,Garderobe', habillement,Bekleidung', habits ,Kleidung', mise .Aufmachung', tenue .Aufmachung', vestiaire .Garderobe (Bekleidung)' (PR) und viele andere, im Spanischen indumentaria .Kleidung, Aufzug', indumento ,Kleidung', ropa ,Kleidung', traje .Kleidung', vestido(s), vestidura ,Bekleidung', vestuario .Kleider, Garderobe', atavio .Aufmachung, Aufzug', atuendo ,Aufmachung, Aufzug', guardarropa .Garderobe', ropaje ,Kleidung' und weitere. Hierbei handelt es sich meist um Gruppenkollektiva, wovon der folgende Beleg von sp. ropaje in einer „N1 de N2"-Konstruktion Zeugnis ablegt:

13

Es handelt sich neben indoeuropäischen Sprachen um Arabisch, A S L , Finnisch, Guro, Hebräisch, Japanisch, Koreanisch, N z e m a , Türkisch und Ungarisch, also überwiegend Sprachen mit einer Schrifttradition und wissenschaftlichem Einfluss. Es wäre aufschlussreich, dieses Ergebnis mit Daten einer größeren Zahl nichtverschrifteter Sprachen zu vergleichen. Vermutlich wäre der Anteil der Massennomina noch höher (s. Kapitel 5 und Markman 1985: 39).

110 (16)

aquel ropaje excesivo de prendas de vestir y de mantas carcelarias (Egido (1995): El corazcm inmövil, CREA)' 4

Diese Beobachtung gilt auch fur das Deutsche und Englische. Die Hyperonyme mit der Bedeutung ,Kleidungsstück' sind dagegen schnell genannt, im Französischen finden wir vetement, im Spanischen prenda (neben stark umgangssprachlichen, oft pejorativen Substantiven wie fr. haillon ,Lumpen' oder trapo ,Lumpen'). Die Zahl der zählbaren Hyperonyme gegenüber der Zahl der Kollektiva ist also auffallend gering. Gruppenkollektiva und ihre Mitglieder sind durch Meronymie verbunden, Hyperonym und Hyponym durch Hyponymie. Vor allem oberhalb der Basisebene scheinen sie jedoch funktional sehr ähnlich zu sein (s. auch Cruse 1986: 179). Wie auch die Hyponymie lässt sich die Meronymie durch die einseitige Implikation von Sätzen definieren (Miller/Johnson-Laird 1976: 242). Die Implikation wird allerdings im Vergleich zur Hyponymie nur in einer beschränkten Auswahl von Sätzen sichtbar. „Es ist ein X " impliziert beispielsweise „Es hat ein Y", wenn X Holonym, das Ganze, und Y Meronym, Teilbezeichnung, ist (Cruse 1986: 160). O f t handelt es sich allerdings eher um wahrscheinliche Relationen, so impliziert „Er besitzt ein Fahrrad" wahrscheinlich, nicht aber zwingend „Er besitzt einen Fahrradsattel". Die meronymische Inklusionsbeziehung ist häufig eher auf der Ebene der Referenz anzusiedeln. So sind Fahrradsättel meist Teile von Fahrrädern. Intensional wird bei der Meronymie, die sich auf Teile eines Individuums bezieht, eher das Teil über seine Zugehörigkeit zum Ganzen definiert als umgekehrt. Fahrradsattel wird eher als Teil eines Fahrrads definiert, als dass Fahrrad als „Gerät, das einen Sattel besitzt" definiert wird (s.a. Tamba 1991: 47, Tversky 1990: 343). Neben der typischen Teil-Ganzes-Beziehung diskutiert Cruse (1986: 172-177) der Meronymie verwandte Relationen, wie z.B. Örtlichkeit (Europa - Frankreich), Gruppe Mitglied (tribe - tribesman), Klasse - Mitglied (clergy - bishop), Kollektion - Mitglied (tree -forest), Material - Zutat/Bestandteil (wine - alcohol), Objekt - Material (tumbler glass), Substanz - Partikel (snow -flake) (s. auch Chaffin/Herrmann 1988: 297, Winston/Chaffin/Herrmann 1987: 420). Die Gruppe-, Klasse- und Kollektion-MitgliedRelationen unterscheiden sich jedoch deutlich von der typischen Teil-Ganzes-Relation, bei der das Ganze ein Individuum ist. Von der ganzen Gestalt ausgehend, die kognitiv primär ist, sind zwei sehr unterschiedliche Meronymiebeziehungen ableitbar. Das Individuum kann in Teile zerlegt werden, mehrere Individuen können zu einem neuen Ganzen gruppiert werden: Komponenten

Ganzes

Kollektiv

>

I

Stamm Abb. 25:

14

Baum Teil - Ganzes - Gruppierung

jene exzessive Bekleidung von Kleidungsstücken und Gefängnisdecken'

Wald

Ill Das Verhältnis zwischen Teil und Individuum ist meist enger als das zwischen einem Kollektivum und seinen Elementen. Ein Baum ist nicht immer Teil eines Waldes, ein Stamm aber prinzipiell Teil eines Baumes. Während Wald konzeptuell von Baum abhängt, hängt Stamm konzeptuell eher von Baum ab. Es ist dagegen kein inhärentes Merkmal von Baum, Teil eines Waldes zu sein. Diese Beschreibung trifft vor allem auf Gruppenkollektiva zu. Die Klasse-Mitglied-Relation (Cruse 1986: 176), bei der das Ganze ein Genuskollektivum ist, beruht eher auf intrinsischen Merkmalen der Individuen. Ihr liegt eher die kognitive Assoziation der Similarität als der Kontiguität zugrunde. Die Zugehörigkeit der Individuen zu einer Klasse ist intensional. Damit ist diese Relation der Hyponymie ähnlicher als der Meronymie. Die Abhängigkeitsrichtung ist allerdings nicht klar. Hängt das Individuum konzeptuell von der Klasse ab, ist also K U H über RIND definiert, oder umgekehrt? In der Direktionalität ähneln sich die klassisch definierte Hyponymie und die typische Meronymie, die das Ganze in Teile zerlegt. Teil und Hyponym sind intensional im Ganzen bzw. im Hyperonym enthalten (Cruse 1986: 123f., Tamba 1991: 45). Bei Gruppenkollektiva hingegen hängt das Ganze von den Teilen ab. Grundsätzlich unterscheiden sich jedoch Hyponymie (nach der logischen Definition) und Meronymie durch die Art der zugrunde liegenden kognitiven Assoziation. Meronymie und damit Gruppenkollektiva beruhen auf Kontiguität. Hyponymie und Genuskollektiva, die Klassen bezeichnen, beruhen hingegen indirekt eher auf der Similarität der Unterbegriffe (vgl. Koch 2005). Daher ist die Beziehung zwischen Kollektivum und Element eine zwischenbegriffliche Beziehung, die zwischen Hyperonym und Hyponym eine innerbegriffliche Beziehung (vgl. Preuß/Cavegn 1990: 31 lf.). Zwischenbegriffliche Relationen verbinden autonome Konzepte durch Kontiguität und entstammen der Wahrnehmung. Sie können aufgrund der Bildlichkeit gut gespeichert werden. Logische Unterordnung, Überordnung und Nebenordnung sind innerbegriffliche Beziehungen. Die Relationen kommen hier durch Operationen über Merkmale der Begriffe zustande (Klix 1984: 18), es handelt sich hier eher um (zeitaufwendige) Entdeckungsprozeduren als um gespeicherte Konzeptpaare (Hoffmann/Trettin 1980: 102). Meronymie wird rechtshemisphärisch verarbeitet, da sich die verbundenen Konzepte auf einer Generalisierungsebene befinden und so das Konzeptpaar Holonym und Meronym selbst bildlich vorstellbar ist. In der rechten Hemisphäre werden vor allem konkrete räumliche Assoziationen, Gestalten und damit auch Konkreta sowie Gestaltgesetze perzeptueller Umorganisation global gespeichert bzw. verarbeitet (Ender 1994: 266-271). Linkshemisphärisch werden vor allem Prozeduren verarbeitet. Ist die linke Hemisphäre gestört, können Generalisierungsebenen nicht mehr unterschieden werden. So wird zwar noch erkannt, dass animal und dog, cat, goat etc. assoziiert sind, es wird nicht erkannt, dass es sich um eine Kategorie handelt (Glezerman/Balkoski 1999: 216). Vor allem aber die Zuordnung abstrakter Substantive zu übergeordneten Kategorien wird durch die linke Hemisphäre geleistet. Die rechte Hemisphäre hingegen fuhrt lediglich in beschränktem Maße auch Assoziationen zwischen konkreten Substantiven und höheren Kategorien aus (Day 1977 zit. in Ender 1994: 221 f.). Wie diese Beobachtung zu erklären ist, wird im Verlauf des Kapitels analysiert werden. Der Verarbeitungsunterschied erklärt auch eine Reihe von Beobachtungen aus dem Spracherwerb. Hyperonyme werden von Kindern deutlich später erlernt als Basislexeme, allerdings muss hier differenziert werden, denn Quasihyperonyme, also Kollektiva im Falle von Substantiven wie auch andere kontiguitätsbasierte Beziehungen werden von Kindern

112

früher beherrscht als Hyperonyme (Markman 1989: 23, Markman/Horton/McLanahan 1980). Hyponymische Inklusionsbeziehungen werden nach Piaget etwa mit 7 - 8 Jahren beherrscht, nach neueren Untersuchungen mit 11 Jahren (Fischer 1996: 123). Kohyponymische Beziehungen werden früher als hyponymische Beziehungen erlernt (Markman/Horton/McLanahan 1980: 229). Oft werden Hyperonyme von Kindern als Kollektiva fehlinterpretiert. Sie verwenden Hyperonyme häufig nur für Gruppen heterogener Objekte, also beispielsweise Tier weder für die Referenz auf einen noch auf mehrere Hunde, sondern auf eine heterogene Gruppe wie Hund, Schaf und Kuh (MacNamara 1982: 62-69, Markman 1989: 78, Markman/Horton/McLanahan 1980, Waxman/Hatch 1992: 163). Hyperonyme können offensichtlich von Kindern noch nicht verstanden werden und werden daher reinterpretiert. Auch Erwachsene behelfen sich oft mit räumlichen Anordnungen bei der Identifikation von Hyperonymen (Murphy/Wisniewsky 1989) oder benutzen Hyperonyme, um auf mehrere verschiedenartige Basiskonzepte zu referieren (Waxman/Hatch 1992: 163). Hyperonyme entstehen also vermutlich ontogenetisch auf der Basis der kognitiv primitiveren Kollektiva. Sehr detailliert hat Piaget die Ontogenese von Klassen aus kognitiv primitiveren konkreten Operationen analysiert. Abstrakte Denkprozesse wie deduktives Schließen und Mathematik entwickeln sich ontogenetisch aus konkreten anschaulichen Operationen der senso-motorischen Intelligenz. Erst allmählich entfernt sich das Denken von der räumlich-zeitlichen Gebundenheit sensomotorischen Denkens (Piaget 31992: 137f.), das jedoch auch im Denken Erwachsener noch eine große Rolle spielt. Piaget beobachtet, dass die Logik im Alltagsdenken nicht die entscheidende Rolle spielt: Es ist aber die Aufgabe der Psychologie der Intelligenz, die Gesamtheit der formalen Operationen wieder in ihren wirklichen Rahmen einzufügen und zu beweisen, daß sie nur in dem Maß eine geistige Bedeutung und einen bestimmten Sinn haben können, als sie sich auf die konkreten Operationen stützen, die sie gleichzeitig vorbereiten und ihnen ihren Inhalt geben. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die formale Logik keine adäquate Beschreibung des lebendigen Denkens in seiner Gesamtheit. Die formalen Operationen bilden nur die Struktur der höchsten Gleichgewichtsformen, zu denen die konkreten Operationen streben, wenn sie sich in allgemeine Systeme, die die verschiedenen Aussagen miteinander kombinieren, reflektieren. (Piaget 3 1992: 169f.)

Dementsprechend ist auch die Entwicklung von Klassen bzw. Hyperonymen aus Kollektiva zu erklären. Kollektiva sind anschaulich, denn sie beruhen auf räumlichen Konfigurationen. Ihre Intension wird induktiv aus der Extension abgeleitet (vgl. Piaget/Inhelder 1973: 31 f.). Allmählich können dann diese rein räumlichen Konfigurationen in similaritätsbasierte Klassen übergehen, die aber zunächst noch nicht hierarchisch organisiert sind, sondern intuitiv noch auf der Kontiguität der Elemente beruhen. Die Extension bestimmt nach wie vor die Intension (Piaget/Inhelder 1973: 78f.): Manchmal legt das Kind wirklich „die gleichen" mit den gleichen zusammen, und hier determiniert die Komprehension die Extension, wie dies auf dem Boden der späteren logischen Klassifikationen der Fall sein wird; manchmal fügt es aber ein Element hinzu, um die Kollektion, die im Sinne einer Gesamtform, d. h. seiner entstehenden Extension entworfen wurde, zu vervollständigen, und in diesem Fall ist es die Extension, welche die Komprehension bestimmt. (Piaget/Inhelder 1973: 77)

Kinder erlernen also nach und nach das simultane Erfassen von Teil und Ganzem, Klasseninklusion, Asymmetrie und Transitivität. Klasseninklusion beruht dabei zunächst noch auf

113 einer Art in Gedanken ausgeführten konkreten Tätigkeit wie umgießen, zuordnen, einschachteln etc. (Piaget 3 1992: 151-165). Rein logische Klassen sind nicht mehr anschaulich, die Intension bestimmt nun die Extension und jedes Individuum wird erst dann als Vertreter der Klasse verstanden (Piaget/Inhelder 1973: 31 f., 76-79, 142ff., s. auch Piaget 3 1992: 167-73). Wygotskis Ansatz ist dem Piagets hier in vielen Punkten sehr ähnlich. Nach Wygotski lernen Kinder zunächst, Gegenstände unsystematisch synkretisch zu verketten, bei der nächsten Etappe werden Gegenstände räumlich angeordnet, die Anordnung beruht hier nur auf Kontiguität, nicht intrinsischen Eigenschaften von Gegenständen. Erst allmählich erkennt das Kind gemeinsame isolierte Eigenschaften (Wygotski 1934; 1993: 120-166). Erste Kategorien sind assoziative Komplexe, bei denen verschiedene konkrete Dinge durch Merkmale verbunden werden (Wygotski 1934; 1993: 123ff.). Begriffen Erwachsener schon sehr ähnlich sind Pseudobegriffe, die extensional von diesen nicht unterschieden werden können, sich aber konzeptuell deutlich anders verhalten. Statt auf einem abstrakten Begriff, z.B. des Dreiecks an sich, basiert der Pseudobegriff beispielsweise auf einer Gruppe verschiedener spezifischerer Dreiecke. Die Extension ist dieselbe (s. Wygotski 1934; 1993: 13Iff.). Pseudobegriffe sind also konkreter und bildlicher als abstrakte Begriffe, die auf Merkmalsextraktion beruhen (Wygotski 1934; 1993: 151). Solche Vorstufen zu logischen Begriffen befinden sich auf der Schwelle zur reinen Merkmalsextraktion, sie basieren auf Similarität und schwacher Kontiguität: Die Vereinigung verschiedener konkreter Dinge wird durch maximale Ähnlichkeit zwischen den Elementen geschaffen. Da diese Ähnlichkeit niemals vollkommen ist, muß das Kind offensichtlich die verschiedenen Merkmale des betreffenden Dings unter Bedingungen sehen, die fur seine Aufmerksamkeit nicht im gleichen Maße günstig sind [...] Hier tritt zum erstenmal ganz deutlich ein Abstraktionsprozeß

hervor, der deshalb schwer zu erkennen ist, weil eine in sich ungenügend auf-

gegliederte Gruppe von Merkmalen mitunter einfach nach dem vagen Eindruck von Gemeinsamkeit, nicht aber auf Grund einer deutlichen Herauslösung einzelner Merkmale abstrahiert wird. (Wygotski 1934; 1993: 152)

Leider unterscheidet Wygotski nicht zwischen den verschiedenen Generalisierungsebenen. Wie aber bisher gezeigt wurde, ist die Begriffsbildung gerade oberhalb der Basisebene extrem schwierig, während Basiskonzepte auf einfachen Gestalten beruhen und leichter entstehen, auch im Spracherwerb. Wygotskis Ansatz erscheint vor allem für Oberbegriffe sehr überzeugend. Besonders überzeugend ist bei Wygotskis Ansatz auch die Rolle der sozialen Interaktion für den Erwerb von Oberbegriffen. Er zeigt, dass Pseudobegriffe nicht nur eine kurze Etappe in der Ontogenese darstellen, sondern dass sie sehr weit verbreitet und die einzige Art des komplexen Denkens bei Vorschulkindern sind und sich erst in Richtung der Erwachsenenbegriffe entwickeln, wenn sie mit diesen konfrontiert werden (Wygotski 1934; 1993: 134). Aber auch Erwachsene tendieren dazu, im Alltagsdenken Pseudobegriffe einzusetzen (Wygotski 1934; 1993: 150, 158f.). Begriffe werden also spät erst logisch erfasst, auch Jugendliche tendieren dazu, Begriffe noch in anschaulichen Situationen zu benutzen und sie über die Aufzählung konkreter Dinge zu definieren. Sie verwenden Worte als Begriffe, definieren sie aber als Komplex (Wygotski 1934; 1993: 159). Aufschlussreich ist auch seine Beobachtung, dass taubstumme Kinder keine Pseudobegriffe entwickeln (Wygotski 1934; 1993: 149) - denn zur Zeit der Untersuchungen hatten taubstumme Kinder vermutlich wenig sprachliche Interaktion mit hörenden Erwachsenen. Die

114 Entwicklung von Begriffen, wie z.B. logisch definierten Hyperonymen, scheint also ein Top-down-Prozess zu sein. Woher nun die logischen Begriffe stammen, die ja (entgegen Piagets Ausfuhrungen) offensichtlich nicht durch ungesteuerte Entwicklung entstehen können, wird vor allem in Kapitel 4 diskutiert werden. Dass die ontogenetische Entwicklung von Begriffen aus assoziativen Komplexen phylogenetische Parallelen hat, hat auch Wygotski erkannt, dass nämlich die Geschichte der Sprache ein ständiger Widerstreit zwischen begrifflichem Denken und kognitiv primitiverem Denken ist (Wygotski 1934; 1993: 146f.). Daneben gibt es Studien, die die Rolle von Frames oder Scripts beim Erwerb der Klasseninklusion untersuchen (s. Seil 1992). Zunächst sind nach diesen Vorschlägen Elemente durch gemeinsames Auftreten in Szenen oder Frames organisiert. In solchen Frames werden die Elemente allmählich durch die Entwicklung einer Substitutionsrelation homogener. Kinder entwickeln taxonomische Strukturen also aus ereignisbezogenem Wissen, über Lückenfuller in Frames wie z.B. „A sandwich is something I eat for lunch" (Sell 1992: 665) hin zu von Frames gelöstem taxonomischem Wissen vom Typ „An apple and an orange are both fruit (Sell 1992: 665). Auch diese Arbeiten zeigen, dass kontiguitätsbasiertes Wissen die Grundlage für Taxonomien ist (Seil 1992: 673). Oberbegriffe können daher an Verarbeitungsökonomie gewinnen, wenn sie in bestimmte Szenen eingebettet sind (MurphyAVisniewski 1989). Massennomina bzw. Genuskollektiva sind also vermutlich ontogenetisch (und phylogenetisch) eine Zwischenstufe zwischen Gruppenkollektiva, die vor allem auf Kontiguität basieren und Hyperonymen, die auf Similarität basieren. Genuskollektiva, die stark auf Similarität beruhen und damit den Hyperonymen sehr ähnlich sind, aber meist auf pluralische Referenten Bezug nehmen, sind so ein Kompromiss zwischen Klassen und Kollektiva und geben durch ihre Gestalthaftigkeit der oberen Ebene mehr Stabilität als ein Hyperonym, da sie bessere Speichereinheiten sind. Sie unterstützen Sprecher so beim Erlernen und Behalten von Oberbegriffen und lassen gegenüber Gruppenkollektiva außerdem logische Schlüsse zu (Markman 1985: 50f.). Der Interaktion von Similarität und Kontiguität entsprechen im Übrigen auch die in Lakoff/Johnson (1999: 48-51) beschriebenen Primärmetaphern „categories are containers" und „similarity is closeness", nach denen Dinge einer Art als räumlich benachbart konzeptualisiert werden, Ähnlichkeit Nähe impliziert. Der subjektive Eindruck der Ähnlichkeit wird nach Lakoff von früher Kindheit an mit der sensomotorischen Domäne der räumlichen Nähe verbunden, da ähnliche Dinge in der Erfahrung des Kindes häufig kontig sind. Dadurch entsteht durch „conflation", d. h. das Zusammenfallen der beiden Domänen, eine primäre Metapher (Lakoff/Johnson 1999: 48). Auf Meronymie basierende Kollektiva oberhalb der Basisebene scheinen also ontogenetisch eine Vorstufe von Hyperonymen zu sein - es soll gezeigt werden, dass dies auch für die Diachronie der meisten Hyperonyme oberhalb der Basisebene gilt.

115 3.6

D i e E n t s t e h u n g v o n H y p e r o n y m e n in d e r G e m e i n s p r a c h e

3.6.1

Funktionale Substantive und Ad-hoc-Kategorien

Auf oberen Generalisierungsebenen sind im Diskurs häufig bestimmte Typen von funktionalen Substantiven zu finden, d. h. Substantive, die durch Paraphrasen wie „Dinge, die in einer Situation die Funktion χ übernehmen" erschöpfend erfasst sind (vgl. Vossen 1995: 335). Zum Beispiel kann fr. achat ,Kauf auf alle Dinge referieren, die Gegenstand eines Kaufakts sein können. Diese Substantive basieren auf temporären Eigenschaften von Referenten. Es liegt hier keine semantische Relation mit Hyponymen vor (cf. Wierzbicka 1985: 267), so besitzt achat keine Hyponyme. Weder Zahnpasta noch Brot können als eine Art Einkauf definiert werden. Zu dieser Gruppe der funktionalen Substantive gehören z.B. Kauf, Beute, Besitz, aber auch Spielzeug. Inklusionsbeziehungen bestehen nur auf der Ebene der Referenz, nicht der Intension oder Extension. Die Funktion solcher Substantive ist neben meist rechtlichen oder ökonomischen Kategorisierungen häufig die Ad-hocKategorisierung im Diskurs. Viele dieser Substantive entstehen durch Argumentnominalisierung, wie z.B. auch fr. achat ,Kauf aus acheter ,kaufen 1 . Prinzipiell können diese Substantive auf einzelne Gegenstände referieren, meist aber referieren sie auf mehrere Gegenstände. Auch Komposita findet man hier, z.B. Spielzeug. Diese Substantive sind untypische, schwach lexikalisierte Substantive, da sie meist nur temporäre Kategorien bilden und sehr heterogene Referenten ohne gemeinsame stabile perzeptuelle Eigenschaften bezeichnen. Unter den Hyperonymen und Kollektiva oberhalb der Basisebene finden sich zahlreiche Substantive, die von solchen funktionalen Substantiven abstammen: (17)

sp. mueble, fr. meuble ,beweglicher Besitz' —> ,Möbelstück' (DHLF)

(18)

lat.früctus ,Ertrag' —> ix. fruit, sp.fruto/fruta

(19)

lat. pignora, sp. prenda ,Pfand' —» sp.prenda ,Kleidungsstück'

(20)

afr. deneree ,Ware' (die für einen denier gekauft werden kann) —> fr. denree Ware' (DHLF s.v. denier)

(21)

germ, rouba ,Raub/Beute' —> asp. ropa ,Beute/Ware' —> sp. ropa ,Kleidung' (DCECH s.v. robar)

(22)

lat. utensilia .notwendige Gegenstände, Ausrüstung' —» fr. ustensile ,Utensil' (DHLF s.v. ustensile)

(23)

vlat. *usitilium notwendige Gegenstände, Ausrüstung' —• fr. outil .Werkzeug' (DHLF s.v. outil)

(24)

fr. couvert ,Dinge, mit denen man den Tisch deckt' —• fr. couvert ,Besteck' (DHLF s.v. couvrir)

,Frucht' (FEW s.v.früctus ) (DCECH) ,Lebensmittel,

Zahlreiche Bezeichnungen mit der Bedeutung .Bekleidung' entstehen auf der Basis von funktionalen Substantiven mit der Bedeutung ,Ausrüstung, Ausstattung':

116 —> fr. habillement,Kleidung'

(DHLF s.v. bille2)

(25)

mfr. habillement,Ausrüstung'

(26)

sp. equipo ,Ausrüstung' —> sp. equipo ,Kleidung einer Person' (MOL)

In vielen indoeuropäischen Sprachen (DSSPIL: 143) existiert folgender Lexikalisierungspfad: (27)

asp. ganado ,erworbener Besitz' —> sp. ganado ,Vieh' (DCECH s.v. ganar)

(28)

lat. capitale ,Kapital/Besitz' —• afr. chetel .Kapital/Besitz' —> fr. cheptel ,Vieh' (DHLF)

(29)

lat. res ,Besitz' ->• sp. res ,Stück Vieh' (DCECH s.v. res)

Häufig stehen funktionale Substantive am Anfang der Entstehung von Hyperonymen. Rasch entwickeln sich viele funktionale Substantive durch Lexikalisierung zu Gruppenkollektiva, die auf stabileren Identifikationskriterien aufbauen.

3.6.2

Die Entstehung von Gruppenkollektiva

Die Übergänge zwischen funktionalen Substantiven und Gruppenkollektiva sind fließend. Viele dieser generischen funktionalen Substantive bezeichnen von Anfang an näher eingegrenzte Referententypen: So bezeichnet garde-robe im Altfranzösischen zunächst den Kleiderschrank ( D H L F s.v. garder), daraus entsteht metonymisch die Bezeichnung fur dessen Inhalt. Eigentlich entspricht diese Bedeutung logisch einem funktionalen Oberbegriff und kann definiert werden als „Dinge, die sich in einem Kleiderschrank befinden". Bei den Referenten handelt es sich aber vor allem u m Kleidungsstücke, garde-robe unterscheidet sich daher qualitativ deutlich von rein funktionalen Oberbegriffen, denn hier ist von Anfang an die Möglichkeit bildlicher Repräsentation gegeben, nämlich einer Ansammlung verschiedener Basiskonzepte wie JACKE, HOSE, HEMD etc. in dem Frame des Kleiderschranks. Später wird der Frame abstrakter und wandelt sich zum Besitz einer Person an Kleidung. Diese Substantive erfahren eine allmähliche Entwicklung zum konventionalisierten, d. h. lexikalisierten bildlich repräsentierbaren Gruppenkollektivum. 1 5 Hier werden über das Referenzprinzip (s. 1.5) wahrgenommene Gestalten Teil der lexikalischen Bedeutung. Der Wandel vom funktionalen Substantiv zum Gruppenkollektivum kommt dadurch in Gang, dass Basiskonzeptgruppierungen aus besonders häufigen Referenzsituationen abgeleitet werden. Neben dem Frame, der bei funktionalen Substantiven die Intension ausmacht und das auf Kontiguität basiert, spielen nun auch inhärente perzeptuelle Eigenschaften der Referenten eine Rolle. Diese Gruppenkollektiva haben mit funktionalen Oberbegriffen gemein, dass sie einen Frame beinhalten. Häufig sind diese Kollektiva daher zählbar:

15

Es gibt auch Fälle, in denen aus Gruppenkollektiva funktionale Substantive werden, z.B. aus Bezeichnungen für VIEH solche für REICHTUM/BESITZ (DSSPIL, 143), dabei handelt es sich vermutlich nicht um einen Fall der Lexikalisierung, sondern um außersprachlich bedingten Bedeutungswandel, z.B. durch den Bedarf an rechtlichen Termini.

117 (30)

Encargue a la capital una vajilla de porcelana inglesa pintada a mano [...]. [Hervorh. von mir](Allende (1982): La casa de los espiritus, Chile, CREA) 1 6

Kollektiva mit Gegenstandscharakter können außerdem w i e Individuativa einen distributiven Plural bilden, wie folgendes Beispiel aus dem Französischen illustriert: (31)

II ne possedait que deux paires de souliers, une paire de bottes, deux habillements complets, douze chemises, douze foulards, douze mouchoirs, quatre gilets et une pipe süperbe que Pons lui avait donnee avec une poche ä tabac brodee. [Hervorh. von mir] (Balzac (1847): Le cousin Pons, FRANTEXT) 1 7

Allerdings sind manche Gruppenkollektiva w i e fr. mobilier

nur bedingt zählbar (Flaux/van

de Velde 2000: 59): (32)

fr. ? J'ai achete un mobilier. ,?Ich habe ein Mobiliar gekauft'

(33)

J'ai achete un mobilier tout neuf. ,Ich habe ein ganz neues Mobiliar gekauft'

(34)

J'ai achete du mobilier tout n e u f . ,Ich habe ganz neues Mobiliar gekauft'

Die vereinten Basiskonzepte sind in der Regel heterogen, so besteht ein Mobiliar nicht aus 2 0 Stühlen (Flaux 1999: 4 8 4 ) , eine Garderobe oder eine A u f m a c h u n g einer Person nicht aus 10 Hemden, sondern aus einer heterogenen Mischung verschiedener Möbel- oder Kleidungsstücke. Gruppenkollektiva hängen so konzeptuell v o n den Basiskonzepten ab. Die bildhaften Basiskonzepte, die Mitglieder eines bestimmten Gruppenkollektivs sein können, sind zwar festgelegt, dennoch besitzen sie selten gemeinsame perzeptuelle Merkmale: So gehören neben Kleidungsstücken auch Schuhe, Kopfbedeckung und Accessoires w i e Schmuck zur Ausstattung einer Person, so auch bei der heute nur noch gelehrten Bedeutung v o n fr. vetement,Bekleidung' (PR): (35)

II pretait une attention particuliere aux chaussures, par quoi se reconnaissent les gens, disait-il, aussi sürement et plus secretement que par le reste du vetement. (Gide (1914): Les caves du Vatican, FRANTEXT) 1 8

Basiskonzepte zeigen j e d o c h keine semantische Abhängigkeit von Gruppenkollektiva, so ist nicht j e d e s Kleidungsstück Teil einer Garderobe. Allerdings kann es sehr wahrscheinlich sein, dass ein Hemd Teil einer A u f m a c h u n g ist. Zwischen Basiskonzepten und Gruppenkollektiva kann eine Pararelation vorliegen, d. h. eine konzeptuelle Relation, die wahrscheinlich ist, nicht logisch notwendig (Cruse 1986: 99), w i e auch z w i s c h e n dog und pet. Allerdings enthält das Gruppenkollektivum zusätzlich zu der Gruppierung von Basiskonzepten Informationen des Frames. A u s diesem Grund sind auch Hierarchien mit Hyperonymen, die Frames beinhalten, eher nicht transitiv, wenn die H y p o n y m e die framebasierte Information nicht enthalten. D i e s erklärt, weshalb Relationen w i e Stilett - Messer - Küchengerät oder

16 17

18

,Ich bestellte in der Hauptstadt ein handbemaltes Service aus englischem Porzellan [...].' ,Er besaß nur zwei paar Schuhe, ein paar Stiefel, zwei komplette Ausstattungen, zwölf Hemden, zwölf Halstücher, zwölf Taschentücher, vier Westen und eine erstklassige Pfeife, die ihm Pons mit einem bestickten Tabakbeutel gegeben hatte.' ,Er widmete den Schuhen eine besondere Aufmerksamkeit, an denen man die Leute, so sagte er, genauso sicher und diskreter erkennt als an der restlichen Kleidung.'

118 Taschenlampe - Lampe - Möbel oder auch Liftsessel - Sessel - Möbel nicht transitiv sind (Hampton 1982). Während viele Messer Küchengeräte sind, viele Lampen Möbel, viele Sessel Möbel, also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Element des übergeordneten Gruppenkollektivs sind, gibt es Unterbegriffe, die eben nicht in die Frames der Gruppenkollektiva gehören. Untersucht man systematisch die Hyperonyme einer Domäne (hier sollen vor allem die Bereiche Bekleidung, Möbel, Geschirr und Werkzeug näher untersucht werden), zeichnen sich deutliche Muster ab. Auf den ersten Blick fallt in allen Domänen die hohe Zahl an Gruppenkollektiva auf. Gruppenkollektiva im Bereich der Bekleidung bezeichnen häufig die gesamte Ausstattung an Bekleidung einer Person, die Bezeichnung wird hierbei oft metonymisch vom Aufbewahrungsort der Kleidung abgeleitet: (36)

fr. garde-robe .Kleiderschrank' —>,Kleidung, die einer Person gehört' (PR)

(37)

fr. vestiaire Kleiderschrank' —• .Kleidung, die einer Person gehört' (PR)

(38)

sp. ropero .Kleiderschrank' —».Kleidung, die einer Person gehört' (DRAE)

(39)

sp. guardarropa ,(Theater)garderobe' —> .Kleidung, die einer Person gehört' (MOL)

(40)

sp. vestuario .Garderobe' —• ,Kleidung, die einer Person gehört' (MOL)

Sp. equipo , Kleidung, die einer Person gehört' ist dagegen abgeleitet von equipo Ausrüstung' (MOL). Etwas ungewöhnlicher mutet die Herkunft von sp. ropa an. Aus dem funktionalen ursprünglich germanischen Substantiv ropa ,Beute' wurde im Altspanischen mit aller Wahrscheinlichkeit ein Gruppenkollektivum mit der Bedeutung ,erbeutete Rüstung, Kleidung', bald auch ,Aufmachung'. Diese Bedeutung ist heute noch lebendig: (41)

Me traia una ropa en prestamo, un pantalön de pana, una camisa de lanilla, vieja, pero de buena calidad, un sueter de cuello redondo, escoces, y en la tarde iriamos a comprar una tenida completa [...] (Edwards (1987): El αηβιήόη, Chile, CREA) 19

Eine ähnliche Geschichte hat auch fr. robe ,Kleid' durchlaufen: Fr. robe stammt vom germ. *rauba ,Beute/Raub' und existierte in dieser Bedeutung im Französischen bis ins 16. Jahrhundert. Es entwickelte sich im Altfranzösischen einerseits zunächst zu einem Substantiv mit der Bedeutung ,bewegliches Eigentum einer Person' (vgl. it. roba ,Ware/Zeug' (ZVI)), andererseits über .erbeutete Kleidung' zu .komplette Ausstattung einer Person', bis zum 12.-14. Jahrhundert bedeutete es ,Anzug' (FEW s.v. rauba). Im Französischen des Quebec liegt genau dieser semantische Pfad bei butin ,Kleidung (einer Person)' (Guillemard 1991: 111) vor, das von fr. butin ,Beute' stammt. Da Kleidung vor der Industrialisierung sehr teuer war, stellte es eine begehrte Kriegsbeute dar, die Beute war dabei die Ausstattung (vor allem wohl auch die Rüstung) des getöteten Soldaten.

19

,Er brachte mir eine Ausstattung als Leihgabe, eine Kordhose, ein altes, aber hochwertiges Wollhemd, einen schottischen Pullover mit rundem Kragen, und am Nachmittag würden wir eine komplette Ausstattung kaufen gehen [...]'

119 Der Wert der Kleidung in vergangenen Zeiten erklärt vermutlich auch die Entwicklung von asp. penora ,Pfand' zu prenda ,Kleidungsstück/Textilartikel'. Auch hier ist eine Zwischenstufe anzusetzen, nämlich ,verpfändete Kleidung'. Fr. costume wurde im 17. Jahrhundert aus it. costume ,Art und Weise, das Alter, Herkunft oder Epoche von Theaterfiguren zu markieren' entlehnt und bedeutete im Französischen zunächst ,Lokalkolorit, Art, sich zu kleiden einer sozialen Gruppe'. Schließlich entstand das Gruppenkollektivum ,Kleidung einer Person'. Heute wird es vor allem in der Bedeutung ,Anzug' gebraucht (DHLF s.v. costume, Guillemard 1991: 13). Fr. habit stammt vom lat. habitus ,Art, sich zu geben', woraus sich die Bedeutung A u s stattung einer Person' entwickelte und bis zur Klassik auch Schuhe und Kopfbedeckung umfasste. Heute ist habits ,Kleidung' ein Pluraletantum, im Singular bedeutet es .festliche Bekleidung' (DHLF s.v. habit, PR). Besonders häufig sind im Bekleidungsbereich deverbale Substantive, die von Verben der Bedeutung a u s s t a t t e n ' , ,bekleiden', ,ausrüsten' abgeleitet sind. Es handelt sich auch hier um Gruppenkollektiva, die Kleidung, Schuhe, Kopfbedeckung und Accessoires, die eine Person trägt, umfassen (s. auch DSSPIL: 394), z.B. sp. atavio (MOL), aber auch indumento:20 (42)

Su indumento es modesto y comodo: pantalon vaquero, camisa de color, jersey remendado. (Buero Vallejo (1981): Caiman, CREA) 21

Ursprünglich deverbal sind auch folgende Bezeichnungen für A U F Z U G , B E K L E I D U N G : sp. atavio(s) (DRAE), indumento (OLD, s.v. indumentum ,etwas Angezogenes') und traje. Auch fr. habillement (DHLF s.v. bille2), mise (DHLF s.v. mettre, PR) und tenue (DHLF s.v. tenir, PR) gehören zu dieser Gruppe. Im Argot findet man sapes, das ebenfalls auf diese Art und Weise entstanden ist (DHLF s.v. saper3). Sp. vestido ,Damenkleid/Kleidung' (DEA, M O L ) geht auf lat. vestltus ,Kleidung einer Person' zurück (OLD), aus lat. vestis ,Kleidung, A u f m a c h u n g ' (OLD, s.v. uestis), aus dem it. veste ,Kleidung/Damenkleid' und daraus wiederum fr. veste ,Jacke' entstanden ist (DHLF s.v. veste). Fr. vetement ,Aufmachung/Kleidungsstück' geht ebenfalls auf ein solches Kollektivum zurück (DHLF s.v. vetir und vetement, OLD, s.v. uestTmentum). In didaktischer Bedeutung gehören zu vetement .Aufmachung' heute noch auch Schuhe und Kopfbedeckung (DHLF s.v. vetement). Gruppenkollektiva in der Bedeutung .Ausstattung/Aufmachung' sind auch sp. atuendo (< ,Putz, Pomp, Festtagsaufmachung'), fr. toilette (< .Körperpflege', D H L F s.v. toile, PR). F r . f r i n g u e s .Klamotten' geht a u f f r i n g u e ,Luxusaufmachung' zurück (DHLF s . v . f r i n g u e s ) . Viele dieser Gruppenkollektiva mit der Bedeutung .Aufmachung' erfahren eine Bedeutungsspezialisierung z.B. auf .Anzug' (sp. traje, dt. Anzug, fr. costume) oder .Damenkleid'

20

21

Auch in anderen Sprachen finden sich hier zahlreiche Synonyme, z.B. eng. attire, clothing, dress, gear, outfit, wear. Auch das (einzige) Individualnomen garment ,Kleidungsstück' stammt von einem Gruppenkollektivum aus dem Altfranzösischen mit der Bedeutung .(Aus)rüstung' ab (OED), ähnlich clothing (OED), das .Aufmachung' bedeutete. Im Deutschen ergibt sich ein ähnliches Bild, auch hier finden wir zahlreiche mehr oder weniger synonyme Gruppenkollektiva wie z.B. Aufzug, Outfit, Kleidung, Bekleidung, Kluft, Tracht. Dieselbe Bedeutung besaßen früher auch Kleid (GDW), Anzug und Gewand (EWD). .Seine Bekleidung ist bescheiden und bequem: Jeanshose, farbiges Hemd, ausgebesserter Pullover.'

120 (fr. robe, sp. vestido, eng. dress, dt. Kleid), da diese die gesamte Bekleidung einer Person darstellen können. Allein in der Domäne der Bekleidung liegt also eine große Zahl von Gruppenkollektiva vor, meist mit dem Frame WAS EINE PERSON zu EINEM BESTIMMTEN ZEITPUNKT TRÄGT, aber auch RAUB, PFAND, WÄSCHE, BESITZ. Allen gemeinsam ist neben einem starken Frame fast immer die obligatorische Heterogenität der Elemente des Kollektivums. Dies trifft auch auf andere Domänen zu. So liegen einige synonyme Gruppenkollektiva mit der Bedeutung ,komplette Einrichtung/Aus stattung eines Hauses, Zimmers, Wohnung' vor, z.B. sp. moblaje, mobiliario (MOL), fr. ameublement, mobilier (DHLF s.v. meuble, mobile), auch dt. Einrichtung, Mobiliar, Möblierung. Folgendes Beispiel illustriert die Rolle des Frames der kompletten Wohnungsausstattung: (43)

La buhardilla era estrecha y semicircular. El moblaje, pobre y muy usado. (Romero (1988): Tardia declaration de amor α Seraphine Louis, Venezuela, CREA) 2 2

Diese kollektive Bedeutung auf der Basis heterogener Elemente besaßen zu einem frühen Zeitpunkt auch fr. meuble und sp. mueble ,Möbelstück' (DHLF s.v. meuble), aber auch eng. furniture (OED). Eher selten findet man sie heute noch in dieser Bedeutung, wobei es sich hier untypischerweise um ein homogenes Mobiliar handelt: (44)

Le meuble consistait en six chaises garnies de basane bleue dont les dossiers representaient des lyres. (Balzac (1837): Illusionsperdues, in TLF, zit. in Wiederspiel (1992: 59) 23

Auch Bezeichnungen mit der Bedeutung ,Besteck' entstanden über Gruppenkollektiva mit starkem Frame und heterogenen Mitgliedern. So besitzen fr. couvert .Besteck' und sp. cubierto , Besteck' auch noch die älteren Bedeutungen ,Gedeck' und ,Besteckset fur eine Person' (DHLF s.v. couvrir, MOL s.v. cubierto). Sp. cuberteria hingegen bezeichnet ein Besteckset für mehrere Personen (MOL). Besteck bezeichnete ursprünglich ein Futteral, in das Werkzeuge gesteckt wurden, dann den Satz an Werkzeugen selbst (EWD s.v. Besteck). Typische Gruppenkollektiva liegen auch lat. venatus ,Jagd/Jagdbeute' zugrunde, aus dem sp. venado ,Hochwild/Hirsch' entstand, ebenso lat. venationem ,Jagd/Jagdbeute/Wild', aus dem sich fr. venaison ,Wildbret' (DHLF s.v. venaison) entwickelte. So entstand auch aus sp. caza ,Jagd/Jagdbeute' caza ,Wild', ähnlich entstand fr. gibier ,Wild' aus mfr. gibier ,Fleisch der bei der Beizjagd erbeuteten Vögel' aus fränkisch *gabaiti/*gibaiti ,Beizjagd' (DHLF s.v. gibier). Gruppenkollektiva entwickelten sich auch aus einigen funktionalen Substantiven mit der Bedeutung .Ertrag, Besitz'. So geht fr. cheptel,Viehbestand (einer Region)' auf die Bedeutung ,Besitz, Eigentum' zurück (DHLF s.v. cheptel). Sp. ganado ,Viehherde/Vieh' bezeichnete ursprünglich vermutlich den Ertrag und dann den Viehbestand eines Hofes, analog auch sp. res ,Stück Vieh' von lat. res ,Besitz' (DCECH s.v. res). Die Bedeutung .Viehbestand eines Hofes' besitzt auch argentin. sp. hacienda (DCECH s.v. ganar), das zunächst .Landgut' und ,Vermögen' bedeutet. Ganaderia bezeichnet den Viehbestand einer Region (MOL).

22 23

,Die Mansarde war eng und halbrund. Das Mobiliar armselig und sehr abgenutzt.' ,Das Mobiliar bestand aus sechs mit blauem Schafsleder bespannten Stühlen, deren Rückenlehnen Lyren darstellten.'

121

Auch fr. fruit und s p , f r u t o , f r u t a .Frucht', die auf lat.fructus ,Ertrag' (OLD) zurückzufuhren sind, gehen vermutlich auf einen Zwischenschritt mit der Bedeutung ,geerntete Früchte, (landwirtschaftlicher) Ertrag' zurück (DHLF s y . fruit). Dieser Überblick macht deutlich, dass viele Quasihyperonyme Gruppenkollektiva sind bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt Gruppenkollektiva waren. Allein die große Anzahl an Synonymen unter den Gruppenkollektiva weist hier auf einen starken Innovationsherd hin. Die meisten Gruppenkollektiva oberhalb der Basisebene entstehen über deverbale und deadjektivale funktionale generische Substantive oder werden anderweitig über Frames konzeptualisiert und versprachlicht, z.B. fr. garde-robe ,Kleidung einer Person' über garde-robe Kleiderschrank' (DHLF s.v. garder). Nun hängen diese Kollektiva konzeptuell von Basiskonzepten ab und daher würde es nahe liegen, dass sich diese Abhängigkeit auch morphologisch durch die Ableitung von Basislexemen selbst äußert. Zahlreiche Kollektiva werden in der Tat morphologisch von Substantiven abgeleitet, die Mitglieder bezeichnen, z.B. f r . f e u i l l a g e ,Laub' von feuille ,Blatt', chenaie ,Eichenwald' von chene ,Eiche'. Auch oberhalb der Basisebene findet man einzelne Ableitungen von Substantiven, die Elemente bezeichnen, z.B. sp. herramental ,Werkzeugsatz' von herramienta ,Werkzeug' oder fr. outillage ,Werkzeugsatz' von outil,Werkzeug'. Auch hier handelt es sich häufig um Gruppenkollektiva mit Frameeinbettung: (45)

sp. herramental·. [...] conjunto de los utiles y herramientas utilizados para algo (MOL) 24

(46)

fr. outillage·. ensemble d'outils pour l'exercice d'une activite manuelle (DHLF s.v. outil)25

Herramental ist abgeleitet von herramienta .Werkzeug', das daneben auch noch die ältere Bedeutung ,Werkzeugset' besitzt, da es von einem Kollektivum abstammt (MOL s.v. herramienta), ähnlich verhält es sich mit sp. ropaje .Bekleidung' von ropa ,Kleidung'. Solche doppelten Kollektiva sind in der Tat nicht selten. Insgesamt setzen diese Gruppenkollektiva jedoch voraus, dass bereits ein übergeordnetes Substantiv existiert. Da jedoch Basislexeme im Vergleich zu Hyperonymen die unmarkierteren, stabileren Lexeme sind, wäre es viel günstiger, von diesen Basislexemen Kollektiva abzuleiten, aufgrund der Heterogenität der Gruppenkollektiva oberhalb der Basisebene am besten von mehreren Basislexemen. In der Tat gibt es einzelne konventionalisierte Syntagmen diesen Typs in indoeuropäischen Sprachen wie z.B. lat. arbor et herba ,Baum und Gras' > .Pflanzen' (Ulimann 1963: 181 zit. in Berlin 1992: 195). Besonders in der Alltagssprache werden solche Syntagmen existierenden übergeordneten Substantiven, v. a. Hyperonymen, öfters vorgezogen. Sprecher verwenden eher knifes and forks als cutlery, eher brothers and sisters als siblings (Aitchison 3 2003 : 96). Der Grund dafür ist die Tatsache, dass diese Syntagmen Gruppenkollektiva sehr gut abbilden. 26 Die Elemente sind exhaustive, meist jedoch zwei repräsentative Mitglieder des Gruppenkollektivums. Dennoch sind diese Syntagmen kaum lexikalisiert. In vielen Sprachen gibt es jedoch Komposita, die genau diese Ableitung ermöglichen, die so genann-

24 25 26

,Set an Geräten und Werkzeugen, die für etwas benutzt werden' ,Set an Werkzeugen, die einer manuellen Tätigkeit dienen' Sp. piatos .Geschirr' und eng. dishes im Frame des Geschirrspülens beruhen auf je einem Basislexem, nämlich plato .Teller', ebenso dish. Da der Frame sehr stark ist und die verschiedenen Basiskonzepte, z.B. TELLER, TASSE, SCHÜSSEL etc. in diesem Frame nicht funktional sind, da alle gleichermaßen nur abgewaschen werden, reicht hier ein Basislexem exemplarisch aus.

122 ten koordinativen Komposita. Im Gegensatz zu den universellen endozentrischen Komposita aus Determinans und Determinatum gibt es diese Komposita lediglich in einer begrenzten Anzahl von Sprachen. Im Mandarin zumindest sind sie auch weniger produktiv als andere Komposita (Li/Thompson 1981: 54). Sie sind in indoeuropäischen Sprachen eher selten, in Ost- und Südostasien dagegen weit verbreitet (Bauer 2001: 699f., Haspelmath 2002: 89, Wälchli 2005: 191). Auch in der American Sign Language sind diese Komposita sehr häufig Quellen für Oberbegriffe, wenn sie nicht über das Fingeralphabet aus dem Englischen entlehnt sind. Zwei bis vier Zeichen für Basiskonzepte werden dabei aneinandergereiht. Oft entstehen in der ASL so Ad-hoc-Oberbegriffe, einige sind lexikalisiert (Newport/Bellugi 1978).27 Typisch für diesen Kompositionstyp scheint zu sein, dass durch Basislexemkoordination Hyperonyme oder Quasihyperonyme entstehen (vgl. Kleiber/Tamba 1990: 27, Wälchli 2005: 5f.). So entstehen auf diese Art und Weise Bezeichnungen für Bekleidung: (47)

Mordwinischponks.t-panar.t Hose.PL+Hemd.PL=,Bekleidung'(Wälchli 2005: 139)

(48)

Vietnamesisch quän-άο

(49)

American Sign Language: Gebärden in der Bedeutung ,Kleid+Bluse+Hose', optional ergänzt durch ,etc.' =,Bekleidung' (Newport/Bellugi 1978: 58)

Hose+Tunika=,Bekleidung'(Thompson 1965: 128)

So entstehen auch Bezeichnungen für (50)

Oder

MOBILIAR:

Vietnamesisch bän-ghe Tisch+Stuhl=,Möbel' (Thompson 1965: 128)

GESCHIRR:

(51)

Vietnamesisch bät-dia Schüssel+Teller=,Geschirr' (Thompson 1965: 128)

kann ebenfalls durch koordinative Komposita versprachlicht werden, sogar auf der Basis von englischen Lehnwörtern wie im folgenden Beispiel: FAHRZEUG

(52)

Kannada bassu karu Bus+Auto=,Fahrzeug' (Sridhar 1990: 283 zit. in Bauer 2001: 700)

VEGETATION

ist ebenfalls durch koordinative Komposita versprachlicht:

(53)

Mandarin htiä-mü Blume+Baum = .Vegetation' (Li/Thompson 1981: 50)

(54)

Tzeltal te 'ak' Baum+Kletterpflanze = .Vegetation' (Berlin 1992: 195)

(55)

Vietnamesisch cäy-cö Baum-Pflanze/Gras = .Vegetation' (Thompson 1965: 129)

A b e r auch B e z e i c h n u n g e n für VIEH entstehen auf diese W e i s e :

27

(56)

Mandarin niu-mä Rind+Pferd = ,Vieh' (Li/Thompson 1981: 56)

(57)

Koreanisch ma-so Pferd-Kuh = ,Vieh' (Haspelmath 2002: 89)

Die Existenz der koordinativen Komposita in einer Sprache scheint tendenziell mit der Existenz von Numeralklassifikatoren korreliert zu sein. Falls sich dies bestätigen lässt, müsste untersucht werden, weshalb dies der Fall ist.

123 Diese Kollektiva können Ad-hoc-Kategorien, aber auch konventionalisiert sein. Beispielsweise kann Mordwinisch ponks.t-panar.t Hose und Hemd oder die komplette Bekleidung einer bestimmten Person bezeichnen, aber auch generisch , Kleidung' bedeuten (Wälchli 2005: 139). Koordinative Komposita in Sprachen, die ja häufig nur transnumerale Substantive besitzen, sind meist kollektiv, also semantisch meist pluralisch und nur sehr selten singularisch (vgl. Wälchli 2005: 152). So sind die Beispiele aus dem Mandarin konzeptuell eher Kollektiva (pers. Mitteilung Ningchuan Zhu). Im Vietnamesischen handelt es sich bei solchen Komposita ebenfalls um Kollektiva, nicht um Hyperonyme (Kuhn 1982b: 60f.). In manchen Sprachen sind diese Substantive ambig. Im Sanskrit ist der Unterschied zwischen Konjunktion und Disjunktion hier nicht immer klar. Ein Kompositum mit der Struktur ,Mutter+Vater' zum Beispiel bezieht sich auf den einen oder anderen, kann sich aber auch auf beide beziehen (Bauer 2001: 700). Auch Udmurt nyl-pi ,Mädchen-Junge' ist entweder disjunktiv und bedeutet ,Kind' oder konjunktiv und bedeutet ,Junge(n) und Mädchen' (Wälchli 2005: 152). Gruppenkollektiva werden also vor allem über zwei Konzeptualisierungswege versprachlicht: entweder über Eigenschaften des Frames oder über die Elemente, d. h. über heterogene Basiskonzepte. Welcher Weg dabei gewählt wird, hängt auch vom Sprachtypus, d. h. von den zur Verfügung stehenden Wortbildungsverfahren, ab.

3.6.3

Die Entstehung von Genuskollektiva aus Gruppenkollektiva

Einige der Gruppenkollektiva werden weiter lexikalisiert und verwandeln sich in Genuskollektiva. Am auffalligsten ist dabei das Verschwinden des Frames. Aus fr. habit Aufmachung einer Person' wird habits .Kleidung' (PR s.v. habit), auch fr. habillement zeigt Fälle des Gebrauchs ohne Frame, wie z.B. in magasin d'habillement ,Kleiderladen' (Corpus Orleans, file t016.txt, ELICOP). Aus fr. vetement ,Aufmachung' entstand ,Kleidung' (DHLF, PR). Aus fringue ,festliche Aufmachung' wurde fringues ,Klamotten', aus hardes ,Habe in einem Bündel', ,Kleidung einer Person', wurde das pejorative Genuskollektivum ,ärmliche abgetragene Kleidung' (DHLF s.v. fringues, hardes). Aus fr. sape ,Aufmachung' wurde sapes .Kleidung' (DHLF s.v. saper'). Dieselbe Entwicklung finden wir bei sp. ropa, das im Altspanischen mit aller Wahrscheinlichkeit,erbeutete Kleidung' aber auch Aufmachung' bedeutete und später auch die Bedeutung ,Kleidung, Textilartikel' entwickelte, eine analoge Entwicklung liegt auch hinter fr. robe ,Kleid' (DHLF s.v. robe, FEW s.v. rauba). Auch sp. vestido .Kleidung, Aufmachung' (MOL, DEA), das auf lat. vestltus ,Kleidung einer Person' zurückgeht (OLD, s.v. uesütus) entwickelt sich zu einem Genuskollektivum, z.B. in Historia del vestido ,Geschichte der Bekleidung' (MOL s.v. vestido). Sp. prenda ,Kleidungsstück' muss sich ebenfalls über einen Zwischenschritt ,Kleidung' aus verpfändete Kleidung' entwickelt haben. Eine ähnliche Entwicklung haben auch eng. wear und gear in der Bedeutung .Aufmachung' hinter sich, die ebenfalls eine genuskollektivische Bedeutung ,Kleidung' entwickelt haben (OED). Eng. clothing und dress (OED) sowie dt. Kleidung und Kleid haben ebenfalls vermutlich eine solche Geschichte hinter sich, so besaß Kleid sowohl die Bedeutung .komplette Bekleidung' als auch die genuskollektivische Bedeutung .Kleidung' (GDW).

124

> Abb. 26:

Vom Gruppenkollektivum zum Genuskollektivum

Die Entwicklung vom kontiguitätsbasierten heterogenen Gruppenkollektivum zum similaritätsbasierten homogeneren Genuskollektivum ist auch in anderen inhaltlichen Domänen zu beobachten. Aus fr. couvert ,Gedeck' mit einem starken Frame wird couvert .Besteck' (DHLF s.v. couvrir, PR), aus sp. cubierto ,Gedeck' wird ebenfalls cubiertos ,Besteck' (MOL), vermutlich über die Zwischenstufe ,Besteckset fur einen Gast'. Aus fr. vaisselle (PR) und sp. vajilia ,Geschirrservice' entsteht das Genuskollektivum ,Geschirr'. Sp. vajilla besitzt noch beide Funktionen, die des zählbaren Gruppenkollektivums im folgenden Beispiel: (58)

una vajilla de duralex ,ein Duralex-Service' (Väzquez Montalbän (1977): La soledad del manager, CREA)

Die neuere genuskollektivische Bedeutung .Geschirr' liegt in Beispiel (59) vor: (59)

No utilice nunca piezas de vajilla que esten rotas [...] ,Benutzen Sie nie zerbrochene Geschirrteile' (Bobillo (1991): Guia practica de la alimentaciön, CREA)

Aus den Gruppenkollektiva sp. mueble und fr. meuble ,Mobiliar' wird ein Genuskollektivum ,Möbel' ohne den Frame einer Lokalität, z.B. in fr. l'industrie du meuble ,die Möbelindustrie' 28 (DHLF, MOL), so auch dt. Möbel und eng. furniture (OED). Auch fr. mobilier ,Mobiliar' entwickelt sich in diese Richtung und kann bereits unzählbar sein: (60)

J'ai achete du mobilier. ,Ich habe Mobiliar gekauft' (Flaux 1999: 484)

Eine analoge Entwicklung macht auch sp. mobiliario ,Mobiliar' durch. Durch das Verblassen des Frames werden die einzelnen Basiskonzepte salienter, daher kann das Adjektiv in sp. (tiene un) mobiliario enorme ,er/sie hat ein enormes Mobiliar' sich sowohl auf die Quantität der Möbelstücke aber auch deren Größe beziehen (Lopez Garcia 1998: 117). Aus sp. ganado , Viehbestand/Herde' (MOL) wird durch den Verlust des Frames ganado ,Vieh'. Fr. gibier, sp. caza und venado ,Wild' entstanden aus Bezeichnungen für .Jagdbeute' durch den Verlust des Frames der Jagd. Bezeichnungen für Werkzeug gingen vermutlich einen analogen Weg. Sp. herramienta .(einzelnes) Werkzeug' ist heute vor allem ein Individuativum, es besaß bis vor kurzem

28

In solchen Syntagmen sind Gruppenkollektiva nicht möglich, da sie einen Frame beinhalten: * l'industrie du mobilier ,die Mobiliarindustrie' ist daher nicht wohlgeformt.

125 aber noch eine ältere Bedeutung auf der Basis des Genuskol Ick tivums ,Werkzeug', z.B. mucha herramienta ,viel Werkzeug' (Bosque 1999: 53), und entstand sehr wahrscheinlich über den Frame eines Handwerks (Morreale 1973: 125). Die Entwicklung von Genuskollektiva aus Gruppenkollektiva durch Verblassen eines Frames ist also relativ häufig zu beobachten. Der Frameverlust hat auch syntaktische Konsequenzen. Wie oben gezeigt, verhalten sich Genuskollektiva wie Massennomina, sie sind also nicht mehr zählbar (Flaux 1999: 484): (61)

sp. Me va a dejar sin vajilla. ,Er/sie wird mich ohne Geschirr zurücklassen' (MOL s.v. vajilla)

Adjektive können bei der genuskollektiven Lesart nun nicht mehr den Frame modifizieren, nur noch die Elemente, so bezieht sich bei ganado grande ,großes Vieh', fruta grande ,großes Obst' und mobiliario enorme ,enormes Mobiliar' das Adjektiv dann auf die Elemente selbst (Bosque 1999: 54f., Lopez Garcia 1998: 117). Eine weitere Folge des Frameverlusts ist die Möglichkeit, nun in Klassifikatorkonstruktionen zu erscheinen wie in piezas de vajilla ,Geschirrteile' (Bobillo (1991): Guia präctica de la alimentacion, CREA). Die Zugehörigkeit der Basiskonzepte zum Kollektivum kann nun nicht mehr durch einen Frame bestimmt werden. Genuskollektiva unterscheiden sich von Gruppenkollektiva neben dem Fehlen einer Gestalt außerdem in der zunehmenden Bedeutung intrinsischer permanenter Eigenschaften der Basiskonzepte. Eine weniger auffallige Änderung beim Übergang vom Gruppenkollektivum zum Genuskollektivum ist die Homogenisierung der Basiskonzepte, da nun inhärente Eigenschaften der Basiskonzepte die Zugehörigkeit zum Genuskollektivum bestimmen. Können zu einer Aufmachung Kleidung, Schuhe, Kopfbedeckung und Accessoires gehören, so kann das daraus entstehende Genuskollektivum nur noch auf (Ober)bekleidung referieren. Dies ist der Fall bei der Entstehung von Genuskollektiva der Bedeutung Kleidung' wie fr. vetement und habits29 (DHLF, Guillemard 1991: 26, PR) und muss auch bei sp. ropa ,Kleidung' angenommen werden. Heute noch ist eine gewisse Ambiguität zwischen den Gruppenkollektiva mit der Bedeutung ,komplette Ausstattung mit Schuhen' in (62) und (63) und den Genuskollektiva ,Kleidung (ohne Schuhe und Kopfbedeckung' in (64) und (65) zu beobachten:

29

30

31

(62)

fr. [...] une petite robe de laine, un tablier, une brassiere de futaine, un jupon, un fichu, des bas de laine, des souliers, un vetement complet pour une fille de huit ans (Hugo zit. in PR s.v. vetement)30

(63)

sp. El astro estaba indemne, pero de su ropa solo conservaba integros los zapatos y los calzoncillos. (Vargas Llosa (1977): La tia Julia y el escribidor, Perü, CREA) 3 1

Fr. habits ,Kleidung' kann nicht mehr auf Schuhe oder Kopfbedeckung referieren (Guillemard 1991: 26). Bis zur Klassik aber umfasste habit ,Aufmachung' auch Kopfbedeckung und Schuhe (DHLF s.v. habit). ,ein Wollkleidchen, ein Kittel, ein Barchenthemdchen, ein Unterrock, ein Tuch, Wollstrümpfe, Schuhe, eine komplette Ausstattung für ein achtjähriges Mädchen' ,Der Star war unverletzt, aber von seiner Kleidung waren nur die Schuhe und die Unterhose ganz geblieben.'

126 (64)

fr. Impossible de rien acheter, ni chaussures, ni vetements. (Les Cahiers d'Histoire 5, http://lescahiersdhistoire.info/spip/article.php3?id_article=279, 12.02.2005) 32

(65)

sp. En el almacen se vendia tanto alimentos, ropa, sombreros y zapatos [...] (Silvestrini/Luque de Sänchez (1987): Historia de Puerto Rico: trayectoria de un pueblo, Puerto Rico, CREA) 3 3

Relativ auffallig ist die Homogenisierung auch bei der Entstehung der Genuskollektiva mit der Bedeutung ,Möbel', z.B. fr. meuble, sp. mueble, aber auch eng. furniture. Während sie früher eine sehr heterogene Ausstattung bezeichneten, die auch Textilien und verschiedene Haushaltsgeräte umfasste, bezeichnen sie heute vor allem größere Einrichtungsgegenstände, die aus Holz gefertigt sein können (DHLF s.v. meuble ).34 Die verschiedenen Basiskonzepte zeigen nun neben funktionalen Gemeinsamkeiten auch gewisse perzeptuelle Ähnlichkeiten auf. Bei , Kleidung' ist es vor allem das Material, bei ,Möbel' das Material und die Größe (vgl. auch Langacker 1990: 71). Die eher abstrakten Merkmale der funktionalen Substantive werden also im Lauf der Lexikalisierung teils durch perzeptuelle Merkmale ersetzt. Die intrinsische Ähnlichkeit der Mitglieder verbindet Genuskollektiva mit Stoffbezeichnungen. Die Similarität ist allerdings nicht völlig von den Basiskonzepten losgelöst. Genuskollektiva entsprechen so den Pseudobegriffen bei Wygotski (1934; 1993: 131, 152), die auf der vagen Gruppierung ähnlicher Gegenstände, also auf der Vereinigung von Bildern, beruhen. Ein logischer Begriff entsteht erst, wenn eine Reihe abstrahierter Merkmale wieder zu einem eigenständigen Konzept zusammengefasst werden (Wygotski 1934; 1993: 156). Genuskollektiva beruhen so auf Similarität, vermutlich aber auch bis zu einem gewissen Grad auf der Kontiguität der Elemente. So enthalten oft auch Genuskollektiva noch Anklänge an Frames. Möbel bezeichnet nicht nur meist hölzerne Gegenstände einer gewissen Größe wie Stühle oder Tische, sondern solche Gegenstände, die der Einrichtung einer Wohnung dienen können. Daher blockieren auch Genuskollektiva häufig Transitivität (Hampton 1982): (66)

Car seats are a kind of chair. Chairs are a kind of furniture. *Car seats are a kind of furniture.

Bei wachsender Similarität findet ein grundsätzlicher Wandel der semantischen Relationen zwischen dem Kollektivum und den Basislexemen statt, die nun als inhärent ähnlich konzeptualisiert werden. Dies bedeutet, dass alle Basiskonzepte auch Elemente des Genuskollektivums sind. Das heißt allerdings nicht, dass sie auch über das Genuskollektivum definiert werden, denn sie sind ja autonome Basiskonzepte: (67)

32 33 34

? Une assiette est une sorte de vaisselle. ,Ein Teller ist eine Art von Geschirr' (vgl. Wierzbicka 1985: 271)

.Unmöglich, irgendetwas zu kaufen, weder Schuhe noch Kleidung.' ,1m Laden wurden sowohl Nahrungsmittel als auch Kleidung, Hüte und Schuhe verkauft.' Oft sind diese Substantive ambig: „a chair is both a kind of furniture (class inclusion) and an item of furniture (member-collection)" (Winston/Chaffin/Hermann 1987: 428).

127

Es ist also eher unwahrscheinlich, dass die Entwicklung von Genuskollektiva die Intension der Basislexeme modifiziert: Thus, the fact, that all apples are fruit and that all carrots are vegetables and not vice versa, does not mean that conceptually apples are a kind of fruit, or carrots, a kind of vegetable. (Wierzbicka 1985: 260)

Dennoch sind Genuskollektiva Hyperonymen sehr ähnlich. Sie bezeichnen eine Klasse von Gegenständen auf der Grundlage gleicher Eigenschaften. Die Elemente sind relativ homogen und verlangen nun auch keine Heterogenität auf der Ebene der Referenz. Alle Referenten der Elementkategorien gehören zum Kollektivum, jede Kuh ist ein Stück Vieh. Die Relation ist also genau umgekehrt wie bei rebaho ,Herde', das nicht auf einer inhärenten Kategorisierung von Tieren, sondern der temporären Kontiguität von Referenten beruht. Genuskollektiva wie sp. ropa , Kleidung' können theoretisch ähnlich wie Massennomina kumulativ und divisiv referieren, z.B. auf ein einzelnes Individuum (vgl. Leisi 4 1971: 32), s. Beispiel (10) und (11) in diesem Kapitel, werden aber meist pluralisch interpretiert. Auf die Tendenz der pluralischen Referenz weisen auch die zahlreichen Pluraliatantum hin, die in 3.6.4 diskutiert werden. Insgesamt ist die Entstehung von Genuskollektiva ein Fall der Weiterlexikalisierung von Gruppenkollektiva. Dafür spricht oberflächlich betrachtet schon die kleinere Zahl an Genuskollektiva gegenüber den sehr zahlreichen Gruppenkollektiva, aus denen sie sich entwickeln. Während allerdings bei der Lexikalisierung von funktionalen Substantiven über das Referenzprinzip durch die Ableitung bildlicher Repräsentationen aus häufigen Referententypen Gruppenkollektiva entstehen, entstehen Genuskollektiva durch die zunehmende Lösung von Frames und damit auch von der Referenzsituation und die zunehmende Typisierung. Die Eigenschaften, auf denen Genuskollektiva basieren, sind stabiler, inhärenter, damit intensional reicher, kontextautonomer und absoluter als die der Gruppenkollektiva. Dieser Lexikalisierungspfad entspricht auch den Szenarien des Erwerbs von Hyperonymen im Spracherwerb, der zunehmenden Abstraktion und Lösung vom konkreten Kontext und der zunehmenden Similarität der Referenten (Murphy 2002: 227). Genuskollektiva können im Unterschied zu Gruppenkollektiva nicht relational sein. In dieser Hinsicht sind Genuskollektiva typischere unmarkiertere Substantive als Gruppenkollektiva, da sie auf inhärenten Merkmalen basieren (vgl. Vogel 1996: 77, 135). Genuskollektiva und die daraus entstehenden Hyperonyme sind aufgrund ihrer stärkeren Lexikalisierung tendenziell älter als funktionale Substantive oder Gruppenkollektiva. So sind die Substantive sp. mueble und fr. meuble ,Möbel' deutlich älter als die Gruppenkollektiva mit der Bedeutung Einrichtung, Mobiliar' wie z.B. sp. mobiliario und moblaje, fr. mobilier und ameublement (s. DHLF s.v. meuble und mobile). Da das Referenzprinzip sehr mächtig ist, kann es geschehen, dass auch stärker lexikalisierte Oberbegriffe, selbst pluralische Hyperonyme wie dishes oder piatos, durch die häufige Referenz auf bestimmte Frames wie die Reinigung in manchen Kontexten wiederum ein neues Element der Kontiguität bekommen, wie z.B. fr. vaisselle (PR), sp. piatos und eng. dishes, die alle auch schmutziges Geschirr, das gespült werden muss, bezeichnen.

128 3.6.4

Pluraliatantum

Genuskol lektiva befinden sich im Spannungsfeld zwischen der Heterogenität der Elemente auf der Basisebene und der vagen Similarität dieser Elemente. A u f g r u n d der Heterogenität 3 5 sind Genuskollektiva häufig nicht quantifizierbar: (68)

*Combien de vaisselle? *Combien de vaisselles? ,Wie viel Geschirr? Wie viele Geschirre?' (Flaux/van de Velde 2000: 59)

D a sie aber auf Individuen referieren, sind auch Mensurativa problematisch: (69)

? J'ai achete pour deux kilos (de volaille + de gibier ). ,Ich habe zwei Kilo Geflügel/Wild gekauft' (Flaux 1999: 485)

Gewinnt aber die Similarität die Oberhand, können die Elemente eines Genuskollektivums gezählt werden, da bei genügend starker Homogenität die Individuen als Pluralität von Mitgliedern einer Klasse aufgefasst werden können. 3 6 Bei Genuskollektiva sind außerdem aufgrund des Fehlens eines Frames die Individuen salienter als bei Gruppenkollektiva. Bei ausreichender Similarität 3 7 kann die Pluralität durch ein Pluralmorphem am Substantiv angezeigt werden. A u s den Genuskollektiva entstehen so Pluraliatantum, d. h. Substantive, die ein Pluralmorphem besitzen und sich syntaktisch wie andere Pluralformen verhalten (z.B. Pluralkongruenz), die j e d o c h keine Singularform besitzen: Bei manchen Wörtern wird die Verknüpfung mit dem Plur. so häufig, dass man sie selbst als pluralisch auffassen kann, falls kein formelles Element auf den Sing, deutet. Das ist z.B. der Fall bei eng. people Leute. Die Entwicklung kann noch weiter gehen, indem der Widerspruch zwischen grammatischem und psychologischem Numerus dadurch ausgeglichen wird, dass ersterer sich dem letzteren akkommodiert. So ist im Mhdt. Hute Leute an die Stelle des Singulars liut Volk getreten; ganz analog sind franz. gens (afranz. noch ja furent venu la gent), it. genti (daneben noch gente), spätlat. populi (Apulejus, Augustinus), eng. folks. (Paul 101995: 270) Zahlreiche Genuskollektiva werden auf diese Art und Weise zu Pluraliatantum. Sp. ropa(s) zeigt noch beide Formen, obwohl es bereits im Cid als pluralisches Kollektivum auftrat

35 36

37

„[...] classes of objects that do not fall under a concept cannot be numbered" (Hurford 1987: 164). Bei Gruppenkollektiva ist die Pluralisierung der Elemente aus zwei Gründen unmöglich. Erstens sind durch den starken Frame die Individuen nicht salient genug, nur die Gruppierung als Ganzes kann deshalb gezählt werden. Gruppenkollektiva sind daher oft zählbare Substantive. Zweitens müssen zählbare Elemente homogen sein. Zu einem Mobiliar gehören aber per Definition verschiedene Arten von Möbelstücken. Eine Ausnahme bilden hier die pluralischen Gruppenkollektiva sp. galas ,festliche Aufmachung einer Person, Putz' (MOL) und atavio(s) ,Putz, Aufmachung einer Person' (MOL). Hier handelt es sich sehr wahrscheinlich um einen Abundanzplural, der den (übertriebenen) Reichtum einer Aufmachung ausdrückt. Allerdings ist häufig die Zugehörigkeit eher marginaler Basiskonzepte noch möglich bei Referenz auf heterogene Basiskonzepte: „We can, with a clear conscience, tell a customs official that we are carrying .nothing but clothes' if our suitcase contains trousers, jackets, shirts, underwear, socks and several pairs of shoes. But surely it would not be normal - in fact it would be downright misleading - to say of a shoe-box with only a pair of shoes in it that it contained clothes, or to say that a shoeshop sold clothes." (Cruse 1986: 148)

129 (DCECH s.v. robar). Auch sp. vajilla ,Geschirr' wird bisweilen als Pluraletantum eingesetzt: (70)

[...] cuando cenabamos en casa, ponia la pecera sobre la mesa para ver sus evoluciones sosas, casi minerales. Me parece que a Enrique no le hacia mucha gracia ese adomo zoolögico junto a las vajillas de duralex verde [...] [Hervorh. von mir] (Savater (1981): Caronte aguarda, Espana, CREA) 38

Sowohl Singularetantum als auch Pluraletantum sind außerdem sp. fruta(s) ,Obst', verdures) ,Gemüse' und fr. sape(s) .Klamotten' (DHLF, PR). Manche Genuskollektiva besaßen Pluralformen, die wieder untergingen, z.B. ganados ,Vieh-PL' (Morreale 1973: 132), untergegangen sind zudem die Pluralformen eng. vegetations und furnitures (OED) und norddeutsch Kleidungen (GDW s.v. Kleidung). Im Französischen gibt es eine ganze Serie von Substantiven mit der Bedeutung ,Klamotten', die Pluraliatantum sind, z.B. fringues, nippes, hardes und fripes, das selten singularisch verwendet wird (DHLF s.v. fringues, nippe, hardes, PR s.v. fripe). Weitere Pluraliatantum sind eng. clothes und dt. Kleider. Fr. bestiaux ,Vieh' ist ein mit betail ,Vieh' eng verwandter Pluraletantum (DHLF s.v. bete). Manche Genuskollektiva wie fr. habillement ,Kleidung' und vaisselle .Geschirr' treten bisher nur sporadisch im Plural auf: 39 (71)

Je regardai aussi et je vis Huriel, tout encharbonne et noirci dans sa figure et ses habillements, comme je l'avais vu la premiere fois. (Sand (1865): Les maitres sonneurs, FRANTEXT) 40

(72)

Jem versait le the dans des vaisselles douteuses. (Martin du Gard (1909): Devenir, FRANTEXT) 41

Alte Pluraliatantum sind zahlreiche Substantive, die heute zählbare Hyperonyme sind, aber von Neutrum-Plural-Formen des Lateinischen abstammen, z.B. sp. prenda Kleidungsstück', fruta .Frucht', arma , Waffe' und herramienta , Werkzeugteil' (FEW s.v. früctus, Morreale 1973: 127-131). Vermutlich gab es im Falle vieler Hyperonyme eine Vorstufe als Pluraletantum, z.B. bei sp. mueble ,Möbelstück', fr. vetement .Kleidungsstück' und meuble ,Möbelstück'. Die Pluralform sp. venados .Wildtiere, Wild' existierte bereits im Altspanischen (DCECH). In wenigen Fällen aber wurde sehr wahrscheinlich ein Pluraletantum direkt von einem Gruppenkollektivum abgeleitet, und zwar von einem Plural des Gruppenkollektivums, der als Individuenplural reanalysiert wird. Wie oben gezeigt wurde, unterliegen alle Kollektiva Kippeffekten, da sie auf komplexen Gestalten beruhen. So kann der Plural sp. cubiertos oder fr. couverts .Gedecke' durch Verschwimmen des Frames reanalysiert werden als Plu-

38

39

40

41

,als wir zuhause zu abend aßen, stellte ich das Fischglas auf den Tisch, um ihren öden, fast mineralischen Runden zuzusehen. Enrique fand diese zoologische Dekoration neben dem grünen Duralexgeschirr wohl nicht sehr komisch.' Diese müssen allerdings von pluralischen Gruppenkollektiva unterschieden werden. Pluraliatantum bezeichnen eine Pluralität von Individuen, nicht von Sets. ,Ich schaute auch und ich sah Huriel, ganz angekohlt und geschwärzt im Gesicht und seiner Kleidung, so wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.' ,Jem goss den Tee in schmuddelige Geschirrteile.'

130 ralität von Besteckteilen, denn mehrere Gedecke enthalten zwangsläufig mehrere Besteckteile. Heute bezeichnen sp. cubiertos und fr. converts neben ,Gedecken' auch ,Besteckteile': (73)

Por ejemplo, el dotar a los cubiertos de un agujero en el extremo del mango [...] (Ricard (1982): Diseno, ipor que?, CREA) 42

(74)

Ce qui me degoüta plus encore, ce fut le lavage des couverts. (Gyp (1928): Souvenirs d'une petite fille, T.2, FRANTEXT) 43

Auch ein Übergang zwischen Sortenplural und Individuenplural ist denkbar, denn eine Pluralität von Sorten impliziert eine Pluralität von Individuen. Typisch für viele Genuskollektiva ist in der Tat die Möglichkeit des Sortenplurals (Flaux 1998: 175). Die Sortenlesart ist im Grunde bei allen Substantiven, v. a. aber bei Massennomina, möglich, die etablierte Unterarten besitzen (Chur 1993: 60) und als Klasse aufzufassen sind: (75)

El valor calörico de las setas es muy poco elevado, aproximadamente unas 25 kilocalorias por cada 100 gramos, menos que muchas verduras. [Hervorh. von mir] (Toharia (1985): El libro de las setas, CREA) 44

Während bei Substanzbezeichnungen kein Individuenplural möglich ist, sind bei Genuskollektiva, die auf Individuen referieren, sowohl der Sortenplural als auch der Individuenplural möglich. Je salienter (je größer, je ,belebter' etc.) die Individuen sind, desto wahrscheinlicher ist der Individuenplural. In Abb. 27 links werden eher Gruppen unterschiedlicher Qualität wahrgenommen als Individuen; auch in Abb. 27 rechts werden heterogene Gruppen wahrgenommen, allerdings sind hier die Individuen salienter. Das bedeutet, es kann sowohl eine Pluralität von Unterkategorien als auch von Individuen wahrgenommen werden: * * * X •



* * * χ χ •

* * * •

• •

• •



XXXXXX • * X X · ·



• X

X X XXX Abb. 27:

Sortenplural vs. Individuenplural

Genuskollektiva oberhalb der Basisebene sind besonders gut für die Sortenlesart geeignet, da sie auf heterogene Basiskonzepte, also Unterarten, referieren. Ist jedoch die Similarität stark genug, ist auch der Individuenplural möglich. S p . f r u t a schwankt zwischen der Interpretation als Sortenplural und -singular und Individuenplural und -singular, wie der Lexikoneintrag für fruta ,Obst' aus MOL bezeugt:

42 43 44

,Zum Beispiel das Versehen von Besteck mit einem Loch am Ende des Griffs [...]' ,Was mich noch mehr anwiderte, war das Spülen der Besteckteile.' ,Der Kaloriengehalt der Pilze ist sehr niedrig, ungefähr 25 Kilokalorien pro 100 Gramm, weniger als viele Gemüse(-sorten).'

131 (76)

• Cada especie de ellos: ,La pina es una fruta tropical. Mercado de frutas y verduras'. • Se emplea a veces, aunque no es frecuente, como numerable: ,Comete una fruta' [Hervorh. von mir] 45

Ein weiterer Faktor, der die Pluralisierung fördert, ist die Analogie zu bestehenden Pluraliatantum derselben inhaltlichen Domäne. So liegen im Französischen zahlreiche umgangssprachliche Pluraliatantum mit der Bedeutung ,Klamotten' vor. Diese üben einen starken Einfluss auf Synonyme aus, so ist sapes ,Klamotten' durch Analogie mit den Synonymen fringues und frusques häufig im Plural zu finden (DHLF s.v. saper3). Neben der Entstehung von Pluraliatantum über Genuskollektiva gibt es auch einige Plurale von Individuativa oberhalb der Basisebene, die lexikalisiert werden. Aus flexivischen Pluralformen werden so Pluraliatantum. Allerdings besteht hier das Problem, dass Hyperonyme vorliegen müssen, deren Plural dann fossilisiert werden kann. Bei Pluralen wie lat. vascella ,kleine Gefäße' verläuft der diachrone Weg zum Kollektivum (sp. vajiUa G e schirr') über die Referenz auf eine Klasse einigermaßen ähnlicher Individuen, wobei im Diskurs oft ein Frame involviert ist, der dann Teil der Bedeutung des Kollektivums wird. Werden die Pluralmorpheme unproduktiv, also synchron nicht mehr analysierbar wie der lateinische Plural der Neutra, wird aus dem Pluraletantum synchron gesehen ein Singularetantum. Viele Pluralformen lateinischer Neutra wurden Singuraliatantum, als sie in den (west)romanischen Sprachen fossilisiert wurden (Baldinger 1950: 123-126, Schön 1971: 112-121), z.B. sp. vajilla und fr. vaisselle ,Geschirr' aus vlt. vascella ,kleine Gefäße' (Morreale 1973: 124), ebenso fr. arme und sp. arma ,Waffe' (Morreale 1973: 121), sowie herramienta ,Werkzeug' (vgl. auch Baldinger 1950: 125). Lexikalisierte Pluralformen von Neutra, die wiederum von Kollektiva gebildet wurden, sind die Kultismen sp. vestimenta und indumentaria ,Bekleidung' (Morreale 1973: 126). Auch sp. fruta gehört zu diesen Fällen, wobei hier im Spätlateinischen zum ursprünglichen maskulinen Substantiv eine sekundäre pluralische Neutrumform gebildet wurde (FEW s.v. früctus, Schön 1971: 99). Allerdings war der Plural auf -a durch die große Zahl von Substantiven auch in romanischen Sprachen noch lange in morphologischen Reihen lebendig, wenn auch kaum produktiv (Morreale 1973: 126). Viele Ex-Pluraliatantum wurden später erneut zu Pluraliatantum durch Anfügung des produktiven Pluralmorphems -s (vgl. Schön 1971: 49), so asp. animalias ,Tiere' und sp. armas ,Waffen' (Morreale 1973: 121, 124). Dasselbe gilt aber sicher auch für sp. prendas ,Kleidungsstücke', sp. frutas ,Früchte', herramientas ,Werkzeug', die heute Individualnomina sind (Morreale 1973: 121-131). Auch fr. ustensile ,Utensil' geht auf eine Pluralform zurück (DHLF, s.v. ustensile). Durch die starke Reihenbildung gehen sogar viele Kollektivsuffixe auf den Plural von Neutra zurück, wie z.B. die lateinischen Suffixe -aria, -alia und ilia (Morreale 1973: 124). Viele Kollektivsuffixe wie fr. -age, -ure und -erie wurden außerdem in manchen Epochen zusätzlich pluralisiert (vgl. Baldinger 1950: 173). Die häufigen diachron gesehen doppelten Pluralmarkierungen 46 zeigen, wie lebendig konzeptuell die

45

46

jede Sorte davon: ,Die Ananas ist eine tropische Frucht. Früchte- und Gemüsemarkt' • ,wird manchmal, wenn auch nicht häufig, als zählbares Substantiv verwendet: ,Iss eine Frucht.' Auch diachron gesehen doppelte Kollektivsuffigierung ist sehr häufig, z.B. bei sp. herramental , Werkzeugset' (Werkzeug-KOLLEKTIVSUFFIX) und indumentaria .Bekleidung' (Kleidung-

132 Pluralität bei Genuskollektiva ist. Dies ist typisch für in Bezug auf den Plural lokal unmarkierte Konzepte (s. Tiersma 1982). Häufig koexistieren Genuskollektiva mit und ohne Pluralformen, meist ohne semantischen Unterschied. Zumindest ist der Unterschied sehr gering. So bewirkt das Pluralmorphem bei Genuskollektiva häufig feine Bedeutungsunterschiede zur Singularform. Ein Pluraletantum „[...] highlights the internal complexity of a unitary entity whose subparts are in some sense functionally equivalent but can either be delimited only arbitrarily or else do not occur (or serve any useful purpose) independently" (Langacker 1991: 77). Wie zu erwarten ist, suggeriert der Plural eine stärkere Individuiertheit der Elemente. Während eng. foliage ein wenig differenziertes Ganzes suggeriert, suggeriert eng. leaves die Betrachtung aus einer geringeren Distanz, bei der die Individuen sichtbar sind (Reid 1991: 67). Fr. bestiaux ,Vieh' unterscheidet sich ebenfalls in der stärkeren Individuierung und Aktualisierung von betail ,Vieh', denn bestiaux (DHLF, s.v. bete)·. [...] se differencie de betail en tant qu'il designe l'ensemble des memes animaux considere en tant que somme d'individus (distributivement, successivement) et non en tant qu'ensemble; de lä son choix dans wagon ä bestiaux.*1

Wierzbicka (1985: 279ff., 1988: 543-548) zeigt hingegen, dass manche Pluraliatantum sich häufig durch eine temporäre spatiotemporale Kontiguität der Elemente von Singulariatantum unterscheiden. Pluraliatantum wie eng. groceries, leftovers, remains und dishes bezeichnen Dinge, die aus einem bestimmten Grund räumlich kontig sind, z.B. dishes beim Geschirrspülen. Sie sind auf diese Kontexte beschränkt: (77)

? I'd like to buy some dishes. (Wierzbicka 1985: 276)

Bei Singulariatantum dagegen besitzen die Elemente eine inhärente gemeinsame Funktion (Wierzbicka 1985: 279-281). Die Unterschiede sind manchmal sehr subtil, finden sich aber auch bei eng. clothes gegenüber clothing. Während ersteres eher eine mögliche Kombination von Kleidungsstücken in einem konkreten Aufzug bezeichnet, bezeichnet clothing eher ungeordnete Teile (Wierzbicka 1985: 283ff., 1988: 546). In diesen Fällen kann also die Individuierung durch den Plural wiederum einem stärkeren Frame weichen. Manche Pluraliatantum scheinen sich sozusagen auf höherem Generalisierungsniveau Gruppenkollektiva wieder etwas anzunähern. Vermutlich spielt hier die Tatsache eine Rolle, dass die Pluralflexion häufig mit Aktualisierung im Diskurs verbunden ist, da sie die markierte Form ist und daher eine stärkere Aktualisierung suggeriert. Daher scheinen pluralisch flektierte Substantive auch wieder kontextgebundener zu sein und das Referenzprinzip (s. 1.5) kann wirksam werden.

47

KOLLEKTIVSUFFIX), im Altfranzösischen findet man z.B. Formen wie vaisselemente ,Geschirr', das diachronisch eine Neutrum-Pluralform und ein Kollektivsuffix vereint (Baldinger 1950: 126). ,[...] unterscheidet sich darin von betail, dass es die Gesamtheit derselben Tiere bezeichnet, die als Summe von Individuen (distributiv, sukzessiv) betrachtet wird und nicht als Gesamtheit, daher seine Wahl in Viehwagon (wagon ä bestiaux).'

133 3.6.5

Vom Pluraletantum zur flektierten Pluralform

Bei Genuskollektiva kann die Konzeptualisierung zwischen stärkerer und schwächerer Individualisierung (s. auch Talmy 2000: 52), stärkerer und schwächerer Similarität der Elemente schwanken und so lässt sich auch die häufige Hin- und Herbewegung zwischen Pluralisierung, Lexikalisierung der Pluralform und erneuter (doppelter) Pluralisierung erklären. Da die Individuen häufig aber nicht als genügend autonome Einheiten konzeptualisiert werden, entsteht hier meist kein analoger Singular, der Plural bleibt dann immer nur ein kollektiver nichtflexivischer Plural (vgl. Meisterfeld 1998: 108f.). Sind nun die Individuen eines Genuskollektivums salienter, ist der Schritt zum flexivischen Plural sehr klein. Dann kann das Pluraletantum als flexivische Pluralform reinterpretiert und frei mit Numeralia und pluralischen Quantoren kombiniert werden: It would s e e m in fact that the typical life history o f the collective is that it starts out as a singular but with plural agreements or variation between singular and plural in more remote syntactic constructions and tends to b e c o m e a morphological plural in the course of time. This is an interesting topic which will not be pursued here. (Greenberg 1972: 23f.)

In der Tat ist der Übergang vom Genuskollektivum auf der Basis kaum individuierter Elemente zum Individuenplural fließend. Pluraliatantum unterscheiden sich semantisch deutlich vom flexivischen Plural, denn sie sind meist auf die kollektive Lesart beschränkt und besitzen keine entsprechende Singularform, die auf ein Element referieren kann. Allerdings gibt es zwischen Kollektivität und Distributivität Übergänge und manche Pluraliatantum, deren Individuen salient genug sind, verwandeln sich in flexivische Pluralformen. Dieser semantische und morphologische Wandel lässt sich anhand der Wahl der Quantoren gut beobachten, sowohl bei Pluraliatantum auf der Basisebene wie z.B. Leute, fr. gens ,Leute', eng. people oder cattle, die homogene Elemente auf der Basisebene vereinen, als auch darüber. Eine Besonderheit des Englischen ist allerdings die, dass hier Singularformen direkt als Pluralformen reinterpretiert werden können (Poutsma 1914: 281). Dies ist im Französischen, Spanischen oder Deutschen nur selten möglich. Schwach individuierend sind Quantoren wie dt. einige, viele, mehr, wenige, unzählige, sp. muchos ,viele', demasiados ,zu viele', bastantes ,ziemlich viele', algunos ,einige', pocos ,wenige' (Rigau 1999: 334-338), eng .few, many, several, fr. quelques , einige', plusieurs ,mehrere', divers verschiedene', sowie ungefähre Zahlenangaben, die alle nicht bei Substanzbezeichnungen auftreten können. Pluraliatantum wie fr. gens ,Leute-PL' (Curat 1999: 135), sp. gentes ,Leute-PL', ropas ,Kleidung-PL' (vgl. Bosque 1999: 29), people, cattle (Allan 1980: 549, Poutsma 1914: 281), bestiaux ,Vieh-PL' (Grevisse/Goosse l3 1993: 781) oderfringues ,Klamotte-PL' können mit diesen Quantoren quantifiziert werden, z.B.: (78)

fr. Elle prend quelques fringues et eile se casse. (Boudard (1982): Les enfants de choeur, FRANTEXT)48

Die Universalquantoren sind dagegen bei vielen Pluraliatantum problematisch: (79)

48

eng. *all cattle (Allan 1980: 557)

,Sie nimmt einige Klamotten und haut ab.'

134 (80)

*tou/te/s gens l'ont raconte ,alle Leute haben es erzählt' (Curat 1999: 135)

Möglich ist der Universalquantor dagegen offensichtlich bei fringues: (81)

Elle avait enfile toutes les fringues les unes sur les autres [...] (Dijan (1985): 37,2° le matin, FRANTEXT) 49

Während zahlreiche Pluraliatantum in Exklamativsätzen vom Typ sp. jcudntas ropas!, Wie viele Kleider!' erscheinen können, können sie nicht in den entsprechenden Interrogativsätzen wie *jcucmtas ropas? ,wie viele Kleider?' (Bosque 1999: 29f.) auftauchen, denn die Fragepronomina isolieren die einzelnen Elemente bei der Quantifikation, da hier nach einer genauen Anzahl gefragt wird. Beschränkter einsetzbar sind hier auch stärker individuierende Quantoren wie sp. varios verschiedene', multiples ,vielzählige' oder un determinado nümero de ,eine bestimmte Anzahl von' (Bosque 1999: 29): (82)

*un determinado nümero de ropas ,eine bestimmte Anzahl von Kleidern' (vgl. Bosque 1999:29)

Entgegen der Annahme Bosques findet sich aber folgender Beleg: (83)

y varias ropas [Hervorh. von mir] se perdieron ahi, y eso era un desastre. (Oral (1987): CSHC-87, Entrevista 38,Venezuela, CREA) 50

Auch die Verwendung von fr. certaines ,gewisse' spricht dafür, dass fringues stärker individualisiert ist: (84)

II se demande avec quel fric j'ai pu me payer certaines fringues depuis quelque temps... une canadienne fourree mouton... une paire de godasses triple semelle... un costard d'assez bonne coupe... (Boudard (1982): Les enfants de chceur, FRANTEXT) 5 '

Da es sich hier um fließende Übergänge handelt, variiert die Möglichkeit der Quantifikation der Pluraliatantum sehr stark und es lassen sich allenfalls Tendenzen, keine Regeln aufstellen. Dasselbe gilt überraschenderweise für Numeralia, auch hier gibt es Übergänge. Genuskollektiva können nicht gezählt werden (Bosque 1999: 53f.): (85)

*una docena defruta ,ein Dutzend Obst'

Bei den Pluraliatantum ist hier ein Übergang zwischen niedrigen und höheren Numeralia zu beobachten. Bei höheren Zahlen sind die gezählten Elemente weniger individuiert und desto wahrscheinlicher ist auch die kollektive oder zumindest die nicht distributive Lesart (vgl. van der Does 1998: 252). Viele Pluraliatantum sind daher durch große Numeralia, vor allem runde Zahlen, aber auch ungefähre Zahlenangaben quantifizierbar (s. a. Greenberg 1972: 25): (86)

49 50 51

a dozen or so cattle (Allan 1980: 549)

,Sie hatte alle Klamotten übereinander übergezogen [...]' ,und verschiedene Kleidungsstücke gingen da verloren, und das war eine Katastrophe.' ,Er fragt sich, mit welcher Kohle ich seit einiger Zeit gewisse Klamotten bezahlen konnte... eine schaffellgefütterte Jacke., ein paar Latschen mit dreifacher Sohle... ein ziemlich gut geschnittener Anzug...'

135 (87)

51000 PERSONNELS sous contrat militaire ,51000 Beschäftigte unter Militärvertrag' (Le Monde, selection hebdom., 12-18 mai 1983 zit. in Grevisse/Goosse 131993: 705)

(88)

cien gentes ,hundert Leute' (Magdaleno, La Tierra grande, zit. in Esbozo 1973: 187)

Die Quantifikation von Pluraliatantum durch kleine Numeralia ist dagegen bei vielen Pluraliatantum nicht möglich, erst bei zunehmender Salienz der Elemente können niedrigere Numeralia zum Einsatz kommen und somit der flexivische Plural mit all seinen verschiedenen auch nicht kollektiven Lesarten. Problematisch sind niedrige Numeralia z.B. bei eng. cattle, fr. gens .Leute' und sp. ropas ,Kleidung': (89)

*fourteen cattle (Allan 1980: 549)"

(90)

*trois gens l'ont raconti ,drei Leute haben es erzählt' (Curat 1999: 135)53

(91)

*dos ropas ,zwei Kleidungsstücke' (vgl. Bosque 1999: 29)

Durchaus möglich sind niedrige Numeralia jedoch bei personnels und people 1914: 281), was womöglich mit der Belebtheitshierarchie zusammenhängt: (92)

(Poutsma

vingt-sept PERSONNELS d'encadrement d'origine europeenne ,siebenundzwanzig Betreuungsangestellte europäischer Herkunft' (Perec, Vie mode d'emploi, S. 110, zit. in Grevisse/Goosse 131993: 704)

In einigen Gegenden von Amerika findet man z.B. im Spanischen zählbares gentes, z.B. cien gentes ,hundert Leute' (Esbozo 1973: 187). Wie auch schon im Zusammenhang mit den Quantoren gezeigt wurde, ist fringues schon stark individualisiert: (93)

[...] je me suis fait arnaquer moi aussi, bien comme il faut. Coup sur coup, mes deux fringues preferees, comme un cave. Mon blouson synthetique Cacharel d'avant-garde, beige et sobrissime: plam. [Hervorh. von mir] (Bayon (1987): Le lyceen, FRANTEXT) 54

Insgesamt ergibt sich das Bild eines allmählichen Übergangs von Genuskollektiva über Pluraliatantum zu flexivischen Pluralformen. Im Falle der Dublette sp. frutos/frutas besteht interessanterweise ein Unterschied in der stärkeren Individuiertheit des ererbten flexivischen Plurals frutos gegenüber dem weniger individualisierten neueren kollektiven Plural frutas (Morreale 1973: 129).

52 53

54

Für manche australische Sprecher des Englischen ist cattle jedoch voll zählbar (Allan 1980: 559). Allerdings sind bei fr. gens ,Leute' Numeralia erlaubt, sobald es durch bestimmte Adjektive modifiziert wird, wodurch vermutlich die Individuen fokussiert werden, z.B. in II y vint trois pauvres gens ,Es kamen drei arme Leute'. Hier waren jedoch Numeralia bis zum 18. Jahrhundert auch ohne Adjektive möglich (Grevisse/Goosse 131993: 781 f.). ,[...] ich habe mich auch übers Ohr hauen lassen, ganz wie es sich gehört. Schlag auf Schlag meine beiden Lieblingsklamotten, wie ein Grünschnabel. Mein avantgardistischer Synthetikblouson von Cacharel, beige und super schlicht: plam.'

136 3.6.6

Neue Hyperonyme

Von der Quantifikation mit kleinen Numeralen ist es nur ein kleiner Schritt zur Bildung eines analogen Singulars. 55 Dennoch gehen nicht alle Pluraliatantum mit starker Individuierung diesen Schritt, denn die Individuierung ist bei der Singularform noch größer als beim distributiven Plural (Talmy 2000: 57). Erst die Existenz einer Singularform verwandelt Pluraliatantum jedoch in Individuativa und damit die Quasihyperonyme der aus zählbaren Substantiven bestehenden Taxonomien in echte Hyperonyme. Keinen Singular mit Referenz auf ein Individuum erlauben z.B. eng. people, cattle (Allan 1980: 557), fr. couverts ,Besteck', gens ,Leute', fringues ,Klamotten', personnels56 ,Personal' (Grevisse/Goosse 13 1993: 704f., 778, PR) und sp. vajillas ,Geschirr'. Andere Pluraliatantum zeigen okkasionelle Singularformen (s. auch Vossen 1995: 75), so findet man Belege für cubierto in der Bedeutung ,Besteckteil', die allerdings selten sind (s. auch MOL, Morreale 1973: 132): (94)

Mas es el caso que el alimento no llegaba nunca a sus dientes. En el trayecto que va del tazön a sus labios, el cubierto se habia vaciado integro sobre su bata. Ni uno solo de los viajes de su cuchara llego a buen puerto. (Luca de Tena (1979): Los renglones torcidos de Dios, CREA) 5 7

Im lateinamerikanischen Spanisch findet man den Singular gente von gentes in der Bedeutung ,Person' (Bruyne 1993: 89). Gut etabliert als Individuativa sind heute beispielsweise die früheren Kollektiva sp. arma ,Waffe',/rwta ,Frucht' (s. auch FEW s y . f r ü c t u s , Morreale 1973: 130), herramienta ,Werkzeug' (Morreale 1973: 131), mueble ,Möbelstück', prenda ,Kleidungsstück' (DCECH), vasija ,Gefäß' 5 8 (DCECH s.v. vaso), venado ,Wildtier' (DCECH s.v. venado), fr. arme ,Waffe', meuble ,Möbelstück', vetement ,Kleidungsstück' (PR) wie auch beispielsweise eng. garment und dt. Werkzeug. Singularformen wie z.B. bestiau, ein ländlicher, scherzhafter Ausdruck für ,Tier, Stück Vieh' (< bestiaux ,Vieh') (DHLF s.v. bete) beweisen sogar morphologisch, dass sie von Pluralformen abgeleitet wurden. Allerdings gibt es einige Lexeme, die früher Individuativa waren, während sie heute nur noch als Kollektiva, entweder als Singularia- oder Pluraliatantum, vorliegen. Wieder verschwunden sind beispielsweise fr. habit ,Kleidungsstück' (PR), sp. vestido ,Kleidungs-

55

In guillaumistischen Arbeiten (z.B. Hirtle 1982) wird ein anderer W e g vorgeschlagen, nämlich die Entstehung des Singulars direkt aus einem internen Plural (der etwa den Gruppenkollektiva entspricht). Der externe oder flexivische Plural wird dann vom Singular abgeleitet. Der Schwachpunkt dieses Vorschlages ist der, dass der konzeptuelle Sprung vom Kollektivum zum Individuativum sehr groß ist. Viel nahe liegender ist die allmähliche Individuierung vom Gruppenkollektivum zum Genuskollektivum hin zum flexivischen Plural. Der Beweis für diesen Weg sind die unterschiedlichen Stadien der Individuierung, die Seltenheit von Individuativa gegenüber Pluraliatantum und der morphologische Reflex der Ableitung vom Plural z.B. bei fr. bestiau .Stück Vieh'.

56

Dagegen ist fr. cadre , leitender Angestellter' bereits voll zählbar und besitzt eine Singularform (Grevisse/Goosse 13 1993: 704f.). .Aber die Sache ist die, dass die Nahrung nie zu ihren Zähnen gelangte. Auf dem Weg von der Schüssel zu ihren Lippen hatte sich das Besteckteil völlig auf ihrem Kittel entleert. Keine einzige Reise ihres Löffels gelangte ans Ziel.' In regionalen Varietäten bedeutet vasija auch noch ,Geschirr' (DRAE).

57

58

137

stück' (Clara Perez, pers. Mitteilung, vgl. aber MOL), eng. cloth, clothing Kleidungsstück', cattle ,Stück Vieh' (OED), fr. vaisselle ,Geschirrteil' (DHLF), dt. Kleid, Kleidung (GDW). Auch sp. ropas ,Kleider' besaß eine Singularform, die heute als ausgestorben gilt (Morreale 1973: 131, s. auch Bosque 1999: 16). Einzelne Belege findet man dennoch heute noch, z.B. sp. Penelope le tira alguna ropa que tiene en la mano [Hervorh. von mir]59 (Gala (1975): iPor que Corres, Ulises?, CREA).

3.6.7

Hyperonyme und das Problem der Disjunktion

Gruppenkollektiva, die mehrere Basiskonzepte zusammenfassen, beruhen konzeptuell auf mehreren Gestalten. Da die Gestalten, die Basiskonzepten zugrunde liegen, sehr stabil und ökonomisch sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie bei der Entstehung von Genuskollektiva und Pluraliatantum völlig ersetzt werden durch wenige von den Gestalten isolierte Eigenschaften. Dies scheint auch für Hyperonyme plausibel zu sein. Tatsächlich geben Versuchspersonen neben wenigen allgemeinen Eigenschaften bei der Definition von Hyperonymen vor allem Basislexeme an, aber auch Evidenz aus dem Erstspracherwerb weist auf die Bedeutung der Basiskonzepte für Hyperonyme hin (s. auch Hoffmann 1986: 36, Klix 1984: 12, Ungerer/Schmid 1996: 74): For superordinate concepts in particular, one may, at least initially, work with a list of exemplars. For example, one may learn that chairs, tables, lamps, and so on, are kinds of furniture without attempting to abstract out the defining properties of furniture. Such a learning process would account for the acquisition data in that basic-level concepts should be acquired first since superordinate concepts are defined in terms of basic-level concepts. New exemplars could be admitted based on their similarity to one of the basic-level categories subsumed under the superordinate, rather than on their possession of defining features. (Horton/Markman 1980: 718)

Dagegen geben Versuchspersonen auf den niedrigeren Generalisierungsebenen seltener Hyponyme an (vgl. Hoffmann 1986: 36, 69). Auch erwachsene Sprecher konzeptualisieren vermutlich sowohl Quasihyperonyme als auch Hyperonyme als Kollektion von Basiskonzepten: You would probably draw an orange, a banana, etc. to illustrate F R U I T , or a chair, a table and a bed for F U R N I T U R E , or a car, a bus and a motorbike for V E H I C L E . In other words, you would ,borrow' the gestalt properties of the superordinate category from the basic level categories involved - a first case of what will be called parasitic categorization. (Ungerer/Schmid 1996: 74)

Dafür spricht jedenfalls die Tatsache, dass bei taxonomischer Inklusion meist die extensionale Inklusion intuitiv den Sprecherurteilen zugrunde liegt, nicht die intensionale Inklusion. Intuitiv sind Hyponyme Teile von Hyperonymen und nicht umgekehrt (Kleiber/Tamba 1990: 9). Auch neurolinguistische Beobachtungen weisen auf die Bildhaftigkeit von Oberbegriffen hin, denn wider Erwarten ist bei der Verarbeitung hier auch die rechte Gehirnhälfte, die stark bildhaft arbeitet, beteiligt. Day (1977) zeigte, dass abstrakte Substantive durch die Aktivität der linken Hemisphäre ihren Hyperonymen zugeordnet werden, aber auch die rechte Hemisphäre in geringerem Grad Konkreta Hyperonymen zuweist (Day 1977 zit. in 59

.Penelope bewirft sie mit einem Kleidungsstück, das sie in der Hand hat.'

138 Ender 1994: 22If.). Daher können auch Hyperonyme als konkret und bildhaft eingeschätzt werden (Paivio 1983: 324). Allerdings müssen sich Gruppenkollektiva von Genuskollektiva und Hyperonymen dennoch konzeptuell unterscheiden, denn letztere beiden können auch auf ein Individuum referieren, wenngleich dies bei Genuskollektiva eher selten ist. Gruppenkollektiva beruhen auf einer Gruppierung heterogener Basiskonzepte, d. h. auf einer Konjunktion, Hyperonyme (und eventuell auch Genuskollektiva) auf einer Disjunktion von Basiskonzepten: Die abstrakteren, kategorialen Begriffsbildungen bestehen vorzugsweise aus disjunktiven Begriffsverknüpfungen oder konkret: Subkategorien, die zu ihnen gehören, werden als Oder-Folge im Sinne von Beispielsbegriffen aufgezählt. So findet man bei der Kategorie , Werkzeug' kaum noch Form- oder Farbmerkmale genannt, sondern Beispielbegriffe wie HAMMER, ZANGE, ZIRKEL, SCHERE [...] (Klix 1984: 12) Auch Miller/Johnson-Laird (1976: 281, 298) 60 und Murphy/Wisniewski (1989: 583) kommen zu diesem Vorschlag. Selbst in der Lexikographie tauchen Hinweise für solche disjunktiven bildhaften Repräsentationen von Hyperonymen auf. Üblich ist die klassische Definition über das genus proximum, doch neben diesem traditionellen Verfahren finden sich auch kognitive Reflexe, die oft sogar gegen lexikographische Konventionen verstoßen, z.B. wenn ein Substantiv statt durch die Modifikation seines Überbegriffs über typische Unterbegriffe definiert wird, z.B. bei motor vehicle über car or motor cycle or moped or van (Svensen 1993: 123f.) oder auch fr. animal ,Tier' als ce qui a vie sensitive come honme ou autre beste [Hervorh. v. mir] ,das, was ein Sinnenleben hat wie der Mensch oder ein anderes Tier' (Lex Aalma ca. 1380 zit. in Stefenelli 1992: 207). Es handelt sich hier sicher um intuitiv als hilfreicher empfundene Wege der Bedeutungsbeschreibung. Auch Hyperonyme werden demnach zumindest teilweise bildlich auf der Grundlage mehrerer Basiskonzepte repräsentiert. Wichtig ist dabei aber die Tatsache, dass es sich bei Gruppenkollektiva um konjunktive Verknüpfungen von Basisgestalten handelt, bei Genuskollektiva und Hyperonymen eher um disjunktive Verknüpfungen, da sie auf einzelne Individuen referieren können. So referiert un meuble ,ein Möbelstück' auf einen Stuhl oder einen Tisch oder ein Bett etc. Dieser feine konzeptuelle Unterschied hat gewichtige Folgen für die Speicherung und das weitere Schicksal der Hyperonyme oberhalb der Basisebene. Die „Mental model"-Theorie (s. z.B. Johnson-Laird 1983, Johnson-Laird/Byrne 1991, Johnson-Laird/Schaeken/Byrne 1992), die ein Modell des Alltagsdenkens aufstellt, kann die in diesem Kapitel diskutierten Phänomene erklären. Dem Modell liegt die Beobachtung zugrunde, dass logisches Denken im Alltag äußerst fehlerbehaftet ist und hier Problemlösestrategien eher auf Erfahrungen basieren und wenn möglich nicht analytische abstrakte Strategien, sondern Bilder und Alltagserfahrungen nutzen (s. auch Johnson-Laird 1983: 422f., Wessells 3 1994: 346, 353). Für ein Problem können dabei mehrere alternative mentale Modelle konstruiert werden. Allerdings werden aufgrund der begrenzten Speicherkapazität des Arbeitsgedächtnisses nur so viele Modelle explizit bereitgehalten wie nötig (Johnson-Laird/Schaeken/Byrne 1992: 421). Dadurch können typische Denkfehler erklärt wer60

Allerdings stellen sie auch fest, dass man einen Gegenstand beispielsweise als Möbel klassifiziert, ohne ihn genauer zu kennen, z.B. wenn man lediglich weiß, dass eine Kommode ein Möbelstück ist (s. Miller/Johnson-Laird 1976: 281). Neben der Disjunktion von Basiskonzepten enthalten diese übergeordneten Substantive also auch sehr abstrakte Eigenschaften, die die Basiskonzepte teilen.

139 den. Die Theorie sagt voraus, dass Inferenzen desto schwieriger sind, je mehr Modelle sie erfordern. Logische Strategien sind dagegen zwar vollständig und erlauben korrekte Inferenzen, haben aber den Nachteil, dass sie mit einer unendlichen Anzahl von abstrakten Propositionen das Gedächtnis belasten (Johnson-Laird/Byrne 1991: 36). Wollen wir eine logische Aufgabe korrekt lösen, greifen wir schnell zu Papier und Bleistift, um das Arbeitsgedächtnis zu entlasten, da so Zwischenergebnisse festgehalten werden können. Diese Art des logischen Denkens findet meist außerhalb eines praktischen Kontexts statt, und wird vor allem durch die Schulbildung gefördert (Lurija 1976: Kap. 3, Orasanu/Scribner 1982 zit. in Johnson-Laird/Byrne 1991: 209). Die folgende Abbildung (in Anlehnung an Johnson-Laird/Byrne 1991: 6f., 43-52) kontrastiert Konjunktion und Disjunktion in der formalen Logik mit der Theorie der mentalen Modelle. Aus Platzgründen nehme ich eine zweigliedrige Verknüpfung an, z.B. der Konzepte JACKE und HOSE. Die formale Logik arbeitet mit Propositionen, die wahr oder falsch sind. So entspricht hier ρ „x ist eine Hose", q „x ist eine Jacke", alle möglichen Verknüpfungen sind aufgelistet. Will eine Person so feststellen, ob eine Konjunktion vorliegt, muss sie alle Propositionen prüfen. Die mentalen Modelle bilden hier dagegen konkrete Situationen ab, in denen bildhafte Konzepte präsent sind und so holistisch geprüft werden können. Mentale Modelle stehen nur für wahre Situationen bereit. Die Überprüfung geht damit schneller als bei der logischen Prozedur:

140 formale Logik Konjunktion Ρ q w w w f f w f f

mentale Modelle

Ρ w f f f

exklusive Disjunktion ρ q entweder ρ oder q w f w w w f f w w f f f

inklusive Disjunktion Ρ w w f f

Abb. 28:

q w f w f

P1 w w w f

Konjunktion und Disjunktion

Die Proposition „Dies ist ein Kleidungsstück" kann nun paraphrasiert werden als „Dies ist ein Hemd oder eine Hose oder ein Rock etc." Aus obiger Abbildung geht hervor, dass für Konjunktionen nur ein mentales Modell gebildet werden muss, für die exklusive Diskunktion für jedes Element der Verknüpfung eines, bei der inklusiven Disjunktion steigt die Zahl aller Modelle explosionsartig an (Johnson-Laird 1983: 424). Bei drei Elementen ergeben sich schon sieben Modelle. Das heißt auch, dass nur die Konjunktion durch ein einziges statisches Bild repräsentiert werden kann. Bei den Disjunktionen müssen mehrere Modelle geprüft werden, diese sind also kognitiv komplexer. Die Disjunktion erlaubt im Übrigen keine Vererbung, da keine Entität zwingend vorhanden sein muss.

141 Insgesamt müsste also die Konjunktion leichter und korrekter zu verarbeiten sein als die exklusive Disjunktion, diese wiederum leichter als die inklusive Disjunktion, da mehr Modelle und damit mehr Vergleichsprozesse bei der Verarbeitung erforderlich sind (JohnsonLaird/Schaeken/Byrne 1992: 427, vgl. Johnson-Laird/Byrne 1991: 51). Tatsächlich weisen Ergebnisse aus der kognitiven Psychologie darauf hin, dass Konjunktionen von Erwachsenen und Kindern leichter zu lösen sind als Disjunktionen, exklusive Disjunktionen leichter als inklusive Disjunktionen (Evans/Newstead/Byrne 1993: 142, 145f., Johansson/Sjolin 1975, Kintsch 1982: 352-355). Nach einer Reihe von Studien ist es auch plausibel, dass in den meisten natürlichen Sprachen Lexeme mit der Bedeutung ,oder' eher exklusiv interpretiert werden (Evans/Newstead/Byrne 1993: 139-142). Nun sind Gruppenkollektiva immer konjunktiv, Hyperonyme eher disjunktiv. Dies erklärt auch, wieso Kinder Kollektiva vor Hyperonymen erlernen (Markman/Horton/McLanahan 1980). Bei Genuskollektiva wird die Referenz auf eine Pluralität heterogener Basiskonzepte bevorzugt. Auch Genuskollektiva beruhen also im Normalfall auf dem konjunktiven Modell, die beiden anderen Modelle werden nur bei Bedarf aktiviert Hyperonyme im Singular wie Kleidungsstück basieren nun klar auf den Modellen der exklusiven Disjunktion. Pluralische Hyperonyme können dagegen bei Heterogenität der Referenten auch auf dem konjunktiven Modell beruhen. Kognitiv gesehen sind Disjunktionen schlechte Einheiten des Langzeitgedächtnisses, da sie auf dem Vergleich mehrerer Modelle beruhen. Obwohl das Hyperonym an Basiskonzepte gekoppelt ist, ist ein solches disjunktives Konzept kognitiv ungünstiger als ein Kollektivum, das eine ganzheitlich erfassbare statische Konjunktion von Basiskonzepten repräsentiert. Die Disjunktion der Basiskonzepte beim Hyperonym bildet dagegen kein holistisches statisches Ganzes und ist kognitiv deutlich komplexer (s. auch Miller/Johnson-Laird 1976: 297f.).

3.6.8

Gründe für die Entstehung der Hyperonyme

Hyperonyme oberhalb der Basisebene sind in ihrer unmarkierten singularischen Form schlechte lexikalische Konzepte, da disjunktive Konzepte ungünstigere Speichereinheiten sind. Dies bedeutet, dass Hyperonyme sicher nicht durch Lexikalisierung entstehen. Es muss also gute Gründe für diesen aufwendigen Wandel vom Kollektivum zum Hyperonym geben. Ein Grund mag die Tatsache sein, dass Individualnomina im Französischen, Spanischen und anderen indoeuropäischen Sprachen 61 vorherrschen und sich Kollektiva daher womöglich an den dominanten Substantivtypus anpassen (Stichwort „system congruity", Mayerthaler 1987: 52, Wurzel 1987: 61-65, s. auch Leisi 4 1971: 28). Im Konflikt zwischen systemunabhängiger Natürlichkeit und Systemangemessenheit setzt sich nach Wurzel (1994b: 42) letztere durch. Obwohl also Kollektiva die konzeptuelle Struktur der Oberbegriffe am besten abbilden, können sich vielleicht die syntaktisch unmarkierten Individuativa hier teilweise durchsetzen. Da Hyperonyme äußerst ungünstige lexikalische Einheiten sind,

61

In diesem Zusammenhang wäre es aufschlussreich, Taxonomien in außereuropäischen Sprachen zu untersuchen, um die Rolle des Sprachtypus fur die Versprachlichung von Oberbegriffen einschätzen zu können.

142 muss der Anpassungsdruck des Systems jedoch sehr hoch sein - oder es sind noch andere Kräfte am Werk. Wie gezeigt wurde, beruhen Genuskollektiva und sogar Hyperonyme noch auf der Konjunktion bzw. Disjunktion bildhafter Basiskonzepte, die einander - soweit dies bei unterschiedlichen Basiskonzepten möglich ist - ähnlich sind. Die Repräsentation der Hyperonyme durch mehrere ähnliche Basiskonzepte erinnert stark an Wygotskis Pseudobegriffe, die sich zwar intensional, nicht aber extensional von echten logischen Begriffen unterscheiden. Echte logische Begriffe werden, wie Wygotski feststellt, ontogenetisch dagegen erst spät bewusst erfasst und logisiert und entstehen auf andere Art und Weise als Pseudobegriffe (Wygotski 1934; 1993 : 159, 175). Rein logische Hyperonyme, die auf der Ergänzung des genus proximum durch differentiae specificae beruhen und metasprachlich über Definitionen entstehen und gelehrt werden, stammen vor allem aus fachlichen Kontexten. Es ist nachgewiesen, dass der Einsatz logischer Denkoperationen, wie sie auch für Taxonomien wichtig sind, stark vom Bildungsgrad einer Person abhängt (Lurija 1976: 48-99, Oerter 1988). Taxonomien sind außerdem bedingt durch eine Loslösung der Denkoperationen vom Alltag in Gesellschaften mit starker Arbeitsteilung, in der Lernen weniger auf Erfahrung als auf Erzählung basiert. Wegweisend sind hier die Untersuchungen von Lurija (1976) in Usbekistan und Sharp/Cole/Lave (1979) bei den Maya. Sie demonstrieren die Abhängigkeit taxonomischer Wissensorganisation von abendländischen Bildungstraditionen (s. Murphy 2002: 322). Wichtiger noch als die Alphabetisierung ist dabei die Schulbildung - Scribner und Cole fanden heraus, dass Kategorisierungsaufgaben auf der Basis formallogischen Denkens von Alphabeten etwas besser als von Analphabeten und viel besser von Personen mit Schulbildung gelöst werden (Scribner/Cole 1981: 121): Es gibt eine Reihe von empirischen Belegen für die Annahme, daß die Schule der entscheidende Faktor für die typische Wissens- und Denkstruktur ist, die man in der Psychologie gerne als universelle Struktur annimmt [...]. (Oerter 1988: 345)

Im Unterschied zu Alltagsbegriffen können daher Schüler wissenschaftlich erlernte Begriffe über das genus proximum definieren (Wygotski 1934; 1993: 184). Aufgrund des großen Prestiges formallogischen Denkens ist es aber auch nahe liegend, dass es bis zu einem gewissen Grad Einfluss auf die Alltagssprache ausübt: The intellectualization of the standard language manifests itself in the lexicon not only by a simple expansion of the vocabulary but also by changes in the structural relations among words. (Lucy 1996: 60)

Logische Denkmuster und speziell taxonomische Modelle prägen durch die Schulbildung und besonders die lexikographische Tradition, nach der Wörterbuchdefinitionen häufig auf Klasseninklusion beruhen, auch die Alltagssprache. Wygotski (1934; 1993: 250) beobachtet, dass logische Begriffe die spontanen Begriffe von Kindern und Alltagsbegriffe Erwachsener beeinflussen können. So ist es auch plausibel, dass Modelle fachsprachlicher Taxonomien speziell auf die Entstehung von Hyperonymen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausüben. Dies bedeutet auch, dass zählbare Hyperonyme wahrscheinlich vor allem in Sprachen mit wissenschaftlichem Einfluss auftreten, während Substantive oberhalb der Basisebene bei vielen Naturvölkern fehlen (Berlin 1992: 190). Gerade hyponymische Beziehungen sind stark von der Schulbildung geprägt. Durch westliche Bildung entwickeln wir „a bias toward taxonomy" (Iris/Litowitz/Evens 1988: 285). Die massive Förderung

143 taxonomischer Wissensorganisation durch die Schule lässt sich auch an der so genannten „paradigmatic shift" ablesen. Bei Wortassoziationen überwiegen vor dem 7.-9. Lebensjahr syntagmatische, also eher situationsbasierte Assoziationen vom Typ Kuchen - essen, danach gewinnen paradigmatische Antworten die Oberhand (Langenmayr 1997: 190). Bei Erwachsenen ist paradigmatisches Denken von der formalen Bildung abhängig (Rosenzweig 1970: 105). Interessanterweise sind die Wortassoziationen älterer Erwachsener oft wieder eher syntagmatisch (Riegel/Riegel 1964: 74 zit. in Langenmayr 1997: 190f., s. auch Murphy 2002: 322f.). Nicht jeder Erwachsene ist zu logischem Denken fähig und selbst diejenigen, die es beherrschen, bevorzugen im Alltag meist kognitiv einfachere Muster (vgl. Hillert 1987: 37). Zählbare Hyperonyme ahmen auf der syntaktischen Ebene womöglich logische Begriffe nach, daher gleichen Alltagshyperonyme wahrscheinlich nur oberflächlich wissenschaftlichen Hyperonymen, sie sind beide zählbare Substantive, konzeptuell unterscheiden sie sich dagegen grundsätzlich voneinander.

3.6.9

Die Instabilität der Hyperonyme

Die Repräsentation alltagssprachlicher Hyperonyme auf der Basis der inklusiven Disjunktion verschiedener Basiskonzepte hat eine Reihe sprachlicher Konsequenzen. Alltagssprachliche Hyperonyme hängen konzeptuell von Basiskonzepten ab, insgesamt ist die Disjunktion aber trotz des bildlichen Anteils keine gute Speichereinheit: „Such disjunctive concepts have a bare minimum of conceptual integration" (Miller/Johnson-Laird 1976: 298). Nun beinhaltet die inklusive Disjunktion konjunktive Modelle, aber auch Modelle exklusiver Disjunktion. In 3.6.7 wurde gezeigt, dass Genuskollektiva meist auf eine Pluralität heterogener Basiskonzepte referieren. Die mentale Repräsentation entspricht dann sicher eher einer kognitiv einfacheren Konjunktion. Auch Hyperonyme können sowohl konjunktiv als auch (kognitiv ungünstiger) disjunktiv konzeptualisiert werden, je nachdem, ob sie pluralisch auf Referenten verschiedener Basiskonzepte referieren oder nur auf eines. Konzeptuell ist die singularische Referenz bei den Hyperonymen dann problematisch: [...] if superordinates are partly represented in memory by a number of exemplars related in a canonical way [...], then it would be awkward to apply such a term to a single object. For example, if tooI is represented in part as a collection of different tools (perhaps in a workshop or a toolbox), it would be slightly infelicitous to use this term to refer to an isolated object. (Wisniewski/Murphy 1989: 256)

Der Grund besteht darin, dass Sprecher bei Disjunktionen eine Reihe von Repräsentationen aktivieren müssen, um zu entscheiden, ob ein Gegenstand mit einem Hyperonym bezeichnet werden kann (Lassaline/Wisniewski/Medin 1992: 339). Daher ist ein pluralischer Gebrauch wesentlich unproblematischer. 62 Aufgrund der globalen Markiertheitsverhältnisse - zu erwarten wäre ein Singularanteil zwischen ca. 70-85% (Greenberg 1966: 3 lf. zit. in

62

MacNamara (1982: 62-69) führte einen Benennungstest mit Zweijährigen durch. Die Ergebnisse zeigen, dass animal fur Zweijährige eine Gruppe von heterogenen Individuen ist und eher nicht für mehrere Individuen einer Basiskategorie oder überhaupt nur ein Individuum stehen kann.

144 Corbett 2000: 281) - müsste dagegen die singularische Referenz ähnlich wie bei den Genuskollektiva auch bei den Hyperonymen überwiegen. Nun zeigen Hyperonyme jedoch in der Tat eine ähnliche Präferenz wie Genuskollektiva für eine konjunktive Konzeptualisierung. Im Spracherwerb, aber auch in informellen Kontexten werden sie eher fur Gruppen von heterogenen Objekten als für einzelne Gegenstände gebraucht (Wisniewski/Murphy 1989: 247). Wisniewski/Murphy (1989: 258) haben Hyperonyme und Basislexeme in schriftlichen nichtfachsprachlichen Texten des Brown Corpus nach singularischem, pluralischem und generischem Gebrauch klassifiziert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass nichtbiologische Basislexeme zu 73% singularisch, zu 15% pluralisch und zu 12% generisch gebraucht werden. Dies entspricht Greenbergs Beobachtung der Dominanz von Singularformen. Bei nichtbiologischen Hyperonymen findet sich nur zu 26% singularischer Gebrauch, dagegen zu 46% pluralischer und zu 28% generischer63 Gebrauch. Eine eigene Auszählung ergibt ein ähnliches Bild. Der Plural ist bei den Oberbegriffen sp. mueble ,Möbelstück', prenda ,Kleidungsstück', herramienta .Werkzeug', arma ,Waffe' und fr. meuble ,Möbelstück', vetement,Kleidungsstück', outil Werkzeug', arme ,Waffe' deutlich häufiger als der Singular im Unterschied zu Basislexemen, die meist seltener im Plural und häufiger im Singular zu finden sind:64 Spanisch

Oberbegriffe

Basisbegriffe

63

64

Singular

Plural

mueble , Möbelstück'

14/14

(13)

66/66

prenda ,Kleidungsstück'

6/6

(4)

13/13

(6)

herramienta .Werkzeug'

0/0

(2)

4/4

(5)

arma ,Waffe'

in

(7)

27/27

(47)

(15)

camisa ,Hemd'

91/92

(15)

13/13

falda ,Rock'

47/47

(6)

20/20

(1) (14)

silla ,Stuhl'

88/89

(20)

46/46

(7)

coche ,Auto'

502/506 (56)

115/116 (9)

martillo ,Hammer'

2/2

(7)

0/0

fusil,Gewehr'

9/9

(3)

14/14

pistola , Pistole'

12/12

(10)

6/6

(2) (10) (4)

Generische Nominalphrasen referieren auf eine Klasse, kein Individuum. Aber auch der generische Gebrauch (? Le mammißre est un animal. ,Das Säugetier ist ein Tier') ist im Singular problematisch, der ja eine homogene Klasse voraussetzt, während Hyperonyme heterogene Basiskonzepte vereinen und daher im Normalfall die Homogenisierung, die die Verwendung des generischen Singulars mit sich bringt, nicht erlauben (vgl. Kleiber 1989: 105). Zur Datenauswertung s. 1.2. Die Zahlen in Klammern sind absolute Zahlen aus Juilland/Brodin/Davidovitch (1970) und Juilland/Chang-Rodriguez (1964), deren Korpora auch technische Texte enthalten. Bei diesen Auswertungen wurde nicht zwischen generischem und nichtgenerischem Gebrauch unterschieden.

145

Singular

Französisch

Oberbegriffe

Basisbegriffe

Abb. 29:

Plural

meuble ,Möbelstück'

in

(1)

54/52

(18)

vetement .Kleidungsstück'

15/15

(5)

76/74

(16)

outil .Werkzeug'

4/4

(6)

13/13

(0)

arme .Waffe'

30/29

(10)

53/51

(29)

chemise .Hemd'

45/44

(13)

10/10

(5)

jupe .Rock'

35/34

(7)

25/24

(3)

chaise .Stuhl'

58/56

(21)

27/26

(9)

voiture .Auto'

230/223 (51)

64/62

(13)

marteau .Hammer'

5/5

1/1

fusil .Gewehr'

32/31

pistolet,Pistole'

15/15

(17)

19/18

(5)

3/3

Singular und Plural in Abhängigkeit der Generalisierungsebene

Manchmal wird die Dominanz der Pluralform sogar in Wörterbucheinträgen festgehalten: (95)

fr. vetement [...] - cour. les vetements .üblicherweise les vetements (Plural)' (PR)

(96)

sp. cubierto: (gralmpl.)

(97)

eng. garment: [...] (oftenplural)

(98)

sp. indumento: gralm pl. .Kleidungsstück: meist pluralisch' (MOL)

,Besteckteil: (meist pluralisch)' (MOL) (CED)

Dies bedeutet nun nicht, dass die singularische Verwendung von Hyperonymen funktionslos ist. Einige singularische Verwendungen nutzen gerade die Semantik der exklusiven Disjunktion. In negativen Kontexten ist die Disjunktion informativer als die Konjunktion, da bei der Verneinung einer exklusiven Disjunktion im Gegensatz zur Konjunktion alle Elemente verneint werden (s. Wälchli 2005: 82): (99)

[...] me encontre con una habitacion sordidamente vacia [...] ni un solo objeto ni una prenda personal en el armario. [Hervorh. von mir] (Fernandez Cubas (1983): Los altillos de Brumal, CREA) 65

Auch indefinite Referenz, die bei Hyperonymen die Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Basiskonzepten ausdrückt, ist gut mit disjunktiven Konzepten kompatibel: (100) La fuerza electrica estä presente en innumerables fenömenos que todos experimentamos. Desde las chispas que se ven cuando uno se quita una prenda de vestir en la noche, ο los

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,[...] ich fand ein schäbig leeres Zimmer vor [...] kein einziger persönlicher Gegenstand kein einziges persönliches Kleidungsstück im Schrank.'

146 rayos que caen a la tierra en las tormentas atmosfericas [...] [Hervorh. von mir] (Claro Huneeus (1995): A la sombra del asombro. El mundo visto por la fisica, CREA) 66

Insgesamt finden sich Hyperonyme oft in nichtreferentiellen Kontexten, d. h. in negativen, interrogativen oder irrealen Kontexten, indefiniter Referenz, bzw. sind pluralisch, wie Wälchli (2005: 176-180) auch fur die koordinativen Komposita feststellt, die wie in 3.6.2. gezeigt wurde, häufig Oberbegriffe ausdrücken. Gerechtfertigt sind aber singularische Hyperonyme auch dann, wenn gerade die wenigen abstrakten Merkmale, die die Basiskonzepte verbinden, im Vordergrund stehen sollen, die Disjunktion verschiedener Basiskonzepte also in den Hintergrund tritt. Dies ist beispielsweise in fachlichen Kontexten der Fall: (101) El antiguo y tradicional quechquemitl deriva su nombre del nahuatl quechtli: cuello y quemitl: algo que cubra. Es una prenda de vestir femenina [...] [Hervorh. von mir] (Momprade/Gutierrez (1981): Indumentaria tradicional indigena, Tomo I, CREA) 67

Gerade bei Hyperonymen fachsprachlicher Herkunft wie fr. animal,Tier', plante ,Pflanze' oder vehicule .Fahrzeug' ist der Singularanteil im Vergleich zu gemeinsprachlichen Hyperonymen deutlich höher (s. Abb. 31 und 32). Auch Euphemismus kann den Gebrauch von Hyperonymen rechtfertigen, um bestimmte tabuisierte spezifischere Lexeme zu vermeiden, besonders häufig werden allgemeine Substantive für Genitalien verwendet, z.B. fr. membre ,(Körper)glied' —* ,Penis'. Hyperonyme können aber auch eingesetzt werden, wenn ein Sprecher seiner Herablassung gegenüber einem Referenten Ausdruck geben will, indem er oder sie die üblichen Differenzierungen übergeht und anstelle eines angebrachten Basislexems ein auf diese Weise abwertendes Hyperonym verwendet (s. auch Cruse 1986: 155). Werden solche Verwendungen konventionalisiert, entstehen oft pejorative Substantive wie Fummel (z.B. Wo hast Du denn diesen Fummel erstanden? (WDW)). Bemerkenswerterweise sind generische pejorative Ausdrücke häufig Quellen für Hyperonyme, die im Unterschied zu den meisten alltagssprachlich entstandenen Hyperonymen nicht über Kollektiva entstehen, sondern direkt als zählbare Hyperonyme. Daher finden wir hier zahlreiche pejorative Substantive mit der Bedeutung ,Fummel', ,Fetzen', ,Lumpen', wie beispielsweise fr. fripe gebrauchtes Kleidungsstück' (DHLF) von ,Tuch, altes Kleidungsstück' aus spätlat. faluppa ,Faser, wertloses Ding', heute meist im Plural. Das Kollektivum fripe bezeichnet ebenfalls gebrauchte Kleidung. Fr. guenille (DHLF) entstand vermutlich aus ,dreckiger Lumpen', bezeichnete dann ein dreckiges zerissenes Kleidungsstück, nach PR bezeichnet es im Plural zerfetzte Kleidung. Fr. haillon ,Fetzen, zerissenes Kleidungsstück' (DHLF) stammt vom mittelhochdeutschen hadel oder ist abgeleitet von hailies ,Lumpen'. Fr. loque, umgangssprachlich Kleidungsstück' (DHLF) stammt vom niederländischen locke ,Locke', bezeichnete im Französischen ein Tuch, dann ein altes gebrauchtes Kleidungsstück. Auch fr. nippe, vermutlich von guenipe ,Lumpen', bezeichnete zunächst alle Bekleidungs- und Schmuckgegenstände, dann

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,Die elektrische Energie ist in unzähligen Phänomenen gegenwärtig, die wir alle erleben. Von den Funken, die man sieht, wenn man sich nachts ein Kleidungsstück auszieht, oder den Blitzen, die bei atmosphärischen Gewittern auf die Erde treffen [...]' ,Der antike und traditionelle quechquemitl leitet seine Bezeichnung vom Nahuatl quechtli: Kragen und quemitl: etwas, das bedeckt, her. Er ist ein Kleidungsstück für Frauen.'

147 alte gebrauchte Kleider, heute umgangssprachlich Kleider allgemein und ist von Anfang an im Plural belegt (DHLF). Fr. oripeau, wörtlich ,Goldhaut', bezeichnete ursprünglich eine goldfarbene Kupfer- oder Blechklinge, dann Stoff, der mit falschem Silber durchwirkt ist. Heute bezeichnet es als Pluraletantum altmodische geschmacklose Kleidung (DHLF). Auch im Spanischen entstehen zahlreiche pejorative Substantive mit der Bedeutung ,Fummel' aus Individualnomina, beispielsweise andrajo ,altes kaputtes Kleidungsstück', vermutlich über ,Lumpen', ,Stoffetzen' (MOL, DCECH), sp. guihapo ,Lumpen', ,Fetzen', ,altes kaputtes schmutziges Kleidungsstück', von fr. guenipe oder harapo (MOL, guinapo2). Argentinisch pilchas , Kleidungsstücke' stammt vom araukanischen pulcha ,Falte' und wird heute meist im Plural gebraucht (MOL). Sp. pingo ,kaputtes Kleidungsstück', dann auch ,billiges Damenkleidungsstück, Fähnchen', meist pluralisch gebraucht (CSD), stammt von pingo ,Fetzen' (< pingar .herabhängen') (MOL). Sp. trapos bezeichnet in der Umgangssprache despektierlich (Damen)kleidung und stammt von lat. drappus ,Tuch', ,Lumpen' (MOL). Die meisten dieser pejorativen Substantive oberhalb der Basisebene sind also nicht über Kollektiva entstanden, sondern über zählbare Substantive mit der Bedeutung ,Fetzen', ,Lumpen' und Ähnliches. Diesen semantischen Pfad beobachtet man auch in anderen Sprachen. Neben vielen anderen finden wir hier im Deutschen Fetzen und Fummel, im Englischen rag. Solange diese Substantive noch negative Referenten, also Lumpen, oft auch alte, kaputte oder schmutzige Kleidungsstücke, bezeichnen oder stark pejorativ sind, handelt es sich um Hyperonyme, die problemlos im Singular gebraucht werden können, z.B. No tengo ni un pingo que ponerme ,Ich habe keinen einzigen Fetzen zum Anziehen' (MOL s.v. pingo). Bemerkenswerterweise zeigen auch diese Substantive eine Tendenz zum Plural, sobald sie konventionalisiert werden, vor allem, wenn sie dabei die pejorative Konnotation verlieren. Bei sp. trapo hat sich fast schon eine Singular-Plural-Dublette entwickelt, wobei die Singularform noch stärker pejorativ ist, die Pluralform schon neutraler. So bedeutet trapo im Singular pejorativ ,Kleidungsstück', der Plural trapos ist dagegen die informelle, nicht unbedingt pejorative Bezeichnung für Damenkleidung (s. MOL, DEA) wie in [...] hablar de trapos es cosa de mujer ,über Klamotten sprechen ist typisch für Frauen' (G. Delgado (1995): La mirada del otro, CREA). Schon stärker konventionalisiert und daher öfter im Plural findet man im argentinischen Spanisch pilchas (MOL), im mexikanischen Slang findet man harapos ,Klamotten' (CSD). Die Pluralform pingos bedeutet ,billige Damenklamotten', die Singularform dagegen noch ,Lumpen, altes Kleidungsstück' (CSD). Eine Präferenz fur den Plural zeigen auch fr. guenilles (PR) und haillons ,zerissene Kleidung' (Guillemard 1991: 26). Auch nippes, fripes und oripeaux (PR) zeigen eine starke Tendenz zum Plural in der umgangssprachlichen, kaum noch pejorativen Bedeutung ,Klamotten'. Bei diesen Substantiven liegt also zunächst ein pragmatisch gerechtfertigter, stark expressiver Singulargebrauch vor, der bei zunehmender Lexikalisierung und dem Verlust der Expressivität, d. h. der pejorativen Konnotation, verschwindet. Durch die entstehende semantische Abhängigkeit von Basiskonzepten entwickelt sich hier wie bei anderen Hyperonymen eine klare Präferenz für den Plural. Diese Differenzen zwischen Singular- und Pluralformen beobachtet man auch in anderen inhaltlichen Domänen, z.B. bei sp. trasto desp. ,wertloses Objekt' und trastos, umgangssprachlich .Utensilien, Zeug' (MOL). Auch dt. Möbel ist pejorativ und bezeichnet im Singular umgangssprachlich bzw. scherzhaft einen unhandlichen großen Gegenstand (WDW), auch fr. meuble kann im Singular einen störenden Gegenstand oder Person bezeichnen

148 (GL). Im Spanischen werden ebenfalls von mueble pejorative Bedeutungen abgeleitet. Im mexikanischen Spanisch bezeichnet es informell ein Auto (CSD), es kann aber auch einen nutzlosen lästigen Menschen bezeichnen: (102) Si yo digo que este amigo que tenemos aqui es un mueble, evidentemente no es una mesa, no estoy designando la misma realidad. Estoy captando esa palabra por ese halo que tiene de pesadez, de persona insoportable. (ORAL (1991): Television, „Hablando claro", Madrid 03/91, CREA) 6 8

Das typische Schicksal vieler Hyperonyme ist neben der Tendenz zum Plural die Bedeutungsspezialisierung. Hier wird ein einziges mentales Modell der exklusiven Disjunktion (s. Abb. 28), d. h. ein Basiskonzept, zur Wortbedeutung: 69 (103) vlat. virdXa ,Grünzeug'

berza ,Kohl' (DCECH)

(104) eng. garment,Kleidungsstück'

—> garment,Mantel'

(OED)

(105) lat. väs ,Gefäß' —> fr. vase ,Blumenvase' (FEW s.v. vos, PR) (106) altlat. väsum ,Gefäß' (107) sp. herramienta

sp. vaso ,Trinkglas' (MOL, PGLD)

,Werkzeug' —• herramienta

(108) fr. vetement,Kleidungsstück'

.Taschenmesser' (MOL)

—> vetement .Mantel, Weste' (PR)

(109) lat. vestis .Kleidungsstück' —+ it. veste ,Kleidungsstück' —> fr. veste Jackett' (DHLF)

Durch die Bedeutungsspezialisierung entstehen hier Lexeme auf der Basisebene (s. auch Blank 2001b: 88), d. h. optimale Lexeme, die äußerst stark lexikalisiert sind. Es handelt sich hier um Endpunkte der Lexikalisierungskette vom funktionalen generischen Substantiv über Gruppenkollektivum, Genuskollektivum, Pluraletantum und Hyperonym hin zum Basiskonzept, wobei der Schritt zum Hyperonym kein Fall von Lexikalisierung ist, sondern sehr wahrscheinlich außersprachlich bedingt ist durch den Einfluss wissenschaftlicher taxonomischer Wissensstrukturen. Die häufigste, aber auch die unauffälligste Konsequenz der Präferenz für eine konjunktive Konzeptualisierung von Hyperonymen ist einfach das Verschwinden von Singularformen, die bei vielen Hyperonymen nur kurze Zeit von Bestand sind, aus den zählbaren Hyperonymen werden so wieder reine Pluraliatantum. Singularformen mit der Bedeutung ,Kleidungsstück' existierten zu einem früheren Zeitpunkt bei fr. habit (PR), sp. ropa (Morreale 1973: 131) und zahlreichen anderen Kollektiva (s. 3.6.6).

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,Wenn ich sage, dass dieser Freund, den wir hier haben, ein Möbel ist, ist er natürlich kein Tisch, ich bezeichne nicht die gleiche Realität. Ich nutze dieses Wort wegen jener Aura der Schwerfälligkeit, der unerträglichen Person' Allerdings müssen die hier besprochenen Fälle, denen ein Hyperonym zugrunde liegt, unterschieden werden von bereits diskutierten Wandelprozessen. Viele Gruppenkollektiva im Bekleidungsbereich mit der Bedeutung ,Aufmachung' erfahren eine direkte Bedeutungsspezialisierung z.B. auf ,Anzug' (z.B. sp. traje, dt. Anzug, fr. costume) oder .Damenkleid' (fr. robe, sp. vestido, eng. dress, dt. Kleid), da diese die gesamte Bekleidung einer Person darstellen können.

149 3.7

Fazit

Während unterhalb der Basisebene Hyponyme auf der Gestalt, häufig auch dem Lexem, der Basisebene aufbauen, beruhen Hyperonyme alltagssprachlicher Herkunft meist auf der Konjunktion mehrerer Basiskonzepte. In diesem Kapitel wurde der semantische Pfad analysiert, der vom funktionalen Substantiv ohne semantische Relation zur Basisebene über Gruppenkollektiva, die kontige heterogene Basiskonzepte zusammenfassen, Genuskollektiva, die auf etwas homogeneren, nicht mehr unbedingt kontigen Basiskonzepten beruhen, zu Pluraliatantum und schließlich in wenigen Fällen zu zählbaren Hyponymen führt. Dabei wurde argumentiert, dass der letzte Schritt vermutlich unter Druck der von zählbaren Substantiven dominierten Nominalsysteme, vor allem aber dem abendländischen Modell taxonomischer Begriffstrukturen ausgelöst wird, während die vorhergehenden Schritte Prozesse der Lexikalisierung sind, durch die referentiell stabilere, bildhafte Substantive entstehen. Funktionale Hyperonyme und Gruppenkollektiva stellen dabei einen starken Innovationsherd dar, der Ausgangspunkt fur Lexikalisierungsprozesse ist. Für die „Unnatürlichkeit" der zählbaren Hyperonyme spricht die Beobachtung, dass diese sehr instabil sind, häufig eher wie Pluraliatantum eingesetzt werden und dann den kognitiv günstigeren Kollektiva ähneln oder eine Bedeutungsspezialisierung auf Basislexeme erfahren. Eine Abweichung von diesem Muster stellen pejorative Hyperonyme wie sp. trapo ,FummeP dar, die aus pragmatischen Gründen, nämlich dem Herunterspielen perzeptueller Unterschiede, direkt aus Individualnomina entstehen, bei Lexikalisierung allerdings ebenfalls eine Präferenz für den Plural entwickeln. Die Begriffe Hyperonymie und Hyponymie erhalten so in Abhängigkeit von der Generalisierungsebene einen neuen Sinn. Von der Basisebene abwärts spezifiziert Hyponymie Basislexeme, Hyperonymie bedeutet dagegen das Zusammenfassen von mehreren Basiskonzepten in einem Hyperonym auf übergeordneter Ebene (vgl. Kleiber/Tamba 1990: 27).

4

Hyperonyme fachsprachlichen Ursprungs

Die linguistische Evidenz für eine bildhafte konzeptuelle Grundlage alltagssprachlicher Hierarchien von Konkreta ist, wie in Kapitel 2 und 3 gezeigt wurde, außerordentlich stark. Die meisten Substantive gemeinsprachlicher Herkunft oberhalb der Basisebene stammen dabei von Kollektiva ab und beruhen konzeptuell auf einer Konjunktion oder Disjunktion von Basiskonzepten. In 3.6.8 wurde argumentiert, dass die sich aus Kollektiva entwickelnden Hyperonyme vermutlich unter Einfluss des taxonomischen Modells entstehen, das im Abendland auf eine über zweitausend Jahre alte Tradition zurückblicken kann. Diesem Modell passen sich alltagssprachliche Hyperonyme oberhalb der Basisebene oberflächlich an, indem sie zu Individuativa werden und so die alltagssprachliche Kategorisierung überdecken: This is why, for a fair cognitive evaluation of,natural' hierarchic structures, we must [...] leave the domain of Western culture and study the taxonomies of ,prescientific' societies. (Ungerer/Schmid 1996: 63)

Allerdings prägen klassische taxonomische Strukturen alltagssprachliche Hierarchien, die außerdem eine sehr flache Hierarchiestruktur aufweisen, nur sehr oberflächlich. Betrachtet man nun Hierarchien, die in der Literatur beschrieben werden, so stellt man fest, dass logisch saubere, komplexe Hierarchien zu einem Großteil aus wissenschaftlichen oder zumindest gelehrten Substantiven bestehen, vor allem auf den oberen Generalisierungsebenen (s. Schwarze 2001: 18f.). In Abb. 30 finden wir lediglich auf der untersten Ebene gemeinsprachliche Lexeme: entiti

animal plante

mineral

pigeon chene rocher Abb. 30:

scie

cercle

eau

courage

Fachbegriffe oberhalb der Basisebene (Schwarze 2001: 18)

Nun sind zahlreiche alltagssprachliche Hyperonyme, die nicht über Kollektiva entstanden sind, fachsprachlichen Ursprungs. So stammen die Substantive fr. animal ,Tier' und plante .Pflanze' und die Äquivalente des Spanischen, Englischen und vieler anderer europäischer Sprachen aus der Biologie (avant la lettre). Auch im Tamil findet man gelehrte Hyperonyme wie tävaram ,Pflanzen' und mirukam ,Tier', die aus dem Sanskrit entlehnt wurden (Veluppilai 1984: 279). Das Ayacucho Quechua besitzt hier die spanischen Entlehnungen animal ,Tier', bestya ,Tier' und eramenta ,Werkzeug' (Parker 1969: 111, 117, 129), die bis auf bestya, das auf dem erbwörtlichen sp. bestia beruht, womöglich indirekt über gelehrten Einfluss ins Quechua gelangt sind. Die American Sign Language besitzt ebenfalls häufig

152 aus der gesprochenen Sprache entlehnte Hyperonyme auf der Basis des Fingeralphabets (Newport/Bellugi 1978: 52f.). Bei diesen Hyperonymen handelt es sich um originäre Hyperonyme, bei deren Entstehung „höhere" kognitive Operationen zum Zug kommen. In der Tat haben Hyperonyme fachsprachlicher Herkunft meist keine Entsprechungen in oralen Sprachgemeinschaften, die dem Einfluss abendländischer Bildung bisher kaum ausgesetzt waren (s. Berlin 1992: 190, 275). 1 Die Häufigkeit gelehrter übergeordneter Lexeme wird in einigen Untersuchungen erwähnt (z.B. Taylor 2 1995: 49), jedoch nie näher analysiert, entweder weil in vielen Arbeiten hier nicht differenziert wird oder weil in ethnolinguistischen Arbeiten der Einfluss logischer wissenschaftlicher Taxonomien nicht zu Unrecht als Störfaktor betrachtet wird. Inzwischen gibt es sehr viele gute Studien zu ethnobiologischen Taxonomien und es ist an der Zeit zu untersuchen, welchen Einfluss wissenschaftliche Taxonomien auf die Alltagssprachen ausüben. In diesem Kapitel werden vor allem solche Hyperonyme betrachtet, die über wissenschaftlichen Einfluss (im weiteren Sinne) als zählbare Substantive in die Gemeinsprache gelangen und bereits mehr oder weniger integriert sind. Meist sind sie deutlich als solche zu erkennen, da es sich in europäischen Sprachen häufig um Latinismen und Gräzismen handelt. Dazu gehören z.B. fr. plante ,Pflanze', animal ,Tier', instrument Instrument', organisme ,Organismus', vehicule ,Fahrzeug', recipient,Gefäß' und die spanischen Entsprechungen planta ,Pflanze', animal ,Tier', instrumenta instrument', organismo ,Organismus', vehiculo ,Fahrzeug' und recipiente ,Gefäß'. Auch Kollektiva wissenschaftlicher Herkunft werden in die Gemeinsprache aufgenommen, z.B. fr. vdgetation ,Vegetation', faune ,Fauna', flore ,Flora'. Diese sollen hier allerdings nicht analysiert werden, da sie konzeptuell ähnlich wie die alltagssprachlichen Kollektiva strukturiert sind. Vielmehr soll hier untersucht werden, inwiefern auf höheren Generalisierungsebenen die wissenschaftliche Kategorisierung konzeptuell von der alltagssprachlichen Kategorisierung abweicht, wie gelehrte Hyperonyme entstehen und welche semantischen Veränderungen sie bei der Integration ins Lexikon der Gemeinsprache erfahren.

1

Interessanterweise beobachtet man auch gelehrte Kategorien bei Numeralklassifikatoren. Im Mandarin benutzen Laien eher den Einheitsklassifikator ge, seltener jedoch spezifischere Klassifikatoren (Erbaugh 1986: 403^4-06). Spezifische Klassifikatoren, die in etwa Konzepten wie FAHRZEUG oder KLEIDUNG entsprechen, werden von Kindern sehr spät erlernt und auch von Erwachsenen eher selten verwendet, sie sind häufig eher distanzssprachlich und müssen explizit gelernt werden (Erbaugh 1986). Die chinesische Schrift (die geschriebene Sprache ist prinzipiell sicher in engerem Kontakt mit Fachsprachen als die gesprochene Sprache) besitzt allerdings ein noch feineres System der Substantivklassifikation in den Radikalen der Schriftzeichen. Hier liegen zahlreiche systematische taxonomische Beziehungen zwischen Radikal und Lexem vor, während Numeralklassifikatoren im Mandarin häufig nicht auf einem klaren Oberbegriff basieren. So gibt es im Mandarin ein Radikal mit der Bedeutung ,Kleidungsstück', aber keinen einheitlichen Numeralklassifikator für alle Substantive, die Kleidungsstücke bezeichnen, sondern mehrere für formähnliche Kleidungsstü1

·

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153 4.1

Wissenschaftliche Oberbegriffe und Taxonomien

Alltagssprachliche Lexeme werden meist durch direkte (visuelle) Erfahrungen erlernt, Gestalten der Basisebene werden implizit und unbewusst aus perzeptueller Information extrahiert und gespeichert. Wissenschaftliche Konzepte und damit Termini werden dagegen explizit gesetzt (Schlieben-Lange/Kreuzer 1983: 7f.). Sie entstehen durch systematische reflektierte Denkprozesse, besonders logische Operationen, denen Prozesse des Arbeitsgedächtnisses zugrunde liegen. Daher handelt es sich bei wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht um einmal erworbenes, dann stabiles Wissen, sondern um eines, das in jeder Generation neu erlernt werden und lebendig gehalten werden muss und revidierbar ist. Wissenschaftliche Termini und gemeinsprachliche Lexeme unterscheiden sich demnach grundsätzlich in der Art ihrer Semantik. Eine besondere Rolle bei der Konstitution von fachsprachlichen Oberbegriffen und damit auch Hyperonymen spielen die logischen Verfahren der Definition, des Syllogismus und des Beweises, die in der griechischen Antike etabliert wurden und auch zur Entstehung der abendländischen Wissenschaften beitrugen (s. auch Gingras et al. 2000: 43f., 80), deren Fundament vor allem in der logischen Beweisführung und im Theoriegedanken, der bis heute überlebt hat, zu finden ist (Damerow/Lefevre 1998: 88). Zentral ist dabei die Metareflexion, auch die Sprachreflexion, die wiederum durch die Verschriftlichung gefördert wurde (s. Koch 1997: 45), da die verschriftete Sprache eher einer kritischen Metareflexion zugänglich ist als die flüchtige gesprochene Sprache. 2 Logik, Taxonomien und Metareflexion hängen eng zusammen und scheinen erst durch die Alphabetschrift ermöglich worden zu sein: „ [...] formal logic is the invention of Greek culture after it had interiorized the technology of alphabetic writing [...]" (Ong 1982: 52). Die Logik entstand dabei über die Reflexion über sprachliche Strukturen (s. Klix 1993: 344f., Lakoff/Johnson 1999: 377). Aristoteles betrachtete grammatische Konstituenten der Rede als logische Einheiten des Denkens (Klix 1993: 347-350) und untersuchte logische Beziehungen in und zwischen Sätzen sowie zwischen Begriffen, z.B. in der Kategorienlehre und der Lehre zum Satz (Aristoteles 1958). Eine herausragende Rolle spielte dabei sicher auch die lineare kompositionale Alphabetschrift, die die Formalisierung von Propositionen und die Analyse abstrakter, vom Kontext gelöster Aussagen erleichterte (Goody 1977: 44f.), denn vor allem durch die Alphabetschrift konnte die phonologische und syntaktische Kompositionalität der Sprache bewusst gemacht werden. Die Schrift trug also sicher dazu bei, dass syntaktische und phonologische Strukturen bewusster wahrgenommen wurden, aus denen wiederum logische Operationen abgeleitet werden konnten. Damerow/Lefevre (1998: 88) nennen die antike Logik daher die „generalisierte Theorie der Handlungsmöglichkeiten mit dem Symbolsystem der verschriftlichten Sprache". Durch die Entdeckung logisch überprüfbarer Strukturen

2

Es darf dabei nicht übersehen werden, dass der Einfluss der Schrift im antiken Griechenland insgesamt noch nicht sehr groß war, denn die orale Tradition dominierte nach wie vor (Gingras et al. 2000: 79ff.). Plato und Sokrates waren eher schriftfeindlich eingestellt. Allerdings war die Alphabetschrift sehr jung, als die ersten Philosophen im 6. Jh. v. Chr. auftraten, und gerade die Neuheit der Schrift verleitete sicher zu metasprachlichen Überlegungen und eben auch zu Abwehrreaktionen.

154 wurde so eine Metareflexion über Wege der Erkenntnis und Denkoperationen möglich, die Beweisführungen offenlegen und so der Kritik aussetzen konnte (vgl. Gingras et al. 2000: 45, Goody 1977: 44, Klix 1993: 343-353). Ganz zentral für die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens und die Grundlage wissenschaftlicher Taxonomien ist die von Plato und vor allem Aristoteles entwickelte Technik der Definition, die einen neuartigen Zugang zu Begriffen erlaubt. Speziell Plato elaborierte eine auf Inklusionsbeziehungen basierende Definitionstechnik und entdeckte die extensionale Inklusion von Ober- und Unterbegriff (s. Klix 1993: 345). Auch die aristotelische Definition beruht auf hyponymischen Beziehungen, denn die klassische Definition basiert auf einer Kombination von genus proximum und differentiae specificae (Klix 1993: 347f.), d. h. dem Hyperonym des zu definierenden Hyponyms und Merkmalen, die das Hyponym von seinen Kohyponymen unterscheiden (s. auch Lakoff/Johnson 1999: 379). Die Definitionstechnik gelangte wie die aristotelische Logik insgesamt über Boethius in die mittelalterliche Schullogik (s. Arnaldez et al. 1957: 410f., Garcia Font 5 1973: 159, Gingras et al. 2000: 96). Boethius' lateinische Übersetzung der Isagoge des Porphyr wurde im Mittelalter ein Standardlehrbuch zur Logik und Universalienproblematik (Garcia Font 5 1973: 159, Störig 3 1965: 153ff.). Diese Definitionstechnik ist aus der abendländischen Bildung nicht mehr wegzudenken. Sie dominiert heute außerdem in der Lexikographie (Svensen 1993: 122), in der Terminologielehre, in der Wissenschaft und in den abendländischen Bildungssystemen. In dieser Tradition wurde beispielsweise der Mensch als „auf Füßen gehendes zweifüßiges Sinnenwesen" definiert (Aristoteles 1958: 98). Genus proximum ist Sinnenwesen. Auf Füßen gehend und zweifüßig sind differentiae specificae. Durch diese Definition kann der Mensch nach Aristoteles von allen anderen Sinnenwesen abgegrenzt werden. Die intensionale Definition 3 beruht also auf der Zerlegung von Konzepten in genus proximum und differentiae specificae und erlaubt damit einen neuen Zugang zu Begriffen. Werden auf diese Art und Weise Basisbegriffe definiert, wird ihre Gestalthaftigkeit durch die Zerlegung in einzelne Merkmale in den Hintergrund gedrängt, vormals unauffällige Merkmale werden durch bewusste Kategorisierung salient: Even if ordinary or folk taxonomies are inconsistent, rigid scientific taxonomies can always be set up by an act of definition, in this case by the conscious selection of one or several attributes which are established as overridingly salient. This is exactly what happened when Linnaeus developed his famous classification of plants. (Ungerer/Schmid 1996: 83)

Nun erfasst die klassische Definition sehr gut die Bedeutung alltagssprachlicher funktionaler Substantive wie z.B. Beute als „Gegenstand (oder Gegenstände), der erbeutet wird". Die Referenz ist bei diesen Substantiven komplex, da nichtsaliente temporäre Eigenschaften, meistens handelt es sich um die Zugehörigkeit zu einem Frame, überprüft werden müssen. Bei den wissenschaftlichen Oberbegriffen handelt es sich hingegen meist um inhärente Eigenschaften der Referenten. Gemeinsprachliche funktionale Substantive sind außerdem häufig Ad-hoc-Bildungen, die in einem bestimmten Kontext interpretierbar sind, die aber nach Gebrauch schnell wieder vergessen werden - oder sie werden lexikalisiert und entwickeln sich häufig zu Kollektiva, die ganze bildhafte Gestalten zusammenfassen. Alltags-

3

Bei Plato ist auch die Unterscheidung zwischen Intension und Extension angelegt (Kraus 1996: 32).

155 sprachliche funktionale Substantive beruhen außerdem konzeptuell auf der Modifikation eines Konzeptes auf sehr hoher Generalisierungsebene wie z.B. GEGENSTAND, während die klassischen Definitionen auf dem jeweils nächsthöheren Gattungsbegriff aufbauen, also meist spezifischeren Oberbegriffen, die häufig erst aus den Unterbegriffen abgeleitet werden. Eine Konsequenz der Definitionstechnik, die sicher maßgeblich die Entwicklung von wissenschaftlichen Unterscheidungen auf den oberen Generalisierungsebenen angestoßen hat, ist der Zwang zum Oberbegriff. Im Alltag sind Oberbegriffe oberhalb der Basisebene häufig nicht gegeben, sie müssen also sekundär konstruiert werden, wie im Falle von Sinnenwesen. So können Definitionen von Basiskonzepten, die ja intuitiv bekannt sind über bildliche Merkmale, vor allem Gestalten, dazu zwingen, aus mehreren Unterbegriffen gemeinsame Merkmale herauszufiltern und so neue Oberbegriffe zu schaffen. 4 Durch diese Definitionstechnik können aber auch neue Unterbegriffe durch die Modifikation eines bekannten Oberbegriffs geschaffen werden. Die klassische Definitionstechnik trägt also unmittelbar zum Erkenntnisgewinn bei, denn ,,[m]it der neuartigen Technik der Definition wurden Bedeutungen sprachlicher Benennungen zum Gegenstand der bewußten Strukturierung [...]" (Damerow/Lefevre 1998: 88). Klassische Definitionen schaffen hierarchische Strukturen, die auf intensionaler Inklusion beruhen und die durch Similarität und Kontrast von Kohyponymen entstehen. Vor allem aber schafft die Definitionstechnik neue Oberbegriffe. Die logische Relation zwischen Ober- und Unterbegriff ist beim Syllogismus, den Aristoteles formalisierte (Klix 1993: 346-349), von großer Bedeutung. Der wichtigste Syllogismus bei Aristoteles beruht auf Propositionen, bei denen Subjekt und Prädikat der conclusio, die in hyponymischer Beziehung stehen, in Kombination mit einem Begriff, der hierarchisch zwischen den Begriffen der conclusio steht, in den Prämissen auftauchen: (1)

A l l e Α sind B. A l l e Β sind C. A l l e Α sind C.

In Syllogismen lässt sich die conclusio logisch aus den Prämissen ableiten, da Hierarchien, die auf hyponymischen Beziehungen aufbauen, transitiv sind, d. h. Information jeweils vom Hyperonym zum Hyponym vererben. Dadurch wird die Ableitung von neuem Wissen aus altem Wissen ermöglicht (vgl. Klix 1993: 346-349). Die klassische Definitionstechnik und der Syllogismus sind kontextunabhängige logische Strukturen, die der Entdeckung von Beziehungen zwischen Begriffen, aber auch der Schaffung neuer Begriffe dienen, die aber keinesfalls den Denkstrategien des Alltags entsprechen (s. Anderson 3 2001: 315f., 351 f.). Sie übernehmen dagegen wichtige Funktionen bei der Erkenntnisgewinnung, denn Definitionen wie auch logische Hierarchien zwingen zur Bestimmung notwendiger und hinreichender Merkmale, die klare Kategoriengrenzen festlegen. Gerade auch der Zwang, bei der Definition Oberbegriffe und essentielle differentiae specificae zu finden, kann zum Erkennen sehr grundlegender, im Alltag aber unauffälliger oder unsichtbarer Eigenschaften ftih-

4

Unterbegriffe unterhalb der B a s i s e b e n e entsprechen meist auch im Alltag konzeptuell der klassis c h e n Definition, da sie konzeptuell auf d e m ihnen übergeordneten B a s i s k o n z e p t basieren (s. Kap. 2).

156 ren. Sprachliche Benennungen werden dabei zum Gegenstand der bewussten Begriffsbildung und werden durch logische Operationen in hierarchisch strukturierte Wissensbestände eingebunden (Damerow/Lefevre 1998: 88). Die Richtigkeit der Definitionen und der Relationen sind dabei objektiv überprüfbar. Wissenschaftliche Taxonomien können außerdem größere Zusammenhänge aufdecken oder abbilden, so bekommen biologische Taxonomien durch die Evolutionstheorie von Darwin eine neue Bedeutung (Abeles et al. 1961: 429). Heute dominiert die kladistische Klassifikation, die auf phylogenetischen Beziehungen aufbaut und Entwicklungsäste beschreibt (Margulis/Schwartz 1989: 19f., Raven/Evert/Eichhorn 3 20 00: 288ff.). Auch in der Chemie decken Taxonomien Strukturen auf. John Dalton baute Anfang des 19. Jahrhunderts die Atomtheorie auf Verhältnissen zwischen Atomgewichten der Elemente und ihrer Zusammensetzungen auf (Abeles et al. 1961: 304f.). Mendelejew stellte das Periodensystem auf der Basis von Reaktionstypen auf. Heute weiß man, dass das Periodensystem auf der Elektronenzahl der Elemente beruht, die die Reaktionsarten bestimmen (Abeles et al. 1961: 317f.), auf die empirische Klassifikation folgte also eine deduktive systematische Erklärung (DDS: s.v. classification). Verfügt man über eine solche Systematik, wird die konkrete Taxonomie theoretisch sogar überflüssig. Taxonomien können also dem Erkenntnisgewinn dienen und abstrakte Zusammenhänge sichtbar machen. Eine andere, häufig entgegengesetzte Funktion von Taxonomien ist die Identifikation von Individuen. Eine Taxonomie wird anders aussehen, je nachdem, ob sie der eindeutigen Identifikation von Individuen oder der theoretischen Erkenntnis dienen soll. Sowohl die aristotelische Metaphysik als auch die auf Darwin zurückgehende Taxonomie sind rational und beruhen auf einer Theorie, während Linnes künstliche Klassifikation der Bestimmung von konkreten Organismen dient (Crocco 1995: 167f., Fußnote 2). Soll eine Taxonomie beiden Funktionen gerecht werden, kann es zu Spannungen kommen. Typisch fur Definitionen, die der Identifikation dienen, nicht aber der theoretischen Systematik, sind wahrscheinliche, nicht aber notwendige Merkmale, besonders Merkmalsdisjunktionen: 5 (2)

betulaceas. Familia (Betulaceae S.F. Gray) del orden de las fagales, compuesta de arbustos ο ärboles, con hojas alternas y estipulas caducas, flores unisexuales, las masculinas a veces aperiantadas [...] [Hervorh. von mir] (VCT s.v. betulaceas)6

Der Grund für die häufige Diskrepanz zwischen theoretischen Taxonomien und Identifikationsschlüsseln ist der, dass die Merkmale in theoretischen Taxonomien häufig sehr schwer mit Referenten in Verbindung zu bringen sind, der Bezug zu Referenten ist lediglich indirekt über die Definition hergestellt (s. auch Wygotski 1934; 1993: 253f.):

5

Atran (1990: 278, Fußnote 17) gibt als Beispiel für eine Merkmalskonjunktion „winged biped", für eine Disjunktion „feathered and/or flies" als Definitionen von VOGEL.

6

,Birkengewächse. Familie (Betulaceae S.F. Gray) der Ordnung der Buchenartigen, setzt sich zusammen aus Sträuchern oder Bäumen, mit wechselständigen Blättern und abfallenden Nebenblättern, einhäusigen Blüten, die männlichen manchmal mit Periant [...]'

157 [...] j e eindeutiger „theoretisch" ein Begriff ist, desto bedingter, hypothetischer und indirekter ist seine Anwendung auf die Einzelgegenstände hier und jetzt. Gewöhnlich erkennt man einen Baum, wenn man ihn sieht, aber man kann vielleicht nicht sofort angeben, ob er in die taxonomische Kategorie der Kryptogamen oder der Phanerogamen gehört, weil die Anwendungskriterien fur diese Kategorien viel strenger und komplizierter sind. (Toulmin 1978: 202)

Häufig können neue Erkenntnisse nicht in etablierte Taxonomie aufgenommen werden, ohne einen wesentlichen Teil der alten Taxonomie zu modifizieren. Um die rationale Klassifikation nicht zu ändern, als australische Tiere entdeckt wurden, die genealogisch eigentlich zu den Säugetieren gehören, von diesen jedoch in bisher als essentiell betrachteten Merkmalen abweichen, wurden Säugetiere daraufhin in drei Klassen eingeteilt: gewöhnliche Säugetiere, Marsupialia (Beuteltiere) ohne Plazenta und die eierlegenden Monotremata (Kloakentiere) (Burnie 2001: 90f.). Da die alte Definition der Säugetiere beibehalten wurde, bedeutet dies, dass nun nicht alle Unterklassen deren Eigenschaften erben und so die Transitivität durchbrochen wird (Crocco 1995: 168f.). Die Taxonomie ist somit zwar stabilisiert, aber die Vererbung teilweise blockiert. Logische Inklusionshierarchien bieten also den enormen Vorteil deduktiver Schlüsse, ökonomischer Wissensspeicherung und die unbegrenzte Möglichkeit, neue Begriffe anzubinden. Speziell Hierarchien verbessern nachgewiesenermaßen die Behaltensleistung von Listen bei gebildeten Personen (Miller/Johnson-Laird 1976: 250). Auch wenn logische Strukturen schwer zu erlernen sind, bieten sie also bei Beherrschung einige kognitive Vorteile. Welche Merkmale bei der Schaffung eines wissenschaftlichen Oberbegriffes im Einzelnen als essentiell gelten, wird stark vom theoretischen Rahmen, aber auch den zur Verfügung stehenden Methoden bestimmt. Gerade bei biologischen Taxonomien gibt es eine Vielzahl von möglichen Kategorisierungsmöglichkeiten: phylogenetische oder ontogenetische, funktionelle oder strukturelle Ähnlichkeiten (Crocco 1995: 167). So wurden Pflanzen, Tiere und Menschen von der Antike bis zur mechanistischen kartesianischen Biologie dadurch zusammengefasst, dass ein allen zugrunde liegendes, „Seele" genanntes Entwicklungsprinzip angenommen wurde - sie alle besitzen danach eine vegetative Seele mit den Funktionen Wachstum, Ernährung und Fortpflanzung. Tiere und Menschen besitzen außerdem die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung, da sie ihre Nahrung suchen müssen. Diese Auffassung ist auch bei Oresme noch lebendig: (3)

animal

signifie toute chose qui a ame sensitive et sent quant Pen la touche, et il n'est nul

mot en franfoys qui ce signifie precisement. (aus Oresme zit. in Stefenelli 1992: 2 0 7 ) 7

Nur der Mensch besitzt eine rationale Seele, die durch ihre Intelligenz die anderen Funktionen beherrscht (Arnaldez et al. 1957: 271, Garcia Font 5 1973: 86) und ist daher ein „animal rationalis". Auf diese Prinzipien gehen auch die Bezeichnungen sp. animal und fr. animal ,Tier', sowie sp. vegetal und fr. vegetal ,Pflanze' zurück. Lat. animal stammt von lat. animälis ,beseelt' (OLD), das wiederum von lat. anima ,Seele, Wind, Luft' abgeleitet ist. Animal ist seit dem 16. Jahrhundert im Französischen häufiger belegt, es taucht im Spanischen im 13. Jahrhundert auf (DCECH s.v. alma, Stefenelli 1992: 211, Fußnote 31). Fr.

7

,animal

bezeichnet alles, w a s eine sinnliche Seele besitzt und spürt, wenn man es berührt und es

gibt kein Wort im Französischen, das genau dies bedeutet.'

158 vegetal und sp. vegetal sowie sp. vegetation und fr. vegetation wurden aus dem Lateinischen entlehnt und sind von lat. vegetare ,wachsen' abgeleitet. Fr. vegetal taucht im 16. Jahrhundert im Französischen auf, Anfang des 17. Jahrhunderts im Spanischen. Es ist heute noch vor allem bei gebildeten Sprechern verbreitet (DCECH, DHLF). Neben der Entstehung deduktiver Verfahren wurden in der griechischen Antike auch spezifischere Wissensbereiche, z.B. Lebewesen, untersucht, wobei v. a. bei Aristoteles induktive Verfahren, besonders die Beobachtung, eine herausragende Rolle spielten (Heidelberger/Thiessen 1981: 29). Aristoteles klassifizierte Tiere systematisch nach Blutfarbe, Skelett und Gliedmaßen und stellte so eine Kategorie der Säugetiere auf, die auch Wale, Seehunde und Fledermäuse umfasste. Selbst Linne reichte hier nicht an Aristoteles heran (Garcia Font 5 1973: 86). Die antike Systematik der Lebewesen enthielt daneben eine stark kohyponymische Strukturierung, denn die scala naturae, die Kette der Wesen, die alle Wesen vom niedrigsten bis zum höchsten, nämlich Gott, nach Ähnlichkeiten in eine Kette eingebunden betrachtete, bestimmte das Weltbild bis in die Neuzeit (Gingras et al. 2000: 305). Nachdem in der Renaissance im Zuge von Expeditionen in die neue Welt viele neue Arten entdeckt worden waren und in botanischen Gärten, den neu gegründeten Museen und Katalogen gesammelt wurden, mussten diese systematisch klassifiziert werden (Allard et al. 1958: 165, Gingras et al. 2000: 173, 292-295), wobei man schnell an die Grenzen der überlieferten Kategorisierungen stieß. Daher entstanden in dieser Zeit neue biologische Beschreibungssysteme und Nomenklaturen. John Ray (1627-1705) führte die Klassifikationsarbeit des 16. Jahrhunderts fort (Gingras et al. 2000: 301 f.) und definierte den Begriff der botanischen Spezies als Gruppe von ähnlichen Organismen, die aus dem gleichen Samen entstehen, sich untereinander vermehren können und deren Nachkommen ihnen ähnlich sind. Besonders wichtig sind bei dieser Pflanzenklassifikation Samen und Fortpflanzungsorgane - basierend auf der Entdeckung der Sexualität der Pflanzen durch Rudolf Jakob Camerarius (1665-1721), Arzt und Direktor des botanischen Gartens in Tübingen (Gingras et al. 2000: 302). Linne (1707-1778) übernahm die Idee der Spezies und die Klassifikation auf der Basis der Sexualorgane der Pflanzen (Garcia Font 5 1973: 342f., Gingras et al. 2000: 302). In der Botanik tauchte im 18. Jahrhundert bei Antoine-Laurent de Jussieu die neue Unterscheidung zwischen einkeimblättrigen und zweikeimblättrigen Pflanzen auf, die auch schon John Ray 1682 bemerkt hatte (Abeles et al. 1961: 430, Atran 1990: 274). Im Bereich der Zoologie unterschied Cuvier 1795 sechs Klassen von Tieren mit weißem Blut: Weichtiere, Insekten, Zoofiten, Würmer, Krustentiere und Stachelhäuter. Er fasste außerdem Säugetiere, Vögel, Fische und Reptilien als Wirbeltiere zusammen. Seine Klassifikation beruhte nicht mehr nur auf äußeren Merkmalen, sondern komplexeren Aspekten wie Nervensystem, Atmung und Blutkreislauf (Garcia Font 5 1973: 350-352). Ein neuer Aspekt bei der wissenschaftlichen Klassifikation war die Beobachtung von mit bloßem Auge unsichtbaren Eigenschaften. Dazu trug entscheidend die Erfindung und die Weiterentwicklung des Mikroskops im 17. Jahrhundert bei (Störig 3 1965: 273f.). So zeigte Leeuwenhoek einige mikroskopische Unterschiede zwischen einkeimblättrigen und zweikeimblättrigen Pflanzen (Allard et al. 1958: 400). Swammerdam (1637-1680) beobachtete, dass mikroskopierte Insekten im Aufbau überraschenderweise höheren Tieren ähnlich sind. Leeuwenhoek und auch Hooke hatten außerdem bereits im 17. Jahrhundert die Zelle gesehen (Allard et al. 1958: 400, Störig 273fi). Bedeutend wurde diese Entdeckung erst im 19. Jahrhundert, als die Erforschung der Zelle die organische Ähnlichkeit, aber auch Unter-

159 schiede von Pflanzen und Tieren offenlegte (Abeles et al. 1961: 398). Im 19. Jahrhundert formierte sich die Zelltheorie (Abeles et al. 1961 395f.). Später wurden zuerst die Chromosomen, dann die DNA entdeckt. Auch in der Biologie setzte sich außerdem das Experiment durch, eine wissenschaftliche Revolution fand allerdings später als in der Physik statt (Gingras et al. 2000: 289). Die heute anerkannte biologische Einteilung der Lebewesen in fünf Phyla wurde von Robert H. Whittaker entwickelt, der prokariotische Monera (Blaualgen, Bakterien ohne abgegrenzten Zellkern) und die eukariotischen Phyla, die einen abgegrenzten Zellkern besitzen, also Protisten (v. a. Einzeller), sowie Pilze, Pflanzen und Tiere unterschied (Margulis/Schwartz 1989: 11 f.). Heutige phylogenetische Überlegungen basieren v. a. auf der Larvalentwicklung und biochemischen Informationen, besonders aber der DNAStruktur, die seit dem 20. Jahrhundert entschlüsselt wird. Dabei handelt es sich um Informationen, die nur mit hochentwickelten Hilfsmitteln erfassbar sind. Wie am Beispiel der Entwicklung biologischer Kategorien gezeigt wurde, können also auf der oberen Generalisierungsebene theorieabhängig und methodenabhängig sehr unterschiedliche Konzepte gebildet werden: Während bei der Errichtung der Kategorie Art im allgemeinen objektive Kriterien (vor allem das der reproduktiven Isolation unter natürlichen Bedingungen) herangezogen werden können, herrschen bei der Abgrenzung und Festlegung der höheren Kategorien Tradition, Pragmatik und oft erheblicher Subjektivismus. (Remane/Storch/Welsch 5 1997: xv)

Neben diesen Methoden gibt es aber auch die Möglichkeit stärker theoriegeleiteter, auch deduktiver Bildung von Oberbegriffen. Typischerweise handelt es sich hier um sehr allgemeine Unterscheidungen in philosophischen Systemen, wie z.B. die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, aber auch Termini wie Materie und Geist, Entität oder Individuum. Oberbegriffe können auch in theologischen Systemen entstehen. So bezeichnet lat. creatura im Zusammenhang mit der Schöpfungsgeschichte des alten Testaments das Geschöpf, das von Gott Erschaffene. Auch im Bereich der Rechtssprechung entstehen Hyperonyme fur Konkreta, meist im Zusammenhang mit Eigentumsfragen, z.B. fr. meuble und sp. mueble, die zunächst »beweglicher Besitz' bedeuteten (DHLF). Diese beiden Lexeme wurden im 3. Kapitel behandelt, da sie als Kollektiva in die Gemeinsprache gelangten. In diesen Bereich der Besitzverhältnisse gehören auch fr. article und sp. articulo .Handelsartikel', von ,Listenposten' (DHLF), aber auch sp. genero ,Ware' (< ,Gattung') oder im Latein des 3.- 4. Jahrhunderts species ,Arten von Handelsware' aus ,Aussehen', ,Gestalt' (DHLF s.v. epice). Interessanterweise gibt es im Umfeld der Wissenschaften und der Philosophie v. a. im technischen Bereich eine Reihe von Hyperonymen, die nicht Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse sind. Ihre Eigenschaften bedürfen weder einer besonderen Entdeckungsprozedur noch sind sie in ein Theoriegebäude eingebettet. Ihre semantische Struktur entspricht aber der wissenschaftlicher Oberbegriffe bzw. funktionaler Substantive, sind im Gegensatz zu letzteren aber stabiler. Ihre Semantik entspricht einer Paraphrase wie „Gegenstand, der der Funktion χ dient". So stammen fr. recipient, sp. recipiente und eng. recipient ,Behälter', ,Gefäß' aus der Alchemie bzw. Chemie und bezeichneten zunächst das Auffanggefäß einer Laborapparatur (DHLF, OED). Heute bezeichnen diese Substantive neben der technischen Bedeutung auch generell das Gefäß. Fr. recipient ersetzt in dieser Bedeutung fr. vase, ein altes Lehnwort aus dem klassischen Latein (DHLF s.v. recipient), das wiederum das erbwörtliche vaisseau ersetzte, das im 16. Jahrhundert ebenfalls ein Ge-

160 faß in der Alchemie bezeichnete (DHLF s.v. vaisseau). Dasselbe Schicksal ereilte das lateinische Lehnwort sp. vaso, das in der Bedeutung ,Gefäß' von recipiente verdrängt wurde. Das halbgelehrte Substantiv vasija ,Gefäß', das von lat. vasilla stammt, wurde nach dem Modell von utensilia ,Utensilien' gebildet und war ursprünglich kollektiv (DCECH s.v. vaso), wurde dann aber zu einem Individuativum. Bemerkenswerterweise liegen sowohl fr. vase als auch sp. vasija alte Pluralformen zugrunde. Hier stützte vermutlich der Gebrauch im technischen und wissenschaftlichen Umfeld die individuative hyperonymische Bedeutung, während in der Gemeinsprache Kollektiva wie fr. vaisselle ,Geschirr' und sp. vajilla ,Geschirr' vorliegen. Fr. vehicule und sp. vehiculo ,Transportmittel', entlehnt aus lat. vehiculum, gehören heute v. a. der gehobenen didaktisch-administrativen Sprache an (DCECH, PR). Diese müssen ebenfalls in fachsprachlichem Umfeld entstanden sein. Zunächst wurde lat. vehiculum in der medizinischen Bedeutung ,Trägersubstanz' ins Französische entlehnt. Davon wurde vermutlich die Bedeutung Transportmittel' abgeleitet. Daneben ist es seit 1551 in der Bedeutung »Fahrzeug' belegt (DHLF). Auch fr. instrument ,Instrument' (vermutlich analog sp. instrumenta) wurde entlehnt, aus lat. instrümentum (OLD). Es handelte sich hier um ein Substantiv, das kollektiv und (selten) individuativ war (OLD, PGLD) und die Bedeutung ,Ausstattung, Gerät eines Handwerks' besaß. Es wurde entlehnt in der Bedeutung instrument, Werkzeug' und bezeichnete auch früh schon das Musikinstrument. Es wurde im 14. Jahrhundert semantisch relatinisiert (FEW) und bezeichnete ab dem 17. Jahrhundert Instrumente in technischen und medizinischen Kontexten (DHLF, FEW, Gougenheim 21969: 144-147). Es ist sehr plausibel, dass durch die Entlehnung in eine Fachsprache hier analog zu anderen wissenschaftlichen Hyperonymen das lateinische Kollektivum als Hyperonym reanalysiert wurde oder zumindest die seltenere individuative Bedeutung gestärkt wurde. Auch fr. ustensile ,Utensil' ist ein entlehntes Hyperonym, das von einer lateinischen Pluralform, nämlich ütensllia ,Geräte, alles was man braucht' stammt (DHLF). Fr. outil (< usitilium, von lat. ütensllium) ,Werkzeug', zunächst im Plural belegt in der Bedeutung ,Ausrüstung', ,Ausstattung', ist dagegen ein Erbwort (DHLF, Gougenheim 2 1969: 144— 147). Auch hier spielte womöglich der fachliche Kontext bei der Entstehung der individuativen Lesart eine Rolle. Auch sp. utensilio ist ein lateinisches Lehnwort, sp. iitil, Werkzeug' wurde dagegen aus dem Französischen entlehnt (DCECH s.v. uso). Diese Entlehnungen verweisen ebenfalls auf einen fachlichen Kontext. In den technischen Kontext gehören auch Substantive fur Vorrichtungen und Maschinen wie sp. mäquina ,Maschine', aparato ,Apparat', artificio .Vorrichtung', artefacto Apparat', artilugio ,Gerät, technische Spielerei', dispositivo ,Gerät' und fr. engin ,Gerät', machine ,Maschine' und appareil,(Labor)Apparatur' (DHLF s.v. appareiller, MOL). Wissenschaftliche Oberbegriffe und damit auch Hyperonyme beruhen also auf merkmalsbasierten Definitionen. Bei der Merkmalsisolierung aus Basiskonzepten zur Erzeugung eines Oberbegriffs handelt es sich um eine anspruchsvolle bewusste Operation, denn aus einer stabilen holistischen Gestalt eines bzw. mehrerer Basiskonzepte müssen einzelne wenig saliente Eigenschaften gelöst werden. Der Definition wissenschaftlicher Oberbegriffe liegen meist wenige Merkmale zugrunde, meist handelt es sich um Merkmale, die nur durch bestimmte Verfahren überhaupt erkennbar sind, während Kollektiva und gemeinsprachliche Hyperonyme auf der Kombination ganzheitlicher bildhafter Basiskonzepte beruhen. Wissenschaftliche Kategorien sind Ergebnisse komplexer bewusster Prozeduren

161 des Arbeitsgedächtnisses, keine statischen ganzheitlichen Speichereinheiten des Langzeitgedächtnisses: Merkmale werden fokussiert, extrahiert, verglichen und bewertet (s. Klix 1984: 23, 29-32, Roediger/Marsh/Lee 3 2002 : 9-13, van der Meer 1998: 232). Die Tatsache, dass es sich bei den wissenschaftlichen Oberbegriffen um schwer generierbare und speicherbare Einheiten handelt, wird teilweise kompensiert durch die Stütze der Schrift. Mit Hilfe der Schrift sind wir in der Lage, wesentlich komplexere Operationen auszufuhren als solche, die wir nur „im K o p f lösen können. So verfügen wir über die Möglichkeit, beispielsweise beim Rechnen Zwischenergebnisse zu notieren, um das Arbeitsgedächtnis zu entlasten. Schrift ist außerdem räumlich-visuell, nicht temporal-akustisch organisiert und somit zeitlich konstant, was auch eine diskontinuierliche Verarbeitung beim Lesen ermöglicht (Günther/Pompino-Marschall 1996: 909). Die Schrift fuhrt so die Sequentialität und Temporalität der gesprochenen Sprache auf eine kognitiv einfachere Ebene zurück, da durch die Schrift die temporale Linearität der gesprochenen Sprache zu einer spatialen statischen Struktur wird, die kognitiv leichter zu verarbeiten ist (vgl. Koch 1997: 63). Eine wichtige Rolle fur die Bildung von wissenschaftlichen Hyperonymen sind speziell Listen, die oft ganz frühe Schriftverwendungen darstellen (Goody 1977: Kap. 5, Koch 1997). In Listen werden auch Konzepte zusammengestellt, die im Alltag eher selten assoziiert werden. Listen sind endlich und beruhen auf einer räumlichen Anordnung von Punkten - so zwingen sie zur Abgrenzung von Kategorien, ermutigen die Ordnung und Findung von Oberbegriffen und können bei der Entdeckung semantischer Gemeinsamkeiten helfen (Goody 1977: Kap. 5, Koch 1997: 72, s. auch Damerow/Lefevre 1998: 85). Liste, Tabelle und Formel können so als Instrumente der Zähmung des „savage mind" betrachtet werden (Goody 1977: 162), sie unterstützen die Bildung von Taxonomien und dienen außer als Hilfe bei der Gewinnung taxonomischer Strukturen vor allem auch der Konservierung der mühsam erlangten Begriffe. Kognitiv gesehen sind also wissenschaftliche Oberbegriffe gegenüber bildlich gestützten Basiskonzepten und Oberbegriffen des Alltags keine guten Konzepte, da sie aus Merkmalskomplexen bestehen, die eher schwer zu erlernen und zu behalten sind (Gruber 1999: 195f.), und so bleiben Oberbegriffe im wissenschaftlichen Umfeld und in stärkerem Maß in der Alltagskultur eher flüchtige Ergebnisse von Entdeckungsprozeduren als stabile Speichereinheiten des Langzeitgedächtnisses. Sie ähneln kognitiv eher kompositionalen sprachlichen Einheiten wie Propositionen oder sogar Texten. Innerbegriffliche Relationen, wie z.B. taxonomische Strukturen, sind „flüchtige kognitive Strukturen, die Wissensbesitz momentan anreichern und verfügbar halten können" (van der Meer 1998: 233).

4.1.1

Die konzeptuelle Homogenität wissenschaftlicher Oberbegriffe

Da die wissenschaftlichen Hyperonyme auf Merkmalskomplexen beruhen, die von den verschiedenen Basiskonzepten abstrahieren, und nicht auf Disjunktionen von Basiskonzepten wie die gemeinsprachlichen Hyperonyme, sind sie konzeptuell homogener als alltagssprachliche Oberbegriffe. Dies ist typisch für wissenschaftliche Termini bzw. Konzepte (s. auch Schlieben-Lange 2000: 55), denn „discrete and homogeneous categories can be established by an act of definition" (Ungerer/Schmid 1996: 83). Im Unterschied zu den gemeinsprachlichen Hyperonymen basieren wissenschaftliche Oberbegriffe auf Merkmalen, die allen Unterbegriffen vererbt werden. Wisniewski/Imai/Casey (1996: 293) stellten

162 fest, dass „count superordinates" wie eng. vehicle konzeptuell von Genuskollektiva wie clothing abweichen. Diese Unterscheidung ist meines Erachtens mit der Unterscheidung zwischen Wissenschafts- und Alltagskonzepten korreliert. Wisniewski/Imai/Casey (1996) stellten experimentell fest, dass Referenten der Kollektiva öfter gemeinsam auftreten und die Versuchspersonen stärker mit ihnen interagieren, während bei Hyperonymen einzelne Merkmale, die jedem einzelnen Referenten inhärent sind, salienter sind. Das bedeutet auch, dass hier die semantische Relation zwischen einem einzelnen auch untypischen Unterbegriff und dem Oberbegriff stärker ist. Die Versuchspersonen entscheiden offenbar auch schneller, dass ein Referent zu einem Hyperonym als zu einem Kollektivum gehört. Einen Hinweis auf konzeptuelle Homogenität geben beispielsweise auch generische Nominalphrasen auf der Basis des definiten Artikels im Singular (Kleiber 1989: 105). Interessanterweise ist folgende Proposition trotz der fachsprachlichen Markierung der Substantive problematisch: (4)

? Le mammifere est un animal. ,Das Säugetier ist ein Tier.' (s. Kleiber 1989: 107)

Wird allerdings die Heterogenität der Unterbegriffe unterdrückt bzw. überspielt (vgl. Kleiber 1989: 62f.), werden also einzelne Merkmale hervorgehoben und so die Kategorie homogenisiert, sind solche generischen Nominalphrasen akzeptabel: (5)

L'animal est depourvu de raison. ,Das Tier besitzt keinen Verstand.' (Kleiber 1989: 108)

Die Homogenisierung tritt auch ein bei Gegenüberstellungen vom Typ Le quadrupede est plus rapide que le bipede ,Der Vierbeiner ist schneller als der Zweibeiner' (Kleiber 1989: 110) oder bei Modifikation wie in L 'animal qui a peur ,Das Tier, das Angst hat' (Kleiber 1989: 108). Deutlich schwieriger sind diese generischen Nominalphrasen allerdings bei gemeinsprachlichen Hyperonymen wie z.B. fr. le vetement ,das Kleidungsstück'. Selbst bei Basiskonzepten spielt die Tatsache, ob ein Substantiv in gemeinsprachlichem oder wissenschaftlichem Kontext auftritt, eine Rolle. Je vertrauter und gemeinsprachlicher ein Lexem ist, desto schwieriger ist die Homogenisierung bzw. Abstraktion durch den generischen Artikel im Singular wie in ? Je deteste le chat ,Ich hasse die Katze' (Kleiber 1989: 135). Daher ist ein Satz wie Je deteste le koala ,Ich hasse den Koala' (Kleiber 1989: 135) akzeptabler, da der Koala weniger aus eigener Anschauung bekannt und deshalb der Begriff konzeptuell homogener ist, während die meisten Menschen sehr viele unterschiedliche Katzentypen und -individuen kennen, eine Homogenisierung daher problematisch ist. Nun wirken aber auch bei Basislexemen wissenschaftliche Kontexte homogenisierend und so ist aufgrund des fachsprachlichen Adjektivs der generische Artikel erlaubt in Le chat est nyctalope ,Die Katze ist nyktalop' (Martin 1986: 191, s.a. Kleiber 1989: 128), bei einem gemeinsprachlichen Prädikat wird hier der pluralische generische Artikel bevorzugt, z.B. in Les chats voient clair la nuit ,Katzen sehen nachts' (Martin 1986: 191, s. auch Kleiber 1989: 128). Generische Fachtermini, die aufgrund von einigen wenigen Merkmalen ein homogenes Konzept darstellen, wie z.B. auch fr. vegetal .Pflanze', könnte man sich daher am besten als opake, mit einer Beschriftung versehene Behälter vorstellen, während Hyperonyme und Kollektiva der Gemeinsprache, z.B. fr. vetement ,Kleidung', transparenten Behältern entsprechen, die Basiskonzepte enthalten (vgl. Chur 1993: 57). Daher werden wissenschaftliche Hyperonyme insgesamt häufiger im Singular gebraucht als gemeinsprachliche Hyperonyme, die auf einer Disjunktion oder Konjunktion mehrerer

163 Basiskonzepte beruhen, wie die Korpusauswertung von CREA (zu Auswahl und Herkunft der Korpusdaten s. 1.2) in Abb. 31 zeigt. Sp. mueble ,Möbel', prenda .Kleidungsstück', herramienta .Werkzeug', arma , W a f f e ' und utensilio .Utensil' sind gemeinsprachliche Hyperonyme, 8 die überwiegend im Plural gebraucht werden und deutlich weniger als 50% singularische Formen aufweisen. Sp. planta .Pflanze' und vehiculo ,Fahrzeug' sind dagegen Hyperonyme fachsprachlicher Herkunft, die jedoch stark in die Gemeinsprache integriert sind, planta ist noch als botanischer Terminus markiert, vehiculo ist nach G E U S nicht mehr markiert, aber nach DCECH noch ein gelehrter Terminus. Pluralformen überwiegen auch hier, allerdings weniger deutlich. Singular und Plural halten sich bei animal ,Tier', das nach G E U S allerdings nicht mehr fachsprachlich markiert ist, etwa die Waage, hier ist bei den Daten aus C R E A sogar eine leichte Dominanz des Singulars zu beobachten. Die weniger frequenten Pluralformen von Substantiven der Bedeutung ,Tier' gegenüber den etwa gleichermaßen in die Gemeinsprache integrierten Substantiven der Bedeutung .Pflanze' sind womöglich auch bedingt durch ihre unterschiedliche Position in der Belebtheitshierarchie. Die restlichen Substantive sind bis auf aparato nach G E U S fachsprachlich markiert, hier überwiegen meist Singularformen: Singular

gemeinsprachliche Oberbegriffe

mueble ,Möbelstück'

14/14

(13)

66/66

(15)

prenda

6/6

(4)

13/13

(6)

0/0

(2)

4/4

(5)

,Kleidungsstück'

herramienta

fachsprachliche Oberbegriffe

Abb. 31:

Plural

, Werkzeug'

utensilio .Utensil'

1/1

arma ,Waffe'

7/7

(7)

27/27

(47)

vehiculo , Fahrzeug'

10/10

(6)

17/17

(3)

planta ,Pflanze'

7/7

(21)

32/32

(33)

animal .Tier'

69/70

(16)

65/65

(22)

organismo

30/30

(16)

3/3

(17)

aparato .Apparat'

28/28

(30)

10/10

(38)

instrumenta

1/1

(40)

1/1

(27)

recipiente

.Organismus'

.Instrument' , Gefäß'

7/7

4/4

0/0

Singular und Plural bei spanischen Kultismen

Auch die Verteilung der Lexeme in den Subkorpora bei Juilland/Chang-Rodriguez (1964) zeigt, dass das Vorkommen in Fachtexten mit der Singulardominanz korreliert ist. Die Zahlen in Klammern geben die absoluten Häufigkeiten im Gesamtkorpus bei Juilland/Chang-Rodriguez (1964) an. Im Französischen ergibt sich ein vergleichbares Bild (eine Erklärung der Daten findet sich in 1.2):

8

Die fachsprachliche Markierung ist in den meisten Wörterbüchern nicht sehr konsistent, ich orientiere mich bei den spanischen Daten vor allem an der diasystematischen Markierung in GEUS, die relativ systematisch ist.

164

Singular

gemeinsprachliche Oberbegriffe

fachsprachliche Oberbegriffe

Abb. 32:

meuble,Möbelstück'

Plural

in

(1)

54/52

(18)

vetement,Kleidungsstück'

15/15

(5)

76/74

(16)

outil,Werkzeug'

4/4

(6)

13/13

(0)

ustensile ,Utensil'

1/1

4/4

arme ,Waffe'

30/29

(10)

53/51

(29)

plante .Pflanze'

13/13

(9)

35/34

(43)

animal ,Tier'

48/46

(24)

42/41

(46)

recipient,Gefäß'

3/3

organisme ,Organismus'

3/3

vehicule ,Fahrzeug'

22/21

appareil,Apparat'

6/6

(27)

2/2

(15)

instrument instrument'

in

(16)

6/6

(9)

3/3 (23)

0/0

(10)

12/12

Singular und Plural bei französischen Kultismen

Die nach PR gemeinsprachlichen Hyperonyme meuble ,Möbelstück', vetement,Kleidungsstück', outil,Werkzeug', ustensile ,Utensil' und arme , W a f f e ' weisen einen höheren Pluralgebrauch auf. Gut in die Gemeinsprache integriert ist sicher der frühere Terminus plante ,Pflanze', auch hier überwiegen Pluralformen. Das schon relativ gut in die Gemeinsprache integrierte, nach PR und D H L F aber noch didaktisch markierte animal ,Tier' nimmt wie auch sp. animal hier eine Zwischenstellung ein, die eigene Auszählung und die Zahlen bei Juilland/Brodin/Davidovitch (1970) ergeben hier kein einheitliches Bild. Die Lexeme organisme ,Organismus', vehicule ,Fahrzeug', appareil ,Apparat' und instrument Instrument', die auch in Juilland/Brodin/Davidovitch (1970) meist in technischen Texten auftreten und nach den Angaben von PR bis auf appareil fachsprachlich markiert sind, finden sich häufiger im Singular. Fr. ricipient,Gefäß' zeigt hier keine Dominanz - es besitzt eine fachsprachlich markierte Bedeutung ,Auffanggefäß einer (Destillier)apparatur' und eine gemeinsprachliche , G e f ä ß ' (PR), die unter Einfluß der ersteren sicher ebenfalls noch eine gewisse Nähe zur Fachsprachlichkeit zeigt. Verschiedene sprachliche Anzeichen deuten also darauf hin, dass Hyperonyme wissenschaftlicher Herkunft konzeptuell homogener sind als die auf heterogenen Basiskonzepten aufbauenden gemeinsprachlichen Hyperonyme. Erstere basieren auf wenigen gemeinsamen Merkmalen und werden daher wie die meisten zählbaren Substantive eher singularisch verwendet, während alltagssprachliche Hyperonyme auf mehreren Basiskonzepten beruhen und daher eher im Plural auftreten.

165 4.1.2

Basislexeme in wissenschaftlichen Taxonomien

Bisher wurden vor allem wissenschaftliche Hyperonyme diskutiert, die sich konzeptuell klar von gemeinsprachlichen Hyperonymen unterscheiden. Nun müssen auch fachsprachliche Basislexeme klassisch definierbar sein. So „zerlegt" Linne tatsächlich auch spezifische Konzepte wie ENTE in genus proximum und differentiae specificae: 1 will quote an example from z o o l o g y in which I have divided all animals into six classes, namely, into quadrupeds, birds, amphibia, fish, insects and worms. If a duck should c o m e before me for examination and I pronounce that it is a bird, that is the same thing as though I had said it w a s an animal with two feet and the same number o f wings, and furnished with feathers and down. If an ignorant person requires a further description of the thing before us, I should add that it is of the Goose order [family]; from which single word he should know that it is a broad-footed aquatic swimming animal. (Linnaeus 1737 sec. 2 1 2 zit. in Atran 1990: 254)

Tatsächlich beruhen wissenschaftliche Termini auf allen Generalisierungsebenen auf der Modifikation eines Oberbegriffs durch notwendige und hinreichende Merkmale. Da nun Gestalten wie die der Basiskonzepte sehr stabil und kognitiv überaus günstig sind und Basiskonzepte und -lexeme meist auch schon in der Gemeinsprache etabliert sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass beide Repräsentationen auch in fachsprachlichen Kontexten koexistieren. Die stabilen holistischen Basiskonzepte können sicher nicht durch Definitionen verdrängt werden, zumal die Definitionen auf den unteren Ebenen ungleich länger sind als die der Oberbegriffe (vgl. Wierzbicka 1985: 163), da diese perzeptuell sehr reich sind. Um Basiskonzepte in wissenschaftliche Hierarchien zu integrieren, werden sie sekundär also klassisch definiert. Solche Definitionen sind kurioserweise auch in einsprachigen Lexika zu finden, wo sie eigentlich nichts zu suchen hätten, aber sie sind eben einfacher zu verbalisieren als gestalthafte Konzepte: (6)

fr. cheval [...] Grand mammifere ongule ( h i p p o m o r p h e s ) ä criniere, plus grand que l'äne, domestique par l'homme c o m m e animal de trait et de transport. (PR) 9

Logische Definitionen von Alltagslexemen der Basisebene wirken auf Grund der Bekanntheit dieser Konzepte beim Leser oft „überflüssig, banal, pedantisch" (Kolde 2000: 82). Diese Definitionen können aber der Enttrivialisierung von Konzepten dienen (Kolde 2000: 83-89). Besonders die Zerlegung eines Fachterminus in Merkmale erscheint im Gegensatz zur Merkmalsanalyse gemeinsprachlicher Lexeme der Basisebene nicht redundant, da so wissenschaftlich begründete Merkmale und Vererbungsbeziehungen Teil des Konzeptes werden. Bei der Entstehung von Oberbegriffen werden, wie bereits diskutiert, häufig durch Induktion Eigenschaften der Unterbegriffe oder Individuen extrahiert. Werden nun auch Unterbegriffe logisch über ihre Oberbegriffe definiert, schließt sich der Kreis: Durch den starken Einfluss logischer Hierarchien werden so die eigentlich primären Basiskonzepte in Abhängigkeit von ihren Oberbegriffen definiert. Diese Struktur ist so fest verankert im westlichen Denken, dass sogar Mütter ihren Kleinkindern explizit logische Inklusionsbeziehungen vermitteln, indem sie Erklärungen vom Typ „This is a chair; it is furniture" ge-

9

,Pferd [ . . . ] großes Säugetier mit Hufen ( H i p p o m o r p h e ) , mit Mähne, größer als der Esel, durch den Menschen domestiziert als Zug- und Transporttier.'

166 ben (Callanan 1989: 208). Es handelt sich hier um explizites metasprachliches Wissen, das im Konflikt mit der alltagssprachlichen Konzeptualisierung steht (vgl. Cabre et al. 2001: 178).

4.1.3

Alltagskonzepte in der Wissenschaft

Bisher wurden Alltagskonzepte und Wissenschaftskonzepte als kognitiv gegensätzliche Typen von Konzepten beschrieben, dabei handelt es sich natürlich um eine Idealisierung, denn wissenschaftliches Denken hinterlässt Spuren im Alltag und umgekehrt. Da außerdem formale Prozesse ontogenetisch spät und kulturabhängig sind, ist es nicht verwunderlich, dass primitivere Operationen auch Eingang ins wissenschaftliche Denken finden, oft allerdings eher implizit, da sie gegen logische Prinzipien verstoßen. So werden, wenn keine besonderen Gründe dagegen vorliegen, Konzepte, besonders Basiskonzepte, auch in der Wissenschaft bildhaft repräsentiert, zumindest koexistiert die holistische Repräsentation mit wissenschaftlichen Definitionen: [...] it will be as true of a biologist as of a naive student that the prototypical animal will be handled more efficiently and that when thinking about the category the representation may be of a very concrete example. (Posner 1986: 57)

So können exakte Definitionen mit bildlichen Repräsentationen wie Prototypen oder Basiskonzepten, die der raschen Identifikation von Individuen dienen, kombiniert werden. Die Definition wird dabei vor allem in Zweifelsfällen und bei theoretischer Reflexion eingesetzt. Viele Konzepte besitzen also eine duale Struktur. Selbst Wissenschaftlern fallt es im Übrigen oft schwer, ihr Wissen propositional-logisch zu erläutern, so dass es in Expertensysteme eingebaut werden kann (Cabre et al. 2001: 175). Räumliche Beziehungen als Verdeutlichung abstrakter Beziehungen liegen auch Ordnungsprinzipien in botanischen Gärten, Katalogen und Museen zugrunde, die zu Beginn der Neuzeit maßgeblich an der Ordnung der Fakten beteiligt waren (vgl. Gingras et al. 2000: 173, 292-295). Zur einfacheren kognitiven Verarbeitung logischer Strukturen tragen sicher auch die Darstellungsformen hierarchischer Beziehungen in Baum- und Venndiagrammen bei. Kognitiv primitiver als die sauber hierarchisch definierten Individuativa sind auch viele wissenschaftliche Kollektiva. So sind Pluraliatantum Teil biologischer Nomenklaturen, wie z.B. fr. bovides wiederkäuende Paarhufer', cacties ,Kakteen', passereaux ,Sperlingsvögel' (PR) oder sp. betuläceos ,Birkengewächse', bovidos ,Rinder' (MOL). In biologischen Taxonomien ist die Pluralität fest an höhere Generalisierungsebenen gebunden. Alle lateinischen botanischen Bezeichnungen über dem Genus sind Pluralformen (Zander 162000: 11, 17, 26f.). Dasselbe gilt für zoologische Taxonomien: (7) Phylum: Klasse : Ordnung : Familie: Genus : Species :

Vertebrata ( Wirbeltiere) Mammalia ( Säugetiere) Carnivora ( Fleischfressende Säugetiere) Felidae ( Katzentiere) Felis ( Katze) Felis domesticus ( Hauskatze) (Störig 3 1965: 336)

167 Innerhalb der biologischen Taxonomie nimmt der Gattungsname eine Sonderstellung ein. Es handelt sich um ein großgeschriebenes singularisches einfaches Substantiv, während der Artname binär ist, z.B. Canis lupus, der der Subspezies trinomial, z.B. Canis lupus lupus. Beide stimmen im grammatischen Geschlecht mit dem der Gattung überein, falls sie von Adjektiven abgeleitet sind (Zander l 6 2000: 17, 26f.). Im Deutschen sind außerdem auch neuere Taxa höherer Ebenen, z.B. Insekt und Reptil, häufig Neutra, die so die konzeptuelle Vagheit der oberen Generalisierungsebene reflektieren (Zubin/Köpcke 1986: 163). Die Nomenklaturen enthalten auch zahlreiche lexikalische Reflexe von Prototypen und Basiskonzepten, z.B. im Prinzip der Benennung nach einem Typen. In botanischen Taxonomien werden die Taxa durch Typen, also Mitgliedskategorien oder Exemplare/Spezimen, zusätzlich gestützt und stabilisiert: Der Typus des Namens einer Art oder eines infraspezifischen Taxons ist ein einzelnes Exemplar oder eine Abbildung, mit folgender Ausnahme: Bei kleinen krautigen Pflanzen und bei den meisten Nicht-Gefäßpflanzen kann der Typus aus mehreren Individuen bestehen, die zusammen auf einem Herbarbogen oder in einem entsprechenden Präparat (z.B. Kapsel, Schachtel, Flasche, mikroskopisches Präparat) dauernd aufzubewahren sind. [...] Der Typus des Namens einer Gattung oder einer Gattungs-Unterabteilung ist der Typus eines Artnamens. Für die Bezeichnung und das Zitieren eines Typus ist der Artname allein ausreichend, d. h. er wird als vollwertiges Äquivalent seines Typus betrachtet. (Zander l6 2000: 15) Namen von Taxa oberhalb des Familienranges sind automatisch typisiert, wenn sie auf Gattungsnamen gegründet sind (Zander 16 2000: 16). Typen erlauben auch die Prüfling etablierter Taxonomien und deren Modifikation, falls neue Eigenschaften des Typus bekannt werden. Durch dieses Verfahren werden Taxa höherer Generalisierungsebenen also durch Spezimen und Unterbegriffe gestützt, d. h. der Oberbegriff beruht nicht nur auf dem Ergebnis des Merkmalsextraktions- und Vergleichsprozesses, sondern auch auf der (perzeptuellen) Basis dieser Prozesse. Dieses Verfahren zeigt, dass viele Oberbegriffe auf mehreren Unterbegriffen begründet sind, bei alltagssprachlichen Begriffen durch die Konjunktion der ganzen Gestalten, bei wissenschaftlichen Oberbegriffen durch die Extraktion einzelner Eigenschaften aus den Unterbegriffen. Häufig werden höhere Taxa nach typischen Unterbegriffen benannt, es handelt sich hierbei um ein sehr altes Verfahren: Les Romains ont, dans le sillage des Grecs, classe les animaux en especes {genus, genera) [...] Chaque espece est designee par un animal-type: le cheval, le boeuf, le chien, le loup etc., et c'est par rapport ä ce referent generique que sont classes et decrits les differents representants de l'espece, en vertu du principe de similitudo, ressemblance. (Biville 1997: 59) 10 Heute noch finden wir Benennungen auf der Basis des Typus (s. auch Cruse 1986: 195, Fußnote 4):

10

,Die Römer haben, in den Fußstapfen der Griechen, die Tiere in Arten eingeteilt (genus, genera) [...] Jede Art wird von einem Typus-Tier bezeichnet: das Pferd, das Rind, der Hund, der Wolf u.s.w., und in Bezug auf diesen generischen Referenten werden die verschiedenen Vertreter der Arten eingeteilt und beschrieben, kraft des Prinzips der similitudo, Ähnlichkeit.'

168 (8)

bovides [...] Familie des mammiferes (artiodactyles), dont le genre type est le bceuf, comprenant les bovins, les ovins et les antilopes. (PR) 11

Wissenschaftliche taxonomische Relationen werden womöglich außerdem metaphorisch als Teil/Ganzes-Relationen aufgefasst (vgl. Waltereit 1998: 24), vielleicht auch unter Einfluss der Metakonzeptualisierung durch Eulerdiagramme (Peter Koch, pers. Mitteilung). Häufig ist es also nicht möglich, wissenschaftliche Hyperonyme und alltagssprachliche Hyperonyme konzeptuell streng voneinander zu trennen. Die Wissenschaften sind durchsetzt mit kognitiven Alltagsstrategien, unser Alltag ist gleichzeitig stark von logischen Prinzipien geprägt. Dennoch ist es natürlich wichtig, zwischen wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Hyperonymen zu unterscheiden.

4.2

Die sprachliche Fixierung wissenschaftlicher Konzepte

Wissenschaftliche Begriffe entstehen durch bewusste Kategorisierungsprozesse. Sie sind nur schwer ganzheitlich speicherbar, da sie auf linkshemisphärischen Prozessen beruhen (Klix 1984: 18, 23). Sie können meist mithilfe von Merkmalslisten und der Beschreibung von Entdeckungsprozeduren definiert werden. Diese Definitionen sind naturgemäß nicht einfach zu memorisieren. Nun müssen jedoch diese Begriffe festgehalten und konzentriert werden, damit die Bedeutung nicht immer neu hergeleitet werden und expliziert werden muss (Jahr 1993: 18).12 Fundamental ist hierbei sicher das Erarbeiten einer Definition, die nicht mehr unbedingt die Entdeckungsprozeduren enthalten muss. Die konzeptuelle Festlegung durch eine eindeutige Definition ist zwingend für Termini (Jahr 1993: 17). Fachausdrücke fixierten schon im Gelehrtenlatein der Renaissance neue Begriffe, „die durch Definition, d. h. durch die Zusammenfassung komplizierter Gedankenfolgen nach ihren wesentlichen Merkmalen, endgültig fixiert sind" (Olschki 1922; 1965: 74). Je kompakter die Definition ist, desto besser kann eine Definition erlernt und behalten werden. Relativ kompakte Definitionen tauchen denn auch häufiger in Textbüchern als in Forschungsartikeln (Swales 1981: 107 zit. in Cabre et al. 2001: 184) oder zum Beispiel in Fachlexika auf: (9)

animal. Cada uno de los componentes del reino Animalia, constituido por organismos heterötrofos, que, ademäs de realizar otras fiinciones vegetativas, poseen coordination nerviosa y pueden realizar movimientos por propio impulso. Comprenden los invertebrados y los vertebrados. (VCT s.v. animat)u

" ,Rinderartige [...] Familie der Säugetiere (Paarhufer), deren Typusgattung das Rind ist, das Rinder, Schafe und Antilopen umfasst.' 12 Werden bestimmte Konzepte häufig gebraucht, so ist es ökonomischer, sie zu speichern - beim kleinen Einmaleins speichert man meist die Resultate. Beim großen Einmaleins wird eher ein Algorithmus verwendet (Klix 1984: 11). 13 ,Tier. Jeder der Komponenten des Tierreichs, das aus heterotrophen Organismen besteht, die neben der Realisierung anderer vegetativer Funktionen nervliche Koordination besitzen und sich aus eigenem Antrieb bewegen können. Sie umfassen die Wirbellosen und die Wirbeltiere.'

169 Durch das Erlernen und das schriftliche Festhalten von Definitionen können so auch flüchtige Oberbegriffe fixiert werden. Die (schriftliche) Stabilisierung wissenschaftlicher Konzepte durch Definitionen bezahlt man jedoch meist mit einem Verlust der Entdeckungsund Denkprozeduren, die zu dem Ergebnis geführt haben. Die Prozesshaftigkeit der Erkenntnissuche, die sich z.B. im wissenschaftlichen Dialog äußert, geht hier verloren, andererseits können komplexe Konzepte aber nur so zumindest teilweise in ihrer Komplexität bewahrt werden: Mündliche Dialoge teilen mit allen im Medium der Oralität verfaßten Texten die Vergänglichkeit. Kaum gesprochen, sind sie verschwunden. Was bleibt, ist bestenfalls die Erinnerung an Resultate. Das Ergebnis vernichtet den Prozeß wie Wittgensteins Leiter, die, wenn sie ausgedient hat, weggeworfen werden kann. Die schriftliche Fixierung verleiht Permanenz. Paradoxerweise ist es also nur im Medium der Schrift möglich, den Prozeß zu bewahren, der die Lebendigkeit des mündlichen Austausches ausmacht, einen Prozeß, der sich ohne die Schrift verflüchtigen würde. (Schlieben-Lange 1989a: 7)

Von großer Bedeutung für die Fixierung ist die Formseite. Konzepte können je nach Typ durch Abbildungen, geometrische Darstellungen, Diagramme oder auch mathematische oder chemische Formeln ausgedrückt werden. Gerade in der Chemie koexistieren oft mehrere Arten von „Etiketten" (Pörksen 1977: 150f.). Diese Art der Materialisierung bildet meist wichtige Eigenschaften der Referenten ab und kann darüber hinaus zum Erkenntnisgewinn beitragen. Nichtsprachliche Etiketten haben allerdings deutliche Nachteile bei der Kommunikation, vor allem der mündlichen Kommunikation. Je besser und detaillierter die Abbildung ist, desto sperriger ist sie auch bei der Übermittlung. Hier befinden wir uns also in der Zwickmühle zwischen genauestmöglicher Abbildung und Kommunizierbarkeit. Bilder können mündlich außerdem nur indirekt durch Umschreibungen wiedergegeben werden. Obwohl es konzeptuell also oft keinen Grund gibt, wissenschaftliche Konzepte zu versprachlichen, sind es praktische Gründe, die die Versprachlichung verlangen. Fachsprachen bilden also nicht nur Begriffe, sondern fixieren sie, akkumulieren sie, operieren mit ihnen und machen Konzepte kommunizierbar (Ammon 1977: 83 zit. in Pöckl 1990: 268). Besonders effiziente kompakte Kommunikations- und Speichereinheiten sind dabei Lexeme. Die sprachliche Form spielt hier eine wichtige Rolle, wie Beobachtungen aus der Psycholinguistik zeigen. Bei Abstrakta und unbekannten Lexemen ist der Zugriff eher formgelenkt, während Konkreta und sehr geläufige Substantive von Versuchspersonen eher bedeutungsgelenkt repräsentiert und verarbeitet werden (Bleasdale 1983: 192, 197, Bleasdale 1987, Chaffin 1997). Neben der Definition ist es also auch einfach der Signifikant, der den flüchtigen konzeptuellen Inhalt fixieren hilft. Sprachliche Etiketten fordern die Bildung von chunks, d. h. von Informationsbündeln. Besonders geeignet sind hierfür Substantive, da diese syntaktisch und semantisch autonomer und stabiler sind als andere Wortarten und daher besonders gute Lexikoneinheiten sind. Substantive sind außerdem innerhalb des Lexikons extrem flexible Kategorien, die im Unterschied zu Verben und Adjektiven die verschiedensten Konzepte ausdrücken können - und sie können problemlos modifiziert werden und vielfältige Positionen im Satz einnehmen. Gerade Substantive reifizieren und bündeln Sachverhalte. Sie stellen also gute „Behälter" für wissenschaftliche Konzepte dar. Die Bedeutung der Substantive im Wissenschaftsbereich spiegelt sich auch im ausgeprägten Nominalstil von Fachsprachen. Substantive wirken dabei ähnlich verkürzend wie Platzhalter in Gleichungen. Bereits in der sensualistischen Philosophie wurde festgestellt, dass

170 Fachsprachen die Ergebnisse von Abstraktionsprozessen festhalten, mit denen mithilfe der Termini dann weitere „Berechnungen" angestellt werden können, ohne jedes Mal die Herleitung nachzuvollziehen (s. Haßler 1998a: 76). Die konzeptuell schwer speicherbaren wissenschaftlichen Hyperonyme werden so durch ein sprachliches Etikett fixiert und kommunizierbar gemacht. Allerdings werden sie nur konserviert, solange sie durch ein wissenschaftliches Umfeld gestützt werden. Viele abstrakte Termini des Lateinischen gehen daher im Vulgärlateinischen verloren (Stefenelli 1992: 47-51). Im Abendland fand die Wissenschaft erst wieder in den ab 1200 neu gegründeten Universitäten ihren Platz, die bald zu den intellektuellen Zentren Europas wurden (Gingras et al. 2000: 123-126). Durch die Wiederbelebung antiken Wissens tauchten antike Termini in mittellateinischen Schriften wieder auf, es entwickelten sich mittellateinische Fachsprachen. Lateinische Fachbegriffe wurden im Lauf der Zeit teilweise in die Volkssprachen übernommen (vgl. Briesemeister 1996: 102). Später entwickelten sich zunehmend volkssprachliche Fachsprachen, die alte lateinische oder griechische Termini entlehnten oder aber bei neuem Wissen und neuen Konzepten neue Termini schufen. Eine bewusste systematische Terminologisierung ist v. a. seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten und wurde beispielsweise von Forschern wie Lavoisier und Linne vorangetrieben. Dieser Prozess wird seit Wüster (s. 3 1991) von Organen der terminologischen Standardisierung gesteuert, um die Internationalität und Systematizität der Termini zu garantieren (Cabre 1999: 1-6). Die sprachliche Form, die sozusagen als Behälter für das Konzept dient, kann dabei auf verschiedene Art und Weise entstehen. Sehr häufig werden Termini, die in einer Fachsprache noch nicht versprachlicht, in einer anderen jedoch schon vorhanden sind, entlehnt. Mit der Entstehung der Wissenschaft in der griechischen Antike entstanden auch wissenschaftliche Fachtexte und Fachtermini. Die griechische Wissenschaft war Vorbild für Rom, weshalb gelehrte Termini über griechische Gelehrte und Fachtexte nach Rom gelangten und teils entlehnt, teils übersetzt wurden. Griechische Lehnwörter sind z.B. lat. Organum ,Werkzeug' (DHLF s.v. organe) und lat. mächina ,Maschine' (DHLF s.v. machine), Lehnübersetzungen sind z.B. Individuum I n d i viduum', das gr. atomos ,unteilbar' übersetzt (DHLF s.v. individu), evtl. auch animal, das gr. zöon ,Lebewesen, Tier' übersetzt (DHLF s.v. animal). Die Wissenschaft und mit ihr die Wissenschaftssprache gingen mit dem weströmischen Reich in den meisten Teilen Europas unter. Als im Mittelalter das Interesse für die Wissenschaften wieder auflebte, schöpfte man zunächst aus dem erhaltenen antiken Erbe - sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts erlebte das Mittellatein der Scholastik eine Blüte, es entwickelte sich zur Wissenschaftssprache (Briesemeister 1996: 102). Zahlreiche Termini wurden vom klassischen Latein ins Mittellatein übernommen. Zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert begann die Verschriftung der Volkssprachen, die Entwicklung volkssprachlicher Fachsprachen und damit die Latinisierung dieser verschrifteten Volkssprachen (Raible 1996: 127f.). Zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert fand in den meisten Fachbereichen der Übergang vom Lateinischen zu den volkssprachlichen Wissenschaftssprachen statt (Guiraud 1968: 10f.), besonders technische Werke entstanden zunehmend in den Volkssprachen. Mit dem Humanismus begann eine Zeit der intensiven Übersetzung und damit auch der Entlehnung in die neuen volkssprachlichen Wissenschaftssprachen (Raible 1996: 127). Durch Relatinisierung entstand ein gelehrter abstrakter Wortschatz (s. Stefenelli 1983). Da das Lateinische lange Zeit noch lebendig war und auch stark in die nationalen

171

Wissenschaftssprachen einfloss, entstand ein gewisser Gewöhnungseffekt, wodurch Latinismen sehr leicht übernommen wurden (Olschki 1922; 1965: 67f., Fußnote 2, 301). Später, v. a. im 18. Jahrhundert, wurde auch von einer nationalen Wissenschaftssprache in die andere entlehnt. Im Spanischen stammen in dieser Zeit Termini oft aus dem Französischen, später auch dem Englischen (Schmitt 1992: 311). Als die Wissenschaftssprache Latein durch die Volkssprachen abgelöst wurde, spielte die Entlehnung also eine zunehmende Rolle. Allerdings gab es hier einzelsprachliche Unterschiede. Während in den romanischen Sprachen und im Englischen lateinische Formen übernommen wurden, wurden sie im Deutschen häufig übersetzt. Daher entstanden im Deutschen viele Lehnprägungen. Seit dem 17. Jahrhundert wurden konkrete Vorschläge zur Eindeutschung gemacht, um dem Volk die Wissenschaft näherzubringen (Roelcke 1999: 180f.). Wolff schaffte bewusst neue Kunstwörter; so wurde Ding als Entsprechung von lat. ens eingesetzt (Haßler 1998b: 324f.). Den Latinismen in den romanischen Sprachen stehen so Lehnprägungen im Deutschen gegenüber. So finden wir beispielsweise heute noch fr. animal neben dt. Tier, fr. objet neben dt. Gegenstand (zunächst Gegenwurf) (Pörksen 1999: 643). Dadurch bekommen deutsche Lexeme wie Zeit, Raum, Ort spät abstrakte Bedeutungen. Lehnprägungen sind typisch für Wissenschaftssprachen, da sie hauptsächlich bei schriftlichen bzw. distanzsprachlichen Kontakten entstehen (Lüdtke 1968: 92). In den meisten romanischen Sprachen findet man hier dagegen Latinismen wie fr. temps ,Zeit', espace ,Raum', sp. tiempo ,Zeit', espacio ,Raum' (vgl. Lüdtke 1968: 35f.). Heute dominieren in den meisten Sprachen wissenschaftliche Entlehnungen aus dem Englischen. Eine Besonderheit der wissenschaftlichen Lehnwörter ist die, dass sie im Gegensatz zu Entlehnungen in die Gemeinsprache eher Fremdwörter bleiben, da sie sich durch die normativen Kräfte in der Wissenschaft phonologisch und morphologisch schwächer an die Empfangersprache anpassen (vgl. auch Bustos Tovar 1974: 24). Lehnwörter haben jedoch zahlreiche Vorteile gegenüber anderen Verfahren. Im Gegensatz zu Wortbildungsprodukten handelt es sich häufig um Simplizia, außerdem ist meist schon an der Form zu erkennen, dass es sich nicht um ein Wort der Gemeinsprache handelt, was bereits von Oresme beobachtet wurde (s. Oresme: Les Ethiques en franqoys. Excusation et commendation, zit. in Chavy 1988: 1023). Da Latinismen beim Sprecher eher keine Assoziationen wecken, ist es leichter, sie künstlich mit einer Definition zu verbinden (vgl. Pörksen 1999: 654). Der Nachteil von Lehnwörtern ist, dass sie im Wortschatz eher isoliert sind und durch ihre phonologische und morphologische Fremdheit schwerer zu lernen und zu behalten sind. Allerdings wird dieser Umstand gemildert durch die schiere Menge an Latinismen, Gräzismen und heute auch Anglizismen, so dass man hier von einem gewissen Gewöhnungsgrad ausgehen kann und v. a. im Spanischen die lautliche Abweichung bei Latinismen außerdem sehr unauffällig ist. Eine weitere Quelle für Fachbegriffe sind Alltagsbegriffe, die eine neue fachsprachliche Bedeutung bekommen. Entsteht ein wissenschaftliches Konzept in einer Wissenschaftssprache neu, z.B. in den Anfangen der Wissenschaft in Griechenland oder auch bei der Entstehung der modernen abendländischen Wissenschaft mit ihren zahlreichen neuen Erkenntnissen und Konzepten, so kann nicht einfach ein Terminus entlehnt werden. Oft werden dann bestehende Lexeme der Wissenschaftssprache oder der Gemeinsprache gewählt und bekommen eine neue Bedeutung. So werden häufig Alltagswörter terminologisiert. Diese Art von Bedeutungswandel ist durch außersprachliche Faktoren bedingt und muss vom natürlichen lexikalischen Bedeutungswandel, d. h. der Lexikalisierung (s. 1.5), unter-

172 schieden werden. Gerade Metaphern eignen sich besonders zur Schaffung neuer Termini, da sie abstrakte Begriffe veranschaulichen können und unter Umständen sogar einen Hinweis auf den Erkenntnisprozess enthalten. Ein Beispiel für eine solche Metapher ist gaz, bei dem es sich nicht wie häufig angenommen wird um eine völlige Neuschöpfung handelt, sondern eine bewusste Metapher, die von van Helmont (1577-1644) wohl aus gr. chaos geschaffen wurde (vgl. Garcia Font 5 1973: 286f., Stefenelli 1981a: 234). Ein Fall metonymischen Wandels ist die Entstehung von fr. article und sp. articulo Handelsartikel' aus ,Listenposition' (z.B. einer Rechnung, s. DHLF s.v. article). Die chemischen Termini fr. metal und sp. metal stammen aus dem lat. metallum ,Mine, Substanz, die beim Bergbau gewonnen wird', das wiederum eine griechische Entlehnung ist (DHLF s.v. metal). Ein unauffälliger Typ von Metonymie ist die Verwandlung von Kollektiva in Individuativa bei der Terminologisierung, so wird aus dem überwiegend kollektiven lat. mstrümentum ,Ausrüstung, Werkzeug' das zählbare fr. instrument und sp. instrumenta .Instrument' (DHLF, OLD). Besonders wichtig für die Bildung wissenschaftlicher Oberbegriffe ist jedoch die Bedeutungserweiterung. In den bisherigen Kapiteln wurde gezeigt, dass in Gemeinsprachen Fälle von Bedeutungsverengung von der Basisebene abwärts hin zu Prototypen, aber auch von Hyperonymen zu Basiskonzepten, zu beobachten sind. Hierbei handelt es sich um natürliche, rein gemeinsprachliche Lexikalisierungsprozesse. Bedeutungserweiterung ohne morphologischen Wandel beobachtet man in der Gemeinsprache zwischen prototypischen Unterbegriffen zu Basiskonzepten, nicht darüber (Blank 2001b: 88, s. auch Blank 1997: 386). Auch bei diesen Fällen taxonomischen Wandels handelt es sich in der Regel um Lexikalisierungsprozesse, die typischere Lexeme schaffen. In der Gemeinsprache pendelt sich durch Lexikalisierung der Generalisierungsgrad vieler Konkreta auf der Basisebene ein. Pörksen stellt nun fest, dass Spezialisierung auch bei der Entstehung von Fachtermini eine wichtige Rolle spielt: Als Termini technic! erfahren die Wörter der Gemeinsprache eine „Spezialisierung der Bedeutung durch Verengung des Umfangs und Bereicherung des Inhalts" - nach Hermann Paul ist dies die „erste Hauptart" des Bedeutungswandels und „eines der gewöhnlichsten Mittel der Schaffung technischer Ausdrücke". (Pörksen 1977: 151)

Als Beispiele nennt er Freudsche Begriffe wie Abwehr und Verneinung, die von generischeren alltagssprachlichen Substantiven abgeleitet wurden (Pörksen 1977: 151). Pörksen stellt umgekehrt bei der Übernahme von Termini in die Gemeinsprache eine häufige Erweiterung der Extension fest, da die Sprecher meist nur eine oberflächliche Kenntnis der terminologischen Bedeutung besitzen (Pörksen 1986: 215). Betrachtet man allerdings Hierarchien von Konkreta, stellt man fest, dass die Erweiterung auch bei der Schaffung neuer Fachtermini relevant ist. So bemerkte bereits Breal, dass die Bedeutungserweiterung außersprachlich bedingt zu sein scheint:

173 L'elargissement du sens est la contre-partie de ce que nous venons d'observer. On peut etre surpris de voir deux mouvements en sens contraire exister simultanement. Mais il faut prendre garde que la cause, des deux parts, n'est pas de m e m e sorte: tandis que la restriction tient, c o m m e on l'a vu, aux conditions fondamentales du langage, l'elargissement a une cause exterieure: il est le resultat des evenements de l'histoire. (Breal 71924: 117) 1 4

Die Tatsache, dass die Bedeutungserweiterung bei Terminologisierungsprozessen oft übersehen wird, liegt vielleicht an der Unauffalligkeit des Verfahrens. So entwickelt sich vermutlich durch Einfluss der Rechtssprache fr. gain von landwirtschaftlicher Ertrag' zu , Ertrag', lat. pecunia , Viehreichtum' zu ,Reichtum', ebenfalls durch Terminologisierung spatium ,Rennbahn, Arena' zu ,Fläche' 1 5 (Breal 7 1924: 118ff., DHLF s.v. gagner, espace). Sehr unauffällig, aber extrem häufig ist die Bedeutungserweiterung von alltagssprachlichen Tierbezeichnungen auf der Ebene der Spezies zu höheren wissenschaftlichen Taxa auf der Ebene der Familie (vgl. Gevaudan 1997: 9f., Staib 1995). Hier bewegen wir uns noch im Bereich der Basisebene: (10)

fr. chatlsp. gato ,Hauskatze' —> .Mitglied der Familie der Katzen' (MOL, PR)

Auffalliger sind dagegen Fälle der Bedeutungserweiterung oberhalb der Basisebene: (11)

ger. deuza .wildes Tier'

(12)

lat. planta

dt. Tier ,Tier' ( E W D , Koch 1995: 32)

.Schößling, Setzling' - > scholast. lat. planla

.Pflanze' (DHLF, O L D )

Sehr wahrscheinlich sind die meisten Fälle der Bedeutungserweiterung oberhalb der Basisebene, durch die Lexeme für TIER oder P F L A N Z E entstehen (vgl. Berlin 1992: 194f.), durch wissenschaftlichen oder zumindest normativen Einfluss entstanden. Beispielsweise ist Quechua (Cochabamba) sach 'α ,Pflanze' von sach 'a ,Baum' eine relativ neue Bedeutung. Saami rassi .krautige Pflanze' (< Norwegisch gress ,Gras') wird manchmal auch als Bezeichnung für ,Pflanze' verwendet (Anderson 1986: 212). Allgegenwärtig ist die Bedeutungserweiterung alltagssprachlicher Substantive durch Terminologisierung auch bei chemischen Substanzen. So erfahren die alltagssprachlichen Substantive fr. sei ,Salz' (PR), sp. sal ,Salz', fr. sucre .Zucker' (PR) und sp. azücar .Zucker' (MOL) eine Bedeutungserweiterung auf ,chemische Verbindung aus einem Säurerest und einem Metall' bzw. .niedrig-molekulares Kohlehydrat'. Zur Desambiguierung in fachlichen Kontexten entstehen dann für die älteren spezifischeren Bezeichnungen Syntagmen wie fr. sei commun und sei ordinaire .gewöhnliches Salz' oder Komposita wie Kochsalz. Daher gibt es zahlreiche Dubletten von fachsprachlichen Hyperonymen und gemeinsprachlichen Basislexemen (vgl. Bustos Tovar 1974: 102-106), da durch die Terminologisierung häufig über Bedeutungserweiterung Hyperonyme entstehen, gemeinsprachliche Lexeme aber zur Lexikalisierung tendieren, durch die maximal typische Substantive, d. h.

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.Die Bedeutungserweiterung ist das Gegenstück zu dem, was wir soeben beobachtet haben. Es ist vielleicht überraschend zu sehen, dass zwei gegenläufige Entwicklungen gleichzeitig existieren. Aber man muss beachten, dass der Grund der beiden Arten unterschiedlicher Natur ist: während die Verengung wie wir gesehen haben von grundsätzlichen sprachlichen Gegebenheiten verursacht wird, hat die Erweiterung eine äußere Ursache: sie ist das Ergebnis historischer Ereignisse.'

15

Umgekehrt entwickelte sich sp. ganado

.Ertrag' zu .Vieh', ein Fall von Lexikalisierung (DCECH).

174 Basislexeme, entstehen. Die semantischen Unterschiede haben Parallelen in der Phonologie, denn alltagssprachliche Lexeme erfahren eine stärkere Veränderung durch Lautwandel (Bustos Tovar 1974: 91, Lüdtke 1998: 507). Aus lat. planta ,Setzling' wird durch Terminologisierung mlat. planta ,Pflanze', das in die Volkssprachen übernommen wird, z.B. sp. planta und fr. plante oder it. pianta. Durch erbwörtliche Tradierung entstehen dagegen sp. Hanta ,Kohl' 16 , Venezianisch piantela, pianton ,Pappel-/Weidensteckling', Lombardisch pianta ,Baum' und ähnliche dialektale Varianten, aber auch it. pianta ,Baum', z.B. pianta di ciliegio ,Kirschbaum' (FEW s.v. planta und plantare, GEUI s.v. pianta, Maddalon 1998: 461). Aus lat. animal wird über die Fachsprache der Biologie sp. animal und fr. animal ,Tier', erbwörtlich dagegen aus lat. animalia das heute veraltete fr. aumaille ,Vieh' und sp. alimana ,große schädliche Tiere' (vgl. Bustos Tovar 1974: 330, MOL), afr. armal junges Rind', ,Stier', almaille ,Hornvieh', aumaille ,Großvieh' (DHLF s.v. aumaille, LDAF s.v. almaille). Gemeinsprachliche Bedeutungen niedrigerer Generalisierungsebenen sind hier auch in vielen französischen Dialekten zu beobachten (s. FEW s.v. animal). Aus lat. bestia wird auf gelehrtem Weg fr. bete und halbgelehrt sp. bestia ,Tier' in Kontrast zu ,Mensch', wie auch schon im Lateinischen 17 (DCECH, OLD). Erbwörtlich wurde daraus fr. biche ,Hirschkuh' (DHLF s.v. bete), auch im Spanischen gibt es volkstümlichere Formen, nämlich sp. bicho ,kleines Tier' oder abwertend ,Tier, dessen Namen man nicht weiß' und andalusisch bicha ,Schlange', ein tabubehaftetes Tier (DCECH s.v. bicho, MOL s.v. bicho, bicha).n Lat. bestia wurde immer wieder aufs Neue entlehnt, daher finden sich hier zahlreiche Abstufungen „von mehr oder weniger stark redressierten formen" (FEW s.v. bestia). Eine interessante Parallelentwicklung findet sich bei der Entstehung der Bezeichnung fur TIER in germanischen Sprachen. Germ. *deuza ,wildes Tier' wird fachsprachlich erweitert zu dt. Tier sowie erbwörtlich spezialisiert auf eng. deer ,Hirsch, Reh, Rotwild' (s. Koch 1995: 32). Bedeutungsgeneralisierung oberhalb der Basisebene dient also in der Regel der Schaffung von wissenschaftlichen Hyperonymen (s. auch Berlin 1972: 59). Bei der Lexikalisierung, also der Entstehung und Konventionalisierung gemeinsprachlicher Lexeme, besteht dagegen eine große Attraktion der Basisebene. Der Vorteil des Bedeutungswandels für die Etikettierung fachlicher Konzepte besteht darin, dass die Form häufig durch die alltagssprachliche Bedeutung auf den Inhalt des Terminus schließen lässt. Es handelt sich außerdem meist um Simplizia, d. h. um gute kurze Etiketten, deren vertraute Form leicht behalten werden kann. Der Nachteil ist dabei, dass Simplizia nicht die Komplexität des Konzepts reflektieren und dass außerdem die Gefahr

16

17

18

Die populäre Form Hanta ist in den Siete Partidas ebenfalls in der Bedeutung .Pflanze' belegt (Siete Partidas III, xxviii, 41 zit. in DCECH s.v. planta), blieb aber nur mit der populären Bedeutung ,KohP erhalten. Offensichtlich wurde die Korrelation der gemeinsprachlichen Bedeutung mit der an die Gemeinsprache angepassten Form hier gefestigt. Lat. bestia bezeichnete Tiere ohne Menschen, auch Vögel, Insekten und Fische, hatte aber auch eine engere Bedeutung ohne Vögel (OLD). Sp. vestiglo bedeutete im Fuero Juzgo ,Reptil', dialektal auch ,Viper' parallel zu bicho. Bestia bedeutete schon ab dem 5. Jahrhundert,Viper' (DCECH s.v. bestia, Spitzer 1993: 114f.).

175 der Verwechslung mit der verwandten alltagssprachlichen Bedeutung besteht und der Begriff daher wegen scheinbarer Vertrautheit nur halb oder falsch verstanden wird. Neben Entlehnung und Bedeutungswandel eignen sich auch Wortbildungprozesse zur Erzeugung neuer Fachtermini, denn es handelt sich hierbei um systematische Prozesse, die Reihen durchsichtiger Lexeme erzeugen können. Dadurch können neue Termini analog zu bestehenden Termini gebildet werden, besonders stark eingesetzt wird dieses Verfahren in der chemischen Nomenklatur. Hier können gemeinsprachliche, aber auch spezielle fachsprachliche Wortbildungsverfahren auftreten (Zwanenburg 1983). In der Neuzeit wurden durch Analyse bei einer gewissen Anzahl von Lehnwörtern lateinische Wortbildungsverfahren wieder lebendig bzw. es entstanden neue Verfahren, z.B. ab dem 14. Jahrhundert fr. -ation und -isme (Lüdtke 1998: 513ff.). Häufig erfahren Suffixe dabei eine Bedeutungsspezialisierung, z.B. fr. -ite auf die Bildung von Bezeichnungen für Krankheiten, abgeleitet von arthrite ,Arthritis' und nephrite ,Nierenentzündung', analog wurde z.B. bronchite ,Bronchitis' gebildet. Lavoisier bildete analog zu dem Mineral fr. pyrite ,Pyrit' weitere Mineralienbezeichnungen auf -ite (Guiraud 1968: 83). Manchmal werden auch Simplizia analysiert, aus alcool (< arab. al kuhul) wird das Suffix -ol abgeleitet (Grevisse/Goosse 13 1993: 219). Die gelehrte Wortbildung wird zu einer der wichtigsten Quelle für neue Fachbegriffe (s. auch Lüdtke 1998: 513ff.), besonders ab dem 18. Jahrhundert, wobei die Chemie Modell stand (Schlieben-Lange 1993: 324). Der Nachteil dieser Substantive besteht meist darin, dass es sich morphologisch und phonologisch um lange und komplexe Lexeme handelt, die schwer zu behalten und zu kommunizieren sind. Dem können vor allem bei Syntagmen Abkürzungen Abhilfe schaffen, die dann allerdings weniger durchsichtig sind, denn Wortbildungsprodukte haben den Vorteil, zumindest einen Teil der konzeptuellen Komplexität in der Form zu reflektieren. Sie können außerdem ganze Reihen bilden und durch das Affix, das häufig dem semantischen Kopf entspricht, auch auf übergeordnete Konzepte hinweisen, ohne dass diese durch Lexeme versprachlicht sein müssen.

4.3

Die Entterminologisierung fachsprachlicher Entlehnungen

Besonders in der Lexik unterscheiden sich Fachsprache und Gemeinsprache und ihre Varietäten ganz grundsätzlich in ihrer Semantik (Schlieben-Lange/Kreuzer 1983: 7f.). Fachwörter sind präziser und kontextautonomer als gemeinsprachliche Lexeme und beruhen vor allem auf logischen Operationen (vgl. Fluck 5 1996: 47, 175). Während nämlich typische gemeinsprachliche Konkreta wie z.B. Lexeme der Basisebene und darunter, aber auch Kollektiva, auf gestalthaften und daher stabilen und einfach zu memorisierenden Bedeutungsrepräsentationen basieren, legen die Definitionen bei fachsprachlichen Konzepten eine kompositionale, analytische Bedeutungsrepräsentation nahe, die eher schwer zu erlernen und zu behalten ist. Es erfordert zumindest bei Laien einen gewissen Aufwand, solche Konzepte zu memorisieren. Termini und alltagssprachliche Lexeme unterscheiden sich daher semantisch deutlich und daher sind auch Fachsprachen nicht einfach Varietäten des Diasystems einer Sprache,

176 denn Lexeme unterschiedlicher diasystematischer Markierung referieren meist auf dieselben Konzepte. So haben fr. cheval ,Pferd' und canasson ,Gaul, Klepper' dieselben Referenten, sind aber diasystematisch unterschiedlich markiert (Blank 1997: 65). Verschiedene Varietäten stellen also vielfaltige Ausdrücke für ein und dasselbe Konzept zur Verfugung (Gipper 1979: 128), während wissenschaftliche Termini inhaltlich von Alltagslexemen abweichende Konzepte versprachlichen. Hier finden wir von alltagssprachlichen Konzepten semantisch abweichende Konzepte wie z.B. fr. perissodactyles Unpaarhufer' (PR). Die Kluft zwischen Fachsprache und Gemeinsprache ist nur mithilfe inhaltlicher Vermittlung zu überbrücken, während Varietäten eines Diasystems bzw. gemeinsprachliche Varietäten zweier Diasysteme einfach übersetzt werden müssen (Wichter 1994: 250). Coseriu grenzt Fachsprachen von der Gemeinsprache ab und schließt Fachtermini zunächst von lexematischen Untersuchungen aus, da sie seiner Meinung nach zum Bereich der Sachen, nicht der Sprache gehören, und explizit konventionell sind (Coseriu 1978: 202, Coseriu 1987).' 9 Durch die konzeptuellen Unterschiede zwischen Fachwörtern und Alltagswörtern ist der Prozess der Entterminologisierung alles andere als ein einfacher Entlehnungsprozess. Zahreiche Termini werden und wurden in die Gemeinsprache übernommen. Da jedoch erhebliche semantische Barrieren bestehen, müssen beim Sprachkontakt hier im Unterschied zu anderen Situationen der Entlehnung bestimmte Bedingungen erfüllt sein, falls es zu einer Übernahme eines Terminus in die Gemeinsprache kommen soll. Die Übernahme von Termini in die Gemeinsprache erfolgt meist nur bei genügend intensivem Kontakt, bei dem neben den Signifikanten auch die wissenschaftlichen Konzepte, die sich ja semantisch von den Alltagskonzepten unterscheiden, mit übernommen werden. Die wissenschaftlichen Inhalte müssen für eine kritische Masse von Sprechern von Bedeutung sein. Besonders relevant sind Rechtsprechung und Medizin für den Alltag der Laien, heute vor allem auch die Bereiche Technik und Informatik. Neben diesen unmittelbar für den Laien interessanten Bereichen spielt besonders der systematisch vermittelte Stoff der Schulen und Universitäten eine große Rolle, aber auch das private Interesse an wissenschaftlichen Themen, wie beispielsweise Gentechnik oder Kernenergie (s. auch Jung 1999). Die Übernahme erfolgt in der Regel durch die Vermittlung intermediärer fachsprachlicher Varietäten, z.B. der angewandten Wissenschaft und Technik, der Produktion, also auch des Handwerks, und des Konsums, einer vertikalen Struktur, die die Kluft zwischen der Sprache der theoretischen Grundlagenwissenschaften, in der in der Regel neue Erkenntnisse und damit neue Fachbegriffe entstehen, und der Gemeinsprache überbrückt (Pöckl 1990: 268f.). Die einzelnen Stufen übernehmen dabei nur für sie relevante Konzepte, die bei der vertikalen Übernahme

19

Allerdings unterscheidet Coseriu auch die eher volkstümlichen Bereiche des Handwerks, der Landwirtschaft und biologische Klassifikationen v. a. auf Speziesebene generell von natürlichsprachlichen Strukturen, da diese Klassifikationen seiner Ansicht nach Nomenklaturen sind, deren Begriffe durch wissenschaftliche Definitionen oder Bilder beschreibbar sind (Coseriu 1978: 204f.). Das heißt, gerade die typischen Basislexeme würde Coseriu als außersprachlich bedingte Begriffe betrachten. Diese Einschätzung beruht womöglich auf der Intuition, dass hier eher universelle, kognitiv basierte Strukturen als einzelsprachliche Lösungen zu finden sind. Wie in den vergangenen Kapiteln gezeigt wurde, handelt es sich hierbei jedoch um zentrale Lexeme, außerdem bestehen wichtige konzeptuelle Unterschiede zwischen wissenschaftlichen Taxonomien und gemeinprachlichen Hierarchien.

177 auch qualitativ verändert werden, an Komplexität verlieren und häufig veranschaulicht und emotionalisiert werden. Das Ausmaß und die Art der Übernahme ist von einer Reihe soziokultureller Bedingungen abhängig. Oft dauert es sehr lange, bis neue Fachwörter Eingang in die Gemeinsprache finden. Die entlehnten Fachwörter sind dabei meist nicht auf demselben Stand der Forschung wie die Termini der Fachsprachen (Schmitt 1992: 306). Fachwörter, die in die Gemeinsprache integriert wurden, werden meist als gelehrte Wörter oder Kultismen bezeichnet. Kultismen können nicht nur veraltete Wissensbestände reflektieren, häufig sind sie auch sehr kurzlebig: [...] one of the characteristic features of typical learned words is their distinctly shorter lifespan than that of the bulk of the lexis. (Malkiel 1995: 63) Soll sich ein Kultismus dauerhaft etablieren, ist eine gewisse Beständigkeit des Kontakts zwischen Wissenschaft und Alltagsbereich Voraussetzung. Meist breiten sich entlehnte Fachwörter im Diasystem der Gemeinsprache von den distanzsprachlichen Varietäten ausgehend aus (vgl. Oesterreicher 2001). Im Mittelalter war die Bildung und selbst die Alphabetisierung das Monopol der geistlichen Welt, der Klöster, so war der Kontakt der Fachsprachen mit der Gemeinsprache sehr begrenzt. In dieser Zeit verlief der Kontakt zwischen Fachsprache und Gemeinsprache oft mündlich, da nur wenige Menschen alphabetisiert waren. Durch die rein mündlichen Übernahmen wurde die Aussprache der frühen Kultismen von Anfang an bis zu einem gewissen Grad romanisiert. Diese Entlehnungen werden als halbgelehrte Wörter bezeichnet. In diesem Kontext wurden z.B. sp. bestia oder visüa ,(wildes) Tier' entlehnt (Bustos Tovar 1974: 71 f.). Zur Popularisierung von Fachwissen trugen im Mittelalter bald auch Übersetzungen und enzyklopädische Überblickswerke bei, die so genannten Summen (Roelcke 1999: 168). In Spanien spielt Alfons der Weise und seine Übersetzerschule eine bedeutende Rolle für die Wissensverbreitung (Bustos Tovar 1974: 49). Von Anfang an besteht auch ein besonders enger Kontakt zwischen der Rechtsbzw. Kanzlei- und Verwaltungssprache und den Gemeinsprachen, hier fanden auch schon früh die Volkssprachen Einzug (Pöckl 1990: 273). Viele Kultismen und Semikultismen aus Recht und Ökonomie gelangen so in die Gemeinsprache, z.B. sp. causa ,Grund', articulo .Artikel' (Bustos Tovar 1974: 114). Auch die Medizin nahm eine Vorreiterolle bei der Übernahme von Termini in die Gemeinsprache ein (Pöckl 1990: 273). Im 12. und 13. Jahrhundert wurden zahlreiche lateinische Fachtermini in die französische Gemeinsprache entlehnt, im Spanischen etwas später und teilweise unter französischem Einfluss (Stefenelli 1983: 890f.). Diese Entlehnungen waren allerdings nicht immer von Dauer. Animal ,Tier' taucht als Hapax legomenon im 12. Jahrhundert in Frankreich auf. Es ist im Mittelalter noch selten und gelehrt (DHLF). Animal ,Tier' taucht im Spanischen im 13. Jahrhundert auf (DCECH s.v. alma, Stefenelli 1992: 211, Fußnote 31). Die Termini sp. planta und fr. plante ,Pflanze' entstanden dagegen erst im Latein der Scholastik (DCECH, DHLF), ebenso sp. vegetal und fr. vegetal,Pflanze' (DCECH s.v. vegetal und planta, DHLF). Albertus Magnus erkannte die Existenz des Pflanzenreiches und schuf die neue Bedeutung des lateinischen Lexems planta, das ursprünglich , Setzling' bedeutete. Im Lateinischen gab es hingegen noch kein Substantiv für P F L A N Z E (DHLF). Ende des Mittelalters war eine verstärkte Verbreitung und Vulgarisierung von praktisch relevantem Fachwissen festzustellen (Guiraud 1968: 21). Ein Indikator fur die Integration sind z.B. Glossare im Mittelfranzösischen (Stefenelli 1981b: 313ff.). Zunehmend wurden

178 nun lange Periphrasen zur Definition angegeben, nicht einfach näherungsweise Angaben etwa entsprechender volkssprachlicher Lexeme (Stefenelli 1981b: 318f.), d. h. die neuen wissenschaftlichen Konzepte wurden zunehmend inhaltlich genauer übernommen. Im Humanismus kam es zu einer wahren Flut fachsprachlicher Entlehnungen in der Gemeinsprache (Stefenelli 1981b: 313f., 1992: 211). Das Bildungsmonopol des Klerus wurde schwächer, in den Städten entstand eine bürgerliche Gelehrtenschicht (Roelcke 1999: 174), die Alphabetisierung nahm zu, Schulen wurden ausgebaut, und die Bildung wurde insgesamt einer breiteren Schicht der Bevölkerung zugänglich (van Dülmen 1982: 293-306). Besonders der entstehende Buchdruck trug maßgeblich zu einer verstärkten Verbreitung und Vulgarisierung von Wissen bei. Ab der Renaissance wurden daher viele mittelalterliche Kultismen erst vollständig in die Gemeinsprache integriert. Manche Fachbegriffe, die im Mittelalter vereinzelt in den Volkssprachen auftauchten, wurden dauerhaft eingeführt, so wies noch Oresme im 14. Jahrhundert darauf hin, dass es im Französischen noch keine Bezeichnung für TIER im biologischen Sinn gibt, animal fasst erst im 16. Jahrhundert im Französischen Fuß (DHLF, Stefenelli 1981b: 326, 1992: 211, Fußnote 31). Auch im Spanischen taucht animal erst im 13. Jahrhundert auf (DCECH s.v. alma). Das halbgelehrte Wort sp. planta ist seit dem 15. Jahrhundert wieder im Spanischen dokumentiert (DCECH). 1560 erscheint fr. vegetal im Französischen, um 1600 taucht das gelehrte vegetal im Spanischen auf, nachdem es in Texten des 15. Jahrhunderts als Hapax dokumentiert wurde (DCECH, DHLF). Im 17. und 18. Jahrhundert nahm die Vulgarisierung des Wissens in Europa stetig zu. Ende des 17. Jahrhunderts entstand die Populärwissenschaft, da die Wissenschaften immer komplexer wurden, ihre Relevanz für den Alltag der Laien jedoch wuchs. Im 19. und 20. Jahrhundert erreichte die Divulgation durch die Einführung der Schulpflicht und die wachsende Wissensverbreitung durch die Presse auch breitere Bevölkerungsschichten (Ciapuscio 1993: l f „ Jung 1999: 194-198, Roelcke 1999: 179f.). Auch bei gewissenhafter Vermittlung an Laien werden allerdings Wissensbestände verändert. Dabei geht die Prozesshaftigkeit, Widersprüchlichkeit und Lückenhaftigkeit der wissenschaftlichen Erkenntniswege in der Regel verloren. Aus didaktischen Gründen wird bei der Vermittlung das Wissen als sicheres abgeschlossenes Wissen dargestellt, im Lehrbuch häufig losgelöst vom Erkenntnisweg als festes Ergebnis. Lehrbuchwissen ist meist autoritär (vgl. Jacobi 1987: 33f., Schlieben-Lange 1989a: 6ff.), die Wissenschaftlichkeit geht bei der Vermittlung an ein nicht wissenschaftlich geschultes Publikum zwangsläufig verloren (Jacobi 1987: 33). Besonders wichtig bei der expliziten Vermittlung von Termini ist die Definition, während bei weniger systematischer Vermittlung häufig ein ungefähres gemeinsprachliches Äquivalent eines Terminus angegeben wird (s. auch Jacobi 1987: 6770). Bei systematischer Vermittlung werden meist klassische Definitionen eingesetzt, die auf dem genus proximum und den differentiae specificae des zu definierenden Begriffs beruhen. Allerdings werden die Definitionen hier vereinfacht und an den Wissensstand des Laien, z.B. des Schülers, angepasst. Diese Definitionen werden vom Laien vor allem im Schulkontext häufig mühevoll auswendig gelernt, in populärwissenschaftlichen Texten sind sie dagegen eher verpönt (s. auch Ciapuscio 1993: 80, Niederhauser 1999: 143f.). Verkürzte, vereinfachte Definitionen finden sich häufig auch in gemeinsprachlichen Wörterbüchern. Definitionen bleiben also meist auf den Schulkontext beschränkt, denn obwohl die explizite Definition konzeptuell am saubersten ist, erscheint sie umständlich und durch das Evozieren des Schulkontextes wirkt sie auf Laien häufig oberlehrerhaft (Niederhauser

179 1999: 143f.), daher werden außerhalb des Schulkontextes bei der Wissensvermittlung eher implizite Erklärungen, z.B. durch Beispiele, Bilder, Referenten, die metaphorische Verwendung von Alltagswörtern oder die „Übersetzung" in die Gemeinsprache, bevorzugt (Ciapuscio 1993: 80, 125). Vereinfachte Definitionen verändern die Intension eines Fachworts meist eher geringfügig. Daher sind auch viele entlehnte Termini der Gemeinsprache noch häufiger im Singular zu finden (s. Abb. 31 und 32). Dadurch, dass der Kontakt zwischen Wissenschaftssprache und Gemeinsprache gerade im Schulkontext stabilisiert ist und die Termini oft äußerlich als solche erkennbar sind, sind diese Lexeme bei der Integration in die Gemeinsprache noch wissenschaftlich markiert. Oft werden Definitionen im Schulkontext auswendig gelernt, dabei entsteht metasprachliches Wissen, besonders metasprachliche lexikalische Relationen hyponymischer Natur, da klassischerweise über ein genus proximum definiert wird. Eine weitere Folge der Vermittlung von Termini, besonders von Hyperonymen oberhalb der Basisebene, ist die Einschränkung der Extension, 20 da nicht alle im Fachbereich bekannten Unterkategorien auch dem Laien vertraut sind. Die Extension wissenschaftlicher Hyperonyme ist häufig sehr weit und besonders marginalere Referenten sind oft schwer zu bestimmen bzw. sind nicht gleichermaßen häufig oder vertraut. Im biologischen Bereich kennen Laien z.B. in der Regel nur einigermaßen saliente heimische Lebewesen oder solche, die im Zoo zugänglich und ohne technische Hilfsmittel wahrnehmbar sind. Und so finden sich folgende semantische Einschränkungen bei der Übernahme in die Gemeinsprache: (13)

animal BIOL [ . . . ] 1. Dans l'usage, le subst. animal s'emploie surtout en parlant des organismes pluricellulaires complexes [...]. (GRLF) 2 1

(14)

Planta [...] Vegetal. ® En lenguaje corriente, solo se da este nombre a los vegetales superiores, ο sea, provistos de raiz, hojas, etc. ( M O L ) 2 2

Bei der Übernahme von Fachwörtern in die Gemeinsprache entsteht daher häufig eine Diskrepanz zwischen Intension und Extension, d. h. die übermittelte Definition legt eine weitere Extension fest, als dem Laien bekannt ist.

20

Daneben kann auch das Gegenteil der Fall sein, die Extension kann bei der Popularisierung aufgrund nur oberflächlicher Kenntnis erweitert werden. Dies beobachtet man z.B. bei psychologischen Begriffen w i e Komplex, ,Funktion', systeme

Trauma

.System', aspect

oder Verdrängung, ,Aspekt', structure

aber auch Begriffen wie fr.

fonclion

,Struktur' (Pörksen 1977: 151 f., Pöckl

1990: 279). Auffällig ist bei diesen Beispielen, dass es sich nicht um Konkreta handelt. Hier greifen bei der Entterminologisierung eventuell andere Mechanismen als bei Konkreta. 21

,animal BIOL [ . . . ] 1. im Gebrauch wird das Subst. animal vor allem für mehrzellige komplexe Organismen gebraucht.' Die Einschränkung der Extension in der Gemeinsprache ist nicht zu verwechseln mit der heute in der Biologie verbreiteten Einteilung der Lebewesen in fünf Phyla, bei der Einzeller nicht mehr zum Phylum der Tiere gerechnet werden (Margulis/Schwartz 1989: 11).

22

,planta [...] Pflanze. ® In der Alltagssprache wird diese Bezeichnung nur für höhere Pflanzen verwendet, also solchen mit Wurzel, Blättern etc.' Diese Bedeutung findet sich bereits im Mittelalter, w o planta todo arbol.

und arbol kontrastiert werden, z.B. asp. e non mejora

en esta tierra toda planta

nin

,In diesem Boden gedeiht weder jede Pflanze noch jeder Baum' (Anonimo (1300): Tra-

tado de Agricultura

de Ibn Bassal,

CORDE).

180 Zunächst sind entlehnte Fachwörter meist noch semantisch sehr nahe an den wissenschaftlichen Termini und sind dementsprechend auch konnotiert, zumal der Kontakt zu Fachsprachen meist dauerhaft besteht. Häufig ist daher ein ständiges „reborrowing" bei Interferenz mit der Gebersprache zu beobachten (vgl. Haugen 1972: 94). Durch die Schulbildung werden bestimmte Termini jeder Generation neu vermittelt, dadurch bleibt der enge Kontakt zu den Wissenschaften erhalten und die Integration von Kultismen in die Gemeinsprache, d. h. der Verlust der fachsprachlichen Markierung, wird hinausgezögert.

4.3.1

Basislexeme und Kategorisierungskonflikte

Werden Hyperonyme, die hier hauptsächlich untersucht werden sollen, in die Gemeinsprache integriert, treffen sie auf gemeinsprachliche kognitiv günstige, da bildhaft repräsentierte, Basislexeme, die selbst in wissenschaftlichem Kontext nur schwer in Merkmale zu zerlegen sind. Durch Erlernen der Hyperonyme kann es jedoch dazu kommen, dass Basislexeme zusätzlich zu ihrer alltagssprachlichen Bedeutung per Definition metasprachlich fachsprachlichen Hyperonymen zugeordnet werden, typischerweise in der Form einer Prädikation vom Typ „x ist ein y". So muss die Tatsache, dass Wale Säugetiere sind, explizit gelernt werden. Unbekannte (meist fachsprachliche) Basislexeme werden in der Alltagssprache häufig sogar nur über einen Oberbegriff definiert, so stößt man z.B. auf Aussagen vom Typ Das ist eine Pflanze, aber ich kenne sie nicht (Kleiber 1994b: 244). Durch diese metasprachliche Anknüpfung an Hyperonyme entsteht so auch in der Gemeinsprache eine enge Verbindung der einzelnen Basislexeme an ein fachsprachliches Hyperonym. Dies erklärt vermutlich auch die Beobachtung von Wisniewski/Imai/Casey (1996), wonach zählbare Hyperonyme, die, wie bereits gezeigt wurde, häufig wissenschaftlicher Herkunft sind oder unter wissenschaftlichem Einfluss entstanden sind, eher semantisch Teil eines Basislexems sind als die gemeinsprachlichen Kollektiva. So elizitiert dog häufiger animal als umgekehrt, da eine Proposition vom Typ „a dog is an animal" gespeichert wurde (Miller/Johnson-Laird 1976: 249). Hyponyme elizitieren häufiger Hyperonyme als umgekehrt (vgl. Miller/Johnson-Laird 1976: 249f.). Die metasprachliche Relation ist dabei der alltagssprachlich-konzeptuellen Relation, bei der Hyperonyme durch mehrere heterogene Basiskonzepte repräsentiert werden, genau entgegengesetzt. Die metasprachliche Komponente fachlichen Ursprungs kann so durch die Wissensvermittlung an Laien ein Teil eines Basislexems werden. Diese verbale Information unterscheidet sich dabei qualitativ deutlich vom gemeinsprachlichen konzeptuellen Gehalt, der stark bildlich geprägt ist. Für die Unterscheidung sprechen auch Beobachtungen bei Sprachstörungen, bei denen die bildhaft-konzeptuelle Bedeutung gestört ist, nicht aber metasprachliche Informationen. Ellis/Young (1997: 27-59) stellen mehrere Untersuchungen zu diesem Problem vor. So konnte ein Patient, dessen Kontur/Formerkennung geschädigt war, keine Gegenstände erkennen. Er konnte Hyperonyme angeben, z.B. daffodil als „some kind of flower" und hammer als „some kind of tool" identifizieren, aber er verwechselte Konzepte derselben Generalisierungsebene, z.B. ESEL mit PFERD oder H U N D mit KATZE. Er konnte also vor allem die Zugehörigkeit von Objekten zu Oberbegriffen bestimmen. Besonders Konkreta wie z.B. geese, die er definiert als „an animal but I've forgotten precisely" oder needle („forgotten"), konnte er nicht gut definieren, wohl aber eher seltene Abstrakta, z.B. pact („friendly agreement").

181

Durch die Anbindung eines Basislexems an ein integriertes, aber noch fachsprachlich markiertes Hyperonym kann es zu Kategorisierungskonflikten kommen, wenn auch gemeinsprachliche Oberbegriffe vorliegen. Ein Indikator für die fachsprachliche Markierung und die Autorität der wissenschaftlichen Kategorisierung und den Konflikt mit einer gemeinsprachlichen Klassifizierung ist die mögliche Verwendung von Heckenausdrücken wie z.B. streng genommen besonders bei marginalen Subkategorien. Heckenausdrücke wie im weitesten Sinne dienen dagegen häufig der Rechtfertigung des Verstoßes gegen die Gricesche Maxime der Qualität bei einer nicht (mehr) als korrekt empfundenen Zuordnung zu alltagsprachlichen Hyperonymen (s. auch Kay 1997: 136-158, Taylor 21995: 79). Beispielsweise besteht traditionell23 eine Beziehung zwischen sp. ballena ,Wal' zu pez ,Fisch' (interessanterweise einem Basislexem), eine gelehrte Beziehung besteht dagegen zu S ä u getier', streng genommen ist also ein Wal ein Säugetier. Von der Alltagskategorisierung künden noch Komposita wie dt. Walfisch oder afr. craspois ,fetter Fisch' —• ,Wal' (LDAF), denn noch bis ins 17. Jahrhundert wurde der Wal als Fisch betrachtet, obwohl bereits Aristoteles Wale als Säugetiere identifiziert hatte (Garcia Font 51973: 86). Die bildliche Repräsentation von Wal veränderte sich dabei nicht, nur die metasprachliche Einordnung (s. Lyons 1995: 93). Interessant ist hier die Tatsache, dass nie erwähnt wird, dass auch Fisch eigentlich keinem biologischen Taxon entspricht, sondern eine lose Gruppierung aus vier biologischen Klassen darstellt, so dass auch Fisch heute ein eher alltagssprachlich adaptierter Begriff ist (Burnie 2001: 460). In der ersten Phase der Integration von Termini in die Gemeinsprache kommt es also häufig zu doppelter Klassifikation. In diesem Stadium ist das Hyperonym meist noch an Fachtexte oder fachliche Kontexte gebunden.

4.3.2

Verlust der Fachsprachensemantik und Arbeitsteilung

Die wenn auch konzeptuell und extensional vereinfachten entlehnten Fachwörter sind zunächst meist noch Fremdwörter, d. h. als Fachwörter markiert. Der Status als inhaltlich vermitteltes Fremdwort geht allerdings verloren, wenn der Kontakt zur Wissenschaft abbricht, wenn beispielsweise auf individueller Ebene Schulwissen vergessen wird oder populärwissenschaftlich vermittelte Termini inhaltlich nicht mehr gestützt werden. Man kann sich also vorstellen, dass die oben diskutierte erste Phase unter Umständen extrem kurzlebig ist. Das genaue wissenschaftliche Konzept verwischt sich sehr schnell und wird zu etwas Halbverstandenem (vgl. Pörksen 1999: 662). Viele Kultismen schwanken so individuell und auf der Ebene der Sprachgemeinschaft, je nachdem, wie eng die Anbindung des Terminus an das Fachwissen bleibt. Viele Termini setzen sich nie außerhalb der Schule durch. Fachwörter aus Bereichen, mit denen man sich nach der Schulzeit nicht mehr beschäftigt, sind zwar noch geläufig, dem Nichtchemiker z.B. Säure oder Base, die genaue Definition hat man jedoch nicht mehr parat. Die Phase der vereinfachten Übermittlung kann sogar übersprungen werden, denn häufig werden Termini erst gar nicht konzeptuell halbwegs korrekt vermittelt, da der Kontakt nur

23

Im Mandarin enthält das Schriftzeichen für den Wal ein Radikal mit der Bedeutung ,Fisch' (Malherbe 1995: 93).

182 flüchtig ist und keine Vermittlung im eigentlichen Sinn stattfindet. Die Vermittlung von Fachwissen über Medien, Gespräche etc. finden relativ ungesteuert statt. Da Definitionen sehr aufwendig sind, werden diese meist nicht übernommen. Termini werden implizit eingeführt, oft in Versatzstücken, unsystematisch und punktuell ohne größere Wissenszusammenhänge. Die Bedeutung von Fachwörtern wird dabei häufig nur sehr vage über den Kontext erschlossen, trotzdem werden Fachwörter manchmal bei wiederholter Rezeption übernommen (Jung 1999: 211, Wichter 1994: 243f.). Dabei handelt es sich nicht selten um halbverstandene Schlagworte. Dies gilt besonders fur die Vermittlung über Medien und private Gespräche (Jung 1999: 194-198). Übernommen werden solche Termini häufig aus Prestigegründen. Ohne Definitionen und die Einbettung in größere Wissenszusammenhänge bleiben diese Substantive nun aber äußerst bedeutungsarm: Es liegt prinzipiell das gleiche Phänomen vor wie bei jeder ungenügenden Erlernung einer Sprache, bei der aus wenigen Verwendungskontexten eine - zu allgemeine, möglicherweise falsche Bedeutung extrapoliert wird. In diesem speziellen Fall kommt hinzu, daß die Wissenschaftssprachen ein besonders hohes Prestige haben und daß sie grundsätzlich anders konstruiert sind als die Alltagssprache: in ihnen erhalten die Wörter ihre Bestimmtheit durch die Definition innerhalb eines definiten Theorierahmens. Geraten sie in die Alltagssprache, verlieren sie den Theoriekontext, der sie sichert: sie werden vage wie die Alltagswörter, denen um 1800 in Frankreich j a allgemein inditermination vorgeworfen wird. Während aber die Wörter der Alltagssprache in ihrem normalen Funktionieren gerade nicht vage bleiben, weil das Weltwissen, das Textwissen und das Sprachwissen ihre Interpretation absichern, bleiben die naturwissenschaftlichen Termini in der Alltagssprache sozusagen „nackt", weil keinerlei traditionelle Wissensbestände die Grenzen ihrer Verwendbarkeit markieren. Sie werden zwar einerseits vage im Gegensatz zu ihrem terminologischen Ursprung, behalten aber ihre Kontextfreiheit und bleiben als traditionslos und feldneutral den Sachen und den Texten fremd. (Schlieben-Lange 1989b: 135).

In diesem Prozess der Entterminologisierung sind nun verschiedene semantische Szenarien vorstellbar. Verlieren Kultismen auf den unteren Generalisierungsebenen die konzeptuelle Basis, so kennt man häufig nur noch ihre Position in einer Taxonomie im Verhältnis zu einem Hyperonym: [...] eben so kan es Wörter geben, durch welche etwas würckliches angedeutet wird, davon wir keinen klaren und deutlichen Begrif haben, ob sie uns zwar nicht unbekandt sind. Z. E. Das Wort Luchs bedeutet ein Thier, welches den Jägern nicht unbekandt, auch wegen seines scharfen Gesichtes beschrien ist. Viele wissen das Wort, haben aber keinen klaren, geschweige denn einen deutlichen Begrif davon. (Wolff 1713; 1965: 154 zit. in Wichter 1994: 75)

Solche Substantive können nicht eigenständig referieren. So kann mein privater Begriff von Ulme der sein, dass es sich um eine Baumart handelt, die aber nur der Experte kennt (vgl. Putnam 1975: 226-230), d. h. das Hyperonym ist bekannt, das Konzept selbst auf der Basisebene bzw. der untergeordneten Ebene ist nur vage bestimmt, daher sind Aussagen wie fr. C 'est une plante, mats je ne la connais pas ,Es ist eine Pflanze, aber ich kenne sie nicht' (Kleiber 1994b: 244) durchaus an der Tagesordnung. Handelt es sich dagegen um einen Kultismus auf der übergeordneten Ebene, so sind häufig nur einige Referenten bekannt, nicht aber die Intension, d. h. Sprecher können mit einem Kultismus der oberen Generalisierungsebenen referieren, obwohl die Intension nicht vollständig bekannt ist:

183 Die Wissenschaftswörter erfahren beim Übergang in die Alltagswelt häufig eine Bedeutungserweiterung, eine Erweiterung des Umfangs und Verarmung des Inhalts. Oder sie behalten ihren Anwendungsbereich und werden kontextadäquat eingesetzt, der Inhalt erscheint aber als nebulöser bzw. weißer Fleck und kann im Zweifelsfall nicht definiert werden. Die Ausdrücke werden zum ,Pseudobegriff im Sinne Wygotskis. Ihre .dynamis' liegt im Assoziationshof: sie signalisieren Wissenschaftlichkeit [...] (Pörksen 1986: 215)

So kann man sich in dieser Phase im Falle von fr. vegetal, das sich vermutlich für viele Sprecher in diesem Stadium befindet, die folgende mentale Repräsention vorstellen:

(ist ein vegetal) Abb. 33:

(ist ein vegetal)

Sprachliche Arbeitsteilung bei Expertenkategorien oberhalb der Basisebene

Das Hyperonym besitzt keine Intension und ist lediglich über seine Beziehungen zu Hyponymen bekannt, die wiederum metasprachlich zusätzlich zu ihrer bildlichen Repräsentation über das Hyperonym definiert sein können. Bei solchen bedeutungsleeren Hyperonymen stellt sich die Frage, welchen Nutzen sie fiir die Sprecher besitzen. In der Tat verschwinden in dieser Phase viele Kultismen, besonders auf den unteren Generalisierungsebenen, da solche Hyponyme ja nicht mehr referieren können. Allerdings bleiben viele solcher inhaltlich vagen Exfachwörter besonders der oberen Generalisierungsebenen überraschenderweise in der Gemeinsprache bestehen. Der Grund dafür ist unter anderem deren Status als Expertenkategorie. Sie sind nach wie vor fachsprachlich markiert, oft weist auch ihre Form darauf hin, dass es sich um Latinismen, Gräzismen etc. handelt. So weiß der Laie, dass sp. vegetal ,Pflanze' ein gelehrter, botanischer Terminus ist (vgl. DCECH). Diese Kultismen zeigen an, dass zumindest in den Fachsprachen eine Definition vorhanden sein muss, die man „nachschlagen" kann. Solche Konzepte wurden von Putnam als Expertenkategorie bezeichnet, hier findet eine sprachliche Arbeitsteilung zwischen Laien und Experten statt (Putnam 1975: 227ff.). Will ein Laie die korrekte Extension einer solchen Expertenkategorie bestimmen, muss er den Experten befragen. Dieses Stadium ist in den Wörterbüchern nicht dokumentiert, da die normbewussten Wörterbücher hier häufig wissenschaftliche Definitionen angeben, auch wenn sie den Sprechern in der Regel nicht bekannt sind. Für den Laien sind solche Lexeme wie leere Etiketten bzw. Eigennamen (vgl. Cruse 1986: 195f., Fußnote 4) ohne eigene Intension. Sie werden häufig im Diskurs durch eine kurze Pause markiert (Niederhauser 1999: 134f.), so werden vermutlich Experten „zitiert". Dieser Effekt wird bei der Schaffung pseudowissenschaftlicher Termini in der Werbung gezielt eingesetzt, z.B. bei Begriffen wie probiotisch (Janich 1999: 147f.). Da hinter derartigen

184 wissenschaftlich klingenden Ausdrücken, die schon ausdrucksseitig Wissenschaftlichkeit suggerieren (Gipper 1979: 133f., Janich 1999: 142), Expertenwissen vermutet wird, wird auf diese Art und Weise Vertrauen ins Produkt erzeugt (vgl. Gipper 1979: 139). Pseudofachsprachlich sind z.B. Pflegevitamin, 12-Stunden-Feuchtigkeitsdepot, Multi-Actif AntiCapiton, R-Vincaline Plenitude Revell-A3 (Janich 2 2001: 161f.) oder sp. bioalcohol,formula lipo-activa, liposomas sistema osmo-activo (Ferraz Martinez 4 2000: 46). Diese Pseudotermini werden in der Werbung bezeichnenderweise nie bzw. selten erklärt (Janich 1999: 148). In dieser Phase der Entterminologisierung haben Kultismen so ihnen eigene pragmatische Funktionen, allerdings dienen sie häufig nicht mehr in erster Linie der typischen Substantivfunktion, nämlich der Referenz. Insgesamt handelt es sich hier um sehr instabile Lexeme, da sie nur begrenzt einsetzbar sind.

4.3.3

Völlige Integration der Fachwörter in die Gemeinsprache

Auch wenn Expertenkategorien in der Gemeinsprache ihre wissenschaftlich geprägte Intension verloren haben, sind sie zunächst dennoch mit Fachsprachen verbunden, da sie noch fachsprachlich markiert sind. Völlig in die Gemeinsprache integriert sind sie erst dann, wenn sie nicht mehr fachsprachlich markiert sind. Dies kann geschehen, wenn der Kontakt mit Experten abbricht wie beispielsweise in der Epoche des Unterganges des weströmischen Reichs, als antikes Wissen verloren ging und damit die Verbindung zu Fachsprachen. Da in solchen Situationen die Möglichkeit der Expertenbefragung wegfallt, kann es geschehen, dass das zunächst markierte Lexem aufgrund fehlender lexikalischer Bedeutung ganz verschwindet. Im Vulgärlateinischen gehen tatsächlich zahlreiche Abstrakta wie z.B. dementia ,Sanftmut' oder memoria .Gedächtnis' unter (Stefenelli 1992: 47). Sollen sie bestehen bleiben, müssen sie eine eigene Intension erlangen. Neben der Möglichkeit der exakten Bestimmung der Extension durch Experten bilden sich Sprecher der Gemeinsprache nun eine Arbeitshypothese für den Gebrauch und die Bedeutung von Lexemen, die so genannten Stereotypen (Putnam 1975: 230). Diese beruhen häufig auf kognitiv primitiveren wahrnehmungs- oder situationsgebundenen Merkmalen, die bei ungesteuerter flüchtiger Übernahme von Fachwörtern oder auch bei Entterminologisierung inferiert werden. Die Folge ist die „letztendliche Preisgabe oder aber die Umspeicherung und Ablage in bequemeren, aber problematischen oder falschen Formen" (Wichter 1994: 244). Dieses sehr stereotype, anschauliche, aber fachlich unkorrekte Wissen des Sprechers wird beim Verschwinden der fachsprachlichen Markierung zur alleinigen sprachlichen Bedeutung eines früheren Fachworts: Käme es (wenn ein Gedankenexperiment angestellt werden darf) dazu, daß man die Experten irgendeines Faches aus der Gesellschaft hinwegzaubern könnte, und verbliebe Laien die ihnen gewohnte Semantik, dann hätte man mit dem Expertenexodus den Laien nichts von ihren Inhalten, d. h. eben nichts von ihren Bedeutungen genommen. (Wichter 1994: 72, Fußnote 5)

Im Falle von Lexemen spezifischerer Generalisierungsebenen würde bei Unkenntnis der Referenten, beispielsweise bei Ulme, hier vermutlich nur die Bedeutung bestimmter sommergrüner Laubbaum' oder bei Molybdän ,bestimmte Sorte Metall' übrig bleiben (Putnam 1975: 230). Spezifischere Substantive sind daher besonders vom Verschwinden bedroht, da sie meist keine reichere stereotypische Bedeutung gewinnen können. Abstrakta werden

185 dagegen häufig sehr vage, wie beispielsweise die ursprünglich psychologischen Termini Komplex, Trauma oder Element (vgl. Pörksen 1977: 154), oder aber sie erhalten eine anschauliche Bedeutung (Stefenelli 1992: 47ff). Bei konkreten Hyperonymen ist die Stereotypenbildung nun im Unterschied zu ursprünglich fachsprachlichen Hyponymen, deren Extensionen oft nicht bekannt sind, relativ einfach, da sie mehrere (meist bekannte) Hyponyme auf der Basisebene besitzen. Basiskonzepte werden automatisch von Referenten extrahiert, hier greift also einfach das Referenzprinzip (Detges/Waltereit 2002: 156). Aus dem opaken Behälter des wissenschaftlichen Hyperonyms in Abb. 33 wird ein transparenter Behälter, dessen Inhalt sichtbar ist, die Extension bleibt also dieselbe, die Intension wird nun von der Extension abgeleitet (vgl. auch Chur 1993: 56f.). Die logischen Begriffe in Wygotskis Sinn, die auf einzelnen Merkmalen beruhen, bahnen sich so zunächst auf der Ebene der Extension einen Weg zu den Dingen und werden zu Pseudobegriffen, indem die Intension nun auf einer Gruppe heterogener bildhafter Basiskonzepte aufbaut (vgl. Wygotski 1934; 1993: 253f.). Aus schwer zu memorisierenden analytischen fachsprachlichen Konzepten werden nun stabile, bildhafte Konzepte. Dies ist gerade bei den diskutierten Hyperonymen fr. plante ,Pflanze' und animal ,Tier' und den spanischen Entsprechungen der Fall. Fr. plante und animal werden in der Gemeinsprache auf der Grundlage von Basiskonzepten konzeptualisiert. Sie besitzen dann genau dieselbe konzeptuelle Basis wie die aus Kollektiva hervorgegangenen Hyperonyme. Sie beruhen auf einer Disjunktion von Basiskonzepten, besitzen also Anklänge an eine kollektive Bedeutung. Generell wird außerdem im Lauf der Zeit die Extension noch etwas vereinfacht bzw. eingeengt, so dass die Familienähnlichkeit der Basiskonzepte zunimmt. Die Intension wird also mit Hilfe von kognitiv vorteilhafteren, da bildlichen Basiskonzepten besetzt. Aus dem „dictionary word" wird so ein „object word", das im Unterschied zum Fachterminus nicht über die Sprache definiert wird, sondern vom Zeigen auf Referenten abgeleitet ist (vgl. Russell 1940: 62f., s. auch Lyons 1995: 83). Nun ist auch dieses Stadium in den Lexika schwer nachzuweisen, da hier in der Regel wissenschaftlich gefärbte Definitionen einer wissenschaftlich nicht korrekten gemeinsprachlichen Bedeutungsangabe vorgezogen werden. Manchmal werden jedoch zusätzlich Hyponyme der Basisebene als Beispiele angegeben. Im folgenden Beispiel ist le regne vegetal ,Pflanzenreich' eine Umschreibung von plantes ,Pflanzen' (man beachte die Pluralform!), spätestens bei der Angabe der Beispiele arbres, arbustes, herbes ,Bäume, Sträucher, krautige Pflanzen' weiß der Benutzer, was gemeint ist: (15)

plante [...] Lesplantes:

le regne vegetal (arbres, arbustes, herbes, etc.) (PR)

Das effiziente, wenn auch nicht logisch saubere Alltagsdenken setzt sich also bei der Entterminologisierung durch. Die Anbindung der Basislexeme an das Hyperonym ist dann zirkulär, denn nun hängt der Oberbegriff konzeptuell von den Basiskonzepten ab. Im Übrigen wird die Bildung von Stereotypen bei der populärwissenschaftlichen Vermittlung häufig bewusst durch den Einsatz von Alltagskonzepten, Bildern und Metaphern gefördert (vgl. Ciapuscio 1993: 68-72; Niederhauser 1999: 142f.), denn gerade bildliche Schemata sind ja sehr leicht zu behalten, zumal es in der Populärwissenschaft und besonders in den neuen Medien um eine möglichst rasche, wenngleich oberflächliche Wissensvermittlung geht.

186 Bei der Bildung von Stereotypen im Verlauf der vollständigen Integration von Kultismen in die Gemeinsprache entsteht eine Repräsentation auf der Basis einer Disjunktion von Basiskonzepten, genau wie bei den Hyperonymen alltagssprachlicher Herkunft:

/ Λ

plante oder

Abb. 34:

Völlige Integration fachsprachlicher Hyperonyme in die Gemeinsprache

Es handelt sich hier um Pseudobegriffe im Sinne Wygotskis, d. h. eine Vereinigung von Bildern im Gegensatz zu logischen Begriffen, die auf einzelnen Merkmalen basieren, wobei die Extension jedoch dieselbe ist (vgl. Wygotski 1934; 1993: 150f., 156). Mit zunehmender Integration der ursprünglich fachsprachlichen Hyperonyme nehmen diese also eine bildliche Repräsentation an, diese ist obligatorisch, wenn die fachsprachliche Markierung wegfällt. Daher sind auch fachsprachliche Hyperonyme wie Pflanze oder Tier beim Übergang in die Gemeinsprache diachron stabiler als ihre Hyponyme, die beim Verschwinden der Expertise oft völlig verloren gehen, wie z.B. biologische Unterbegriffe bei zunehmender Urbanisierung (Berlin 1972: 83, Berlin 1992: 289, Brown 1979: 805, Dougherty 1978: 77). Bei diesem Stadium handelt es sich um einen klaren Fall von Lexikalisierung, wodurch aus gelehrten Substantiven typische gemeinsprachliche Substantive entstehen.24

4.3.4

Die alltagssprachliche Semantik entterminologisierter Hyperonyme

In 3.6.9 wurde gezeigt, wie sich bei Hyperonymen gemeinsprachlicher Herkunft die Disjunktion bzw. die präferierte Konjunktion von Basiskonzepten als konzeptuelle Grundlage sprachlich manifestiert. Wie auch die Hyperonyme gemeinsprachlicher Herkunft müssten in die Gemeinsprache integrierte Hyperonyme fachsprachlicher Herkunft konzeptuell instabil sein, wenn sie auf einer Disjunktion von Basiskonzepten beruhen. Ein indirekter Nachweis fur die Disjunktion von Schemata ist die größere Frequenz von Pluralformen im Verhältnis zu Singularformen, denn die Pluralform entspricht bei der Referenz auf verschiedene Subkategorien kognitiv einer Konjunktion von Schemata, die kognitiv günstiger ist als eine Disjunktion, wie sie meist bei singularischer Referenz vorliegt.

24

Die Tatsache, dass die Präferenz der gestaltbasierten Repräsentation, d. h. die Tendenz zur Konkretisierung, substantivtypisch ist, zeigt auch die Beobachtung, dass entsprechende Adjektive, z.B. fr. animal .tierisch' generischer bleiben (GRLF).

187 Die Auswertung von Abb. 31 und 32 zeigte bereits, dass Hyperonyme fachsprachlicher Herkunft wie z.B. sp. organismo und fr. organisme gebender Organismus' tendenziell häufiger im Singular auftreten, wenn sie noch stark fachsprachlich markiert sind. Sp. planta ,Pflanze', fr. plante ,Pflanze' und sp. vehiculo ,Fahrzeug' sind dagegen Hyperonyme fachsprachlicher Herkunft, die jedoch stark in die Gemeinsprache integriert sind, sie werden daher häufiger im Plural gebraucht. Singular und Plural halten sich bei sp. animal ,Tier' etwa die Waage. Auch fr. animal ,Tier' befindet sich bezüglich der Pluralmarkierung zwischen gemeinsprachlichen und fachsprachlichen Hyperonymen. Je stärker also ein Hyperonym in die Gemeinsprache integriert ist, desto häufiger wird es im Plural benutzt. Insgesamt liegt der Anteil der Pluralformen bei fachsprachlich entstandenen Hyperonymen oft zumindest bei 50%, während Basislexeme und untergeordnete Lexeme bis auf Ausnahmen in über 70% der Fälle im Singular zu finden sind, der gegenüber dem Plural die unmarkierte Form ist (Corbett 2000: 154, 281). Manchmal finden sich Hinweise auf die Bevorzugung des Plurals auch in Wörterbuchdefinitionen: (16)

plante (PR)

[...] Les plantes:

le regne vegetal

,Pflanze [...] Die Pflanzen: das Pflanzenreich'

Auch fr. vegetal wird laut FEW (s.v. vegetare) meist pluralisch gebraucht. Die Dominanz des Plurals kommt auch in der heute volkstümlichen Patois-Form animau zum Ausdruck, die von der unregelmäßigen Pluralform animaux analog abgeleitet wurde (Nyrop 1903: 215). Auch die singularische Verwendung ursprünglich fachsprachlicher Hyperonyme bedarf in der Alltagssprache besonderer Rechtfertigung, z.B. durch anaphorischen Gebrauch von übergeordneten Substantiven als Stilmittel in der Presse, um Wiederholungen zu vermeiden, so z.B. sp. mäquina: (17)

mäquina [...] Se usa para designar una bicicleta, una motocicleta ο un coche de carreras cuando se quiere evitar la repeticion de estas palabras al hablar, cuando el contexto permite dar uno de estos sentidos precisos a la palabra ο con intention ponderativa [...] (MOL) 25

So kann auch der Gebrauch eines ursprünglich fachsprachlichen Hyperonyms durch das Ubergehen normalerweise salienter Spezifizierungen pejorativ wirken, wenn es sich beispielsweise klar um einen bestimmten Referenten handelt, den man normalerweise mit einem Basislexem benennen würde: (18)

Take that animal away. (Cruse 1977: 162)

(19)

Emporte-moi cet animal! ,Bring mir dieses Tier weg' (Kleiber 1994b: 254)

Hyperonyme können aber auch bei unbekannten Basisobjekten oder indefiniter Referenz eingesetzt werden, oder aber, wenn aus anderen Gründen ein Referent nicht näher benannt werden soll, z.B. aus Diskretion, Ignoranz oder Expertise (Cruse 1977: 163, Wisniewski/Murphy 1989: 257). Auch Euphemismen können den Gebrauch von Hyperonymen

25

.Maschine [...] wird verwendet, um ein Fahrrad, ein Motorrad oder ein Rennauto zu bezeichnen, wenn man die Wiederholung dieser Wörter beim Sprechen vermeiden möchte, wenn es der Kontext erlaubt, den Wörtern eine dieser präzisen Bedeutungen zu geben oder in wertender Absicht [...]'

188 rechtfertigen, so wurde fr. instrument in der Bedeutung ,Genitalien' in Gerichtsverhandlungen eingesetzt (DHLF, FEW s.v. instrümentum). Werden gelehrte Hyperonyme in die Gemeinsprache integriert, teilen sie also das Schicksal mit Hyperonymen gemeinsprachlicher Herkunft. Sie beruhen im Plural häufig auf Konjunktionen von Basiskonzepten, im Singular auf Disjunktionen. Daher überrascht es nicht, dass sie sich im Verlauf der weiteren Lexikalisierung häufig auf ein Glied der Disjunktion spezialisieren und so schließlich Basiskonzepte versprachlichen. Gelehrte Bezeichnungen der Bedeutung ,Tier' haben sich in ganz Europa spezialisiert,26 typischerweise auf ,Wirbeltier', ,Vierbeiner' oder ,Säugetier' (vgl. Stefenelli 1992: 64, Ungerer/Schmid 1996: 81). Seit Varro ist lat. animal schon homö entgegengesetzt (DHLF, OLD), aber in der gelehrten Bedeutung schließt es die Menschen ein. In ganz Europa wird es häufig auf .Haustier' bzw. ,Vieh', besonders ,Rind', spezialisiert (DSSPIL: 137f.). Fr. animal und eng. animal spezialisieren sich in der Gemeinsprache und sind dann sowohl P E R S O N als auch FISCH, V O G E L und INSEKT nicht superordiniert, sondern stehen dazu in Kontrast (Lyons 1977: 298). Besonders in informellen Kontexten bedeutet eng. animal oft,domestiziertes Säugetier' (OED), fr. animal ,Wirbeltier' (GRLF). Dasselbe Schicksal erfuhr das ursprünglich gemeinsprachliche Lexem dt. Tier, das unter Einfluss einer Expertentaxonomie zunächst eine Bedeutungserweiterung erfuhr. Dt. Tier besitzt heute jedoch dieselbe gemeinsprachliche polyseme Struktur wie eng. animal oder fr. animal. Sp. animal steht meist gemeinsprachlich im Kontrast zu Menschen und bedeutet auch ,Ungeziefer', vor allem in Mexiko und Peru (MOL). Dagegen sind fr. bete und sp. bestia stärker erbwörtlich. Sie waren immer schon auf Tiere in Opposition zu Menschen spezialisiert. Lat. bestia bezeichnete Vögel, Fische und Insekten im Gegensatz zu Menschen, aber auch schon Tiere unter Ausschluss von Vögeln (OLD). In den romanischen Sprachen handelte es sich nicht um einen biologischen, eher um einen religiösen Begriff (vgl. auch GRLF). Es handelt sich hier um sehr frühe, z.T. halbgelehrte und daher im Verhältnis zu animal stärker in die Gemeinsprache integrierte Lexeme. Lat. bestia wurde fortwährend wiederentlehnt (FEW). Fr. bete bezeichnet heute v. a. Vierbeiner bzw. (domestizierte) Säugetiere, interessanterweise ist fr. bete offensichtlich polysem und bedeutet auch ,Insekt', jedoch eher nicht ,Vogel' oder ,Fisch' (DHLF, GRLF). Auch sp. bestia bezeichnet seit dem Altspanischen v. a. Pferde und Lasttiere, nicht aber Insekten wie fr. bete (MOL), also Vierbeiner, besonders Säugetiere (s. auch Bustos Tovar 1974: 105). Ein ganz ähnliches Schicksal widerfuhr eng. beast, das aus dem Altfranzösischen entlehnt wurde, um statt Altenglisch deör lat. animal zu übersetzen. Später wurde beast durch animal ersetzt, das sich dann ebenfalls spezialisierte. Heute bezeichnet beast ν. a. Vierbeiner (OED s.v. beast). Ebenfalls sehr frühe Lehnwörter im biblischen Kontext sind eng. creature, fr. cwature und sp. criatura .Geschöpf (DHLF s.v. creer, MOL, OED, PR), die verschiedene Spezialisierungen erfahren haben. Sp. criatura bezeichnet das kleine Kind (MOL), fr. creature v. a. Menschen auch in pejorativer Bedeutung (DHLF s.v. creer), eng.

26

In Dialekten ist die Tendenz zur Spezifizierung aufgrund des schwächeren fach- und distanzssprachlichen Einflusses sicher noch stärker, so wird die ursprünglich gelehrte Form fr. animal dialektal zu Bezeichnungen für SCHWEIN oder SCHLANGE (FEW). Bei ,Schwein' handelt es sich um einen Fall der Spezialisierung auf einen sehr häufigen Referenten im Frame der Landwirtschaft, während bei .Schlange' Tabuisierung eine wichtige Rolle spielt.

189 critter, das eine archaische Aussprache reflektiert, bezeichnet dialektal vor allem domestizierte Tiere wie Ochse, Kuh, Pferd, Huhn, pejorativ auch Menschen (OED s.v. critter). Sp. organismo und fr. organisme .Organismus' besitzen ebenfalls eine spezialisierte gemeinsprachliche Bedeutung, nämlich ,menschlicher Körper' (DEA, PR). Fr. plante, sp. planta, dt. Pflanze und eng. plant erfuhren ähnliche Spezialisierungen in der Gemeinsprache, meist auf die Lebensform ,krautige Pflanze', 27 also ein Basiskonzept, vermutlich weil die Lebensform ,Baum' bereits versprachlicht war (FEW, MOL, PR, Wierzbicka 1985: 154f.).28 Daher sind diese Substantive in der Gemeinsprache Kohyponyme von Substantiven mit der Bedeutung ,Baum': (20)

Un jardin con arboles y plantas. ,Ein Garten mit Bäumen und Pflanzen' (MOL s.v. planta)

Die biologische und die alltagssprachliche Bedeutung können so in Konflikt geraten: (21)

Trees are our bigest plants. Some people have the idea that trees are too big to be called plants, but this idea is wrong. (Parker (1962): Golden Treasury of Natural History, S. 134, zit. in Wierzbicka 1985: 155)

Spezialisierung ist bei den Substantiven sp. vegetal und fr. vegetal ,Pflanze' noch nicht festzustellen, da diese noch kaum in die Gemeinsprache integriert sind. Aber auch hier finden sich zumindest vereinzelte Reflexe einer stereotypen Bedeutung, z.B. im Falle von sp. vegetal·. (22)

planta [...] mas corrientemente, [se da este nombre] al vegetal sin tronco, con verdor y con la forma normalmente atribuida a los vegetales [Hervorh. von mir] (MOL s.v. planta)29

Das äquivalente eng. vegetable hat sich hier weiterentwickelt, es bezeichnete im 16. Jahrhundert zunächst die Pflanze im wissenschaftlichen Sinn und bezeichnet heute Gemüse, also ganz bestimmte krautige Pflanzen (OED). Auch das halbgelehrte Wort sp.fruto, das zunächst das Produkt oder den Ertrag bezeichnete, bezeichnet heute die Frucht einer Pflanze (Bustos Tovar 1974: 487) wie auch erbwörtlich fr. fruit. Sp. fruto besitzt aber im Gegensatz zu erbwörtlich fruta auch noch die abstrakte Bedeutung ,Ertrag' und botanisch , Frucht' (MOL s.v. fruto und fruta). Eventuell unter fachsprachlichem Einfluss, nämlich der Alchemie, wurde lat. vas ,Gefäß' ins Französische und Spanische übernommen, das heute in der spezialisierten Bedeutung fr. vase ^ l u m e n vase' und sp. vaso ,Trinkglas' vorliegt. Aus fr. objet ,Objekt' wird duch Spezialisierung kein Basiskonzept, aber ein dennoch typischeres Substantiv, das konkrete Gegenstände begrenzter Größe bezeichnet (DHLF s.v. objet), so auch sp. objeto (DEA, MOL). Auch Hyperonyme aus dem Bereich des Handels erfahren häufig eine Bedeutungsverengung. Lat. species Handelswaren' aus ,Aussehen', ,Gestalt' wird zu species ,Gewürz' (Breal 71924:

27

28

29

Im Argentinischen bezeichnet planta sogar umgangsprachlich den Baum (DCECH s.v. planta), evtl. unter Einfluss des Italienischen, vgl. 4.2. Die Lexikalisierung ursprünglich fachsprachlicher Termini muss von den direkten erbwörtlichen Nachfolgern von lat. planta, animal und anderen, die in 4.2. beschrieben wurden, unterschieden werden, wobei in beiden Fällen Lexikalisierungsprozesse vorliegen. ,planta [...] üblicher [wird dieser Name gebraucht für] die Pflanze ohne Stamm, grün und mit der Form, die normalerweise den Pflanzen zugeschrieben wird'

190 110, DHLF s.v. epice, FEW s.v. species, Stefenelli 1992: 49). So bedeuten heute fr. epice und sp. especia .Gewürz', daneben existieren die gelehrten Begriffe fr. espece und sp. especie ,Art' (DHLF s.v. espece und epice, FEW s.v. species). Sp. genero ,Ware' (< Gattung') spezialisiert sich auf ,Tuch' (MOL). Sobald also fachsprachliche Substantive in die Gemeinsprache integriert werden, sind sie dem Druck der Lexikalisierung und damit der Konkretisierung ausgesetzt.

4.4

Fazit

Während Hyperonyme gemeinsprachlichen Ursprungs meist aus Kollektiva entstehen, stammen zahlreiche Hyperonyme, die von Anfang an Individuativa sind, aus Fachsprachen. Fachsprachliche Hyperonyme oberhalb der Basisebene sind klassisch über ihr genus proximum und zusätzliche Merkmale definiert und sind so in Taxonomien eingebunden. Werden diese Hyperonyme in die Gemeinsprache integriert, meist über distanzsprachliche Varietäten, ein Wandelprozess, der bei Labov (1994: 78) „change from above" genannt wird, verändert sich die Semantik dieser Hyperonyme. Bei der Integration in die Gemeinsprache werden zunächst häufig vereinfachte Definitionen übernommen. Im Lauf der Entterminologisierung wird diese noch fachlich geprägte Semantik durch bildliche Information ersetzt, und so entstehen Hyperonyme, die konzeptuell auf Basisgestalten beruhen. Diese Hyperonyme zeigen genau wie die Hyperonyme gemeinsprachlichen Ursprungs eine starke Präferenz für pluralischen Gebrauch und tendieren außerdem zur Bedeutungsspezialisierung. Auch die Entterminologisierung ist also ein Fall von Lexikalisierung.

5

Semilexikalische Substantive oberhalb der Basisebene

5.1

Passe-partout-Substantive: ein Paradoxon

Sowohl Hyperonyme gemeinsprachlicher als auch fachsprachlicher Herkunft sind konzeptuell und häufig auch morphologisch komplex. Sie sind tendenziell weniger stark lexikalisiert und daher weniger frequent als Basislexeme und zeigen eine starke Tendenz zur Bedeutungsspezialisierung, da so durch Lexikalisierung typischere stabilere Basislexeme entstehen. Nun gibt es in vielen Sprachen eine Reihe zentraler, frequenter, sehr generischer meist zählbarer Substantive, die stark von den bisher besprochenen Hyperonymen abweichen, z.B. sp. cosa, fr. chose, dt. Ding, Sache und eng. thing. Es handelt sich um Substantive sehr hoher Generalisierungsebene der Bedeutung ,Ding', die im Unterschied zu den meisten anderen Hyperonymen morphologisch einfach, eher kurz, hochfrequent (Vossen 1995: 377f.), stabil und nicht distanzsprachlich markiert, sondern eher sogar nähesprachlich sind. Besonders auffallig ist die Tatsache, dass diese Elemente sich auf äußerst hohen Generalisierungsebenen befinden und im Gegensatz zu anderen ursprünglich gemeinsprachlichen Hyperonymen gerade durch Bedeutungsgeneralisierung entstehen. In einigen Fällen entwickelt sich aus einem funktionalen Substantiv sowohl durch Bedeutungsspezialisierung ein konzeptuell bildhaftes Hyperonym oder Quasihyperonym oberhalb der Basisebene als auch durch Bedeutungserweiterung ein deutlich generischeres Substantiv: afr. reu ,etwas' (> fr. rien ,nichts' DHLF)

it. roba ,Zeug' (ZVI)

lt. res ,Sache', ,Besitz'

germ, rauba ,Beute'

sp. res ,Vieh' (MOL)

sp. ropa ,Kleidung' (DCECH s.v. robar)

t 1

Abb. 35:

t I

Bedeutungserweiterung vs. -Spezialisierung funktionaler Substantive

In Kapitel 4 wurde gezeigt, dass durch Terminologisierungsprozesse auch Basiskonzepte generalisiert werden können, so entsteht aus lat. plante ,Setzling' der wissenschaftliche Terminus für Pflanze. In der Gemeinsprache ist die Generalisierung oberhalb der Basisebene dagegen ungewöhnlich, da hierbei untypischere Lexeme entstehen würden. Seltsamerweise entstehen aber gerade nähesprachliche hochfrequente Substantive durch Generalisierung. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, dass es sich hierbei nicht um Lexikalisierung, sondern Grammatikalisierung oder Pragmatikalisierung handelt, d. h. eine Routinisierung kommunikativer Strategien, wobei ursprünglich objektiv-referentielle Lexeme pragmatische bzw. grammatische Funktionen übernehmen. Bedeutungsgeneralisierung ist ein typischer Begleitprozess bei der Grammatikalisierung von Lexemen:

192 Most notably, grammaticalization does not provide evidence of narrowing of meaning. By contrast, although many lexical changes involve broadening (generalization) of meanings, there are also well-known cases of narrowing [...] (Hopper/Traugott 1993: 97)

Generische Elemente wie Sache oder Ding gehören nicht mehr dem Lexikon an, sondern übernehmen als Passe-partout-Wörter Diskursfunktionen und grammatische Funktionen (vgl. Koch/Oesterreicher 1990: 104). Sie dienen nicht der eigenständigen Referenz, sondern als Füllwörter und zeigen eine funktionale Nähe zu den Deiktika (Koch/Oesterreicher 1990: 109). Passe-partout-Wörter drücken sehr allgemeine Kategorien aus wie +/- belebt, + / konkret und +/- zählbar (s. Koch/Oesterreicher 1990: 104). Extensional besteht so eine Inklusionsbeziehung mit Substantiven niedrigerer Generalisierungsebenen, die Menge aller Dinge schließt beispielsweise die Menge aller Stühle ein. Sie unterscheiden sich von anderen Hyperonymen jedoch darin, dass sie sich auf einem derart hohen Generalisierungsgrad befinden, dass sie keine intensionale Beziehung mit Lexemen unterer Ebenen eingehen. Daher können sie ohne Ergänzung keine Prädikate von Substantiven sein: (1)

*Un Ν est une chose. ,Ein Ν ist ein Ding' (Kleiber 1994a: 21)

Konzeptuell beruhen sie im Unterschied zu den in Kapitel 3 und 4 analysierten Hyperonymen nicht auf einer Konjunktion bzw. Disjunktion von Basiskonzepten, hier ist also kein mentales Bild denkbar. Diese Elemente müssten demnach noch instabiler als die bisher diskutierten Hyperonyme sein, sie zeigen dafür aber keinerlei Anzeichen, denn sie gehören nicht mehr dem Lexikon an.

5.2

Die Entstehung von Passe-partout-Substantiven

5.2.1

Nähesprachliche Kommunikationsstrategien

Passe-partout-Wörter spielen gerade in der mündlichen Kommunikation eine große Rolle. Der geringe Planungsaufwand der nähesprachlichen Mündlichkeit bedingt häufige Zugriffsprobleme auf exakte, passende Lexeme, während vor allem in der schriftlichen Distanzsprache der Sprecher Zeit hat, eine korrekte Bezeichnung zu suchen, auch in Nachschlagewerken. Da nun aber die Nähe von Sprecher und Hörer bedeutet, dass ein großes gemeinsames Kontext- und Hintergrundwissen vorhanden ist (Koch/Oesterreicher 1990: 102), reichen Passe-partout-Wörter häufig problemlos zur Verständigung aus. So sind auch die frequenten Deiktika in der Nähesprache zu erklären (Koch/Oesterreicher 1990: 111, Beinhauer 31978: 416f.). Passe-partout-Wörter ersetzen meist Substantive oder Verben, also die beiden wichtigsten lexikalischen Wortarten,1 denn Funktionswörter werden automatisiert über Prozeduren eingesetzt und sind daher von Wortfindungsproblernen in der Regel nicht betroffen, während der lexikalische Zugriff schwächer automatisiert und be-

Adjektive sind syntaktisch dagegen in der Regel nicht zwingend notwendig und können bei Wortfindungsproblemen meist unauffällig ausfallen. Daher scheinen Adjektive auch nur selten Platzhalter zu erfordern.

193 wusster ist. Nun können Deiktika problemlos Platzhalterfunktionen übernehmen. Wieso entstehen dann Passe-partout-Wörter, worin besteht ihre besondere Leistung? Ausgangspunkt für die Entstehung der Passe-partout-Wörter ist sehr wahrscheinlich die Situation, in der dem Sprecher eine korrekte Bezeichnung nicht zugänglich ist. Dies kann für den Sprecher Prestigeverlust bedeuten. Er oder sie hat also in vielen Situationen großes Interesse daran, dieses Nichtwissen zu verbergen oder zu überspielen, um sein oder ihr positives „Face" zu schützen (vgl. Brown/Levinson 1987). Will man vom eigenen Unvermögen ablenken, bietet es sich an, die Schuld auf andere Personen, Dinge oder Umstände zu schieben. Ist man beispielsweise nicht fähig, ein Gerät zu bedienen, so schiebt man eben die Schuld auf das Gerät („Scheißding!"). Genau darin besteht, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine häufige Strategie des Sprechers, die von Wortfindungsproblemen ablenken soll. Die nicht korrekt benannten Referenten werden als nichtbenennungswürdig dargestellt. Hierfür können mehrere Gründe in Anspruch genommen werden. Der Referent wird beispielsweise als bedeutungslos, störend, undurchschaubar oder nicht funktionierend dargestellt. Hierbei handelt es sich um stark emotional besetzte Eigenschaften (vgl. Koch/Oesterreicher 1990: 115), wie jeder nachvollziehen kann, der einmal versucht hat, Nippes abzustauben, Möbelteile zusammenzubauen oder ein neues technisches Gerät zu bedienen. Gerade auf den oberen Generalisierungsebenen finden sich zahlreiche pejorative Lexeme, denn im Diskurs werden häufig sehr saliente perzeptuelle Unterscheidungen absichtlich übergangen, um der Herablassung gegenüber dem Referenten Ausdruck zu geben. So entstehen aus Bezeichnungen für Lumpen oder Fetzen drastisch-expressive Bezeichnungen für Kleidungsstücke, wie z.B. sp. trapo (s. 3.6.9). Wenn man den Unterschied zwischen Jacke und Hose nicht macht, bedeutet das womöglich, dass die Referenten es nicht wert sind, genau bezeichnet zu werden. Nun können aus solchen pejorativen Hyperonymen Passe-partout-Wörter entstehen. Je generischer dabei ein Lexem ist, desto besser ist es hierzu geeignet, da es universeller einsetzbar ist. Da es sich nun um eine für den Sprecher peinliche Situation handelt, hat er oder sie ein starkes Interesse daran, das Problem zu kaschieren. Dies kann dadurch geschehen, dass der Sprecher vorgibt, der Referent sei es nicht wert, benannt zu werden. Dieser Effekt kann durch Deiktika, die ebenfalls spezifischere Lexeme ersetzen können, so nicht erzielt werden. Auf diese Art und Weise entsteht sehr wahrscheinlich aus lat. cimex , Wanze' sp. chisme ,(kleines, nutzloses) Ding, Krempel' (DCECH, DEA, MOL s.v. chisme2), bzw. ,Gegenstand, den man nicht benennen kann oder will'. 2 Rein pejorativ ist noch folgender Gebrauch, bei dem von einem Videorekorder die Rede ist: (2)

Que ese chisme no nos sirve para nada. .Dieser Krempel bringt uns nichts' (Oral (1990): „?Pero esto que es?" 05/03/90 TVE 1, CREA)

Im folgenden Beispiel wird dagegen die daraus entstandene Funktion der Verschleierung der Ignoranz einer korrekten Bezeichnung kommentiert:

2

Sp. chisme ,Gerücht' ist laut MOL ein Homonym von chisme ,Ding', laut DCECH liegt eventuell Polysemie vor und die Bedeutung .Gerücht' lässt sich möglicherweise durch die Strategie des Herunterspielens durch das Opfer übler Gerüchte erklären (s. DCECH).

194 (3)

Bueno, Jose Antonio, pues despues de ver esto ya no tendremos que llamar chisme [Hervorh. von mir] ο tirilla a la trabilla, ^no? (ORAL (1991): Television, „Hablando claro", Madrid, CREA) 3

Passe-partout-Wörter können aber auch aus Bezeichnungen für große, sperrige Dinge, die oft im Weg sind, entstehen. Noch kein Passe-partout-Wort, aber häufig pejorativ ist z.B. die Singularform dt. Möbel. Es bezeichnet dann umgangssprachlich und scherzhaft einen unhandlichen großen Gegenstand (WDW), auch fr. meuble kann im Singular einen störenden Gegenstand oder eine lästige Person bezeichnen (GL). Auch im Spanischen werden ebenfalls von mueble pejorative Bedeutungen abgeleitet, im Mexikanischen bezeichnet es informell ein Auto (CSD), es kann aber auch einen unnützen lästigen Menschen bezeichnen. Auch sp. artefacto ,Apparatur' wird zu einer pejorativen Bezeichnung für einen sperrigen Gegenstand (MOL). Ähnlich verlief vermutlich auch die Entwicklung von lat. tripes/tripedis ,Dreifuß' zu sp. trebejo ,Gerät'. Heute besitzt es beispielsweise die Bedeutung ,Kleinigkeiten' im Asturianischen und ,klappriges Möbelstück/Krempel' im Salmantinischen (DCECH, MOL). Sp. bärtulos ,(sperriger) Krempel' entstand vermutlich aus der Bezeichnung für sperrige juristische Lehrbücher - Bärtolo war ein Rechtsgelehrter des 14. Jahrhunderts in Bologna (DCECH, MOL). Aus lat. transtrum .Querbalken/Ruderbank' entwickelte sich sp. trasto ,sperriges Möbelstück' und ,(sperriges, nutzloses) Ding' (DCECH). Sp. trasto bezeichnet im folgenden Beispiel ein sperriges Objekt und ist stark pejorativ: 4 (4)

Que no, es mucho mejor poner ducha. Quitar la banera que es un trasto [Hervorh. von mir] y poner el cuadradito de la ducha. (ORAL (1991): Domicilio particular, conversaciön familiar, Segovia, Espana, CREA) 5

Daher ist trasto auch geeignet, die Ignoranz einer geeigneten Bezeichnung zu überspielen: (5)

Poco despues me entere que el senor „asesino" [...] habia [sie] sido encarcelado acusado de asesinar a un homosexual algeriano con un trasto de esos de defensa personal que proporcionan descargas. [Hervorh. von mir] (http://www.tomedo.net/rebirth, 25.04.2004) 6

Diese Strategie wird fast ausschließlich in der gesprochenen Sprache eingesetzt, allerdings zeigt dieses Beispiel aus einem Internetchat, dass auch hier aufgrund der Spontaneität bisweilen Wortfindungsprobleme überspielt werden müssen - oder simuliert werden, um Mündlichkeit zu fingieren. Besonders geeignet für die Entstehung von Passe-partout-Wörtern sind Bezeichnungen für sehr komplizierte Dinge, die aufgrund ihrer Komplexität schwer zu bedienen sind, nicht 3

4

5

6

,Nun, Jose Antonio, nachdem wir das gesehen haben, müssen wir den Steg nun nicht mehr Dingsbums oder Band nennen, nicht wahr?' Ähnlich entstand vermutlich auch das regionale informelle Passe-partout-Substantiv trem ,Ding' des brasilianischen Portugiesisch aus fr. train über die Bedeutung ,Reisegepäck, Mobiliar, Ausrüstung', wobei sicher die Sperrigkeit bei der Entstehung eine Rolle spielt (ADLP). ,Nein, es ist viel besser, eine Dusche einzubauen. Die Badewanne entfernen, die ein sperriges Ding ist, und das kleine Duschquadrat einbauen.' ,Kurz danach erfuhr ich, dass der Herr „Mörder" [...] im Gefängnis gewesen war, da er beschuldigt wurde, einen algerischen Homosexuellen ermordet zu haben mit so einem Dingsbums zur Selbstverteidigung, das Stromschläge austeilt.'

195 funktionieren oder deren Funktion undurchschaubar ist. K o n k r e t handelt es sich hier h ä u f i g um B e z e i c h n u n g e n

für K r i e g s m a s c h i n e n und Bühnenmaschinerie.

Erstere dienten und

dienen zur B e k ä m p f u n g und Überlistung des G e g n e r s , letztere dienen der Illusionserzeug u n g b e i m Z u s c h a u e r und w u r d e n mit der Zeit immer k o m p l e x e r und a u f w e n d i g e r . S o stammen die französischen Passe-partout-Wörter true und machin

mit aller W a h r s c h e i n -

lichkeit über eine pejorative B e z e i c h n u n g für , D i n g ' oder K o m p l e x e s D i n g ' v o n B e z e i c h nungen für , B ü h n e n m a s c h i n e r i e ' , oder im Falle v o n machin

eventuell auch K r i e g s m a s c h i -

n e ' ( D H L F ) . Im f o l g e n d e n Beispiel haben true und machin

neben der Platzhalterfunktion

v o r allem die Funktion, pejorativ a u f ü b e r m ä ß i g k o m p l e x e D i n g e z u referieren: (6)

„ V o u s n ' a v e z pas essaye le Braille? " „ V o u s voulez dire, ces trucs avec les points?" „Oui." „Non. ä Γ höpital, on voulait m ' a p p r e n d r e 9a. Mais c'est trop complique, ce machin-lä." (Le Clezio (1966): Le deluge, F R A N T E X T ) 7

D a s Passe-partout-Wort fr. engin stammt sehr wahrscheinlich über den Schritt , k o m p l e x e s , g e f a h r l i c h e s D i n g ' v o n , K r i e g s m a s c h i n e ' (das w i e d e r u m aus lat. ingenium

,List/Erfindung'

entstand) ( D H L F , G L ) . Im f o l g e n d e n Beispiel s c h w i n g t die B e d e u t u n g , k o m p l e x e unverständliche M a s c h i n e ' noch mit: (7)

puisque les billets [...] etaient hisses d ' e n bas par Gottlieb [...] au moyen de j e ne sais quel engin sans doute fort simple. (Sand (1843): La comtesse de Rudolstadt, F R A N T E X T ) 8

D a s frankokanadische Passe-partout-Wort patente

stammt über die B e d e u t u n g .Erfindung,

raffiniertes, m a n c h m a l e t w a s seltsames Verfahren, G e r ä t ' von ,PatentbrieP ( D H L F s.v. patent,

D Q A ) . N o c h rein pejorativ ist sp. artefacto

,großer s c h w e r e r G e g e n s t a n d ' , ,altes

A u t o ' v o n , A p p a r a t u r ' ( D E A , M O L ) . Sp. artilugio

in der B e d e u t u n g k o m p l i z i e r t e r M e -

c h a n i s m u s ' , u n d u r c h s c h a u b a r e s D i n g ' findet sich in f o l g e n d e m B e i s p i e l : (8)

El „papper" tiene forma de silbato de ärbitro. Nadie se explica c o m o un pez puede sentirse atraido por semejante artilugio [Hervorh. von mir], pero el black-bass es animal al que le atraen los objetos m a s extravagantes que uno pueda imaginarse flotando sobre la superficie de las aguas. ( A B C , 22/02/1985: „Lucio y black-bass entran estos dias a cebos artificiales sofisticados", Espana, C R E A ) 9

In rein pejorativer V e r w e n d u n g taucht artilugio

7

8

9

im f o l g e n d e n Beispiel auf:

.Haben Sie nicht Braille ausprobiert? Sie meinen das Ding mit den Punkten? Ja. Nein. Im Krankenhaus wollte man es mir beibringen. Aber es ist zu kompliziert, das Dingsda' ,da die Briefe von Gottlieb von unten hochgezogen wurden mittels eines ich weiß nicht w a s für einer sicher sehr einfachen Maschinerie.' ,Der „ P a p p e r " hat die Form einer Schiedsrichterpfeife. Keiner kann es sich erklären, wie sich ein Fisch von einem derartigen M e c h a n i s m u s angezogen fühlen kann, aber der Schwarzbarsch ist ein Tier, den die ausgefallensten Gegenstände, die man sich auf einer Wasseroberfläche schwimmend vorstellen kann, anziehen.'

196 (9)

Las cantimploras colgando, los piatos de aluminio agarrados de una hebilla, kilos de latas de alubias amontonadas sin cuidado en el interior de la mochila, cientos de jerseys, calcetines, pantalones, etc., pueden llegar a reflejar, junto con el saco de dormir atado fuera, ya que no nos cabe a causa de los diez mil artilugios [Hervorh. von mir] que llevamos en el interior [...] (Ruiz (1993): Acampar. Manual practice, CREA) 10

Sp. artilugio .komplizierter Mechanismus' ist laut CSD auch schon Passe-partout-Wort. Häufig handelt es sich bei möglichen Quellkonzepten für Passe-partout-Wörter auch um antiquierte Geräte, deren Funktion man vielleicht nicht mehr kennt und die dadurch nutzlos geworden sind, wie z.B. sp. armatoste, das eine Ladevorrichtung der Armbrust bezeichnete und zur pejorativen Bezeichnung für ,Trödel/Kram' wurde (MOL). Aus sp. cafetera (rusa) .Kaffeemaschine' wird die Bezeichnung für ein altes, schlecht funktionierendes Gerät, klappriges, kaputtes Auto (MOL s.v. cafetero, -a), ebenso wird aus sp. chocolatera ,Schokoladenkanne' eine Bezeichnung für eine alte nutzlose Maschine (MOL s.v. chocolatera). Spezielle Schokoladenkannen waren vor allem bis zum 18. Jahrhundert in Mode. Platzhalter sind diese Lexeme (noch) nicht, stellen aber gute Kandidaten dar. Bereits Passe-partout-Wort ist hingegen sp. chirimbolo ,komplexes Ding, das man nicht benennen kann', pejorativ ,Ding', das vermutlich aus einer Kreuzung aus chirumbela .Schalmei', carambolo .Verwicklung' und chambariles ,Krempel' stammt (DCECH, DEA) oder nach MOL aus bask, chirimbol .Scheibe, Kugel'. Häufig besitzen diese Lexeme morphologisch oder phonologisch komplexe Signifikanten, die die technische Komplexität bzw. Unverständlichkeit der Funktion reflektieren, wie bei artilugio, artefacto und chirimbolo. Eng verwandt sind mit diesen Lexemen auch Bezeichnungen für kaputte oder derbe Dinge. Das Passe-partout-Wort sp. cacharro pejorativ .Ding' auch .Schrott(-mühle)' entwickelte sich über cacharro .grobes Gefäß' aus cacho .Scherbe, Stück' (DCECH s.v. cacho). Rein pejorativ ist cacharro, das noch durch estüpido verstärkt wird, im folgenden Beispiel: (10)

Te agradezco tus esfuerzos por intentar que este estüpido cacharro y yo lleguemos a entendernos. (Teso (1993): Introduction a la informäticapara torpes, CREA)"

Als Passe-partout-Wort wird es im folgenden Beispiel eingesetzt:12

10

11 12

,Die Feldflasche baumelnd, die Aluminiumteller festgeschnallt, kiloweise Bohnendosen achtlos im Innern des Rucksacks aufgehäuft, Hunderte von Pullovern, Socken, Hosen etc., können, neben dem Schlafsack, der außen angebunden ist, weil er wegen der Menge an Krimskrams, den wir im Inneren mitnehmen, nicht mehr hineinpasst, zeigen, dass [...]' ,Ich danke dir für deine Mühe zu versuchen, dass dieser dämliche Schrott und ich uns verstehen.' Im venezolanischen Spanisch beobachtet man eine ähnliche Entwicklung, nämlich die von perol ,nutzloser, wertloser Gegenstand' aus ,ΤορΓ, ,Küchenutensil' (CSD), vielleicht analog zu bestehenden polysemen Lexemen (cf. Blank 1997: 32Iff.).

197 (11)

Bueno, porque con todo este rollo de esto, teniamos el metro gratis, el autobus gratis, jbueno!, lo teniamos todo gratis y entonces teniamos tenias colgando eso, era genial, una un cacharro, una es que no se como se llama, [Hervorh. von mir] de plästico, que teniamos una tarjeta dentro [...] (Oral (1998): Entrevista CSC006, mujer, 23 anos, Espana, CREA) 1 3

Damit verwandt ist auch das Passe-partout-Wort sp. cachivache (DCECH s.v. cacho). Andere pejorative und dann als Passe-partout-Wörter eingesetzte Substantive entstehen ebenfalls aus Bezeichnungen für nutzlose Gegenstände, die sehr unterschiedlicher Herkunft sein können. Die Passe-partout-Wörter fr. fourbi und bidule entstehen auf der Basis von Bezeichnungen für unordentliche Häufen von Dingen, fourbi ,Ding, dessen Namen man nicht nennen kann' aus ,Soldatengepäck' über .unordentliche Ansammlung von Dingen' (DHLF s.v. fourbir), bidule vermutlich ursprünglich aus .Schlamm' über ,Unordnung, Wirren' (DHLF). Da es sich beim Ablenkungsmanöver durch die Verwendung pejorativer Substantive um eine sehr frequente Strategie handelt, ist es oft schwer zu sagen, ob ein Substantiv schon ein Passe-partout-Wort ist oder ob es sich noch um Ad-hoc-Verwendungen handelt. Stark konventionalisiert, aber noch umgangssprachlich und oft pejorativ markiert sind fr. engin (PR), true, bidule, machin (cf. Kleiber 1987: 112), sp. chisme, etwas schwächer konventionalisiert sind cacharro, cachivache, chirimbolo und trasto (s. z.B. MOL). Passe-partout-Wörter können also durch den Einsatz von Substantiven entstehen, die negative Referenten bezeichnen oder pejorativ konnotiert sind und so die Ignoranz des Spechers vertuschen oder rechtfertigen sollen. Aus objektiv-referentiellen Substantiven, die störende, unbedeutende oder kaputte Gegenstände bezeichnen, werden pejorativ konnotierte Substantive, die die subjektive Einstellung eines Sprechers zu einem Referenten zum Ausdruck bringen. Diese werden wiederum strategisch eingesetzt, um zu vertuschen, dass dem Sprecher die korrekte Bezeichnung eines Gegenstandes nicht einfallt:

Abb. 36:

13

Die Entstehung nähesprachlicher Passe-partout-Wörter

,Na ja, weil bei all dem Hickhack hatten wir die Metro umsonst, den Bus umsonst, na, wir bekamen alles umsonst und dann hatten wir das umgehängt, das war genial, ein Dings ein, ich weiß nicht wie das heißt, aus Plastik, mit einer Karte drin.'

198 Diese semantische Entwicklung ist typisch fur die Entstehung grammatischer und pragmatischer Elemente, deren Funktion nicht mehr die Referenz, d. h. die Bezeichnung der außersprachlichen Wirklichkeit, sondern Diskursstrategien sind. Aus objektiven Lexemen entstehen so zunehmend subjektive Elemente, die Sprechereinstellungen ausdrücken (vgl. Traugott 2003), denn der Sprecher will ja gegenüber dem Hörer das Gesicht wahren.

5.2.2

Distanzsprachliche Strategien bei Wortfindungsproblemen

Die nähesprachlichen Passe-partout-Wörter und ihre Strategien der Rechtfertigung von Nichtwissen sind in der Distanzsprache stigmatisiert (s. Koch/Oesterreicher 1990: 107f.) und werden als Normverstöße betrachtet: (12)

[...] je crois que mes enfants s'expriment ä peu pres correctement. non je reproche seulement parfois [sie] ma fille ainee qui est une mathematicienne il lui arrive d'etre paresseuse dans son langage et d'employer euh tres volontiers euh euh les mots passe-partout le true le machin la chose . euh (Corpus Orleans, file t012.txt, ELICOP) 14

Es kann nun auch in der mündlichen Distanzsprache, z.B. bei Vorträgen, Interviews, Arbeitsgesprächen, Sitzungen, Unterrichtsgesprächen, Prüfungen etc., nötig sein, Ignoranz zu vertuschen bzw. der lexikalische Zugriff kann gestört sein. Hier ist die Verschleierung von fehlendem Wissen sogar noch wichtiger als in nähesprachlichen Situationen, da die Gefahr des Prestigeverlusts durch Ignoranz in der Distanzsprache sicher größer ist als in der Nähesprache. Die bisher diskutierten Passe-partout-Wörter sind hier allerdings stigmatisiert, denn die Strategie der Herabsetzung des Referenten ist emotional stark negativ markiert. Daher ist eine andere Strategie nötig. In einem Stilhandbuch findet sich folgender Vorschlag: La palabra „cosa" debe evitarse casi siempre. En su lugar hay que emplear palabras mas apropiadas como tarea, proyecto, operation, utensilio, artefacto, sintoma, serial, labor, ingrediente, movil, tema, asunto, etc. (Gömez Torrego 1989: 256) 15 Interessanterweise schlägt Gomez Torrego nicht vor, die verpönten Passe-partout-Wörter durch die angebrachteren spezifischeren Lexeme zu ersetzen, was ja bei Wortfindungsproblemen gerade nicht möglich ist, sondern schlägt den Gebrauch von fast genauso vagen, aber wissenschaftlichen oder gelehrt klingenden Lexemen vor. Die Strategie besteht nun in der Distanzsprache tatsächlich sehr häufig darin, (pseudo) wissenschaftliche, sehr generische Substantive einzusetzen, die eine nicht vorhandene Präzision und Kompetenz vortäuschen sollen, wenn man eine korrekte Bezeichnung nicht parat hat. Gerade sehr generische Fachtermini werden häufig in die Gemeinsprache übernommen, z.B. Objekt, Struktur, System

14

,lch denke, meine Kinder drücken sich mehr oder weniger korrekt aus. Nein, ich werfe nur manchmal meiner ältesten Tochter, die Mathematikerin ist, vor manchmal ist sie faul beim Sprechen und verwendet äh sehr gerne äh äh die Passe-partout-Wörter das Dings, das Dingsbums, das Ding . äh' 15 ,Das Wort „Ding" muss fast immer vermieden werden. Stattdessen müssen passendere Wörter wie Aufgabe, Projekt, Operation, Utensil, Vorrichtung, Symptom, Zeichen, Arbeit, Zutat, Motiv, Thema, Angelegenheit etc. verwendet werden.'

199 (Fluck 5 1996: 168) oder fr. aspect, fonction, structure, systeme (Pöckl 1990: 279). Durch die Verwendung dieser Substantive kann vorgetäuscht werden, dass der Sprecher bewusst sehr generelle, aber fachlich abgesicherte Unterscheidungen wählt, die trotz des hohen Generalisierungsgrads Präzision vorgeben. Sie können natürlich auch deshalb gewählt werden, weil sich der Sprecher auf elegante Art und Weise nicht festlegen möchte, z.B. bei brisanten politischen Aussagen (Schmid 2000: 375). Folgende Beispiele zeigen einen nicht missbräuchlichen Einsatz solcher Oberbegriffe, hier geht es wirklich um bestimmte sehr generelle Unterscheidungen: (13)

Ustedes comprenderän que si partimos un objeto [Hervorh. von mir], por ejemplo, un melon en dos mitades iguales, cada una serä un medio del melon. (ORAL (1991): Television, programa educativo, Madrid, CREA)' 6

Sp. objeto und fr. objet sind zwar (noch) keine Passe-partout-Wörter, können aber sporadisch so eingesetzt werden, in (14) allerdings mit geringem Erfolg, da der Hörer nicht locker lässt und nachfragt: (14)

- [ . . . ] en Londres, fui a una exposicion china, a una exposiciön de objetos - ^Artesanales? - Arqueologicos. Arqueologicos. Si, pero artesanales, pero de de Si, antiguos. De miles de anos aträs. [Hervorh. und Anordnung von mir] (ORAL (1977): Muestra IV, encuesta l M - 1 2 7 - i , CREA) 17

Gelehrte generische Substantive können auch eingesetzt werden, wenn die korrekte Benennung kein Problem darstellt, aber aus anderen Gründen verschwiegen werden soll. Über Verschleierungsstrategien entstanden sind mit aller Wahrscheinlichkeit die am stärksten konventionalisierten Passe-partout-Wörter sp. cosa, fr. chose, dt. Ding und Sache und eng. thing. Womöglich werden solche Passe-partout-Wörter auch leichter konventionalisiert als die nähesprachlichen Ursprungs, da sie stärker das Prestige des Sprechers wahren als die nähesprachlich entstandenen häufig pejorativen Passe-partout-Wörter. Nur fachsprachliche oder sehr formale Lexeme können bei dieser distanzsprachlichen Strategie eingesetzt werden. Fr. objet und sp. objeto sind gut als Passe-partout-Wörter geeignet, sie stammen aus der Philosophie und bezeichnen das, was eine vom Subjekt unabhängige Existenz besitzt, in der Gemeinsprache bedeuten sie ,konkreter mittelgroßer Gegenstand' (DHLF, MOL). Im PR wird fr. objet sogar mit chose, machin, bidule und true verglichen - allerdings handelt es sich noch nicht um ein konventionalisiertes Passepartout-Wort. Besonders die zentralen konventionalisierten Passe-partout-Substantive stammen aus der Rechtssprache. Rechtsangelegenheiten hatten naturgemäß immer schon eine große Relevanz für Laien. Meist entsteht aus der Bezeichnung für ,Rechsstreit' metonymisch die für

16

17

,Sie verstehen, dass, wenn wir einen Gegenstand, zum Beispiel eine Melone, in zwei gleiche Teile teilen, jedes eine Hälfte der Melone ist.' , - in London ging ich in eine chinesische Ausstellung, eine Austeilung von Gegenständen - Kunsthandwerkliche? - Archäologische. Archäologische. Ja, aber kunsthandwerkliche, aber von von Ja, antike. Von vor Tausenden von Jahren.'

200 Rechtssache', und bei Übergang in die Gemeinsprache durch Bedeutungserweiterung .Angelegenheit', schließlich ,Ding': Es gehört zu den Eigenheiten der Rechts- und Gerichtssprache, daß deren Hauptwörter außerhalb der Rechtspflege besonders häufig verallgemeinert und übernommen wurden. Wie die Römer aus der „res", dem Prozeß, schließlich die Sache ganz allgemein machten, so war auch die spätantike „causa", Fachausdruck für Rechtsstreit, Grundlage für die Bedeutungserweiterung zur französischen „chose". Auch das Wort Sache kommt ursprünglich aus der Rechtspflege. Noch vor wenigen Jahren wurden Urteile mit der alten Formel „In Sachen..." eingeleitet. Verwandt mit „sagen", bezeichnet „Sache" den mündlichen Klagevortrag, allgemein den Austausch von Klageformel und -erwiderung. [...] Eine entsprechende Sinnentleerung durch Abstraktion hat auch die Bezeichnung des Gerichtes selbst erfahren: das Ding. Als Rechtswort lebt es noch in der Formel von den „dinglichen Rechten", den gerichtlich bestätigten „Be-fug-nissen" weiter. Deren vornehmste, das „Eigen-tum", hat seinerseits eine andere Rechtsbezeichnung aufbewahrt: „tum". Während aber das „Ding" außerhalb der Rechtssprache zu Ansehen gekommen ist, hat „-tum" fast nur als Wortteil rechtlich überleben können. Es bezeichnet hier die rechtsförmliche Anerkennung einer Tatsache, etwa als „Eigen-tum", „Bis-tum", „Weis-tum". Im Hamburger Volksfest, dem „Dom", als einem ursprünglichen Gerichtstag, lebt es bis heute als Hauptwort und konnte sich im Englischen als „domesday/Jüngstes Gericht" in die Kirchensprache retten. Dort hat es auch dem Reichskataster Wilhelms des Eroberers (nach 1066), dem „domesday-book", seinen Namen gegeben: die Aufzeichnungen des englischen Bodens durch die erobernden Normannen erfolgte gerichtsförmig und war damit allgemeinverbindlich. (Hattenhauer31999: 70) Bemerkenswerterweise handelt es sich hier um Pfade der Übernahme, die zu allen Zeiten zu beobachten waren, auch Gamillscheg (1951: 148) beschreibt diese Entwicklung: „Bei dem Übergang in diese [Gemeinsprache, W.M.] verlieren die Rechtsausdrücke ihre besondere Beziehung zum Rechtsleben, sie rücken in die Klasse der logisch übergeordneten Vorstellungen a u f ' . Dieser Prozess ist nicht nur zu allen Zeiten, sondern auch in vielen europäischen Sprachen zu beobachten (DSSPIL: 633). In der Romania ist hier zunächst lat. res zu nennen, das sich aus ,Besitz, Reichtum' über .Angelegenheit', .Rechtssache' oder .Geschäft' zu .Ding' (konkret und abstrakt) entwickelte (LEW, OLD). In der Bedeutung .Ding' wurde es im Französischen und Spanischen seit dem Mittelalter verdrängt und ist heute nur noch als negatives Indefinitpronomen in fr. rien (DHLF) erhalten (vgl. auch kat. res .nichts', DCLIC). Im Spanischen ist dagegen das lexikalisierte Substantiv res .Stück Vieh' erhalten. Lat. causa stand in Kontakt zu res und wurde ebenfalls in der Rechtssprache in der Bedeutung .Fall', .Angelegenheit', .Sache' verwendet (DHLF s.v. chose). Fr. chose und sp. cosa sind heute die unmarkiertesten Passepartout-Wörter des Französischen und Spanischen. Auch dt. Ding und eng. thing wurden von Bezeichnungen für die (Gerichts)versammlung zu Passe-partout-Wörtern (EWD, OED), das deutsche Passe-partout-Wort Sache entwickelte sich aus .Gerichtssache' (EWD). In der Neuzeit entstanden zahlreiche neue Passe-partout-Substantive aus juristischen und kaufmännischen Begriffen, z.B. fr. affaire .Sache' vermutlich aus affaire .Angelegenheit', Transaktion', ,Liebesdinge', über .verzwickte Angelegenheit', .Prozess', .Streitfall' (DHLF s.v. faire, FEW s.v. facere). Das vermutlich aus dem Französischen entlehnte it. affare bezeichnet heute die Angelegenheit, den juristischen Streitfall, aber auch schon eine

201 Sache, die man nicht benennen oder identifizieren kann, ein unwichtiges Ding (ZVI). Das aus dem Englischen entlehnte fr. business bezeichnete eine verzwickte Angelegenheit und konnte früher auch als Passe-partout-Wort eingesetzt werden, bezeichnet heute jedoch nur noch die Geschäfte (PR). Pg. negocio ,Geschäft/Angelegenheit' ist in der brasilianischen Umgangssprache Passe-partout-Wort geworden (ADLP). Auch sp. asunto ,Angelegenheit/Rechtsfall' kann umgangssprachlich auch als vage oder euphemistische Bezeichnung eingesetzt werden (s. DEA): (15)

Yo estoy aqui como madre de familia, quiero contar un poquito mi experiencia sobre la enfermedad de Marta a lo largo de siete anos [...] Tiene una recaida, se complica mucho el el asunto [Hervorh. von mir] con una hepatitis [...] (ORAL (1987): Debate: la eutanasia, 04/06/87, TVE 1, Espana, CREA) 18

Als Platzhalter wird auch sp. tema verwendet (Moreno Cabrera 2 2004: 165). Auch im Englischen finden wir eine Reihe von Passe-partout-Wörtern aus dem rechtlichen bzw. kaufmännischen Bereich, so kann auch das aus dem Französischen entlehnte eng. affair als Passe-partout-Wort eingesetzt werden: (16)

there's a new university there, you know, one of those plateglass and poured-concrete affairs on the edge of the town' (David Lodge (1984): Small World, 182, zit. in Hohenhaus 2000:250)

Da Passe-partout-Wörter in der Distanzsprache verpönt sind, besteht hier sehr wahrscheinlich eine stärkere Abnutzung und daher ein größerer Bedarf an ständig neuen Strategien bzw. Lexemen als in der Nähesprache. Vielleicht erklärt dies die größere Bedeutung distanzsprachlicher Quellen. Es handelt sich hier also um einen eher seltenen Fall der Pragmatikalisierung bzw. Grammatikalisierung, der seinen Ursprung in der Distanzsprache hat.

5.3

V o m gesichtwahrenden Substantiv z u m syntaktischen Platzhalter

Bei Grammatikalisierungsprozessen entstehen typischerweise zunächst durch Kommunikationsstrategien, die hörerseitig reanalysiert werden, expressive Ausdrücke für bestimmte grammatische Konzepte, bei weiterer Routinisierung erfahren sie den völligen Verlust der Expressivität (s. Detges/Waltereit 2002, Detges Ms: 176-180) und es findet eine Ausweitung der Konstruktion auf zusätzliche Kontexte statt (Heine/Kuteva 2002: 2, Nicolle 1998: 22f.). Solche routinisierten Konstruktionen können dann nicht mehr strategisch eingesetzt werden. Gleichzeitig nimmt die Kontextabhängigkeit der Funktion ab und aus pragmatisch motivierten Funktionen werden häufig syntaktische Funktionen auf der Ebene der Proposition.

18

,Ich bin hier als Familienmutter, ich möchte ein bisschen von meiner Erfahrung mit der Krankheit von Marta im Lauf von sieben Jahren erzählen [...] Sie hat einen Rückschlag, die die Sache verkompliziert sich sehr mit einer Hepatitis, es tritt ein Gehirnschlag ein.'

202 Dieser Prozess ist auch bei Platzhaltern zu beobachten. Sowohl distanzsprachliche als auch nähesprachliche Strategien können im mündlichen Diskurs eingesetzt werden, um Wortfindungsprobleme zu überspielen. Durchschaut der Hörer die Verschleierungsstrategie und reanalysiert den Ausdruck, werden diese Substantive als Passe-partout-Wörter, die das Fehlen einer korrekten spezifischeren Bezeichnung anzeigen, konventionalisiert.Allerdings durchschaut der Hörer den Sprecher hier nicht nur, sondern kommt ihm entgegen. Er implikiert, dass der Sprecher kooperativ ist und seine Äußerung ausreichend Information bereitstellt, um mit Hilfe des Kontextes und gemeinsamem Hintergrundwissen interpretiert werden zu können. Er versteht den Einsatz von Passe-partout-Wörtera außerdem als Aufforderung, bei der Interpretation zu kooperieren. Das Passe-partout-Substantiv wird vom vertuschenden Element zu einem deiktischen Element, das auf die momentan nicht präsente korrekte Bezeichnung und gemeinsames Hintergrundwissen verweist. Enfield nennt diese spezielle Art der Deixis „recognitional deixis" (Enfield 2003: 111). Manche Passe-partoutWörter entstehen direkt als „Hilferuf des Sprechers, z.B. eng. what-d'you-call-it, ebenso die Passe-partout-Wörter argentinischer Varietäten des Spanischen comosellama, wörtlich ,wie heißt er/sie' und comoes ,wie ist er/sie' (DEAR s.v. comosellama, comoes). Auch die bisher vorgestellten Passe-partout-Wörter werden im Verlauf der Konventionalisierung vom Hörer als Deiktika reanalysiert und enthalten dann einen Appell an den Hörer, bei der Interpretation zu kooperieren, der manchmal explizit verbalisiert wird: (17)

Elle disait, ä tout instant, quand eile recevait de leurs amis: „Valdo, mon eher, joue-leur ton machin... tu sais, ton interlude." [Hervorh. von mir] (Duhamel (1934): Vue de la terre promise, FRANTEXT)' 9

(18)

A: [...] le le les jeunes qui sont en apprentissage qu'est-ce qui leur plait dans leurs loisirs ben euh jouer ä des trucs electriques lä au machin au B: aux flippers. A: oui vous savez au true lä qu'on tourne. B: au football ? Α: oui au petit football miniature des des trucs comme 9a quoi. [...] [Hervorh. von mir] (Corpus Orleans, file t017.txt, ELICOP) 20

Der Lexikoneintrag von sp. cosa in DEA erwähnt ausdrücklich die Funktion des Verweises auf gemeinsames Wissen von Sprecher und Hörer:

19

20

,Sie sagte ständig, wenn sie Freunde empfing: „Valdo, mein Lieber, spiel ihnen dein Dings vor...du weißt schon, dein Interludium." ' ,A: [...] die die die Jungen, die in der Lehre sind was gefällt ihnen in ihrer Freizeit nun äh mit elektrischen Dingens spielen mit Dingsbums mit B: Mit Flipperautomaten. A: ja Sie wissen schon mit dem Dingsda, das man dreht. B: Fußball? A: ja, Tischfußball solche Dinge.'

203 (19)

cosa designa provisionalmente una realidad mäs ο menos consabida que no se acierta a nombrar ο que no se cree que valga la pena molestarse en precisar. A veces con valor expletivo, como remate vago de una enumeration. 21

Aus den Vertuschungselementen werden so deiktische Unsicherheitssignale. Häufig sind Passe-partout-Wörter auch von Deiktika begleitet (s. auch Koch/Oesterreicher 1990: 111), z.B. ce truc-lä ,dieses Ding da' (vgl. Kleiber 1987: 113), dt. Dingsda, sp. el chisme ese ,das Ding da' (Beinhauer 31978: 416). Das deiktische Element verweist dann auf das, was dem Sprecher auf der Zunge liegt (Beinhauer 3 1978: 417) und was vom Hörer implikiert werden kann. Passe-partout-Wörter mit deiktischer Funktion können nicht mehr selbständig referieren. Allerdings können sie wie die Deiktika nicht mehr der Verschleierung von Wortfindungsproblemen dienen, da sie explizit auf das Problem hinweisen. Werden die Passe-partout-Wörter weiter konventionalisiert, verlieren sie ihre deiktische Kraft und erfahren so eine Bedeutungserweiterung auf zusätzliche Kontexte. Detges (Ms: 99-103) nennt diesen Prozess „Weitergrammatikalisierung", der hier dadurch zustande kommt, dass die Passe-partout-Wörter auch in Kontexten eingesetzt werden, in denen der Sprecher die korrekte Bezeichnung kennt, sie aus anderen Gründen aber nicht nennt. Womöglich werden hier bisweilen Wortfindungsprobleme fingiert, um zu verbergen, dass absichtlich eine spezifische Aussage vorenthalten wird. In diesem Moment sind die konventionalisierten Passe-partout-Wörter auch nicht mehr an das mündliche Medium gebunden, in dem Wortfindungsprobleme auftreten können und vertuscht werden. Konventionalisierte Passe-partout-Wörter können wie andere generische Substantive euphemistisch in Tabubereichen eingesetzt werden (s. auch Grevisse/Goosse l3 1993: 298): (20)

- De fa... Du true...Je me force a poser la main sur le couvercle du cercueil. (Benoziglio (1980): Cabinet portrait, FRANTEXT) 2 2

Keiner strategischen Rechtfertigung bedarf auch die Verwendung bei Referenten, die nicht durch ein einfaches Lexem benannt werden können: (21)

II y a un liquide qui suinte sur les montants de la cage, dit Wolf. - Ce que vous aviez sur la figure en descendant ? demanda Lazuli. Ce machin noir et collant? (Vian (1950): L'herbe rouge, FRANTEXT) 2 3

Ein weiterer Fall des nichtexpressiven Einsatzes liegt bei manchen Verwendungen von Passe-partout-Wörtern vor, die indefinite Nominalphrasen bilden. Hier wird bewusst eine sehr hohe Generalisierungsebene gewählt und so muss bzw. kann der Referent nicht aus dem Kontext erschlossen werden. Daher liegt weder ein Bedürfnis zur Verschleierung von Ignoranz noch ein Fall von Deixis vor. In vielen Sprachen sind Indefinitpronomina nicht

21

22 23

,Cosa bezeichnet provisorisch einen Sachverhalt, der mehr oder weniger hinlänglich bekannt ist, den man nicht zu benennen vermag oder den man nicht für wert befindet, präzisiert zu werden. Manchmal mit expletivem Wert, als vager Abschluss einer Aufzählung.' .Davon... Von dem Dings...Ich zwinge mich, die Hand auf den Sargdeckel zu legen.' ,Da ist eine Flüssigkeit, die aus den Käfigpfosten schwitzt, sagte Wolf. - Das, was Sie beim Herunterkommen im Gesicht hatten? fragte Lazuli. Dieses schwarze klebrige Zeug?'

204 grammatikalisiert und werden durch solche semantisch fast leere indefinite Nominalphrasen ersetzt (Haspelmath 1997: 53). Sp. una cosa ,eine Sache' oder alguna cosa irgendeine Sache' können daher häufig an die Stelle von algo ,etwas' treten (Fernandez Ramirez 1987: 378, Morreale 1984: 151). Neben der Verwendung von Passe-partout-Wörtern für unbenennbare oder indefinite Referenten können konventionalisierte Passe-partout-Wörter auch anaphorisch (allerdings mit einigen Einschränkungen, s. Kleiber 1994a: 24) eingesetzt werden: (22)

On a regarde l'engin demarrer en faisant des petits signes et le true [Hervorh. von mir] a plonge dans la nuit comme le monstre du loch Ness. (Dijan (1985): 37.2° le matin, FRANTEXT) 24

Substantive mit der Bedeutung ,Gegenstand', Sachverhalt', Angelegenheit', ,Ding' werden in vielen Sprachen zu Junktoren (Heine/Kuteva 2002: 21 Off., 295). Der anaphorische und kataphorische Gebrauch spielt bei der Entstehung von Junktoren die entscheidende Rolle (vgl. Raible 1992). Relativpronomen entstehen häufig über anaphorische Verwendungen. Die folgenden Beispiele zeigen mögliche Vorstufen: (23)

II n'a pas reussi, chose qui m'etonne beaueoup. ,Er hatte keinen Erfolg, was mich sehr verwundert.' (Frei 1929: 143)

(24)

Estudiar es cosa que no me importa. ,Studieren ist mir nicht wichtig' (MOL s.v. cosa)

Konventionalisierte Passe-partout-Wörter können auch rein syntaktische Füllelemente werden wie in (25) (s. Fronek 1982: 640-652) oder wie in (26) als relativ beliebig zu füllende Variablen dienen: (25)

He slipped away, just when things were perfect... (O'Brien zit. in Fronek 1982: 643)

(26)

[...] el tipo se ponia a por ejemplo, a cantar un päjaro, „este es tal päjaro", como hace el pajaro?", y entonces le imitaba el canto de los päjaros, „y aquel ärbol es tal ärbol, y aquel coso es tal cosa." [Hervorh. von mir] (Oral (1999): CSMV texto MDA3FB, Venezuela, CREA) 25

Da Passe-partout-Wörter nicht autonom referieren oder prädizieren, ist der folgende Satz problematisch: (27)

? Ma voiture, e'est une chose rouge. ,Mein Auto ist ein rote Sache' (Kleiber 1994a: 26)

Das Adjektiv fr. rouge setzt eine begrenzte referentielle Kategorie voraus (Kleiber 1994a: 26) und modifiziert hier einen Referenten. Dagegen ist folgendes Beispiel möglich, da hier chose als Stütze für das wertende Adjektiv formidable eingesetzt wird, das weder der Modifikation des Referenten noch der Referenz dient (vgl. Kleiber 1987: 125ff., 1994a: 25f.):

24

25

,Wir schauten, wie der Motor ansprang und winkten etwas und es/ das Ding tauchte ab in die Nacht wie das Monster von Loch Ness.' ,Der Typ machte sich zum Beispiel daran, einen Vogel nachzusingen, „dies ist Vogel soundso", und „wie macht der Vogel?", dann machte er einem den Vogelgesang nach, „und der Baum dort ist Baum soundso, und jenes Dings ist Ding soundso." '

205 (28)

Ma voiture, c'est une chose formidable. ,Mein Auto ist eine tolle Sache' (Kleiber 1994a: 25)

So dienen Passe-partout-Wörter lange schon auch der Substantivierung von Adjektiven und übersetzten bereits im 13. Jahrhundert häufig lateinische Neutra von Adjektiven, z.B. im Altspanischen las cosas passadas vergangene Dinge' fur lat. praeterita Vergangenes' (Morreale 1981:231), wie heute eng. good things im Deutschen durch Gutes übersetzt wird (s. Löfstedt 1972: 342f., Morreale 1984: 165f.). Bereits im Lateinischen diente res in bestimmten obliquen Kasus in Adjektiv- und Pronominaldeklinationen zur Neutrumbildung, z.B. wurde zu aliquid irgendetwas' die genitive Form alicuius rei .beliebiger Dinge' gebildet (PGLD s.v. res, vgl. Löfstedt 1972: 332, 342f.). Durch die Konventionalisierung verlieren Passe-partout-Wörter so ihre pragmatische Funktion als Deiktika. Sie sind nicht mehr an die Nähesprache gebunden und übernehmen zunehmend grammatische Funktionen auf propositionaler Ebene und werden zu syntaktischen Füllelementen (s. auch Schütze 2001). Ihr Vorteil gegenüber Pronomen besteht darin, dass sie syntaktisch flexibler sind und z.B. problemlos modifiziert werden können (Fronek 1982: 640, Ivanic 1991: 107, 112). Sie können außerdem betont werden und eignen sich daher gut zur Reifizierung von Sachverhalten. Als Konsequenz der Konventionalisierung erfahren die betroffenen Substantive eine Reihe weiterer Veränderungen. Typisch für die Weitergrammatikalisierung ist der Verlust der Expressivität, wodurch das betroffene Element eine Bedeutungserweiterung erfahrt. Ähnliches ist auch im Fall der Passe-partout-Substantive zu beobachten. Durch Konventionalisierung verlieren die Wörter die diasystematische nähesprachliche Markierung. So ist chose im Unterschied zu true diesbezüglich nicht mehr markiert, daher ist (29) sinnvoll als Negation der pejorativen bzw. nähesprachlichen Markierung, (30) ist dagegen so nicht interpretierbar: (29)

C'est pas un truc/machin/bidule, c'est un foumeau. ,Das ist kein Dingens, das ist ein Herd' (Kleiber 1987: 113)

(30)

?C'est pas une chose, c'est un fourneau. ,Das ist keine Sache, das ist ein Herd' (Kleiber 1987:113)

Auch sp. cosa ist nach MOL nicht markiert, allerdings gibt DEA bei cosa eine umgangssprachliche Markierung an. Dennoch ist es deutlich schwächer markiert als z.B. chisme: (31)

Para que me entiendan, el papansil es un chisme (los chismes ni siquiera alcanzan la categoria de cosas) [...] [Hervorh. von mir] (El Mundo, 10/11/1994: Carmen Rigalt: „Dedicado a los insomnes", CREA) 2 6

Neben der diasystematischen Markierung verlieren Passe-partout-Wörter durch die Konventionalisierung zunehmend an semantischem Gehalt. Bei der Entstehung besitzen sie meist noch einige wenige semantische Spezifizierungen wie [+/- groß], [+/- konkret], [+/menschlich], [+/- zählbar] (vgl. Koch/Oesterreicher 1990: 104). Stark konventionalisierte

26

,Damit Sie mich recht verstehen, der Papansil ist ein Dingsbums (die Dingsbums erreichen nicht einmal den Status von Dingen) [...]'

206 Passe-partout-Wörter wie z.B. sp. cosa und fr. chose, aber in geringerem Maß auch fr. true und machin besitzen dagegen kaum noch derartige semantische Informationen. Bisweilen besitzen Passe-partout-Substantive noch visuelle oder funktionale Merkmale ihrer Quelllexeme, so bezeichnet sp. chisme zumindest laut einigen Wörterbüchern noch meist kleinere Gegenstände (s. z.B. DEA). Diese Merkmale gehen allerdings bei der Konventionalisierung relativ schnell verloren. Wichtiger und äußerst stabil ist dagegen die Unterscheidung zwischen Passe-partout-Wörtern für Menschen und solchen für alle anderen Referenten (Koch/Oesterreicher 1990: 105). Selbst die am stärksten grammatikalisierten Passe-partoutWörter sp. cosa und fr. chose werden nicht bei menschlichen Referenten eingesetzt (Kleiber 1987: 110). Spezielle Passe-partout-Wörter für Menschen sind dagegen fr. type, mec, nana, sp. lipo, tio, tia - meist wird außerdem nach Geschlecht unterschieden. Die Information, ob es um einen Menschen geht oder nicht, ist sehr informativ und geht daher nicht ohne Weiteres verloren. Bei Menschen befindet sich die Standardbenennungsebene auf der Ebene des Individuums, das durch Eigennamen benannt wird. Fällt einem Sprecher dieser nicht ein, droht Prestigeverlust und eine Gefahr für soziale Beziehungen, daher tritt hier auf niedriger Generalisierungsebene bzw. auf der Ebene der Referenz auf ein Individuum die Strategie der Verschleierung auf den Plan. Bei der Entstehung von Passe-partout-Wörtern für nichtmenschliche Referenten sind Konkreta und Abstrakta zunächst meist klar unterschieden. Häufig entstehen bei nähesprachlichen Strategien Konkreta, z.B. fr. engin, machin, true und sp. cacharro, chisme und trasto, während bei distanzsprachlichen Strategien zunächst Abstrakta entstehen, vermutlich bedingt durch unterschiedliche Gesprächsthemen: [Die Bezeichnung für DING, W.M.] is based on a variety of specific notions, and most commonly the generalization to an act, event, or affair is earlier than that to a material object. A few of the words listed are still not used for ,thing' as a material object. In several cases, partly due to semantic borrowing, the development has been through ,subject of litigation'. Other sources are ,act, deed, work, share, thing needed, property', etc. (DSSPIL: 633) Bei zunehmender Konventionalisierung verschwindet auch diese Unterscheidung. Sp. cosa, fr. chose und true (PR) sind heute sowohl konkret als auch abstrakt, it. affäre (ZVI) (a che serve quelVaffare che hai in mano? ,Wozu dient das Ding, das du in der Hand hast?') und eng. affair ebenfalls (s. Hohenhaus 2000: 250, Fußnote 6, Koch/Oesterreicher 1990: 106). Das ursprünglich abstrakte umgangssprachliche brasilianische Passe-partout-Wort negocio wird heute ebenfalls auch für konkrete Referenten eingesetzt (ADLP). Sp. trasto, chisme und cacharro sind dagegen noch auf konkrete Referenten beschränkt (pers. Mitteilung v. Clara Perez und Alberto Zuluaga). Fr. bidule, engin und machin scheinen im Gegensatz zu chose und true ebenfalls noch meist auf konkrete Gegenstände beschränkt zu sein (PR) und sind daher problematisch beim Bezug auf Nomina actionis in Sätzen wie ,Fischen ist eine tolle Sache' (s. Kleiber 1987: 113): (32)

?Pecher, e'est un machin/bidule formidable.

Allerdings finden sich machin und bidule vereinzelt bereits in abstrakten Verwendungen:

207 (33)

- Papa, dit David, le soir, il lit tout haut pour la famille les livres de Moi'se et... - Tu comprends ces machins-lä [Hervorh. von mir]? (Sabatier (1985): David et Olivier, (FRANTEXT) 2 7

(34)

Le concept de Mere Nature peut nous paraitre, a nous occidentaux, comme un peu rechauffe, un true, un bidule invente par les „ecolos"... [Hervorh. von mir] (http://www.buta-connection.net/films/mon_voisin_totoro/analyse2.htm, 29.07.2004) 2 8

Eine weitere grundsätzliche semantische Unterscheidung besteht zwischen zählbaren und unzählbaren Passe-partout-Wörtern. So sind die bisher diskutierten Passe-partout-Wörter, z.B. sp. chisme oder trasto, zählbar (MOL), Massennomina sind dagegen it. roba (Koch/Oesterreicher 1990: 106), dt. Zeug und eng. stuff. Andere wiederum können sich syntaktisch sowohl wie zählbare als auch unzählbare Substantive verhalten. 29 Fr. machin und true sind in der Regel zählbar, aber es finden sich auch Kontexte, in denen sie wie Massennomina eingesetzt werden, z.B. ςα se mange avec du machin ,das isst man mit Dingens' (Koch/Oesterreicher 1990: 106): (35)

Vous avez plein de true rouge sur la gueule. ,Sie haben jede Menge rotes Zeug in der Visage' (Benoziglio (1980): Cabinet portrait, FRANTEXT)

Eigenartigerweise verhalten sich die am stärksten konventionalisierten Passe-partoutWörter fr. chose und sp. cosa syntaktisch immer wie zählbare Substantive und können daher nicht mit dem Teilungsartikel auftreten, so ist *de la chose (Kleiber 1994a: 16) ungrammatisch. Dennoch können sie auf Substanzen referieren. Sie referieren wie Massennomina divisiv und kumulativ (Kleiber 1987: 119ff, 1994a: 16-20, 28). Sie verhalten sich jedoch syntaktisch dabei wie Individualnomina. Sp. cosa, fr. chose, true und machin sind am stärksten konventionalisiert. Sie besitzen nur noch das Merkmal UNBELEBT, sie sind syntaktisch gesehen zählbar, können semantisch aber auch auf Substanzen referieren (Kleiber 1994a: 16-20). Es bleiben also keine rein lexikalischen Merkmale übrig (vgl. Emonds 1985: 169). Eng. thing und dt. Ding und Sache scheinen allerdings semantisch noch reicher zu sein als fr. chose und sp. cosa, denn für Massennomina tritt eng. stuff und dt. Zeug ein, während eng. thing und dt. Ding und Sache auch semantisch zählbar sind. Dt. Ding wird außerdem im Singular tendenziell für konkrete Referenten, Sache eher für Abstrakta eingesetzt: (36)

Sie hat mir eine furchtbare Sache /?? ein furchtbares Ding/ erzählt.

(37)

Er hat sich ein Ding /? eine Sache/ gekauft, das so ähnlich wie eine Kaffeemühle aussieht.

Im Gegensatz zu vielen Grammatikalisierungsprozessen ist im Falle der Passe-partoutWörter allerdings zunächst kein deutlicher Dekategorialisierungsprozess zu erkennen, bei

27

28

29

, - P a p a , sagte David, liest abends laut der Familie die Bücher Moses vor und... -Verstehst du das Zeug?' ,Das Konzept Mutter Natur erscheint uns Abendländern vielleicht ein bisschen als ein alter Hut, ein Dings, ein von Ökos erfundenes Dingsbums...' Kollektiva mit der Bedeutung ,Zeug, Kram' findet man ebenfalls unter den Passe-partout-Wörtern, z.B. dt. Kram, fr. fourbi, sp. bärtulos, eng. s t u f f , sie scheinen jedoch weniger konventionalisiert zu sein.

208 dem die grammatikalisierten Lexeme morphologische und syntaktische Eigenschaften ihrer Wortart verlieren. Die Konventionalisierung hat aber beispielsweise Auswirkungen auf das Genus. Im Französischen und Spanischen ist das maskuline Genus unmarkiert. Fr. machin ist erst seit 1807 belegt (DHLF s.v. machine, Grevisse/Goosse 131993: 296) und wurde als maskulines Passe-partout-Wort von machine abgeleitet. In vielen Anwendungen als Passepartout-Wort ist auch das ursprünglich feminine fr. chose maskulin (Togeby 1982: 109) wie auch fr. rien, personne und äme als Negationspartikel (Roche 1997: 20): (38)

Un chose pour ouvrir les bouteilles ,Ein Ding zum Öffnen von Flaschen' (PR s.v. chose)

Im Italienischen wurde der maskuline Platzhalter coso von cosa abgeleitet. Coso wurde ins argentinische Spanisch entlehnt (DCECH s.v. cosa). Auch im Portugiesischen findet man die maskuline Ableitung coiso von coisa (s. auch Viegas Brauer-Figueiredo 1999: 329). Außerdem beobachtet man bisweilen eine eingeschränkte Möglichkeit der direkten Modifikation durch Adjektive. So findet man neben fr. des trucs electriques ,elektrische Dinge' (Corpus Orleans, file t017.txt, ELICOP) auch des trucs d'organises organisierte Sachen' (Corpus Orleans, file t017.txt, ELICOP). Eine Reihe weniger auffälliger Beschränkungen sind auf die semantische Vagheit und ihre deiktische Kraft zurückzufuhren, so können Passe-partout-Wörter nicht mehr generisch verwendet werden. Die am stärksten konventionalisierten Passe-partout-Substantive fr. chose und sp. cosa zeigen außerdem einen für Grammatikalisierungsprozesse typischen extrem starken Frequenzanstieg (s. Abb. 23).

5.4

Passe-partout-Substantive: grammatische Substantive ?

Zum linguistischen Status von Passe-partout-Wörtern finden sich in der Literatur eher verstreute Hinweise. Halliday/Hasan (1976: 274) und Fronek (1982: 637) ordnen solche Substantive im Grenzbereich zwischen Lexikon und Grammatik ein. Emonds bezeichnet Substantive wie eng. one, self, thing, place, time, body, people als grammatische Substantive (Emonds 1985: 162). Meines Erachtens ist Fronek (1982: 637) zuzustimmen: „thing is much closer to the class of function words than is generally appreciated". In der Tat gibt es Hinweise dafür, dass sp. cosa und fr. chose und andere Passe-partoutWörter keine lexikalischen Einheiten sind. Dies wird besonders deutlich, wenn sie semantisch sehr armen, aber noch klar lexikalischen Substantiven wie fr. objet oder sp. objeto ,Objekt' gegenübergestellt werden. Lexikalische Substantive können meist kontextunabhängig referieren und der Prädikation dienen: Was die geringe paradigmatische Differenzierung betrifft, so könnte man auf den Gedanken kommen, daß Lexeme wie dt./fr./it./sp. Gegenstand/objet/oggetto/objeto usw. wegen ihrer geringen Intension und hohen Extension mit Passe-partout-Wörtern wie dt./fr./it./sp. Ding(s) usw. auf einer Stufe stehen. Es ist jedoch zu beachten, daß beide Typen von Lexemen völlig verschieden verwendet werden: ein Lexem des Typs Gegenstand gibt dem Rezipienten zu verstehen, daß er - unabhängig von der Konzeption - ein Referenzobjekt zu identifizieren hat, das gerade auf der durch die Kombination weniger semantischer Merkmale definierten Abstraktionsebene angesiedelt ist [...] (Koch/Oesterreicher 1990: 108f.)

209 Passe-partout-Wörter können hingegen nur über ihre deiktische Kraft referieren oder referieren in der grammatischen Funktion als Füllwörter überhaupt nicht. Sie informieren also in deiktischer Funktion darüber, dass die Bezeichnung des Referenten nicht identifiziert ist, aber über den Kontext herausgefunden werden kann: [...] im Gegensatz dazu gibt ein Lexem des Typs Ding(s)

dem Rezipienten zu verstehen, daß er ein

Referenzobjekt zu identifizieren hat, das durch die Kombination weniger semantischer Merkmale sprachlich nur ganz grob gekennzeichnet ist, aber unter den Bedingungen kommunikativer Nähe mühelos identifiziert werden kann. (Koch/Oesterreicher 1990: 109)

Passe-partout-Wörter unterscheiden sich in ihrer Funktion also grundlegend von Lexemen, sie können im Gegensatz zu den meisten Substantiven nicht mehr autonom referieren und prädizieren (Kleiber 1987: 114): (39)

? C'est une chose. ,Das ist ein Ding'

Dagegen kann fr. objet als korrekte „eigentliche" Bezeichnung eingesetzt werden (Kleiber 1987: 114): (40)

C'est un objet. ,Das ist ein Gegenstand'

Darauf beruht auch die distanzsprachliche Strategie der Vertuschung von Wortfindungsproblemen (s. 5.2.2). Die Tatsache, dass Passe-partout-Wörter nicht mehr autonom referieren können, spricht dafür, dass sie keine Inhaltswörter sind. In den deiktischen Funktionen sind sie pragmatische Marker, in der Funktion als Füllwort, z.B. als Adjektivstütze, sind sie sehr automatisiert und werden dann vermutlich wie andere Funktionswörter bei der Sprachproduktion nicht so früh selegiert wie Lexeme, sondern vermutlich erst spät in Abhängigkeit vom syntaktischen Rahmen eingesetzt.

5.5

Delokutiver Wandel von Passe-partout-Substantiven

Die einzige semantische Unterscheidung, die stark konventionalisierte Passe-partoutWörter behalten, ist die Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Referenten, allerdings scheint es einige Gegenbeispiele zu geben, bei denen ursprünglich für unbelebte Referenten eingesetzte Passe-partout-Wörter für menschliche Referenten verwendet werden: (41)

fr. Hier, j'ai rencontre Machin. .Gestern habe ich Dings getroffen.'

Es wird gezeigt werden, dass diese Verwendung auf einem speziellen Wandeltyp beruht, durch den neue Funktionen entstehen, nicht aber durch eine einfache Generalisierung. Hier handelt es sich um einen Fall von delokutivem Wandel im weiteren Sinne. Delokutiver Sprachwandel liegt vor, wenn eine Lautkette, die zunächst mit einem bestimmten Sprechakt assoziiert ist, diesen Sprechakt oder im weiteren Sinn damit assoziierte Funktionen bezeichnet (Koch 1993: 268-275, Waltereit (im Druck b). Benveniste (1966: 277-285) beschrieb das Phänomen zunächst bei Verben, die von einer formelhaften Äußerung abgelei-

210 tet werden und dann den Vollzug der Äußerung bezeichnen (s. auch Koch 1993: 268). So wird aus lat. salus .Gesundheit', ,Heil\ das Element einer Begrüßungsformel war, das Verb salutare ,grüßen', also die Bezeichnung für die Handlung der Begrüßung selbst. Anscombre (1985: 10) erweiterte den Begriff auch auf andere Wortarten wie die Entstehung von Substantiven, z.B. le oui ,das Ja'. Aus pragmatischen Eigenschaften von Sprechakten, die ein bestimmtes Lexem häufig enthalten, wird ein Teil der Semantik des Lexems. Viele Fälle vermeintlicher Degrammatikalisierung sind tatsächlich Fälle von delokutivem Bedeutungswandel, durch den aus grammatischen Elementen Lexeme werden, z.B. fr. tu —* tutoyer ,du —* duzen'. Diese Fälle von delokutivem Wandel machen dem Bewusstsein eigentlich schlecht zugängliche grammatische Elemente bewusst. Dies verlangt besonders bei den grammatischen Elementen einen gewissen Grad an Metareflexion, der vielleicht am ehesten in alphabetisierten Gesellschaften gegeben ist (s. Haspelmath 1999: 1064, Fußnote 1, Haspelmath 2004: 30). Waltereit (im Druck b) zeigt, dass durch delokutiven Wandel auch pragmatische Marker entstehen können, z.B. Abtönungsformen. Im Folgenden soll demonstriert werden, dass es bei Verwendungen einiger Passe-partout-Wörter wie fr. machin in Hier, j'ai rencontre Machin ,Gestern habe ich Dings getroffen' oder fr. chose in C 'est chose qui α sonne , Dings hat geklingelt' nicht um die Aufgabe der an sich sehr stabilen Unterscheidung +/- menschlich bei Passe-partout-Wörtern geht, sondern um die Entstehung einer zusätzlichen pragmatischen Funktion durch delokutiven Wandel im weiteren Sinn, da hier nicht der Sprechakt, sondern Verwendungsmotive und der Akt der Substitution von Passepartout-Wörtern zur alleinigen Funktion werden. Der typische Kontext von Äußerungen, die Passe-partout-Wörter enthalten, ist eine Situation, in der das korrekte Lexem dem Sprecher nicht bekannt ist und das Passe-partout-Substantiv als Platzhalter dient. Dabei wird das adäquate Zeichen durch ein Füllelement mit vagerer Bedeutung ersetzt. (42)

oh ben toutes les barricades qu'ils ont faits tout 9a lä c'est puis envahir les machine les comment on appelle f a ? les theatres tout 9a [...] [Hervorh. von mir] (Corpus Orleans, file t077.txt, ELICOP) 30

Der Kontext des Nichtwissens und der Ersetzung einer Lautkette durch eine andere wird manchmal durch delokutiven Bedeutungswandel zur alleinigen Bedeutung des Passepartout-Worts. Dabei verschwindet die zwar vage, aber dennoch vorhandene semantische Spezifizierung des Passe-partout-Wortes, es bleibt allein die Funktion des Lautkettenersatzes und so können nun auch menschliche Eigennamen ersetzt werden:

30

31

(43)

Si j'entends chanter Bidule, il se passera quelque chose. Ou bien les paroles de la prochaine chanson decriront mon avenir. [Hervorh. von mir] (Ernaux (1977): Ce qu'ils disent ou rien, FRANTEXT) 3 '

(44)

C'est True qui me l'a dit. ,Dings hat es mir gesagt.'

,na ja alle Barrikaden, die sie gemacht haben, all das das ist dann die Dingens besetzen die wie nennt man das? Die Theater all das' ,Wenn ich Dingens singen höre, passiert was. Oder der Text des nächsten Liedes beschreibt meine Zukunft'

211

Die Funktion des reinen Lautkettenersatzes ohne jegliche semantische Spezifikation zeigt sich auch darin, dass Morpheme und selbst Silben ersetzt werden können: (45)

Tu m'en parlais de mon grand-pere d'Istan-machin-chose? -

Is-tan-bul. (Benoziglio

(1980): Cabinet portrait, FRANTEXT)32

Auch eng. thing und dt. Dingens werden so eingesetzt: (46)

This Lord Voldything's back, you say. (Rowling 2003: 39)

(47)

Wann war das? Ööh... Sommer 2001? (Alz... dingens.. äh.. heimer?) [Hervorh. von mir] (http://www.netzock.de/Mitglieder/Machine/body machine.html, 29.07. 2004) 5 3

Die Beispiele zeigen auch, dass fr. machin, chose, biduie, true, dt. Dings, Dingens, Dingsda (GDW) nicht die zusätzliche Bedeutung + menschlich annehmen, sondern delokutiv prinzipiell für alle Lautketten, daher auch für die so gut wie intensionslosen Eigennamen eingesetzt werden, nicht nur menschliche. Allerdings sind Eigennamen meist Personennamen. Bei Bedarf können die Platzhalter lautlich durch meist bedeutungsleere Elemente oder die Zusammensetzung mehrerer Platzhalter verlängert werden, um die Länge der ersetzten Lautkette zu imitieren, ein sehr produktiver und kreativer Prozess (vgl. Enfield 2003: 115). So existieren neben den einfachen Formen fr. trucmuche (PR), machinchose (s. Bayon (1987): Le Lycien, S. 198, FRANTEXT), eng. thingy, thingummy, thingumajig, thingumabob, thingumbob, doohickey, doodah etc. (CED s.v. thingumabob, Channell 1994: 158f., Enfield 2003: 115, OED), dt. Dingsbums, (GDW), Dingens, Dingenskirchen34. Im Unterschied zu nicht delokutiven Passe-partout-Wörtern ist hier das intendierte Lemma (im psycholinguistischen Sinn) bei der Ersetzung einer Lautkette aktiviert. Nach Levelt (1989: 162) verbindet das Lemma das lexikalische Konzept mit einzelsprachlichen grammatischen Informationen wie Wortart und Genus. Evidenz fur die psychologische Realität von Lemmata sind TOT-Phänomene, so kann das Lemma unabhängig von der Wortform zugänglich sein: Wenn einem Sprecher beispielsweise ein Substantiv nicht einfallt, aber auf der Zunge liegt, kann er oft neben dem Konzept und vagen Informationen zur lautlichen Form auch Genus und Wortart angeben. Diese delokutiven Passe-partout-Wörter reflektieren häufig Lemmainformation, neben der Wortart z.B. Genus, aber auch Informationen zur Silbenstruktur des ersetzten Elements, die durch Lautkettenverlängerung des Passe-partout-Worts imitiert werden kann. Bei der Ersetzung von Eigennamen wird meist zwischen weiblichen und männlichen Eigennamen unterscheiden, z.B. fr. machin und machine (PR s.v. machin und machine), dt. die Dings und der Dings, früher auch die Dingin (GDW s.v. Dingin, Dings, Dingsda), it. coso und cosa (ZVI). Ersetzen sie Eigennamen, werden sie außerdem häufig großgeschrieben. Dies weist auch darauf hin, dass solche Platzhalter bei der Sprachproduktion spät aktiviert werden.

32 33

34

,Du hast mir von meinem Großvater aus Istan-Dings-bums erzählt' Chats oder blogs im Internet simulieren meist spontane Mündlichkeit, hier wird also Dingens eher stilistisch eingesetzt, um mündliche Spontaneität zu simulieren, es handelt sich hier sicher nicht um echte Wortfindungsprobleme. Dingskirchen wurde zunächst für unbekannte Ortsbezeichnungen eingesetzt (GDW s.v. Dingskir-

chen).

212 Einige Ad-hoc-Verfahren machen deutlich, wie diese delokutiven Platzhalter entstanden sein müssen. Ein drastischer Fall einer delokutiven Ad-hoc-Verwendung zur Lautkettenersetzung ist folgender Gebrauch von fr. merde ,Scheiße', das normalerweise holophrastisch gebraucht wird, um Verachtung oder Ärger auszudrücken: (48)

II s'appele (sie) Soliman Melchior Samba DIAWARA [...] - Soliman Melchior True Merde? avait dit Germain, le cantonnier en rigolant. Et puis quoi encore? C'est quoi ce bordel? Peut pas s'appeler Gerard comme tout le monde? [Hervorh. von mir] (Vargas 1999: 32)35

Auffälliger noch ist in dieser Funktion der delokutive Einsatz von Indefinitpronomina der Bedeutung .irgendein', da hier beim Einsatz einer N P in einer N-Position syntaktische Grenzen verschoben werden. Eine syntaktisch komplexere Konstituente wird, wie häufig bei delokutiven Lexemen, als einfaches Lexem reanalysiert: (49)

[...] ja näo me lembro do nome dele e um chamado qualquer coisa eh [Hervorh. von mir] (Viegas Brauer-Figueiredo 1999: 332)36

Diese Pronomina f ü r Eigennamen bzw. Lautketten können wie die nicht delokutiven Gegenstücke auch in Kontexten gebraucht werden, in denen der N a m e aus anderen Gründen nicht genannt wird, z.B. Verachtung, Tabu oder Diskretion (vgl. Channeil 1994: 158-161). Die Tatsache, dass nicht alle Passe-partout-Wörter Eigennamen ersetzen können und diese Pronomina für Eigennamen nicht in allen Sprachen auf diese Art entstehen, ist ebenfalls ein gutes Argument dafür, dass es sich u m einen neuen spezifischen Wandelprozess handelt und nicht einfach um eine weitere Konventionalisierung. Im Französischen haben chose, true, machin und bidule diesen Wandel erfahren, vermutlich teilweise durch Analogie, nicht aber sp. cosa oder chisme: (50)

? Cosa me lo ha dicho. ,? Sache hat es mir gesagt.'

Dagegen existieren im Italienischen analoge delokutive Ableitungen: (51)

mi ha telefonato coso. ,Dingens hat mich angerufen.' (GEU1 s.v. coso)

(52)

ieri ho incontrato la cosa. ,Gestern habe ich die Dingens getroffen.' (ZVI)

Das Portugiesische besitzt ebenfalls delokutive Ableitungen dieser Art, auch coiso, coisa, couso, cousa (DLPC s.v. coiso) werden für momentan nicht präsente Eigennamen eingesetzt: (53)

35

36 37

porque eu hä poueo ouvi falar ο o/falou ο coiso ο Stoltenberg da Niedersachsen (Viegas Brauer-Figueiredo 1999: 335)37

,Er heißt Soliman Melchior Samba DIAWARA [...] - Soliman Melchior Dingens Scheiße ? hatte Germain, der Straßenarbeiter lachend gesagt. Und was noch? Was ist das fur ein Hickhack? Kann er nicht Gerard wie alle heißen?' ,ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen, er heißt Dingens (wörtlich: irgendwas) ne' ,weil ich vor kurzem den den Dings den Stoltenberg aus Niedersachsen sprechen gehört habe.'

213 Im Französischen finden wir neben den zahlreichen Pronomina für Eigennamen bzw. Lautketten auch Fälle delokutiven Wandels, die von Konversion begleitet sind, nämlich das Verb choser ,dingsen' (region., D H L F s.v. chose, Grevisse/Goosse 13 1993: 296) und das Adjektiv chose, z.B. se sentir tout chose ,sich so la la fühlen' (PR). Auch eng. thingy wird sporadisch verbal verwendet: (54)

If it's her computer though, they might just erm, thingy it and change it to suit them. (BNP, KB1 4250)

Delokutive Konversion liegt auch bei it. cosare vor (GEUI s.v. cosa, cosare, coso, ZVI). Auch das Portugiesische besitzt ein delokutives Adjektiv coiso für negative Eigenschaften und ein Verb coisar ,tun', ,nachdenken', im bpg. ,etwas vorbereiten', ,sexuelle Beziehungen mit j e m a n d e m haben' (ADLP, DLPC), d. h. zusätzlich zum delokutiven Wandel bekommen manche dieser Platzhalter euphemistische Funktionen. Eigenartigerweise scheinen die verschiedenen Fälle delokutiven Wandels eines Lexems korreliert zu sein, meist besitzt eine Sprache mehrere parallele delokutive Ableitungen von Passe-partout-Substantiven, häufig auch mit Konversion verbunden, das Spanische dagegen keine einzige. 3 8 Wahrscheinlich liegt diese scheinbare Kettenreaktion daran, dass sich bei delokutivem Wandel die Wortart leicht ändert und daher der Weg für die Konversion prinzipiell offen ist. Ein weiterer Fall delokutiven Wandels liegt bei eng. whatsisname, whatsitsname, whatsername, what-d'you-call-himlherlit, whatchamacaUit vor, bei dem ein ganzer Satz delokutivem Wandel unterliegt und der auf einen gemeinsamen Wissenshintergrund von Sprecher und Hörer verweist und explizit um die Kooperation des Hörers bittet. Diese Platzhalter können auch für Eigennamen eingesetzt werden, da sie außer der deiktischen Kraft von Anfang an keine semantischen Spezifizierungen besitzen. Ein delokutiver Platzhalter, der entstand, um diskret ein Wort zu vermeiden ist eng. youknow-what. Es kann verschwörerisch wirken oder aber auch beschuldigend und auch hier wird vorausgesetzt, dass es eine korrekte Benennung gibt, die allerdings sowohl Sprecher als auch Hörer kennen (Enfield 2003: 105f.). Im Spanischen gibt es diese Möglichkeit ebenfalls, auch im Französischen, allerdings sind die Interrogativkonstruktionen hier bis auf solche in argentinischen Varietäten kaum als Eigennamenpronomina konventionalisiert: (55)

en la fiesta me encontre con esa chica de al lado, ? como se llame? [Hervorh. von mir) (CSD, s.v. what-d'you-call-her)i9

(56)

En aquellas fotos, tia Victoria senalaba de pronto a un senor con una pinta estupenda y decia este es el principe fulano de noseque, siempre unos nombres rebuscadisimos [...] [Hervorh. von mir] (Mendicutti (1991): Elpalomo cojo, CREA) 40

Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Spanische keine Möglichkeit besitzt, Eigennamen zu ersetzen. Wie auch bei den oben diskutierten Passe-partout-Wörtern können auch hier

38

39 40

Im spanischen Ausdruck me daba cosa ,es war mir unangenehm' ist cosa ein euphemistisches, aber nicht delokutives substantivisches Element. ,auf dem Fest habe ich dieses Mädchen von nebenan getroffen, wie heißt sie gleich noch?' ,Auf jenen Fotos zeigte Tante Viktoria dann immer plötzlich einen Herrn, der super aussah und sagte das ist der Prinz Soundso von ich weiß nicht was, immer total gestelzte Namen [. ..]'

214 Deiktika (auch in Kombination mit Passe-partout-Wörtern) eingesetzt werden, also ese ,der da', el chisme ese ,das Ding da' (vgl. Dingsda), este chico ,der Junge da' etc. Spezielle Eigennamenpronomina sind fulano, mengano, perengano, zutano. Zutano stammt vermutlich von jcit! oder ι gut! jst!, einem Ausruf, der dazu dient, jemanden, dessen Namen man nicht kennt, anzusprechen (DCECH s.v. zutano). Auch hier liegt also ein delokutiver Wandel ausgehend von einer Interjektion vor. Perengano geht aufperencejo zurück (und wurde formal an fulano angepasst), perencejo wiederum stammt vermutlich von Pero Vencejo, dem typischen Namen eines Landarbeiters (DCECH s.v. zutano), ist also mit Ausdrücken wie Hinz und Kunz vergleichbar. Wichtigster Eigennamenersatz ist im Spanischen jedoch fulano. Sowohl fulano als auch mengano stammen aus der Rechtssprache und sind Arabismen. Sie wurden als Platzhalter für beliebige Personennamen 41 häufig in Formeln juristischer Dokumente eingesetzt. Sp. fulano stammt aus dem arab. fulän ,ein Gewisser' (DCECH s.v. zutano, fulano). Sp. mengano stammt vermutlich ebenfalls aus dem Arabischen, nämlich von man kän ,wer auch immer' (DCECH s.v. zutano). Neben Eigennamenpronomina stößt man auch auf Verwendungen von eigentlich nichtmenschlich markierten Passe-partout-Wörtern, mit denen Menschen selbst, nicht Eigennamen, bezeichnet werden: (57)

Un machin osseux angoissant qui s'habillait tout de noir (Bayon (1987): Le lyceen, FRANTEXT) 42

Auch hier handelt es sich nicht etwa um eine Bedeutungserweiterung von Passe-partoutWörtem auf menschliche Referenten, sondern um einen Fall von Lexikalisierung, wobei eine semantische Anreicherung begleitet von Abwertung erfolgt. Hier bedeutet machin nicht ,Ding' sondern ,alter Knacker, Dinger' (GEUF, s. auch Haspelmath 1997: 186-192), vergleichbar ist auch sp. trasto ,Gerät, Krempel, Tunichtgut' (MOL). Eine ähnliche Entwicklung haben auch maskulin Dinger und feminin Dinge zumindest im süddeutschen Raum mitgemacht und wurden zu pejorativen Bezeichnungen für Personen. Die pejorative Nuance entsteht hier durch die Verdinglichung von Personen. Einige Passe-partout-Wörter erfahren einen delokutiven Wandel, durch den Verzögerungssignale entstehen. Bekannt sind Verzögerungssignale wie fr. euh, bon ben, sp. esto, este (besonders in Argentinien), eh, pues digamos (cf. Christi 1996: 121, Koch/Oesterreicher 1990: 60f., Martin Zorraquino/Portoles 1999: 4191-4199). Deiktika können beispielsweise eingesetzt werden, um Zeit für die Formulierung zu gewinnen, indem eine Wortsuche simuliert wird. Der Übergang ist vermutlich bei Kontexten anzusetzen, in denen vielleicht größere Textteile ersetzt werden. Im folgenden Beispiel wird noch ein Eigenname ersetzt, gleichzeitig aber eine Pause gefüllt: (58)

41

42 43

Pues... me lo ha dicho..., espere usted..., e s t o..., ^cömo se llama? iAh, ya! Echevarria. (Beinhauer 3 1978: 417) 4 3

Nicht aber bestimmte Personen, deren Namen nicht bekannt sind, wovon auch heutige Funktionen noch ein Zeugnis ablegen, die eher Soundso oder X als Dingens entsprechen. ,Ein knochiger angsteinflößender Dinger, der sich ganz in Schwarz kleidete' ,Nun...das hat mir..., warten Sie..., äh..., wie heißt er noch? Ah ja, Echevarria gesagt.'

215 Dieselbe Funktion können auch Passe-partout-Wörter übernehmen. Die Reanalyse als Verzögerungssignal ist in Kontexten, in denen ganze Phrasen oder längere Syntagmen ersetzt werden, anzusetzen: (59)

A: j e sais pas m m . bon ben f a j e euh en general j e je regarde un peu sur les joumaux les critiques . oui oui les pieces horribles les pieces noires euh TRUC euh ... B: oui. qu'est-ce que c'est pour vous une piece horrible? (Corpus Orleans, file t002.txt, ELICOP, zit. in Waltereit im Druck a) 44

Hier wird nun eher keine Lautkette ersetzt, der Sprecher signalisiert lediglich, dass er zögert. Auch hier ist festzustellen, dass Passe-partout-Wörter in den Sprachen über delokutiven Wandel zu Verzögerungssignalen werden, in denen sie auch andere delokutive Prozesse durchgemacht haben. Als Verzögerungssignale eingesetzt werden auch fr. machin, dt. Dings, Dingens und eng. thingy. Das folgende Beispiel ist ein Ausschnitt aus einem Interview, das Verzögerungssignal taucht in einer Wiedergabe direkter Rede auf: (60)

Alors j'raconte pour ceux qui n'auraient pas vecu le concert; Le tour de chant se passe et ä la fin, tu remonte sur scene et en pleurs: « j ' s u i s desolee euh ... machin » [Hervorh. von mir] (Emission «Studio 22» du 16 fevrier 2002, Interview: Eric Jeanjean, Chanson Immortelle Lara Fabian, http://laradagio.free.fr/studio%2022.htm, 29.07.2004) 4 5

Die nächsten beiden Beispiele stammen aus Internetbeiträgen, die mündliche Rede simulieren. Hier handelt es sich sicher nicht um echte Verzögerungsphänomene, die Verzögerungssignale werden die mündliche Spontansprache imitierend eingesetzt: (61)

Chef: Hmmmm.... tja.... und.... ähhh.... häääähä.... wie.... lange hm.... wird das.... so ...dingens ....dauern? [Hervorh. von mir] (http://www.teainzille.de/bastard.teamzille.de/stories/svsman4.htm. 29.07.2004)

(62)

As you can tell, I ' m not a smart computer person...er...thingy, yea... [Hervorh. von mir] (http://www.drunkduck.com/The_Perfect_Boyfriend/?i=131253, 29.07.2004)

Interessanterweise wählt der Sprecher beim strategischen Einsatz von Passe-partoutWörtern das kleinere Übel. Er täuscht Wortfindungsprobleme vor, um zu verbergen, dass er den roten Faden verloren hat - eine deutlich bedrohlichere Situation als Wortfindungsprobleme, da er hier Gefahr läuft, dem Hörer das Wort überlassen zu müssen.

44

45

,A: ich weiß nicht hm . na ich äh normalerweise schaue ich mir ein bisschen die Kritiken in den Zeitungen an . j a j a die schrecklichen Stücke die schwarzen Stücke äh Dingens äh B: ja. Was ist für Sie ein schreckliches Stück?' ,Also ich erzähle es fur die, die das Konzert nicht miterlebt haben. Der Liedteil ist vorbei und am Schluss gehst du wieder auf die Bühne, in Tränen: „Es tut mir Leid äh ...dingens" '

216 5.6

Indefinitpronomina: eine neue Etappe der Grammatikalisierung

Passe-partout-Substantive ersetzen Substantive, sind also Pro-Nomina im wörtlichen Sinn. Indefinitpronomina sind dagegen Pro-Nominalphrasen. Indefinitpronomina stammen in 42 von 100 von Haspelmath (1997: 28) untersuchten Sprachen von generischen Substantiven, häufig Passe-partout-Substantiven, ab (s. auch Lehmann 1995a: 50-53). Indefinitpronomina werden im Unterschied zu Passe-partout-Wörtern eindeutig zu den Funktionswörtern gezählt, denn formal gehören die Indefinitpronomina klar zu den Pronomina und bilden oft morphologische Serien (Haspelmath 1997: 10f., 21). Begleiter und Substantiv bilden dabei häufig eine Einheit, z.B. fr. quelque chose und eng. something, sie besitzen keinen Plural, sie weichen also formal von anderen Nominalphrasen ab. Semantisch werden sie über die Art der Referenz definiert - sie sind indefinit, d. h. sie referieren auf dem Hörer nicht bekannte Referenten. Darin unterscheiden sie sich von Passe-partout-Wörtern, die eine fehlende Bezeichnung in beliebigen Typen von Nominalphrasen anzeigen. Innerhalb der Klasse der Indefinitpronomina können folgende Untertypen unterschieden werden (s. Haspelmath 1997: 2f.): (63)

spezifisch, dem Sprecher bekannt

Somebody

called

while

you

were

away:

guess who! (64)

spezifisch, dem Sprecher unbekannt I heard something, but I couldn't tell what it was.

(65)

nichtspezifisch, irreal

Please try somewhere else.

(66)

Ja/Nein-Fragen

Did anybody tell you anything about it?

(67)

Konditionalsatz

If you see anything, tell me immediately.

(68)

Vergleichsstandard

In

Freiburg

the

weather

is

nicer

than

knows

the

anywhere in Germany. (69)

direkte Negation

Nobody knows the answer.

(70)

indirekte Negation

I don't answer.

(71)

Beliebigkeit

Anybody can solve this simple problem.

think

that

anybody

Die semantischen Spezifizierungen der Indefinitpronomina entsprechen in etwa denen stark konventionalisierter Passe-partout-Wörter, denn sie unterscheiden zwischen +/- menschlich (vgl. Haspelmath 1997: 21, 29f.). Es ist aus der Forschung zu Indefinitpronomina bekannt, dass diese schwach grammatikalisiert sind bzw. dass manche Sprachen keine Indefinitpronomina besitzen, sondern hierfür zum Beispiel Passe-partout-Wörter in indefiniten Nominalphrasen verwenden (Haspelmath 1997: 10, 28, Lehmann 1995a: 49ff.), denn der Unterschied zwischen etwas und eine Sache, sp. algo und alguna cosa und fr. quelque chose und une chose ist sehr gering:

217 Overall, indefinite pronominal elements play a much weaker role in the grammar than definite ones, mainly because they don't relate to the context. Indefinite pronominal elements contain a semantic component which says that the entity meant is not identical with anything established in the current universe o f discourse. (Lehmann 1995a: 4 9 )

Dies erklärt vielleicht auch, wieso Indefinitpronomina diachron sehr instabil sind (Haspelmath 1997: 16), da sie leicht ersetzt werden können und eher nicht obligatorisch sind. Dennoch finden wir hier deutliche Anzeichen fur Grammatikalisierung, die klarer sind als bei Passe-partout-Wörtern. Hierbei handelt es sich, auch wenn die Indefinitpronomina Passepartout-Substantive enthalten, um einen neuen Grammatikalisierungsprozess, nicht einfach eine Fortfuhrung der Konventionalisierung der Passe-partout-Wörter. Dabei kommen andere Kommunikationsbedürfnisse und -Strategien zum Zug. Im Unterschied zu den Passepartout-Wörtern werden hier außerdem nicht einfach einzelne Substantive grammatischer. Bei Indefinitpronomina aus Passe-partout-Wörtern oder generischen Substantiven handelt es sich um die Grammatikalisierung einer ganzen Nominalphrase. Passe-partout-Wörter verwendet ein Sprecher häufig, wenn er den Referenten kennt, nicht aber die Bezeichnung. Indefinitpronomina bezeichnen dagegen Referenten, die dem Hörer, nicht unbedingt dem Sprecher, unbekannt sind. Indefinitpronomina entstehen häufig über Strategien, bei denen das Ziel darin besteht, bestimmte Arten indefiniter Referenz zu rechtfertigen, am häufigsten „free choice". Beliebigkeit erfordert oft expressive Strategien, da Beliebigkeit eher riskant und der Mensch von Natur aus aber eher wählerisch ist. Wahlfreiheit ist also sehr ungewöhnlich und muss bekräftigt werden. Dies ist noch sichtbar in sp. cualquiera, it. qualsivoglia, wörtlich etwa ,was man will', fr. η 'importe quoi ,egal was' und quoi que ce soit ,was es auch sein mag' (vgl. Haspelmath 1997: 134—150). Das seit dem 13. Jahrhundert belegte fr. quelque chose bedeutete zunächst ,etwas Beliebiges' (Gamillscheg 1957: 207, Ohlhoff 1912: 126). Sp. algo geht vermutlich auf lat. aliquod zurück (vgl. DCECH s.v. alguno),46 das ebenfalls .irgendetwas' bedeutete. Eine andere Strategie wird für Ausdrücke, die auf spezifische Referenten referieren können, die aber dem Sprecher unbekannt sind, eingesetzt (Haspelmath 1997: 130ff.). Im Gegensatz zu den Passe-partout-Wörtern handelt es sich aber um einen unbekannten Referenten, keine unbekannte Bezeichnung. Aber auch hier handelt es sich meines Erachtens um eine fur den Sprecher unangenehme, womöglich ärgerliche Situation, der er Nachdruck verleiht durch explizite Ausdrücke wie fr. je ne sais quel ,ich weiß nicht welcher', Dieu sail qui,Gott weiß wer' (cf. Haspelmath 1997: 131, s. auch Lehmann 1995a: 55). Negative Indefinitpronomina entstehen ebenfalls häufig aus Passe-partout-Wörtern, aber auch einfach generischen Substantiven, da sie sich dazu eignen, die Negation zu betonen, indem sie durch die Verneinung des Hyperonyms alle Hyponyme verneinen. Es handelt sich bei Hyperonymen pragmatisch um skalare Endpunkte bezüglich der Extension, die hier maximal ist (Haspelmath 1997: 226-230). Auch die Negation ist häufig emotional stark markiert, da ja eine Affirmation widerlegt wird. Daher finden sie sich häufig in expressiven negierten Äußerungen:

46

Afr.

auques ,etwas'

202).

(< lat.

aliquid i r g e n d e t w a s ' )

geht im 14. Jahrhundert unter (Gamillscheg 1957:

218 (72)

Soy de estas personas que si, que limpio, pero que a lo mejor si estä el bolso aqui en la silla, ahi lo dejo. Ves, pues yo no. Yo en mi casa no puedo ver ni un chisme por en medio, fijate. (ORAL (1992): Conversation 8, CREA) 47

Hier finden wir zahlreiche aus übergeordneten Substantiven entstandene negative Indefinitpronomina, z.B. fr. rien (< lat. rem ,Sache', DHLF s.v. rien), sp. nada (< lat. res nata ,das Geborene'), kat. res (< lat. res ,Sache'), kat. gens (< lat. genus ,Gattung', DCLIC s.v. gens). Im Altfranzösischen lagen außerdem creature (< lat. creatura ,Geschöpf) und giens (< lat. genus ,Sorte',) als negative Indefinitpronomina vor (FEW s.v. creatura und genus). Im Altspanischen existierten Negativpronomina wie res ,nichts' und cosa ,nichts' (DCECH s.v. cosa und res) (ein Überblick und eine genaue Analyse findet sich bei Detges Ms: 1 Π Ι 19). Bei der Entstehung negativer Indefinitpronomen spielen offensichtlich Lexeme aufgrund der stärkeren Emphase eine größere Rolle als bei anderen Indefinitpronomina (Lehmann 1995a: 54). Nun beinhalten die Passe-partout-Wörter alleine noch nicht die emphatische Bedeutung der Beliebigkeit oder der Negation. Die Emphase tragen hier Modifikatoren. Fr. quelque entsteht ab dem 12. Jahrhundert aus einem verallgemeinernden konzessiven Relativsatz vom Typ quel que soit le lieulquel lieu que ce soit ,was fur ein Ort es auch sein mag' > quelque lieu qu'il soit und bedeutete ,welcher auch, irgendein' (DHLF s.v. quel, Gamillscheg 1957: 204, Ohlhoff 1912: 71-75, Stefenelli 1981a: 177). Quelque chose wird im 15. Jahrhundert zum Pronomen und breitet sich im 17. Jahrhundert aus (Martin 1966: 210). Allerdings scheinen gerade mittelalterliche romanische Sprachen häufig generische Substantive ohne Begleiter in der Funktion von Indefinitpronomen zu besitzen. Auch Haspelmath beobachtet dies in seinem Sprachensample: The diachronic process by which a generic noun is turned into an indefinite pronoun is quite straightforward, so not much needs to be said here. A generic noun is first used in a noun phrase without modifiers [Hervorh. von mir] to render meanings like .somebody', ,something', and it gradually acquires phonological, morphological and syntactic features that set it off from other nouns. The last doubts about its new pronoun status are dispelled when the original generic noun falls into disuse [...]. (Haspelmath 1997: 182)

Auch Togeby (1982: 109) bemerkte dieses Phänomen: „Chose s'approche des pronoms „indefinis" par le fait qu'il se rencontre souvent sans article: C'est chose a quoi il ne pense guere"48. Nun handelt es sich hier zumindest im Altfranzösischen und Altspanischen um eine indefinite Nominalphrase, kein isoliertes Substantiv. Im Mittelalter war der „Nullartikel" sowohl bei definiten als auch bei indefiniten Nominalphrasen stark verbreitet. Bei Nichtaktualisierung, also z.B. generischer oder indefinit-unspezifischer Referenz, wurde zunächst noch kein Artikel benutzt (s. Joly 1998: 255-259). Im Mittelalter gab es daher auch schon mehr oder weniger grammatikalisierte Indefinitpronomina auf der Basis von Nominalphrasen der Form fr. chose und sp. cosa ohne sichtbare Begleiter. Diese entsprachen sp. algo und dem modernen fr. quelque chose, das sich erst später durchsetzte (Martin

47

48

,Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die schon putzt, aber die vielleicht, wenn die Tasche hier auf dem Stuhl liegt, sie dort liegen lässt. Siehst du, ich nicht. Bei mir zuhause kann ich kein einziges Ding herumstehen sehen, stell dir vor.' , Chose nähert sich den Indefinitpronomina darin an, dass es oft artikellos auftaucht: Das ist etwas, woran er kaum denkt''

219 1966: 209f.). Auch fr. rien bedeutete noch um 1300 irgendetwas', setzte sich dann aber als negatives Indefinitpronomen durch (Löfstedt 1972: 342, Martin 1966: 185-188). Heute noch gibt es einige fossile Indefinitausdrücke mit Nullartikel, z.B. fr. autre chose ,etwas anderes' (PR s.v. chose) oder sp. eso no es cosa ,das ist nichts' (DCECH s.v. cosa, MOL s.v. cosa). Werden expressive Indefinitpronomina auch in anderen Kontexten eingesetzt, so erfahren sie eine Bedeutungserweiterung auf weitere (verwandte) Funktionen. Die Funktionsausweitung der Indefinitpronomina verläuft in regelmäßigen Pfaden, wie Haspelmath für ein beeindruckendes Sprachensample zeigen konnte. Diese Pfade spiegeln sich auch in synchronen Mustern, so genannten „semantic maps" (Haspelmath 1997: 58ff.). Besitzt ein Ausdruck mehrere Funktionen, handelt es sich immer um Funktionen, die auf der „Landkarte" benachbart sind:

Frage spezifisch bekannt

spezifisch unbekannt

indirekte Negation— direkte Negation

irreal nichtspe" zifisch

Konditional Abb. 37:

Komparativ —

Beliebigkeit

Semantische Landkarte der Indefinitpronomina (nach Haspelmath 1997: 64)

Betrachtet man diese Funktionen im Französischen, so ergibt sich folgende „Karte" (Haspelmath 1997: 260f.):

, spezifisch bekannt

//

quelque

Abb. 38:

T L spezifisch unbekannt

Frage

irreal nicht spezifisch

κ

indirekte Negation

direkte Negation

komparativ

free-choice

Konditional

/

que ce soil

personne/rien

η 'importe

Die französischen Indefinitpronomina (Haspelmath 1997: 260f.)

Im Spanischen ergibt sich ein etwas anderes Bild.49 Bei spezifisch-bekannter und unbekannter Referenz wird algo/alguien eingesetzt: (73)

49

Juan me llamo y me conto algo/una cosa/alguna cosa [nur mit Ergänzung] - ja que no Ιο adivinas! ,Juan rief mich an und erzählte mir etwas, du errätst es nicht'

Sprecherurteile von Clara Perez und Alberto Zuluaga.

220 (74)

Senti que alguien me observaba. ,Ich spürte, dass mich jemand beobachtete'

(75)

Ivan dijo algo en ruso que no entendi. ,Ivan sagte etwas auf Russisch, das ich nicht verstand'

Bei irrealer nichtspezifischer Referenz, Konditionalsätzen und Fragen sind algo, alguien, algun und cualquier möglich: (76)

Alguien/cualquiera/cualquier persona puede pasar por aqui y quitar la caja. ,Jemand, irgendjemand, irgendeine Person kann hier vorbeikommen und die Kasse mitnehmen'

Bei direkter Negation sind nada, nadie und ningün möglich: (77)

Este libro no contiene ningün sentimiento noble. .Dieses Buch enthält keinerlei erhabenes Gefühl'

Bei indirekter Negation sind nada, nadie, ningün und nachgestelltes alguna (wird in Abb. 39 nicht berücksichtigt) möglich: (78)

Juan se fue sin decir nada/cosa alguna/ninguna cosa. ,Juan ging, ohne etwas zu sagen'

In Komparativsatz findet man nadie, ningün und cualquiera: (79)

Quiere a su hija mäs que a nadie/cualquier otra persona. ,Sie liebt ihre Tochter mehr als jeden anderen, jede andere Person'

Bei Beliebigkeit wird cualquier gebraucht: (80)

Por el es capaz de hacer cualquier cosa. ,Für ihn ist er/sie dazu im Stande, alles Erdenkliche zu tun'

Dabei ergibt sich folgende semantische Karte:

Frage spezifisch kannt

spezifisch unbekannt

irreal nichtspezifisch Konditional

cualquier Abb. 39:

indirekte Negation

Komparativ

direkte Negation

Beliebigkeit

nada

Die spanischen Indefinitpronomina

In anderen Sprachen ergeben sich wiederum etwas andere Karten, immer besitzt ein Pronomen allerdings auf der Karte benachbarte Funktionen. Dabei befinden sich bei den hier untersuchten Sprachen die neueren Pronomina wie sp. cualquier und fr. η 'importe immer rechts, die älteren immer links auf der Karte. Die Karte bildet also nicht nur synchrone Beziehungen zwischen Funktionen ab, sondern auch diachrone Verbindungen (s. auch Haspelmath 1997: 129). Die emphatischen Funktionen der Negation und der freien Wahl befinden sich am rechten Ende der Karte (die Funktion „spezifisch unbekannt", die eben-

221 falls emphatisch sein kann, spielt bei den Indefinitpronomina im Französischen und Spanischen keine große Rolle). Beim Verlust der Emphase übernehmen die Pronomina zunehmend auch Funktionen auf der linken Seite der Karte, sie werden zunehmend unbetonter. Spezifische und irreale Indefinitpronomina sind nicht emphatisch, während „free choice"-Indefinitpronomina und solche in Komparativsätzen, aber auch negative Indefinitpronomina, tendenziell emphatisch sind (Haspelmath 1997: 125-128, 149f., s. auch Lehmann 1995a: 55). Wie bereits gezeigt wurde, entstand auch fr. quelque chose in der Bedeutung irgendetwas' und breitete sich von dort aus auf der Karte nach links aus, wie zuvor auch chose mit Nullartikel, das es ersetzt und das zuvor schon auques verdrängt hatte. Fr. quoi que ce soit (Grevisse/Goosse l3 1993: 1658) und die ganze entsprechende Reihe ist relativ jung. Fr. n'importe quoi ist seit dem 17. Jahrhundert belegt (DHLF s.v. importer , vgl. Stefenelli 1981a: 213, 288). Zuvor hatte auch schon rien diesen Wandel von .irgendetwas' zu ,etwas' erfahren, bleibt dann aber lediglich in der Funktion des negativen Indefinitpronomens und als verstärkte Negation erhalten (Gamillscheg 1957: 208). Der Hauptunterschied zwischen Indefinitpronomina wie sp. algo oder fr. quelque chose, die maximal routinisiert sind, und Nominalphrasen wie fr. une chose oder sp. alguna cosa, una cosa ,eine Sache' besteht deshalb darin, dass letztere in der Funktion spezifischer Referenz auf einen dem Hörer bekannten Referenten emphatisch sein können, während Indefinitpronomina hier immer unbetont sind: (81)

Una cosa te dire para que veas que madre perdiste... ,Ich werde dir eine Sache sagen, damit du siehst, was für eine Mutter du verloren hast' (Celestina 1499: 45r7 zit. in Morreale 1984: 154, Fußnote 20)

(82)

II faut que j e te dise une chose. ,Ich muss dir eine Sache sagen.' (Bidaud 1989: 193)

Indefinitpronomina sind also schwach grammatikalisiert, da der Bedeutungsunterschied zu nicht konventionalisierten Nominalphrasen gering ist. Dennoch sind sie deutlicher grammatikalisiert als Passe-partout-Substantive, zumal sie auch formal klarere Anzeichen für Grammatikalisierung zeigen. Bei zunehmender Grammatikalisierung und der Übernahme neuer Funktionen werden Indefinitpronomina unbetonter und die Konstituenten verschmelzen. Fr. quelque chose bildet beispielsweise prosodisch eine Einheit (vgl. auch Haspelmath 1997: 10). Indefinitpronomina werden außerdem im Vergleich zu nicht grammatikalisierten Nominalphrasen phonologisch enger in den syntaktischen Rahmen eingebunden, so tritt nach dem Negativpronomen rien eine liaison ein, z.B. in rien ä dire ,nichts zu sagen' (PR s.v. rien), nicht aber bei dem lexikalisierten rien ,Nichtigkeit', z.B. in un rien effraie cet enfant ,eine Nichtigkeit erschreckt dieses Kind' (PR s.v. rien). Im Verlauf der Grammatikalisierung verliert das Substantiv auch typische substantivische Eigenschaften, es wird dekategorialisiert. Wie auch schon viele Passe-partout-Wörter verliert es sein ursprüngliches Genus und nimmt das unmarkierte Genus an. Es wird also im Spanischen und Französischen maskulin (vgl. Härmä 2000: 611). Die Lexeme lat. rem und causa waren feminin, werden aber im Lauf der Grammatikalisierung in den romanischen Sprachen maskulin, was vermutlich zuerst in der Kongruenz (in den Beispielen fett gedruckt) sichtbar wurde: 50

50

Auch sp. cosa ist mit maskuliner Kongruenz belegt (Morreale 1984: 147).

222 (83)

sp. No sucediö nada notorio. ,Es ist nichts Auffälliges passiert' (Martinez 1999: 2723)

(84)

fr. personne n'est content ,niemand ist zufrieden' (Figaro 07/05/1971, 25 zit. in Togeby 1982: 111)

(85)

fr. quelque chose a ete fait,etwas ist getan worden' (Togeby 1982: 110) 5 '

(86)

it. Ε successo qualcosa? ,Ist etwas passiert?' (Reumuth/Winkelmann 5 1996: 85)

Auch fr. rien ,nichts' wird maskulin, findet sich aber noch im 16. Jahrhundert als Femininum (Ohlhoff 1912: 3, Togeby 1982: 113). Maskulin wird in indefiniter Funktion auch kat. res ,nichts' (Llorens 1929: 108) und viele andere Indefinitpronomina. Diese Tendenz zur Maskulinisierung ist extrem stark und seit vielen Jahrhunderten zu beobachten, sie betrifft allerdings nicht nur Indefinitpronomina, sondern, wie in 5.3 gezeigt wurde, auch Passepartout-Wörter. Speziell Indefinitpronomina, nicht aber Passe-partout-Wörter, sind von der Fixierung des Numerus betroffen. Fr. quelque chose und quelqu 'un (vgl. Bidaud 1989: 190) und sp. algo liegen nur im Singular vor, ebenso it. qualcosa und qualche cosa (Reumuth/Winkelmann 1996: 75) sowie eng. something (Haspelmath 1997: 10). Passe-partoutWörter besitzen dagegen Singular- und Pluralformen, allerdings nicht solche, die über delokutiven Wandel Eigennamen ersetzen, da Eigennamen oder Lautketten numerusindifferent sind. Da es sich bei Indefinitpronomina im Unterschied zu Passe-partout-Wörtern um Proformen für Nominalphrasen handelt, nicht um Substantive, ist auch die Art der Referenz festgelegt, eine Eigenschaft, die auf der Ebene der Nominalphrase realisiert wird, während Passe-partout-Wörter hier frei modifizierbar sind. Die Tatsache, dass bei Indefinitpronomina Substantiv und Begleiter verschmelzen und als ganze Nominalphrase fixiert werden, hat auch Auswirkungen auf die Adjektivmodifikation, die bei Indefinitpronomina meist klar von Nominalphrasen mit lexikalischen Elementen abweicht: (87)

dt. etwas Interessantes vs. ein interessanter

Gegenstand

(88)

fr. quelque chose d'interessant vs. un objet interessant

(89)

sp. algo interesante vs. un objeto interesante

(90)

eng. something interesting vs. an interesting object

Im Französischen werden Interrogativpronomina, Indefinitpronomina, Relativpronomina und einige andere Ausdrücke durch de + Adjektiv modifiziert (vgl. Azoulay 1985: 34-38). Im Deutschen kann ein Indefinitpronomen nur durch ein substantiviertes Adjektiv modifiziert werden (Drosdowski et al. 5 1995: 348). Im Englischen wird die unterschiedliche Stellung der Adjektive in generativen Theorien analog zu Auxiliarverben in Verbalphrasen durch die Anhebung des grammatikalischen Substantivs des Indefinitpronomens in eine funktionale Phrase erklärt (Abney 1987: 286f., 327, Kishimoto 2000), während ansonsten lexikalische Substantive und Vollverben im Englischen nicht angehoben werden. In den romanischen Sprachen dagegen findet bei Vollverben und Substantiven hier nach dieser

51

Noch im 17. Jahrhundert ist quelque chose meist feminin (Ohlhoff 1912: 127).

223 Interpretation immer Anhebung statt (Cinque 1995: Kap. 10), daher sind Adjektive in diesen Sprachen (meist) nachgestellt. DP D - — ^ ^

^NumP

every Num

Abb. 40:

NP

Substantivanhebung im Englischen (nach Kishimoto 2000: 560)

Woher stammen dann jedoch die andersartigen Lösungen anderer Sprachen? Wäre dies die einzige Erklärung, dürfte in den romanischen Sprachen die Adjektivmodifikation bei Indefinitpronomina nicht von der anderer Nominalphrasen abweichen, z.B. müsste es fr. *quelque chose interessant heißen, nicht quelque chose d'interessant. Die direkte Adjektivmodifikation ist bei fr. rien ,nichts' noch im 16. Jahrhundert möglich (Martin 1966: 84), bei quelque chose ,etwas' noch bis ins 17. Jahrhundert (Ohlhoff 1912: 132-135). Der Anschluss mit de setzte sich in der Klassik durch (Grevisse/Goosse 131993: 545). Auch im Italienischen werden Adjektiva bei Indefinitpronomina mit di angeschlossen (Reumuth/Winkelmann 1996: 86). Im Spanischen existiert ebenfalls die Modifikation mit de neben der direkten Modifikation (Bruyne 1993: 214), z.B. in nada de particular ,nichts Besonderes' (Bruyne 1993: 218, Fernandez Ramirez 1987: 303f.). Meines Erachtens sind diese Abweichungen der Adjektivmodifikation einheitlich zu erklären durch das Verschmelzen des Begleiters und des Passe-partout-Worts. Dadurch ist das Indefinitpronomen syntaktisch eine Nominalphrase, die nicht mehr durch Modifikation durchbrochen werden kann, da Begleiter und Substantiv miteinander verschmolzen sind. Postnominale Adjektive im Englischen und Adjektive in romanischen Sprachen, die mit de angeschlossen werden, modifizieren auf eine andere Art und Weise als vorangestellte Adjektive. Beispielsweise wird vorgeschlagen, dass postnominale Adjektive im Englischen reduzierten Relativsätzen entsprechen (s. Larson 1998). Relativsätze modifizieren ganze Nominalphrasen. Wie man auch immer diese Konstruktionen analysiert, die veränderte Adjektivmodifikation ist sicher eine Konsequenz der Fixierung einer ganzen Nominalphrase und des Verlusts der syntaktischen Adjektivposition. Vielleicht durch Analogie zu erklären ist die gelegentlich zu beobachtende Modifikation durch de bei true, z.B. des trucs d'organises .organisierte Sachen' (Corpus Orleans, file t017.txt, ELICOP), s. 5.3. Obwohl also sowohl Passe-partout-Wörter als auch Indefinitpronomina Proformen sind, handelt es sich syntaktisch und semantisch um Elemente unterschiedlicher Funktionen, die durch unterschiedliche Kommunikationsstrategien entstehen.

224 5.7

Fazit

In diesem Kapitel wurden Substantive wie fr. chose, true, machin und sp. cosa, trasto, cacharro und chisme analysiert, die sich auf einer sehr hohen Generalisierungsebene befinden, formal kurz, opak und frequent sind und hauptsächlich durch Generalisierung entstanden sind. Im Gegensatz zu gemeinsprachlichen Hyperonymen besteht keine semantische Relation zu Basislexemen. Sie widersprechen also eigentlich der Hypothese, wonach die Basisebene im Lexikon, vor allem im Substantivlexikon, Ankerpunkt für Lexeme anderer Ebenen ist. Die Erklärung für diese auffalligen Abweichungen ist jedoch, dass es sich hier nicht um Lexeme, sondern um Passe-partout-Wörter handelt, die pragmatische und grammatische Funktionen übernehmen.

6

Die „Dekonstruktion" logischer Hierarchien: Fazit und Ausblick

Die in dieser Arbeit gewählte „vertikale" Perspektive bei der Untersuchung lexikalischer Strukturen erweist sich als außerordentlich aufschlussreich. Sie zeigt zum einen die kognitiven Grundlagen lexikalischer Hierarchien auf, zum anderen erlaubt sie einen privilegierten Blick auf prinzipielle Charakteristika und Tendenzen des Lexikons, ganz besonders die Rolle von Basislexemen als lexikalischer Grundstock und die Natur von Lexikalisierungsprozessen. So wurde in Analogie zum Begriff der Grammatikalisierung der Begriff der Lexikalisierung, d. h. des unidirektionalen natürlichen semantischen Wandels im Lexikon, erarbeitet. In dieser Arbeit werden Entstehungswege und die linguistischen Eigenschaften von Lexemen in Hierarchien unter Berücksichtigung der Basisebene zum ersten Mal systematisch untersucht. Im Unterschied zu psycholinguistischen oder ethnobiologischen Arbeiten stehen hierbei besonders diachrone Daten im Vordergrund, ein Datentyp, dessen Bedeutung fur unser Verständnis von Sprachen, aber auch die menschliche Kognition, zunehmend in den Vordergrund rückt (s. Blank/Koch 1999). In der neuen Auflage von Aitchisons Einfuhrung ins mentale Lexikon Words in the Mind ( 3 2003) findet sich bezeichnenderweise nun auch ein Kapitel über Bedeutungswandel. Nun bestimmen nicht nur kognitive universale Prinzipien das Lexikon, sondern auch kulturelle und sprachlich-typologische Prinzipien. Die diachrone Sichtweise zeigt, welche Kräfte lexikalische Hierarchien formen: kultureller Einfluss, Analogie, kognitive Universalien, aber auch spezifische Präferenzen des Substantivlexikons für bildlich repräsentierbare Gestalten, die besonders auch beim Blick auf Hierarchien sichtbar werden. Zentral für das Verständnis von lexikalischen Hierarchien sind Basiskonzepte, die kognitiv primitivsten Konzepte des Substantivlexikons: Basic-level categories develop prior to classical taxonomic categories. They therefore cannot be the result of classical taxonomic categories plus something of a sensory-motor nature. Basic-level categories have an integrity of their own. They are our earliest and most natural form of categorization. Classical taxonomic categories are later „achievements of the imagination", in Roger Brown's words. (Lakoff 1987: 49) Untergeordnete und übergeordnete Konzepte und damit auch lexikalische Einheiten werden hiervon abgeleitet (Stichwort „parasitic categorization" bei Ungerer/Schmid 1996). Es wurde gezeigt, dass die Basisebene lexikalische Hierarchien prinzipiell in zwei Bereiche teilt, die sich deutlich voneinander unterscheiden: die Ebene darüber und die Ebenen von der Basisebene abwärts. Hyponyme stehen in einem engen Verhältnis zur Basisebene. Sie werden häufig von Basislexemen oder - kohyponymisch - von deren Prototypen abgeleitet. Doch selbst zunächst opake Lexeme zeigen sehr häufig eine Anbindung an Basislexeme auch auf Ausdrucksebene, nämlich durch Anpassung des Genus oder verdeutlichende Wortbildungsprozesse. Beide Phänomene spielen sich typischerweise zwischen Basisebene und den unteren Ebenen ab, nie darüber. In diesem engen konzeptuellen und lexikalischen Netz von der Basisebene abwärts entspricht die Struktur am ehesten der logischen Hyponymie, da die Hyponyme meist über ihr Hyperonym auf der Basisebene definiert werden.

226 Oberhalb der Basisebene ist konzeptuell und sprachlich ein Bruch zu beobachten. Substantive weichen hier deutlich von den restlichen Lexemen einer Hierarchie ab. Aber auch hier ist eine Anbindung an Basiskonzepte festzustellen: Mehrere Basiskonzepte bilden die konzeptuelle Grundlage von Kollektive, aus denen dann durch Einfluss wissenschaftlicher Taxonomien und des Sprachtyps, d. h. die Präferenz indoeuropäischer Sprachen für zählbare Substantive, Hyperonyme entstehen können. Diese basieren allerdings weiterhin semantisch auf mehreren Basiskonzepten. Einige Hyperonyme scheinen nun nicht auf Basiskonzepten zu beruhen, sondern klassisch definiert zu sein, z.B. sp. vegetal ,Pflanze'. In Kapitel 4 wurde gezeigt, wie diese Hyperonyme in fachlichen Kontexten unter Einfluss des klassischen Hierarchiemodells entstehen, jedoch bei Integration ins gemeinsprachliche Lexikon die Eigenschaften der alltagssprachlich entstandenen Hyperonyme annehmen und dann ebenfalls auf Basiskonzepten beruhen. Der Prozess der Entterminologisierung zeigt dabei, wie universelle kognitive Prinzipien der Gestaltenbildung und kulturspezifische Methoden der logischen Ordnung aufeinandertreffen und wie bei der Integration von Fachtermini in die Gemeinsprache die logische Struktur verloren geht und durch bildliche Repräsentationen ersetzt wird. Insgesamt zeigt es sich, dass bei einem genaueren Blick auf gemeinsprachliche Hierarchien der Begriff der Hyponymie differenziert werden muss. Es müssen, bei Konkreta zumindest, drei Typen von lexikalischen Relationen unterschieden werden, die oberflächlich wie logische Inklusionsbeziehungen anmuten. Grundlegend sind bildhafte Beziehungen zwischen Gestalten auf der Basis von Kontiguität, Similarität und Kontrast im Kernlexikon. Daneben findet man auch logisch-analytische Relationen in Fachsprachen sowie bei Adhoc-Bildungen und schwach lexikalisierten morphologisch und/oder semantisch komplexen Substantiven. Außerdem liegen bei manchen Substantiven metasprachliche Beziehungen vor, die sekundär entstehen können und die häufig über die (Schul)bildung vermittelt werden. Die klassische Hyponymie ist in der Gemeinsprache insgesamt sekundär. In der Gemeinsprache entsprechen scheinbar hyponymische Beziehungen zwischen Basisebene und übergeordneter Ebene Kontiguitätsbeziehungen zwischen Kollektivum bzw. disjunktivem Hyperonym und Mitgliedern auf der Basisebene. Allein nicht zentrale, eher schwach lexikalisierte Hyponyme unterhalb der Basisebene entsprechen der klassischen Definition über das Hyperonym. Sie beruhen auf einem Basiskonzept, das durch weitere Merkmale ergänzt wird. Allerdings bestehen daneben auch starke horizontale Similaritätsbeziehungen zwischen Prototypen und nicht prototypischen Kohyponymen. Die Kohyponymie, zumindest unterhalb der Basisebene, scheint also kognitiv wesentlich grundlegender zu sein als bisher angenommen wurde. Einige generische Substantive wie fr. chose und sp. cosa ,Ding' passen nun nicht ins Bild, denn sie sind sehr frequent, nähesprachlich, opak, zeigen aber keine konzeptuelle Abhängigkeit von Konzepten der Basisebene. Es wurde argumentiert, dass es sich hier um Resultate von Grammatikalisierung bzw. Pragmatikalisierung handelt, nämlich um Passepartout-Wörter, die nicht mehr dem Lexikon angehören. Sprachliche Einheiten oberhalb der Basisebene befinden sich also im Spannungsfeld zwischen Lexikon und Grammatik. Nichtfachsprachliche Hyperonyme gehören entweder zum Lexikon und sind dann der Anziehungskraft der Basisebene ausgesetzt oder befinden sich auf dem Weg der Grammatikalisierung, wenn sie Diskursfunktionen übernehmen. Sie entkommen so der Anziehungskraft der Basisebene, sind dann aber eben keine lexikali-

227 sehen Einheiten mehr. „Saubere" logische Inklusionshierarchien gibt es nur in Fachsprachen. Die beobachteten Strukturen scheinen nun nicht auf indoeuropäische Sprachen beschränkt zu sein. Am Beispiel der Hyperonyme oberhalb der Basisebene wurde gezeigt, dass in Sprachen, die koordinative Komposita bilden, die Abhängigkeit von Basislexemen morphologisch reflektiert wird. Es wurde auch gezeigt, dass Hyperonyme oberhalb der Basisebene insgesamt in vielen Sprachen fehlen oder entlehnt werden. Weltweit scheint es außerdem von der Basisebene abwärts enge konzeptuelle, grammatische und morphologische Netze zu geben. Es müsste nun geprüft werden, ob die festgestellten Lexikonstrukturen tatsächlich universell sind oder ob auch typologische oder kulturelle Faktoren eine Rolle spielen. Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen jedenfalls am Beispiel mehrerer romanischer und germanischer Sprachen, dass das Substantivlexikon allgemeinen Prinzipien gehorcht, die stark von der visuellen Wahrnehmung geprägt sind und die sehr deutlich in den sprachlichen Strukturen sichtbar werden.

7

Literaturverzeichnis

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