Umweltstandards: Grundlagen, Tatsachen und Bewertungen am Beispiel des Strahlenrisikos [Reprint 2019 ed.] 9783110847673, 9783110134506


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German Pages 510 [516] Year 1992

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1: Notwendigkeit und Funktion von Umweltstandards
Kapitel 2: Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen des Strahlenschutzes
Kapitel 3: Entwicklung von Umweltschutzstandards für Strahlung und andere Noxen
Kapitel 4: Individuelle, gesellschaftliche und staatliche Bewertung des Risikos
Kapitel 5: Formale Kriterien und Instrumente für den Entscheidungsprozeß
Kapitel 6: Institutionelle und organisatorische Perspektiven
Schluß
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Umweltstandards: Grundlagen, Tatsachen und Bewertungen am Beispiel des Strahlenrisikos [Reprint 2019 ed.]
 9783110847673, 9783110134506

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Akademie der Wissenschaften zu Berlin The Academy of Sciences and Technology in Berlin Forschungsbericht 2 Umweltstandards

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Akademie der Wissenschaften zu Berlin The Academy of Sciences and Technology in Berlin Forschungsbericht 2

Arbeitsgruppe: Umweltstandards K. Pinkau (Sprecher) K. Decker C. F. Gethmann H. W. Levi J. Mittelstraß S. Peyerimhoff G. zu Putlitz A. Randelzhofer O. Renn C. Streffer F. E. Weinert

Walter de Gruyter • Berlin • New York • 1992

Akademie der Wissenschaften zu Berlin

Umweltstandards Grundlagen, Tatsachen und Bewertungen am Beispiel des Strahlenrisikos

Walter de Gruyter • Berlin • New York • 1992

©

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche

Bibliothek

-

CIP-Einheitsaufnahme

Umweltstandards : Grundlagen, Tatsachen und Bewertungen am Beispiel des Strahlenrisikos / [Arbeitsgruppe Umweltstandards]. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Forschungsbericht / Akademie der Wissenschaften zu Berlin ; 2) ISBN 3-11-013450-0 NE: Akademie der Wissenschaften < Berlin, 1987 gegründet > / Arbeitsgruppe Umweltstandards; Akademie der Wissenschaften < Berlin, 1987 gegründet > : Forschungsbericht

ISBN 3 1 1 0 1 3 4 5 0 0

© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis Vorwort

XI

Abkürzungsverzeichnis

XIII

Einleitung

1

Kapitel 1: Notwendigkeit und Funktion von Umweltstandards . .

19

1.1

20 20 23 26 33 38 38 41 47 49 51 51 54 56 63

1.2

1.3

Umwelt und Umweltstandards 1.1.1 Zum Begriff der Umwelt 1.1.2 Sonderstellung des Menschen 1.1.3 Aufgabe des Menschen 1.1.4 Ziele der Umweltstandards Rationale Festlegung und Beurteilung von Umweltstandards 1.2.1 Umweltstandards und Handeln unter Risiko 1.2.2 Probleme des Risikobegriffs 1.2.3 Multiattributivität von Unerwünschtheit 1.2.4 Probleme der Verallgemeinerbarkeit Normative Implikationen und Umweltpolitik 1.3.1 Faktische und normative Geltung in der Demokratie 1.3.2 Individuelle Zumutbarkeit des Umweltrechts 1.3.3 Pragmatische Konsistenz 1.3.4 Soziale Entscheidungsprozesse

Kapitel 2: Naturwissenschaftlich-medizinische Strahlenschutzes 2.1

Grundlagen

des 73

Strahlenexposition 75 2.1.1 Übersicht 75 2.1.2 Strahlenarten 77 2.1.3 Dosisbegriffe und Dosiseinheiten 81 2.1.4 Dosimetrie 90 2.1.5 Rechenbeispiel: Schilddrüsen-Dosisfaktoren für inkorporierte radioaktive Jodisotope 108

VI

2.2

2.3

Inhaltsverzeichnis

2.1.6 Strahlenexposition der Bevölkerung Biologische Wirkungen ionisierender Strahlen 2.2.1 Übersicht 2.2.2 Grundlegende strahlenbiologische Phänomene 2.2.3 Nicht-stochastische Effekte in Geweben und Organen 2.2.4 Induktion von Entwicklungsanomalien 2.2.5 Stochastische Effekte 2.2.6 Effektive Dosis 2.2.7 Das Problem der kleinen Dosen Methoden- und Fehlerdiskussion 2.3.1 Fehlerbetrachtungen zur Dosimetrie 2.3.2 Diskussion des Streubereichs der Risikofaktoren . . .

118 128 128 131 142 147 150 161 164 174 174 179

Kapitel 3: Entwicklung von Umweltschutzstandards für Strahlung und andere Noxen 189 3.1 3.2

3.3

Entwicklung der Strahlenschutzstandards 190 Entscheidungsabläufe bei der Bildung einiger anderer Standards 196 3.2.1 Arbeitsschutzstandards 197 3.2.2 Asbeststandards 202 3.2.3 Risikoabschätzungen 205 3.2.4 Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) 208 3.2.5 Umweltstandards für S 0 2 211 Vergleichende Betrachtung 218

Kapitel 4: Individuelle, gesellschaftliche und staatliche Bewertung des Risikos 227 4.1

Die Bildung individueller Urteile und Einstellungen gegenüber Risiken 4.1.1 Hypothesen über Unterschiede zwischen rationalen und intuitiven Urteilen 4.1.2 Kriterien rationaler Urteile und Entscheidungen . . . . 4.1.3 Intuitive Urteilsbildungen 4.1.4 Kognitive Heuristiken bei der Bildung intuitiver Urteile 4.1.5 Relevante Faktoren bei der intuitiven Risikobewertung

227 231 232 233 234 238

Inhaltsverzeichnis

4.1.6

4.2

4.3

4.4

Die Bedeutung allgemeiner Wertorientierungen für die intuitive Risikobeurteilung 4.1.7 Soziale Einflüsse auf die individuelle Risikobewertung Gesellschaftliche Prozesse und Konflikte bei der Bewertung von Risiken 4.2.1 Die soziale Rezeption des Risikokonzeptes 4.2.2 Die Akteure im Konflikt um Kernenergie 4.2.3 Mobilisierung und Handlungsbereitschaft 4.2.4 Die Rolle von Staat und Wissenschaft in der Auseinandersetzung um die Kernenergie 4.2.5 Die Rolle der Medien als soziale Verstärker des Konflikts 4.2.6 Die öffentliche Meinung in der nuklearen Arena . . . 4.2.7 Gesellschaftliche Bewertung und rationale Standardfindung Staatliche Bewertung des Strahlenrisikos durch rechtliche Regelung 4.3.1 Entwicklung des deutschen Strahlenschutzrechtes . . . 4.3.2 Völker- und europarechtliche Einwirkungen auf das deutsche Strahlenschutzrecht 4.3.3 Die Strahlenschutzverordnung 4.3.4 Verfahren der atomrechtlichen Anlagengenehmigung 4.3.5 Strahlenschutzvorsorgegesetz 4.3.6 Die Röntgenverordnung 4.3.7 Strafvorschriften 4.3.8 Fazit bezüglich der Risikoeinschätzung Organisatorische und strukturelle Faktoren bei der Setzung von Umweltstandards 4.4.1 Struktur der Ministerialverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland 4.4.2 Die Einbindung der Umweltpolitik in die öffentliche Verwaltung 4.4.3 Externer Druck und Wirkungen auf die Außenwelt 4.4.4 Strukturelle Vorschläge für eine wirksamere Umweltpolitik

VII

243 244 245 248 256 263 266 271 274 278 284 284 287 289 299 301 306 306 307 313 316 322 324 329

Kapitel 5: Formale Kriterien und Instrumente für den Entscheidungsprozeß 345 5.1

Die gesellschaftliche Bildung von Zielen

347

VIII

Inhaltsverzeichnis

5.2

Mögliche Auswirkungen von Maßnahmen zur Erreichung von Zielen 5.2.1 Grundlagen und Aussagekraft von Risikostudien . . . 5.2.2 Kostenermittlung 5.2.3 Verteilungsgerechtigkeit Die Abwägung von Aufwand und Erfolg. Zur Logik und Aussagekraft von Vergleichsmaßstäben 5.3.1 Risiko-Risiko-Vergleiche 5.3.2 Kosteneffizienzverfahren 5.3.3 Kosten-Nutzen-Analyse 5.3.4 Wohlfahrtstheoretische Ansätze 5.3.5 Festlegung von Umweltstandards nach dem Vorsorgeprinzip Entscheidungsanalytische Verfahren der Standardsetzung . . 5.4.1 Entscheidungsanalytische Vorgehensweise bei singulären Entscheidungsträgern 5.4.2 Entscheidungsanalytische Vorgehensweise bei Gruppenentscheidungen 5.4.3 Verfahren der Entscheidungsanalyse im Rahmen von Risiko-Risiko-Vergleichen 5.4.4 Anwendung der Entscheidungsanalyse in der politischen Praxis 5.4.5 Zusammenfassung

5.3

5.4

348 348 352 355 358 358 363 366 368 370 374 376 395 416 417 419

Kapitel 6: Institutionelle und organisatorische Perspektiven

429

6.1

431 431 435

6.2

6.3

Prinzipien und Probleme der gegenwärtigen Praxis 6.1.1 Die Vielfalt der Umweltstandards 6.1.2 Prioritäten beim Setzen neuer Standards 6.1.3 Nicht-wirkungsbezogene Festsetzungen von Expositionsstandards 6.1.4 Optimierungsdefizte Umweltinstrumente des Marktes und des Rechts 6.2.1 Marktwirschaftliche Umweltinstrumente 6.2.2 Umweltschutz im Zivilrecht und im öffentlichen Recht Institutionalisierung des Verfahrens zur Bildung von Umweltstandards

437 428 443 443 457 469

6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 Schluß

Inhaltsverzeichnis

IX

Umweltdiskurs Umweltrat Das Normalverfahren: Anleitungen für die Festlegung von Umweltstandards innerhalb der Umweltbehörden Mögliche institutionelle Bedenken Umweltrat und Risikokommunikation

469 475 479 483 487 494

Vorwort Die Arbeitsgruppe »Umweltstandards« der Akademie der Wissenschaften zu Berlin hat sich in der zweiten Jahreshälfte 1987 konstituiert und einen Arbeitsplan beschlossen. In zwei Kolloquien vom 17. bis zum 19. Februar und vom 13. bis zum 15. April 1988 hat sie sich in mehr als zwanzig Vorträgen und Diskussionen mit den Themen »Notwendigkeit und Funktion der Umweltstandards«, »Konkrete Beispiele«, »Wissenschaftliche Kriterien zur Beurteilung des Faktenwissens« und »Gesellschaftliche und individuelle Bewertung der Risiken« befaßt. Diese Themen bildeten die Grundlage der Gliederung der hier vorgelegten Studie. Z u m Text der Studie haben die Arbeitsgruppenmitglieder sogenannte »Saattexte« geschrieben, die Gegenstand der Diskussionen und immer neuer Textentwürfe wurden. Auf diese Weise entstand schließlich der gemeinsam geschriebene und beschlossene Text. Die besondere Belastung, durch das Schreiben eines bereits interdisziplinär angelegten »Saattextes« in die Vorlage zu gehen, hat das gegenseitige Rollenverständnis in diesem Experiment in interdisziplinärer Kommunikation gefördert. Professor Dr. Renate Mayntz (Köln) hat durch Vortrag und veröffentlichtes Manuskript die Diskussion zu Kapitel 1.3.4 eingeleitet und Dr. Peter Schwabe (Köln) hat den »Saattext« zu Kapitel 3.2 geschrieben. Kapitel 4.4 verdankt viel den Texten von und den Diskussionen mit Staatssekretär a . D . Dr. Manfred Popp (Wiesbaden). Frau Susanne Hahn (Essen) hat am »Saattext« zu Kapitel 5.4 mitgewirkt und Dr. Ernst Mohr (Kiel) mit einem Vortrag und Manuskript zu Kapitel 6.2.1 beigetragen. Studie und Diskussionsstand in der Arbeitsgruppe waren in der zweiten Januarhälfte 1989 soweit vorangeschritten, daß eine Überprüfung des eigenen Wissensstandes am Urteil erfahrener Fachkollegen erfolgen konnte. Dazu wurden Fachgutachten von Professor Dr. Ludger Honnefelder (Bonn), Professor Dr. Albrecht Kellerer (München), Professor Dr. Lutz von Rosenstiel (München) und Professor Dr. Martin Weber (Kiel) eingeholt und im Text berücksichtigt.

XII

Vorwort

Die Evaluation der Studie fand im Rat der Akademie der Wissenschaften zu Berlin in mündlicher Diskussion am 31. Mai 1990, durch schriftliches Verfahren im Juni 1990 statt. Zum abschließenden Fachgespräch fand sich die Arbeitsgruppe mit Frau Professor Dr. Renate Mayntz (Köln) und den Herren Professor Dr. Karl Aurant (Berlin), Professor Dr. Walter H. Goldberg (Göteborg), Professor Dr. Dietrich Henschler (Würzburg), Professor Dr. Wolfgang Jacobi (München), Professor Dr. Michael Kloepfer (Trier), Dr. Heinrich Freiherr von Lersner (Berlin) und Dr. Ernst Mohr (Kiel) am 4. Juli 1990 zusammen. Der endgültige Text wurde zum Jahresende 1990 fertiggestellt. Wir danken allen Genannten herzlich für ihre Unterstützung unserer Arbeit. Nicht zuletzt gebührt unser Dank Frau Helga Knebel (Garching), die das opus magnum unermüdlich geschrieben und ergänzt hat, und Frau Susanne Hahn (Essen), die den Text redaktionell durchgearbeitet und Korrektur gelesen hat. Die Akademie der Wissenschaften zu Berlin hat die in dieser Studie dokumentierte interdisziplinäre Arbeit ermöglicht und auf vielfältige Weise unterstützt, ebenso die Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung in Ladenburg. Der Bundesminister für Forschung und Technologie hat die Arbeitsgruppe »Umweltstandards« durch Zuweisung von Bundesmitteln gefördert. 1 Berlin, im Januar 1992

1

K. Pinkau K. Decker C. F. Gethmann H. W. Levi J . Mittelstraß S. Peyerimhoff G. zu Putlitz A. Randelzhofer O. Renn C. Streffer F. E. Weinert

Gefördert mit Mitteln des Bundesministers für Forschung und Technologie unter dem Förderkennzeichen PLI 1395/0. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Mitgliedern des Rates der Akademie der Wissenschaften zu Berlin.

Abkürzungsverzeichnis

AbfG Abs. AEC AGS AGU AKW ALARA Art. AtG AtVfV BauR BEAR BEIR BGA BGB BGBl BGH BGHZ BImSchG BImSchV BMU BT-Drs. BT-Prot. BVerfGE BVerwG ChemG

co2

DOE DÖV DVB1

Abfallbeseitigungsgesetz Absatz Atomic Energy Commission Ausschuß für Gefahrstoffe Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz Atomkraftwerk As low as reasonably achievable Artikel Atomgesetz Atomrechtliche Verfahrensverordnung Baurecht Biological Effects of Atomic Radiation Biological Effects of Ionizing Radiation Bundesgesundheitsamt Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundes-Immissionsschutzgesetz Bundes-Immissionsschutzverordnung Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bundestagsdrucksache Bundestagsprotokolle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Chemikaliengesetz Kohlendioxid Department of Energy Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt

XIV

Abkürzungsverzeichnis

E EAG-V EPA ET ed ed. eds. FCKW GAU GefStoffV GG GSF HdUR HED IAEA ICRP JuS JZ KFA LAI LET LuftVG MAK MAUT Münch-Komm. MZK NIH NJW NOEL NOx NRC NuR NVwZ OTA OVG p.c.

Entscheidungssammlung Vertrag zur Gründung der europäischen Atomgemeinschaft Environmental Protection Agency Energiepolitische Tagesfragen edition editor editors Fluorchlorkohlenwasserstoffe Größter anzunehmender Unfall Gefahrstoffverordnung Grundgesetz Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung Handbuch des Umweltrechts Hauteinheitsdosis International Atomic Energy Agency International Commission on Radiological Protection Juristische Schulung Juristenzeitung Kernforschungsanlage Jülich, jetzt: Forschungszentrum Länderauschuß für Immissionsschutz Linearer Energie Transfer Luftverkehrsgesetz Maximale Arbeitsplatzkonzentration Multi-Attribute-Utility-Theory Münchner Kommentar zum BGB maximal zulässige Konzentration National Institutes of Health Neue Juristische Wochenschrift No observable effect level Stickstoffoxide Nucléar Regulatory Commission Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Office of Technology Assessment Oberverwaltungsgericht post conceptionem

Abkürzungsverzeichnis

Pu02 RBW RERF RGBl RöV RVO RWE

so2

SSK StGB StrlSchV StrVG TA Luft TRGS TRK U UBA UNSCEAR UPR

VCI

VDI VwGO VwVfG WEC WHG WHO WZB ZPO ZZP

XV

Plutoniumdioxid Relative Biologische Wirkung Radiation Effects Research Foundation Reichsgesetzblatt Röntgenverordnung Rechtsverordnung Rheinisch-Westfälisches-Elektrizitätswerk Schwefeldioxid Strahlenschutzkommission Strafgesetzbuch Strahlenschutzverordnung Strahlenschutzvorsorgegesetz Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft Technische Regel für Gefahrstoffe Technische Richtkonzentration Uran Umweltbundesamt United Nations Scientific Committee on Effects of Atomic Radiation Umwelt- und Planungsrecht Verband der chemischen Industrie Verband Deutscher Ingenieure Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz World Energy Conference Wasserhaushaltsgesetz World Health Organization Wissenschaftszentrum Berlin (jetzt: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Zivilistische Praxis

Einleitung

Diese Studie hat das Ziel, Aufgaben und Funktionen von Umweltstandards zu untersuchen, ihre notwendige wissenschaftliche Fundierung aufzuweisen und die Probleme von Entscheidungsprozessen unter dem Gesichtspunkt rationaler Lösungen in solchen Fällen darzustellen, in denen Zielvorstellungen miteinander in Konflikt liegen. Dazu wird der Versuch unternommen, die sehr unterschiedlichen Beiträge der wissenschaftlichen Disziplinen in einer gemeinsamen Anstrengung zu bündeln und damit der Öffentlichkeit Vorschläge zur Bewältigung eines Teilaspekts der sogenannten »ökologischen Krise« zu unterbreiten, die auf einer kritischen Bestandsaufnahme beruhen. Bei dieser Untersuchung wird der Strahlenschutz als Beispiel verwendet. An ihm werden die theoretischen Überlegungen und praktischen Vorschläge überprüft. Der Strahlenschutz ist ein gutes Beispiel, weil die Strahlenbelastung leicht meßbar und ihre Wirkung auf den Organismus eindeutig belegbar ist. Es gibt sowohl eine natürliche Strahlenbelastung erheblicher Schwankungsbreite je nach dem geographischen O r t als auch eine künstliche Strahlenbelastung. Das kann natürlich auch als Gegenargument angeführt werden, den Strahlenschutz als Beispiel zu nehmen, denn im Bereich etwa chemischer Noxen ist unser Wissen wesentlich begrenzter. Das bessere Wissen um Exposition und Wirkung ionisierender Strahlung verhilft zu einer gezielten Analyse der Prinzipien, Vorgehensweisen und Aussagekraft von Umweltstandards und weist damit exemplarisch die Richtung, die auch für die Bewertung anderer Noxen anwendbar ist. Umweltstandards müssen die Normalsituation regeln. Dies macht es erforderlich, zwischen dem Normalfall und der Unfallsituation zu unterscheiden. Unfallsituationen können nicht durch Umweltstandards geregelt werden; die Unfallvermeidung ist Gegenstand des Genehmigungsverfahrens. Daher beschäftigt sich die Studie nicht mit ReaktorRisikostudien. Die hier angestellten Überlegungen müssen soweit unabhängig von der theoretisch errechneten oder erfahrungsgemäß auf-

2

Einleitung

tretenden Störfall- oder Unfallrate zu einer Vorgehensweise führen, die eine vernünftige Festlegung von Umweltstandards ermöglicht. Die mit dem Ausdruck »ökologische Krise« zusammengefaßten Phänomene haben zu einem weitverbreiteten Mißtrauen gegenüber dem Sachverstand von Wissenschaftlern in diesem Problembereich geführt, obwohl es Wissenschaftler waren, die zuerst vor den Problemen der Strahlenbelastung, der Fluorchlorkohlenwasserstoffe und des Kohlendioxids (Treibhauseffekt) gewarnt haben; sehr oft ist die Wissenschaft der Auslöser für gesteigerte Aufmerksamkeit im Umweltbereich gewesen. Trotzdem wurde häufig deutlich, daß den Wissenschaften vieles von dem Wissen und Können, das zur Lösung der anstehenden Fragen erforderlich ist, nicht umfassend genug, nicht genau genug oder gar nicht verfügbar oder nicht einmal gewinnbar ist. Darüber hinaus werden die Wissenschaften häufig für Defizite verantwortlich gemacht, die außerhalb ihres Verfügungsbereichs liegen, z. B. im Bereich politischer Entscheidung. Gleichwohl gilt, daß Umweltprobleme trotz der Unvollständigkeit, Mehrdeutigkeit und Vorläufigkeit des gegenwärtigen Wissensstandes nur gemäß den Verfahren verallgemeinerbarer Einsichten beurteilt werden dürfen, wenn und soweit die Mittel der Problembewältigung zu Recht Anspruch auf allgemeine Anerkennung haben sollen. Die Bewältigung von Überkomplexitäten durch irrationale Eingebungen ist rationalen Verfahren deshalb nicht gleichwertig, geschweige denn überlegen, weil das Irrationale kognitiv beliebig, damit ohne einlösbaren Geltungsanspruch bleibt, somit nur durch Bevormundung oder Manipulation langfristig durchgesetzt werden kann. Zur durch Wissenschaften informierten praktischen Vernunft gibt es keine Alternative, auch wenn der hierbei einzuschlagende Weg der schwierigste und langwierigste sein sollte. Wie lang dieser Weg sein kann, wird deutlich, wenn man sich klar macht, daß es mit der Aufklärung und den Bemühungen zur Umsetzung der praktischen Philosophie Kants in die Praxis vor 200 Jahren schon einmal einen Versuch gegeben hat, eine Regel der Vernunft in die Entscheidung öffentlicher Angelegenheiten zu übersetzen. Diese rationale Vorgehensweise beruhte damals auf der Vorstellung, Ziel müsse die optimale Realisierung individueller Menschenwürde im Rahmen des in der Gesellschaft Möglichen sein. Die Grundlage dafür bildete der Appell an die individuelle Verantwortung gegenüber der im kate-

Einleitung

3

gorischen Imperativ ausgedrückten Verpflichtung. Der moderne Staat sollte dieses Ziel verwirklichen. Die Geschichte ist diesen Weg nicht gegangen. So wurde der Nationalismus Ziel der Optimierung, und dieses Optimierungsziel hat die Europäer bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges beschäftigt. Erst heute, nachdem die Europäer die Konsequenzen dieses Optimierungszieles durchlitten haben, tritt die alte Idee der Aufklärung wieder hervor. Dies läßt die Hoffnung zu, daß sie zwischenzeitlich nur verschüttet war und sie sich auch gegenüber nach wie vor bestehenden Irrationalismen durchsetzen wird. Zu diesen Irrationalismen gehört auch der Umstand, daß in der Umweltdebatte häufig Ideologien gefolgt wird und nicht dem Weg einer durch Wissenschaft informierten praktischen Vernunft. Dies können nur Um- oder Irrwege sein, weil allein die Regel der praktischen Vernunft der wissenschaftlichen Erfassung der Wirklichkeit entspricht. Deshalb hat in dieser Studie der Gedanke der rationalen Bewältigung der Umweltprobleme die Rolle einer regulativen Idee gespielt. Dabei läßt sich das Rationalitätspostulat wegen der Vielschichtigkeit der Probleme nicht auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis beschränken. Umweltstandards als Regeln und Vorschriften für die Gesellschaft, als von ihr festgelegte Kulturinstrumente werden als Resultate eines Bewertungsprozesses verstanden, in den durch die Naturwissenschaften gewonnene Einsichten notwendigerweise eingehen, den diese jedoch nicht alleine bestimmen. Solche Bewertungsprozesse werden sich im folgenden als tatsachengestützte multidimensionale Beurteilungen erweisen. Als Kernproblem einer rationalen Findung und Rechtfertigung von Umweltstandards erweist sich die Forderung, die in einem multidimensionalen Entscheidungsprozeß bestimmenden, aber nicht direkt kommensurablen Fakten und Präferenzen zu einer oder zu mehreren rationalen Gesamtentscheidungen zu verkoppeln. Als »rational« werden solche Einsichten betrachtet, für die »gute Gründe« in für jedermann nachvollziehbaren Verfahren angegeben werden können. Durch dieses Prinzip der Verfahrensrationalität ist jeder Strategie, Überzeugungen durch Immunisierung und Dogmatisierung zu sichern, der Boden entzogen. Allerdings stehen die Verfahrensregeln selbst nicht beliebig zur Disposition. Verfahrensregeln sind die Regeln rationalen Argumentierens, wie sie dem entwickelten Stand des inter-

4

Einleitung

nationalen wissenschaftlichen Diskurses entsprechen. Liefern die Verfahren rationalen Argumentierens in vielen Fällen auch keine eindeutigen materialen Einsichten, so muß doch letztendlich auf der Eindeutigkeit des Begriffs der »Argumentation« bestanden werden. Die Studie wendet sich primär an die aufgeklärte Öffentlichkeit. Dies geschieht in der Hoffnung, auf diesem Wege auch die Sphäre der »Politik« zu erreichen. Eine solche Form der Politikberatung entspricht den Anforderungen an einen öffentlichen Diskurs in einem demokratischen Gemeinwesen. Zusammenfassung Die vorgelegte Studie setzt drei Schwerpunkte. Im ersten Schwerpunkt — dem ersten Kapitel — wird das Problem definiert, indem der Begriff der Umwelt geklärt und die Notwendigkeit und Funktion von Umweltstandards untersucht werden. Im zweiten Schwerpunkt, den Kapiteln 2 bis 4, wird die gegenwärtige Situation bezüglich der Fakten und Bewertungsprobleme beschrieben: Kapitel 2 wendet sich den naturwissenschaftlich-medizinischen Grundlagen des Strahlenschutzes zu, Kapitel 3 gibt einen Überblick über die Entwicklung der Umweltstandards für Strahlung und andere Noxen. Die individuelle, gesellschaftliche und staatliche Bewertung des Risikos ist Gegenstand des Kapitels 4. Im dritten Schwerpunkt, den Kapiteln 5 bis 6, werden die Technik der Entscheidungsanalyse entwickelt und institutionelle und organisatorische Perspektiven eröffnet, die dem Ziel der Studie dienen, Vorgehensweisen aufzuzeigen, die eine Bewältigung der komplexen Umweltprobleme erlauben. Kapitel 1: Notwendigkeit

und Funktion von

Umweltstandards

»Umweltstandards« sind Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder privatrechtliche Regelungen, durch die umweltbezogene, unbestimmte Rechtsbegriffe aufgrund der Operationalisierung und Standardisierung von meßbaren Größen in konkrete Normen umgesetzt werden. Das Zustandekommen von Umweltstandards ist ein komplexer Prozeß, an dem wissenschaftliche Einsichten verschiedener Disziplinen, normative

Einleitung

5

Überzeugungen und soziale Rahmenbedingungen in jeweils spezifischer Weise beteiligt sind. Die Untersuchung geht von einer Klärung des Begriffs der »Umwelt« im Kontext der Umweltdiskussion, in Abgrenzung gegen seine Verwendung in der Verhaltensforschung (v. Uexküll) aus. Im Anschluß an die Philosophische Anthropologie wird der Mensch als weltoffenes Lebewesen betrachtet, für das die Umwelt zugleich Lebensermöglichung und Lebensbedrohung darstellt. Dem Menschen kommt dadurch eine Sonderstellung zu, daß er seiner Umwelt nicht nur unterworfen ist, sondern sie gestalten muß. Auf diesem Hintergrund wird gegen ein »naturalistisches« und für ein »kulturalistisches« Verständnis von Umwelt und Umweltstandards Stellung bezogen: Umweltstandards sind Verbindlichkeiten des Handelns, die sich Gesellschaften auferlegen, wenn und soweit sie auf bestimmte Weise zusammenleben wollen. Der Naturalismus wird dagegen manifest, wo man meint, ein Umweltstandard lasse sich unmittelbar aus einem Schwellenwert gewinnen. Diese Vorstellung ist schon deswegen unhaltbar, weil es in vielen relevanten Umweltbereichen (wie z. B. dem Strahlenschutz) keine Schwellenwerte gibt. Aber auch dann, wenn Schwellenwerte existieren, gibt es oft gute Gründe, unter diesen zu bleiben; unter besonderen Bedingungen kann es sogar ratsam sein, eine Überschreitung des Schwellenwertes zu gestatten. Gegenüber einem ausbeuterischen Egoismus des Menschen und einem widersprüchlichen Ökozentrismus zeigt das Problem der Bildung von Umweltstandards, daß nur ein verantwortlicher Anthropozentrismus ein adäquates Naturverhältnis darstellt. Dies beinhaltet allerdings auch einen Verzicht auf eine umfassende inhaltliche Normierung der Umwelt. Für die Bildung von Umweltstandards ist im großen und ganzen von einer Umwelt auszugehen, wie die Menschen sie seit einigen Generationen kennen. In bezug auf diese Umwelt verhalten sich Umweltstandards eher zurückhaltend: sie sollen die Umwelt vor weiteren Schäden bewahren und bereits eingetretene und als solche erkannte Schäden revidieren. Der Gestaltungsauftrag des Menschen überantwortet die Bildung von Umweltstandards aber nicht politischer Beliebigkeit. Diese wird — abgesehen von allgemeinen Rationalitätsstandards — eingeschränkt durch die naturwissenschaftlich ermittelten Fakten (wie z. B. Dosis-Wirkungsbeziehungen), die zahlreichen Zielvorgaben des gesellschaftlichen Beurteilungsprozesses sowie die Regeln einer rationalen Risiko-Chancen-Abwägung.

6

Einleitung

Bei der Aufstellung von konkreten Umweltstandards wird jeweils unterstellt, daß die Angabe von Grenzwerten neben ihrer Abhängigkeit von der Wahrscheinlichkeit, mit der der Eintritt eines Schadens zu erwarten ist, auch von dem Nutzen abhängt, den das Eingehen des Risikos dem möglicherweise Geschädigten bringt. Umweltstandards haben somit die generelle Funktion, in bestimmten Fällen des Handelns unter Risiko Grenzen anzugeben, und zwar derart, daß auf die Frage, wo denn der Grenzwert liegt, immer die Gegenfrage zu stellen ist, was die Betroffenen einzusetzen bereit sind. Damit erweist die genauere Analyse das Problem der Umweltstandards als Teilproblem des umfassenden Problems, Rationalitätskriterien des Handelns unter Risiko anzugeben. Der Risikobegriff ist der Kernbegriff der Diskussion um die Bildung von Umweltstandards. Umweltstandards sind demgemäß konventionelle Beschränkungen des Handelns unter Risiko. Die Möglichkeit einer Handlungsrationalität wird häufig in Abrede gestellt; in der Tat unterscheidet sich die Handlungsrationalität in ihren Strukturen weitgehend von der Erkenntnisrationalität. Gleichwohl ist es möglich, die Bedingungen der Rationalität menschlichen Handelns zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion beim Handeln unter Risiko führt zu erheblichen Komplikationen, die sowohl mit dem Wahrscheinlichkeitsverständnis als auch mit der Präzisierung des Schadensbegriffs zusammenhängen. Insbesondere wirft die Multiattributivität, d. h. die Entscheidung in bezug auf mehrere Zieldimensionen, schwierige methodische Probleme auf (in Kapitel 5 wird ein ausführlicher Vorschlag für die Lösung dieser Probleme entwickelt). Die (normative) Akzeptabilität steht gerade bei den Umweltstandards in erheblicher Diskrepanz zur (faktischen) Akzeptanz von Risikozumutungen. N u r wenn zwischen Akzeptanz und Akzeptabilität unterschieden wird, kann dem Staat das Recht zugestanden werden, seinen Bürgern Risiken durch Gesetze zuzumuten, aber auch Verletzungen von Umweltstandards durch Sanktionen zu ahnden. Dabei ist der Staat nicht nach der Konsensfähigkeit der Inhalte seiner Regulierungen, sondern nach der Legitimität der Verfahren, die zu ihrer Aufstellung geführt haben, zu prüfen. Unterstellt wird dem Bürger die Fähigkeit, pragmatisch konsistent zu handeln, d. h., der Bürger muß bereit sein, sich Risiken zumuten zu lassen, die er auch anderen (und sich selbst) zumutet. Dieses Prinzip der pragmatischen Konsistenz ist die Obernorm, aufgrund deren sich die Akzeptabilität von Risiken Geltung

Einleitung

7

verschaffen kann. Somit kommt alles darauf an, daß Staat und Gesellschaft ihre Entscheidungsprozesse so organisieren, daß ihre Rationalität von den betroffenen Bürgern nachvollzogen werden kann. Der öffentliche Diskurs, der zur Bildung von Umweltstandards führt, muß ein hohes »Wertberücksichtigungspotential« aufweisen. Kapitel 2: Naturwissenschaftlich-medizinische Strahlenschutzes

Grundlagen

des

Die naturwissenschaftlich-medizinischen Grundlagen des Strahlenschutzes werden seit mehreren Jahrzehnten systematisch erforscht. Die Kenntnisse sind heute umfassender und gesicherter als diejenigen, die für die meisten anderen Schutzkonzepte gegen Umweltnoxen zur Verfügung stehen. Entsprechend den beiden Parametern, die durch Umweltnoxen verursachte Risiken bestimmen — Exposition und Wirkung - , umfassen die für ein Schutzkonzept notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen auf der einen Seite Verfahren der Expositionsbestimmung (Dosimetrie), auf der anderen Seite die Kenntnis und das Verständnis der biologischen Wirkungen der betreffenden Noxe. Erstes und heute im wesentlichen erreichtes Ziel der strahlendosimetrischen Forschung war die Entwicklung von Methoden zur Messung der Radioaktivität und der durch sie bewirkten direkt meßbaren Strahlendosen. Der nächste Schritt war dann der von den gemessenen Energiedosen zu den berechneten Äquivalentdosen, bei denen die biologischen Wirkungen ionisierender Strahlen in Abhängigkeit von der Strahlenqualität berücksichtigt werden. Der dritte Schritt schließlich, und wohl derjenige, dem die Strahlendosimetrie vor allem ihre Überlegenheit gegenüber der toxikologischen Dosimetrie verdankt, ist die Berechnung der Dosisverteilung im Körper sowohl bei externer als auch bei interner Bestrahlung durch inkorporierte Radionuklide. Der heutige Entwicklungsstand der Strahlendosimetrie erlaubt daher eine für die meisten Erfordernisse des Strahlenschutzes befriedigende Bestimmung der biologisch wirksamen Dosis am Ort ihrer Wirkung. Daneben hat die strahlendosimetrische Forschung zwei weitere wichtige Ergebnisse geliefert. So kennt man recht genau die mittlere natürliche Strahlenexposition der Bevölkerung sowie ihre Streubreite. Das gilt sowohl für die externe Exposition durch terrestrische und kosmische Strahlung als auch für die interne durch primordiale Radionuklide, vor

8

Einleitung

allem Kalium-40. An der Streubreite dieser natürlichen Strahlenexpositionen, die in der Bundesrepublik Deutschland mindestens 0,3 Millisievert (mSv) beträgt, orientiert sich der Dosisgrenzwert für die allgemeine Bevölkerung. Bezieht man sich auf die effektive Dosis, trägt dieser Teil der natürlichen Strahlenexposition zu knapp 30% zur mittleren Exposition der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland bei. Ebenfalls im Mittel knapp 30% der Exposition stammen aus dem Radon der Innenraumluft von Wohnungen, das auch natürlichen Ursprungs, dessen Einwirkung aber zumindest zum Teil zivilisationsbedingt ist. Sie hängt von baulichen Maßnahmen und auch vom persönlichen Verhalten (Lüften) ab. Die mittlere Exposition zu medizinischen Zwecken macht etwa 40% aus. Für das Individuum ist die Höhe dieser Exposition natürlich von der persönlichen Gesundheit abhängig. Die künstliche Exposition schließlich trägt infolge allen Gebrauchs, den der Mensch von Kernspaltung und Radioaktivität macht, im langjährigen Mittel mit knapp 2% zur durchschnittlichen Strahlenexposition bei, wobei die Kernkraftwerke der Bundesrepublik mit wenigen zehntel Prozent beteiligt sind. Auf der Wirkungsseite ist es eine wichtige Erkenntnis, die auch für viele chemische Noxen gilt, daß es nicht-stochastische und stochastische Wirkungen gibt. Nicht-stochastische Wirkungen sind durch Schwellendosen gekennzeichnet, unterhalb derer sie nicht und oberhalb derer sie mit steigendem Schweregrad auftreten. Solche Schwellendosen liegen in der Größenordnung von 0,1 Sievert und höher und sind damit weit höher als die infolge von Umweltradioaktivität zu erwartenden Expositionen. Sie können daher beim Setzen von Umweltstandards außer Betracht bleiben. Der Eintritt des Schadens ist durch die Höhe der Dosis determiniert. Dessen ungeachtet gilt aber — wie bei allen biologischen Phänomenen —, daß auch Schwellendosen eine gewisse Bandbreite haben. Stochastische Wirkungen sind solche, die zu genetischen Schäden oder zu Krebs bzw. Leukämie führen. Bei ihnen nimmt mit steigender Dosis nicht die Schwere des Schadens, sondern die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts zu. Es gibt keine Dosis, bei der diese Wahrscheinlichkeit 100%, aber wohl auch keine, bei der sie 0% beträgt. Stochastische Schäden beruhen auf Veränderungen an der DNA der Zelle. Während es für die Induktion vererbbarer Defekte evident ist, vermutet man,

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daß auch bei der Induktion von Krebs bereits eine einzige beschädigte Zelle einen solchen Schaden auslösen kann, wenn auch mit entsprechend kleiner Wahrscheinlichkeit. Bei nicht-stochastischen Schäden müssen viele Zellen geschädigt werden, damit es zu einer manifesten gesundheitlichen Wirkung kommt. Daher wird bei stochastischen Schäden im Sinne einer Abschätzung, die auf der sicheren Seite liegt, angenommen, daß es keine Schwellendosen gibt und der Verlauf der Dosis-Wirkungsbeziehungen bis zu kleinsten Dosen linear ist. Empirische Beweise gibt es weder für noch gegen diese Annahme. Dabei muß man auch in Betracht ziehen, daß es natürliche Reparaturmechanismen für Strahlenschäden in der DNA gibt. Wenn man annimmt, daß es für die Strahleninduktion von Krebs und genetischen Schäden keine Schwellendosis gibt, muß man auch unterstellen, daß keine Strahlendosis, sei sie auch noch so gering, unschädlich ist. Dem trägt das Gebot im deutschen Strahlenschutz Rechnung, daß jede Strahlenexposition einerseits durch einen erwarteten Nutzen zu rechtfertigen und andererseits so zu minimieren ist, wie sich das mit diesem Nutzen vereinbaren läßt. Ein weiteres wichtiges Resultat strahlenbiologischer Forschung ist die quantitative Abschätzung des Strahlenkrebsrisikos. Die Risikofaktoren, die angeben, wie viel größer gegenüber dem normalen Krebsrisiko das Risiko nach einer Strahlenexposition ist, beruhen auf epidemiologischen Studien. Das wichtigste Personenkollektiv für die epidemiologischen Studien sind die Überlebenden der Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki. Nach den Revisionen dieser Studien, die in den letzten Jahren stattgefunden haben, kann man annehmen, daß man für locker ionisierende Strahlen bei niedrigen Strahlendosen und Dosisleistungen mit einem Krebsrisiko von etwa 5% pro Sievert in einem vernünftigen Bereich liegt. Das würde für den in der Bundesrepublik geltenden Dosisgrenzwert für die allgemeine Bevölkerung von 0,3 mSv/a bei voller Ausschöpfung ein zusätzliches Lebenszeitrisiko, an Krebs zu erkranken, von etwa 1/1.000 bedeuten. Dem steht ein normales Krebsrisiko von 200/1.000 gegenüber. Kapitel 3: Entwicklung Noxen

von Umweltstandards

für Strahlung und

andere

Wichtige Grundlagen für die Festlegung von Umweltstandards sind die naturwissenschaftlichen sowie medizinischen Kenntnisse über die Wir-

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Einleitung

kung von Noxen auf die Umwelt, mit den in ihr lebenden Organismen, und auf die menschliche Gesundheit. Die Weiterentwicklung dieses Wissens, die bessere Beschreibung der Dosis-Wirkungsbeziehungen und damit verbunden die verbesserte Messung der Exposition, aber auch die zunehmende Sensibilisierung der Menschen in den Industrieländern gegenüber möglichen Gefahren durch Noxen, die die Umwelt und die Gesundheit schädigen können, haben die Entwicklung der Umweltstandards entscheidend geprägt. Sehr häufig sind für ionisierende Strahlen und andere Noxen zunächst Arbeitsschutzstandards aufgestellt worden. Die dort gewonnenen Erfahrungen sind dann für die Formulierung von Umweltschutzstandards und die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien genutzt worden. Bei der Entwicklung der Schutzstandards für ionisierende Strahlen standen die Dosisgrenzwerte für beruflich exponierte Personen zunächst im Vordergrund. Die zunehmende Verbreitung kerntechnischer und nuklearmedizinischer Anlagen gab den Anlaß zur Festlegung von Strahlenschutzstandards für die Bevölkerung. Hierbei hat ein Vergleich mit den natürlichen Strahlenexpositionen stets eine Rolle gespielt. Die Dosisgrenzwerte für die Bevölkerung sind in einen Bereich gelegt worden, der weit unterhalb der Schwellendosen für nicht-stochastische Effekte liegt. Bei Risikobetrachtungen kommen also nur stochastische Effekte in Betracht. Auch für diese Effekte liegen die Grenzwerte in einem Dosisbereich, in dem die Risiken nur rechnerisch durch Extrapolation ermittelt werden können. In der Bundesrepublik Deutschland betragen die Dosisgrenzwerte für Einzelpersonen der Bevölkerung in der Umgebung kerntechnischer Anlagen an den ungünstigsten Einwirkungsstellen 0,3 mSv pro Jahr. Mit Hilfe radioökologischer Modelle wird sowohl die externe als auch die interne Strahlenexposition berücksichtigt. Der Dosisgrenzwert liegt innerhalb der mittleren Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition. Aufgrund des Minimierungs- bzw. Optimierungsgebotes soll ferner angestrebt werden, durch Einsatz vernünftiger Maßnahmen unterhalb der Dosisgrenzwerte zu bleiben. Die sehr pessimistischen Annahmen der Rechenmodelle führen zu Strahlenexpositionen, die in der Realität nicht erreicht werden. Bei anderen Noxen ist für die Entwicklung von Arbeitsschutz- bzw. Umweltschutzstandards ähnlich vorgegangen worden. Arbeitsschutzstandards sind durch die MAK-Kommission für verschiedene chemische

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Stoffe entwickelt worden. Diese Kommission gibt Grenzwerte allerdings nur für nicht-kanzerogene Stoffe an, die eine Schwellendosis haben. Bei krebserzeugenden Stoffen werden Technische-Richt-Konzentrationen (TRK) durch den Ausschuß für Gefahrstoffe festgesetzt, die vom Bundesminister für Arbeit und Soziales als Technische Regeln für Gefahrstoffe veröffentlicht werden. Da für krebserzeugende Stoffe wie bei ionisierenden Strahlen Dosis-Wirkungsbeziehungen ohne Schwellendosen angenommen werden, gilt auch hier ein Minimierungsgebot. Nach diesen Prinzipien ist z. B. auch bei der Festsetzung von Schutzstandards für Asbest vorgegangen worden. Insbesondere sind die beschriebenen Grundsätze der Risikoextrapolation und Risikobewertung wie bei ionisierenden Strahlen auch für die Wirkung von Asbestfasern am Arbeitsplatz und in der Umwelt angewandt worden. Vom Länderausschuß für Immissionsschutz (LAI) der Umweltministerkonferenz ist für das Lebenszeitrisiko durch die Summe krebserzeugender Luftschadstoffe einschließlich Asbest ein Wert von 10"3 vorgeschlagen worden. Dieses Risiko würde in demselben Bereich liegen wie das Strahlenrisiko bei einer jährlichen Strahlenexposition, allerdings unter der wohl auszuschließenden Voraussetzung, daß die betreffenden Personen während ihres gesamten Lebens eine Exposition von 0,3 mSv pro Jahr erhalten. Anders verläuft die Festsetzung von Umweltstandards für Substanzen, bei denen nicht die menschliche Gesundheit das limitierende Kriterium ist. So ist bei den Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) die Schädigung der Ozonschicht entscheidend, während beim Schwefeldioxid (S0 2 ) die Schädigung der Vegetation die Grenzwertdiskussion beherrscht. Häufig sind die Kenntnisse der Wirkungsmechanismen dieser Agentien nur sehr lückenhaft; sie bedürfen zur Beurteilung der Umweltschädigung erheblicher Verbesserung. Auch für diese Agentien sind die Verteilungs- bzw. Transportvorgänge in der Umwelt von großer Bedeutung. Die Ausbreitungsmechanismen z. B. für luftgetragene Schadstoffe sind für viele Stoffe einschließlich radioaktiver Stoffe ähnlich und können mit Hilfe ähnlicher ökologischer Modelle beschrieben werden, wobei die Parameter für die quantitative Beschreibung der Prozesse sehr unterschiedlich sein können. Hinsichtlich der Schadwirkung kann man folgende grobe Einteilung vornehmen:

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Einleitung

— Veränderungen durch physikalisch-chemische Umweltschäden, — ökologische Schäden bei Pflanzen und Tieren, — Schädigung der menschlichen Gesundheit. Wenn es auch selbst bei Substanzen der dritten Schadstoffklasse Unterschiede zur Wirkung ionisierender Strahlen gibt, so sind doch die wichtigsten Effekte, Karzinogenese und Mutagenese, häufig dieselben. Es können daher manche Analogien hergestellt werden. Auch bei chemischen Stoffen mit kanzerogener Aktivität geht die Entwicklung dahin, Grenzwerte auf der Basis akzeptabler Risiken zu schaffen. Kapitel 4: Individuelle, Risikos

gesellschaftliche

und staatliche Bewertung

des

Risiken sind im menschlichen Leben allgegenwärtig. Sie werden von Individuen wahrgenommen, kognitiv und affektiv bewertet, so daß darauf reagiert werden kann. Diese individuellen Vorgänge werden durch Prozesse der öffentlichen Meinungsbildung wie der sozialen Urteilsformierung nicht nur beeinflußt, sondern überformt. Sind bestimmte Risiken nach wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht akzeptabel, oder werden sie von einflußreichen Bevölkerungsgruppen nicht akzeptiert, so ist staatliches Handeln gefordert. Dies kann entweder in Form gesetzlicher Regelungen oder durch administrative Maßnahmen geschehen. Solche Mechanismen der Bewertung und Begrenzung von Risiken stehen im Mittelpunkt des 4. Kapitels. Es konfrontiert auf diese Weise die wissenschaftlichen und normativen Maximen der Risikobeurteilung mit den Vorgängen in der Wirklichkeit und liefert zugleich eine empirische Basis für konstruktive Vorschläge zu einem möglichst rationalen Umgang mit Risiken. Im ersten Abschnitt des Kapitels wird die Entstehung individueller Urteile und Einstellungen gegenüber Risiken dargestellt. Da Laien bei Umweltrisiken (z. B. dem Strahlenrisiko) im allgemeinen über eine völlig unzureichende Wissensbasis verfügen, müssen sie sich bei der Urteilsbildung auf robuste kognitive Faustregeln, auf allgemeine Wertorientierungen und auf die Meinung relevanter sozialer Bezugsgruppen verlassen. Dies führt häufig zu drastischen Über- oder Unterschätzungen des Risikos. Der Analyse gesellschaftlicher Prozesse und Konflikte bei der Bewertung von Risiken ist der zweite Abschnitt gewidmet. Ausgangspunkt

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ist das in den letzten Jahren stark gewachsene, zum Teil erst entstandene kollektive Problembewußtsein gegenüber Risiken, die mit der aktuellen wissenschaftlich-technischen Entwicklung verbunden oder durch sie verursacht sind. Dies führte zur Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Konfliktfeldes, für das keine bewährten traditionellen Formen der politischen Willensbildung verfügbar waren. Wesentlich verstärkt durch den Einfluß moderner Massenmedien hat dies zu einer Polarisierung der öffentlichen Meinung und daraus erwachsender Mobilisierungseffekte und Handlungsimpulse bei großen Teilen der Bevölkerung beigetragen. Natürlich wurde und wird dadurch eine rationale Standardsetzung bei Risiken unterschiedlicher Art nicht erleichtert. Aus dieser Situationsanalyse lassen sich Argumente für neue Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit technischen Risiken herleiten. Eine wesentliche Rolle spielen dabei rechtliche Regelungen. Dies wird im dritten Abschnitt am Beispiel des deutschen Strahlenschutzrechts demonstriert. Nach einer Skizzierung seiner Entstehung, der dabei beachteten Prinzipien und des Einflusses völker- wie europarechtlicher Regelungen werden die Strahlenschutzverordnung, das Verfahren der atomrechtlichen Anlagengenehmigung, das Strahlenschutzvorsorgegesetz und die Röntgenverordnung etwas genauer charakterisiert. Als Fazit des rechtlichen Rahmens und seiner praktischen Ausgestaltung bei der Risikoeingrenzung wird festgehalten, daß in Übereinstimmung mit dem sicherheitstechnischen Gefahrenbegriff generell gilt: Je größer der mögliche Schaden ist, um so höhere Anforderungen sind an die Verringerung seiner Wahrscheinlichkeit zu stellen. Der letzte Abschnitt des vierten Kapitels ist den organisatorischinstitutionellen Bedingungen, den verschiedenen Planungs- und Entscheidungsprozessen sowie den Wirkungen und Nebeneffekten der administrativen Begrenzung von Risiken gewidmet. Im Mittelpunkt steht dabei die für Umweltprobleme zuständige Ministerialverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie muß die notwendigen oder wünschenswerten Entscheidungen häufig unter starkem externen Druck herbeiführen und ausführen. Die Analyse der dabei auftretenden Probleme führt schließlich zu einigen speziellen Reformvorschlägen für eine wirksamere Umweltpolitik. Alles in allem: Die vorfindbare Realität des individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Umgangs mit Risiken ist vielfältig, nicht ohne praktische Effektivität, aber doch mit großen Defiziten behaftet.

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Einleitung

Kapitel 5: Formale Kriterien und Instrumente für den prozeß

Entscheidungs-

Umweltstandards legen das kollektiv für zulässig gehaltene Risiko fest, das man unter Abwägung des Nutzens einzugehen bereit ist. Die Festlegung dieser Standards beruht auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirkungen von Schadstoffen auf Mensch und Umwelt, ist aber darüber hinaus auf eine gesellschaftliche Abwägung von Risikokosten versus Risikovermeidungskosten angewiesen. Daraus folgt, daß ein Urteil über die Akzeptabilität von Risiken immer auf einen Ausgleich zwischen verschiedenen Beurteilungskriterien angewiesen ist (Multiattributivität). Zugleich wird aufgezeigt, wie weit man wissenschaftliches Vorgehen in den Abwägungsprozeß einbringen kann. Um zu einer sinnvollen Abwägung bei der Standardsetzung zu gelangen, sind drei Prozeßschritte vonnöten: — die Festlegung von Zielen, die sowohl dem Schutz von Leben, Gesundheit und Umwelt dienen als auch eine rationale Allokation gesellschaftlicher Ressourcen ermöglichen; — die Untersuchung der möglichen Auswirkungen der Implementation dieser Ziele; — die Abwägung von gesellschaftlichem Aufwand oder Schaden, wobei der Begriff des Schadens den entgangenen Nutzen einschließt, der bei der Verwirklichung dieser Ziele hingenommen werden muß. Rationalität bei der Festlegung von Umweltstandards erstreckt sich nicht auf die Ziele der Gesellschaft, wohl aber auf die Auswahl von Mitteln und Strategien, mit deren Hilfe die Ziele verwirklicht werden können. Schutzziele müssen also durch die bestehenden gesetzlichen Regelungen oder politischen Vorgaben in die Standardfindung eingebracht werden. Die Wissenschaft kann allerdings diese Ziele auf Kohärenz und interne Konsistenz hin überprüfen. Sind die Ziele einmal festgelegt, besteht der zweite Schritt darin, die Auswirkungen verschiedener Umweltnoxen auf den operationalisierten Kriterien zu erfassen. Diese Aufgabe soll und kann nur mit Hilfe der Wissenschaft gelöst werden. Wenngleich es auch innerhalb der Wissenschaft über mögliche Auswirkungen unterschiedliche Meinungen gibt, so sind diese keineswegs willkürlich, sondern können methodisch und rational begründet werden. Eine Kontrolle, die darauf abzielt, im wis-

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senschaftlichen Bereich zwischen begründeten und unbegründeten Aussagen zu unterscheiden, kann nur durch das Wissenschaftssystem selbst und nicht durch externe Gruppen ausgeübt werden. Auf der Basis wissenschaftlicher Abschätzungen der Wirkungen verschiedener Umweltnoxen und der Kosten ihrer Begrenzung muß in einem dritten Schritt eine Abwägung vorgenommen werden, um den gewünschten Grad der Risikoreduktion und die damit verbundenen Folgekosten festzulegen. Dazu eignen sich mehrere formale Verfahren: — die Risiko-Risiko-Vergleiche, nach denen ein Risiko dann als hinreichend reduziert angesehen wird, wenn es das Gesamtrisiko einer einmal gewählten Lebensweise nicht nennenswert erhöht, d. h. unterhalb der Schwellen bereits akzeptierter Risiken liegt; — das Kosteneffizienzverfahren, nach dem ein festgelegtes Budget für Maßnahmen zur Risikoreduktion so verteilt wird, daß das Gesamtrisiko minimiert wird; — die Kosten-Nutzen-Analyse, in der Kosten und Nutzen der jeweiligen Risikoreduktion zunächst in eine einheitliche Verrechnungseinheit überführt und dann verglichen werden, um diejenige Risikoreduktion zu bestimmen, bei der der größte Nettonutzen zu erwarten ist; — entscheidungsanalytische Verfahren, bei denen systematisch Nutzenverluste und Nutzengewinne durch Umweltstandards gemäß den Präferenzen des Entscheidungsträgers miteinander in Beziehung gesetzt werden; — Verfahren der Vorsorge, nach denen ein Risiko so weit reduziert werden soll, wie es der Stand der Technik erlaubt, oder nur solange dies noch vernünftig ist (ALARA: as low as reasonably achievable). Alle diese Verfahren haben ihre Vor- und Nachteile, die ausführlich diskutiert werden. Gemessen an den Kriterien »normative Gültigkeit« und »Praktikabilität« ist eine Verbindung von entscheidungsanalytischer Vorgehensweise und Risiko-Risiko-Vergleichen (zur Beurteilung der Akzeptabilität der Dimension »Risiko« innerhalb des multidimensionalen Entscheidungsrahmens) besonders empfehlenswert. Die Verfahren der Vorsorge finden dort ihren Platz, wo die Wirkungen von Noxen noch zu wenig bekannt sind, um eine Abwägung zwischen Nutzen und Kosten vorzunehmen.

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Einleitung

Die entscheidungsanalytische Vorgehensweise hat den Vorteil, daß sie den Prozeß der Entscheidungsfindung nach rationalen Kriterien strukturiert und gleichzeitig gegenüber der Außenwelt transparent macht. Sie gibt keinen Algorithmus an die Hand, um automatisch richtige Entscheidungen zu produzieren, sondern legt nur einen Handlungsrahmen fest, der gegebenes Wissen und Präferenzen systematisch und sinnvoll miteinander verzahnt. Die einzelnen Schritte dieser Analyse sind für Entscheidungen von singulären Entscheidungsträgern und für Entscheidungen von Gruppen beschrieben. Kapitel 6: Institutionelle

und organisatorische

Perspektiven

Die Analysen der vorausgegangenen Kapitel werden in Kapitel 6 zu einem institutionellen Vorschlag zusammengeführt. Dieser hat zu berücksichtigen, daß ein Verfahren der gesellschaftlichen Risikovorsorge den Beitrag des wissenschaftlichen Sachverstandes integrieren und sich im Rahmen demokratischer gesellschaftlicher Strukturen entfalten muß. Dies verlangt eine Auszeichnung des wissenschaftlichen Verstandes, der allein in der Lage ist, das erforderliche Fachwissen zu bilden, jedoch eingebettet in die Form eines Entscheidungsprozesses, der so angelegt sein muß, daß sich durch ihn die öffentliche Meinung nach rationalen Regeln zur Geltung bringen kann. Die damit verbundenen verfahrensmäßigen und institutionellen Probleme schließen ferner ein Prioritätenproblem beim Setzen neuer Standards angesichts der Vielzahl möglicher Umweltbeeinträchtigungen ein. Prioritätensetzung bedeutet dabei zwangsläufig auch das Setzen von Posterioritäten. Diese sind häufig der öffentlichen Meinung schlecht zu vermitteln; doch können bewußt vorgenommene, begründete Handlungsverzichte oft stärker zur Effizienz des Umweltschutzes beitragen als ein unterscheidungsarmer Aktionismus. Ein weiteres Problem bildet schließlich die Festsetzung von Expositionsstandards auch dort, wo die Kenntnis der Dosis-Wirkungsbeziehungen für eine wirkungsbezogene Festlegung noch unzureichend ist. Ferner begegnet man in der öffentlichen Diskussion häufig einem Verständnis des Optimierungsgebots, das dieses als Minimierungsgebot erscheinen läßt. Das gilt sowohl für die Standardsetzung selbst als auch für den Vollzug. Rationale Verfahren sind notwendig, um die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zu erhalten.

Einleitung

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Als solche bieten sich zunächst die Umweltinstrumente des Marktes und des Rechts an. Ausführlich werden zunächst die Prinzipien marktkonformer Instrumente und diese selbst in ihren Vor- und Nachteilen dargestellt. Dabei stellt sich heraus, daß diese Instrumente in der Umweltpolitik zwar zu besserer Kosteneffizienz beitragen, daß sich ihre Wirksamkeit aber in den meisten Fällen nicht von selbst, sondern nur aufgrund ordnungsrechtlicher Vorgaben einstellen kann. Begrenzungen des Marktes ergeben sich auch, wenn der Verlust von Gesundheit und Leben auf dem Spiel steht, ferner in den Verteilungswirkungen marktkonformer Instrumente (eine optimale Allokation führt nicht von selbst zu einer wünschenswerten Distribution der Effekte) und in der Notwendigkeit, bei neuen Erkenntnissen über die Wirksamkeit von Schadstoffen die Grenzwerte zu verändern (Erweiterung oder Verknappung von Verschmutzungsrechten). Insgesamt stellt sich heraus, daß marktkonforme Instrumente zwar ihren Platz in der Umweltpolitik haben, jedoch der Ausfüllung und der Begrenzung durch ordnungsrechtliche Maßnahmen bedürfen. Hierbei sind sowohl Regelungen des Zivilrechts als auch des öffentlichen Rechts zu berücksichtigen. Ergebnis der Analyse ist, daß das öffentliche Umweltrecht einen flexibleren, schnelleren und somit effektiveren Umweltschutz ermöglicht als das Zivilrecht. Bei kognitiver Unsicherheit und evaluativem Dissens werden Entscheidungen eher aufgrund des Verfahrens, durch das sie zustande kommen, als aufgrund ihres Inhaltes als angemessen und begründet beurteilt. So auch im Falle der Setzung von Umweltstandards. Hier soll ein Umweltdiskurs, der einerseits den »Stand der Wissenschaft« berücksichtigt, andererseits die Pluralität der Präferenzhaltungen zu Wort kommen läßt, ferner entscheidungsanalytische Kriterien beachtet und auf pragmatische Konsistenz bedacht ist, das Erforderliche leisten. Dies soll zugleich in institutioneller Form geschehen, und zwar so, daß es zu den Aufgaben einer unabhängigen Institution im Umweltbereich gehört, die Notwendigkeit der Festlegung eines Standards festzustellen, die faktischen und operationalen Voraussetzungen für eine rationale Bearbeitung aufzuklären, die Prinzipien der Beurteilung zu formulieren, den Umweltstandard quantitativ auszudrücken und den quantitativ ausgedrückten Umweltstandard als Empfehlung in die Verfahren der staatlichen Entscheidung einzubringen. Wiederum kommen dabei dem System Wissenschaft mit seiner besonderen Wahrheitsverpflichtung und seiner besonderen Begründungskompetenz wesentliche Aufgaben zu.

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Einleitung

Die unabhängige Institution, die diese Anforderungen erfüllt, wird als »Umweltrat« genauer beschrieben. Der Umweltrat soll dem Wissenschaftsrat mit seinem Zwei-Kammer-System nachgebildet sein (Wissenschaftliche Kammer und Verwaltungskammer) und sich durch Fachkommissionen, deren Mitglieder zum Teil auch Mitglieder der Wissenschaftlichen Kammer sind, ergänzen. Zu den (ständigen) Fachkommissionen können bereits bestehende Kommissionen im Umweltbereich (wie die Strahlenschutzkommission) und neu zu bildende Kommissionen (z. B. eine Chemiekommission) gehören. Der Umweltrat soll dabei vor allem die Aussage des Systems Wissenschaft zur Geltung bringen, weshalb auch kein genereller Einigungszwang zwischen beiden Kammern vorgesehen ist. Die Verwaltungskammer, d. h. Vertreter des Bundes und der Länder, soll an den Empfehlungen des Umweltrates mitwirken, diesen jedoch nicht zu einer Kompromißstelle zwischen dem wissenschaftlichen und dem politischen Verstand machen. Der Umweltrat kann und soll nicht alle Verfahren im Umweltbereich an sich ziehen. Normale Aufgaben der Umweltbehörden in Bund und Ländern sollen durch ihn unberührt bleiben. Deshalb wird zum Schluß auch ein Normalverfahren zur Festlegung von Umweltstandards beschrieben, das innerhalb der Umweltbehörden, von Fall zu Fall in Abstimmung mit dem Umweltrat, Anwendung finden soll. Außerdem werden mögliche institutionelle Bedenken gegenüber der Institution eines Umweltrates erörtert. Dieser wird als Ort einer verantwortungsbewußten und begründeten Risikokommunikation herausgestellt.

Kapitel 1 Notwendigkeit und Funktion von Umweltstandards Das Zustandekommen von Umweltstandards ist ein komplexer Prozeß, an dem wissenschaftliche Einsichten verschiedener Disziplinen, normative Überzeugungen und soziale Rahmenbedingungen in jeweils spezifischer Weise beteiligt sind. Umweltstandards sind — wie andere Standards auch — soziale Regeln, die im Rahmen politischer Ordnungen wirken. Sie weisen jedoch die Besonderheit auf, daß sie sich auf den menschlichen Umgang mit der Natur beziehen, so daß für ein informiertes Handeln die Aussagen der Naturwissenschaften eine unverzichtbare Grundlage für die Festlegung von Umweltstandards bilden. Die sozialen Rahmenbedingungen betreffen in erster Linie das Verständnis der menschlichen »Umwelt«, das keineswegs eine kulturvariante Größe darstellt (1.1). Angesichts der zahlreichen Faktoren, die auf die Bildung von Umweltstandards einwirken, stellt sich vor allem die Frage nach denjenigen Bedingungen, bei deren Erfüllung die Bildung von Umweltstandards als rationaler Prozeß angesprochen werden kann. Ersichtlich kann das Verständnis von Rationalität dabei nicht nur durch, aber auch nicht ohne die naturwissenschaftliche Erkenntnisweise bestimmt werden. Die genauere Analyse ergibt als Kernfunktion der Umweltstandards die Festlegung akzeptabler Risikogrenzen mit Blick auf den erwarteten kollektiven Nutzen bestimmter Handlungen. Die Präzisierung dieses Risikoproblems bereitet jedoch vor allem aufgrund der »Multiattributivität« der zu fällenden Entscheidungen erhebliche Probleme (1.2). Die Festlegung von Umweltstandards erfolgt im Rahmen und gemäß den Regeln des jeweiligen politischen Systems. In demokratischen Gesellschaften stellt sich dabei besonders die Frage nach dem Verhältnis von faktischer Akzeptanz zur Festlegung der Akzeptabilität gemäß

Notwendigkeit und Funktion

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rationalen Kriterien einerseits und gemäß den demokratischen Prozeduren der Meinungs- und Willensbildung andererseits. In fast allen Problembereichen wird sich die Situation ergeben, daß einer nicht risikobereiten Minderheit ein von ihr abgelehntes Risiko zugemutet wird. Bei der Frage nach der Rechtfertigung derartiger Risikozumutungen spielen solche Regeln eine besondere Rolle, die an die pragmatische Konsistenz der Handelnden appellieren. Darüber hinaus stellen die besonderen Probleme des Entscheidens unter Risiko bestimmte Anforderungen an Institutionen und Prozeduren der Entscheidungsbildung (1.3).

1.1 Umwelt und

Umweltstandards

1.1.1 Zum Begriff der Umwelt Die Begriffe »Umwelt« und »Umweltschutz« werden in der öffentlichen Diskussion sehr ungenau verwendet. Für die einen ist Umwelt die Natur, die sie umgibt, wobei die Definition dessen, was in der Natur »natürlich« ist, offenbleibt. Für die anderen ist die Umwelt all das, Natürliches und Künstliches, was sie beeinflußt. Für Dritte hat auch jedes Tier und jede Pflanze eine schutzwürdige Umwelt. Wenn eine Diskussion über »Umweltstandards« und die verschiedenen Rollen von Politik und Wissenschaft bei ihrer Findung und Rechtfertigung geführt werden soll, darf man es bei dieser Unscharfe nicht belassen, denn »Standards« sollen verläßliche, wohldefinierte Größen enthalten, damit sie den Anspruch erheben können, einem genau definierten Zweck zu dienen. Im Unterschied zum umgangssprachlichen Gebrauch wird der Terminus »Umwelt« in den Wissenschaften meist in einer engeren Bedeutung verwendet, die in der Biologie und Verhaltensforschung auf von Uexküll zurückgeht.1 Allerdings hat von Uexküll den Begriff mit einer reduktionistischen Anthropologie verbunden, so daß der Begriff im 1

v. Uexküll 1 9 0 9 ; v. Uexküll & Kriszat 1 9 3 4 . Der Umweltbegriff v. Uexkülls ist in der Biologie und Ökologie nur gelegentlich aufgegriffen w o r d e n (vgl. Weber 1 9 3 7 und 1 9 3 9 a , 1 9 3 9 b , T h i e n e m a n n 1956, Stugren 1978). Allerdings schließt sich der » R a t von Sachverständigen für Umweltfragen« 1 9 8 7 an dieses Verständnis von »Umwelt« an. Eine Kritik an v. Uexkülls Biologismus aus der Sicht der Biologie hat vor allem A. P o r t m a n n geübt ( P o r t m a n n 1951 und 1970).

Umwelt und Umweltstandards

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Zusammenhang mit dem Problem der »Umweltstandards« nicht konsistent verwendbar ist. Nach von Uexküll hat der Mensch ebenso wie die Zecke oder die Fliege eine artspezifische Umwelt, eine »Merk- und Wirkwelt«, die in ihren Qualitäten und Limitationen spezifisch an ihn gebunden ist und die er ebensowenig transzendieren kann wie andere Lebewesen ihre jeweiligen Umwelten. Die Eingepaßtheit des Lebewesens in seine Umwelt kann dabei negativ wie positiv verstanden werden. Negativ bildet die Umwelt aufgrund der Passung eine prinzipielle, biologisch bestimmte Grenze. Positiv bedeutet die Eingepaßtheit ein optimales Funktionsverhältnis zwischen Lebewesen und Umwelt. 2 In beiden Hinsichten ist diese Umweltkonzeption nicht ohne Modifikationen auf den Menschen anwendbar. Bereits Phänomenologie 3 und Philosophische Anthropologie (Scheler 1928, Plessner 1928, Gehlen 1940, Hengstenberg 1957) haben in ihrer Kritik an von Uexküll geltend gemacht, daß der Mensch seine artspezifische Umwelt überschreitet, indem er zum einen auch die Umwelten anderer Lebewesen erforscht und sich bis zu einem gewissen Grade in sie hineinversetzen kann. Diese Möglichkeit ist für die neuere Umweltdiskussion wesentlich, weil auf ihr z. B. der Tierschutz beruht, soweit er über eine bloß »humanegoistische« Sicht hinausreicht; ein Lebewesen, das im strengen Sinne an seine artspezifische Umwelt gebunden ist, kann sich nicht um das Wohl anderer Lebewesen sorgen. Zum anderen kann der Mensch seine eigene Umwelt zum Thema seines Erkennens und seiner handlungsvorbereitenden Planung machen; anders wäre z. B. ein schützendes und pflegendes Verhältnis zur Umwelt nicht möglich. Aber auch die positive Interpretation der Eingepaßtheit ist in Frage zu stellen, weil sonst unterstellt werden müßte, daß auch die Schäden, die der Mensch seiner Umwelt zufügt, als spezifische Momente seiner optimalen Einpassung zu interpretieren sind. Jedes Lebewesen, die Mitte seiner spezifischen Umwelt, erkämpft sich seine Identität, indem es sich von seiner Umwelt differenziert, von ihr unterscheidet, mit ihr fertig wird. Der Hund, der Vogel, die Biene leisten dies auf je unterschiedliche Weise; sie sind und bleiben aber der 2 3

Z u r Funktionalität und Planmäßigkeit der verschiedenen » R ä u m e « vgl. besonders v. Uexküll 8 t Kriszat 1934. Besonders Heideggers Begriff des »In-der-Welt-seins« (Heidegger 1927) und Husserls Begriff der »Lebenswelt« (Husserl 1 9 3 6 ) .

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Notwendigkeit und Funktion

übermächtigen Natur völlig unterworfen. Der Mensch dagegen hat sich so entwickelt, daß er die Natur und ihre Kräfte teilweise in seinen Dienst stellt. So wie für den Vogel das Fliegen, so ist für den Menschen seine naturüberschreitende Identität das artspezifische Merkmal. Der Mensch ist das emanzipierte Lebewesen, dessen umfassendere Erkenntnis der Natur ihn ein Stück weit von der Natur freigemacht hat. 4 In der Philosophischen Anthropologie ist dem Uexküllschen Gedanken einer Umwelt des Menschen der Begriff der »Weltoffenheit« entgegengesetzt worden. Die »Weltoffenheit« impliziert, daß es für das Umweltverhältnis des Menschen gerade spezifisch ist, daß es nicht in einer das Leben sichernden aber auch begrenzenden »Einpassung« besteht, sondern daß der Mensch seine »Einpassung« in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt immer noch erst zu schaffen hat. Dem Menschen ist seine Umwelt nicht einfach vorgegeben, sondern sie ist im aufgegeben in dem doppelten Sinne von »Aufgabe«: die Umwelt stellt den Menschen vor Probleme (bis hin zur Lebensbedrohung), die er lösen muß; er kann aber nur überleben, wenn er realisiert, daß er seine Umwelt nicht auslöschen darf, sie vielmehr pflegen und schonen muß. Die Umwelt des Menschen ist für ihn zugleich Bedrohung und Bedingung menschenwürdigen Lebens. Die strukturelle Weltoffenheit des Menschen hat somit zur Folge, daß das Umweltverhältnis des Menschen nicht ein einfaches Passungsverhältnis ist, sondern in der Spannung des polaren Gegensatzes von Bedrohung und Bedingung steht. Ein spezifisch menschliches Verhältnis zur Umwelt ist erst erreicht, wenn es dem Menschen gelingt, seine Verteidigung gegen die Bedrohung durch die Umwelt und seine Angewiesenheit auf die Umwelt in ein lebenssicherndes Gleichgewicht zu bringen. Daher ist der Mensch auch nicht in eine Umwelt »eingepaßt«, sondern er hat die richtige Passung herzustellen, die weder in einem Sich-Ausliefern an die Umwelt noch in einer Unterwerfung der Umwelt bestehen kann. Das Herstellen der Passung ist jedoch nicht so zu interpretieren, als könne sich der Mensch dadurch von seiner Umwelt freiarbeiten. Spezifisch für den Menschen ist eine bleibende • Verschränkung von Weltoffenheit und Umweltbindung. 5 Da das »Kulturwesen« Mensch »Naturwesen« bleibt, 4 5

So Neuweiler 1986. Diese Verschränkung hat vor allem H . Plessner in seiner Kritik an Schelers und Gehlens Konzeption der »Weltoffenheit« geltend gemacht; vgl. Scheler 1928, Plessner 1928, Gehlen 1940, Hengstenberg 1957, sowie Plessner 1964, 74 und öfter.

Umwelt und Umweltstandards

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kann es sich nicht von seiner naturalen Umwelt schlechthin distanzieren; da es dieses »Naturwesen« nur als »Kulturwesen« ist, wird ihm die naturale, unaufhebbare Umweltbindung zur kulturellen Aufgabe. Die Betonung des Herstellungsmomentes darf jedoch auch nicht darüber hinwegsehen lassen, daß die Festlegung von Standards relativ zu einem gewählten Ziel in verschiedenen Sektoren des menschlichen Handelns eine unterschiedliche Variabilität aufweist. Relativ zu Zielen wie Lebenserhaltung, Lebensverlängerung oder Gesundheit ist z. B. die Dosis-Wirkungsbeziehung im Strahlenschutz weitaus weniger variabel, als es z. B. für Standards der Filmbewertung relativ zum Ziel des Jugendschutzes der Fall ist. Grundsätzlich gilt, daß die Variabilität von der Präzision der Zielbestimmung und von unseren Kenntnissen der Ursache-Wirkungsbeziehung abhängt. Z. B. läßt sich der Begriff der »Lebensverlängerung« präziser definieren als der Begriff des »Jugendschutzes«. In den Fällen, in denen für die Ursache-Wirkungsbeziehung auf sozialwissenschaftliche Erklärungen rekurriert werden muß, ist auch aus wissenschaftstheoretischen Gründen mit einem weiteren Variabilitätsbereich zu rechnen. Aber auch dann, wenn — wie im Falle des Strahlenschutzes — eine präzise Kausalanalyse wenigstens grundsätzlich erreichbar ist, bleibt eine bestimmte Variabilität der Angabe von Standards aufgrund der Zielvorgaben unvermeidbar. Schon bei Begriffen wie »Gesundheit«, die der Zielbestimmung dienen, stellt sich nämlich bei genauerer Betrachtung heraus, daß ihr normativer Gehalt Ergebnis eines Optimierungsverfahrens verschiedener Zielvorgaben in Abhängigkeit vom bestehenden Zustand ist. Dementsprechend wird die Zumutbarkeit der Strahlenbelastung bei medizinischen Untersuchungen anders gesehen, als etwa bei Expositionen bei kerntechnischen Anlagen; ähnlich wird zum Zweck der Berufsausübung eine höhere Strahlenbelastung akzeptiert als für die allgemeine Bevölkerung. 6 1.1.2 Sonderstellung des Menschen Aufgrund seines besonderen Umweltverhältnisses kommt dem Menschen also unter den Lebewesen eine Sonderstellung zu. Da diese Sonderstellung gerade in seiner kulturprägenden und kulturbestimmten 6

Zur Entwicklung der Strahlenschutzsstandards im einzelnen vgl. Kapitel 3.1.

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Notwendigkeit u n d Funktion

Auseinandersetzung mit seiner spezifischen natürlichen Umgebung besteht, geht die Umwelt über die natürliche Umgebung hinaus. Daher empfiehlt es sich, von einer primär biologisch bestimmten Vorstellung abzugehen und den Begriff der »Umwelt« im Sinne der für ihn spezifischen »menschlichen Umwelt« zu charakterisieren. Die natürlichen stofflichen Transportsysteme Luft, Wasser und Boden sind ein wichtiger Teil dieser Umwelt, aber eben nur ein Teil; die menschliche Umwelt ist mehr als Natur. Im weiteren Sinn des Wortes »Umwelt« gehören zu ihr auch Kooperation, Kommunikation, Kultur, Traditionen und Institutionen. Diese Überlegungen führen zu dem Ergebnis, daß das häufig anzutreffende »naturalistische« Verständnis der Umwelt nicht haltbar und durch ein »kulturalistisches« Verständnis zu ersetzen ist. 7 Beide Auffassungen schlagen sich unmittelbar im Verständnis von Status und Funktion von »Umweltstandards« nieder. Während nach der naturalistischen Sicht Umweltstandards ihre Notwendigkeit durch die Zwänge derjenigen Umstände gewinnen, innerhalb welcher zu handeln wir nicht umhin können (apodiktische Geltung), sind Umweltstandards nach der kulturalistischen Sicht Verbindlichkeiten des Handelns, die sich Gesellschaften auferlegen, wenn und soweit sie auf eine bestimmte Weise zusammenleben wollen (hypothetische Geltung). Verbindlich sind solche Standards — wohlgemerkt — in beiden Fällen: Im ersten Fall wird die Verbindlichkeit jedoch durch die Handlungsumstände, im zweiten Fall durch die Handlungszwecke gesetzt. Während nach der naturalistischen Sicht gegen die einmal gefundenen Standards kein Argument mehr verfängt — Naturphänomene kann man nur erkennen oder verkennen —, sind Umweltstandards in kulturalistischer Interpretation

7

Unter »Naturalismus« wird hier generell die Position verstanden, nach der Geltungsansprüche, z. B. das wissenschaftliche Wissen, allein auf natürliche Tatsachen oder Entwicklungen gestützt werden; der ethische Naturalismus stützt z. B. praktische Geltungsansprüche allein auf natürliche Erklärungen (vgl. Mittelstraß 1984 und W i m m e r 1984). — Der Naturalismus ist übrigens keineswegs zwingend mit dem naturwissenschaftlichen Denken der Neuzeit verbunden; vielmehr geht das spezifisch (natur-)wissenschaftliche Verständnis der Natur von der Subjektkonstitution der Natur aus, wie sie sich z. B. darin zeigt, daß Aussagen über die Natur nur mittels vom Menschen konstruierter Meßgeräte möglich sind (vgl. Janich 1981; zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft unter diesem Aspekt vgl. Mittelstraß 1970).

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argumentationszugänglich, ja argumentationsbedürftig: Sie erhalten ihre Rechtfertigung durch ihre Instrumentalität, d. h. relativ zu einem sozial gelebten oder gesetzten Zweck. Dies wiederum ist nicht so zu verstehen, als seien die aus dem Anspruch der Natur als Aufgabe erwachsenden Verbindlichkeiten reine Setzungen; vielmehr ist die als »Aufgabe« bezeichnete Natur im Sinne eines unbeliebigen, aber gestaltungsoffenen Anspruchsgefüges zu interpretieren (entsprechend der herausgestellten Verschränkung von Offenheit und Eingebundenheit). Innerhalb dieses Anspruchsgefüges sind durchaus Differenzierungen angebracht; z. B. genießen solche Ansprüche besondere Verbindlichkeit, deren Erfüllung Bedingung für die Befriedigung aller anderen Ansprüche ist (»Basisbedürfnisse«). Der Naturalismus wird manifest, wo unterstellt ist, ein Umweltstandard lasse sich unmittelbar aus morphologischen Besonderheiten der Dosis-Wirkungsbeziehung deduzieren. Die Unhaltbarkeit dieser Vorstellung wird schon daraus ersichtlich, daß bei den stochastischen Effekten, bei denen sich keine Schwellendosis angeben läßt, die Nullexposition als Schwellendosis genommen werden müßte. 8 Aber auch bei den nicht-stochastischen Effekten, bei denen eine Schwellendosis angebbar ist, ist es keineswegs zwingend, daß die Schwellendosis den Grenzwert darstellt oder ihn wenigstens bestimmt. Die Tatsache, daß es oft keine Schwellendosis gibt oder daß die Schwellendosis nicht automatisch ein Grenzwert ist, macht bereits offenkundig, daß der Grenzwert primär eine soziale Handlungsbeschränkung darstellt. Daß die Schwellendosis nicht automatisch ein Grenzwert ist, ist ein Grund dafür, daß es Probleme mit den Umweltstandards gibt. Selbstverständlich muß für die Festlegung derartiger Handlungsschranken auch der Rückgriff auf Informationen über Tatsachen bestimmend sein. Die Handlungsanweisung ergibt sich jedoch niemals als ein Schluß aus Tatsachenbeschreibungen {»naturalistischer Fehlschluß«).9 Der naturalistische Fehlschluß ist das logische Charakteristikum eines jeden Naturalismus.

8

Vgl. zur Unterscheidung von stochastischen und nicht-stochastischen Effekten Kapitel 2.2.

9

Der Begriff des »naturalistischen Fehlschlusses« geht auf den Philosophen G . E . M o o r e zurück; vgl. M o o r e 1903 sowie die Literatur bei W i m m e r 1 9 8 4 .

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Notwendigkeit und Funktion

Auch aus kulturalistischer Sicht geht allerdings die Realität nicht darin auf, Produkt menschlichen Handelns zu sein. Vielmehr entwickelt sich das Handeln immer im Rahmen und auf der Grundlage von Realem, welches ohne menschliches Zu-Tun (concursus) real ist, die »Natur«. Dies impliziert jedoch, daß die Wahrnehmung dieser Handlungsumstände, die Auseinandersetzung mit ihr (zwischen Anpassung und Widerstand), von menschlicher Aufmerksamkeit und Absicht, von kognitiven und operativen Einstellungen im sozialen Kontext abhängt. Was als »Natur« interpretiert wird, ist selbst ein Kulturphänomen,10 1.1.3 Aufgabe des Menschen Die Umwelt des Menschen als seine gleichermaßen natürliche wie künstliche Umgebung ist zugleich Produkt des Einwirkens der Umwelt auf ihn als auch seiner bestimmenden Stellungnahme zu ihr. Jeder Mensch ist in diesem Sinn pragmatischer Bezugspunkt der Wirkungen, die auf ihn zielen, als auch derjenigen, die von ihm ausgehen. Damit wird nicht unterstellt, daß jeder Mensch im Sinne eines autonomen, selbstbestimmten Individuums souverän über seine Umwelt bestimmt. Auch derjenige, der nur unbewußt mit denjenigen Bestimmungen lebt, von denen er umgeben ist, muß sich als Mensch strukturell von seiner Umwelt abgrenzen und auf sie einwirken. Aus diesem strukturellen Verhältnis folgt, daß niemand die Wahl hat, ob er auf die Umwelt einwirken will oder nicht. Die Inhalte des menschlichen Umweltverhältnisses stehen zwar weithin zur Disposition: Beruf, Freizeit, Kleidung, Kunst, aber auch Lärmempfindlichkeit, Zerstörungswut, Gestaltungswille sind unterschiedlich ausgeprägt. Der eine mag die Erhaltung des Waldes für wichtiger halten als der andere, der eine mag gern schnelle Autobahnverbindungen für weniger gefährliches Fahren haben, der andere lieber Feuchtbiotope als Rollbahnen. Nicht der freien Wahl zugänglich aber ist die Situation, daß der Mensch sich durch den Emanzipationsprozeß von der Natur eine Umgebung geschaffen hat, die nun als Umwelt auf ihn wirkt, von der er sich abgrenzen muß, und die er gerade dadurch bestimmt. Diese ständige Auswahl der Umwelt aus der Umgebung, der Beeinflussung des Menschen durch sie und der Differenzierung von ihr, der 1 0 Vgl. J a n i c h 1 9 8 7 .

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Schaffung neuer Umwelt durch den Menschen und seine Lebensäußerungen läßt den Unterschied zwischen »Tätern« und »Opfern«, bezogen auf »den« Menschen als Gattung, verschwinden. Umwelt»täter« wird eben jeder, solange er nur lebt, und er ist gleichermaßen das Umwelt»opfer« seiner eigenen Existenz und der Existenz seiner Mitmenschen. H. Markl hat in diesem Zusammenhang hervorgehoben (Markl 1984), daß man das Verhältnis zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt nicht als ein harmonisches Gleichgewicht in Anlehnung an eine thermodynamische Ausgeglichenheit konzipieren darf. Vielmehr sei jedes Lebewesen zum Untergang verurteilt, das nicht versuche, sich in ökonomischer Konkurrenz in Auseinandersetzung mit anderen durchzusetzen, d. h., wenn nur eben möglich, sich zu vermehren. »Und deshalb erzeugt Leben notwendig Mangel an Lebensvoraussetzungen eben durch den zwangsläufig daraus erzeugten Mangel an Lebensprodukten. Leben ist ein Ressourcen erschöpfender Prozeß, da es von Anbeginn ein selbsttätig schöpferischer Prozeß war« (Markl 1984, 10). Nach Markl hat erstmalig der Mensch die Chance, den blinden Lauf des Entstehens und Vergehens der Arten zu durchbrechen, indem er seine vor allem durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation gewonnene Überlegenheit nutzt, die Zwecke seines Handelns vom Naturzwang des Konkurrenzverhaltens zu befreien. Durch die Struktur des menschlichen Umweltverhältnisses in der Spannung zwischen Lebensbedrohung und Lebensbedingung erweist sich die gegenwärtige Diskussion zwischen einem anthropozentrischen und einem kosmozentrischen (physiozentrischen, ökozentrischen) Ansatz als Scheindiskussion. 11 Weil der Mensch sich gegen seine Umwelt auch durchsetzen und von ihr befreien muß, kann er sich nicht als scheinbar neutraler Beobachter und Schiedsrichter über die Umwelten aller Lebewesen stellen und in gönnerhafter Einstellung jedem Lebewesen gleiche Lebensberechtigung zusprechen. Der einfache Hinweis auf Viren oder Bakterien führt derartige Vorstellungen ad absurdum, denn selbst wenn der Mensch ihnen gleiche Rechte einräumen und dadurch selbst untergehen würde, würde damit wieder der Zustand des Wettbewerbs zwischen konkurrierenden Teilnehmern am Lebensprozeß 11 Eine radikale Kritik am Anthropozentrismus findet sich vor allem bei Spaemann 1979 und Meyer-Abich 1984.

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hergestellt. Der Mensch kann sein Verhältnis zur Umwelt nur unter der Maßgabe seines spezifischen Lebensinteresses bestimmen. Diese Bestimmung kann deshalb nicht willkürlich erfolgen, weil die Umwelt zugleich Bedingung seines Lebensinteresses ist. Z w a r spricht der Mensch immer nur als Mensch über die Umwelt; daraus folgt aber gerade nicht, daß er sich die Umwelt ohne Schaden beliebig unterwerfen darf. Entsprechend der herausgestellten Verschränkung von Weltoffenheit und Umweltbindung wird der Anthropozentrismus daher nur richtig verstanden, wenn er sowohl durch die aus der Zugehörigkeit des Menschen zur Natur erwachsenden Bedingungen als auch durch die aus seiner Umweltüberschreitung erwachsenden Pflichten »gemäßigt« wird. Demgemäß kann der Mensch sich nicht nur auf die Wahrnehmung seiner artspezifischen Lebensinteressen beschränken, sondern muß auch seiner Fähigkeit entsprechen, die ihn umgebende Wirklichkeit als solche zu erkennen und zu wahren. Zu dieser Erkenntnis und Wahrung gehört z. B., daß sich gewisse Unterscheidungen aus der »Natur selbst« ergeben, wie etwa die Unterscheidung lebendiger Systeme nach ihrem Differenzierungsgrad. Ohne die Anerkennung dieser vom Menschen vollzogenen Unterscheidung ließe sich nicht verstehen, warum z. B. im Tierschutz Organismen mit einem bestimmten Selbstverhältnis anders zu behandeln sind als solche, die ein solches Selbstverhältnis nicht besitzen. Allerdings zeigt sich das anthropozentrische Element auch hierbei, weil durch den Differenzierungsgrad nicht eine absolute Grenze, sondern lediglich eine Regel zur Durchführung von vom Menschen auszuführenden Güterabwägungen vorgegeben wird. Der strukturell unausweichliche Anthropozentrismus ist also nicht mit einem schließlich menschenfeindlichen Humanegoismus zu verwechseln. Allerdings besteht auch nicht die Möglichkeit, ein altruistisches Naturverhältnis zu realisieren. Der Ruf nach »Frieden mit der Natur« 1 2 verhallt dort ungehört, wo uns die Natur bedroht, im Gegenteil, die Natur bringt auch weiterhin neue lebensbedrohende Wesen hervor (z. B. AIDS auslösende HIV-Viren). Dies demonstriert sehr handgreiflich, daß die dem zwischenmenschlichen Zusammenleben entlehnte Kategorie des »Friedens« auf das Mensch-Umwelt-Verhältnis allenfalls metaphorisch angewendet werden kann. Die Natur ist weder ein denkbarer Friedenspartner noch ein Kriegsgegner. 12 Vgl. Meyer-Abich 1979 und Meyer-Abich 1984.

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Diese Einsicht schlägt bis zu konkreten rechtspolitischen Fragen wie etwa der Verankerung des Umweltschutzes als Staatsziel durch. Das Grundgesetz gibt dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis für Teilaspekte des Umweltschutzes (z. B. Art. 74 Nr. 11 a: Schutz gegen Gefahren, die bei der Nutzung von Kernenergie oder sonst durch ionisierende Strahlen entstehen, und die Beseitigung radioaktiver Stoffe; Art. 74 Nr. 24: Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung). Diese Bestimmungen geben dem Bund das Recht der Gesetzgebung auf den genannten Gebieten, eine Pflicht dazu ergibt sich aus ihnen nicht. Auf der anderen Seite hat das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (»Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«) mehrfach eine staatliche Schutzpflicht gegenüber entsprechenden Beeinträchtigungen hergeleitet: Gegenüber Gefährdungen von Leib und Leben bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie (BVerfGE 49, 89; 53, 30, 57 ff), gegenüber Fluglärm (BVerfGE 56, 54, 73 ff), gegenüber der chemischen Luftverschmutzung (BVerfGE, NJW 1983, 2931 f). Ein originäres Recht auf Umweltschutz gewährleistet Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG allerdings nach herrschender Meinung grundsätzlich nicht (BVerfGE, NJW 1983,2931 f; BVerwGE, NJW 1978, 554ff). In den angeführten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wird nämlich deutlich, daß dem Staat bezüglich des Ob und des Wie der Erfüllung dieser grundsätzlichen Schutzpflicht ein erheblicher Ermessensspielraum zusteht, bei dessen Ausfüllung er insbesondere diese Schutzpflicht gegenüber anderen verfassungsrechtlich legitimierten Zielen wie z. B. der Sicherheit des Staates, der Sicherung der Energieversorgung und der Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung etc. abwägen muß und kann. Aus diesem Grund ergibt sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch keine allgemeine Pflicht zu einem umfassenden Umweltschutz. Eine solche Pflicht ergibt sich — jedenfalls ausdrücklich - auch aus keiner anderen Vorschrift des Grundgesetzes. Seit zu Beginn der 70er Jahre die Gefährdung der Umwelt der Allgemeinheit stärker bewußt wurde, haben in Politik und Rechtswissenschaft die Stimmen an Zahl und Lautstärke zugenommen, welche die Aufnahme des Umweltschutzes ins Grundgesetz fordern, sei es als Grundrecht, sei es als Staatszielbestimmung. Im Umweltprogramm der sozialliberalen Koalition vom 14.10.1971 heißt es, man wolle »prüfen, wie dem Bürger ein Anspruch gegenüber dem Staat gewährt werden kann, der diesen verpflichtet, gegen die Verursacher schwerer Umwelt-

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schaden vorzugehen« (BT-Drs. VI/2710, 9). In der Regierungserklärung des Kanzlers Brandt vom 13.01.1973 liest man: »Die Menschen insgesamt haben ein elementares Recht auf eine menschenwürdige Umwelt, dem Verfassungsrang zukommen sollte« (BT-Prot. 7, 127 D). Parteien und Umweltschutzorganisationen haben entsprechende bzw. ähnliche Vorschläge gemacht. Auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum erheben sich Stimmen für eine Aufnahme des Umweltschutzes ins Grundgesetz, meist in der Richtung einer Staatszielbestimmung. Ganz überwiegend jedoch äußerten sich die Rechtswissenschaftler skeptisch.13 Vor allem wurde vor der Aufnahme eines Grundrechtes auf Umweltschutz gewarnt, da ein solches Grundrecht nur Erwartungen wecken würde, die es nie erfüllen könnte. Im Jahre 1981 beriefen die Bundesministerien des Innern und der Justiz eine Sachverständigenkommission »Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge«. In dem 1983 vorgelegten Bericht der Kommission schlug die Mehrheit ihrer Mitglieder die Einführung des Umweltschutzes in das Grundgesetz in der Gestalt einer Staatszielbestimmung vor und zwar derart, daß Art. 20 Abs. 1 GG folgendermaßen lauten sollte: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Sie schützt und pflegt die Kultur und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen« (der Kursivdruck kennzeichnet die vorgeschlagene Ergänzung des Art. 20 Abs. 1 GG). Ein entsprechend diesem Vorschlag von der SPD im Bundestag eingebrachter Antrag wurde am 16.1.1986 von der CDU/CSU abgelehnt (BT-Prot. 10, 14254ff). Noch im gleichen Jahr sprach sich jedoch der damalige Umweltminister Wallmann (CDU) für die Aufnahme einer Staatszielbestimmung Umweltschutz in das Grundgesetz aus. Nach der Bundestagswahl 1987 einigten sich darauf auch die Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP. Bundeskanzler Kohl hat dies in seiner Regierungserklärung vom 18.3.1987 bestätigt (Bulletin Nr. 27 vom 19.3.1987, 205, 212). Unterdessen liegen dem Bundestag entsprechende Gesetzentwürfe des Bundesrates (BT-Drs. 11/885) und der SPD-Fraktion (BT-Drs. 11/10) vor. Nach dem Gesetzentwurf des Bundesrates soll nach Art. 20 GG folgender Art. 20a in das Grundgesetz eingefügt werden: 13 Nachweise bei Murswiek 1988.

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Art. 20a (1): Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen (Hervorhebung der Verfasser) stehen unter dem Schutz des Staates, (2) Bund und Länder regeln das Nähere in Gesetzen unter Abwägung mit anderen Rechtsgütern und Staatsaufgaben. Die SPD-Fraktion hat folgenden Art. 20a vorgeschlagen: Art. 20a: Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates. Auf den ersten Blick muß man den Eindruck gewinnen, daß der Bundesrat von einem anthropozentrischen Begriff der Umwelt ausgeht, die SPD dagegen von einem rein ökozentrischen. Zu beiden Gesetzentwürfen fand am 14.10.1987 vor dem Rechtsausschuß des Bundestages eine Anhörung von Sachverständigen statt. 14 Die große Mehrheit der Sachverständigen sprach sich dabei (wenn es denn zu einer Einfügung des Umweltschutzes in das Grundgesetz kommen sollte; die Notwendigkeit dafür wurde mehrheitlich verneint) für einen anthropozentrischen Umweltbegriff aus. Dem ist zuzustimmen. Dabei erweist sich jedoch das zumeist in den Vordergrund gestellte Argument, nur ein anthropozentrischer Umweltbegriff entspreche dem Art. 1 Abs. 1 GG, der den Menschen und seine Würde als obersten Wert anerkennt und ihren Schutz dem Staat auferlegt, als nicht in jeder Hinsicht so überzeugend, wie vielfach angenommen. Der Würde des Menschen kann es durchaus entsprechen, die Schutzwürdigkeit der Natur auch jenseits ihrer Nützlichkeit für ihn anzuerkennen, jedenfalls bis hin zu den Grenzen, an denen die Natur für Gesundheit und Leben des Menschen gefährlich wird. Nicht wegen Art. 1 Abs. 1 GG ist die Anthropozentrik des Umweltschutzes, und damit des Umweltbegriffes, unvermeidbar, sondern aus viel grundlegenderen, in der Natur der Sache liegenden Zusammenhängen, die nicht nur für die Rechtsordnung von Bedeutung sind, aber vor allem auch von ihr beachtet werden müssen. Die Vorstellung eines rechtlichen Schutzes der Natur um ihrer selbst willen basiert letztlich auf der Idee von der Rechtsfähigkeit natürlicher Objekte. Mit dieser These hat insbesondere der amerikanische Jurist Christopher Stone 14 Vgl. Deutscher Bundestag 1988.

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(Stone 1972) eine lebhafte Diskussion ausgelöst und Anhänger auch im deutschen wissenschaftlichen Schrifttum gefunden. 1 5 Auch die außermenschliche Natur habe Interessen, die zu subjektiven Rechten gemacht werden und von Treuhändern wahrgenommen werden könnten. Parallelen werden zur Vormundschaft über Minderjährige oder Geisteskranke und die gesetzliche Vertretung juristischer Personen gezogen. Wenn selbst dem völlig Geisteskranken subjektive Rechte zuerkannt werden, könnten sie nicht-menschlichem Leben nicht verweigert werden. Die hier gezogenen Parallelen sind nicht geeignet, die vertretene These zu stützen. Bei der Vertretung juristischer Personen sind deren »Interessen« als rechtlich definierte Zwecke vorgegeben und bei der Vertretung Minderjähriger oder Geisteskranker handelt der Vertreter jedenfalls für seinesgleichen. Über die menschliche Natur hinaus trägt jedoch dieser Gleichheitsgedanke nicht weit. Wie ließen sich denn z. B. vertretungsfähige Interessen von Flüssen und Seen, Bergen und Wäldern, Luft und Landschaften formulieren? Niemand anders als der Mensch könnte sie formulieren, und zwar nur nach seinem in Raum und Zeit sich wandelnden Verständnis. Zu Recht ist daher von der Unentrinnbarkeit der Anthropozentrik gesprochen und vor »Remythisierungen der Natur« gewarnt worden (Hofmann 1988, 277f). Nur in einer anthropozentrisch orientierten Umweltethik ist eine Verantwortung des Menschen für die Natur in einer Weise zu begründen, die sich vor der Vernunft behaupten und damit Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Eine vom Menschen losgelöste Definition der Umwelt ist daher unbrauchbar. Auf der anderen Seite muß betont werden, daß die Anthropozentrik des Umweltschutzes keinesfalls bedeuten darf und bezüglich der vom Bundesrat vorgeschlagenen Ergänzung des Grundgesetzes auch tatsächlich nicht bedeuten soll, daß die Natur nur in dem Maße geschützt werden soll, wie sie für den heute lebenden Menschen nützlich und verwertbar ist. Als natürliche Lebensgrundlagen des Menschen sollen auch die der künftigen Generationen geschützt und bewahrt werden. Anthropozentrischer Umweltschutz ist auch Nachweltschutz. Bei der grundsätzlichen Verankerung eines Staatsziels Umweltschutz kann es nicht darum gehen, nicht-menschliche Rechtsträger zu etablie15 Nachweise bei Hofmann 1988, 277 Anm. 156.

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ren und damit die Rechtsentwicklung um Jahrhunderte zurückzuwerfen, sondern darum, die menschliche Verantwortung für die Natur unabhängig von ihrem direkten Nutzen für menschliche Zwecke deutlich zu machen.16 1.1.4 Ziele der Umweltstandards Unter »Umweltstandards« verstehen wir Rechtsvorschriften, Verwaltungsvorschriften oder private Regelungen (wie z. B. DIN-Vorschriften), durch die umweltbezogene, unbestimmte Rechtsbegriffe (wie »schädliche Wirkung«, »Vorsorge«, »erforderliche Sorgfalt«, »anerkannte Regeln der Technik«) durch Operationalisierung und Standardisierung von meßbaren Größen in konkrete Verbote, Gebote oder Erlaubnisse umgesetzt werden.17 Beziehen wir den Begriff der »Umwelt« auf den Menschen als Bezugspunkt, so müssen Umweltstandards Regeln und Vorschriften für den Menschen sein, die für die Regelung des dynamischen Prozesses des lebenserhaltenden Austausches zwischen Mensch und menschlicher Umwelt wichtig sind. »Umweltstandards« müssen Regeln und Vorschriften sein, die in diesem dynamischen Prozeß als »Verkehrsschilder« aufgestellt sind, um ihn in einer Weise zu regeln, die als zuträglich angesehen wird. Diese Funktion der Umweltstandards läßt auch verstehen, warum die Umweltdiskussion nicht allein auf der Ebene des Menschen als Gattungswesen geführt werden kann. An dieser Stelle erweisen sich auch die evolutionären Deutungskategorien als unzulänglich. Für das bewußt handelnde menschliche Individuum ist das Überleben der Gattung keine ernsthaft wahrgenommene Handlungsmotivation. 1 fi 16 So auch der R a t von Sachverständigen für Umweltfragen in seinem U m weltgutachten 1 9 8 7 . 17 Vgl. Jarass 1987. 18 Die hier vorgetragenen Überlegungen beruhen also - im Einklang mit dem Grundgesetz — auf dem Gedanken der Individualwürde. Demgegenüber wird in der modernen Moraldiskussion auch vielfach (im Z u s a m m e n h a n g mit der Rechtfertigung der F o r d e r u n g nach Arterhaltung des Menschen) der Begriff der W ü r d e auf die G a t t u n g bezogen, so bei J o n a s 1 9 8 9 , 90f; vgl. dazu auch Birnbacher 1990, 2 7 0 ff. W ü r d e kann nur ein Wesen beanspruchen, das Ansprüche geltend m a c h e n bzw. einlösen kann; vgl. dazu Gethm a n n 1 9 9 0 a und 1990b.

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Andererseits muß das Umweltproblem zusätzlich zu den bisherigen Überlegungen auch in der Spannung von einzelnem und Gesellschaft gesehen werden. Die kulturalistische Deutung impliziert die Einbeziehung des sozialen Charakters der Umweltstandards. In sozialen Systemen, mit steigender Bevölkerungsdichte, anfangend aber bereits in der einzelnen Familie, wachsen die jeweiligen Umweltsphären zusammen: Die Umwelt des einen stößt mit der Umwelt des anderen zusammen, sie verändern sich gegenseitig. Dieser Zusammenstoß der Umweltsphären der Individuen bewirkt Bündelungen und Widersprüche. Bündelungen hinsichtlich gemeinsamer Anstrengungen zur Lösung gemeinsamer Probleme, Widersprüche hinsichtlich der Beeinträchtigung der Umweltsphären des einen durch die des anderen. Es ist mein Abwasser, das anderen Probleme bereitet, es ist mein Energieverbrauch, der eventuell den Bau von Kraftwerken erforderlich macht. Andererseits: Gäbe es nicht den anderen, würde ihm mein Abwasser keine Probleme bereiten, gäbe es nicht den Energieverbrauch des anderen, bräuchte ich mir keine Gedanken über die Folgen meines Energieverbrauchs zu machen. Es ist gerade die Einsicht in diese Reziprozität der Beziehungen zwischen den Umweltsphären der Individuen, die die Notwendigkeit des rationalen Diskurses über Umweltstandards begründet. Aufgrund der Institutionalisierung gesellschaftlicher Konfliktlösungsverfahren durch ein rechtliches Normensystem bilden die hierauf beruhenden rechtsstaatlichen Strukturen den Rahmen einer jeden Konfliktbewältigung. So ist z. B. die Lösung von Umweltproblemen in Vergangenheit und Zukunft nicht ohne den rechts- und staatspolitischen Kontext zu verstehen. Zieht man zum Vergleich die Standardsetzung in Ländern der Zweiten und Dritten Welt heran, so zeigt sich, daß die wirtschaftliche Notlage in bestimmten Ländern eine andere Sicht der Umweltprobleme erforderlich erscheinen läßt als in Ländern hoher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Es ist damit klar, daß die Umweltproblematik in Staaten mit unterschiedlichen Staatszielen anders beurteilt wird. So ergibt sich die Vorstellung dessen, was Umwelt sei und wie Umweltstandards zu setzen seien nicht ohne Berücksichtigung des Wechselspiels zwischen der menschlichen Sinngebung und der gesellschaftlichen Ausformung in der jeweils herrschenden Staatsidee: Umweltstandards sind ein Kulturphänomen, denn sie werden gemäß der gewünschten Sinngebung als Ergebnis eines multidimensionalen Ent-

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Scheidungsprozesses gewonnen. Daher ist auch nicht zu erwarten, daß ihre Festsetzung global und zeitlich für immer gültig ist. Aufgrund der Abhängigkeit der Interpretationen des menschlichen Umweltverhältnisses vom kulturellen Selbstverständnis kann die Aufgabe der Umweltgestaltung immer nur partiell und sektoral sein. Das bedeutet, daß es nicht die Aufgabe von Umweltstandards sein kann, eine inhaltliche und umfassende Normierung der Umwelt vorzunehmen. Die für ein derartiges Projekt erforderlichen Informationsgrundlagen und Legitimationsverfahren stehen den Menschen auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung. Der Versuch eines radikalen Neuentwurfs der Umwelt müßte daher an unüberbrückbaren Dissensen und Konflikten scheitern. Daher ist von vornherein von einer Umwelt auszugehen, die im großen und ganzen dem entspricht, was die Menschen seit einigen Generationen kennen und zu verantworten haben. In bezug auf diese Umwelt verhalten sich Umweltstandards eher konservativ: Sie sollen die Umwelt vor Schäden bewahren, aber nur in beschränktem Umfang bereits eingetretene und als solche erkannte Schäden revidieren. Hinter der Formulierung von Umweltstandards steht also nicht der Wunsch nach einer Realisierung rückwärts oder vorwärts gewandter Utopien. Die mit der Findung und Rechtfertigung von Umweltstandards verbundenen Ziele sind bescheidener. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Unbeschadet des Rechts jedes Menschen, sich die Wiederaufforstung der Lüneburger Heide als utopischen Entwurf zu wünschen, ist es Aufgabe von Umweltstandards, die seit einigen Generationen entstandene Heidelandschaft zu schützen. Es kann nämlich nicht Sache wissenschaftlichen Sachverstandes und auf ihm aufbauender Gesetzgebung sein, einen inhaltlichen Sollzustand der Umwelt anzugeben, der nach seiner Entdeckung bzw. Erfindung für jedermann und lange Zeit die Maßgaben für das umweltadäquate Handeln des Menschen liefern könnte. Der status quo (abgezogen die manifesten Mißstände) hat in der Umweltpolitik durchaus eine normative Kraft. Dieser partielle und konservative Charakter drückt sich vor allem darin aus, daß Umweltstandards als Verbote formuliert werden, d. h. vorwiegend den Menschen und seine Umwelt vor schädlichen Einflüssen schützen sollen. Demgegenüber kann es allenfalls mittelbar eine Aufgabe der Formulierung von Umweltstandards sein, einen Sollzustand der Umwelt herbeizuführen. Eine Umweltpolitik, die auf eine umfassende und positive Neuformierung der Umwelt abzielt (einschließlich

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der vermeintlichen Wiederherstellung eines früheren Zustands), ist als tendenziell totalitär abzulehnen und hinsichtlich zugrundeliegender Ideologien zu kritisieren. Aus der Beschränktheit der menschlichen Möglichkeiten, konkrete Umweltutopien zu realisieren, folgt auch, daß für Umweltstandards ein Regelungsbedarf nachzuweisen ist. Nicht der Wunsch nach Veränderung als solcher, sondern die konkrete Schadensabwehr muß das Ziel von Umweltstandards sein. Im Zuge einer weitausgreifenden Umweltpolitik und eines hochsensibilisierten Schutzbedürfnisses der Bevölkerung gewinnt zusätzlich auch der Gesichtspunkt der Regelungsdichte an Bedeutung. Bekanntlich kann die Summe der Regelungen von einer bestimmten Schwelle an kontraproduktiv wirken. Z. B. trägt eine übergroße Regelungsdichte für den Straßenverkehr in der Summe zur Vergrößerung der Unsicherheit bei. Es ist absehbar, daß in der Umweltpolitik der Bundesrepublik Deutschland das Problem der Regelungsdichte in Zukunft zunehmend von Bedeutung sein wird, so daß hier ein spezifisches Optimierungsproblem auftritt. Die Bündelung der individuellen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und die Konfliktlösungen in den Prozeduren des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Staat, deren inhaltliche Ausformung sowohl in der Staatsidee als auch in den normativen Vorgaben des Staates, machen die wesentliche Dynamik der politischen Bewußtseinsbildung des Menschen aus. Deshalb ist auch die Festlegung dessen, was Umwelt ist und wie sie aussehen soll, Ergebnis politischer Bewußtseinsbildung. Umweltstandards sind auch Werkzeuge im politischen Prozeß, die bei diesen Festlegungen und ihrer Verwirklichung helfen sollen. Der politische Prozeß, die gesamtgesellschaftliche Kommunikation darüber, wie Umweltstandards als Ergebnis eines Beurteilungsprozesses bezüglich miteinander in Konflikt liegender Zielvorgaben festzulegen sind, darf jedoch wegen seiner weitreichenden Folgen nicht beliebig verlaufen. Es sind, über die allgemeinen Rationalitätsstandards hinaus, folgende Bedingungen, die die politische Beliebigkeit einschränken: (a) die naturwissenschaftlich ermittelten Fakten, wie z. B. Dosis-Wirkungsbeziehungen bei unterschiedlichen technischen Vorgehensweisen. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, durch »Wirkungsforschung« die naturgesetzlich bestimmten Auswirkungen bestimmter Chemikalien,

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Strahlungen, aber auch Techniken und gesellschaftlicher Verhaltensweisen auf Natur und Mensch zu erforschen. Sie muß dabei, neben der Kausalanalyse, insbesondere angeben, welche »Dosis-Wirkungsbeziehung« besteht. Die Wirkungsforschung, die Ermittlung der Dosis-Wirkungsbeziehung, ist eine rein naturwissenschaftliche Aufgabe. Hier sind Wissenschaft und Politik getrennte Bereiche. Hat die Wissenschaft — entweder durch systematische Vorgehensweise, oder im Verlauf des allgemeinen grundlagenwissenschaftlichen Entdeckungsprozesses, oder aber auch dadurch, daß besondere Frühwarnsonden ansprechen — entdeckt, daß eine Wirkung eine besondere Gefährdung darstellt, so hat sie damit eine wichtige Aufgabe gelöst, die am Anfang aller Umweltstandards steht: die frühe Erkenntnis möglicher späterer Auswirkungen. Historisch ist belegt, daß es häufig die Wissenschaft war, die Frühwarnung gegeben hat, z. B. beim Strahlenschutz, bei den FCKW in ihrer Wirkung auf die stratosphärische Ozonschicht, beim Treibhauseffekt in Verbindung mit dem C0 2 -Problem und bei den Auswirkungen der Gentechnik. 19 (b) die Einbeziehung aller Dimensionen unterschiedlicher Auswirkungen und unterschiedlicher Zielvorgaben im Beurteilungsprozeß. Umweltstandards haben Konsequenzen für die Umwelt selbst, für andere Umweltstandards, für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, das Klima, das Wohlbefinden usw. Die Betonung dieses Sachverhalts ist besonders wichtig, weil es eine Eigentümlichkeit des politischen Prozesses ist, daß er »sektoral« und nicht »ganzheitlich« abläuft. Es besteht daher die Tendenz, einzelne politische »Themen« zu diskutieren, ohne ihre Auswirkungen auf andere Sektoren zu berücksichtigen. Ein Energiesystem kann unter Umweltgesichtspunkten diskutiert werden, wobei dann Fragen der Wirtschaftlichkeit oder Verfügbarkeit zurücktreten. Diese Tendenz besteht vielleicht auch deshalb, weil es einer der taktischen Kunstgriffe politischer Diskussion ist, den Sieg durch Fokussierung und Begrenzung auf diejenigen Punkte zu erringen, bei denen die eigene Zielsetzung zu überlegenen Konsequenzen führt. (c) die Notwendigkeit, zwischen diesen je auf ihrer einen Dimension mit Dosis-Wirkungsbeziehungen sortierbaren Konsequenzen und Chancen-Risiko-Beziehungen zu einer rationalen Beurteilung zu gelangen. 19 Vgl. Kapitel 3.

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Notwendigkeit und Funktion

Die im politischen Prozeß herauszuarbeitende Beurteilung muß deshalb rational sein, damit sie langfristig vermittelbar ist und von der Gesellschaft als ganzer akzeptiert werden kann.

1.2 Rationale Festlegung und Beurteilung von

Umweltstandards

1.2.1 Umweltstandards und Handeln unter Risiko Bei der Aufstellung von konkreten Umweltstandards wird jeweils unterstellt, daß die Angabe von Grenzwerten neben ihrer Abhängigkeit von der Wahrscheinlichkeit, mit der der Eintritt eines Schadens zu erwarten ist, auch von dem Nutzen abhängt, den das Sich-Aussetzen dem möglicherweise Geschädigten bringt. Deshalb wird bei der Erwerbstätigkeit ein höherer Grenzwert hingenommen, als er sonst für die Bevölkerung gilt, bei der Unfallbewältigung ein höherer Grenzwert als bei der Vorsorge, und, um noch ein ganz triviales Beispiel zu nennen, bei der Belastung durch medizinische Diagnose ein höherer Grenzwert als beim Schuhekaufen (Verbot der in den 50er Jahren üblichen Röntgengeräte in Schuhgeschäften). Diese Beispiele sind Indizien für die generelle These, daß Umweltstandards die Funktion haben, in bestimmten Fällen des Handelns unter Risiko Grenzen anzugeben, und zwar derart, daß auf die Frage, wo denn der Grenzwert liege, immer die Gegenfrage zu erfolgen hat, was der Betroffene einzusetzen bereit sei. Damit erweist die genauere Analyse das Problem der Umweltstandards als Teilproblem eines umfassenderen Problems, nämlich des Problems, Rationalitätskriterien des Handelns unter Risiko anzugeben. Der Risikobegriff ist der Kernbegriff der Diskussion um die Umweltstandards. Umweltstandards sind demgemäß konventionelle Beschränkungen des Handelns unter Risiko. Das bedeutet, daß durch sie Handlungen geboten, verboten oder erlaubt werden, wenn die Folgen ihrer Ausführung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Über-/Unterschreitung eines gewissen Schadensumfangs darstellen. Solche Handlungsbeschränkungen lassen sich als Aufforderungen rekonstruieren, etwas zu tun bzw. zu unterlassen. Somit ist die Frage aufzuwerfen, ob derartige Äußerungen überhaupt einer Betrachtung unter Rationalitätsgesichtspunkten zugänglich sind, ob also Zweckmäßigkeitsüberle-

Festlegung u n d Beurteilung

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gungen rationaler Kritik ähnlich zugänglich sind wie Wahrheitsbegründungen. 20 Allerdings erfolgt die Überprüfung der Rationalität präskriptiver Äußerungen nach anderen Verfahren als die Überprüfung deskriptiver Äußerungen. Die Wahrheit einer Behauptung wird anders dargetan als die Zweckmäßigkeit einer Aufforderung. Daher ist es angebracht, eine terminologische Differenzierung vorzunehmen. Während die durch Behauptungen und andere konstative Äußerungen erhobenen Geltungsansprüche begründet werden, gilt für Aufforderungen und andere regulative Äußerungen, daß ihre Geltungsansprüche gerechtfertigt werden. Entsprechend ist zwischen Begründungsdiskursen und Rechtfertigungsdiskursen zu unterscheiden. 21 Demgemäß haben wir zu fragen, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit Umweltstandards als rational gerechtfertigt qualifiziert werden können. Um diese Frage und ihre möglichen Antworten präziser behandeln zu können, muß erläutert werden, wie Handlungen zu rekonstruieren sind, damit sie mögliche Gegenstände von Rationalitätsüberlegungen werden können. Ein möglicher Ansatz besteht in der Unterstellung, Handlungen als Befolgungen von Aufforderungen zu charakterisieren. 22 Diese Betrachtung hat den Vorteil, daß Aufforderungen ihrerseits sprachliche Handlungen sind, die mit einigen anderen (z. B. Behauptungen) die Eigenschaft aufweisen, mögliche Konklusionen eines möglicherweise korrekten Schlusses zu sein. Anders formuliert: Aufforderungen sind argumentationszugänglich (für viele andere sprachliche Handlungen wie gratulieren, schwören, taufen usw. gilt dies nicht). Schlüsse sind —

20 Vielfach wird die Meinung vertreten, Konventionen seien als solche beliebig und keiner rationalen Kontrolle zugänglich. Daraus würde sich zusammen mit der Konventionalität der Umweltstandards die These ergeben, Grenzwerte seien »wie Namen 'Schall und Rauch'« (v. Lersner 1990, 194). Demgegenüber wird im folgenden gezeigt, daß Konventionen, somit auch Umweltstandards, gerechtfertigt oder ungerechtfertigt sein können. Bei den Umweltstandards kommt hinzu, daß in sie auf noch darzustellende Weise (natur-)wissenschaftliche Erkenntnisse einfließen (vgl. Kapitel 5.2). 21 Eine detaillierte Ausarbeitung dieses Ansatzes findet sich bei Gethmann 1982. 22 Diesen Ansatz hat im Anschluß an Kant und von Wright Schwemmer 1971 und 1976 entwickelt.

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darüber herrscht von Aristoteles bis zur modernen Logik Einvernehmen — durch drei Elemente gekennzeichnet. Sie bestehen aus einer Konklusion, einer (eventuell leeren) Klasse von Prämissen und einer Zusammenfügung von Prämissen und Konklusionen gemäß einem Schlußschema, über dessen Korrektheit mit den Instrumenten der Logik befunden wird. Schlüsse, bei denen eine Aufforderung (oder eine andere regulative Redehandlung) als Konklusion auftritt, heißen »praktische Schlüsse«. Neben der Anwendung eines korrekten Schlußschemas gelten für die Korrektheit praktischer Schlüsse folgende Bedingungen: — Wenigstens eine Prämissenklasse, von der die Konklusion wesentlich abhängt, muß eine Aufforderung enthalten. Wenn die Klasse aller Prämissen insgesamt leer ist, haben wir es mit einer imperativlogischen Richtigkeit zu tun. — Präskriptive Konklusionen können wesentlich von deskriptiven Prämissen abhängen (das Umgekehrte gilt nicht). Probleme treten dann auf, wenn wir mehrere Handlungsoptionen vor uns haben, die bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit und des Schadensausmaßes variieren. Für diese Fälle muß man zwecks Herstellung einer vollständigen Argumentation einen Risikograd bestimmen, d. h. Wahrscheinlichkeit und Schadensumfang quantifizieren oder wenigstens komparativ ordnen. Dies zeigt, daß in Situationen, in denen zwischen Handlungsalternativen entschieden werden muß, wobei die Handlungen durch eine bestimmte Eintrittswahrscheinlichkeit bezüglich der Folgen und einen bestimmten Schadensumfang charakterisiert sind, die Argumentationszugänglichkeit einer entsprechenden Aufforderung jedenfalls dann gewährleistet werden kann, wenn es gelingt, den Risikograd als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensumfang zu bestimmen. Der dabei unterstellte Risikobegriff soll im folgenden »rationaler Risikobegriff« genannt werden. Dieser Risikobegriff erweist sich bei seiner Anwendung auf das Problem der Umweltstandards als in mehrfacher Hinsicht problematisch. Seine hinreichend exakte Bestimmung sowohl hinsichtlich der negativen Präferenzen als auch hinsichtlich des Wahrscheinlichkeitsbegriffs hängt von einer Reihe von Bedingungen ab, die in konkreten Situationen nicht ohne weiteres als erfüllt unterstellt werden dürfen (1.2.2). Als besonders schwieriges Problem mit weitreichenden Folgen

Festlegung u n d Beurteilung

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erweist sich dabei die Unterstellung, verschiedene Schäden seien durchweg durch eine Größer/Kleiner-Relation, d. h. in einer Dimension zu ordnen. 23 1.2.2 Probleme des Risikobegriffs 24 Betrachtet man Umweltstandards erst dann als gerechtfertigt, wenn sie im skizzierten Sinne als Konklusionen aus Risikoschlüssen rekonstruiert werden können, dann zeigt sich, daß unter den Prämissen ein Risikovergleich vorkommen muß. Bei der üblichen Formulierung von Umweltstandards bleibt dieser Sachverhalt allerdings implizit, wie in unseren Behauptungen und Aufforderungen meistens die Prämissen implizit bleiben. Unter Rechtfertigungsgesichtspunkten sind derartige Prämissen jedoch zu explizieren. Somit ist zu fragen, unter welchen Bedingungen Risikovergleiche der angegebenen Art überhaupt möglich sind. Eine genauere Analyse zeigt, daß eine Reihe von Rationalitätsbedingungen beachtet werden muß, wenn die Idee des Risikovergleichs nicht aus dem Rahmen rationaler Kontrollierbarkeit hinausführen soll. Einige dieser Rationalitätsbedingungen sollen im folgenden in Form von zu beachtenden Unterscheidungen angegeben werden. (a) Es ist zu unterscheiden zwischen dem Eingehen eines Risikos (to take a risk) und dem Leben unter einem Risiko (to face a risk). Terminologisch soll zwischen einem »gegebenen« und einem »gewählten« Risiko unterschieden werden (Rescher 1983, 5 - 9 ) . Grundsätzlich sind nur gewählte Risiken einem Risikovergleich zugänglich. Es gibt Risiken, die in keinem wirklichen ursächlichen Zusammenhang mit unseren Handlungen oder Handlungsoptionen stehen. Meistens denkt man an Naturvorgänge wie Erdbeben, weswegen auch häufig von »natürlichen Risiken« die Rede ist. Zu den gegebenen Risiken gehören aber auch soziale Vorgänge wie Revolutionen. Allerdings: so einfach die Unterscheidung zu sein scheint, so schwierig ist manchmal die 23 Das darauf beruhende Problem der Multiattributivität wird ausführlich in Kapitel 5.4 behandelt. 24 Die folgende Darstellung stützt sich auf die bisher ausführlichste Darstellung der philosophischen Probleme des Risikobegriffs bei Rescher 1983. Eine eingehende Diskussion der Anwendung des Risikobegriffs im Zusammenhang mit der Umweltproblematik findet sich bei Gethmann 1990b.

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Subsumtion. Oft meinen wir, daß gegebene Risiken in ursächlichem Zusammenhang mit unseren Handlungen stehen, weil wir nicht wissen, welche Ereignisse Handlungsfolgen sind. So werden z. B. Revolutionen als Folgen unseres Festhaltens an Privateigentum betrachtet, oder Überschwemmungen als Folgen von Flußbegradigungen. Dies zeigt, daß der wissenschaftliche Fortschritt unsere Möglichkeiten, rationale Risikovergleiche durchzuführen, ständig erweitert. Die Risikobewältigung durch Risiko-Risiko-Vergleiche ist daher ein Beispiel dafür, daß das durch die Wissenschaften bereitgestellte Wissen ein direkter Beitrag zur Lösung menschlicher Handlungsprobleme ist. (b) Es ist zwischen direkten und invertierten Risiken zu unterscheiden (Rescher 1983, 10). Ein direktes Risiko besteht dann, wenn der unerwünschte Zustand, der den Schaden darstellt, ein solcher ist, dessen Nicht-Eintreten billigerweise erwartet werden konnte. Wer z. B. ein Los kauft, darf billigerweise erwarten zu gewinnen. Da man meistens seineri Einsatz verliert, was ein unerwünschter Zustand ist, ist es korrekt zu sagen: »Ein Los kaufen, ist riskant«. Im Falle des invertierten Risikos ist der unerwünschte Zustand ein solcher, dessen Nicht-Eintreten billigerweise nicht erwartet werden durfte. Wer ein gültiges Los findet, hat keine zielgerichtete Handlung vollzogen, kann folglich nicht noch erwarten zu gewinnen. Daher ist es nicht korrekt zu sagen: »Ein Los finden, ist riskant«. Beispiele für invertiertes Reden über Risiken begegnen uns tagtäglich. Ein Kraftwerksunfall ist ein direktes Risiko der Stromerzeugung. Dagegen ist das Ansteigen der Geburtenrate infolge Stromausfalls keine direkte Handlungsfolge der Einrichtung von Elektrizitätswerken. Würde jemand sagen, Stromerzeugung sei riskant, weil sie wegen des möglichen Ausfalls zu einer Erhöhung der Geburtenrate führen könne, wäre dies eine invertierte Verwendung des Risikobegriffs. Allgemein gesagt: Handlungsfolgen, die als mögliche Schäden betrachtet werden, müssen mit den Intentionen der Handlung, die diese Schäden mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit hervorruft, in direktem Zusammenhang stehen. Auch bei dieser Unterscheidung ist allerdings in Rechnung zu stellen, daß es Subsumtionsprobleme geben kann. (c) Für Standardrisiken gilt, daß es einen identifizierbaren Agenten für die Handlung und einen identifizierbaren Betroffenen für die Folgen der Handlung gibt. 25 Agent und Betroffener können Individuen oder 25 Vgl. Rescher 1983, 8.

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Kollektive sein, der Agent kann selbst Betroffener oder Mitglied des Kollektivs sein. Bei Nicht-Standardrisiken werden als Agent oder Betroffener »Umstände«, »Mächte«, »die Natur«, »die Evolution«, »die Gesellschaft« usw. betrachtet. Bezüglich dieser Entitäten kann nicht metaphernfrei von Handlungspräferenzen und Erwartungen für Eintrittswahrscheinlichkeiten gesprochen werden. (d) Es ist zu unterscheiden zwischen dem Normalrisiko und dem Unfallrisiko. Während sich die Wahrscheinlichkeit für das Normalrisiko prinzipiell als objektiver Wahrscheinlichkeitswert auf Basis einer großen Ereignisklasse angeben läßt, gilt für die Unfallwahrscheinlichkeit weitgehend der subjektive Erwartungswert. Allerdings wird diese Unterscheidung noch einmal dadurch kompliziert, daß für viele Unfallfolgen wiederum auf Grenzwerte bzw. Wahrscheinlichkeiten rekurriert werden kann, wie sie für Normalrisiken gelten. In vielen Fällen (vor allem bei seltenen Ereignissen) ist eine Risikobetrachtung für Unfallszenarien jedoch problematisch. Dagegen gibt es keine grundsätzlichen Schwierigkeiten mit Störfallrisiken, d. h. solchen, die sich aus Normalfallrisiken berechnen lassen. Bei technischen Risiken sind Störfälle Ereignisse, die in einer Anlage voraussehbar und daher konstruktiv berücksichtigbar sind, Unfälle dagegen solche Ereignisse, die nicht konstruktiv berücksichtigt werden können, z. B. weil die Möglichkeit des Ereignisses nicht vorhersehbar ist oder weil das Ereignis so selten ist, daß seine Berücksichtigung jede vernünftige Kosten-Nutzen-Ab wägung sprengen würde. In diesen Zusammenhang gehört auch der Hinweis, daß bei Unfallszenarien im Zusammenhang mit der Kernenergie eine sehr kleine Wahrscheinlichkeit mit einem sehr großen Schadensumfang zu multiplizieren wäre. Da unsere Wahrscheinlichkeitsannahmen für Unfälle sehr stark fehlergefährdet sind, droht die mögliche Fehlerbreite so groß zu werden, daß die Risikoüberlegung keine normative Kraft mehr haben kann. (e) Die schwierigste Unterscheidung hinsichtlich der Subsumtion ist die Unterscheidung zwischen der Risikoperzeption und dem Risiko selbst (Rescher 1983, 7). Die Unterscheidung als solche bereitet zwar keine Schwierigkeiten, weil jeder z. B. davon ausgeht, daß aus der Tatsache, daß jemand in einer Situation kein Risiko erkennt, nicht gefolgert werden kann, daß für ihn kein Risiko besteht. Es gibt zwar keine Risiken, die nicht prinzipiell wahrnehmbar wären, aber das Risiko muß

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nicht so sein, wie Agenten oder Betroffene es wahrnehmen. Demgegenüber ist aber auch trivial, daß erst das tatsächlich wahrgenommene Risiko ein solches ist, mit dem gerechnet werden kann. In diesen Zusammenhang gehört auch die Diskussion sogenannter alternativer Risikobegriffe, die durchweg in kritischer Auseinandersetzung mit der auch hier vertretenen Standardkonzeption entwickelt worden sind. Diese Alternativvorschläge gehen von der individuellen 26 bzw. kollektiven 27 Gefahrenwahrnehmung aus. Grundsätzlich ist jedoch zwischen Gefahr und Risiko zu unterscheiden; z. B. variiert die Todesgefahr eines Individuums von Situation zu Situation, während das Todesrisiko (das z. B. für die Berechnung einer Lebensversicherungsprämie ausschlaggebend ist) nur wenig und in nur schwacher Abhängigkeit von der Gefahr variiert. Terminologisch wird hier also zwischen Gefahr und Risiko so unterschieden, daß die »Gefahr« den möglichen Schaden in der singulären Handlungssituation bezeichnet, während sich das »Risiko« auf einen Situationstyp bezieht, dessen Extension (z. B. Risiko des Bergsteigens vs. Risiko von Freizeitaktivitäten) durch den Zweck der Risikoanalyse bestimmt wird. Ferner ist zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Gefahr (tatsächlichem und wahrgenommenem Risiko) zu unterscheiden. In der gegenwärtigen Diskussion des Risikoproblems, vor allem in den Sozialwissenschaften, ist eine weitgehende Konfundierung von wahrgenommener Gefahr mit tatsächlichem Risiko zu beobachten. Unbeschadet der Notwendigkeit der begrifflichen Differenzierung ist allerdings nicht zu leugnen, daß die Gefahrenwahrnehmung wichtig für die Politik der Risikobewältigung ist. Diese kann jedoch schon deshalb nicht bloß in der Umsetzung der subjektiven Gefahrenwahrnehmung bestehen, weil diese von Individuum zu Individuum bzw. von Gruppe zu Gruppe variiert. 28 Der hier benutzte rationale Risikobegriff erfordert eine Präzisierung seiner Definitionselemente, des Begriffs der Wahrscheinlichkeit und der (negativen) Präferenz.

26 Diese wird vor allem in psychologischen Untersuchungen behandelt; vgl. z. B. Jungermann Sc Slovic 1991, Tack 1991. 27 Diese sind vor allem Gegenstand der vieldiskutierten soziologischen Arbeiten von Beck 1986, Beck 1988 und Luhmann 1986. 28 Eine genaue Auseinandersetzung findet sich in Gethmann 1990b, § 1.

Festlegung und Beurteilung

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Wahrscheinlichkeit29 Bezüglich des Wahrscheinlichkeitsbegriffs ist grundsätzlich zu fragen, ob Wahrscheinlichkeit als Grenzwert relativer Häufigkeit betrachtet wird, wie er z. B. durch einen Würfel als Zufallsgenerator präzisiert werden kann. Dem entgegen steht die Auffassung, daß die Wahrscheinlichkeit sich als subjektiver Erwartungswert bestimmen läßt, wie er z. B. durch die Einsatzbereitschaft eines Wettspielers bestimmt wird. Prinzipiell wird man bezüglich beider Wahrscheinlichkeitsbegriffe einen Dualismus vertreten können, d. h., jeder Wahrscheinlichkeitsbegriff hat seine Anwendungsfelder. Der Gedanke vom Grenzwert relativer Häufigkeit liegt unseren üblichen Statistiken zugrunde. Gerade diese zeigen, daß die statistische Wahrscheinlichkeitsvorstellung ihre Grenzen hat. Diese liegen darin, daß statistische Wahrscheinlichkeitsaussagen immer Aussagen über eine große Zahl von Ereignissen sind. Dieser Wahrscheinlichkeitsbegriff ist daher für die Rekonstruktion der Probleme des menschlichen Handelns in vielen Fällen unzureichend, weil es Probleme gibt, die nicht durch Rekurs auf ein — wenn auch perfektes — Wissen um relative Häufigkeiten gelöst werden können. Dies zeigt sich immer dann, wenn Wahrscheinlichkeitsaussagen über ein singulares Ereignis (also für den Einzelfall) vorgenommen werden sollen. Es gibt keinen Approximationswert relativer Häufigkeiten, wenn man damit meint, dieser Wert sei objektiv mit einem bestimmten Ereignis verknüpft. Jeder weiß, daß der nächste Würfelwurf unter den Bedingungen der Unsicherheit steht, auch wenn wir eine perfekte Statistik über die Würfe haben. Das Risiko singulärer Handlungen, die nicht bloß als Elemente einer Handlungsklasse betrachtet werden sollen, kann daher adäquat nur unter Heranziehung des subjektiven (personellen) Wahrscheinlichkeitsbegriffs ausgedrückt werden. Dabei kann in die Formulierung eines subjektiven Erwartungswerts durchaus eine Klasse von Informationen, z. B. über bisherige Ereignisse, eingehen. Der Erwartungswert hängt jedoch zusätzlich davon ab, ob wir z. B. eine pessimistische oder eine optimistische Einstellung haben. 29 Vgl. die Darstellung bei Stegmüller 1973; zur Funktion des Wahrscheinlichkeitsbegriffs im Z u s a m m e n h a n g mit der Risikoproblematik vgl. Rescher 1983, 3 3 - 4 3 .

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Notwendigkeit u n d Funktion

In vielen Fällen wird auch die Forderung plausibel sein, der subjektive Erwartungswert solle an die Stelle der relativen Häufigkeit treten. Diese Forderung wird oft implizit unterstellt, so z. B., wenn Patienten Mortalitäts- und Morbiditätszahlen mitgeteilt werden oder wenn Fluggäste mit Unfallwahrscheinlichkeiten beruhigt werden. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß hier eine besondere Rationalitätsforderung angewandt wird, dergemäß der subjektive Erwartungswert an die Stelle der objektiven Wahrscheinlichkeit treten soll. Diese Rationalitätsforderung impliziert, daß dem objektiven Wahrscheinlichkeitsbegriff immer der Vorzug zu geben ist, wo eine entsprechende Aussage zur Verfügung steht. Andernfalls ist ein subjektiver Erwartungswert anzusetzen. Unerwünschtheit (SchadensausmaßJ30 Handlungen unter Risiko sind solche, bei denen mit einer bestimmten Eintrittswahrscheinlichkeit neben dem Zweck des Handelns solche Folgen eintreten können, die wir für unerwünscht halten. Dieses »Risiko« ist ein Nebenaspekt, d. h., wir wählen nie das Risiko, sondern eine bestimmte Handlung, die unerwünschte Folgen haben kann. Darin besteht das Risiko. Für den rationalen Risikovergleich muß auf negative Präferenzen zurückgegriffen werden. Dafür sind bei den Individuen Präferenzordnungen zu unterstellen, die einer Reihe formaler Bedingungen genügen müssen. Insbesondere für Handlungen mit weitreichenden Folgen ist natürlich unzureichend, lediglich die Präferenzen der Individuen zu berücksichtigen. Gleichwohl muß von diesen ausgegangen werden, da es keine Möglichkeit gibt, den Individuen »objektive« Präferenzordnungen in concreto vorzugeben. Damit soll nicht bestritten werden, daß — ausgehend von grundlegenden Bedürfnissen, die für alle Menschen unterstellt werden können — allgemeine Präferenzen formuliert werden können, mit deren Hilfe sich auch konkrete Präferenzen einer Kritik unterziehen lassen. Diese allgemeinen Präferenzen haben dann für konkrete Präferenzen die Funktion von Rahmenkriterien, die jedoch die subjektive Festlegung konkreter Präferenzen und ihrer Bewertungsabhängigkeiten untereinander nicht entbehrlich machen.

30 Z u r Logik der Präferenzen vgl. v. Kutschera 1973; im Zusammenhang mit der Risikoproblematik vgl. Rescher 1983, 4 4 — 63.

Festlegung u n d Beurteilung

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Wenn sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit als auch die konkrete Präferenz, die in den rationalen Risikobegriff als Faktoren eingehen, auf subjektiven Einschätzungen beruhen, dann fragt sich, wie überhaupt ein Risikovergleich mit Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit möglich ist. Diese Frage zeigt, daß in jedem Risikovergleich ein keineswegs triviales normatives Element steckt. Der Risikovergleich wird ja mit der (meistens implizit gelassenen) Absicht angestellt, daß jedermann sich nach Abwägung bestimmte Schadensfolgen zumuten lassen soll bzw. daß man anderen bestimmte Schadensfolgen zumuten darf, nämlich die, die mit dem geringeren Risikograd verbunden sind. In der derzeitigen politischen Auseinandersetzung erleben wir, daß solche Zumutungen keineswegs als selbstverständlich empfunden werden. Somit führt die Diskussion der Rationalität des Risikobegriffs schließlich auf die Frage, welche Risiken mit welchem Recht überhaupt zumutbar sind. 1.2.3 Multiattributivität von Unerwünschtheit Umweltstandards als Regeln und Vorschriften für die Gesellschaft, als von ihr festgelegte Kulturphänomene, entstehen als Ergebnis eines Bewertungsprozesses und nicht als Ergebnis einer naturwissenschaftlich ermittelbaren Grenze. Bewertungsprozesse sind multiattributive (vieldimensionale) Entscheidungen. In einem multiattributiven Entscheidungsprozeß müssen verschiedene nicht direkt vergleichbare Eigenschaften in einer Gesamtentscheidung verkoppelt werden. Dabei ist es im allgemeinen möglich, für je ein Attribut zu einer klaren Aussage zu kommen. Dies liegt daran, daß eine Größer-Kleiner-Beziehung nur zwischen eindimensional angeordneten Größen angegeben werden kann, während dies zwischen Größen verschiedener Dimensionen nicht ohne weiteres möglich ist. In der öffentlichen Diskussion ist diese Nicht-Vergleichbarkeit verschiedener Dimensionen, also verschiedener Zielvorstellungen, oft mit dem Ausspruch beschrieben worden, man könne nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Um es mit einem Beispiel zu illustrieren: Das Risiko einer Tätigkeit kann sein, daß ich das Augenlicht verliere, das einer anderen kann zu einem Vermögensschaden führen. So kann man Kraftwerke nach ihrem S0 2 -Ausstoß sortieren, oder ihrem Flächenbedarf, oder ihrer Wirtschaftlichkeit, oder ihres radiologischen Schadenspotentials,

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oder der Verfügbarkeit ihres Brennstoffes. Das sind die verschiedenen Attribute (Dimensionen), auf denen, technisch-naturgesetzlich gegeben, eindeutige Wertungen (also Sortierungen) möglich sind. Im Entscheidungsprozeß ist nun erforderlich, zwischen diesen verschiedenen Dimensionen zu einer Verknüpfung zu kommen, also den S0 2 -Ausstoß gegen die radiologische Schädlichkeit oder die Wirtschaftlichkeit zu wägen. So müssen auch Umweltstandards als Ergebnis eines solchen multiattributiven Entscheidungsprozesses gewonnen werden, wobei zu einigen der Dimensionen Naturwissenschaften und Technik die wichtigen Daten liefern: wieviel Tonnen S 0 2 z. B. pro gelieferter Kilowattstunde aufgrund der Anwendung moderner Technik noch ausgestoßen werden müssen, oder was das Strahlenrisiko pro Kilowattstunde an Kernenergie ist. Im Bewertungsprozeß selbst findet nunmehr eine Verknüpfung dieser Dimensionen statt, wird also, mathematisch gesprochen, eine Funktion festgelegt, die so viele Variable hat, wie es dem Bewertungsprozeß zugrundeliegende unabhängige Dimensionen gibt. Diese Verknüpfung kann so rekonstruiert werden, als vollziehe sie der einzelne Mensch zunächst aufgrund seiner individuellen Einschätzung von Risiko und Chancen, die er sodann unter Maßgabe des Zwecks, den er mit der Handlung verbindet, zu einer Gesamtentscheidung verknüpft. Es ist die subjektiv erwartete Nützlichkeit, die entscheidend ist für die Entscheidungen des einzelnen, wobei hier der Begriff der Nützlichkeit weit gespannt ist und auch ideelle Nützlichkeit umfaßt. Diese Verknüpfung der Dimensionen, diese Gesamtentscheidung muß häufig unter Ungewißeit gefällt werden. In dieser Situation spielt die Vorsicht eine besondere Rolle und sie führt dazu, daß man versucht, Entscheidungen bis zum Eintreten größerer Gewißheit hinauszuschieben. In der Praxis, in der oft Entscheidungen unter Unsicherheit gefällt werden müssen, führt dies zum Verhalten der »Risikostreuung«, also zu derjenigen vermittelnden Auswahl zwischen untereinander konfligierenden Zielvorstellungen und Risiken, die das Ganze möglichst nicht gefährdet, sondern ihm eine Überlebenschance läßt, wenn der Schadensfall eintritt. In der Versicherungswirtschaft ist dies eine grundlegende Praxis beim Umgang mit Risiken. 3 1 31 Eine genaue entscheidungsanalytische Ausarbeitung des Problems der Multiattributivität erfolgt in Kapitel 5.4.

Festlegung und Beurteilung

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Hinsichtlich der Genauigkeit der Bestimmung von Risiken ist zu beachten, daß die Anforderungen an die Schärfe von Risikobestimmungen und, davon abhängig, von Umweltstandards nicht unabhängig von der Größenordnung von Wahrscheinlichkeit und Ausmaß des Schadens festzulegen sind. Damit kommt in die Frage der Schärfe bzw. Unschärfe ein pragmatischer Aspekt hinein. Charakteristische räumliche und zeitliche Dimensionen von natürlichen Systemen und Prozessen haben typisch für den Menschen dann eine nur geringe Bedeutung, wenn sie entweder sehr viel kleiner oder sehr viel größer als das menschliche Maß sind. So ist es im allgemeinen für den Menschen unerheblich, ob ein Prozeß in einer tausendstel oder hundertstel Sekunde stattfindet, obgleich der letztere Prozeß zehnmal langsamer als der erstere Prozeß abläuft. Handelt es sich aber darum, ob ein Ereignis zehn oder hundert Tage, oder gar ein oder zehn Jahre benötigt, also ebenfalls zehnmal langsamer ist, so wird der Unterschied bedeutungsvoll. Betrachtet man noch längere Zeitskalen, also etwa den Unterschied zwischen zehntausend und hunderttausend Jahren, so erscheint er wiederum unerheblich. Ähnlich verhält es sich mit dem Unterschied der räumlichen Dimension, die nur dann als bedeutungsvoll empfunden wird, wenn sie vergleichbar wird mit den Größen, die dem Menschen vertraut und zugänglich sind. Diese Überlegungen gewinnen Bedeutung bei der Festlegung von Umweltstandards. Gelingt es, die potentielle Schädigung so gering zu halten, daß ein nur äußerst geringer Einfluß auf den Menschen und seine Lebenserwartung in Betracht zu ziehen ist, so ist eine erhebliche Unschärfe der Umweltstandards und der Kontrolle ihrer Einhaltung hinnehmbar. Dies ist z. B. im Strahlenschutz der Fall. Nur wenn zu befürchten ist, daß die Schädigung eine beträchtliche Auswirkung haben könnte, also vergleichbar mit dem menschlichen Maß wird, muß der Standard mit höherer Genauigkeit festgelegt und dann auch überprüft werden. 1.2.4 Probleme der Verallgemeinerbarkeit Im politischen Prozeß tritt eine Wechselwirkung aller jener gesellschaftlichen Untersysteme ein, die nach ihrer je eigenen Sinngebung eigene Vorstellungen über die richtigen Werte der Umweltstandards entwikkeln, und diese Vorstellungen treten in Konflikt miteinander. Dabei

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Notwendigkeit und Funktion

mag dem politischen Prozeß die Konfliktlösung nicht gelingen, sei es deshalb, weil die Widersprüche zu kompromißlos vertreten werden, sei es deshalb, weil die normativen Überzeugungen einer gesellschaftlichen Gruppe für andere so »irrational« geworden sind, daß sie nicht mehr nachvollziehbar sind. Es gibt viele historische Beispiele dafür, daß Gesellschaften diese Aufgabe nicht bewältigt haben und untergegangen sind. Gerade deswegen ist eine vertiefte Diskussion des Begriffs der Rationalität von Umweltstandards bedeutsam, weil nur sie es letztendlich sein kann, die zu gesellschaftlich akzeptablen Vorgehensweisen der Konfliktbewältigung führt. Allerdings ist damit zu rechnen, daß Rationalität erkämpft werden muß, zunächst weil sie das Geschäft der politischen Diskutanten eher erschwert. Die Durchsetzung von Rationalität wird aber auch durch zwei andere Phänomene erschwert. Das ist einmal die »Resonanz« im Prozeß der gesellschaftlichen Kommunikation (Luhmann 1986). Hier beschreibt »Resonanz« das — unerwartete — Übersteuern bestimmter Effekte durch die gesellschaftliche Rückkopplung oder auch die — unerwartete — Bewertung von Nebenfolgen. Das zweite ist die schon erwähnte Diskrepanz von individueller bzw. kollektiver Risikowahrnehmung und tatsächlichem Risiko. Dieses Phänomen kann die individuellen Bewertungsmaßstäbe so sehr gegen die wirklichen Risiken verschieben, daß die rationale Verknüpfung mit anderen Schadensformen sehr erschwert oder gar unmöglich wird. Schließlich gilt gerade für komplexe Bewertungs- und Entscheidungsverfahren eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber interessen- und vorurteilsbedingten Verzerrungen der Realitätswahrnehmung, die einer unter Umständen sehr aufwendigen ideologiekritischen und wissenssoziologischen Aufklärung bedürfen. Diese Hinweise zeigen bereits, daß mit der Formulierung eines rationalen Risikobegriffs zwar ein Problemlösungsinstrument angeboten werden kann, daß aber dessen Existenz noch nicht die Lösung tatsächlicher Konflikte garantiert. Diese Frage stellt sich besonders nachdrücklich, wenn bestimmte Risikovorstellungen auf dem Wege über Umweltstandards rechtlich kodifiziert werden und damit gegebenenfalls durch Sanktionen auch gegenüber solchen Individuen durchgesetzt werden, die die Prämissen des rationalen Risikovergleichs nicht teilen. Die Situation hat zunächst strukturelle Ähnlichkeit mit der Behandlung der allgemeinen Wehrpflicht, deren Notwendigkeit aufgrund eines

Normative Implikationen

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Risikovergleichs und bestimmter Normen begründet wird. In manchen demokratischen Rechtssystemen ist das Problem z. B. durch Einführung eines Ersatzdienstes gelöst worden. Diese Lösungsstrategie hat ersichtlich quantitative Grenzen (wenn das Ausmaß des Ersatzdienstes die Grenze überschreitet, die als für die Verteidigungsfähigkeit notwendig erachtet wird), sie ist in vielen Fällen darüber hinaus grundsätzlich nicht anwendbar. Werden z. B. für die Belastung von Luft oder Trinkwasser bestimmte Grenzwerte formuliert, dann entstehen diese z. B. aufgrund eines Risikovergleichs zwischen dem Schadensrisiko einer Unterlassung der Luftbelastung (z. B. mit der Folge, daß weniger elektrische Energie zur Verfügung steht) und der Emission bei wirtschaftlich vertretbarer Schadstoffbeschränkung. Diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, die die substantiellen Prämissen des Risikovergleichs nicht teilen, können aber nicht auf Ersatzluft oder Ersatzwasser ausweichen. Die Möglichkeiten z. B. für Minderheiten, auf andere Rahmenbedingungen auszuweichen, sinken übrigens in dem Maße, in dem der technische Fortschritt weltweit homogener verteilt wird und die Umweltstandards international festgelegt werden. 1.3 Normative Implikationen

und

Umweltpolitik

1.3.1 Faktische und normative Geltung in der Demokratie Im folgenden ist der Frage nachzugehen, mit welchem Recht prätendierte Umweltstandards Anspruch auf soziale Akzeptanz erheben können, d. h., es ist nach ihrer Akzeptabilität zu fragen. Nur wenn diese dargetan werden kann, können auf dieser Basis auch Überlegungen angestellt werden, unter welchen Bedingungen ihre Einhaltung durch Sanktionen bewehrt werden kann, d. h., unter welchen Bedingungen und mit welchem Recht Umweltstandards Rechtsnormen werden können. Aber auch solche Umweltstandards, die im rechtlichen Sinne nur den Charakter privater Empfehlungen (z. B. DIN-Normen) haben, erheben Geltungsansprüche; denn auch Empfehlungen, die bei Nichtbeachtung keine Sanktionen nach sich ziehen, müssen »stimmen«. Nur dann können sie gegebenenfalls akzeptable Grundlagen rechtlicher Setzungen sein. Diese Überlegungen beruhen auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen faktischer Geltung (Akzeptanz) und normativer Geltung (Ak-

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zeptabilität). Diese Unterscheidung gilt im übrigen sowohl für deskriptive als auch für präskriptive Rationalitätsformen. Wer sie nicht beachtet, gelangt schließlich immer zu einem Relativismus der Geltung. Für das Thema »Umweltstandards« ist er vor allem in Gestalt des Soziologismus aktuell. Darunter werden alle Konzeptionen verstanden, nach denen sich die Geltung einer regulativen Äußerung aus einer (unterschiedlich präzisierbaren) faktischen Zustimmung in Individuen ergibt. Dem Soziologismus der Geltung entspricht als politische Organisationsform die Aufstellung von Gesetzen per Plebiszit. Es sei angemerkt, daß alle klassischen Demokratiekonstruktionen auf einem mehr oder minder ausgeprägten Mißtrauen gegenüber rein plebiszitärer Gesetzgebung beruhen. Dieses Mißtrauen kann institutionalisiert sein durch Gewaltenteilung, repräsentatives System, Mehrkammersystem, relative Autonomie von Gebietskörperschaften usw. Wie immer solche Verfassungskonstruktionen im einzelnen formuliert sind, ihnen ist die Unterscheidung von faktischer und normativer Geltung bereits dadurch implizit, daß nicht durch Volksabstimmung allein über die Gesetzgebung entschieden wird. Übersetzt in die Umweltdiskussion bedeutet das, daß die faktische Akzeptanz ein unzureichendes Beurteilungsprinzip ist. Bezüglich der Umweltstandards ist allen Konzeptionen, die auf das faktische Akzeptanzverhalten der Individuen rekurrieren, auch aus einem speziellen Grunde Mißtrauen entgegenzubringen. Die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zum faktischen Akzeptanzverhalten betreffend Risiken sind nämlich desillusionierend: 32 Offenkundig führt die Planung des eigenen Handelns unter den Gesichtspunkten von Eintrittswahrscheinlichkeit und Präferenz sehr schnell zu überkomplexen Ansprüchen an die menschliche Übersichtsfähigkeit, so daß Strategien der Komplexitätsreduktion gewählt werden, die mit einem rationalen Risikovergleich nicht in Einklang sind. Die Akzeptabilität einer riskanten Handlung ist die Festlegung geforderter Akzeptanz aufgrund einer Prüfung gemäß rationalen Kriterien des Handelns unter Risikobedingungen. Kurz: Akzeptabilität ist ein normativer Begriff. Allerdings impliziert die Normativität noch nicht, daß sich alle Individuen ceteris paribus gleich verhalten müssen. Dazu sei nur an die Subjektivität von Erwartungswerten und Präferenzordnungen erinnert. 32 Vgl. die Zusammenstellung der Akzeptanzfaktoren bei Birnbacher 1983.

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Mit der Frage nach der Akzeptabilität ist das Problem der Rechtfertigung von Normen, also von universellen Aufforderungen (Aufforderungen an jedermann), aufgeworfen. Derartige Rechtfertigungsprobleme sind Thema der philosophischen Disziplin »Ethik«, während die faktisch propagierten bzw. exekutierten Imperative jeweils eine »Moni/« ausmachen. Die Beschreibung und Erklärung von Moralen ist Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung. Zur Klärung der spezifischen Aufgabe der Ethik ist darauf hinzuweisen, daß keineswegs alle normativen Gebilde ethisch sind. Die Geltung von Normen ist eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit und keineswegs immer von ethischer Relevanz. Dies gilt für das weite Feld der Rechtsnormen, aber auch für technische Normen (DIN) oder Normen von Standes- und Berufsverbänden. Ethische Normen sind nur angesprochen, wenn wir es mit konfliktrelevanten Aufforderungen zu tun haben. Unter einem Konflikt sei eine Situation verstanden, in welcher zwei Agenten (Individuen oder Gruppen) unvereinbare Zwecke anstreben. Zwei Zwecke sind unvereinbar, wenn ihre Realisierung nicht zugleich möglich ist. Konfliktlösungen sind auf vielerlei Weise möglich, z. B. (um zwei Extremfälle zu nennen) durch Liquidation der Opponenten oder durch den Einsatz von Mitteln argumentierender Rede (Rechtfertigungsdiskurse). Die Ethik ist die Kunst (und die Lehre ihrer Beherrschung), Rechtfertigungsdiskurse führen zu können. Das Handeln unter Risiko ist keineswegs unter allen Bedingungen konfliktbedroht. Vielfach betreffen die Risiken nur die Belange des Individuums selbst oder, was ebensoviel gilt, die sozialen Folgen des individuellen Handelns sind mangels Wissen oder Können nicht ersichtlich. In den Fällen jedoch, in denen es darum geht, anderen die Folgen des eigenen Handelns zuzumuten, und dieses Handeln Handeln unter Risiko ist, wird die Frage der Akzeptabilität und damit ein ethisches Problem angesprochen. Nur wenn zwischen Akzeptanz und Akzeptabilität unterschieden wird, kann dem Staat das Recht zugestanden werden, seinen Bürgern Risiken durch Gesetze zuzumuten. Dabei ist der Staat hinsichtlich der Legitimität seiner Verfahren zu prüfen, nicht jeweils nach der Konsensfähigkeit der Verfahrensergebnisse.

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Notwendigkeit und Funktion

1.3.2 Individuelle Zumutbarkeit des Umweltrechts Bevor auf die ethischen Probleme der Verallgemeinerbarkeit eingegangen wird, ist die Frage zu behandeln, wie die Verbindlichkeit allgemeiner rechtlich kodifizierter Umweltstandards zu rechtfertigen ist. Durch die faktische Gesetzgebung wird die ethische Frage der Verallgemeinerbarkeit bereits entschieden, ohne daß die mit dem Problem der Multiattributivität angesprochenen Schwierigkeiten gelöst sind. Diese Situation ist allerdings als solche nicht ungewöhnlich, weil in vielen Fällen nicht mit Gesetzgebungsmaßnahmen gewartet werden kann, bis alle theoretischen Probleme gelöst sind. Allerdings ist das Problem der rechtlichen Verbindlichkeit von Umweltstandards besonders dramatisch, weil sich die Wahrscheinlichkeit subjektiver »Abweichung« von einer Mehrheitsvorstellung leichter ergibt, Möglichkeiten des Minderheitenschutzes aber in weitaus geringerem Umfang bestehen als in anderen Fällen sozialer Devianz. Daher ist es nicht überraschend, daß gerade im Bereich der Umweltprobleme gegenwärtig einzelne Gruppen recht schnell dazu neigen, eine Art ökologischen Widerstandsrechts für sich in Anspruch zu nehmen. Hinsichtlich eines solchen Widerstandsrechtes sind zwei grundlegend verschiedene Ebenen strikt auseinanderzuhalten: Das staatsphilosophisch und ethisch begründete sogenannte klassische Widerstandsrecht als überpositives Recht und das verfassungsrechtlich niedergelegte Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG. Das sogenannte klassische Widerstandsrecht kann gegebenenfalls auch gegen die Verfassungsordnung selbst gerichtet werden, wenn diese ihrerseits nach Auffassung des Widerstandskämpfers (!) mit überpositivem Recht unvereinbar ist. Als überpositives Recht ist dieses sogenannte klassische Widerstandsrecht allen gesetzlichen Fassungen und Anerkennungen entrückt. Im Extremfall, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt, um ein menschenwürdiges Gemeinwesen vor dem Untergang zu retten, bleibt dem einzelnen nur der Griff zu den ewigen Rechten, »die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst« (Schiller33; so schon Locke: »And where the body of the people, or any single man, is deprived of their right, or is under the exercise of a power without right, and have no appeal on earth, 33 »Wilhelm Teil« (1805), Zweiter Aufzug, Zweite Szene, Zeile 1278-1280.

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there they have a liberty to appeal to heaven, whenever they judge the cause of sufficient moment« 34 ). Mit der Würde dieses überpositiven Widerstandsrechts geht einher, und bedingt sie zum Teil, das Risiko des Scheiterns, denn es richtet sich gegen die legale Ordnung. Dieses Risiko läuft, wer heute in der Bundesrepublik Deutschland der von der verfassungsmäßigen Rechtsordnung zugelassenen und gegebenenfalls von den Gerichten bestätigten friedlichen Nutzung der Kernenergie unter Berufung auf überpositives Recht Widerstand entgegensetzt. Verfassungsrechtlich abwegig ist es, einen solchen Widerstand auf Art. 20 Abs. 4 GG stützen zu wollen. 35 Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG ist Ausdruck eines Staatsnotwehrrechts, gerichtet auf die Verteidigung der Verfassungsordnung und nicht gegen sie, von welchem überpositiven Recht aus auch immer. Art. 20 Abs. 4 GG eröffnet das Widerstandsrecht gegen die Beseitigung der in Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG umschriebenen Ordnung, wenn keine andere Abhilfe möglich ist. Dies ist gleichbedeutend mit dem in Art. 79 Abs. 3 GG sogar der Verfassungsänderung entzogenen Normenbestand, der als die freiheitliche demokratische Grundordnung bezeichnet wird. Aktionen z. B. gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie, auch wenn die Handelnden darin einen Eingriff in ihr Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG auf Schutz des Lebens und der Gesundheit sehen, fallen von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 20 Abs. 4 GG heraus. Die Nutzung der Kernenergie, selbst wenn sie in Grundrechte eingreifen oder gar diese verletzen sollte, bedeutet in keiner Weise die Beseitigung der Verfassungsordnung. Die aktive Bekämpfung der verfassungsmäßigen Nutzung der Kernenergie, gar noch in ihrer Verfassungsmäßigkeit durch Urteile der obersten Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts bestätigt, kann sich in keiner Weise auf Art. 20 Abs. 4 GG stützen, erfüllt vielmehr zum Teil seinerseits selbst die Voraussetzungen für die Ausübung des Widerstandsrechts. Die Ausführungen von Mayer-Tasch vermengen in unzulässiger Weise das sogenannte klassische, überpositive Widerstandsrecht mit dem verfassungsrechtlich garantierten Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG. Als Voraussetzungen des Widerstandsrechtes aus Art. 20 Abs. 4 GG nimmt er nicht die in dieser Norm genannte objektive 34 Locke 1690, chap. XIV, § 168. 35 Diese Position wird vertreten von Mayer-Tasch 1979.

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Beseitigung der Verfassungsordnung, sondern ein »vom Rechtsbewußtsein des ungehorsamen Bürgers her gesehene(s) Szenario« (Mayer-Tasch 1979, 44), derart, daß dieser ungehorsame Bürger in der Nutzung der Kernenergie einen Eingriff in das Grundrecht auf Leben und körperliche Integrität (Art. 2 Abs. 2 GG) sieht. Eine solche subjektive Einschätzung könnte aber allenfalls die Grundlage für das überpositive Widerstandsrecht sein, das außerhalb der positiven Rechtsordnung steht. Eine Verfassung, die dieses Widerstandsrecht anerkennen würde, würde sich selbst aufheben. Im übrigen ist es sehr zweifelhaft, ob und inwieweit es Mayer-Tasch mit der Begründung seines umweltrechtlichen Widerstandsrechtes auf Art. 20 Abs. 4 GG wirklich ernst ist. Nach dem Abstellen auf das Rechtsbewußtsein des ungehorsamen Bürgers folgen nämlich die Sätze: »Ob er dann auch tatsächlich im Recht war, wird letztlich der Strafrichter entscheiden, dem er seinen Notstands- bzw. Widerstandsanspruch entgegenhält. Ich möchte mich der Prophezeihungen enthalten, dafür aber auf die schlichte Tatsache verweisen, daß Recht stets auch Kampf ums Recht ist und daß es sich in einem steten Wandel befindet« (Mayer-Tasch 1979, 44). Der Umgang Mayer-Tasches mit Art. 20 Abs. 4 GG belegt, wie berechtigt die Skepsis der meisten Staatsrechtslehrer gegen diese Vorschrift ist, die zusammen mit der sogenannten Notstandsverfassung quasi als »Beruhigungspille« 1968 ins Grundgesetz eingefügt wurde und den letztlich untauglichen Versuch macht, die Revolution verfassungsrechtlich zu domestizieren. 36 Die Vorschrift lädt zu Mißverständnissen und zum Mißbrauch ein. »Es droht die Gefahr, daß das Widerstandsrecht die Falschen ermutigt und die Legitimierten lähmt. Es könnte sich einmal als tragische Ironie erweisen, daß das Widerstandsrecht gerade in dem Zeitpunkt legalisiert wurde, in dem zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik wirkmächtige Gruppen das staatliche Gewaltmonopol durch Selbsthilfeaktionen zu brechen suchen auch unter Berufung auf ein Widerstandsrecht« (Isensee 1969, 103). 1.3.3 Pragmatische Konsistenz Die Überlegungen zur rechtlichen Verbindlichkeit von Umweltstandards zeigen, daß diese nicht unabhängig von der sozialen Akzeptanz der den Standards zugrundeliegenden Risikoabwägungen betrachtet werden 36 Vgl. die grundlegende Kritik durch Isensee 1969.

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können. Desungeachtet ist die Frage unabweisbar, wieweit der Gesetzgeber die soziale Akzeptanz beachten muß (wie gezeigt, ist gerade in Risikofragen eine überlegte und widerspruchsfreie Einstellung bei vielen Menschen nicht zu erwarten) und aufgrund welcher Einsichten soziale Akzeptanz gefordert werden darf. Nun scheinen allerdings die Überlegungen zum Risikobegriff, nach denen als Wahrscheinlichkeitsbegriff oft die subjektive Wahrscheinlichkeit und als Präferenzbegriff die subjektive Präferenz heranzuziehen sind, zu einem normativen Skeptizismus zu führen, derart, daß sich zur Akzeptabilität von Risiken nichts Verallgemeinerbares sagen läßt. Dieser Schluß ergibt sich allerdings nur, wenn man bezüglich des Allgemeinheitsanspruchs ethischer Überlegungen zu starke Forderungen erhebt. Ethische Reflexionen können nämlich zu keinen Einsichten der Art führen, jeder müsse bereit sein, das Risiko des Fliegens mit Verkehrsflugzeugen auf sich zu nehmen. Allgemein formuliert: Aufgrund der Subjektivität von Erwartungen und Präferenzen können keine kategorischen Imperative aufgestellt werden. Demgegenüber bleibt die Möglichkeit, hypothetische Imperative zu formulieren; z. B. könnte gefordert werden, daß, wer das Risiko eingeht, Auto zu fahren, auch das Risiko eingehen muß, mit Verkehrsflugzeugen zu fliegen. Zur Illustration sei darauf hingewiesen, daß ethische Imperative (fast ausnahmslos) hypothetische Imperative sind. So fordern wir genaugenommen nicht, daß niemand einen anderen töten soll, sondern daß niemand einen anderen töten soll, wenn er sich nicht gerade in einer extremen Notwehrsituation befindet. Kants kategorischer Imperativ ist lediglich ein Kriterium zur Prüfung von hypothetischen Imperativen, das schon aus methodischen Gründen selbst nicht wieder hypothetisch sein darf. Der kategorische Imperativ rechtfertigt z. B. auch nicht den kategorischen Imperativ, daß jedermann seine Versprechen halten müsse, sondern lediglich den hypothetischen Imperativ, daß seine Versprechen halten müsse, wer die Institution des Versprechens aufrechterhalten und von ihr profitieren möchte. Auf dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Überlegung wird hier für die Lösung des normativen Problems des Handelns unter Risiko folgendes hypothetische Akzeptabilitätsprinzip vorgeschlagen, das man (vergleichbar dem angeführten Imperativ des Versprechens) als Prinzip der pragmatischen Konsistenz bezeichnen kann: Hat jemand durch die Wahl einer Lebensform eine Risikobereitschaft gewählt, so darf diese

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auch für eine zur Debatte stehende Handlungsoption unterstellt werden.*7 Zur Rechtfertigung dieses Prinzips wäre umfassend auf die traditionellen Strategien zur Behandlung ethischer Probleme einzugehen. Statt dessen sei nur darauf hingewiesen, daß das Prinzip sowohl aus Kants kategorischem Imperativ (Kant 1785) als auch aus Hares Prinzip der Verallgemeinerbarkeit deduziert werden kann (Hare 1952). Nach Kant sind solche Maximen gerechtfertigt, die jederzeit (allgemeinverpflichtende) Normen sein können. Das »Können« bezieht sich auf die Realisierbarkeit, ohne daß ein pragmatischer Widerspruch eintritt. Hares Prinzip der Verallgemeinerbarkeit ist schwächer, weil es die von Kant geforderte Konsistenz nur für die »Binnenrationalität« des Individuums verlangt. Demgemäß soll jeder dasjenige, was er in einer bestimmten Situation für gut hält, auch in einer in relevanter Hinsicht gleichen Situation für gut halten. Das oben angeführte Prinzip der pragmatischen Konsistenz ist auch aus diesem schwächeren Verallgemeinerbarkeitsgedanken deduzierbar. Es besagt ja, daß anderen jenes Handlungsrisiko zuzumuten ist, das man auch selbst einzugehen bereit ist. Das Prinzip der pragmatischen Konsistenz wirkt auf denjenigen gegenintuitiv, der von einer vollständigen regionalen Inkommensurabilität von Risiken ausgeht. Nach der Inkommensurabilitätsthese sind zwei Handlungen unter Risiko unvergleichbar bzw. sind Typen von Handlungen unter Risiko miteinander unvergleichbar. Z. B. könnte argumentiert werden, die Risikobereitschaft beim Skifahren habe mit derjenigen, die beim Wohnen neben Kernkraftwerken gefordert sei, »nichts zu tun«. 38 Die Diskussion dieses Themas ist dadurch kompliziert, daß sowohl die Kommensurabilitätsthese als auch die Inkommensurabilitätsthese nur zirkulär begründet werden können. Wer behauptet, Handlungen unter Risiko seien unvergleichbar, behauptet implizit, daß es keine Konsistenzforderung geben kann. Wer demgegenüber behauptet, es

3 7 Zuerst formuliert in G e t h m a n n 1 9 8 7 ; vgl. die weiteren Ausführungen in G e t h m a n n 1 9 9 0 b . Die kollektive Z u m u t b a r k e i t von Risiken auf Individuen mit unterschiedlichen Lebensformen bedarf einer besonderen F o r m der Konfliktlösung. 3 8 Die Inkommensurabilitätsthese liegt auch Meyer-Abichs Kritik a m Konsistenzprinzip zugrunde (Meyer-Abich 1 9 8 9 , 35).

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gäbe ein Prinzip der pragmatischen Konsistenz, behauptet implizit, Handlungen unter Risiko seien vergleichbar. Allerdings kann nicht argumentiert werden, Ungleiches sei als solches auch schon unvergleichbar, weil die Vergleichbarkeit ja gerade von der Existenz eines Vergleichsprinzips abhängt. Aufgrund individueller und sozialer Bedürfnisse sind Menschen nämlich immer gezwungen, Ungleiches miteinander zu vergleichen. Ob Ungleiches vergleichbar gemacht werden kann, hängt davon ab, ob ein Vergleichsprinzip angegeben werden kann. Das bekannteste Vergleichsprinzip ist, Ungleiches jeweils auf einen Geldwert abzubilden und die Geldwerte miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise werden z. B. in vielen Besteuerungssystemen Einkommen, die auf sehr ungleiche Art zustande kommen, miteinander verglichen. Es könnte jemand durchaus argumentieren, seine Einkommensarten (z. B. durch Lohnarbeit, Mieteinnahme und Deputatkohle) seien ungleich zustande gekommen, das Zustandekommen werde subjektiv sehr unterschiedlich erlebt, somit dürften die Einkommensarten nicht miteinander verglichen und einheitlich besteuert werden. Dieser Einwand ist deswegen nicht durchschlagend, weil Ungleichheit noch nicht Unvergleichbarkeit bedeutet. Die Vergleichbarkeit wird gerade durch das Prinzip, alles in Geld auszudrücken, hergestellt. Diese exemplarische Überlegung zeigt, daß die Vergleichbarkeit von Ereignissen, insbesondere Handlungen, keine natürliche Eigenschaft solcher Ereignisse ist. Es ist vielmehr eine Sache zweckrationaler Konventionsbildung, Ungleiches miteinander zu vergleichen oder nicht. Ob Ungleiches miteinander vergleichbar gemacht wird, hängt davon ab, ob die Herstellung eines Vergleichs Mittel zu einem allgemein akzeptierten Zweck ist. Das unterschiedliche subjektive Erleben der einzelnen Vergleichsglieder spielt in dem Falle, daß sich eine Gesellschaft für die Vergleichbarkeit entschieden hat, keine Rolle. Selbstverständlich kann jemand immer noch darauf bestehen, daß je zwei Handlungen miteinander ungleich sind. Für keine zwei Handlungen gilt nämlich, daß ihre Konsequenzen bezüglich aller ihrer Attribute übereinstimmen. Allerdings kann ein generelles Inkommensurabilitätsprinzip durch folgende reductio ad absurdum widerlegt werden: Aus der generellen Inkommensurabilität würde folgen, daß es keinerlei soziale Regeln (prä-institutioneller oder institutioneller Art) gäbe. Rechtssysteme unterstellen z. B., daß ungleiche Handlungen kommensurabel sind. Augenfällig ist das für solche Rechtssysteme, in denen bei

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der Rechtsfindung Präjudizienargumente eine große Rolle spielen. Jeder Angeklagte könnte im Sinne der Inkommensurabilität natürlich vorbringen, seine Handlung sei ungleich der präjudizierenden Handlung. Der Richter wird jedoch demgegenüber gegebenenfalls die Rechtsregel als Vergleichbarkeitsprinzip heranziehen und einen Vergleich herstellen. Eine generelle Inkommensurabilitätsthese führte somit zum vollständigen Anarchismus. Positiv gewendet zeigt diese Überlegung, daß Menschen sich immer schon auf ein sozial eingelebtes Spektrum der Vergleichbarkeit von (»an sich« ungleichen) Handlungen eingelassen haben. Die Regeln des Vergleichs sind konstitutiver Teil der Lebensform, an der man teilnimmt. Dementsprechend ist das Konsistenzprinzip auf diese faktischen Grundlagen zu beziehen. Vom einzelnen Bürger ist daher zunächst, d. h. bis zum Fall des expliziten und begründungsbedürftigen Widerspruchs, zu erwarten, daß er zu denjenigen Präsuppositionen steht, die Grundlagen der von ihm geteilten Lebensform sind. Zu ihnen gehört die grundsätzliche Anerkennung von Vergleichbarkeitsregeln. Allerdings gehören zu den Grundlagen einer sozialen Lebensform auch regionale und temporale Beschränkungen des Kommensurabilitätsbereichs. Eine Begründung für eine solche Beschränkung kann man darin sehen, daß der Differenzierungsprozeß, der zur modernen Gesellschaft geführt hat, die menschliche Person in eine Vielheit von Funktionen aufgespalten hat. Dieser Funktionsdifferenzierung entspricht die Erfahrung der relativen Aufgliederung des Ganzen des Lebensvollzuges in einzelne Lebenssektoren (Beruf, Familie, Freizeit etc.). Die Einheit der Person bleibt dabei allerdings als Bezugskonstante im Wechsel von einem Sektor zum anderen und in der Wechselwirkung der Sektoren untereinander erfahrbar. Die Verschiedenheit der Funktionen äußert sich z. B. in dem unterschiedlichen Status, den bestimmte Handlungsmaximen in den verschiedenen Bereichen haben können. Z. B. könnte der Maxime der Wahrhaftigkeit oder der Fairneß in Beruf und Familie bzw. Beruf und Freizeit eine unterschiedliche subjektive Verbindlichkeit zugesprochen werden. Entsprechend könnte auch die Risikoakzeptanz in den verschiedenen Lebenssektoren unterschiedlich ausgeprägt sein. Dies dürfte der Grund dafür sein, daß Risikovergleiche z. B. zwischen Freizeitbetätigungen (Skifahren) und bestimmten Grundbedürfnissen (Wohnortwahl) für viele Menschen als Überschreitungen von Inkommensurabilitätsschwellen gelten. Was hier für regionale Be-

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schränkung formuliert wird, dürfte auch für eine temporale Beschränkung gelten. Die im Laufe einer Biographie offenbar werdenden Risikobereitschaften können nicht beliebige Zeit später als Bezugsgrößen im Rahmen der Risikoabschätzung herangezogen werden (vgl. z. B. »Jugendsünden«). Für die Risiko-Risiko-Vergleiche, die im Rahmen der rationalen Risikoabschätzung eine Rolle spielen, kann daher ein durch ein regionales Kommensurabilitätsprinzip beschränktes Konsistenzprinzip herangezogen werden. Das Konsistenzprinzip ist insbesondere auch auf den Fall anwendbar, daß wir von natürlichen Risiken ausgehen. Zwar mutet uns die Natur als solche kein Risiko zu, so daß der Vergleich nicht mit dem Akzeptanzverhalten eines Pseudoagenten namens »Natur« durchzuführen ist. Es liegt jedoch eine Risikoakzeptanz darin, daß Gruppen ein natürliches Risiko durch ihr entsprechendes Handeln hinnehmen, bzw. daß wir bestimmte natürliche Risiken durch unser Handeln (einschließlich Unterlassen) für diese Gruppen für akzeptabel halten. Z. B. halten wir, was für den Strahlenschutz relevant ist, für akzeptabel, daß Menschen in Oberfranken oder im Südschwarzwald (in Gegenden mit überdurchschnittlicher terrestrischer Strahlung) wohnen, indem wir keine Zwangsevakuierungen fordern oder Umzugskostenbeihilfe zusagen. Somit wird den Menschen in Oberfranken von sich selbst und den anderen zugemutet, dort zu wohnen. Also muß man sich auch eine entsprechende Risikozumutung gefallen lassen. Gegen die Konsistenzforderung wird gelegentlich eingewandt, sie zwinge zur Akzeptanz von Risiken, gerade weil man schon recht hohe Risiken hinnehmen müsse, und dies sei widersinnig. Diese Argumentation geht von einer Akkumulation von Risiken aus, wie wir sie zum Zwecke der Risikobilanzierung (etwa bei Sicherheitsstudien) durchführen. Beim Risikovergleich geht es jedoch um einen direkten Vergleich von Handlungsoptionen (der auch noch sinnvoll ist, wenn eine der Optionen bereits realisiert wurde). D.h., wir unterstellen nicht, daß das zur Debatte stehende Risiko zum bereits akzeptierten hinzuträte, sondern daß wir eine Alternativenwahl hätten. Bilanzbetrachtung und Optionenbetrachtung haben für ihre jeweiligen Zwecke durchaus ihren guten Sinn, sind jedoch genau zu unterscheiden. Das Prinzip der pragmatischen Konsistenz unterstellt, daß aus den Handlungen der Agenten konkludent ihre Risikobereitschaft entnommen werden kann. Für viele Fälle wird dies auch durchführbar sein.

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Allerdings sind Komplikationen denkbar, die durchaus ein erhebliches Realitätsgewicht haben. In vielen Fällen kann man nicht davon ausgehen, daß die Wahl einer Lebensform entsprechend den Entscheidungen des Betreffenden erfolgt ist. Neben sozialen Zwängen sind auch psychische Zwänge zu berücksichtigen. Ferner kann bezweifelt werden, ob bei bloß traditionsbestimmten Lebensformen in einem Sinne von »Entscheidung« gesprochen werden kann, so daß es angebracht ist, jemanden auf diese Wahl zu verpflichten. Schließlich kann jemand sich gerade im Moment einer radikalen Umkehr befinden, so daß frühere Handlungsoptionen keinen Rückschluß auf seine gegenwärtige Einschätzung zulassen. Diese Bedenken zeigen, daß auch die tatsächlichen Handlungen keine zuverlässige Basis für die faktischen Akzeptanzeinschätzungen darstellen. Allerdings ist lebensweltlich die Situation keineswegs selten, daß wir unsere Entscheidungen auf der Basis von Zustimmungen vornehmen, die real gar nicht geäußert worden sind. Es ist dabei an Formen von Delegation, Repräsentation und Antizipation von Zustimmungen zu denken, wie sie in den Bereichen der Erziehung, des ärztlichen und anwaltlichen Handelns ständig vorkommen. In solchen Fällen tritt an die Stelle des faktischen Diskurses mit den Betroffenen der fiktive Diskurs. Ein fiktiver Diskurs ist ein solcher, den wir uns vorstellen, wie wenn er mit den Betroffenen geführt werden würde, unterstellt, deren Handeln käme den Handlungen eines perfekten Individuums (das ist ein Individuum, das immer richtig informiert ist und immer richtig handelt) gleich. Zusätzlich spielen Indikatoren eine Rolle, die es erlauben, Optionen und Präferenzen der Betroffenen in Rechnung zu stellen. In einen fiktiven Diskurs kann somit als Äußerung eingehen, was nicht real gesagt ist, gleichwohl ein »beredtes Zeugnis« abgibt. Formen fiktiven Diskurses sind immer dann als Diskursform zu wählen, wenn nicht vorstellbar ist, daß mit allen von einer Handlung Betroffenen ein realer Diskurs zu führen ist. In solchen Fällen müssen wir uns die Argumente zurechtlegen, wie wir sie anführen müßten, wenn ein bestimmter Betroffener als Opponent aufträte. Dabei spielen neben den üblichen Argumentationsregeln das Rationalitätsprinzip für Risikovergleiche und das Prinzip der pragmatischen Konsistenz die entscheidende Rolle.

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1.3.4 Soziale Entscheidungsprozesse 39 Die Suche nach rationalen Entscheidungsverfahren umfaßt sowohl kognitiv-wissenschaftliche als auch institutionell-gesellschaftliche Prozeduren. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen kognitiven und sozialen Prozeduren ungenau, weil auch kognitive Verfahren in einem bestimmten Sinne soziale Verfahren sind. Dennoch ist unabweisbar, daß ein »ideal« entwickeltes Verfahren von seiner sozialen und institutionellen Implementierung zu unterscheiden ist; z. B. ist das Verfahren des Wurzelziehens etwas anderes als die unterrichtliche und schulrechtliche Inkraftsetzung dieses Verfahrens. Der Unterschied geht jedoch noch weiter: In vielen Fällen brauchen Gesellschaften rationale soziale Entscheidungsprozeduren, weil »ideale« Prozeduren (noch) nicht bekannt sind. In dem Maße, in dem kognitive Prozeduren nicht zur Verfügung stehen, steigt die Aufmerksamkeit für die sozialen Prozeduren. Diese Aufmerksamkeit verstärkt sich zum konfliktgeladenen Interesse, wenn die zur Debatte stehenden Fragen durch soziale Wertdifferenzen geprägt sind, so daß das Verfahrensergebnis wesentlich durch die Werteinstellung geprägt ist. »Bei kognitiver Unsicherheit und evaluativem Dissens werden Entscheidungen, überspitzt formuliert, eher aufgrund des Verfahrens, in dem sie zustande kamen, als aufgrund ihres Inhalts als angemessen empfunden«. 40 Spricht man von der »Angemessenheit« sozialer Prozeduren, dann unterstellt man, daß diese nicht als gleichwertig zu beurteilen sind. Insbesondere sind nicht alle sozialen Entscheidungsverfahren gleichwertig hinsichtlich ihrer »Rationalität«. Daher ist es eine unsachgemäße Vereinfachung, wenn in der Diskussion über Umweltstandards durchweg zwischen einem »wissenschaftlichen« (und damit »rationalen«) Entscheidungsanteil und einem »politischen« (also »irrationalen«) Entscheidungsanteil unterschieden wird. Es ist deshalb für eine wissenschaftliche Politikberatung unzulänglich, wenn sich Wissenschaftler auf die Darstellung der (natur-)wissenschaftlichen Fakten beschränken und die übrigen Fragen »der Politik« zuweisen. Vielmehr gehört die Beurteilung sozialer Entscheidungsprozeduren als mehr oder weniger »rational« zum Zuständigkeitsbereich wissenschaftlicher Fragestellungen

3 9 Der Abschnitt stützt sich weitgehend auf M a y n t z 1990. 4 0 M a y n t z 1990, 137 f unter Bezugnahme auf M a j o n e 1982.

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dazu. Daher ist für die Frage nach einer rationalen Normierung von Umweltstandards die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse unabdingbar. Dabei hat als Minimalbedingung rationaler sozialer Entscheidungsverfahren zu gelten, daß sie so organisiert sind, daß sich wissenschaftliche Einsichten durchsetzen können. Der Blick auf die tatsächlichen Prozeduren sozialer Entscheidungsfindung zeigt, daß es sich hier keineswegs um eine triviale Forderung handelt. Umweltstandards sind konventionelle Gebilde (mit wissenschaftlicher Basis); es kommt darauf an, die Konventionsbildung nach verallgemeinerbaren Regeln zu organisieren. (a) Die soziale Realität ist immer durch ein Ensemble von Konflikten und Konsensen ausgezeichnet. Die Konfliktsituation bildet dabei methodisch den (zu überwindenden) Ausgangspunkt (ohne daß dadurch ein pessimistisch interpretierter »Naturzustand« im Sinne einer anthropologischen Beschreibung unterstellt wird). Der Konflikt steht schon deswegen methodisch am Anfang, weil durch Umweltstandards Chancen und Risiken zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft relativ zu ihren subjektiven Präferenzen ungleich verteilt werden. Bereits die Definition der relevanten Umwelt, der schutzwürdigen Güter, der zu erreichenden Nutzen- und Schadensgrößen usw. belasten bzw. begünstigen die Mitglieder der Gesellschaft sehr unterschiedlich. Auch wenn z. B. für eine definierte Gruppe konsensuell festliegt, wo die Grenzen der Belastbarkeit (um eines bestimmten Nutzens willen) liegen, kann man nicht davon ausgehen, daß es sich hier um eine im Zeitablauf unveränderliche Größe handelt. Die faktische Akzeptanz ist in jeder Hinsicht eine wesentlich veränderbare Größe. Das Konfliktpotential verstärkt sich noch unter den Bedingungen kognitiver Unsicherheit, mit denen sich die Gesellschaft in vielen Bereichen, z. B. beim Strahlenschutz, noch unabsehbare Zeit wird auseinandersetzen müssen. Auch beim Strahlenschutz sind Aussagen über Dosis-Wirkungsbeziehungen abhängig von Grundannahmen, die z. B. das Verfahren der Extrapolation betreffen. 41 Auch wenn die seriösen Experten sich hinsichtlich der hier notwendigen Annahmen einig sind (z. B. hinsichtlich des »Sicherheitsabstands« solcher Annahmen), wird dadurch nicht eine grundsätzliche Unsicherheit ausgeräumt. Z. B. 41 Zum Verfahren der Extrapolation vgl. Kapitel 2.2.7.

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könnte eine aus der sozialen Verantwortung des Wissenschaftlers heraus gerechtfertigte sehr »konservative« Randannahme relativ zu den »tatsächlichen« Dosis-Wirkungsbeziehungen Teilen der Bevölkerung unnötig große Kosten aufbürden. Kognitive Unsicherheit und evaluative Uneinigkeit führen zu zwei Forderungen für den öffentlichen Diskurs um Umweltstandards: Dieser muß erstens die Integration wissenschaftlicher Erkenntnis in diesen Diskurs ermöglichen, d. h., er muß frei sein von wissenschaftsresistenten Ideologien. Der öffentliche Diskurs muß zweitens die Pluralität evaluativer Einstellungen zu Wort kommen lassen (er muß ein hohes »Wertberücksichtigungspotential« (Mayntz) aufweisen), d. h., er muß möglichst frei von Dogmatismus sein. (b) Bei der Festsetzung von Umweltstandards sind zwei grundsätzliche Strategien der Handlungsorientierung zu unterscheiden: eine auf eine Zielvariable (wie »Leben« oder »Gesundheit«) bezogene Maximierungsstrategie und eine auf eine Pluralität von Zielgrößen bezogene Optimierungsstrategie. Die Maximierungsstrategie wird in der politischen Diskussion über Umweltstandards immer wieder vertreten; sie hat vor allem die Eindimensionalität der Bewertungsgesichtspunkte und damit eine direkte Operabilität für sich. Praktisch ist jedoch die Beschränkung auf eine Zielvariable nicht durchzuhalten. Der öffentliche Diskurs zeigt, daß die Mitglieder der Gesellschaft, auch die Anhänger von Maximierungsstrategien, unterschiedliche Zielvariablen formulieren. Ein sozialer Ausgleich zwischen diesen Divergenzen, der nicht lediglich in der machtmäßigen Durchsetzung einer Position liegt, läuft daher immer auf eine Abwägung zwischen den verschiedenen Zielvariablen, damit auf eine Optimierungsstrategie, hinaus. Zudem gilt, daß z. B. bei den Immissionsniveaus sehr unterschiedliche Zielzustände bei Menschen, Tieren, Pflanzen usw., bei diesen wiederum bei sensiblen oder robusten Arten usw. zu unterscheiden sind. Will man wiederum nicht dogmatisch einen Zielzustand festlegen, dann sind die Zielzustände nach der Optimierungsstrategie zum Ausgleich zu bringen. Damit entsteht auch für die Festlegung von Umweltstandards das Problem jeder Optimierungsstrategie, nämlich die verschiedenen Effekte einer Ursache wertmäßig vergleichbar zu machen, so daß z. B. eine komparative Ordnung solcher Effekte herstellbar ist, die bestimmten formalen Eigenschaften, vor allem der Transitivität, genügt. Z. B. muß

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festgelegt werden, wie schwer die Ausrottung einer Pflanzenart im Vergleich zu bestimmten Gesundheitsschäden für Menschen (für wieviele und mit welcher Intensität) wiegt. Für dieses Problem der Multiattributivität gibt es keine Lösung, die derartige Festlegungen im Sinne objektiver Beschreibungen liefert. Statt dessen ist eine rationale Diskussion über diejenigen Umstände zu führen, unter denen eine Gesellschaft in breitem Einvernehmen leben will. Dabei sind eine Reihe von Entscheidungskriterien höherer Stufe hilfreich, wie z. B. die ökonomische Vertretbarkeit, die Durchführbarkeit, die Akzeptabilität und die Flexibilität von Standards. Allerdings gibt es auch zwischen diesen formalen Entscheidungsgesichtspunkten unter Umständen Abwägungsprobleme. In vielen Fällen lassen sich diese allerdings durch Risiko-Risiko-Vergleiche lösen oder auf wenige Optionen reduzieren. Z. B. dürfte eine Schutzmaßnahme für eine Pflanzenart nicht mehr akzeptabel sein, wenn die Schutzmaßnahme Risiken hervorbringt, die noch mehr Arten gefährden. Derartige Überlegungen unterstellen allerdings, daß es möglich ist, unterschiedliche Zielvorgaben in eine Zieldimension zu projizieren. Wer eine solche Reduzierung von Dimensionen von vornherein ablehnt, muß auf rationale Entscheidungsverfahren zur Optimierung verzichten.42 (c) Bei der Institutionalisierung von Entscheidungsprozessen ist hinsichtlich der Entscheidungsirager (Parlamente, Ministerien, Expertengremien usw.) und der Entscheidungsfer/iz/?rew zu unterscheiden. Während die Frage des Entscheidungsträgers durch das Rechtssystem weitgehend vorgeprägt ist, läßt sich für die Charakterisierung eines Entscheidungsverfahrens ein breites Kontinuum konstruieren, dessen Extrempole durch hierarchisch-autoritäre und rein marktmäßige Prozesse gebildet werden. Die in der sozialen Realität vorfindbaren Verfahren lassen sich als Mischformen in dieses Kontinuum einbeschreiben. Dabei spielen idealtypisch drei Verfahren in den Industriestaaten eine besondere Rolle: Die wissenschaftliche Expertenberatung in Reinform besteht in einer ausschließlich unter Wissenschaftlern geführten Diskussion über den Stand der Information und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen. Aufgrund der in entscheidenden Fragen niemals auszuschließenden 4 2 F o r m a l sind diese Optimierungsfragen in Kapitel 5 . 4 weiter präzisiert.

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kognitiven Unsicherheit und der damit einfließenden außerwissenschaftlichen Annahmen ist dieses Verfahren jedoch unbefriedigend. Da die Expertenberatung aufgrund des hermetischen Charakters wissenschaftlicher Kommunikation auch dann praktisch hinter verschlossenen Türen stattfindet, wenn die Beratungen öffentlich sind, begegnet das Verfahren zwangsläufig Mißtrauen. Das »Wertberücksichtigungspotential« der Experten mag zwar groß sein, es ist jedoch für breite Teile der Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. Verhandlungsverfahren sehen einen Interessenausgleich auf dem Hintergrund divergierender Interessen vor. Das Modell dazu bilden etwa die Verhandlungen der Tarifvertragsparteien. Das Verfahren hat den Vorteil, divergierende Interessen explizit zur Grundlage des Verfahrens zu machen. In seiner Reinform ist das Verfahren jedoch ständig durch den Einwand angefochten, daß der Kompromiß vielleicht die Interessenvertreter befriedigt, aber nicht sachgerecht ist (»fauler Kompromiß«). In gerichtsähnlichen Verfahren steht über den Interessenparteien eine neutrale Instanz nach Art eines Richters, die darüber zu wachen hat, daß alle Argumente und Gegenargumente vorgetragen und behandelt werden. Im Unterschied zum Verhandlungsverfahren steht hier nicht der Kompromiß, sondern die Kontroverse im Vordergrund. Die Interessenparteien brauchen also selbst keine Rücksicht auf einen möglichen Verhandlungsausgleich zu nehmen. Allerdings unterliegt die Institution des Richters in extrem konfligierenden Situationen, wie sie bei Umweltstandards zunehmend gegeben sind, selbst dem Mißtrauen der Parteilichkeit. Die Abwägung von Argument und Gegenargument erfolgt nach Standards, die selbst nicht wertneutral gebildet werden können. Somit besteht die Gefahr, daß das Verfahren in immer höhere Metaebenen verlagert wird. Für real zu institutionalisierende Entscheidungsverfahren wird man sich auf dem Hintergrund der angedeuteten Stärken und Schwächen für eine Mischform entscheiden müssen, wie dies vor allem bei den in den USA etablierten Verfahren bereits vorzufinden ist. Diese Verfahren zeichnen sich durch ihre Publizität und ihren antagonistischen Charakter aus sowie durch die Legitimationspflicht der die Entscheidung tragenden Agentur. Dagegen finden Entscheidungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend hinter verschlossenen Türen statt; die Legitimationspflicht ist aufgrund des »dualen« Systems zwischen

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staatlichen und privaten Agenturen vielfach nicht leicht zu lokalisieren. Exemplarisch für diese duale Struktur ist z. B. die »halböffentliche« Position des DIN-Ausschusses. Hier handelt es sich um ein mehrstufiges Verfahren der Standardfindung, das von der Beratung in interessierten Fachgremien bis zur endgültigen Normsetzung reicht, die in bestimmten Fällen Eingang in Gesetze oder Verordnungen findet. Vielfach wird daher bezweifelt, ob das traditionell in der Bundesrepublik etablierte System ein ausreichendes, verfahrensmäßig gesichertes »Wertberücksichtigungspotential« aufweist. 4 3

Literatur Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M., Suhrkamp. Beck, U. (1988): Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt a.M., Suhrkamp. Birnbacher, D. (1990): Gefährdet die moderne Reproduktionsmedizin die menschliche Würde?, in: Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, A. Leist (Hrsg.), Frankfurt a.M., Suhrkamp. Birnbacher, D., Koch, D. (1983): Zum Problem der Rationalität in der Akzeptanz technologischer Risiken, in: Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen. Beiträge des 12. Deutschen Kongresses für Philosophie in Innsbruck vom 29. September bis 3. Oktober 1981, G. Frey & H. Zeiger (Hrsg.), Innsbruck, Solaris, 4 8 7 - 4 9 8 . Deutscher Bundestag (Hrsg.) (1988): Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz, in: Zur Sache — Themen parlamentarischer Beratung 2/88, Speyer, Klambt-Druck GmbH, 19 ff. Gehlen, A. (1940): Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 13. Aufl. 1986, Wiesbaden, AULA. Gethmann, C.F. (1982): Proto-Ethik. Zur formalen Pragmatik von Rechtfertigungsdiskursen, in: Bedürfnisse, Werte und Normen im Wandel, Bd. I, Grundlagen, Modelle, Perspektiven, H. Stachowiak &C Th. Ellwein (Hrsg.), Paderborn, Schöningh, 113 — 144. Gethmann, C.F. (1987): Ethische Aspekte des Handelns unter Risiko, VGB Kraftwerkstechnik 67, 1 1 3 0 - 1 1 3 5 . Gethmann, C.F. (1990a im Druck): Lebensweltliche Präsuppositionen praktischer Subjektivität. Zu einem Grundproblem der 'angewandten Ethik', in: 43 Auf der Grundlage dieser allgemeinen Maßgaben wird in Kapitel 6.3 ein Vorschlag zur Institutionalisierung des Verfahrens der Standardsetzung entwickelt.

Normative Implikationen

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Kapitel 2 Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen des Strahlenschutzes In diesem Kapitel werden die naturwissenschaftlich-medizinischen Grundlagen dargestellt, die die Basis der heutigen Strahlenschutzstandards bilden. Sie sind das Ergebnis jahrzehntelanger intensiver Forschung. Daher stellt das Beispiel Strahlenschutz bezüglich der Vollständigkeit und der Zuverlässigkeit solcher Grundlagen eher einen Grenzfall dar. Häufig wird es die umweltpolitische Praxis verlangen, Standards auf ein weniger solides Kenntnisfundament zu gründen. Gerade darum sollte man sich aber bei der Setzung von Umweltstandards die Strahlenschutzstandards als Modell zunutze machen. Selbst das sehr umfassende Wissen, das die naturwissenschaftliche Grundlage des Strahlenschutzes bildet, weist natürlich immer noch Lücken und Unsicherheiten auf, die durch Annahmen ausgefüllt werden müssen. Solche Annahmen dürfen nicht willkürlich sein, sondern müssen durch erfahrungsgestützte Analogiebetrachtungen plausibel gemacht werden. Im übrigen bleibt hier aber ein Beurteilungsspielraum, den man mehr oder weniger pessimistisch — man sagt auch mehr oder weniger konservativ — nutzen kann. Dieses Ermessen ist nur noch zum Teil ein naturwissenschaftliches, zum Teil ist es bereits ein politisches. Die Strahlenschutzstandards haben, ebenso wie die anderen Umweltstandards, den primären Zweck, Risiken zu begrenzen. Ein durch Umweltnoxen verursachtes Risiko wird immer durch zwei Parameter bestimmt: Exposition und Wirkung. Wenn keine nennenswerte Exposition zu erwarten ist, ist auch für die toxischste Noxe das Risiko gering. Bei Chemikalien spielt als einfachstes M a ß für die zu erwartende Exposition die Produktionsmenge eine wichtige Rolle. Das »Chemikaliengesetz« z. B. schreibt für Stoffe mit geringer Produktionsmenge weniger strenge Toxizitätsprüfungen vor als für solche mit höherer

74

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

(ChemG 1982). Ein weiteres Kriterium ist das »Anwendungsmuster«. Bei einem Nebenprodukt eines chemischen Prozesses z. B., das in die Atmosphäre emittiert wird, kann schon eine geringere Produktionsmenge zu erheblicherer Exposition führen als bei einem Stoff, der nur für eine gut kontrollierbare Anwendung hergestellt wird. Unter Emission versteht man die Freisetzung eines Stoffes an der Quelle. Quantitativ kann man die Emission z. B. als Menge pro Zeiteinheit oder als Konzentration in der Abluft einer Anlage angeben. Der Emission steht die Immission als deren Konsequenz gegenüber. Die Immission ist also das, was in der Umwelt bzw. dem relevanten Umweltkompartiment ankommt, z. B. die Konzentration in der Atemluft. Der Immissionswert ist also für die tatsächliche Exposition maßgeblich. Wenn eine nennenswerte Exposition zu erwarten ist, bedarf es zur Quantifizierung des Risikos der Kenntnis der Wirkung in Abhängigkeit von der Dosis (Dosis-Wirkungsbeziehung). Dosis ist ein aus der Pharmakologie stammender Begriff, der die applizierte Menge eines Stoffes beschreibt. Eine solche Risikoquantifizierung kann dann zusammen mit der Festlegung des gesellschaftlich akzeptablen Risikos Grundlage für die Festlegung eines Expositionsgrenzwertes (Dosisgrenzwert) sein. Häufiger allerdings liefert eine Wirkungsschwelle diese Grundlage. Solche Grenzwerte sind typische Beispiele für Umweltstandards. Ein Expositionsgrenzwert muß aber auch handhabbar sein, und dafür ist die hinreichend zuverlässige Bestimmbarkeit der Exposition, also die Dosimetrie, Voraussetzung. Man könnte daher die Wirkungsforschung auch als die kognitive und die Dosimetrie als die operative Komponente des Risikomanagements bezeichnen. In der umweltpolitischen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland gibt es derzeit keinen Umweltstandard, der auf der expliziten Festlegung eines akzeptablen Risikos für die allgemeine Bevölkerung beruht. Bei den Strahlenschutzgrenzwerten für die Bevölkerung, die in dieser Studie exemplarisch behandelt werden, brauchte man sich nicht an Risiken zu orientieren, sondern konnte die tatsächliche und unvermeidliche natürliche Strahlenexposition, genauer gesagt: ihre natürliche Streubreite, zugrunde legen. Da man aber das damit verbundene Risiko recht gut abschätzen kann, enthält diese Grenzwertfestlegung dann auch einen Hinweis auf die Größe eines als akzeptabel betrachteten Risikos (vgl. Kapitel 3.3).

Strahlenexposition

2.1

75

Strahlenexposition

2.1.1 Übersicht Die Möglichkeit, das Ausmaß einer Exposition, also die Dosis hinreichend zuverlässig und mit angemessenem technischen Aufwand zu ermitteln, ist Voraussetzung für die Einhaltung eines Grenzwertes. Unter einem angemessenen technischen Aufwand ist hier ein der Größe des exponierten Personenkreises angemessener Aufwand zu verstehen. Für die Messung einer Noxe, der nur Raumfahrer ausgesetzt sind, wäre auch eine verhältnismäßig komplizierte Technik akzeptabel. Dagegen hat die Messung von Radioaktivität heute einen technischen Standard erreicht, der eine dem Umfang des potentiell betroffenen Personenkreises entsprechend breite Anwendung durch geschultes Überwachungspersonal gestattet. Nach dem Unfall von Tschernobyl, als die Bevölkerung in der Bundesrepublik zum Teil extrem beunruhigt war und viele versuchten, ihre eigenen Messungen vorzunehmen, hat sich allerdings gezeigt, daß vor einer Anwendbarkeit durch Laien doch noch einmal eine technische Grenze liegt. Die Bestimmbarkeit der Exposition ist aber nicht nur Voraussetzung für die Handhabbarkeit von Grenzwerten, sondern auch für deren Festlegung, denn Expositionswerte gehen bereits in die Ermittlung der Dosis-Wirkungsbeziehung ein. Auch deren Zuverlässigkeit beruht also schon auf der Qualität der Dosisbestimmung und einer vernünftigen Dosisdefinition. Die Strahlenexposition der allgemeinen Bevölkerung (dieser Begriff dient der Abgrenzung gegenüber der kleineren Gruppe beruflich Exponierter) rührt aus ganz verschiedenen Quellen her. Üblicherweise unterteilt man sie in vier Komponenten, die sich hinsichtlich ihrer Quellen und damit hinsichtlich ihrer Beeinflußbarkeit unterscheiden. Die erste Komponente ist die unbeeinflußbare, regional sehr unterschiedliche Exposition aus natürlichen Quellen. Das sind als externe Strahlenquellen die kosmische und die terrestrische Strahlung sowie als interne die körpereigene Radioaktivität (vor allem Kalium-40). Diese Komponente macht im Mittel knapp 30% der durchschnittlichen Strahlenexposition in der Bundesrepublik aus. Die zweite Komponente ist die Exposition durch Radon in der Innenraumluft. Sie ist ebenfalls natürlichen Ursprungs (Baugrund, Baumaterial), kommt aber erst da-

76

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

durch, daß das Radon sich in der Luft geschlossener Räume ansammelt, d. h. also zivilisationsbedingt, zur Auswirkung. Auf diese Expositionskomponente, die je nach den Wohnverhältnissen eine besonders große Variationsbreite hat, entfallen im Mittel ebenfalls knapp 30% der Gesamtexposition. Die dritte Komponente ist die künstliche Strahlenexposition zu medizinischen Zwecken, die in der Bundesrepublik knapp 40% der durchschnittlichen Gesamtexposition ausmacht. Sie findet zum individuellen Nutzen des Patienten statt und unterliegt keinen Grenzwerten. Hier muß der Arzt Nutzen gegen Schaden abwägen, wozu er durch das Gebot sparsamer Anwendung angehalten wird. Die vierte Komponente schließlich, die künstliche Exposition infolge allen Gebrauchs, den der Mensch von der Kernspaltung und der Radioaktivität macht bzw. gemacht hat (außer zu medizinischen Zwecken am Patienten), ist diejenige, die durch die Strahlenschutzstandards begrenzt wird. Sie trägt im langjährigen Mittel knapp 2% zur durchschnittlichen Strahlenexposition der Bevölkerung bei. Die Kernkraftwerke in der Bundesrepublik sind daran mit wenigen zehntel Prozentpunkten beteiligt. Infolge des radioaktiven Niederschlages von Tschernobyl wird diese vierte Komponente künftig — gemittelt über die nächsten 50 Jahre — im Bundesdurchschnitt etwa 2,5 statt bisher 2,0% beitragen. (Im ersten Jahr nach der Katastrophe könnte der Beitrag des Fallouts zur Gesamtexposition allerdings viel größer sein und die Größenordnung der natürlichen Exposition erreichen.) Alle in dieser vierten Komponente zusammengefaßten Beiträge zur allgemeinen Strahlenexposition rühren vor allem von künstlich erzeugten radioaktiven Stoffen her (einschließlich Fallout von Atombombenversuchen), die in der Umwelt verteilt sind. Sie können zu externer Bestrahlung (z. B. vom Boden aus) und zu interner Bestrahlung (z. B. durch Inhalation oder durch Aufnahme mit der Nahrung) führen. Die Strahlenschutzstandards für die Bevölkerung dienen also der Begrenzung eines normalerweise sehr geringen Anteils an der Gesamtstrahlenexposition. Sie sollen vor allem ein stetiges Ansteigen der anthropogenen Umweltradioaktivität verhindern. In den beiden folgenden Abschnitten werden zunächst die verschiedenen Strahlenarten mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften beschrieben und dann die Dosisbegriffe und Dosiseinheiten erörtert, die für jede Art der Strahlenexposition anwendbar sind. Im vierten Abschnitt geht es um die quantitative Bestimmung der Strahlenexposition, also die Dosimetrie. Im fünften Abschnitt wird am Beispiel der internen

Strahlenexposition

77

Exposition durch radioaktives Jod gezeigt, wie eine Dosisberechnung abläuft. Dieser Abschnitt stellt höhere fachliche Anforderungen als die anderen. Er ist für das Verständnis der Gesamtdarstellung entbehrlich. Im letzten Abschnitt schließlich werden die verschiedenen Komponenten der allgemeinen Strahlenexposition bezüglich Qualität und Quantität näher erläutert. Die natürlichen Komponenten stellen als Basisexposition einen wichtigen Bezugspunkt für die Festsetzung von Standards für zusätzliche anthropogene Expositionen dar. In diesem Zusammenhang ist insbesondere ihre Schwankungsbreite von Bedeutung. 2.1.2 Strahlenarten Die Materie ist aus Atomen aufgebaut, deren Kern aus elektrisch positiv geladenen Protonen und neutralen Neutronen besteht und von einer Hülle aus negativ geladenen Elektronen umgeben ist. Die Zahl der Protonen, die gleich der der Elektronen ist, nennt man die Ordnungszahl. Sie bestimmt die chemische Natur einer Atomart und damit ihre Zuordnung zu einem chemischen Element. Es gibt in der Natur Elemente mit Ordnungszahlen zwischen 1 (Wasserstoff) und 92 (Uran). Elemente mit höherer Ordnungszahl, die Transuranelemente, zu denen das Plutonium gehört, sind künstliche Elemente. Die Summe von Protonen und Neutronen bestimmt das Atomgewicht. Bei gleicher Protonen- bzw. Ordnungszahl ist die Neutronenzahl und damit das Atomgewicht in gewissen Grenzen variabel. Man nennt Atomarten mit gleicher Ordnungszahl und verschiedenen Atomgewichten Isotope des betreffenden Elements. Nur in einem engen Atomgewichtsbereich sind die Isotope eines Elements stabil, darüber und darunter sind sie instabil. Da sie beim Zerfall energiereiche Strahlung emittieren, werden sie als radioaktiv bezeichnet. Die Geschwindigkeit des radioaktiven Zerfalls charakterisiert man durch die Halbwertszeit, also die Zeit, in der jeweils die Hälfte der gerade vorhandenen Atome zerfallen ist. Der Rest strahlt dann noch mit der halben Intensität. Der radioaktive Zerfall folgt also einem Exponentialgesetz (vgl. Abb. 2.1). Es gibt radioaktive Atomarten (Radionuklide) mit Halbwertszeiten zwischen Millisekunden und 100 Milliarden Jahren. Je länger die Halbwertszeit ist, um so länger strahlt eine gegebene Masse eines Radionuklids, aber um so schwächer strahlt sie auch. Es gibt eine große Zahl von Radionukliden. Nur ein kleiner Teil davon kommt in nennenswerter Menge in der Natur vor, der weitaus

78

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

Anzahl der Halbwertszeiten Abb. 2.1

Zeitlicher Verlauf des radioaktiven Zerfalls

größere kann nur künstlich erzeugt werden. Die meisten künstlichen Radionuklide sind Isotope von chemischen Elementen, deren natürliche Isotope inaktiv sind. N u r wenige Elemente haben natürliche radioaktive Isotope (z. B. Kalium-40). Einige kommen allerdings überhaupt nur radioaktiv vor (z. B. Uran). Beim radioaktiven Zerfall eines Atomkerns können — jedenfalls soweit es für den Strahlenschutz von Bedeutung ist — drei Arten von Strahlung entstehen: a.-, ß- und y-Strahlung. a - und ß-Strahlung bestehen aus Teilchen, y-Strahlung aus Photonen, d. h. Energiequanten, aTeilchen sind die Atomkerne des Heliums, d. h. sie sind aus je zwei Protonen und Neutronen zusammengesetzt, ß-Teilchen sind Elektronen. Die Abgabe eines a-Teilchens hat zur Folge, daß sich das Atomgewicht der zerfallenden Atomkerne um vier, die Ordnungszahl um zwei Einheiten vermindert. Das Produkt ist also ein Isotop eines leichteren Elements und kann seinerseits auch wieder radioaktiv sein. Die Abgabe eines ß-Teilchens führt zur Erhöhung der Ordnungszahl um eine Einheit (aus einem Neutron wird durch Verlust des emittierten Elektrons ein Proton). Es entsteht also ein - möglicherweise radioaktives - Isotop

Strahlenexposition

79

des nächsthöheren Elements. Die Emission eines Photons ändert nur den Energiezustand des Atomkerns. Ein weiteres Charakteristikum jedes radioaktiven Zerfalls ist die Energie der emittierten Teilchen bzw. Photonen, die meist in der Größenordnung 0,1 ... 10 MeV liegt. Daneben spielen im Strahlenschutz auch Strahlenarten eine Rolle, die nicht durch radioaktiven Zerfall entstehen. Das gilt vor allem für Röntgenstrahlen, die ebenso wie y-Strahlen aus Photonen bestehen, aber energieärmer sind. Sie entstehen durch Beschuß von Materie mit Elektronen, die im Hochspannungsfeld der Röntgenröhre beschleunigt werden. Schnelle Neutronen, wie sie vor allem bei der Kernspaltung entstehen, können beim Strahlenschutz beruflich Exponierter von Bedeutung sein, aber nicht für die Umwelt. a-, ß- und y- bzw. Röntgenstrahlen haben bezüglich des Strahlenschutzes sehr unterschiedliche Eigenschaften, a-Teilchen haben die höchsten Energien und geben diese beim Durchgang durch Materie auf einer kurzen Wegstrecke ab (hoher Linearer Energie Transfer - LET). Dies hat zur Folge, daß sie schon von sehr dünnen Materieschichten, z. B. einem Blatt Papier, vollständig absorbiert werden und daher von außen die inneren Organe des Körpers nicht erreichen. Sie führen also kaum zu externer Strahlenexposition. Werden a-Strahler dagegen in den Körper aufgenommen, so können sie eine besonders große Wirkung entfalten, weil a-Teilchen ihre Energie eben sehr konzentriert und damit sehr wirksam im Gewebe deponieren. Dementsprechend ist ihre biologische Wirksamkeit bei gleicher Energiedosis größer als die der anderen Strahlenarten. Dies wird später noch genauer zu erörtern sein. ß-Strahlung hat einen geringeren LET-Wert als a-Strahlung. Sie wird erst durch Materieschichten von einigen Millimetern Dicke vollständig abgeschirmt. y-Strahlung schließlich wird beim Durchgang durch Materie nie vollständig absorbiert, sondern nur geschwächt, und zwar um so mehr je dicker die Materieschicht ist. Um starke y-Strahlenquellen so abzuschirmen, daß sie praktisch keine Wirkung mehr haben, bedarf es daher unter Umständen meterdicker Wände. Diese hohe Durchdringungsfähigkeit von y-Strahlen hat natürlich auch zur Folge, daß die von einem inkorporierten1 y-Strahler emittierte Strahlung den Körper zum größten Teil wieder verläßt, ohne absorbiert zu werden, also auch ohne eine Wirkung auszuüben. 1

inkorporiert = in den Körper aufgenommen, z. B. mit der Nahrung.

80

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

Ordnungszahl

Symbol

Name

Halbwertszeit

Zerfallsart

Tritium

12,3a

ß (sehr weich)

Kohlenstoff

5736 a

ß

Na

Natrium

15,02 h

ß>Y

4,122

K

Kalium

1,28 x 109 a

ß•Y

0,161

1

3

6

14 Q

11 19

24

H

40

Energie der Y-Strahlung (MeV) -

-

27

60

Co

Cobalt

5,26 a

߻Y

2,505

36

85

Kr

Krypton

10,73 a

P-, Y

0,005

38

89

Sr Sr

Strontium

50,5 d 28,6 a

ß ß

Ruthenium

368,2 d

ß

Jod

1,57 x 107 a 8,04 d

ß»Y ß>Y

Cäsium Barium

30,17 a 2,5 m

ß Y

90

44 53

106

R u

129 | 131 |

r 55 L 56

137

Cs*>

137m

B a

-

-

< 0,001 0,383

0,662

58

144

Ce

Cer

284,2 d

P.Y

< 0,001

86

222

Rn

Radon

3,82 d

a, y

Eine häufig verwendete Einheit der Flußdichte ist c m ~ 2 s _ 1 . Mit der Expositionszeit multipliziert, erhält man dann die Teilchenfluenz

c/) =i

0,1

Abb. 2.10

1 10 Höhe über n.N. (km)

100

Höhenabhängigkeit der kosmischen Strahlung

die Höhenabhängigkeit der Dosis, die sich in 1.500 — 2.000 m Höhe etwa verdoppelt (Jacobi et al. 1981). Angemerkt sei, daß ein einziger Transatlantikflug (Frankfurt — New York in 12 km Höhe) eine zusätzliche Dosis von 0,03 - 0,04 mSv zur Folge hat, die Jahresdosis durch Höhenstrahlung also um 10% erhöht. Primordiale Radionuklide tragen auf verschiedene Weise zur natürlichen Strahlenexposition bei. Bei der externen Exposition betrifft das vor allem die terrestrische Strahlung. Dieser Beitrag geht auf den Uran-, Thorium- und Kaliumgehalt der Erdkruste zurück und ist in seiner Größe — abhängig von lokalen Konzentrationen - variabel. Bekannt wegen seiner extremen Werte ist Kerala in Indien, wo das Thoriummineral Monazit als Sand an der Erdoberfläche liegt. Auch in der Bundesrepublik gibt es deutliche Spitzen terrestrischer Exposition. Abb. 2.11 zeigt die geographische Verteilung der terrestrischen Orts-

x: x: x: sz x: x: JZ x: x: >

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Strahlenexposition

121

dosisleistung (gemessen im Freien) in den elf alten Ländern der Bundesrepublik. Man sieht, daß zwischen Orten minimaler (z. B. nördlich von Hannover) und solchen maximaler Dosisleistung (z. B. im Fichtelgebirge) etwa der Faktor 5 liegt. Im größten Teil des Landes bewegen sich die Werte aber zwischen 0,03 |iGy/h und 0,07 [iGy/h. Der Aufenthalt in Häusern bringt einerseits eine Abschirmung gegen die terrestrische Strahlung mit sich, zum anderen werden die Bewohner meist einer zusätzlichen äußeren Bestrahlung ausgesetzt, weil die Baustoffe mehr oder weniger reich an natürlichen radioaktiven Stoffen primordialen Ursprungs sind. In einem Haus aus Schlackensteinen oder Klinker führt das insgesamt zu einer Erhöhung der externen Exposition um rund die Hälfte, in einem Holzhaus zu einer Reduktion um einige Prozent. Abb. 2.12 zeigt die Häufigkeitsverteilung der gemessenen Werte für die jährliche Dosis infolge externer terrestrischer Exposition in der Bevölkerung der Bundesrepublik, und zwar einerseits im Freien und andererseits in Häusern. Die Mittelwerte der jährlichen effektiven Dosis betragen 0,35 bzw. 0,45 mSv. Aufgrund dieser Werte kann man insgesamt als mittlere Dosis für den Bundesbürger 0,4 mSv/a ansetzen. Man sieht aber auch, daß für immerhin 10% der Bevölkerung dieser Wert um mindestens 50% höher, nämlich bei > 0,6 mSv/a liegt, und für 10% um mindestens 50% niedriger, nämlich bei < 0,2 mSv/a. Die natürliche Exposition rührt aber nicht nur von externer Bestrahlung her, sondern hat auch eine interne Komponente, deren Ursache ebenfalls primordiale Radionuklide sind. Sie macht — ohne Radon und Folgeprodukte - 0,3 — 0,4 mSv/a aus, und ihre Verteilung hat eine gesamte Streubreite von mehr als 0,1 mSv. Hier ist die Streubreite also kleiner als bei der externen terrestrischen Komponente. Das liegt daran, daß mehr als die Hälfte der internen natürlichen Exposition auf das Konto von Kalium-40 geht. Kalium, das essentieller Bestandteil jeder tierischen oder pflanzlichen Zelle ist, enthält immer 0,012% des radioaktiven Isotops K-40. Der durch dieses Radionuklid verursachte Anteil an der natürlichen internen Exposition für die gesamte Bevölkerung ist daher auf ± 10% konstant. Der Anteil, der durch Uran und Thorium bedingt ist, unterliegt dagegen ähnlichen Variationen wie die externe terrestrische Exposition. Je nach Konzentration dieser Elemente in den betreffenden Böden werden unterschiedliche Mengen davon mit landwirtschaftlichen Produkten und mit Trinkwasser aufgenommen. Auch

122

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

10

0

20

0,02

30

10"2 m S v / a 40 50 60

70

80

0,04 0,06 0,08 Effektive Dosisleistung (nSv / h)

90

0,010

100

0,012

Abb. 2.12 Häufigkeitsverteilung der durch terrestrische y-Strahlung bedingten effektiven Dosis (Jacobi et al. 1981)

Strahlenexposition

123

hier können sich in Einzelfällen lokale Extremkonzentrationen sehr stark auf die Exposition auswirken. Eine weitere Ursache natürlicher interner Exposition ist der Gehalt an Radon und seinen Folgeprodukten in der Innenraumluft unserer Häuser. Radon ist ein Edelgas, während die Folgeprodukte Schwermetallisotope (Po, Pb, Bi) sind, die sich an Aerosolpartikel anlagern und in der Lunge niederschlagen. Als Problem ist diese Strahlenquelle erst seit etwa drei Jahrzehnten bewußt. Die verschiedenen Radonisotope (Rn-220 und Rn-222) entstehen beim radioaktiven Zerfall von Uran und Thorium, die sowohl in den Baumaterialien als auch im Untergrund der Häuser enthalten sind. Das Radon aus dem Untergrund gelangt durch Risse und andere Undichtigkeiten des Fußbodens in die Häuser. Beim Baumaterial spielt außer dem U- und Th-Gehalt auch dessen Porosität eine Rolle. Allgemein kann man sagen, daß an erster Stelle der Baugrund für die hohen Rn-Konzentrationen in vielen Häusern verantwortlich ist. Das Baumaterial trägt bis zu einem Drittel dazu bei. Bei über 6.000 Messungen in der Bundesrepublik hat man gefunden, daß 50% der untersuchten Häuser Rn-Konzentrationen über 50 Bq/m 3 aufweisen und 50% darunter. Abb. 2.13 zeigt die Häufigkeitsverteilung der gemessenen Rn-Konzentrationen in Häusern der Bundesrepublik. Die mittlere effektive Dosis durch Radon, die angesichts der extremen Variation der Innenraumkonzentrationen nur begrenzte Aussagekraft hat, beträgt 1 mSv. Die Strahlenschutzkommission hat in ihrer Empfehlung vom 30.6.1988 als Richtwert für die Obergrenze des Normalbereichs 250 Bq/m 3 genannt. Wenn der langfristige Mittelwert darüber liegt, sollten den Bewohnern Sanierungsmaßnahmen vorgeschlagen werden. Tab. 2.10 faßt die mittleren effektiven Jahresäquivalentdosen infolge aller natürlichen Strahlenquellen sowie deren Streuungen um den Mittelwert noch einmal zusammen. Die Schwankungen der Exposition durch Radon sind zu wenig bekannt, um quantitativ angegeben zu werden, jedoch kann man sicher sein, daß die Summe aller Beiträge um mindestens ± 0,3 mSv/a um den Mittelwert streut. 2.1.6.2 Künstliche Exposition Bei weitem den größten Anteil der künstlichen Exposition machen die medizinischen Anwendungen von Strahlung und radioaktiven Stoffen aus, vor allem zu diagnostischen Zwecken. Dabei handelt es sich

124

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

700 5972 Wohnungen März 1984 Wahrscheinlichster Wert 40 Bq / m 3

600 500 400 300

200 I

100

20

40

60

80 100 120 Radon Bq / m3;

T 140

160

180

200

Abb. 2.13 Häufigkeitsverteilung aller Messungen der Radonkonzentraiton in der Luft von Wohnungen

um eine ganz breite Anwendung, von der praktisch jeder Mensch im Laufe seines Lebens betroffen ist und bei der er nur durch ein Minimierungsgebot ohne Grenzwertfestsetzung geschützt ist. Die mittlere jährliche medizinisch bedingte Effektive Äquivalentdosis liegt im Bereich von 1—2 mSv. Mittlere Effektive Äquivalentdosen bei einigen typischen Anwendungen sind: Röntgenaufnahme der Lunge Mammographie (Organdosis: um 5 mSv) Computertomographie des Beckens

0,1 mSv 1,0 mSv 20 — 30 mSv

Bei den früher gebräuchlichen Funktionsuntersuchungen der Schilddrüse mit Jod-131 kam es bei Erwachsenen zu Schilddrüsendosen von 5 0 0 - 1 . 0 0 0 mSv, also bis zum l.OOOfachen des Grenzwertes der Strahlenschutzverordnung für die allgemeine Bevölkerung. Obwohl Untersuchungen mit solchen Expositionen heute kaum noch vorkommen, ist

Strahlenexposition

125

mSv pro Jahr

Schwankungsbreite (mSv)

Kosmische Strahlung

0,3

0,15

Terrestrische Strahlung: (hauptsächlich durch Kalium-40 und die Zerfallsprodukte der Uran-Radium- sowie der Thorium-Reihe)

0,4

0,35

0,3

mindestens 0,1

1

nicht angebbar aber sehr groß

2,0

mdst. 0,6 mSv

Inkorporation über Nahrung und Wasser: (U-, Th-Zerfallsprodukte, sowie Kalium-40) Inhalation von Radon-Folgeprodukten im Freien und in Häusern: (dieser Wert kann je nach Untergrund sowie den Lüftungsgewohnheiten extrem schwanken) Summe der natürlichen Exposition Tab. 2.10

Durchschnittswerte der natürlichen Strahlenexposition

das technische Potential für weitere Dosisverringerungen immer noch groß, insbesondere durch Eliminierung veralteten Geräts und Vermeidung suboptimaler Anwendung. Auch die finanziellen Aufwendungen für eine signifikante Expositionsminderung dürften hier maßvoller sein als bei vielen anderen Anstrengungen zur Risikominderung. Die mittlere Exposition der Bevölkerung aus allen anderen künstlichen Strahlenquellen liegt unter 0,05 mSv p r o Jahr. Davon entfällt ungefähr die Hälfte auf den Fallout der Kernwaffenversuche und weniger als 20% auf die N u t z u n g der Kernenergie. Durch den Unfall von Tschernobyl können jetzt in Gebieten, die besonders stark vom Fallout betroffen sind, 0,05 mSv pro Jahr hinzukommen, über das Gebiet der Bundesrepublik gemittelt aber sehr viel weniger. Der in der Bundesrepublik gültige Strahlenschutzgrenzwert für die allgemeine Bevölkerung von 0,3 mSv pro Jahr als effektive Dosis aus künstlichen nicht-medizinischen Strahlenquellen entspricht im Sinne der pragmatischen Konsistenz der unvermeidlichen Schwankungsbreite der

126

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

natürlichen Strahlenexposition. Näheres dazu ist in Kapitel 3.1 ausgeführt. Die viel niedrigere tatsächlich gemessene kerntechnikbedingte Strahlenexposition in Deutschland sowie der im internationalen Vergleich restriktive Grenzwert werden oft mit dem Bemerken kritisch kommentiert, daß beides — Faktum und Vorschrift — ja nur für den Normalfall und nicht für den Unfall gelte. Umweltstandards, soweit sie sich auf Emissionen aus technischen Anlagen beziehen, können nur für den bestimmungsgemäßen Betrieb solcher Anlagen gelten. Unter Störfall- bzw. Unfallbedingungen sind höhere Emissionen in aller Regel unvermeidbar und naturgemäß auch nicht oder nur sehr eingeschränkt steuerbar. Daher müssen Umweltstandards durch technische Standards ergänzt werden, die Störfälle hinreichend unwahrscheinlich machen bzw. die hinreichend sicherstellen, daß sie keine schwerwiegenden Auswirkungen auf die Umwelt haben. Ein wesentliches Element solcher technischen Standards ist ein Genehmigungsverfahren, in dem nachzuweisen ist, daß diese Ziele erreicht sind. Die Kerntechnik war wohl die erste Technik, auf die dieses Prinzip in sehr rigoroser Weise angewandt wurde. Grundlage des Genehmigungsverfahrens ist hier ein Sicherheitsbericht. Darin ist nachzuweisen, daß die zu genehmigende Anlage so ausgelegt ist, daß bei einem jeweils zu definierenden Auslegungsstörfall (früher GAU = Größter Anzunehmender Unfall genannt) keine gravierenden Auswirkungen auf die Umwelt zu erwarten sind. Der Expositionsgrenzwert von 0,3 mSv/a für die Bevölkerung kann für diesen Fall natürlich nicht beibehalten werden. Für solche Störfallsituationen gilt eine Dosis von insgesamt 50 mSv als tolerierbare Exposition, die nicht mehr als einmal im Leben vorkommen soll. Dieser Wert entspricht dem Jahresgrenzwert für beruflich Strahlenexponierte. Das Genehmigungsverfahren wird ergänzt durch eine Betriebsüberwachung, die ebenfalls der Genehmigungsbehörde obliegt. Die Kombination dieser beiden Einrichtungen stellt sicher, daß im bestimmungsgemäßen Betrieb keine kerntechnische Anlage Strahlenschutzstandards verletzt. Die Erfahrung zeigt, daß Kernkraftwerke in der Praxis weit darunter bleiben. Bei einer Wiederaufarbeitungsanlage käme man im Normalbetrieb näher an die Grenzwerte heran, aber dürfte sie selbstverständlich auch dort nicht überschreiten. Bei einem Endlager in geologischen Formationen des tiefen Untergrundes gibt es im Normal-

Strahlenexposition

127

betrieb weder in der Einlagerungs- noch in der Nachbetriebsphase überhaupt radioaktive Emissionen in die Umwelt. Niemals kann gänzlich ausgeschlossen werden, daß sich ein Unfall ereignet, der ein größeres Ausmaß hat als die Auslegungsstörfälle. Solche Unfälle werden hypothetische Unfälle genannt, weil sie extrem unwahrscheinlich sind. Da eine Anlage nicht darauf ausgelegt sein kann, solche Unfälle vollständig zu beherrschen, könnte ein solcher Fall zu unter Umständen gravierenden Umweltauswirkungen führen. Die Konsequenz wäre dann, daß geltende Strahlenschutzstandards nicht mehr eingehalten werden könnten. Unfälle mit katastrophalen Auswirkungen auf die Umwelt sind bei Wiederaufarbeitungsanlagen kaum und bei Endlägern in tiefen geologischen Formationen überhaupt nicht denkbar. Wenn bei einem derartigen Endlager störfallbedingt Emissionen aufträten, würde es extrem lange dauern, bis sie die Biosphäre erreichen. Die existierenden Sicherheitsanalysen zeigen, daß das frühestens nach einer Zeit in der Größenordnung von 1.000 Jahren der Fall wäre. Bei Kernkraftwerken, wo katastrophale Unfälle denkbar sind, wird sehr großer technischer Aufwand getrieben, um sie praktisch auszuschließen. O b man die sehr geringe Wahrscheinlichkeit solcher Unfälle in Kauf nehmen will, ist eine Frage der Abwägung gegen die Vorteile der Kernenergie, insbesondere den ihrer ausgeprägten Umweltverträglichkeit im normalen Betrieb. Hier verlassen wir aber das Feld der Umweltstandards und begeben uns auf das der technischen Risiken und ihrer Akzeptabilität. Dafür gibt es keine Standards; über sie wird vielmehr in den Genehmigungsverfahren oder durch Gesetzgebung entschieden. Wenn es zu einem Unfall mit Auswirkungen auf die Umwelt kommt, müssen gegebenenfalls Ad-hoc-Standards gesetzt werden, die es erlauben, mit der Situation zurechtzukommen. Das Beispiel, an das man hier denkt, ist der Reaktorunfall von Tschernobyl. Hier war es notwendig, Ad-hoc-Standards, z. B. für die zulässige Konzentration von Jod-131 in Milch, zu setzen. Solche Grenzwerte, die den Charakter von Eingreifwerten haben, wurden in vielen europäischen Ländern festgesetzt, und zwar in verschiedener Höhe. Im größten Teil der Bundesrepublik galt der von der Strahlenschutzkommission empfohlene Eingreifwert von 500 Bq/1. In Finnland und Schweden betrugen sie 2.000 Bq/1. Solche Eingreifwerte für Radioaktivitätskonzentrationen in Lebensmitteln leiten -sich rechnerisch aus einem Grenzwert der Exposition

128

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

und einem Durchschnittswert für den Verbrauch ab. Als Expositionsbegrenzung wurden hier Dosiswerte zugrunde gelegt, die zwischen dem allgemeinen Grenzwert für die Bevölkerung von 0,3 mSv/a und dem Störfallrichtwert von einmalig 50 mSv effektiver Dosis bzw. 150 mSv Schilddrüsendosis lagen. Die unterschiedliche Nutzung dieses Ermessensspielraums führte zu den verschiedenen MZK-Werten für Jod-131 in Milch. Bei der Festlegung von maximal zulässigen Radioaktivitätskonzentrationen für Lebensmittel in Unfallsituationen wird man immer zwischen verschiedenen Schutzzielen abzuwägen haben. Ein mit dem Strahlenschutz konkurrierendes Schutzziel wird hier in aller Regel die Sicherstellung der Ernährung sein, d. h. es müssen genügend Lebensmittel verfügbar gemacht werden können, die den Ad-hoc-Standards genügen. Ein anderes, wenn auch sicher geringerwertiges Schutzziel ist die Existenzsicherung für Erzeuger von Lebensmitteln. Die Notwendigkeit solcher Abwägungen macht es nicht sinnvoll, für Unfallsituationen vorsorglich Standards festzusetzen. Sie müssen sich immer an den tatsächlichen Gegebenheiten orientieren. 2.2 Biologische Wirkungen ionisierender Strahlen 2.2.1. Übersicht Für die Diskussion biologischer Wirkungen und Risiken nach der Exposition durch ionisierende Strahlen sind die folgenden vier Problemkreise zu betrachten: — Die Abtötung von Zellen, die, wenn es sich um besonders wichtige Zellen handelt, zur Schädigung von Geweben und schließlich zum Tod des Gesamtorganismus führt (2.2.3). — Die Induktion von Entwicklungsanomalien nach pränataler Strahlenexposition (2.2.4). — Die Induktion von vererbbaren Defekten (2.2.5.1). — Die Induktion von malignen Erkrankungen (Leukämie und solide Krebse) (2.2.5.2). Durch die Strahlenexpositionen können Zellen aller Gewebe, d. h. somatische Zellen und Keimzellen, betroffen sein. Im ersteren Falle

Biologische Wirkungen

129

kommt es bei einer Schädigung der Zellen zu somatischen8 Strahleneffekten, die bei dem exponierten Individuum selbst auftreten. Bei einer Exposition von Keimzellen können Veränderungen am genetischen Material einer Keimzelle hervorgerufen werden. Bleibt die generelle Funktionsfähigkeit einer solchen Zelle erhalten, so kann es zur Befruchtung unter Beteiligung der mutierten Keimzelle kommen. Es können dann erbliche Defekte bei den Nachkommen des exponierten Individuums auftreten. Für eine quantitative Abschätzung der Strahlenrisiken ist die Kenntnis der Dosis-Wirkungsbeziehungen notwendig. Man unterscheidet zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen von Dosis-Wirkungsbeziehungen, die in Abb. 2.14 dargestellt sind. Bei einem Typ muß eine Schwellendosis überschritten werden, bevor die beschriebenen Effekte induziert werden können. Nach Überschreiten dieser Schwellendosis nimmt die Zahl der betroffenen Personen, vor allem aber der Schweregrad des Effektes mit steigender Dosis zu (ICRP 1977). Dieser Typus von Strahlenwirkungen wird als nicht-stochastischer9 Strahleneffekt bezeichnet. Hier liegt ein multizellulärer Mechanismus vor, d. h., es müssen viele Zellen geschädigt werden, damit es zu einer Manifestierung der Effekte kommt. In diese Kategorie der Wirkungen fallen akute und späte Strahlenschäden der Gewebe und Organe (ausgenommen Leukämie und solide Krebse). Auch Entwicklungsanomalien gehören in diese Klasse. Die Schwellendosen liegen höher, oft viel höher, als die durch Umweltradioaktivität zu erwartenden Expositionen. Bei einem zweiten Typ von Strahlenwirkungen, den sogenannten stochastischen Effekten, nimmt nicht der Schweregrad, sondern die Wahrscheinlichkeit des Eintretens solcher Effekte mit steigender Strahlendosis zu. Ihr Auftreten unterliegt einer stochastischen Verteilung. Aufgrund von Überlegungen zum Mechanismus und von experimentellen Beobachtungen wird angenommen, daß es sich bei der Induktion dieser Effekte um unizelluläre Prozesse handelt, also um Prozesse, die von einer einzelnen geschädigten Zelle ihren Ausgang nehmen. Mangels experimenteller bzw. epidemiologischer Daten im unteren Dosisbereich 8

Der Ausdruck somatisch leitet sich von dem griechischen W o r t Sorna = K ö r p e r her. M a n unterscheidet z. B. zwischen somatischen Zellen und Keimzellen oder somatischen und genetischen Effekten.

9

Ein stochastisches Ereignis ist ein zufallsgesteuertes Ereignis.

130

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

gründet sich darauf die Annahme, daß keine Schwellendosis besteht und daß die Dosis-Wirkungsbeziehung im Bereich niedriger Dosen linear verläuft. Zu dieser Kategorie von Strahlenwirkungen zählt die Induktion von vererbbaren Defekten und von malignen Erkrankungen (Leukämie und solide Krebse).

Abb. 2 . 1 4 sition

Grundtypen von Dosis — Wirkungsbeziehungen der Strahlenexpo-

Bei den vererbbaren Defekten besteht kein Zweifel, daß nur eine Keimzelle geschädigt sein muß, um nach deren Beteiligung an einer erfolgreichen Befruchtung zu einer Mutation in der Folgegeneration zu führen. Auch bei der Induktion von Leukämie und solidem Krebs (maligne Erkrankungen) hat man aufgrund von Beobachtungen eines monoklonalen Tumorwachstums Anlaß zu der Annahme, daß die maligne Transformation von einer Zelle ausreichend ist, um eine maligne Erkrankung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu verursachen (UNSCEAR 1986). Vermehrtes Auftreten von malignen Erkrankungen ist beim Menschen mit Hilfe epidemiologischer Untersuchungen allerdings erst nach Strahlendosen im Bereich von einigen zehntel bis einem Sievert signifikant erhöht beobachtet worden. Eine statistisch signifikante Erhöhung genetischer Defekte durch Bestrahlung ist epidemiologisch bisher über-

Biologische Wirkungen

131

haupt noch nicht beobachtet worden, sondern nur experimentell am Tier. Da die strahlenbedingte Zunahme solcher Schäden bei niedrigen Dosen aber durch die statistischen Streubreiten der »spontanen« 10 Raten verdeckt sein kann, wird trotzdem angenommen, daß für die Induktion stochastischer Effekte keine Schwellendosis existiert. Diese Strahlenwirkungen haben daher für die Abschätzung des Strahlenrisikos im niedrigen Dosisbereich und damit auch für die hier zu diskutierenden Umweltstandards entscheidende Bedeutung. Die Abtötung von Säugerzellen findet erst nach Strahlenexpositionen im Dosisbereich von 0,5 bis 1,0 Sv und höher in einem solchen Umfang statt, daß es zu funktionellen Beeinträchtigungen in den Geweben und Organen kommt. Nach Ganzkörperbestrahlungen mit mehreren Sievert können kritische (entscheidend wichtige) Zellpopulationen so stark reduziert werden, daß akute klinische Symptome und schließlich der Tod des Menschen eintreten. Entwicklungsanomalien werden dagegen bereits bei kleineren Strahlendosen induziert. Tierexperimentelle Untersuchungen ergeben, daß Strahlendosen im Bereich von 0,1 Sv derartige Effekte hervorrufen können. 2.2.2 Grundlegende strahlenbiologische Phänomene 2.2.2.1 Prozesse der Radikalbildung und Ionisation Die Exposition biologischen Materials führt, wie bereits in 2.1 dargestellt, zur Energieabsorption, die Radikalbildung und Ionisationsereignisse in der bestrahlten Materie zur Folge hat. Diese Prozesse können in biologischen Makromolekülen (Nukleinsäuren, Proteinen) direkt ablaufen (direkte Strahlenwirkung). Es können aber auch durch Energieabsorption verursacht Radikalbildung und Ionisationen an Wassermolekülen in der Zelle auftreten, deren Produkte dann unter Umständen über Zwischenstufen mit den Biomolekülen reagieren und strahlenchemische Veränderungen hervorrufen (indirekte Strahlenwirkung). Die Ionisationsdichte wird bestimmt durch die Strahlenart und die Energie der Strahlung. Strahlenart und Strahlenenergie werden subsumiert unter dem Terminus Strahlenqualität (Kiefer 1981). 10 Unter »spontanen« Erkrankungen werden hier die Erkrankungen verstanden, die bei nicht zusätzlich strahlenexponierten Personen auftreten. Sie können neben endogenen auch andere exogene Ursachen haben, z. B. auch die natürliche Strahlenexposition.

132

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

Die mikroskopische räumliche Verteilung der Energieabsorption ist bei den verschiedenen Strahlenqualitäten sehr unterschiedlich. Die Energiedosis gibt nur den räumlichen Mittelwert der massebezogenen Energiedeposition an. Eine Bestrahlung mit locker ionisierenden Strahlen (Strahlen mit niedrigem LET, z. B. y-Strahlung von Kobalt-60) führt bei Exposition von Säugergeweben mit einer Dosis von 10 mGy dazu, daß in jedem Zellkern im Mittel die Energie von drei ionisierenden Teilchen bzw. y-Quanten absorbiert wird und mit einer Strahlendosis von etwa 3 mGy in jedem Zellkern im Mittel nur noch die von einem y-Quant bzw. ionisierenden Teilchen. Soweit erfolgt die Dosisverteilung also über alle Zellen relativ homogen. Bei einer weiteren Abnahme der Strahlendosis bleibt dann die absorbierte Energiemenge in jedem getroffenen Zellkern konstant, aber die Zahl der getroffenen Zellkerne nimmt proportional zur Strahlendosis ab. Bei dicht ionisierenden Strahlen liegt die Dosisgrenze, von der ab nicht mehr alle Zellkerne exponiert werden, dagegen höher. So werden bei einer Bestrahlung mit 14 MeV Neutronen bereits bei Dosen unterhalb von etwa 50 mGy nicht mehr alle Zellkerne getroffen. Bei einer Dosis von 5 mGy wird im Mittel nur in jedem zehnten Zellkern Energie deponiert, die Dosis in jedem dieser Kerne ist aber identisch. Kleine Strahlendosen führen also zu einer inhomogenen Dosisverteilung im Gewebe. Der Grad der Inhomogenität hängt von der Strahlenqualität ab. 2.2.2.2 Molekulare Veränderungen der DNA und ihre Reparatur Bei den hier zu betrachtenden Strahlenschäden sind strahlenbedingte, molekulare Veränderungen der Desoxyribonukleinsäure (DNA) an der Entwicklung der Schadenskette entscheidend beteiligt. Eine Beteiligung von Proteinen und Membranlipiden an der Schadensentwicklung ist nicht nachgewiesen, kann jedoch nicht ausgeschlossen werden. Molekularbiologische Untersuchungen haben ergeben, daß nach einer Bestrahlung von DNA vor allem Brüche der Polynukleotidketten — Einzelstrangbrüche und Doppelstrangbrüche — (von Sonntag 1987) und Schädigungen der Nukleotidbasen bzw. deren Verlust auftreten. Diese Schäden sind in Abbildung 2.15 schematisch dargestellt. Ein Doppelstrangbruch tritt dann ein, wenn beide Polynukleotidstränge aufgrund des Durchganges eines ionisierenden Partikels durch die DNA-Helix oder aufgrund voneinander unabhängiger strahlenchemischer Ereignisse unterbrochen werden und diese Prozesse so nahe bei-

Biologische Wirkungen

133

einander liegen, daß eine Dissoziation der gebrochenen DNA-Teile erfolgt. Eine größere Zahl solcher Veränderungen der DNA nach Bestrahlung, vor allem auch von Änderungen der Basen, ist auf molekularer Ebene charakterisiert (von Sonntag 1987). Unklar ist allerdings, welche dieser Schäden zu den biologisch relevanten Effekten (z. B. Zelltod, maligne Zelltransformation) führen. Messungen der DNA-Schäden haben ergeben, daß bei einer Bestrahlung von Säugerzellen mit locker ionisierenden Strahlen bei einer Dosis von 10 mSv im Genom einer Zelle etwa 20 DNA-Schäden verursacht werden (Altmann et al. 1970; Feinendegen 1977). Es überwiegen unter diesen Bedingungen Einzelstrangbrüche und Basenschäden, während der Anteil der Doppelstrangbrüche nach Einwirkung locker ionisierender Strahlen gering ist. Diese DNA-Schäden können zu strukturellen Veränderungen der Chromosomen (Chromosomenaberrationen) führen (Abb. 2.16). Derartige Chromosomenaberrationen treten bei einer Strahlendosis von 10 mSv in Säugerzellen mit einer Häufigkeit von 10" 2 bis 10" 3 pro Zelle auf. Der überwiegende Teil dieser Strahlenschäden wird durch sehr effiziente Reparatursysteme wieder beseitigt. Die Geschwindigkeit und Vollständigkeit der Reparatur hängt von der molekularen Art der DNAVeränderungen ab (Hanawalt et al. 1979; Generoso et al. 1980). Kinetische Untersuchungen haben ergeben, daß selbst bei Einzelstrangbrüchen molekulare Unterschiede zu verschieden schneller Reparatur dieser DNA-Schäden führen können. Bei diesen Versuchen werden drei Gruppen von Einzelstrangbrüchen mit entsprechenden Reparaturprozessen beobachtet (Dikomey & Franzke 1986). Der Bruch einer DNA-Polynukleotidkette kann an der Bindung zwischen einem Phosphatrest und der benachbarten Desoxyribose in der Weise eintreten, daß ein einziger enzymatischer Schritt (durch das Enzym Ligase) zur vollständigen Reparatur des Strahlenschadens führt. Die DNA-Polynukleotidkette kann durch Aufbrechen von Bindungen in einem Desoxyribosemolekül verändert werden. In diesem Falle werden mehrere enzymatische Schritte für die »Heilung« des Schadens benötigt: Es müssen zuerst die geschädigten Teile der DNA aus der Polynukleotidkette herausgelöst werden; sodann erfolgt aufgrund der Information im komplementären, ungeschädigten DNA-Strang ein Wiederaufbau der geschädigten DNA-Polynukleotidkette mit der ursprüng-

134

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

Schädigung einer Nukleotidbase Abb. 2.15

Strahlenschäden in der DNA

Biologische Wirkungen

135

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Abb. 2.16 Mitose (Metaphase) eines bestrahlten menschlichen Lymphocyten mit Chromosomenaberrationen (2 dizentrische Chromosomen und Chromosomenbrüche)

liehen Basensequenz. Schließlich wird durch das Enzym Ligase die DNA-Polynukleotidkette wieder geschlossen. In ähnlicher Weise werden strahlenbedingte Schäden an den D N A Basen repariert. Allerdings ist in diesem Falle nach der Erkennung des Strahlenschadens noch das Durchtrennen der Polynukleotidkette in der Nähe des Schadens notwendig, damit die Entfernung der veränderten DNA-Anteile erfolgen kann. Bei diesen sehr komplexen Reparaturprozessen können aber auch Fehler auftreten, es k o m m t zu »Misrepair«. Es können ferner Schäden von den Reparatursystemen nicht erkannt oder nicht rechtzeitig repa-

136

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

riert werden. Die Geschwindigkeit der Reparatur ist abhängig von der Art des Schadens. Die Reparaturprozesse und ihre Effizienz sind genetisch kontrolliert (Hanawalt et al. 1979; Generoso et al. 1980). Die detaillierten Mechanismen dieser Regulation bedürfen vor allem in Säugerzellen noch weiterer Klärung. Nach einer Exposition mit dicht ionisierenden Strahlen (Strahlen mit hohem LET; z. B. a-Strahlen, Neutronen) treten mehr Doppelstrangbrüche in der DNA auf als nach locker ionisierender Bestrahlung (Alper 1979; von Sonntag 1987). Ihre Reparatur ist weitaus schwieriger und langsamer als diejenige von Einzelstrangbrüchen, insbesondere dann, wenn sie durch dicht ionisierende Strahlung erzeugt wurden. Zelluläre Reparaturprozesse werden daher nach der Einwirkung dicht ionisierender Strahlen nur in eingeschränktem Maße wirksam. 2.2.2.3 Chromosomenaberrationen In den bestrahlten Zellen treten aufgrund der strahlenbedingten DNA-Schäden chromosomale Veränderungen (Chromosomenaberrationen) auf, die während der Zellteilung (Mitose) beobachtet werden (vgl. Abb. 2.16) und zum Zelltod führen. Die Zahl dieser Chromosomenaberrationen nimmt mit steigender Strahlendosis zu (Ishihara & Sasaki 1983). Die Dosis-Wirkungsbeziehung für verschiedene strukturelle Chromosomenaberrationen, z. B. Chromosomenbrüche, dizentrische Chromosomen und anderes, sind auch an menschlichen Zellen ermittelt worden. Die quantitative Bestimmung von Aberrationen in Lymphocyten kann daher zur Dosisabschätzung herangezogen werden. Bei Strahlenunfällen hat sich diese cytogenetische Methode als brauchbares Verfahren erwiesen, um Informationen über die Expositionshöhe der betroffenen Personen zu erhalten. Auf diese Weise können Ganzkörperdosen bis hinunter in den Bereich von 50 —100 mGy (mSv) abgeschätzt werden. Zellen mit derartigen Chromosomenschäden sterben ab. Gesundheitliche Schäden treten beim Ausfall einzelner Zellen nicht auf. 2.2.2.4 Zelltod Für die Abtötung von Säugerzellen nach einer Bestrahlung ist die Zellproliferation (Zellvermehrung bzw. Zellerneuerung) von entscheidender Bedeutung. Das Ausmaß der Zellproliferation ist in verschiedenen Geweben und Organen sehr unterschiedlich. So gibt es einerseits Gewebe und Organe mit sehr geringer (z. B. Nerven und Muskel) und

Biologische Wirkungen

137

andererseits Organe mit ständiger, starker Zellproliferation (z. B. Knochenmark und Dünndarm). Es hat sich gezeigt, daß stark proliferierende Zellsysteme im allgemeinen strahlenempfindlicher sind als weniger stark proliferierende. Die Zellproliferation ist andererseits bei differenzierten (spezialisierten) Zellen gering. Daher nimmt die Strahlenempfindlichkeit mit steigender Differenzierung der Zellen in einer Entwicklungsreihe ab, z. B. bei der Blutzell-Neubildung im Knochenmark oder bei der Reifung der Spermien (Alper 1979; Streffer & van Beuningen 1985). In der Regel durchlaufen die Zellen nach einer Bestrahlung noch den Zellgenerationszyklus, in dem sie sich gerade befinden, und die anschließende Zellteilung. Möglicherweise folgen sogar noch weitere Zellzyklen und Zellteilungen, bevor es zur vollständigen Expression des Strahlenschadens auf chromosomaler Ebene und schließlich zum Zelltod kommt. Man bezeichnet diese Art des Zelltodes daher als reproduktiven Zelltod (Hall 1978; Alper 1979). Im Dosisbereich bis zu einigen Sievert ist im allgemeinen nur mit diesem Mechanismus der Zellabtötung zu rechnen. Bei den nicht proliferierenden Lymphocyten und wenigen anderen Zelltypen z. B. Eizellen) gibt es nach Strahlenexpositionen im Bereich von 1 Sv jedoch einen anderen Mechanismus der Schadensentwicklung, bei dem die Zellen in demselben Zellgenerationszyklus absterben, in dem die Bestrahlung stattfindet, bevor weitere Teilungen eintreten können. Bei anderen Zellarten werden wesentlich höhere Strahlendosen benötigt, um diesen Typ von Zelltod hervorzurufen. Dieser Mechanismus wird als Interphasentod bezeichnet (Streffer & van Beuningen 1985). Die strahlenbedingte Zellabtötung kann bei proliferierenden Zellen in vitro mit Hilfe des Koloniebildungstestes gemessen werden. Trägt man die auf diese Weise ermittelten Überlebensraten der Zellen in einem Diagramm im logarithmischen Maßstab gegen die Strahlendosis im linearen Maßstab auf, so erhält man im allgemeinen für locker ionisierende Strahlen eine Dosis-Wirkungsbeziehung mit einer Krümmung im niedrigen Dosisbereich (Abb. 2.17, normale Fibroblasten). Im höheren Dosisbereich geht die Dosis-Wirkungsbeziehung bei diesem Auftragungsmodus annähernd in eine Gerade über. M a n bezeichnet diese Form der Dosis-Wirkungsbeziehung allgemein als Schulterkurve. Das Zellüberleben (S) wird in relativen Werten bezogen auf die Zahl der koloniebildenden Zellen vor der Bestrahlung angegeben. Diese

138

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

Kurve des Zellüberlebens (S) kann durch eine linear/quadratische Funktion der Dosis (D) beschrieben werden (Chadwick & Leenhouts 1981). S = exp — aD + ß D :

(2.12)

1,0

CD

7a k_ 0) cCD

_o ffl

0,1

k_

Cl)

-Q

O

0,01

Strahlendosis (Gy) • normale Fibroblasten

o A - T Fibroblasten (Verlust an Reparaturfähigkeit)

Abb. 2.17 Überlebensraten von Zellen nach y-Bestrahlung mit niedriger Dosisleistung (Patterson et al. 1984)

2.2.2.5 Intrazelluläre Erholung Es hat sich gezeigt, daß die Krümmung der Überlebenskurve für normale Fibroblasten im unteren Dosisbereich auf die intrazelluläre Erholung vom Strahlenschaden zurückzuführen ist (Elkind & Sutton

Biologische W i r k u n g e n

139

1960). Dieses bedeutet, daß im unteren Dosisbereich die Strahlenwirkung und damit die Zellabtötung durch die Erholungsvorgänge reduziert wird. Wenn auch nicht endgültig bewiesen, so gibt es doch viele Hinweise dafür, daß diese intrazellulären Erholungsvorgänge mit der Reparatur von Strahlenschäden in der DNA in engem Zusammenhang stehen (UNSCEAR 1982; Streffer & van Beuningen 1985). Es ist aber auch bekannt, daß es molekulare Strahlenschäden der DNA gibt, die nicht vollständig repariert werden. Viele experimentelle Daten sprechen dafür, daß es diese Schäden (z. B. Brüche beider Polynukleotidketten) sind, die zu Chromosomenaberrationen und schließlich zum Tod der Zellen führen. Es gibt jedoch Personen, bei denen aufgrund eines genetischen Defektes einzelne DNA-Reparatursysteme nicht mehr oder in geringerem Maße wirksam sind. Z u diesen genetisch bedingten Defekten zählen Erkrankungen wie Xeroderma pigmentosum und Ataxia telangiectasia. Bei der erstgenannten können durch ultraviolettes Licht (UV) erzeugte DNA-Schäden in den exponierten Zellen nicht oder nur teilweise repariert werden (Hanawalt et al. 1979). Solche UV-bedingten Veränderungen werden in den Zellen der Haut durch Sonnenlicht hervorgerufen und verursachen starke Ulcerationen. Bei der zweiten Erkrankung besteht eine sehr starke Reduktion der Reparatur von DNA-Schäden, die nach einer Gamma- oder Röntgenbestrahlung beobachtet werden. Damit ergibt sich bei diesen Personen eine erheblich höhere Strahlenempfindlichkeit als bei Normalpersonen. Die Dosis-Wirkungskurve verliert ihre Schulter und verläuft bei dem halblogarithmischen Auftragungsmodus auch im niedrigen Dosisbereich linear (Abb. 2.17, A-T-Fibroblasten) (Patterson et al. 1984; UNSCEAR 1986). Ataxia telangiectasia ist eine Erkrankung, die nur bei homozygoten Erbträgern auftritt, die in unserer Bevölkerung selten sind (1 : 40.000 bis 1 : 100.000). Für genetisch bestimmte Merkmale gibt es in jeder Zelle zwei Genorte, die auf homologen Chromosomen angeordnet sind. Sind diese Gene identisch, so bezeichnet man diesen Erbträger als homozygot. Bei unterschiedlichen Genen spricht man von heterozygoten Erbträgern. Neuere Untersuchungen ergeben, daß heterozygote Erbträger dieser Erkrankung ebenfalls eine höhere Strahlenempfindlichkeit haben als Normalpersonen — wenn auch in geringerem Maße als homozygote Erbträger. Heterozygote Erbträger werden in unserer Bevölkerung etwa in der Häufigkeit von 1 bis 2% gefunden (UNSCEAR

140

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

1986). Bei strahlentherapeutischen Behandlungen von homozygoten Personen sind gravierende, akute Schäden in verschiedenen Organen vor allem der Haut beobachtet worden, die diese gesteigerte Strahlenempfindlichkeit demonstrieren. Personen, die an Ataxia telangiectasia erkrankt sind, haben im übrigen eine erhöhte Rate an malignen Erkrankungen, leiden an Immundefizienz und zeigen häufig zentralnervöse Entwicklungsstörungen. Aufgrund der intrazellulären Erholungsprozesse führt eine fraktionierte Bestrahlung zu geringeren Strahlenwirkungen als eine kurzzeitige Bestrahlung, wenn man gleiche Gesamtdosen miteinander vergleicht. Dieser Fraktionierungseffekt ist für die Strahlentherapie maligner Erkrankungen von erheblicher Bedeutung. Derartige Erholungseffekte werden aber auch beobachtet, wenn man von einer akuten Bestrahlung mit hoher Dosisleistung zu einer chronischen Bestrahlung mit sehr niedriger Dosisleistung übergeht. Die Strahlenwirkungen für den Zelltod, aber auch für andere biologische Effekte wie Mißbildungen bei pränataler Bestrahlung und genetische Defekte, sind dann wesentlich geringer (Hall 1978). Die zeitliche Dosisverteilung spielt also offensichtlich für die Größe des Strahlenrisikos eine Rolle. Allgemein kann man also zwar davon ausgehen, daß eine Verlängerung der Bestrahlungszeit bei gleicher Gesamtdosis zu einer Reduktion der Strahlenwirkungen führt, in einigen experimentellen Systemen sind an Zellen in vitro allerdings auch umgekehrte Effekte beobachtet worden. Ferner hat sich gezeigt, daß bei der Induktion maligner Erkrankungen die zeitliche Dosisverteilung nur einen geringen Einfluß auf die Strahlenwirkung hat (UNSCEAR 1986). Außerdem treten ausgeprägte Erholungsphänomene und damit geringere Strahleneffekte bei chronischen Expositionen nur nach Einwirkung locker ionisierender Strahlen auf. 2.2.2.6 Relative Biologische Wirkung (RBW) Bei dicht ionisierenden Strahlen, wie Neutronen und Alphastrahlen, sind Erholungseffekte wie die DNA-Reparatur sehr stark reduziert bzw. nicht beobachtbar. Vergleicht man daher Dosis-Wirkungsbeziehungen für die Abtötung von Zellen nach Röntgen- und nach Neutronenbestrahlung, so stellt man fest, daß nach Neutronenbestrahlung die Schulter der Dosis-Wirkungskurve sehr stark vermindert und der exponentielle Teil steiler ist (Abb. 2.18). Bei gleicher Strahlendosis (Energiedosis)

Biologische Wirkungen

141

sind also dicht ionisierende Strahlen wesentlich wirksamer als locker ionisierende Strahlen (Alper 1979; UNSCEAR 1982; Streffer & van Beuningen 1985). Für die Bewertung von Strahlenrisiken ist es daher notwendig, nicht nur die Höhe der Energiedosis, sondern auch die Strahlenqualität zu kennen. Zur quantitativen Bewertung dieses Unterschiedes wird die sogenannte Relative Biologische Wirkung (RBW) bestimmt. Dazu wird die RBW einer locker ionisierenden Strahlenart, z. B. Röntgenstrahlen, als Referenzstrahlung gleich eins gesetzt und dann jeweils der Quotient von Strahlendosen ermittelt, die zu gleichen biologischen Effekten führen. RBW =

D DRef

(bei gleicher biologischer

Wirkung)

(2.13)

Es hat sich gezeigt, daß diese RBW-Werte von vielen Parametern, wie dem betrachteten biologischen Effekt (z. B. Zellabtötung, Induktion von Krebs usw.), dem untersuchten Zell- bzw. Gewebetyp, der Dosishöhe und anderem, abhängen (UNSCEAR 1982; UNSCEAR 1986). Daher können für die einzelnen Strahlenqualitäten keine allgemein gültigen RBW-Werte angegeben werden. Aus pragmatischen Gründen hat man zur Bewertung des Strahlenrisikos und für den Strahlenschutz Qualitätsfaktoren festgelegt, die von der Internationalen Strahlenschutzkommission empfohlen worden sind (ICRP 1977). Diese Qualitätsfaktoren orientieren sich an experimentellen Untersuchungen und klinischen Erfahrungen über die Höhe von RBW-Werten und entsprechen im allgemeinen dem oberen Bereich der ermittelten Werte. Sie betragen für Röntgen-, Gamma- und Betastrahlen definitionsgemäß 1 und sind für schnelle Neutronen und für Alphastrahlen auf 10 bzw. 20 festgelegt worden. Aufgrund tierexperimenteller Daten, vor allem der Induktion von Mammakarzinomen bei Ratten durch Röntgenstrahlen und Neutronen (Shellabarger et al. 1980), wird diskutiert, ob die Qualitätsfaktoren für Neutronen hinsichtlich der Induktion von Leukämie und Krebs erhöht werden müssen (UNSCEAR 1986). Durch Multiplikation der Energiedosis mit diesen Qualitätsfaktoren erhält man die Äquivalentdosis. Um eine Bewertung der Strahlenqualität in die Strahlendosis einzubeziehen, wird im Strahlenschutz allgemein die Äquivalentdosis verwendet (vgl. 2.1.3).

142

Naturwissenschaftlich-medizinische Grundlagen

1

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"D C 30-millirem-Konzept< liegen weit unterhalb der nach den Euratom-Grundnormen höchstzulässigen Dosen (vgl. Art. 11 der Richtlinie des Rates vom 01. Juni 1976 (76/579/Euratom, Abi. Nr. L 187/1), die ihrerseits auf den weltweit anerkannten Empfehlungen der Internationalen Kommission für Strahlenschutz (ICRP) beruhen; danach beträgt der Ganzkörperdosis-Grenzwert 500 millirem pro Jahr. Auch die Richtlinie des Rates v. 15.07.1980 (80/836/Euratom, Abi. Nr. L 246/1) behält die Einzeldosis von 500 millirem pro Jahr für die Ganzkörperexposition bei (Art. 12 Abs. 2), wobei es für den vorliegenden Rechtsstreit unerheblich ist, daß die Berechnungsweise geändert ist und nunmehr nach dem Konzept der effektiven Dosis< vorgenommen wird. Die Dosisgrenzwerte des § 45 StrlSchV liegen schließlich noch innerhalb der regionalen Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition (vgl. dazu die Angaben in der amtlichen Begründung zur StrlSchV, BRDrucks. 375/76, 12); sie werden in der Praxis aufgrund pessimistischer und damit zusätzliche Sicherheitsreserven enthaltender Annahmen berechnet. Die ihnen zugrundeliegende Hypothese einer linearen DosisWirkungsbeziehung kann schwerlich zu einer Überschätzung des mit ihnen verbundenen Risikos führen (vgl. Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission, Heft 26 (1978), 11; Rausch, Viertes Deutsches Atomrechts-Symposium (1976), 277 (281)); dieses Risiko ist kleiner als das mit der natürlichen Strahlenbelastung verbundene, dem jeder einzelne vom Beginn seines Lebens an unentrinnbar ausgesetzt ist, und um mehrere Größenordnungen geringer als andere Zivilisations- und Lebensrisiken (vgl. die Stellungnahme >Gefährdung durch Kernkraftwerke< des wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer in: Deutsches Ärzteblatt, 1975, 2821 (2824)). Es brauchte daher nach den Maßstäben praktischer Vernunft nicht mehr in Rechnung gestellt zu werden.« (BVerfGE, DÖV 1981, 295). Das in der StrlSchV enthaltene Strahlenminimierungsgebot für den Normalbetrieb stellt zusätzliche Anforderungen an Planung, Auslegung

Staatliche Bewertung

311

und Betrieb der Anlage. Als Ausprägung des Vorsorgedenkens, der das Gesamtbevölkerungsrisiko durch Strahlenbelastung einzubeziehen hat, führt dieses Strahlenminimierungsgebot in der Praxis des Genehmigungsverfahrens regelmäßig dazu, daß in der Genehmigung Abgaberaten für Abluft und Abwasser festgesetzt werden, die eine Immissionsbelastung durch den Normalbetrieb unterhalb der Dosisgrenzwerte der Strahlenschutzverordnung gewährleisten. Auf die Einhaltung dieses Strahlenminimierungsgebotes hat allerdings der einzelne keinen Anspruch; es vermittelt keinen einklagbaren Drittschutz. Im Vergleich zum Normalbetrieb der Anlage handelt es sich bei einem Störfall um einen Ereignisablauf, bei dessen Eintreten der Betrieb der Anlage aus sicherheitstechnischen Gründen nicht fortgeführt werden kann. Es geht um Ereignisse, die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik zwar unwahrscheinlich sind, die aber nicht praktisch ausgeschlossen werden können und für die die Anlage ausgelegt werden muß. Die Anlage ist deshalb nach § 28 Abs. 3 StrlSchV so auszulegen, daß es, wenn derartige Ereignisse auftreten, nicht zu unzulässigen Aktivitätsfreisetzungen kommen kann. Für derartige Störfälle müssen die sogenannten »Störfallgrenzwerte« nach § 28 Abs. 3 der StrlSchV (effektive Dosis 50 mSv) beachtet werden. Auch für Störfälle gilt und dies ist bei der Auslegung der Anlage zu beachten — das Gebot, die Strahlenexposition unterhalb derjenigen Dosisgrenzwerte so gering wie möglich zu halten, die durch die Strahlenschutzverordnung festgesetzt sind. Die hier erwähnten Dosisgrenzwerte betreffen den Schutz von Personen außerhalb der sogenannten betrieblichen und außerbetrieblichen Überwachungsbereiche. Für Personen, die sich innerhalb dieser Überwachungsbereiche aufhalten, setzt die StrlSchV andere Dosisgrenzwerte fest. Was die weitere Kategorie, den Unfall oder hypothetischen Störfall angeht, so ist entsprechend § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG zu fordern, daß die Anlage aufgrund der gesamten sicherheitstechnisch vielfach redundanten Systeme so beschaffen ist, daß der Eintritt eines solchen Ereignisses praktisch ausgeschlossen werden kann. Dabei ist der naturwissenschaftlich-deterministische Nachweis eines solchen Ausschlusses das anzustrebende Ziel; unterstützend ist aufgrund von probabilistischen Risikobetrachtungen, für die im Bereich der Reaktortechnik ein hoher Erfahrungsgrad bereits besteht, die Geringfügigkeit des Restrisikos zu belegen.

312

Bewertung des Risikos

Um die Frage, ob ein bestimmtes Ereignis tatsächlich nicht zu unzulässigen Aktivitätsfreisetzungen aus der Anlage führen könne, ob es sich also wirklich um einen nur »hypothetischen« Störfall handelt, geht es in erster Linie bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG erfüllt sind. Entscheidend ist die Frage nach dem Sicherheitsmaßstab: Wann ist noch Vorsorge erforderlich, wann beginnt das hinnehmbare Restrisiko? Seit der mehrfach erwähnten Kalkar-Entscheidung des BVerfG vom 8.8.1978 (E 40, 89) folgt die Rechtsprechung den folgenden Kriterien aus dem Beschluß: »Was die Schäden an Leben, Gesundheit und Sachgütern anbetrifft, so hat der Gesetzgeber durch die in § 1 Nr. 2 und in § 7 Abs. 2 AtG niedergelegten Grundsätze der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge einen Maßstab aufgerichtet, der Genehmigungen nur dann zuläßt, wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint, daß solche Schadensereignisse eintreten werden (vgl. dazu Breuer, DVB1. 1978, 829ff, 835f). Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursache in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen. Bei der gegenwärtigen Ausgestaltung des Atomrechts läßt sich insoweit eine Verletzung von Schutzpflichten durch den Gesetzgeber nicht feststellen.«

Daraus folgt: — Es gilt das Gebot der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge aufgrund von § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG. — Eine Gefahrenlage, bei der der Eintritt eines bestimmten Ereignisablaufs mit Schadensfolge hinreichend wahrscheinlich ist, darf jedenfalls nicht bestehen. Gegen sie muß durch entsprechende Maßnahmen Vorsorge getroffen werden, bis unter Berücksichtigung des Standes von Wissenschaft und Technik nach dem Maßstab praktischer Vernunft der Ereignisablauf mit Schadensfolge ausgeschlossen ist. — Ein absoluter Schadensausschluß wird auch im Bereich der Gefahrenabwehr nicht gefordert, doch ist zu beachten: Je größer der mögliche Schadensumfang ist, desto geringer muß die Eintrittswahrscheinlichkeit sein. — Risiken — also Schadenseintrittsmöglichkeiten —, die ihre Ursachen in den Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeit haben, sind

Organisatorische und strukturelle Faktoren

313

als sozialadäquat hinzunehmen; sie sind bei keiner Technologie auszuschließen und damit »unentrinnbar«. — Der Maßstab der praktischen Vernunft scheidet die Risiken mit Gefahrenqualität von den Risiken ohne Gefahrenqualität. — Im Bereich der Risiken ohne Gefahrenqualität — »unterhalb der Gefahrenschwelle« — sind weitere Vorsorgemaßnahmen zu treffen, nunmehr aber unter dem Vorbehalt technischer Realisierbarkeit sowie der Verhältnismäßigkeit von Aufwand und Nutzen. Zwar enthält § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG die Begriffe Gefahr und Risiko nicht; das Gesetz begnügt sich mit dem Begriff der erforderlichen Schadensvorsorge. Damit löst es sich aber nicht etwa, wie das BVerfG zutreffend herausarbeitet, von der üblichen rechtlichen Bewertung sicherheitstechnischer Phänomene; der Formel des Gesetzes immanent sind vielmehr der Gefahrenbegriff und der Begriff des Risikos, die abgestufte Anforderungen an die Anlage stellen. Mit dem so gestalteten Sicherheitsmaßstab schließt das BVerfG an jene Formel zum herkömmlichen sicherheitstechnischen Gefahrenbegriff an, die eine Beziehung zwischen Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit herstellt, wobei allerdings der Unterschied zwischen — strikter — Gefahrenabwehr und — unterhalb der Gefahrenschwelle liegender — Risikovorsorge neu ist: Je größer der mögliche Schaden ist, um so höhere Anforderungen sind an den Grad seiner Unwahrscheinlichkeit zu stellen. 4.4 Organisatorische Umweltstandards

und strukturelle

Faktoren bei der Setzung

von

Neben der psychologischen Wahrnehmung von Risiken, der gesellschaftlichen Bewertung von umweltrelevantem Verhalten und den gesetzlichen Bestimmungen spielt bei dem Zustandekommen von Umweltnormen auch die Organisationsstruktur der standardsetzenden oder implementierenden Verwaltung eine wichtige Rolle. In diesem Abschnitt geht es um eine Analyse der strukturellen Faktoren, die sich entweder notwendigerweise aus den Bedingungen einer arbeitsteiligen Verwaltung ergeben oder die sich in der konkreten Verwaltungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland entwickelt haben.

314

Bewertung des Risikos

Dabei wird die Form der Entscheidungsfindung, d. h., die Regeln, nach denen Entscheidungen in Organisationen getroffen werden, nicht im Vordergrund stehen (vgl. dazu die Kapitel 5 und 6). Ebenso bleibt die vielfach analysierte Schere zwischen Entscheidungen und Implementation ausgeklammert (Mayntz et al. 1978; Knoepfel 8c Weidner 1982). Es geht vielmehr um die Abhängigkeit zwischen Organisationsstruktur (Kompetenzverteilung, Arbeitsteilung, Karriere, Personalzusammensetzung etc.) und Standardsetzung unter unterschiedlichen externen Bedingungen. Da das Augenmerk des Kapitels 4 auf den Defiziten in der gesellschaftlichen Behandlung von Umweltrisiken liegt, sollen hier auch schwerpunktmäßig die Probleme bei der organisatorischen Umsetzung der Umweltpolitik behandelt werden. Vorab sollte aber deutlich werden, daß die in den Ministerien des Bundes und der Länder entwickelte und ausgeführte Umweltpolitik bereits weitgehend unseren Vorstellungen einer rationalen Vorgehensweise bei der Setzung von Umweltstandards entspricht. Organisationen sind soziale Institutionen, die eine zweckgebundene Funktion arbeitsteilig nach bestimmten Regeln ausführen (Scheuch & Kutsch 1972, 170; Hartfiel 1972, 488; Mayntz 1972, 14f). Organisationen sind durch fünf Merkmale gekennzeichnet (Mayntz 1972, 40ff; Luhmann 1981, 354ff): — durch eine Struktur von Zuständigkeiten und Kompetenzen (formale Hierarchie), — durch eine Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Einheiten, die der Organisation entweder Informationen bereitstellen oder deren Entscheidungen zu tragen haben (Wechselwirkung mit der Umgebung), — durch eine Aufgabenverteilung innerhalb der Organisation nach bestimmten Regeln und Routinen (Arbeitsteilung), — durch eine sequentielle Arbeitsaufteilung in verschiedene Teilschritte (Prozeß der Entscheidungsfindung), — durch einen Dualismus von aufgabenbezogenen und organisationserhaltenden Verhaltensweisen ihrer Mitglieder (Eigendynamik). Mit zunehmender Differenzierung gesellschaftlicher Arbeitsteilung und der Vergesellschaftung von sozialen Funktionen werden Organisationen notwendige Bestandteile einer gesellschaftlichen Ordnung (Weber 1973, 136). Die Komplexität der kollektiven Aufgabenerfüllung verlangt nach

Organisatorische und strukturelle Faktoren

315

kompetenter, zweckrationaler und Kontinuität wahrender Kooperation zwischen Individuen und sozialen Gruppen. Dies gilt vor allem für die Verwaltungen; dabei hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Schwerpunktsverlagerung von der Ordnungs- und Dienstleistungsfunktion auf eine politische Gestaltungsfunktion durchgesetzt (Mayntz 1973, 99). Gestaltung bedeutet aktives und nicht nur reaktives Handeln; Gestaltung ist zukunftsbezogen und komplex. So notwendig und unverzichtbar die Organisation von kollektiven Aufgaben in einer differenzierten Gesellschaft ist, so sehr sind mit der Wahl oder dem Wachsen von Organisationsstrukturen auch Nachteile für eine zweckrationale Erfüllung von Aufgaben verbunden. Diese Nachteile sind häufig an die spezielle Organisationsform gebunden. Allerdings lassen sich einige allgemeine Probleme von Organisationen, die mit kollektiven Aufgaben betraut sind, aufzeigen: (a) Arbeitsteilung und sequentielle Problembewältigung führen häufig zur Fragmentierung der Vorgehensweise und zur mangelnden Kooperation zwischen Arbeitseinheiten mit verwandten Aufgabenbereichen (Scharpf 1975, 85; Müller 1986, 6). Das klassische Beispiel dafür ist die systematische Verschiebung von Umweltbelastungen von einem Medium auf ein anderes (etwa von der Luft in das Wasser und von dort in feste Abfallstoffe). (b) Da nicht alle denkbaren Aufgabenbereiche abgedeckt werden können und eine Organisation immer zur Reduktion von Komplexität gezwungen ist (d. h., daß sie weniger komplex ist als das, was sie regelt), entstehen Lücken im System, die oft unentdeckt bleiben, bis eine aktuelle Krise auftritt (Luhmann 1981, 367). Lücken im System sind dann besonders problematisch, wenn Organisationen nicht flexibel genug sind, um auf veränderte Rahmenbedingungen oder externe Erwartungen mit strukturellen Anpassungen zu reagieren. (c) Durch die Routinisierung von Aufgaben und die Regelgebundenheit von Vorgehensweisen werden Interdependenzen von Aufgabenbereichen oft übersehen und Folgewirkungen von Interventionen nicht bedacht (Scharpf 1973b). Darüber hinaus kommt es häufig zu Innovationshemmungen oder Immobilität, wenn Karriere und ressortinternes Prestige an die Erfüllung der Regeln gebunden sind und eine externe Kontrolle der Entscheidungsfolgen entweder nicht stattfindet oder intern keinen Einfluß auf positive oder negative Sanktionen ausübt (Mayntz 1973).

316

Bewertung des Risikos

(d) Organisationen entwickeln eigene Interessen und Routinen, die über die von ihnen behandelten Aufgaben hinausgehen. Die meisten Organisationen streben nach mehr Autonomie, Eigenständigkeit, Strukturerhalt und Streuung der formalen Verantwortlichkeit für institutionelle Entscheidungen (Müller 1986, 477). Diese Eigeninteressen können mit den funktionalen Anforderungen kollidieren. Das Streben nach institutioneller Autonomie ist oft mit der Notwendigkeit der Koordination von Aufgaben mit anderen Institutionen unvereinbar. Die Streuung von Verantwortung führt häufig zu inkonsistenten und inkohärenten Problemlösungen, da sich niemand letztendlich für das gesamte Lösungspaket verantwortlich fühlt. Offenkundig gibt es weder die ideale Organisation, die diese und andere Probleme vermeidet, noch lassen sich Patentrezepte erstellen, um die strukturellen Probleme von Organisationen zu beheben. Dennoch gibt es grundsätzliche Vorschläge für Strukturinnovationen und Reformen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Effizienz und Transparenz von organisatorischen Entscheidungsabläufen zu verbessern (Mayntz & Scharpf 1973, 140ff). Dabei ist von zwei Leitgedanken auszugehen: Z u m einen muß in Organisationen hinreichend Kompetenz vorhanden sein, um für komplexe Probleme sachgerechte und kosteneffiziente Lösungen erarbeiten zu können; zum anderen müssen Organisationen gegenüber externen Veränderungen und neuen Anforderungen flexibel reagieren können (Luhmann 1970, 163f; Grottian & Murswieck 1974, 29). Im ersten Fall geht es um die Problemlösungskapazität, im zweiten um die prinzipielle Offenheit für neue Aufgaben. 4.4.1 Struktur der Ministerialverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland Ministerien sind politische Organisationen, die aufgrund gesetzlicher oder politischer Vorgaben Entscheidungen aktiv vorbereiten und politische Beschlüsse durchsetzen. Dabei entwickeln sie wie jede andere Großorganisation eine eigene Dynamik und bedingen zum Teil den Ausgang der gesellschaftlichen Konfliktaustragung um politische Prioritäten. Sie sind weder neutrale Sachverwalter und ausführende Organe von politischen Programmen, noch der verlängerte Arm von gesellschaftlichen Interessengruppen (Müller 1986, 12). Vielmehr kanalisieren sie gesellschaftliche Forderungen, passen politische Vorgaben an die

Organisatorische und strukturelle Faktoren

317

Routineoperationen an und sind durch eigene, aufgabenunabhängige Interessen gekennzeichnet (Weber 1973, 153ff). Welches sind die wichtigsten Kennzeichen der Ministerialstruktur in der Bundesrepublik Deutschland, und welche Stärken und Schwächen ergeben sich aus dieser Struktur? (a) Kongruenz von Aufgabenverteilung und Organisationsstruktur: Die tragende Einheit im organisatorischen Aufbau eines jeden Ministeriums ist das Referat: Die Referate sind die Arbeitsebene eines Ressorts. Jede zum Ressortbereich gehörende Aufgabe muß einem Referat zugewiesen sein (Müller 1986, 23ff). Daraus folgt, daß jede Arbeitseinheit nur die ihr obliegenden Aufgaben mit den ihr zur Verfügung stehenden Kapazitäten bearbeiten kann. Will sie die Aufgabenwahrnehmung anderer Arbeitseinheiten beeinflussen, kann sie dies nur über Mitwirkungsrechte verwirklichen, die sich aus dem sachlichen Zusammenhang der eigenen Aufgaben zu dem fremden Arbeitsbereich ableiten. (b) Hierarchische Gliederung der Zuständigkeiten: Auf der untersten Stufe stehen die Referate, die nach Sachthemen gegliedert sind und selbständig Initiativen in dem jeweiligen Sachthema anregen können. Gleichzeitig ist es ihre Aufgabe, auf politische Vorgaben, externen Druck oder Vorlagen von verwandten Referaten zu reagieren. Anregungen oder reaktive Stellungnahmen werden dann an die nächsthöhere Einheit, an die Unterabteilungen, weitergeleitet. In gemeinsamer Absprache zwischen Referat und Unterabteilung werden die Vorlagen überarbeitet und dann an die nächsthöhere Ebene der Hierarchie weitergegeben: zunächst an die Abteilungsleiter und schließlich an die Staatssekretäre, bzw. an den Minister (Mayntz 1973, 102). Diese formale Struktur der Zuständigkeiten wird in der Praxis jedoch durch informelle Kontakte und Koordinationsgespräche innerhalb und außerhalb des Ministeriums aufgeweicht und dadurch weniger rigide gehandhabt. (c) Interne Konsensorientierung: Das federführende Referat ist verpflichtet, alle nach dem Geschäftsverteilungsplan oder der Natur der Sache in Betracht kommende Stellen zu beteiligen (Müller 1986, 26ff). Diese Beteiligung erfolgt im wesentlichen in Form einer »Negativkoordination« (Wahl 1973, 144). Damit ist gemeint, daß andere beteiligte Ministerien eine Vorlage ablehnen können, aber nicht verpflichtet sind,

318

Bewertung des Risikos

einen neuen konstruktiven Vorschlag einzubringen oder daran mitzuarbeiten. Dies hat zur Folge, daß Vorlagen diejenigen Interessen benachteiligen werden, die keinen »Anwalt« in einem der beteiligten Referate haben, und daß die Reichweite von Programmvorschlägen meist verringert und »herunterkoordiniert« wird (Scharpf 1975, 86). (d) Parallele Konfliktlösung: Konflikte zwischen Ressorts werden zunächst auf der gleichen Ebene innerhalb der Hierarchie abgehandelt. Vorgesetzte werden nur dann einbezogen, wenn auf der parallelen Ebene keine Einigung erzielt werden kann. Im Notfall muß das Bundeskabinett entscheiden. Konflikte innerhalb eines Ressorts werden durch den jeweiligen Vorgesetzten geschlichtet (Müller 1986, 30). Außer in Sonderfällen besteht in diesem Fall keine Möglichkeit der »Berufung«. (e) Reflexive Aufgabenverteilung: Aufgabenbereiche von Referaten können sich in zweifacher Weise überschneiden. Zum einen gibt es Grundsatzreferate, die übergreifende Themen behandeln und auf Folgewirkungen in den verschiedenen Sachbereichen hinweisen. Zum anderen gibt es sogenannte Spiegelreferate, die sich aus der Sicht ihrer medialen Fachaufgaben mit den Aufgaben eines anderen Ressorts beschäftigen (Müller 1986, 17). Grundsatzreferate finden sich in allen Ministerien (zum Teil nach Oberthemen getrennt); Spiegelreferate sind tragende Elemente des Bundeskanzleramtes und des Bundesfinanzministeriums. (f) Antizipation von Klienteninteressen: Die jeweiligen Ressorts sind vom Leitgedanken des »Gemeinwohls« geprägt und identifizieren sich mit der Rolle des Anwalts für die durch ihren Aufgabenbereich betroffenen Bürger (etwa Unternehmen für das Wirtschaftsministerium oder Arbeitnehmer für das Arbeitsministerium). Obwohl externe Gruppen durch Hearings und andere Formen der Beteiligung direkten Einfluß ausüben können, verstehen sich die Referatsleiter weniger als Schlichter unterschiedlicher Interessengruppierungen (wie etwa beim »adversarial«-Stil in den USA), sondern eher als Verwalter von sozialen Problemen bzw. Aufgaben, die zum Wohle der durch diese Aufgaben betroffenen Klienten zweckrational angegangen werden sollen (Scharpf 1973a; Bauman & Renn 1989, 35). (g) Politisches Gewicht des Ressorts: Die Durchsetzung von administrativen Vorlagen hängt auch entscheidend von dem relativen Gewicht des Ressorts und der politischen Stellung des jeweiligen Ressortchefs

Organisatorische und strukturelle Faktoren

319

ab (Müller 1986, 23). Je stärker die interne Machtstellung des jeweiligen Ressorts, desto eher ist mit neuen Initiativen und innovativen Lösungsvorschlägen zu rechnen. So mag etwa die Ausgliederung der Umweltpolitik aus dem mächtigen Innenministerium in ein eigenes Ressort die politische Bedeutung der Umweltpolitik geschwächt haben. 3 3 Neben diesen allgemeinen Strukturmerkmalen der Ministerialbürokratie in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich auch einige mehr informelle, aus der Verwaltungspraxis hervorgegangene Verhaltensweisen identifizieren, die sich vor allem auf die Auswahl und Motivation des Personals beziehen. Bis auf die oberste Führung eines Ministeriums sind alle festen Mitarbeiter auf Lebenszeit eingestellt, — in Anlehnung an die traditionelle Beamtenrolle des sachverständigen Verwalters des Gemeinwohls. Dieses Idealbild des unabhängigen Sachverständigen kollidiert aber mit der herrschenden Einstellungspraxis, nach der neue Mitarbeiter häufig nur dann eingestellt werden, wenn sie der jeweiligen politischen Linie des Ministers (d. h. zumindest gleiche Parteizugehörigkeit) nahestehen (Müller 1986, 26ff). Dadurch ist es zu einer zunehmenden Politisierung der Ministerialbeamten gekommen. Dies kann zu drei negativen Konsequenzen führen: Die für Bürokratien typische Kontinuität der Aufgabenerfüllung wird unterbrochen oder zumindest gestört, die Energie zur strukturellen Reform wird durch diese politischen Anpassungen erschöpft und die zweckrationale Bearbeitung von Problemen wird leicht durch den politischen Lackmustest der Parteizugehörigkeit oder durch Opportunismus ersetzt. Als Gegentendenz zu dieser Politisierung haben die Ministerien durch interne Regelungen und Karrierewege Gegengewichte geschaffen. Während die Arbeitnehmervertretungen (Personalräte) Aufstiegschancen nach dem Anciennitätsprinzip vergeben wollen (und damit Beharrung und »Durchsitzen« fördern), sind viele Vorgesetzte in den Ressorts daran interessiert, diejenigen Mitarbeiter zu fördern, die in treuer Regelerfüllung und — ohne Risiken einzugehen — inkrementell ihren Aufgabenbereich wahrnehmen (Scharpf 1973a, 89; Mayntz 1982, 190; Müller 1986, 20ff). Solche oft als unverzichtbare Fachkräfte bezeichnete Beamte laufen weniger Gefahr, bei politischen Verschiebungen 33 Dazu allgemein: Mayntz & Scharpf 1973, 142f; speziell zur Umweltpolitik: Müller 1986, 535 ff.

320

Bewertung des Risikos

versetzt oder ignoriert zu werden. Werden aber Karrierechancen an eine inkrementelle Arbeitsweise gebunden, werden auch sinnvolle Neuerungen abgeblockt und eigene Initiativen abgewürgt. Problemignorierung oder Beharren auf traditionellen Routinen ist vor allem dann zu erwarten, wenn der Druck von außen groß ist und interne Solidarität zur Abwehr von externen Angriffen notwendig erscheint (Müller 1986, 468). Probleme, die innovative Problemlösungen erfordern, werden nur dann aufgegriffen, wenn der Referatsleiter sicher ist, daß er die volle Unterstützung seiner Vorgesetzten, vor allem des Ministers hat. Zweifelt er an einer solchen Unterstützung, dann wird er lieber auf eine Initiative verzichten oder eine an Routinen orientierte Problemlösung vorschlagen. Weiterreichende Problemlösungen können auch daran scheitern, daß andere Ressorts über Mitwirkungsrechte verfügen und ihre Einflußmöglichkeiten dazu nutzen, um den Vorschlag abzulehnen. Dies ist bei innovativen Vorschlägen um so eher zu erwarten, als sie meist mit größeren Risiken verbunden sind und oft noch unbekannte Auswirkungen auf andere Funktionsbereiche haben. Da das System vom Vetoprinzip beherrscht wird, nützt Unterstützung weniger, als Widerstand schadet (Scharpf 1973a, 178). Inkrementelle Vorgehensweise und eine Orientierung an Routinen haben jedoch auch positive Folgen. Da Politik, Presse und Öffentlichkeit meist auf Krisen reagieren und oft überzogene Anforderungen an selektive Problemlösungen stellen, gehen die für bestimmte Aufgaben zuständigen Referate systematischer und weniger emotionalisiert an Problemlösungen heran. Auf diese Weise können sie ihre relative Autonomie gegenüber der Tagespolitik behaupten. Dies hat z. B. in der Bundesrepublik Deutschland zu einer weitgehend flächendeckenden und umfassenden Umweltregulation geführt, während etwa in den USA die Environmental Protection Agency (EPA) aufgrund stärkerer Politisierung und der damit verbundenen Notwendigkeit zum Konfliktmanagement nur partielle Regulationserfolge aufzuweisen hat (Uppenbrink 1974). So können wirksame und flächendeckende Initiativen weitgehend in den Referaten (ohne öffentlichen Druck) konzipiert und in die gesellschaftliche Diskussion eingebracht wurden. Diese Problemdefinitionskapazität ist ein wesentlicher Machtfaktor der Bürokratie (Andritzky & Wahl-Terlinden 1978, 31; Müller 1986, 469f). Aus der routinemäßigen Bearbeitung von Problemen entstehen Vorlagen, die nach oder während der internen Konfliktaustragung den

Organisatorische und strukturelle Faktoren

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gesellschaftlichen Kräften vorgestellt werden. Diese externen Kräfte können dann nur noch reagieren und über öffentlichen Druck Änderungen durchsetzen. Dagegen sind bislang Initiativen von externen Gruppen, eigene Vorschläge in die Bürokratie einzubringen, meist gescheitert. Denn selbst bei hohem politischen Druck kann sich die Ministerialbürokratie der jeweiligen Aufgabenstellung erfolgreich verweigern. Die Macht der Problemdefinition auf der Referatsebene hat den Vorteil, daß unabhängig von der gerade als Krise apostrophierten Umweltbelastung Problemlösungen systematisch und konsistent erarbeitet werden können. Gleichzeitig ist damit aber der Nachteil verbunden, daß legitime Initiativen von außen regelmäßig abgeblockt werden, selbst wenn sie auf notwendige Korrekturen hinweisen. Die Abblockung von externen Anforderungen geschieht meist durch zwei strategische Kunstgriffe: Vertagung und Verpackung (Müller 1986, 470ff). Im ersten Fall wird das »heiße« Eisen in der Hoffnung auf den Dienstweg gebracht, daß das Thema schneller abkühlt als die Bearbeitung auf dem Dienstweg dauert. Dabei wird die extern geforderte Prioritätensetzung durch die Vergabe von zusätzlichen Forschungsmitteln und den Einsatz von zusätzlichem Personal signalisiert, ohne daß Änderungen im »Policy«-Bereich notwendig sind. Im zweiten Fall wird eine in Arbeit befindliche Vorlage so verpackt, daß sie als Antwort auf die gerade herrschende Umweltkrise erscheint. Anschauungsmaterial für diesen Fall liefert nahezu jede Antwort auf eine aktuelle parlamentarische Anfrage. Die Notwendigkeit der Abstimmung von Vorlagen über Ressortgrenzen hinweg verstärkt den Mechanismus der Abblockung externer Anforderungen sowie den Inkrementalismus bei der Wahl umweltpolitischer Maßnahmen (Mayntz & Scharpf 1973, 126). Dies wird vor allem dann der Fall sein, wenn es sich um Nullsummenspiele handelt, es also zwischen den Ressorts Gewinner und Verlierer geben wird (Müller 1986, 38). Die potentiellen Verlierer werden alles daran setzen, durch Negativkoordination, d. h. durch den Gebrauch ihres Vetorechtes, die Vorlage zu Fall zu bringen. Entweder muß die von einem Ressort vorgelegte Maßnahme so weit abgemildert werden, daß die Verluste des Nullsummenspiels gleichmäßig verteilt sind, oder die Vorlage wird über die zuständigen Vorgesetzten zur Konfliktsache erklärt, wobei es

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Bewertung des Risikos

dann von der jeweiligen Macht des Ressorts und den politischen Randbedingungen abhängt, welche Seite gewinnt. In der Regel werden Referate den Konfliktaustragungsweg vermeiden, es sei denn, sie sind ganz sicher, daß sie intern und extern politische Rückendeckung haben. Innovative und integrative Lösungen sind nur dann zu erwarten, wenn entweder durch Positivkoordination die Verteilungsmasse veränderbar ist und alle beteiligten Referate durch Kooperation dazugewinnen können oder aber der ressortinterne Integrationsmechanismus so gut ausgebaut ist (etwa durch Spiegelreferate in anderen Ressorts und Grundsatzreferate im eigenen Ressort), daß übergreifende Themen aufgegriffen und im Widerstreit pluralistischer Interessen integrative Lösungen ausgehandelt werden können (Mayntz & Scharpf 1973, 136). Empirisch hat sich gezeigt, daß solche Vorstöße an zwei Bedingungen gebunden sind: eine relativ starke Machtstellung des jeweiligen Ressorts gegenüber anderen Ressorts (unter Umständen direkte Rückendeckung vom Kanzler) und Kongruenz zwischen ressortinternen Zielen und externen Anforderungen (Müller 1986, 40). Diese Situation war z. B. in der ersten offensiven Phase der Umweltpolitik Anfang der 70er Jahre gegeben (Müller 1986, 465ff). 4.4.2 Die Einbindung der Umweltpolitik in die öffentliche Verwaltung Als Reaktion auf den Reaktorunfall in Tschernobyl hat die Bundesregierung 1986 beschlossen, die Bereiche Umwelt, Reaktorsicherheit und Naturschutz aus den verschiedenen, bis dahin zuständigen Ministerien auszugliedern und in ein neues Ministerium zu integrieren. Ob und inwieweit in diesem Ministerium neue Kooperationsstrukturen entwickelt wurden, ist bislang noch nicht systematisch untersucht worden. Die vorhandene Literatur zur Umweltpolitik bezieht sich daher auf die vor 1986 bestehende Lösung, bei der Umweltaufgaben auf verschiedene Ministerien unter der Federführung des Bundesinnenministeriums verteilt waren. Die neue Situation, die durch die Bildung des Umweltministeriums hervorgerufen wurde, dürfte sich jedoch nur geringfügig von der alten Struktur unterscheiden. Obwohl der Aufgabenbereich Naturschutz aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium in das neue Umweltministerium eingegliedert worden ist, verbleiben weitere wichtige Umweltaufgaben unter anderem im Verkehrsministerium, im Bundes-

Organisatorische und strukturelle Faktoren

323

ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit sowie im Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Aus diesem Grunde ist die seit 1986 veränderte Ministerialstruktur auch weiterhin dem grundsätzlichen Konzept einer Aufteilung von Umweltaufgaben auf verschiedene Ministerien unter der Federführung eines Ressorts verbunden. Auf den ersten Blick scheint eine Konzentration von Umweltaufgaben in einem Ministerium von Vorteil zu sein, weil die Möglichkeit der Negativkoordination beschnitten und die Wahrscheinlichkeit von Nullsummenspielen geringer ist. Dies ist aber nur bedingt der Fall: (a) Bei einer Aufteilung der Aufgaben über verschiedene Ministerien können häufig Bundesgenossen über Ministerialgrenzen hinweg gewonnen werden. Ein gemeinsames Auftreten hilft, Widerstand durch Dritte wirksam zu überwinden und den Konflikt für sich zu entscheiden (Müller 1986, 40ff). (b) Werden mehrere Ministerien einbezogen, bestehen mehr Möglichkeiten der »Berufung«, falls der Vorgesetzte in einem Ministerium die Vorlage abblocken will. Da alle Konflikte immer zunächst auf der parallelen Ebene zwischen den Ministerien ausgetragen werden, kann das Veto eines Vorgesetzten in einem Ressort durch die Unterstützung eines gleichrangigen Beamten in einem anderen Ministerium nicht voll wirksam werden, sondern erfordert eine Weiterleitung an die nächsthöhere Ebene in der Hierarchie (Müller 1986, 474 ff). (c) Der Verzicht auf eine Konzentration in einem Ressort hat Auswirkungen auf die ressortinterne Problemverarbeitung innerhalb des Ministeriums, das federführend die Umweltpolitik koordiniert. Die Auslagerung von Aufgaben in andere Ressorts befreit das federführende Ressort von der Notwendigkeit, die unterschiedlichen Interessen der übrigen Ressorts in den integrativen Prozeß antizipativ einzubringen, da dieser Balanceakt bereits von den ausgegliederten Referaten innerhalb der Fachreferate geleistet wird. Dadurch kommt es innerhalb des federführenden Ressorts eher zu einer »Umweltpolitik aus einem Guß« und zu einer Solidarität der dort arbeitenden Beamten, die sich in einer hohen internen Positivkoordination niederschlägt. Aus Sicht der übergeordneten politischen Zielsetzung haben Teilaufgaben in solchen Ressorts daher auch den Charakter eines Außenpostens und Kommissärs,

324

Bewertung des Risikos

der die Gesamtproblemlösung günstig beeinflussen kann. Dies gilt allerdings nur für Problem- und Aufgabenkonstellationen, die in sich die Möglichkeit für Nicht-Nullsummenspiele tragen (Müller 1986, 484ff). (d) Eine Aufteilung von Umweltaufgaben auf verschiedene Ressorts kann auch dann hilfreich sein, wenn das jeweils federführende Ressort innerhalb der Ministerialbürokratie einen schwachen politischen Stand hat oder aber im besonderem Maße unter externen Druck gerät. Unter diesen Umständen können die anderen Umweltreferate in den Fachressorts die Schwäche zumindest teilweise kompensieren und als Bundesgenossen im Kampf gegen externen Druck auftreten. Auch dies gilt im wesentlichen nur für Positivsummenspiele, da sonst die Fachministerien im Konflikt zwischen Umweltbelangen und ihren eigentlichen Fachbelangen letzteren den Vorzug geben werden. Somit bieten beide Optionen, die Konzentration aller Umweltaufgaben in einem Ressort und die Aufteilung der Aufgaben in verschiedene Fachressorts, Vor- und Nachteile. Für die Konzeption einer integrativen Umweltpolitik und die Lösung von Nullsummenspielen erweist sich die Konzentrationslösung als besser geeignet; für Querschnittsmaßnahmen, d. h. für die Bewertung fachressortspezifischer Maßnahmen nach ihrer Umweltverträglichkeit, ist das Ausgliederungskonzept besser geeignet (Müller 1986, 486). Ideal erweist sich eine Kombination beider Konzepte. 4.4.3 Externer Druck und Wirkungen auf die Außenwelt Die bisherige Analyse war weitgehend an den Wirkungen der Organisationsform auf die Aufgabenerfüllung bei der Umweltpolitik ausgerichtet. Organisationen sind aber keine autonomen Strukturen, sondern richten sich zum Teil nach externen Einflüssen und bedingen gleichzeitig Veränderungen im externen Umfeld. Dieses Umfeld läßt sich in zwei Komponenten zerlegen: die funktional vor- oder nachgeschalteten Institutionen und die im Kommunikationsprozeß auf die Organisationen Einfluß nehmenden Dritten. Im Bereich der deutschen Umweltpolitik sind vorgeschaltete Organisationen wenig bedeutsam. Während etwa in den USA die Legislative, die präsidiale Exekutive und soziale Interessengruppen häufig Problemdefinitionsmacht besitzen und diese in der Praxis auch weidlich nutzen, zeigt sich in der Bundesrepublik Deutschland, daß weder von der politischen Willensbildung noch von sozialen

Organisatorische u n d strukturelle Faktoren

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Interessengruppen Problemdefinitionen in die Ministerialverwaltung Eingang gefunden haben. Allenfalls die staatlichen Forschungseinrichtungen und halböffentlichen Verbände, wie die Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz (AGU) oder der Verband Deutscher Ingenieure (VDI), haben neue Probleme aufgegriffen und in die administrative Umweltpolitik eingebracht. Zwar versuchen Politiker und Interessengruppen Druck auf die Ressorts auszuüben, sich mit den jeweils aktuellen Problemdefinitionen in der Gesellschaft zu befassen, aber die Möglichkeit der Verweigerung und der oben beschriebenen Vertagungs- bzw. Verpackungsstrategie behindern den Erfolg eines solchen Versuchs der Einflußnahme. Probleme werden in den Referaten definiert, wobei sicher die Aktualität von Themen bei der Selektion eine wichtige indirekte Rolle spielt. Die Arbeitsaufteilung der einzelnen Referate sorgt aber dafür, daß auch nicht aktuelle Themen aufgegriffen werden. Je flächendeckender der Aufgabenbereich der einzelnen Referate, desto eher ist also eine umfassende Umweltpolitik zu erwarten. Auf der Outputseite sieht es dagegen ganz anders aus. Die Ausschüsse der Bundestages und des Bundesrates, die Arbeitsgemeinschaft der Umweltminister und deren Abteilungsleiterausschuß, die jeweiligen Landesministerien bis hin zu den regionalen Kontrollbehörden (etwa die Gewerbeaufsicht) haben die Möglichkeit, die Entscheidungen oder Empfehlungen des Ressorts zu verändern, bzw. die Freiheit, sie unterschiedlich auszulegen. Häufig werden Vorlagen bei der Beratung des »Umweltausschusses« im Bundestag oder Bundesrat zurückgewiesen oder modifiziert. Allerdings hat die Ministerialbürokratie auf die Vielfalt der Einflußmöglichkeiten externer Kräfte mit einer antizipativen Orientierungspolitik reagiert (Müller 1986, 26). Bevor Vorlagen den nachfolgenden Organisationen vorgelegt werden, wird im voraus geprüft, ob mit entsprechenden Widerständen gerechnet werden muß. So kommt es zu Modifikationen, bevor sie von externen Organisationen aufgezwungen werden. Ebenso wird versucht, durch detaillierte Vorschriften den Ermessensspielraum der regionalen Kontroll- und Implementationsbehörden einzuschränken. Auch hier ist der Vergleich zu den USA hilfreich: EPA ist Entscheidungs- und Durchführungsinstanz in einem. Einmal getroffene Entscheidungen von EPA können nur noch über den Gerichtsweg angefochten werden: weder die Legislative noch die Bundesstaaten,

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nicht einmal der Präsident haben dabei ein Mitspracherecht. Deshalb dauert es lange, bis EPA Entscheidungen trifft. Sind die Entscheidungen aber einmal getroffen, werden sie in relativ kurzer Zeit einheitlich und konsistent durchgeführt (es sei denn, sie werden gerichtlich angefochten). EPA verfügt über regionale Büros, deren Aufgabe es ist, die Umweltsituation lokal zu beobachten und die Durchsetzung der Umweltstandards laufend zu überprüfen. Dagegen können die Umweltbehörden in der Bundesrepublik schnell und wirksam auf aktuelle Probleme reagieren (wie etwa auf das Waldsterben); die Durchsetzung der getroffenen Maßnahmen kann jedoch oft durch langatmige und die Substanz verändernde Verhandlungen mit der Legislative und den nachfolgenden Funktionseinheiten verzögert oder verwässert werden. Analoges gilt auch für nicht funktional beteiligte Gruppen, die durch öffentlichen Druck und politische Einflußnahme am Entscheidungsprozeß indirekt beteiligt sind. Jedes Ressort fühlt sich einer bestimmten Klientel verpflichtet, ist aber gleichzeitig durch Mitwirkungsrechte der anderen Ressorts auf Kompromisse angewiesen. Gleichzeitig werden externe Anforderungen der Klienten durch die Filter der jeweils geltenden politischen Programme modifiziert und begrenzt (Mayntz & Scharpf 1973, 117). Mitwirkung und Kompatibilität mit der übergeordneten politischen Linie verursachen häufig eine Entfremdung zwischen Klienten und dem jeweiligen Ressort. Dies ist vor allem in der Umweltpolitik deutlich geworden: Waren zu Beginn der Umweltpolitik Administration und externe Umweltverbände Verbündete für eine umweltgerechte Politik, so zeigte sich vor allem in der defensiven Phase der 70er Jahre eine zunehmende Frontstellung zwischen Umweltadministration und Umweltverbänden. Dazu mag die eher positive Haltung des Innenministeriums zur Kernenergienutzung beigetragen haben; wahrscheinlich ist diese Entfremdung aber aus der notwendigen Koordinationspflicht zwischen den Ressorts zu erklären. In der Regel ist die Administration an einer Mitwirkung betroffener Gruppen an der Standardfindung interessiert, weil eine frühe Einbeziehung von Interessengruppen im Vorfeld gesellschaftlicher Konfliktaustragung unnötige Widerstände überwinden hilft. Diese Koordination verläuft in der Bundesrepublik Deutschland meist »hinter verschlossenen Türen«. Vorschläge für Umweltstandards werden den organisierten gesellschaftlichen Gruppen zur Stellungnahme vorgelegt. In Sondierungsgesprächen zwischen den Interessengruppen und den Vertretern

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der Umweltministerien (und den Fachleuten vom Umweltbundesamt) wird sukzessiv der Spielraum für Kompromisse ausgelotet (Bauman & Renn 1989, 31ff). Dabei dienen die Gespräche mit den Interessengruppen häufig als Mittel, um eine Negativkoordination mit den Ministerien, die die jeweiligen Interessengruppen als ihre Klienten ansehen, durch eine explizite Einbeziehung dieser Klienten zu überwinden. Dieses Verfahren des Aushandelns wird in den Politikwissenschaften als (neo-)korporatistischer Regulationsstil bezeichnet (Alemann & Heintze 1979; O'Riordan & Wynne 1987; Renn 1989c). Im Gegensatz zum amerikanischen »adversarial«-Stil, in dem unter den Augen der Öffentlichkeit Interessengegensätze in einer politischen Arena ausgetragen und ausgefochten werden, bietet der korporatistische Stil eine Reihe von Vorteilen, aber auch einige Probleme: (a) Der Ausschluß der Öffentlichkeit von diesen Verhandlungsgesprächen hat den Vorteil, daß Interessengruppen weniger auf ihr öffentliches Image achten müssen und eher faktischen Argumenten zugänglich sind. Vor allem kommt den an den Gesprächen beteiligten Wissenschaftlern eine wichtige Integrationsfunktion zu (Coppock 1985, 389f). (b) Die Routinearbeit der Referate wird nicht durch öffentlichen Druck unnötig belastet. Die verschiedenen Arbeitsgruppen können systematisch ihre Koordinierungsarbeit fortsetzen, selbst wenn das Thema längst aus der öffentlichen Diskussion verbannt ist (Mayntz & Scharpf 1973, 132). (c) Liegen klare Erkenntnisse einer Umweltbelastung vor, die keine Gruppe im Beisein von Fachleuten abstreiten kann, kommt es zu schnellen und effektiven Lösungen. Dies war etwa bei der Großfeuerungsanlagenverordnung der Fall, als sich die Waldschäden durch sauren Regen abzuzeichnen begannen (Knoepfel & Weidner 1982, 85f). (d) Das gleiche Beispiel der Standardfindung für Großfeuerungsanlagen weist aber auch auf einen wesentlichen Nachteil des korporatistischen Stils hin: die Möglichkeit von Interessengruppen, bei hoher Unsicherheit der Dosis-Wirkungsbeziehung und bei mangelndem politischen Druck Lösungen durch endlose Verhandlungsführung zu verschleppen (Müller 1986, 18). (e) Bei den Verhandlungen zwischen dem Umweltressort und den externen Interessengruppen bleiben die organisierten Umweltverbände

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meist ausgeschlossen (Bauman & Renn 1989, 33ff). Dieser zunächst paradox erscheinende Zustand erklärt sich durch die einfache Tatsache, daß diese Verbände von niemandem anderen innerhalb der Ministerien vertreten werden als vom Umweltressort selbst. Die Möglichkeit einer Negativkoordination durch die Beteiligung anderer Ministerien entfällt also für diese Gruppierungen. Darüber hinaus waren und sind die Umweltverbände nur bedingt bereit, die Spielregeln des korporatistischen Stils einzuhalten. Während Industrie, Gewerkschaften und andere Gruppen häufig davon profitieren, daß die Öffentlichkeit von den Verhandlungen ausgeschlossen bleibt, berauben sich die Umweltverbände ihrer wichtigsten politischen Ressource, nämlich der öffentlichen Unterstützung, wenn sie sich auf Verhandlungen »hinter verschlossenen Türen« einlassen (Rucht 1982, 289ff). (f) Der faktische Ausschluß der Umweltverbände von den Verhandlungen, die Verhandlungsführung hinter verschlossenen Türen und die Möglichkeit des Aussitzens von Verhandlungen bis zum Eintritt einer aktuellen Krise haben in der Öffentlichkeit zu dem Eindruck geführt, daß sich in der Umweltpolitik ohne politischen Druck nichts bewegt und daß die Ministerien in einer Mauschelpolitik mit den Interessengruppen allzu schnell bereit sind, Grundsätze des Umweltschutzes auf dem Altar der wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu opfern (Bohret 1982, 145; Fietkau et al. 1982). Verglichen mit der Umweltpolitik anderer Länder ist dieser Eindruck zumindest einseitig, wenn nicht sogar falsch. Ohne Zweifel bestehen Implementationsdefizite in der Umweltpolitik, und eine integrative medienumfassende Umweltgesetzgebung fehlt weitgehend. Dennoch kann die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich mit einer umfassenden und wirksamen Umweltpolitik aufwarten (Bauman & Renn 1989, 48ff; Coppock 1986, 25ff; Brickman & Ilgen 1982, 3ff). Der Eindruck mangelnder Initiative im Umweltschutz bei den staatlichen Behörden ist also weniger auf mangelnde Wirksamkeit der Umweltpolitik zurückzuführen als auf die Perzeption des Entscheidungsprozesses, in dem Intransparenz der Entscheidungsfindung, der Ausschluß vieler gesellschaftlicher Gruppen vom Prozeß der Problemdefinition sowie die Notwendigkeit von Kompromissen im Vorfeld der Entscheidungsfindung nahezu zwangsläufig den Eindruck nähren, die Umwelt sei das Stiefkind der öffentlichen Politik.

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4.4.4 Strukturelle Vorschläge für eine wirksamere Umweltpolitik Die organisatorische Struktur der Umweltpolitik ist ein integraler Bestandteil der administrativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland. Eine Änderung dieser Struktur ist deshalb nur insoweit möglich, als sie mit den Grundsätzen und gewachsenen Strukturen der politischen Verwaltungskultur in Einklang gebracht werden kann (Dunn & Swierczek 1977, 142ff; Scharpf 1975, 120ff). Alle Versuche, die administrative Struktur nachhaltig zu verändern, sind bislang erfolglos geblieben (Bohret 1982, 138ff). Dennoch lassen sich innerhalb der Bandbreite der zur Zeit bestehenden Ministerialstruktur Modifikationsmöglichkeiten identifizieren, die in Kongruenz mit der Verwaltungskultur stehen und gleichzeitig die oben diagnostizierten Mängel der Umweltpolitik beseitigen helfen. Zieht man die von Luhmann vorgeschlagenen Kriterien (Luhmann 1970, 163f) der Bewertung von Organisationen, nämlich nachgewiesene Kompetenz und prinzipielle Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen, zu Rate, dann schneidet die Umweltpolitik der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des ersten Kriteriums relativ gut ab, während sie hinsichtlich des zweitens Kriterium Defizite aufweist. Die wichtigsten Defizite sind: (a) Es mangelt an integrativer Umweltpolitik aufgrund der Aufsplitterung der Kompetenzen auf inhaltlich festgelegte Referate. (b) Es herrscht ein Mangel an kreativen und innovativen Vorschlägen aufgrund der Mitwirkungsrechte anderer Ressorts und der damit häufig einhergehenden Negativkoordination (Zustimmung nützt weniger, als Widerstand schadet). (c) Inkrementelle Vorgehensweise und Anpassung an interne Karrierekriterien, die häufig unabhängig von der umweltpolitischen Leistung stehen, werden durch interne Regeln begünstigt. (d) Umweltpolitische Ziele werden häufig durch organisationsinterne Ziele, wie etwa Machterhalt, positives Image in der Öffentlichkeit oder Vermeidung von übermäßiger Arbeitsbelastung, substituiert. (e) Durch die Strategien der Verpackung und Vertagung sowie durch andere Maßnahmen der Verweigerung können wichtige umweltpolitische Maßnahmen sabotiert oder verzögert werden.

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(f) Das Monopol der Problemdefinitionsmacht beschränkt die Mitwirkung anderer Organisationen und Interessengruppen an der Problemdefinitionsphase. Sie können entweder nur reagieren oder aber mit entsprechender öffentlicher Unterstützung Druck auf die politischen Mandatsträger ausüben. (g) Der korporatistische Stil der Mitwirkung externer Gruppen an der Entscheidungsfindung hat zwei gravierende Nachteile: zum einen können Entscheidungen bis zum Eintritt einer aktuellen Krise verzögert werden, zum anderen gewinnt die Öffentlichkeit den Eindruck, daß sich in der Umweltpolitik nichts bewegt. Da die ministerielle Umweltpolitik bezüglich des ersten Kriteriums der Effektivität relativ gut abschneidet, sollte eine Behebung der hier analysierten Mängel nicht die offensichtlich positiven Aspekte der Umweltpolitik, vor allem die relative Unabhängigkeit der laufenden umweltpolitischen Maßnahmen von aktuellen Umweltereignissen, gefährden. Unter der Voraussetzung, daß in Zukunft Umweltpolitik in immer stärkerem Maße Querschnittspolitik sein muß, also Maßnahmen der anderen Ressorts auf ihre Umweltverträglichkeit überprüfen muß, erscheinen Reformen sinnvoll und notwendig. Sie müssen jedoch mit der gewachsenen Organisationsstruktur in Einklang sein und die Effektivität der Umweltpolitik nicht in Frage stellen. In der einschlägigen Literatur sind folgende Verbesserungen des Systems vorgeschlagen worden: — Um Positivkoordination und Positivsummenlösungen zu verstärken, sollte in jedem Ministerium ein eigenes Umweltreferat verankert sein, das alle von dem jeweiligen Fachressort vorgeschlagenen Maßnahmen (die Einfluß auf die Umweltqualität ausüben können) auf ihre Umweltverträglichkeit hin überprüft (Müller 1986, 524ff). — Das Umweltminsterium sollte analog zum Finanzministerium diese in den Fachressorts ausgelagerten Referate durch entsprechende Spiegelreferate im eigenen Ressort begleiten und unterstützen. Die doppelte Belegung von Referat und Spiegelreferat bietet den Vorteil, daß innerhalb des Fachministeriums Nullsummenspiele vermieden, jedoch in Konfliktfällen die Unterstützung eines anderen Ministeriums ermöglicht wird (Müller 1986, 528ff). — Im Umweltressort sollte durch die Grundsatzreferate eine integrative Umweltpolitik vorangetrieben werden, die den Partikularismus bei

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der Setzung von Umweltstandards vermeiden hilft und die bislang übliche Verschiebung von Umweltbelastungen von einem Medium auf das andere verhindert. Vor allem gilt es, durch integrative Steuerung der einzelnen Arbeitsbereiche in den Referaten die Querschnittsfunktion der Umweltpolitik zu betonen und Interdependenzen zwischen fachspezifischer Programmentwicklung und deren Konsequenzen für die Umwelt zu identifizieren (Mayntz & Scharpf 1973, 135f). — Bei den Vorverhandlungen mit den Interessengruppen sollten die Umweltverbände nicht ausgeschlossen werden, auch wenn damit die Verhandlungen schwieriger werden und die Möglichkeit einer Negativkoordination mit den anderen Ressorts wahrscheinlicher wird (Mayntz & Scharpf 1973, 123). Langfristig wird ein solcher Ausschluß zu vermehrten Legitimationsdefiziten führen, die eine erfolgreiche Umweltpolitik paralysieren können. — Gesellschaftliche Gruppen sollten in einem geordneten Verfahren mehr Rechte bei der Problemdefinition erhalten. Zum einen gehen wichtige Informationen verloren, wenn die Problemdefinitionsmacht monopolisiert ist, zum anderen wächst auch hier der Legitimationsdruck auf die Administration. Schließlich bedeutet eine Beteiligung an der Problemdefinition auch eine Mitverantwortung an den Umweltfolgen. Auf diese Weise kann die Sündenbockfunktion der Politik wirksam zurückgenommen werden (Bauman & Renn 1989). — Die Aufgabenbereiche der nachfolgenden funktionalen Organisationen sollten so weit wie möglich gestrafft und die Aufgabenerfüllung inhaltlich verfolgt werden. Mit der Errichtung eines Umweltausschusses im Bundestag ist bereits der erste Schritt einer erfolgreichen Richtungskontrolle getan worden (Müller 1986). Auch die Koordination zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ist im Prinzip gegeben, bedarf aber noch der weiteren Intensivierung. Eine übergeordnete Instanz sollte eine laufende Bewertung der jeweiligen Umweltmaßnahmen von der Konzeption bis hin zur Ausführung vornehmen, um das Eintreten der intendierten Folgen zu verifizieren und die nicht intendierten Nebenfolgen zu identifizieren (Mayntz 1973, lOlff). Nur durch diesen Rückkopplungsmechanismus kann der Prozeß der Umweltpolitik als Querschnittsmaßnahme laufend verbesert werden.

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— Die Transparenz der Entscheidungsfindung muß verbessert werden. Der Verhandlungsstil sollte offener und öffentlicher werden, ohne in die Gefahr zu geraten, zu einem für die Öffentlichkeit bestimmten Schauspiel zu verkommen. Man könnte z. B. an den Verhandlungen ausgesuchte Vertreter der Öffentlichkeit teilnehmen lassen (Scharpf 1973b, 181) oder in einem der Presse zugänglichen Protokoll die Argumente und den darauf aufbauenden Entscheidungsprozeß offenlegen. Alle diese Vorschläge sind auf strukturelle Veränderungen innerhalb der Ministerialverwaltung angelegt. Analoge Vorstellungen lassen sich natürlich auch für die Länder bzw. Gemeinden entwickeln. Über die organisatorischen Veränderungen hinaus ist es aber auch notwendig, den Entscheidungsablauf innerhalb der Ministerialbürokratie kritisch zu durchleuchten. Vor allem die Notwendigkeit der Transparenz des Entscheidungsprozesses und der rationalen Begründung von politischen Maßnahmen machen einen an entscheidungsanalytischen Verfahren orientierten Entscheidungsfindungsprozeß notwendig.

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Kapitel 5 Formale Kriterien und Instrumente für den Entscheidungsprozeß Umweltstandards legen das kollektiv für zulässig gehaltene Risiko fest, das man unter Abwägung des Nutzens einzugehen bereit ist. Die Frage, nach welchen Vorgehensweisen und Kriterien das akzeptable Risiko gesellschaftlich verbindlich bestimmt werden kann, läßt sich, wie in Kapitel 1 dargelegt, nicht allein unter Rekurs auf naturwissenschaftliche Erkenntnis, z. B. solche über Dosis-Wirkungsbeziehungen ableiten (Mayntz 1990, 141). In diesem Kapitel geht es darum, rationale Bewertungsverfahren herauszuarbeiten sowie Instrumente zu entwickeln, die im gesellschaftlichen Entscheidungsprozeß wirksam werden können. Die Überlegungen sind an der Frage ausgerichtet, wie weit man die Grenze wissenschaftlichen Vorgehens angesichts der in Kapitel 4 beschriebenen gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse vorantreiben kann. Bei der Bestimmung von Kriterien ist man darauf angewiesen, die Zielvorstellungen, die durch einen Umweltstandard erreicht werden sollen, explizit zu machen sowie einen Abwägungsprozeß vorzugeben, der unter der Bedingung der pragmatischen Konsistenz eine systematische Bewertung von Kosten und Nutzen ermöglicht. Zu diesem Zweck sollte man drei Schritte unterscheiden (Hansmeyer 8c Rürup 1975, 93; National Academy of Sciences 1983, 196££; Hoerger 1987, 651): — die Festlegung von Zielen, die sowohl dem Schutz von Leben, Gesundheit und Umwelt dienen als auch eine rationale Allokation gesellschaftlicher Ressourcen ermöglichen (Abschnitt 5.1); — die Untersuchung der Auswirkungen, die sich als Folge der Implementation dieser Ziele einstellen können (Abschnitt 5.2); — die Abwägung von gesellschaftlichem Aufwand oder Schaden, wobei der Begriff des Schadens den entgangenen Nutzen, der bei der

346

Formale Kriterien und Instrumente

Verwirklichung dieser Ziele hingenommen werden muß, einschließt (Abschnitt 5.3). Rationalität bei der Festlegung von Umweltstandards erstreckt sich nicht auf die Ziele der Gesellschaft, sondern auf die Auswahl von Mitteln und Strategien, mit deren Hilfe die Ziele verwirklicht werden können (Schürmann 1978, 39ff). Daraus leiten sich Methoden für eine rationale Vorgehensweise ab. Bei der Bildung von Umweltstandards müssen im Sinne der genannten drei Schritte folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden: (a) Zur Erstellung eines Schutzwürdigkeitsprofils kann die wissenschaftliche Forschung auf neue, noch nicht erkannte Gefahren aufmerksam machen oder die möglichen Folgen einer neuen Technik oder anderer sozialer Aktivitäten ermitteln (Dalkey & Helmer 1963). Auf die Begrenztheit unseres methodischen Wissens zur Abschätzung solcher Folgen wird noch an späterer Stelle ausführlich eingegangen. (b) Die Festlegung von Maßnahmen zur Realisierung der Ziele und der Beurteilung ihrer möglichen Auswirkungen erfordert für den Entscheidungsträger zunächst eine möglichst vollständige Berücksichtigung der relevanten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, mit deren Hilfe er die Folgen für Gesundheit und Umwelt abschätzen kann. Darüber hinaus muß er die technischen Möglichkeiten und die Kosten für die Reduktion des Risikos kennen (Watson 1982; Hyman & Stiftel 1988, 64ff). (c) Beide Typen von Informationen sind notwendig, aber nicht hinreichend im Hinblick auf Entscheidungen; sie sagen noch nichts über den Standard aus, der als akzeptabel gelten kann. Die Akzeptabilität des Standards ergibt sich aus der relativen Wünschbarkeit der Zielvorgaben und der Abwägung zwischen Aufwand und Schaden bei der Zielerfüllung. In die Abwägung von Kosten und Nutzen geht auch die Verteilungswirkung auf unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft ein (Külp 1976, 84). Dafür gibt es rationale Modelle, mit deren Hilfe formale Kriterien der Konsistenz, Kohärenz und Adäquatheit in Geltung gesetzt werden (Keeney & Raiffa 1976, 50ff; Krewski & Birkwood 1987, 404ff). Wegen der prinzipiellen Bedeutung rationaler Entscheidungsverfahren für die Festlegung von Umweltstandards werden einige grundlegende

Gesellschaftliche Bildung v o n Zielen

347

methodische Realisierungen entscheidungstheoretischer Modelle in Abschnitt 5.4 etwas ausführlicher dargestellt. Die Ergebnisse dieser Modelle sind als »Beweismittel« im gesellschaftlichen Entscheidungsprozeß zu verstehen, ersetzen diesen jedoch nicht (Merkhofer 1984, 183ff; Fritzsche 1986, 506ff). 5.2 Die gesellschaftliche

Bildung von

Zielen

Der erste Schritt in der Ermittlung von Umweltstandards besteht in der Definition von Schutzzielen. In der Terminologie der Entscheidungsanalyse bezeichnen Schutzziele die Wegweiser, die dem Entscheider helfen, die Wünschbarkeit von Optionen relativ zueinander zu bestimmen (Keeney & Raiffa 1976, 33). Im Gegensatz zum alltäglichen Sprachgebrauch sind Ziele nicht als deterministische Grenze zwischen Erfülltsein und Nicht-Erfülltsein zu verstehen, sondern als nach oben und unten offene Meßlatte zur Bewertung von Optionen. Auf diese Weise können Optionen noch differenziert beurteilt werden, selbst wenn sie alle oberhalb oder unterhalb eines als Ziel definierten Schwellenwertes liegen. Zur Entdeckung und Strukturierung von Schutzzielen können die Wissenschaften einen wesentlichen Beitrag leisten. Das wichtigste Medium zur Bestimmung von Zielen ist das kodifizierte Recht (Fritzsche 1986, 87ff). Geht man davon aus, daß Gesetze den gesellschaftlichen Konsens der legalisierten Handlungsbeschränkungen und Handlungsangebote widerspiegeln, dann können sie als Grundlage zur Auffindung von Zielen dienen. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen sind dabei nicht das einzige Medium zur Bestimmung von Zielen; sie sind eingebettet in den politischen und sozialen Meinungsbildungsprozeß. Aus der Pluralität des gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozesses folgt, daß zumindest in demokratisch verfaßten Staatswesen alle Sektoren der gesellschaftlichen Willensbildung direkt oder repräsentativ an der Spezifizierung und Interpretation von Zielen beteiligt sind oder sein sollten (Fiorino 1989). Formale wissenschaftliche Verfahren können zur Strukturierung und Hierarchisierung der Zwecke beitragen. Vorteile einer Formalisierung bei der Zielaufstellung sind (Keeney et al. 1984, 30; Fritzsche 1986, 506):

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Formale Kriterien und Instrumente

— Kohärenzüberprüfung zwischen Zwecken und den Grundlagen politischer Institutionen (vor allem Staaten); — Kohärenzüberprüfungen zwischen den allgemeinen Schutzzielen und den zugeordneten Zwecken und Kriterien; — Vergleichbarkeit von Schutzzielmustern zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen. Naturwissenschaftliche Verfahren der Früherkennung und Folgenabschätzung helfen bei der Zielfindung, da die physischen Folgewirkungen häufig nicht evident sind. Darüber hinaus kann Wissenschaft auf neue mögliche Gefahren oder Folgen von »Nichtstun« bzw. neuen Aktivitäten hinweisen. Dies geschieht neben der Strukturierung und Systematisierung von Zielen durch Methoden der Früherkennung und Folgenabschätzung. Wissenschaftliche Folgenabschätzung und Risikoanalyse ersparen der Gesellschaft den oft schmerzensreichen Weg von Versuch und Irrtum (Häfele et al. 1990, 376f). Im ersten Schritt der Standardsetzung bedeutet Rationalität die Einbindung von wissenschaftlicher Folgenabschätzung in die Formulierung und Strukturierung von Zielvorgaben sowie eine gesicherte und verfahrensmäßig zuverlässige Überprüfung der Ziele und Kriterien, die durch die entsprechenden Standards angestrebt werden sollen. 5.2 Mögliche Zielen

Auswirkungen

von Maßnahmen

zur Erreichung

von

5.2.1 Grundlagen und Aussagekraft von Risikostudien Der zweite Schritt in der Bildung von Standards besteht in der Untersuchung der Auswirkungen von Zielen und Maßnahmen durch Risikostudien (Fischhoff et al. 1984, 123ff; Krewski & Birkwood 1987, 339ff). Diese setzen voraus, daß: — die Wirkungen der entsprechenden Substanzen und ihre Abhängigkeit von der Dosis bekannt sind; — der technische und finanzielle Aufwand zur Risikoreduktion abschätzbar ist; — die Verteilung von Risiken in ihrer Auswirkung auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, unterschiedliche Regionen oder zukünftige Generationen untersucht ist oder wird.

Auswirkungen von Maßnahmen

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Die Kenntnis der Dosis-Wirkungsbeziehungen, der Kosten der Risikoreduktion und der Verteilungsmuster der Betroffenheit kann im Prinzip durch wissenschaftliche Vorgehensweise intersubjektiv gültig gebildet werden (Morgan 1990, 22ff). Allerdings reicht, wie mehrfach festgestellt, dieses Wissen nicht aus, um den Standard tatsächlich festzulegen. Bei der Ermittlung von Risiken sind es vor allem die folgenden Gesichtspunkte, die bei der Interpretation der Resultate berücksichtigt werden müssen (National Academy of Sciences 1975; Rowe 1977, 23ff; Crouch & Wilson 1982, 20f; Fischhoff et al. 1984, 123ff; Schrader-Frechette 1985; Renn & Kais 1990, 67ff): — die Definition dessen, was als Schaden bezeichnet wird und was in die Ermittlung des Risikos eingeht; — die Aufstellung und gegebenenfalls Aggregation verschiedener Schadenskategorien (z. B. Krebserkrankungen, Entwicklungsanomalien, genetische Mutationen); — die Wahl des Sicherheitsgrades (Signifikanzniveau), von dem ab man Abweichungen vom Mittelwert als nicht mehr durch Zufall erklärbar ansieht; — die Wahl der methodischen Werkzeuge zur Ermittlung von Schadensausmaß und Ausfallwahrscheinlichkeiten (Fehlerbaumanalyse, Ereignisbaumanalyse, Zuverlässigkeitsanalyse usw.); — die Wahl des Wahrscheinlichkeitskonzeptes für objektive (statistische, logische) oder subjektive Wahrscheinlichkeit; — die Behandlung und Berechnung von Unsicherheit (statistische Vertrauensintervalle, Expertenschätzungen usw.); — die Wahl der Referenzgröße (etwa erwarteter Schaden pro Zeiteinheit oder pro gefahrenen Kilometer oder pro Einheit Bruttosozialprodukt usw.); — die Wahl zwischen Individualrisiko versus Kollektivrisiko; — die Verknüpfung von Wahrscheinlichkeiten und Schadensausmaß (in der Regel durch Multiplikation der beiden Elemente, wodurch eine Mittelung von Schaden über Zeit erfolgt). Die Notwendigkeit dieser Annahmen bei der Risikoerfassung hat in der Öffentlichkeit zu einer Konfusion über die Verläßlichkeit von Risikoanalysen geführt. Die Wahl bei derartigen Annahmen ist kein Willkürakt, bei dem Forscher je nach politischer Überzeugung oder

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Formale Kriterien und Instrumente

persönlichen Vorlieben den gegebenen Ermessensspielraum nutzen. Vielmehr ist diese Wahl einer rationalen Beurteilung zugänglich (Fritzsche 1986, 423). Dies kann an einem einfachen Beispiel illustriert werden. Eine der notwendigen Festlegungen im Rahmen von Risikoanalysen ist die Wahl der Referenzgröße (Merkhofer 1987, 595ff). Betrachten wir etwa den Personentransport mit Hilfe von Flugzeugen oder Personenkraftwagen, dann ist das Risiko in den USA, in einen tödlichen Unfall verwickelt zu werden, beim Pkw größer, wenn wir den Schaden auf die zurückgelegten Kilometer beziehen. Wenn wir den Schaden jedoch auf die Zeit beziehen, die wir in dem einen oder anderen Verkehrsmittel verbracht haben, dann ist das Fliegen risikoreicher (Evans et al. 1989). Je nach Wahl der Referenzgröße kommt man also zu einem anderen Ergebnis. Welche Referenzgröße ist nun die richtige? Das kommt auf den Kontext an. Im Normalfall geht es beim Transport um die Beförderung einer Person von A nach B, d. h., der Zweck der Reise ist es, eine bestimmte Distanz zu überwinden. Folglich macht hier nur der Referenzmaßstab »Unfallhäufigkeit pro Kilometer« Sinn. Wenn aber z. B. jemand eine Entscheidung trifft zwischen einem 40-Stunden-Job als Pilot oder Fernfahrer (ein realistischeres Beispiel: ein Versicherungsagent, der entweder einen ortsnahen oder ortsfernen Bezirk übernehmen kann, wobei in beiden Fällen die gleiche Fahrzeit im Pkw oder Flugzeug anfällt), dann ist beim Vergleich der beiden Berufsoptionen die Referenzgröße »Unfälle pro Zeiteinheit« angemessener. Es kommt also auf den Kontext (hier der Zweck des Vergleiches) an, wie man den Ermessensspielraum füllt. Die Entscheidung für eine Referenzgröße in unserem Beispiel läßt sich unabhängig davon treffen, ob man lieber fliegt oder Auto fährt. 1 Die Erkenntnis, daß Gesichtspunkte der genannten Art rational beurteilbar sind, ist für die Standardfindung von entscheidender Bedeutung. Gleichgültig ob man Kernkraftwerke mag oder nicht, die Kriterien bleiben die gleichen, nach denen rational entschieden werden kann, welche Gesichtspunkte zur Messung der Auswirkungen von Kernkraft1

Weitere Beispiele für die Bedeutung der Referenzgröße finden sich in Wilson & Crouch 1990.

Auswirkungen von Maßnahmen

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werken angemessen sind und welche nicht. Dabei mag sich herausstellen, daß unterschiedliche Annahmen gleich angemessen sind. Aufgrund dieser Überlegungen zum Stellenwert von Risikostudien als Hilfsmittel für die Untersuchung der möglichen Auswirkungen der Implementation von Zielen lassen sich — ohne Vollständigkeit zu beanspruchen — die folgenden Leitsätze zur Umsetzung von Risikostudien in den Regulationsprozeß formulieren (Renn & Kais 1990, 78ff): (a) Risikostudien lassen einen Ermessensspielraum für methodische Durchführung und wissenschaftliche Interpretation zu. Die Auswahl, welche Risikostudien der Standardsetzung zugrundegelegt werden, müssen nach der problemimmanenten Zielsetzung erfolgen. Im Gegensatz zu einem populären Vorurteil lassen sich solche intersubjektiven Kriterien aufgrund einer wissenschaftsintern geführten Diskussion bestimmen und operational anwenden, auch wenn die übliche Schwankungsbreite von wissenschaftlichen Aussagen bestehen bleibt (Hattis & Kennedey 1990, 161; Morgan 1990, Iii). (b) Wissenschaftler sind wie alle Gesellschaftsmitglieder den politischen Kräften und Einflüssen ihrer Umgebung und ihrer Zeit ausgesetzt. Daher liegt die Gefahr nahe, daß sie die eigenen Präferenzen zum Maßstab der Risikobeurteilung machen (Linnerooth 1983). Gleichzeitig sind wissenschaftlicher Sachverstand und Erfahrung die Voraussetzungen zur intersubjektiven Beurteilung von Annahmen, d. h., die notwendige kritische Kontrolle kann nur innerhalb des Wissenschaftssystems angesiedelt sein. Dabei ist es notwendig, organisatorische Strukturen zu schaffen, die eine solche innerwissenschaftliche Kontrolle sicherstellen (Rushefsky 1984, 138ff). (c) Sind Risikostudien ausgearbeitet worden, die den oben aufgeführten Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen, dann können diese als »State of the art« in dem entsprechenden Problemfeld angesehen werden. In der Regel wird es eine Bandbreite von Resultaten geben, die unterschiedliche Aspekte der Erkenntnisbildung und der Behandlung der immer verbleibenden Unsicherheit widerspiegeln. Welche der Resultate als Richtschnur für das politische Handeln ausgewählt werden, richtet sich dann nach dem Zweck der Entscheidung und dem jeweiligen Kontext. Unter Umständen können optimistische und pessimistische Abschätzungen parallel als Über- und Untergrenzen in politischen Nor-

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Formale Kriterien und Instrumente

men Eingang finden (National Academy of Sciences 1983; Krewski & Birkwood 1987; Hattis & Kennedey 1990). (d) Die Variationsbreite möglicher Auswirkungen sollte vor allem bei Maßnahmen des Katastrophenschutzes und der Katastrophenvorsorge handlungsleitenden Charakter haben. Insofern haben viele Länder ihre Katastrophenregelung auf Reaktorunfälle, die über den Auslegungsstörfall hinausgehen, angepaßt. Während es Sinn macht, bei Entscheidungen über Optionen mehr Gewicht auf den Erwartungswert zu setzen, erscheint es zweckmäßig, bei der Vorsorge gegen Katastrophen sehr seltene Ereignisse einzubeziehen (Lagadec 1987, 42ff). 5.2.2 Kostenermittlung Um eine rationale Allokation gesellschaftlicher Ressourcen zu ermöglichen, d. h. die von der Gesellschaft bereitgestellten Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital, Rohstoff und Know-How) so zu organisieren und zu kombinieren, daß die gegebenen Ziele einer Gesellschaft so weit wie möglich erreicht werden, müssen Aufwand und Ertrag von Umweltstandards miteinander verglichen werden. Ein solcher Vergleich ist notwendig, da Gelder zur Risikoreduzierung für andere Zwecke nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Vergleich zwischen Aufwand und Ertrag sagt noch nichts über die Akzeptabilität von Umweltstandards aus; zu diesem Zweck müssen die einzelnen Zieldimensionen (Gesundheit, Umwelt, Verteilungsgerechtigkeit und Kosten) miteinander kommensurabel gemacht werden. Die Verfahren dazu sind in den Abschnitten 5.3 und 5.4 beschrieben. Wie lassen sich die Kosten von Umweltstandards oder von äquivalenten Regelungen (etwa Umweltsteuern) bestimmen? In den meisten Fällen bedingt eine Verschärfung von Umweltstandards Folgekosten in den folgenden Bereichen (DeFina 1977; Just et al. 1982): (a) Kosten für technische Rückhaltemaßnahmen oder organisatorische Änderungen, die beim jeweiligen Unternehmen anfallen. Diese Kosten können und werden in der Regel auf die Preise des jeweiligen Gutes übertragen. Wer diese Kosten im Endeffekt übernimmt, ist volkswirtschaftlich unerheblich, wirkt sich jedoch auf die möglichen Verteilungswirkungen der Kostenerhöhung aus (etwa Reduzierung der Gewinnspanne versus Reduzierung des effektiven Einkommens der Arbeitnehmer).

Auswirkungen von M a ß n a h m e n

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(b) Kosten durch den Verlust einheimischer Produktion aufgrund der verbesserten Kostengünstigkeit von Importen und der Kostenerschwernis für Exporte. In diesem Falle verhindert der jeweilige Umweltstandard die internationale Wettbewerbsfähigkeit einer Produktion aufgrund der gestiegenen Kosten und führt zu einer Verlagerung der Produktion ins Ausland. Die Höhe dieser Kosten ist schwer abschätzbar: Auf der einen Seite profitieren potentielle Konsumenten von der Kostengünstigkeit der Importe, auf der anderen Seite verlieren einheimische Produzenten Wettbewerbsvorteile, was sich negativ auf das Inlandsprodukt auswirkt. Darüber hinaus sind Sozialkosten wie gesellschaftlicher Aufwand für Arbeitslosenunterstützung oder Prestigeverlust einheimischer Produkte zu bedenken. Erst durch die Einzelanalyse lassen sich die Kostenanteile einigermaßen zuverlässig bestimmen. (c) Kosten aufgrund des Preiseffektes der Standarderhöhung. Nach gängiger marktwirtschaftlicher Theorie erfolgt nach einer Preiserhöhung eines Gutes eine Anpassung der Nachfrage, deren Ausmaß vor allem von der Elastizität der Nachfragefunktion abhängt. Spiegelt die Preiserhöhung aufgrund des Umweltstandards exakt den Wert wider, der zur Kompensation des noch verbleibenden Umweltschadens notwendig ist, dann erfüllt der Preis seine allokationsoptimierende Funktion. Ist die Preiserhöhung weitreichender als die notwendige Summe zur Kompensation oder ist sie wesentlich geringer als diese Summe, dann kommt es zu einer Fehlallokation und dementsprechend zu einer Erhöhung der Sozialkosten. Wie diese Sozialkosten im einzelnen zu ermitteln sind, ist strittig. (d) Transaktionskosten zur Durchsetzung und Kontrolle der Umweltstandards. Die Regelung von Umweltstandards, die Überwachung der Grenzwerte und die Ermittlung und Bestrafung von »Umweltsünden« erfordern erhebliche Geldmittel für Sachausgaben und Personal. Häufig stehen die Ausgaben für Implementation und Kontrolle in keinem Verhältnis zur Kostenersparnis aufgrund der dadurch erzielten Grenzwerteinhaltung. Allerdings darf bei dieser Betrachtung nicht nur der Kosten-Kosten-Vergleich als Maßstab der Wirksamkeit herangezogen, vielmehr muß auch die symbolische Signalwirkung straffer Kontrolle bedacht werden. Die wahrgenommene Strenge staatlicher Kontrolle übt einen entscheidenden Einfluß auf die Perzeption der Ernsthaftigkeit der

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Formale Kriterien und Instrumente

Umweltpolitik oder auf die Motivation zur Verbesserung des eigenen Umweltverhaltens aus. (e) Konfliktkosten. Die Regelung und Befriedung gesellschaftlicher Konflikte über die Akzeptabilität von Umweltstandards verursachen (oft in erheblichem Ausmaß) gesellschaftliche Kosten. Verzögerungen in der Genehmigung von Anlagen, die Absicherung von Anlagen gegen protestierende Bevölkerungsgruppen, die Folgewirkungen von gesellschaftlichen Protesten etc. können zu Kosten bei den Betreibern und der öffentlichen Hand führen. Während die Kosten in den Kategorien a bis b mit der Schärfe der Umweltstandards ansteigen, sinken sie bei den Konfliktkosten. Deshalb läßt sich hier eine Kostenoptimierung durchführen. Daneben können auch organisatorische Maßnahmen (wie die in Kapitel 6 vorgestellten) die Konfliktkosten begrenzen helfen, so daß die Kostenkurve durch faktische Akzeptanzverweigerung parallel nach unten verschoben wird. Die Existenz von zumindest fünf, zum Teil gegenläufigen Kostenkategorien zeigt, daß auch die Kostenseite mehrere Einzeldimensionen umfaßt und ähnlich wie die Risikoseite mit Ambiguität und Unsicherheiten verbunden ist. Allerdings ist es ein Vorteil der Kostenermittlung, daß alle hier angesprochenen Dimensionen mit der gleichen Verrechnungseinheit bewertet werden können. Beim Risiko ist dagegen eine Kommensurabilität zwischen den verschiedenen Gesundheitsauswirkungen und den Umweltauswirkungen durch eine Äquivalenzvorschrift herbeizuführen (Schrader-Frechette 1984, 280ff). Allerdings bleiben bei der Kostenermittlung die intangiblen Nachteile eines Umweltstandards ausgeklammert (Schürmann 1978, 272ff). Trotz der Gegenläufigkeit von Konfliktkosten und Produktionskosten bzw. Folgekosten geht die gängige Lehrmeinung von steigenden Grenzkosten der Umweltstandards aus (Morgan 1990, 20). Daraus ergibt sich, daß mit der kontinuierlichen Verschärfung von Umweltstandards die damit verbundenen Kosten nicht linear, sondern überproportional anwachsen. Folgt man dieser Annahme, die in vielen Einzelfällen empirisch bestätigt worden ist, dann ergibt sich folgerichtig, daß eine Reduzierung auf ein Null-Risiko in nahezu jedem Fall zu einer Fehlallokation, d. h. Verschwendung von volkswirtschaftlichen Ressourcen, führen muß (Derby & Keeney 1981, 220f) und überdies auch noch zu anderen langfristigen Risiken beiträgt, die sich aus der Konsequenz von

Auswirkungen von Maßnahmen

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Innovationsverweigerung ergeben können (Wildavsky 1979, 32f). Die immensen Geldmittel, die zu einer Reduzierung von nahezu Null auf Null erforderlich wären, könnten in jedem Falle wesentlich effizienter an der Stelle eingesetzt werden, wo ein anderes Risiko oder mehrere andere Risiken von relativ hohen Werten auf niedrigere Werte gebracht werden könnten (Merkhofer 1984, 183ff; Fritzsche 1986, 481). Erst wenn alle Risiken auf einem Niveau von nahezu Null angelangt sind, würde sich eine weitere Reduzierung lohnen. Aber selbst in diesem Falle bleibt zu fragen, ob die dazu erforderlichen Mittel nicht viel effizienter für andere gesellschaftliche Ziele (etwa Bildung oder Prophylaxe) eingesetzt werden sollten. Während die Kosten für Umweltstandards auf der Sollseite zu verbuchen sind, schafft die Existenz von Umweltstandards gleichzeitig finanzielle Gewinne durch die Abwendung von Umweltschäden, die ohne diese Standards eingetroffen wären. Diese zu quantifizieren, ist eine schwierige Aufgabe und gelingt in der Regel nur durch indirekte Indikatoren, wie Veränderung der Grundstückspreise, Kosten zur Wiederherstellung von Gesundheit oder Rohstoffwert der zerstörten Umweltressourcen (Schürmann 1978, 272ff; Smith 1986, 16; Wicke 1990, 225ff). Im Rahmen einer Kostenanalyse muß versucht werden, die Kosten durch die Umweltstandards mit den Kostenersparnissen durch die verbesserte Umweltqualität aufzurechnen (Fischhoff et al. 1985; Morgan 1990, 20). Neben der absoluten Höhe der Kosten spielt auch die Kostenverteilung, d. h. die Zumutbarkeit der Kostenübernahme durch Konsumenten, Produzenten, gesellschaftliche Gruppen oder die öffentliche H a n d eine wichtige Rolle. Kommt es z. B. zu einer Verlagerung eines Produktionszweiges ins Ausland, müssen die ehemals im Inland beschäftigten Arbeitnehmer die Folgekosten für eine verbesserte Umweltqualität, die allen zugute kommt, übernehmen. Verteilungswirkungen von Umweltstandards sind deshalb eine weitere Dimension, die bei ihrer Bewertung einbezogen werden muß. 5.2.3 Verteilungsgerechtigkeit Umweltstandards beanspruchen wie alle in Kraft gesetzten Rechtsnormen für die Bürger Verbindlichkeit. Durch ihre Beachtung haben die Bürger jedoch nicht die Garantie, vor Risiken geschützt zu sein. Auch

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Formale Kriterien und Instrumente

bei voller Beachtung eines Umweltstandards besteht für den einzelnen eine residuale Risikozumutung. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß alle Bürger derartigen Restrisiken im gleichen Umfang — eventuell relativiert auf die individuelle Sensibilität - ausgesetzt sind. Tatsächlich sind die Risikobelastungen in einer Gesellschaft sehr unterschiedlich verteilt. Ungleichheiten, für die eine Rechtfertigung nicht eingesehen wird, werden als Ungerechtigkeiten erfahren (Fischhoff et al. 1985; MacLean 1986). Deshalb müssen vor der Festlegung eines Standards auch die Auswirkungen auf die Verteilungsgerechtigkeit untersucht werden. Es ist Aufgabe der Ethik, nämlich der Gerechtigkeitstheorie, Prinzipien solcher Rechtfertigungsverfahren zu rekonstruieren. Gerade im Zusammenhang mit dem Risikothema sind die philosophischen Gerechtigkeitstheorien vor allem in Ökonomie und Jurisprudenz in letzter Zeit wieder stark diskutiert worden. Gerechtigkeitstheorien liefern Grundlagen für die Rechtfertigung faktischer Ungleichheiten. 2 Offenkundig ist die Formulierung von Gerechtigkeitsprinzipien abhängig davon, innerhalb welcher Konzeption von Ethik sie expliziert werden. Dabei scheiden elitäre und konfliktbestimmte Ethikkonzeptionen aus der Betrachtung aus, weil es gerade darum geht, soziale Verallgemeinerbarkeit für die Ungleichverteilung von Risiken zu sichern, d. h. Risikogerechtigkeit herzustellen. Utilitaristische und deontologische Ethiken divergieren in der Auffassung, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Verallgemeinerbarkeit konstatiert werden kann (Frankena 1963). Beiden Ansätzen ist jedoch der Gedanke der Verallgemeinerbarkeit gemeinsam. Eine Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit für technisch induzierte Risiken ist daher nur im Rahmen einer universalistischen, egalitären und konsensbestimmten Ethikkonzeption interessant (MacLean 1986). Für eine weitere Problembehandlung sind folgende Aufgabenbereiche zu unterscheiden: (a) Es ist zwischen Dimensionen faktischer Ungleichheiten, z. B. regionaler, temporaler und sozialer, zu unterscheiden. Eine keineswegs triviale Aufgabe besteht darin, Ungleichheiten in diesen verschiedenen Dimensionen zu messen und (z. B. zum Zwecke der Feststellung von 2

Vgl. die Diskussion im Anschluß an Rawls 1971, dokumentiert bei Höffe 1977; ferner Höffe 1987.

Auswirkungen von Maßnahmen

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Ausgleichsabfindungen) aufeinander zu beziehen. Für die Erörterung der Risikogerechtigkeit reicht es ferner nicht aus, Ungleichheiten der Risikoverteilung zu kennen; diese müssen in jedem Fall auf die ungleichen Nutzen bezogen werden, die Mitglieder einer Gesellschaft bei Inkaufnahme von Risiken erzielen (Fritzsche 1986, 46). (b) Normatives Ziel von Gerechtigkeitsüberlegungen kann nicht grundsätzlich die Herstellung von Gleichheit sein. Es muß auch Gründe geben, die die Ungleichheit rechtfertigen. Rawls schlägt folgendes Kriterium vor: Eine Ungleichheit ist dann gerechtfertigt, wenn ihre Beseitigung mehr Kosten verursachen würde als die Kompensation der Ungleichheit bei den Benachteiligten (Rawls 1971). (c) Ist Gleichverteilung nicht möglich oder aus übergeordneten Gründen nicht wünschenswert, verbleibt noch die Möglichkeit der Kompensation. Kompensationen sind nichts anderes als die Ausgleichung von Nutzenverlusten durch Nutzengewinne. Dieses wird vielfach als zynisch und widernatürlich empfunden. Tatsächlich ist der Kompensationsgedanke in einer hochdifferenzierten Gesellschaft unverzichtbar (Raiffa 1982, 310ff; Diederichsen 1990, 155ff). Als Beispiel dafür kann die »Schmutzzulage« gelten: Eine unangenehme, eventuell mit Gesundheitsrisiken behaftete Tätigkeit wird durch einen monetären Vorteil kompensiert. Hierbei ist interessant, daß der Geldbetrag nicht aus einem geheimnisvollen, dem »Schmutz« inhärenten Risiko hervorgeht, sondern nach Marktmechanismen festgelegt wird: der adäquate Betrag ist der Minimalbetrag, für den jemand bereit ist, die »schmutzige« Arbeit zu übernehmen. Allerdings unterstellt dieses Beispiel, daß es sich erstens um eine individuelle Entscheidung handelt (das Risiko wird niemandem aufgezwungen), daß zweitens derjenige, der das Risiko übernimmt, das Risiko für sich völlig durchschaut und er drittens in seiner Entscheidung völlig frei von ökonomischen und sozialen Zwängen ist. Bei kollektiven Risiken ist Kompensation schwieriger, da jedes Mitglied des Kollektivs unterschiedliche Nutzenausprägungen mit dem Nutzenverlust durch das Risiko und mit dem Nutzengewinnn durch die Kompensation verbindet, so daß eine Nutzenaggregierung stattfinden muß. Dafür fehlen jedoch meist die Kriterien. (d) Wegen der mangelnden Transparenz des Nutzenverlustes bei individuellen Risiken und der Problematik der Aggregation bei kollektiven

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Formale Kriterien und Instrumente

Risiken ergibt sich faktisch die Notwendigkeit, allgemeine soziale Schranken für solche Fälle festzulegen, in denen Betroffene aufgrund unterschiedlich verursachter Komplexität die Rolle des »idealen Nachfragers« nicht übernehmen oder sich nicht auf eine gemeinsam akzeptierte Kompensation einigen können. Aus diesem Grunde ist es Aufgabe des Staates, spezielle Standards für besonders betroffene Bevölkerungsgruppen (z. B. Kinder, Schwangere, gesundheitlich Geschwächte, beruflich besonders exponierte Gruppen) vorzuschreiben. Für kollektive Risiken können auch durch repräsentative Gremien kollektiv wirksame Kompensationen ausgehandelt werden. 5.3 Die Abwägung von Aufwand und Erfolg Zur Logik und Aussagekraft von Vergleichsmaßstäben Der dritte und entscheidende Schritt zur Beurteilung der Implementation von Zielen, die durch Umweltstandards realisiert werden sollen, ist der Vergleich von Kosten und Nutzen bzw. Risiko und Chance. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß die Abwägung in mehrfacher Hinsicht von normativen Festlegungen durchzogen ist. Rationalität bei dem Verfahren, durch welches Tatsachenwissen mit normativen Festlegungen vermittelt wird, ist nur zu gewährleisten, wenn letztere bereits ein wirksames Element unserer Wirklichkeit sind. Gemeinsam gelebte Überzeugungen sind damit Voraussetzung für die Implementation von Zielen, die Anspruch auf allgemeine Anerkennung erheben können. Unter den formalen Abwägungsverfahren, die als Hilfsmittel beim Abwägungsprozeß dienen, zeichnen sich die Risiko-Risiko-Vergleiche (R-R-Vergleiche) dadurch aus, daß sie kritisch geprüfte faktische Überzeugungen als Maßstab für die Zumutbarkeit von Risiken heranziehen. Aus diesem Grund wird im folgenden von einem zunächst stark idealisierten Modell des R-R-Vergleichs ausgegangen, das dann später im Blick auf die Vorzüge anderer Verfahren modifiziert wird. 5.3.1 Risiko-Risiko-Vergleiche Wie in Kapitel 1 dargelegt, bildet die Forderung nach pragmatischer Konsistenz innerhalb von Lebensformen (sektorale pragmatische Konsistenz) die Grundlage für eine rationale Beurteilung der Zumutbarkeit

Die A b w ä g u n g v o n A u f w a n d u n d Erfolg

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von Risiken. Für die Rechtfertigung von Umweltstandards und somit für die Beurteilung ihrer Akzeptabilität kommt den R-R-Vergleichen daher eine entscheidende Bedeutung zu. Dabei wird das Konsistenzpostulat sowohl auf Individuen als auch auf Kollektive bezogen: R-RVergleiche beruhen auf der Forderung, daß bereits akzeptierte Risiken heranzuziehen sind, um einen Maßstab für die Beurteilung der Zumutbarkeit von anderen Risiken zu finden. Hat eine Gesellschaft bereits bestimmte Risiken als akzeptabel eingestuft, dann ist es konsequent zu fordern, daß Handlungsoptionen, die mit geringeren Risiken verbunden sind als die bereits akzeptierten Risiken, auch akzeptiert werden können, sofern Nutzen und Risikoverteilung konstant sind (Wilson & Crouch 1987, 267ff; Merkhofer 1987, 581ff). Für das Thema der Umweltstandards ist dieser Ansatz in drei Varianten entwickelt worden (Fischhoff et al. 1979): (a) Technische Risiken, die von einer Gruppe gegenwärtig als akzeptabel eingestuft werden, gelten als obere Grenze bei der Risikobeurteilung für die Akzeptabilität neuer Risikoquellen mit ähnlichem Risikoprofil. Dabei ist jedoch zu beachten, daß nicht jedes Risiko schon deshalb akzeptabel ist, weil es eine andere Risikoquelle mit einem gleichen oder höheren Risiko gibt, das allgemein akzeptiert wird. Denn dann könnte man das gesamte Lebensrisiko durch Addition von kleinen Risiken unbegrenzt erhöhen. Vielmehr kann das in einer Lebensform akzeptierte Gesamtrisiko als Maßstab für die Einbeziehung neuer Risiken dienen, d. h., Optionen müssen danach beurteilt werden, ob durch sie das in einer Lebensform als akzeptabel angesehene Gesamtrisiko signifikant verändert wird. (b) Risiken, die von einer Gesellschaft in der Vergangenheit übernommen worden sind (z. B. Risiken der Stromerzeugung durch Kohle), gelten als Maßstab für die Zumutbarkeit von Risiken neuer technischer Linien (z. B. Kernkraftwerke). Dabei wird in vielen Fällen nicht die explizite Zustimmung, sondern nur das konkludente implizite Einverständnis (revealed preference) mit einem Risiko als Basis herangezogen (Starr 1969, 1234; kritisch dazu Fischhoff et al. 1985, 268f). Bei der Heranziehung einer historisch akzeptierten Risikoquelle als Maßstab der Akzeptabilität kommt es nicht auf die situativen Umstände der historischen Entscheidung an, wie vielfach in der Literatur angenommen wird (Fischhoff et al. 1985, 270f; Meyer-Abich 1990, 185). Es ist

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Formale Kriterien und Instrumente

nicht zu fragen, ob man z. B. die Einführung des Automobils zugelassen hätte, wenn man um die Verkehrstoten gewußt hätte, die wir heute haben. Für den R-R-Vergleich ist allein wichtig, ob diejenigen Agenten, die den Straßenverkehr durch explizite oder konkludente implizite Zustimmung akzeptieren, pragmatisch konsistent handeln. Ein solches konsistentes Handeln schließt selbstverständlich nicht aus, daß man die Risiken des Straßenverkehrs systematisch und nachhaltig verringern möchte. (c) Technische Risiken gelten als akzeptabel, wenn sie deutlich unterhalb des Risikogrades »natürlicher Risiken« liegen. Eine Variante dieser Überlegung besteht darin, ein technisches Risiko mit der Schwankungsbreite eines natürlichen Risikos zu vergleichen. Bei anderen Varianten werden technisch bedingte Risiken an einem Ort mit (akzeptierten) Risiken natürlichen Ursprungs an einem anderen Ort verglichen (Fischhoff et al. 1985, 273ff). Der Vergleich mit natürlichen Risiken darf nicht auf Basis der Prämisse erfolgen, natürliche Risiken seien bereits als solche akzeptabel (vgl. Kapitel 1.3.3). Diese Prämisse würde es beispielsweise als sinnlos erscheinen lassen, Maßnahmen zur Reduzierung des Infektionsrisikos zu treffen. Im übrigen würde die Behauptung der Akzeptabilität natürlicher Risiken in diesem Fall einen naturalistischen Fehlschluß beinhalten. Vielmehr geht es bei R-R-Vergleichen um eine Zumutbarkeitsprüfung: Wenn natürliche Risiken durch konkludentes Handeln als akzeptabel betrachtet werden, dann sind auch technische Risiken zumutbar, deren Risikograd kleiner ist. Die leitende Prämisse dieser Argumentation ist eine normative, nämlich das Postulat pragmatischer Konsistenz. Somit liegt kein naturalistischer Fehlschluß vor. Die korrekte Anwendung von R-R-Vergleichen ist von einer Reihe von Bedingungen und Einschränkungen abhängig: (a) Bei den üblichen R-R-Vergleichen wird die Dimension des Nutzens der riskanten Handlung als ceteris-paribus-Bedingung außer Betracht gelassen (Crouch & Wilson 1982, 3ff). So wird z. B. beim Vergleich von Kohlestrom mit Atomstrom unterstellt, daß der Nutzen der elektrischen Energieeinheit in beiden Fällen für den Verbraucher gleich ist. In vielen Fällen ist es jedoch erforderlich, den unterschiedlichen Nutzen zweier zu vergleichender Handlungen explizit in Rechnung zu stellen. In diesen Fällen erfolgt die Beurteilung der Handlungen nicht nur in

Die Abwägung von Aufwand und Erfolg

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den Dimensionen von Wahrscheinlichkeit und Schaden, sondern auch des Nutzens. Je höher der erwartbare Nutzen einer Handlung ist, desto größer darf demzufolge auch das mit der Handlung verbundene Risiko sein (Fritzsche 1986, 425ff). (b) Wird ein R-R-Vergleich zum Zwecke der Prüfung der Möglichkeiten der Risikoreduzierung vorgenommen, sind die Kosten der Reduzierung für die zur Debatte stehende Handlung zu berücksichtigen. Unter dem Gesichtspunkt der Kosten kann der Vergleich zwischen Kohlestrom und Atomstrom unter Umständen vor Einführung der Kerntechnik anders ausfallen als nach bereits installierter Kerntechnik. Gegebenenfalls ist der R-R-Vergleich also unter Heranziehung einer weiteren Dimension durchzuführen (Merkhofer 1987, 590ff). (c) Ein R-R Vergleich bezieht sich häufig nur auf den Erwartungswert der zu vergleichenden Risiken. Eine solche Beschränkung auf den durchschnittlich zu erwartenden Schaden ist jedoch problematisch, wenn die Vertrauensintervalle der Risikoschätzungen zwischen den zum Vergleich anstehenden Risiken streuen (unterschiedlicher Grad der statistischen Unsicherheit) oder wenn die zeitliche Folge des Schadenseintritts bei der Beurteilung eine Rolle spielt (unterschiedliche Gefährdungspotentiale bei gleichem Erwartungswert). In diesem Falle müssen Erwartungswerte und Verteilungsparameter als mehrdimensionale Bewertungen in das Akzeptabilitätsurteil eingehen (Merkhofer 1987, 595). Aufgrund dieser drei Einschränkungen können R-R-Vergleiche niemals absolute Geltungskraft beanspruchen, sondern müssen als eine der entscheidenden Dimensionen in die multidimensionale Entscheidungsmatrix integriert werden (Wilson und Crouch 1987, 271ff; Fritzsche 1986, 478; Merkhofer 1987, 598f). Andere Dimensionen, wie Nutzen, Verteilungswirkungen, Kosteneffizienz der Risikoreduktion und andere relevante Kriterien, sollen stets im Entscheidungsprozeß berücksichtigt werden. Neben der grundsätzlichen Bedeutung von R-R-Vergleichen im Zusammenhang mit der normativen Beurteilung der Zumutbarkeit von Risiken kommt R-R-Vergleichen eine wichtige Orientierungsaufgabe zu. Innerhalb eines Handlungssektors (vgl. Kapitel 1.3.3) wird daher auch im Alltag von R-R-Vergleichen häufig Gebrauch gemacht, wenn

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Formale Kriterien und Instrumente

es darum geht, das Risiko von Handlungen einzuschätzen. Die in einem Handlungssektor auftretenden Risiken sollen als »Risikoklasse« bezeichnet werden. Dabei gibt es allerdings eine Fülle von Gesichtspunkten, nach denen die Handlungen einer bestimmten Risikoklasse zugeordnet werden, wie Zweck der Handlung (z. B. Stromerzeugung), objektive Merkmale der Risikoquelle (z. B. Wirkungsgleichheit), soziale Merkmale der Handlung (z. B. Freiwilligkeit) oder Verteilungsaspekte (z. B. Identität von Risikoträgern und Nutznießern), so daß der Klassenbildung praktisch keine Grenzen gesetzt sind. Unter irgendeinem klassenbildenden Gesichtspunkt dürfte letztlich jede Handlung mit einer anderen vergleichbar sein; es ist eine pragmatische Frage, ob man bei einem Vergleich in einer bestimmten Situation eine relevante Gemeinsamkeit erkennen kann. Im Falle klassenspezifischer Vergleichssituationen können Risikovergleiche folgende Orientierungsfunktionen erfüllen: (a) Illustration relativer Gefährdung. Im Kommunikationsprozeß mit Entscheidungsträgern oder in der öffentlichen Diskussion sind Risikoberechnungen häufig schwer vermittelbar. Dagegen kann der Vergleich mit bekannten Risiken das Ausmaß der Gefährdung durch eine noch unbekannte Risikoquelle illustrieren, ohne dabei die normative Frage der Akzeptabilität zu beantworten (Renn 1988, 114ff). (b) Verringerung der Unsicherheit über langfristige Auswirkungen. Wenn Risiken aufgrund einer neuen Aktiviät identisch mit bereits vorhandenen natürlichen oder technischen Risiken sind, lassen sich Erfahrungen mit den vorhandenen Risiken nutzen, um Aussagen über die langfristigen Auswirkungen machen zu können. (c) Prioritätensetzung bei Risikoreduktion. Da R-R-Vergleiche als solche wenig kostenaufwendig sind, können sie als »Screening« von technischen Risiken verwendet werden. Alle Risiken, die im Vergleich mit anderen, akzeptierten Risiken einen relativ hohen Erwartungswert bezüglich eines Schadens aufweisen, sollten vorrangig untersucht werden. Dagegen können Risiken, die innerhalb der Schwankungsbreite akzeptierter (technischer oder natürlicher) Risikoquellen liegen, zunächst vernachlässigt werden (National Academy of Sciences 1975).

Die Abwägung von Aufwand und Erfolg

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5.3.2 Kosteneffizienzverfahren Nach dem Kosteneffizienzverfahren werden Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit danach beurteilt, wie viele knappe Ressourcen zur Verminderung eines gegebenen Risikos eingesetzt werden müssen. Die Regel lautet z. B., daß für jede Mark, die zur Reduktion eines Risikos ausgegeben wird, eine optimale Ausnutzung des Reduktionspotentials vorgenommen werden muß (Merkhofer 1984, 183ff; Fritzsche 1986, 488). Zur Durchführung des entsprechenden Optimierungsverfahrens werden für alle in Betracht zu ziehenden Risiken die marginalen Kosten pro Nutzeneinheit (z. B. gerettetes Menschenleben, Verhinderung einer Krebserkrankung, Rettung eines Biotops) ermittelt. Dann wird das Budget, das für die Risikoverminderung eingesetzt werden soll, so auf die Risikoquellen verteilt, daß insgesamt der größte Nutzeneffekt eintritt (Smith 1986, 32f). Im Fall der Stromerzeugung führt dieses Verfahren zu folgender Konsequenz: Das durch kerntechnische Anlagen ausgelöste Strahlenrisiko ist durch ein entsprechendes Budget so lange zu reduzieren, bis ein Betrag erreicht ist, durch den man mehr Menschen retten würde, wenn man ihn zur Reduzierung der Emissionen von Kohlekraftwerken einsetzte. Angewendet auf Umweltstandards bedeutet dieser Grundsatz, daß das Risiko so lange reduziert werden muß, bis die marginalen Kosten zur Erreichung einer Nutzeneinheit gleich den marginalen Kosten zur Erzielung der gleichen Nutzeneinheit durch einen anderen zur Debatte stehenden Umweltstandard sind. Die normative Unterstellung bei diesem Verfahren ist, daß die Risiken, die aufgrund der Optimierungsüberlegung verbleiben, akzeptabel sind. Dieser Akzeptabilitätsanspruch kann aber durch das Kosteneffizienzverfahren nicht erbracht werden. Vielmehr muß die Akzeptabilität der verbleibenden Risiken nach anderen, externen Kriterien beurteilt werden, etwa durch den Vergleich mit anderen, bereits akzeptierten Risiken (Schrader-Frechette 1984, 275ff). Es ist nicht sinnvoll, für einen großen Aufwand das Risiko aus einer bestimmten Handlungsweise zu reduzieren, wenn für diesen Aufwand das Risiko einer anderen Handlungsweise mit größerem Effekt zu reduzieren wäre. Diese Überlegung ist ersichtlich nur triftig, wenn die bei dem Vergleich eingesetzten Schäden und die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintritts kommensurabel sind. Somit ist deutlich, daß die Effizienzbetrachtung nur dann normative Kraft erhält, wenn das Prinzip pragmatischer

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Formale Kriterien und Instrumente

Konsistenz (oder ein anderes mit gleicher Leistungsfähigkeit) vorausgesetzt ist. Durch das Verfahren der Kosteneffizienz bei Risikoreduktionen werden eine Reihe von Schwierigkeiten bearbeitbar, die bei der Beurteilung von Risiken auftreten (Merkhofer 1984; Schrader-Frechette 1984; Morgan 1990): — In diesem Konzept kann mit dem Wert von Menschenleben gerechnet werden, ohne daß ein Menschenleben durch einen anderen, z. B. monetären Wert substituiert werden muß. — Werte erhalten jeweils die gleiche Gewichtung; so gilt Menschenleben gleich Menschenleben. Das Verfahren läßt sich somit mit egalitären Vorstellungen, z. B. der der Gleichverteilung von Risiken, leicht in Einklang bringen. — Jede Abweichung von der kosteneffizienten Lösung würde eine Erhöhung des Schadens bedeuten. Entscheidungsträger geraten somit unter Legitimationsdruck, wenn sie nicht die kosteneffiziente Lösung realisieren, da sie ja z. B. mehr Menschenleben zu opfern bereit wären, als man durch die optimale Lösung in Kauf nehmen müßte. Das Verfahren der Kosteneffizienz hängt allerdings von Annahmen und Unterstellungen ab, die seinen Einsatz auf bestimmte Problemklassen beschränken (Morgan 1990, 21). Zunächst ist unterstellt, daß das Budget zur Risikoverminderung eine konstante Größe darstellt. Tatsächlich kann eine Gesellschaft festlegen, welchen Betrag sie überhaupt für die Risikoreduzierung zur Verfügung stellen möchte. Über den Umfang des Sicherheitsbudgets läßt sich nicht wieder nach dem Verfahren der Kosteneffizienz entscheiden, da ein unendlicher Regreß entstünde. Allerdings entwertet dies nicht alle Bedeutung des Verfahrens als Gedankenexperiment. Nimmt man einen R-R-Vergleich als Basis für die prinzipielle Akzeptabilität eines Risikos, dann genügt es vielfach, irgendein Budget anzunehmen, um die jeweils akzeptablen Risikooptionen nach Maßgabe der marginalen Risikoreduktionskosten systematisch auszuwählen und damit das Gesamtrisiko zu minimieren. Dennoch bleiben drei grundsätzliche Probleme zu beachten: (a) Das Kosteneffizienzverfahren funktioniert ohne weiteres nur dann, wenn es in einer Schadens- oder Kostendimension durchgeführt wird.

Die Abwägung von Aufwand und Erfolg

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Liegen mehrere Dimensionen von Kosten bzw. Schäden vor, was in der Realität meistens der Fall ist, müssen die einzelnen Dimensionen zunächst zu einer Größe verschmolzen, d. h. untereinander gewichtet werden. Damit geht das Problem in die entscheidungstheoretischen Fragestellungen über, die unten (5.4) zu behandeln sind (Keeney & Raiffa 1976, 20). (b) Das Verfahren der Kosteneffizienz kann gegenintuitive Ergebnisse in den Fällen erzeugen, in denen die riskanten Handlungen moralisch unterschiedlich bewertet werden (Schrader-Frechette 1984). So macht es in der moralischen Bewertung einen erheblichen Unterschied, ob eine toxische Substanz ohne Einwilligung des Betroffenen und ohne Nutzen für den Risikoträger in die Luft emittiert wird, ob die gleiche Substanz im Rahmen eines einvernehmlich geschlossenen Arbeitsvertrages oder ob sie als Mittel zum Suizid eingesetzt wird. Gesetzt den Fall, es sei am kostengünstigsten, das Risiko des Suizids zu reduzieren, so erscheint es doch vielen als höhere Priorität, das »unschuldige« Opfer von einer gesundheitsgefährdenden Emission fern zu halten. Entsprechend wird weiterhin akzeptiert, daß die Standards für die Gesundheitsbelastung am Arbeitsplatz weniger rigide sind als die für die allgemeine Bevölkerung. Solche gegenintuitiven Ergebnisse lassen sich nur vermeiden, wenn man das Verfahren der Kosteneffizienz auf solche Handlungen bezieht, die in derselben »moralischen« Dimension liegen. Die Definition dieser moralischen Dimensionen ist offenkundig kultur- und kontextabhängig. (c) In kollektiver Blickrichtung erzeugt das Verfahren der Kosteneffizienz Ergebnisse, die mitunter in subkollektiver Betrachtung als unplausibel erscheinen. Global betrachtet ist jede in Deutschland für Sicherheitsmaßnahmen eingesetzte Mark mit Blick auf die Dritte Welt suboptimal eingesetzt. Daher müßte nach dem Prinzip der Kosteneffizienz auf Risikoreduktionen in Industrieländern überhaupt verzichtet werden. Analog läßt sich aber auch innerhalb der Industriegesellschaften argumentieren. So ist die Investition in Intensivstationen suboptimal, wenn man etwa den Effekt betrachtet, den man durch kostenloses Austeilen des Airbag an alle Autofahrer erreichen könnte. Graham und Vaupel haben errechnet, daß in der amerikanischen Gesellschaft die Spannweite der Dollarbeträge, um ein Menschenleben zu retten, zwischen weniger als 170.000 Dollar und mehr als 3 Millionen Dollar

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Formale Kriterien und Instrumente

schwanken (Graham & Vaupel 1980). Die Beispiele zeigen, daß das bei diesem Verfahren unterstellte Prinzip der Gleichbehandlung aller Fälle ohne Rücksicht auf Umstand und soziale Bewertung in vielen Fällen nicht plausibel ist. Offenkundig macht es für viele einen Unterschied, ob Geld für extrem hilfsbedürftige Menschen (etwa Senioren oder Kranke) oder für Normalmenschen, die für ihre Sicherheit selbst sorgen können, eingesetzt wird. Ähnliche Schwierigkeiten stellen sich ein, wenn man berücksichtigt, daß Menschen sich fahrlässig selbst gefährden (Raucher), oder daß die Gesellschaft von manchen Menschen mehr profitiert als von anderen (wichtige Entscheidungsträger oder Künstler). Das Kosteneffizienzverfahren ist somit auf solche Bereiche zu beschränken, in denen ein Konsens darüber besteht, daß jeder potentiell Betroffene den gleichen Anspruch auf Sicherheit besitzt (Schrader-Frechette 1984). 5.3.3 Kosten-Nutzen-Analyse Sowohl die Kosten-Nutzen-Analyse als auch die anschließend zu besprechenden wohlfahrtstheoretischen Ansätze bestehen in einer expliziten Bewertung nach dem Nutzen einer Risikoreduzierung, indem diese dem dafür benötigten Aufwand gegenübergestellt wird. Bei der KostenNutzen-Analyse wird dies aufgrund einer durchgängigen Monetarisierung aller Nutzen- und Kostenkategorien durchgeführt (Fischhoff et al. 1985, 266ff). Der Nutzen unterschiedlicher Umweltstandards wird mit Hilfe verschiedener Methoden (Schattenpreise, willingness to pay) in Geldeinheiten übersetzt; das gleiche geschieht mit dem Aufwand (Kosten, organisatorischer Aufwand, Konfliktkosten, Kosten für Entscheidungsfindung usw.). Die Beurteilung von Umweltstandards wird danach aufgrund einer einfachen Rechnung möglich. Kann das Risiko kontinuierlich reduziert werden, dann ist das Reduktionsniveau zu wählen, bei dem die Gesamtkostenfunktion (Summe von Aufwandskosten und Kosten durch das verbleibende Risiko) ein Minimum aufweist. Ist eine solche kontinuierliche Reduktionsmöglichkeit nicht gegeben, dann ist die diskrete Option zu wählen, bei der die Differenz zwischen Nutzen und Kosten am größten ist (Fischer 1973, 230ff; Hansmeyer 8c Rürup 1975, 65ff). Gleichzeitig kann die Kosteneffizienz gegenüber anderen bereits in Kraft befindlichen Standards mit Hilfe der jeweiligen Nutzen-Kosten-Differenz überprüft werden (Rowe 1977, 366ff).

Die A b w ä g u n g v o n A u f w a n d u n d Erfolg

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Die Attraktivität der Kosten-Nutzen-Analyse beruht vor allem darin, daß die Beurteilung von Umweltstandards ohne direkte Berücksichtigung subjektiver Präferenzen erfolgen kann. Werden für einen Vergleich verschiedener Optionen die jeweiligen Marktpreise herangezogen, spiegelt die Monetarisierung direkt den sozialen Nutzen der jeweils bewerteten Konsequenzen wider. Preise sind nämlich in einer idealtypisch verfaßten Marktwirtschaft intersubjektive Indikatoren für den mit einem Produkt oder einer Dienstleistung verbundenen Grenznutzen. Schwierigkeiten bereitet allerdings die Einbeziehung externer Effekte und die Bewertung kollektiver Güter. Hier müssen Schattenpreise, die den Marktwert simulieren, indirekt erschlossen werden. Obwohl dazu wissenschaftliche Verfahren entwickelt worden sind, ist die Variationsbreite aufgrund solcher Verfahren so groß, daß es in vielen Fällen nicht zu eindeutigen Ergebnissen kommt (Harvey 1985; Fischhoff et al. 1985, 268). Eine zusätzliche Schwierigkeit stellt die Frage nach der Diskontierung solcher Preise über die Zeit dar (Hansmeyer & Rürup 1975, 72; Smith 1986, 23; Horowitz & Carson 1990, 110). Während für Marktpreise die marktübliche Zinsrate übernommen wird, ist bei der Monetarisierung externer Effekte, vor allem solcher nicht-materieller Natur, die Diskontierung schwierig und oft mehrdeutig. Während es sinnvoll ist, den erst in einer fernen Z u k u n f t zu erwartenden Gewinn mit einer negativen Zinsrate zu versehen, ist es wenig plausibel, das Opfer einer künftigen Umweltbelastung als weniger »wertvoll« einzuschätzen als das Opfer einer gegenwärtigen Belastung. Vor allem in bezug auf die Problemstellungen der Umweltstandards sind die beiden genannten Probleme besonders augenfällig. Welcher Geldwert entspricht einem x-prozentigen Anstieg des Risikos, durch Krebs ums Leben zu kommen? Wie ändert sich dieser Geldwert, wenn der Schadensfall erst in 20 Jahren eintritt? Wieviel Bäume sind so viel wert wie ein verlorener Arbeitsplatz? Es fehlt bislang an überzeugenden Verfahren, derartige Fragen im Rahmen der Kosten-Nutzen-Analyse schlüssig zu beantworten (Baram 1980; Kelman 1981). Der von den meisten Wirtschaftswissenschaftlern favorisierte Anatz des »willingness to pay«, aufgrund dessen Personen befragt werden, wieviel Geld ihnen eine x-prozentige Verbesserung oder Verschlechterung ihres Risikoniveaus wert ist, bleibt bei allen Fortschritten, die in jüngster Zeit in diesem Spezialgebiet zu verzeichnen sind, unbefriedigend. Z u m einen fallen die Antworten verschieden aus,

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Formale Kriterien und Instrumente

je nachdem, ob man nach dem Gegenwert einer Risikoverbesserung (willingness to pay) oder einer Risikoverschlechterung (willingness to suffer) fragt (Smith 1986, 16). Z u m anderen bleibt die Frage ungelöst, wie unterschiedliche Risikopräferenzen zu einer sozialen Nutzenfunktion aggregiert werden können (Külp 1976, 25). Trotz dieser Probleme erfüllt die Kosten-Nutzen-Analyse in Wirtschaft, Politik und in Gerichtsverfahren eine wichtige Funktion, vor allem, wenn es darum geht, unabhängig von den subjektiven Präferenzen der Mitglieder einer Gesellschaft die einer Volkswirtschaft entstehenden Kosten mit dem Nutzen zu vergleichen. Indirekte Indikatoren, wie Preise für zusätzliche Versicherungen, Kosten für die Wiederherstellung der Gesundheit etc., können helfen, brauchbare Annäherungen an die monetären Ausgaben und Einnahmen zu liefern, die als Folge eines Umweltstandards real zu erwarten sind (Fischer 1973). So kann z. B. der Schaden, der durch sauren Regen entsteht, durch Verluste im Holzgeschäft und in der Touristikbranche operationalisiert werden (Wicke 1990, 214). Der ästhetische und ökologische Schaden bleibt jedoch in einer solchen Betrachtung unberücksichtigt (Baram 1980). Ersichtlich ist das Verfahren der Kosten-Nutzen-Analyse auf solche Bereiche beschränkt, in denen eine Monetarisierung von Nutzen und Kosten nach intersubjektiv eindeutigen Kriterien erfolgen kann. Gerade im Bereich der Umweltstandards ist diese Voraussetzung in den politisch brisanten Fällen oft nicht erfüllt. 3 Dieses Problem zeigt, daß auch die normative Kraft der Kosten-Nutzen-Analyse auf einer impliziten Kommensurabilitätsüberlegung beruht. Die unter dem Aspekt der KostenNutzen-Differenz zu vergleichenden Handlungen werden als kommensurabel unter dem Gesichtspunkt des monetären Werts angesetzt. In bezug auf die monetären Werte gilt ferner ein Konsistenzprinzip: die Entscheidungsträger sollen diejenige Handlung bevorzugen, bei der der Nutzen die Kosten übertrifft. 5.3.4 Wohlfahrtstheoretische Ansätze Die Wohlfahrtstheorie basiert auf dem utilitaristischen Grundsatz, möglichst vielen Menschen einer Gesellschaft ein M a ß an Bedürfnisbefriedigung zu gewähren, das in Relation zum erreichten Stand der wirt3

Baram 1980, Kelman 1981; vgl. auch die Replik zu Kelman in Butters et al. 1981.

Die Abwägung von Aufwand und Erfolg

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schaftlichen Entwicklung nicht mehr zu verbessern ist. Entsprechend beinhaltet eine wohlfahrtstheoretische Beurteilung von Umweltstandards die Überprüfung, ob der Umweltstandard einen Zustand herbeiführt, der durch keine andere Lösung verbessert würde. Um diesen optimalen Punkt zu bestimmen, werden zunächst alle Optionen eliminiert, bei denen eine Verbesserung des Nutzenniveaus eines Individuums oder einer Partei nicht möglich ist, ohne andere zu schädigen. Nach dieser Auswahl bleiben die Varianten übrig, die als »Pareto-optimaleLösungen« nicht mehr verbesserungsfähig sind, es sei denn, daß der potentielle Nutznießer die Risikoträger voll kompensiert (KaldorHicks-Kriterium). Solange die Zahlung einer Kompensationssumme einen geringeren Nutzenausfall für die potentiellen Nutznießer bedeutet als der durch die Wahl der Standards gegebene Nutzengewinn, so lange lohnt es sich, die Risikoträger zu kompensieren. Der ideale Standard ist dann gefunden, wenn die potentiellen Nutznießer gerade so viel an Kompensation an die potentiellen Risikoträger zu zahlen bereit sind, wie sie an Nutzen durch die Wahl des entsprechenden Standards gewinnen können (Külp 1976, 109ff; Just et al. 1982; Merkhofer 1984; Smith 1986, 17). Das bis heute ungelöste Problem dieses Ansatzes ist die Aggregierung von Nutzen sowie eine befriedigende, d. h. praktikable und widerspruchsfreie Lösung des Verteilungsproblems (Külp 1976, 25). Welches Risiko ist akzeptabel, wenn die eine Person den Wert eines geringfügig höheren Lebensrisikos als unerheblich, die andere aber als besonders problematisch empfindet? Durchschnittswerte sind zur Lösung dieses Problems offenkundig ungeeignet. Kollektiventscheidungen, etwa in Form von Abstimmungen, führen häufig zu Inkonsistenzen und suboptimalen Lösungen (Arrow 1951). Z. B. könnten 51% der an der Abstimmung beteiligten Personen einen positiven Nutzen im Wert von jeweils 1 M a r k erhalten, während 49% einen Schaden im Wert von 100 Mark erleiden. Aufgrund dieser Schwierigkeit sind wohlfahrtstheoretische Überlegungen in den meisten relevanten Fällen nicht praktikabel. Unterstellt man eine quantitative Nutzenmessung und eine subjektive Festlegung von Präferenzen zur relativen Gewichtung von Zieldimensionen, dann gehen die wohlfahrtstheoretischen Überlegungen in entscheidungstheoretische Verfahren über.

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Formale Kriterien und Instrumente

5.3.5 Festlegung von Umweltstandards nach dem Vorsorgeprinzip Die bisher behandelten Verfahren gingen von der Unterstellung aus, daß die zu beurteilenden Handlungen hinsichtlich ihrer Wirkungen bekannt sind, so daß das Eintreten von Schäden sowohl im Ausmaß als auch in der relativen Häufigkeit des Auftretens spezifiziert werden kann. Die Konsequenzen einer Handlung werden dabei — grob gesagt - zur Beurteilung ihrer Wünschbarkeit herangezogen. Eine derartige Verfahrensweise ist nicht mehr möglich, wenn man über die Folgen einer zur Debatte stehenden Handlung nichts weiß bzw. Unsicherheit besteht in einem Umfang, daß man sich eine entsprechende Handlungsbeurteilung nicht zutraut. Diese Art von Unwissenheit ist prinzipiell zu unterscheiden von derjenigen Unsicherheit, die sich darin niederschlägt, daß das Eintreten der Folgen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ausgesagt wird. Unsicherheit führt dazu, daß man mit einer Schwankungsbreite des Eintretens von Wirkungen rechnet, Unwissenheit führt zur Nichtbeachtung zumindest einer der Dimension der Handlungsfolgen (v. Winterfeldt & Edwards 1984, 90ff). Eine Lösung des Problems der Unwissenheit scheint darin zu liegen, eine generelle Minimierung der Handlungsfolgen überhaupt zu fordern. Diesem Weg hat die Bundesrepublik Deutschland innerhalb des Umweltrechts in Gestalt des Vorsorgeprinzips besondere Geltung eingeräumt (Rehbinder 1976, 365; Hartkopf & Boehme 1983). Grundsätzlich sollen danach Emissionen auch dann vermieden oder reduziert werden, wenn negative Wirkungen aufgrund fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht bekannt sind, sie aber auch nicht ausgeschlossen werden können. Das Gebot der Vorsorge gegen noch unbekannte Wirkungen von Emissionen wird nach zwei unterschiedlichen Prinzipien zur Geltung gebracht: (a) Das Prinzip der geringst möglichen Emission »ALARA-Prtnzip«. Nach diesem Grundsatz muß jede Emission so weit wie möglich reduziert werden, wobei die Grenze der Möglichkeit bei dem gerade noch wirtschaftlich und sozial vertretbaren Aufwand zur Reduktion liegt. Die genaue Definition dieses Reduktionsniveaus ist eine Ermessensfrage. In der Bundesrepublik Deutschland wie in vielen anderen Ländern wird das ALARA-Prinzip im Strahlenschutz angewandt. Jede Belastung durch ionisierende Strahlung soll - wenn irgendwie technisch und

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wirtschaftlich vertretbar — auf ein Mindestmaß weit unterhalb des erlaubten Grenzwertes reduziert werden. (b) Der Stand der Technik. Nach diesem Grundsatz muß jede Emission unterbleiben, die mit einer auf dem Markt vorhandenen und erprobten Rückhaltetechnik vermieden werden könnte. Eine Variante dieser Forderung ist der im Atomgesetz verankerte »Stand der Wissenschaft und Technik«, wobei auch neue aus der Wissenschaft stammende Konzepte zur Rückhaltung von Schadstoffen oder zur Verbesserung technischer Sicherheit verwirklicht werden müssen, selbst wenn sie noch nicht technisch erprobt sind. Die Anwendung beider Prinzipien führt leicht zu suboptimalen Lösungen, da Aufwand und Nutzen nicht systematisch miteinander verglichen werden (Rowe 1979, 330ff). Theoretisch kann bei Anwendung des Grundsatzes vom Stand der Technik ein potentiell gefährlicher Schadstoff in großen Mengen emittiert werden, sofern auf dem Markt eine entsprechende Rückhaltetechnologie nicht verfügbar ist. Realistischer ist der umgekehrte Fall, daß wertvolle wirtschaftliche Ressourcen für die Reduktion eines völlig ungefährlichen Stoffes oder für die Reduktion eines Schadstoffes weit unterhalb des Schwellenwertes verwandt werden, nur weil es genügend Techniken gibt, die eine substantielle Reduktion erlauben. Bei der Diffusion neuer Techniken sind die Risiken im Anfangsstadium der Entwicklung häufig größer als die späteren Risiken im Reifestadium. Somit mögen neue Techniken langfristig eine Risikoreduzierung versprechen, können jedoch nach dem Stand der Technik nicht eingeführt werden, weil die alten, bereits ausgereiften Techniken geringere Risiken bieten als die neuen, im Anfangsstadium ihrer Entwicklung. So können etwa neue Reaktortypen, die ein höheres inhärentes Sicherheitsniveau aufweisen, nach Stand der Technik nicht mehr genehmigt werden, weil noch nicht genügend Erfahrungen im praktischen Betrieb vorliegen, um gegenüber den bereits betriebenen Reaktoren ein verbessertes Sicherheitsniveau nachweisen zu können. Ähnliches gilt für das ALARA-Prinzip: An welchem Punkt eine Reduktion nicht mehr vernünftigerweise vertretbar ist (unbestimmtes Rechtsprinzip), ergibt sich entweder aus einer formalen Analyse der systematischen Abwägung von Nutzen und Risiken oder als Resultat eines holistischen Urteils. Im ersten Falle greift man auf rationale

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Formale Kriterien und Instrumente

Verfahren zurück, im zweiten Falle ist man auf die Urteilskraft des Entscheidenden angewiesen. Vor allem besteht das Problem darin, daß das Minimierungsgebot mit Kosten verbunden sein kann, die in keinem vernünftigen Verhältnis zur Risikoreduktion liegen. Verhindert die Anwendung des ALARA-Prinzips technische Optionen, die erst in Z u k u n f t ihre risikominimierende Funktion erfüllen können, so ist das Postulat der temporalen Verteilungsgerechtigkeit verletzt. Im Einzelfall mag dies sinnvoll und gerechtfertigt sein; die Anwendung des ALARA-Prinzips macht jedoch eine solche Verletzung nicht explizit und verhindert eine systematische Abwägung dieser Verletzung mit dem Nutzengewinn auf einer anderen Zieldimension, nämlich der vorübergehenden Risikominderung. Diese Schwierigkeiten zeigen, daß die Anwendung des Vorsorgeprinzips nur sinnvoll ist, wenn eine der drei folgenden Voraussetzungen gegeben ist (vgl. Fritzsche 1986, 72ff): (a) Die Wirkungen der jeweiligen Schadstoffe sind nicht oder sehr wenig bekannt, aber es ist zu vermuten, daß sich schädliche Wirkungen langfristig einstellen. (b) Der Aufwand zur Rückhaltung von Schadstoffen variiert erheblich von Situation zu Situation, so daß man mit Hilfe des ALARA-Prinzips flexibel reagieren, d. h. den Aufwand zur Reduktion mit berücksichtigen kann. Allerdings muß die Festlegung des vernünftig Vertretbaren nach systematischer Abwägung zustande gekommen sein. (c) Die Forderung nach Stand der Technik erfolgt zusätzlich zur rationalen Festlegung von Standards, um eine Reduzierung von Schadstoffen auch dann vorzunehmen, wenn sie von der Wirkung her nicht unbedingt geboten erscheint, sie aber technisch und finanziell tragbar ist. Bei der Festlegung der Strahlenschutzstandards ist die Voraussetzung (a) mit Sicherheit nicht gegeben. Kaum ein Wirkungsbereich ist besser erforscht als die Effekte ionisierender Strahlung. Auch die Voraussetzung (b) ist allenfalls bei katastrophalen Ereignissen gegeben. Nach dem Tschernobyl-Unfall war die Belastung der Lebensmittel in verschiedenen Regionen und Ländern unterschiedlich hoch. Bei Befolgung des ALARA-Prinzips wäre es daher ökonomisch gerechtfertigt gewesen, in einer Region mit relativ geringer Belastung extrem niedrig kontaminierte Lebensmittel aus dem Markt zu ziehen, während in anderen

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Regionen mit wesentlich höheren Belastungen eine solche Praxis zu unvertretbar hohen wirtschaftlichen Kosten geführt hätte. Gleichwohl wäre die psychologische Wirkung von unterschiedlichen Interventionsmaßstäben verheerend gewesen. Kaum jemand bringt dafür Verständnis auf, daß schwach kontaminierte Milch in einem Bundesland vom Verzehr ausgeschlossen, im nächsten jedoch zum Verzehr zugelassen ist. Nach dem ALARA-Prinzip ist diese Spaltung durchaus rational begründbar; die Ausblendung der politischen Wirksamkeit als Zieldimension für Standardfestlegung macht aber die Begrenztheit dieses Ansatzes deutlich. So ist selbst bei Katastrophen, in denen unterschiedliche Belastungen von Lebensmitteln unterschiedliche Kosten-NutzenRelationen für identische Standards bedingen, eine einheitliche Festlegung des Standards aus Gründen des Gleichheitsgrundsatzes und der politischen Akzeptanz angemessener (Renn 1990). Bei der Anwendung des Vorsorgeprinzips zusätzlich zu einer rationalen Festlegung von Grenzwerten (c) erscheint die suboptimale Allokation von Ressourcen dann gerechtfertigt, wenn ein besonderes politisches Interesse an der Reduzierung von Emissionen unabhängig von deren Wirkung vorliegt. Es bleibt aber zu prüfen, ob der Einbau von Reduktionsmaßnahmen nicht selbst mehr Risiken erzeugt als diese reduzieren. So wiesen Black, Niehaus und Simpson nach, daß ein Teil der Sicherheitsvorkehrungen, die für kerntechnische Anlagen vorgeschrieben sind, mehr Risiken bei der Erstellung dieser Sicherheitstechniken erzeugen als sie durch ihre Existenz vermeiden helfen (Black et al. 1979). Als Fazit bleibt also festzustellen, daß die Prinzipien der Vorsorge vor allem dann gelten sollen, wenn über die möglichen Konsequenzen einer Handlung weitgehend Unwissenheit herrscht. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, dann können sie als zusätzliche Anreize zur Risikoreduktion dienen, führen aber notwendigerweise zur suboptimalen Verwendung gesellschaftlicher Ressourcen. Eine solche Abweichung vom optimalen Modell kann durchaus gerechtfertigt werden, wenn nicht-wirkungsbezogene Kriterien in den Katalog der Zielvorgaben aufgenommen werden. Eine solche Rechtfertigung läßt sich aber wiederum nur im Rahmen einer umfassenden Entscheidungsanalyse treffen. Aus diesem Grunde erweist sich ein rechtfertigbarer Umgang mit dem Vorsorgeprinzip nur dann als möglich, wenn dieses als eine von mehreren Entscheidungsdimensionen in eine umfassende Entscheidungsanalyse eingeht.

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Formale Kriterien und Instrumente

5.4 Entscheidungsanalytische

Verfahren der

Standardsetzung

In vielen Wissenschaften, in denen Probleme der rationalen Rekonstruktion menschlicher Entscheidung eine Rolle spielen, bedient man sich mit Erfolg des Instrumentariums der formalen Entscheidungsanalyse (Entscheidungslogik). Insbesondere in Ökonomie, Soziologie und philosophischer Ethik ist dieses Instrumentarium in den letzten Jahren für die verschiedenen Anforderungen der jeweiligen wissenschaftlichen Fragestellungen erweitert und verfeinert worden (Edwards 1954; Gäfgen 1963; Raiffa 1973; Behn & Vaupel 1982; Weber 1983; v. Winterfeldt & Edwards 1986). In diesem Abschnitt sollen diese Verfahren auf ihre Anwendbarkeit für die Entscheidungsprobleme im Rahmen der Standardsetzung untersucht werden. Die Verfahren der formalen Entscheidungsanalyse ergeben eine Reihe von Möglichkeiten zur Verbesserung der Präzision und Transparenz des Entscheidungsverfahrens. Das Verfahren weist jedoch aufgrund des methodisch-analytischen Ansatzes eine Reihe von Begrenzungen auf, deren Beachtung vor einer Überschätzung dieses Verfahrens bewahrt (Hansmeyer & Rürup 1975, 93ff; Fritzsche 1986, 506; v. Winterfeldt & Edwards 1986, 18ff). Die Möglichkeiten liegen insbesondere darin, — bei gegebenen Zielen und vorhandenem Wissen eine gemäß subjektiven Präferenzen optimale Auswahl aus verschiedenen Handlungsoptionen zu treffen (Nutzenoptimierung); — durch die Offenlegung von Zieldimensionen, Zielbewertungen und Gewichtungen die Transparenz des Entscheidungsprozesses vor der Öffentlichkeit zu gewährleisten und damit einen wichtigen Beitrag zur Rechtfertigung von Umweltstandards zu leisten; — durch die Zerlegung des komplexen Entscheidungsgegenstandes wie des Entscheidungsprozesses in bearbeitbare Einzelschritte gegebene Problemlagen besser beurteilen zu können und sie von intuitiven Fehlinterpretationen freizuhalten (Präzisierung). Demgegenüber ergeben sich die immanenten Begrenzungen: — durch die Notwendigkeit der Einbringung subjektiver Präferenzen die Wahl der Gewichtungen der jeweiligen Dimensionen plausibel zu begründen und politisch zu legitimieren {»Dezisionismus«);

Entscheidungsanalytische Verfahren

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— durch die Aufteilung komplexer Sachverhalte in bearbeitbare Einzelprobleme bestimmte interaktive Einflüsse zu vernachlässigen oder holistische Eindrücke auszuschließen (»Atomismus«); — durch die formal-strengen Anforderungen der Konsistenz und Transitivität aller zu berücksichtigenden Urteile Minimalbedingungen rationaler Entscheidung zu erfüllen. Die Rekonstruktion kann jedoch schon dadurch nicht den Anspruch erheben, die politische Realität des Entscheidungsprozesses zu beschreiben, in der diese Anforderungen sehr oft nicht erfüllt sind (»Idealismus«). Es wäre insbesondere ein Mißverständnis, wenn man erwarten würde, daß die Entscheidungsanalyse ein »mechanisches« oder »algorithmisches« Verfahren liefert, dessen »input« mit den erforderlichen Informationen gespeist wird, das diese Daten verarbeitet und dessen »Output« die »richtige« Entscheidung liefert. Die Entscheidungsanalyse kann nur kohärente Schlüsse aus den Informationen anbieten, die der Entscheidungsträger durch seine Präferenzen und seinen Wissensstand vorgibt. Sie bietet demgemäß lediglich einen formalen Rahmen, der wirksam wird, wenn neue Informationen, Zielkorrekturen und, insbesondere im Gruppenentscheidungsprozeß, Verhandlungen und Beratungen in diese Analyse miteinbezogen werden (Raiffa 1973, 265ff; Edwards 1977). Die Möglichkeit zur Korrektur, z. B. von Zielvorstellungen oder Bewertungsmaßstäben, d. h. die Möglichkeit des Einspruchs der Entscheidungsträger oder der von der Entscheidung Betroffenen, wird gerade durch die transparente Darstellung des Entscheidungsprozesses erleichtert und begründet damit die Überlegenheit solcher Verfahren gegenüber holistischen Urteilen oder bloßen Additionen von Einzelentscheidungen. In der Rekonstruktion eines Entscheidungsprozesses im Entscheidungsdiskurs findet eine notwendige Idealisierung des Entscheidungsprozesses statt, d. h., es wird quasi in einer »Laborsituation« nur ein bestimmter, mittelbar oder unmittelbar das Entscheidungsproblem betreffender Ausschnitt der Realität rekonstruiert. Diese Idealisierung ist notwendig, um ein überschaubares Untersuchungsfeld durch Reduzierung des Komplexitätsgrades zu erhalten.

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Formale Kriterien und Instrumente

5.4.1 Entscheidungsanalytische Vorgehensweise bei singulären Entscheidungsträgern 5.4.1.1 Die Entscheidungssituation Ein Entscheidungsproblem besteht dann, wenn eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt zwischen mehreren (mindestens zwei) Handlungsoptionen mit unterschiedlichen Folgen zu wählen hat. Diese Person soll Entscheidungsträger (auch: Entscheider), die Handlungsoptionen sollen Optionen, die Folgen zu einem bestimmten Zeitpunkt Konsequenzen genannt werden (Phillips 1979). Die Wünschbarkeit der Konsequenzen beurteilt der Entscheidungsträger danach, inwiefern diese seinen Zielen entsprechen. Ziele sind Meßlatten, mit deren Hilfe man die Wünschbarkeit von Optionen beurteilen kann (vgl. Abschnitt 5.1). Entscheidungssituationen, in denen zur Debatte stehende Optionen in ihren Konsequenzen mehrere Zieldimensionen (oft gegensätzliche) berühren, heißen »multiattributiv«, d. h., die Konsequenzen der Handlungsalternativen sind nicht nur mit einem Merkmal zu beschreiben, sondern nur gleichzeitig mit mehreren (Edwards 1977; Watson 1982). Für Entscheidungsprobleme im Zusammenhang mit Umweltstandards kann durchweg Multiattributivität unterstellt werden. Darüber hinaus sind Entscheidungssituationen unter Sicherheit, Unsicherheit und Ungewißheit zu unterscheiden (v. Winterfeld & Edwards 1986, 90ff). Ausschlaggebend für die Zuordnung zu einer dieser Kategorien ist der Informationsstand des Entscheiders. Glaubt ein Entscheidungsträger volle Information über alle Komponenten des Entscheidungsproblems zu haben, d. h., kann er aufgrund der Kenntnis von Ursache-Wirkungszusammenhängen abschätzen, welche Konsequenzen eintreten werden, handelt es sich um eine Entscheidung unter Sicherheit. Besteht keine Sicherheit darüber, welche Umweltzustände eintreten werden, können aber zumindest Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten von Konsequenzen bestimmt werden, handelt es sich um Entscheidungen unter Unsicherheit (»Risiko«). Fehlen solche Wahrscheinlichkeitseinschätzungen, d. h., weiß der Entscheidungsträger zwar, welche Konsequenzen möglicherweise eintreten könnten, ohne jedoch die Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Konsequenzen schätzen zu können, spricht man von Entscheidungen unter Ungewißheit (v. Winterfeldt &c Edwards 1986, 94; Häfele et al. 1990, 398f).

Entscheidungsanalytische Verfahren

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Das in einer Entscheidungssituation zu verhandelnde Problem muß zunächst so formuliert werden, daß es einer entscheidungsanalytischen Bearbeitung zugänglich wird. Das bedeutet insbesondere, daß der mögliche Verlauf der Entscheidung schrittweise und lückenlos dargestellt wird. Die Gesamtstrategie kann in sieben Schritten beschrieben werden (vgl. Weber 1983, 7; Keeney 8c Raiffa 1976, 5; Phillips 1979, 3; Weber 1983, 7; Renn 1986, 168). Diese sieben Schritte lassen sich als weitere Untergliederung der im Anfang von Kapitel 5 vorgenommenen Dreiteilung in Zielfindung, Datenbeschaffung und Abwägung auffassen. Die Schritte sind: I.

II.

III.

Zielfindung: — Erstellen von Zielen und Beurteilungsattributen — Festlegung der Optionen Datenbeschaffung — Prognose der Konsequenzen — Wahrscheinlichkeitsabschätzung der Konsequenzen Abwägung — Festlegung des Zielerreichungsgrades — Überführung der Konsequenzen in Nutzeneinheiten — Bewertung der Optionen durch Gewichtung der Zieldimensionen — Entscheidung

5.4.1.2 Zielfindung Die Wünschbarkeit der Konsequenzen beurteilt der Entscheidungsträger danach, inwiefern sie seinen Zielen entsprechen. Daher sollten diese Ziele in einem ersten Analyseschritt explizit formuliert werden. Relevant für die entscheidungsanalytische Bearbeitung sind die Ziele, die mit dem bestimmten Ausschnitt der realen Situation zusammenhängen, dem entscheidungsanalytisch konstruierten »Horizont«, der bis zu einem bestimmten Zeitpunkt des Ereignisverlaufs Grundlage der Entscheidungsanalyse ist. Dieser Horizont kann sich im Laufe des Entscheidungsprozesses verändern. Er kann durch die Hinzunahme neuer Ziele erweitert, durch das Wegfallen bisheriger verkleinert werden. Die Formulierung von Zielen kann unterschiedliche Abstraktionsgrade und Niveaus annehmen. Zu Beginn der Entscheidungsanalyse wird ein Zielsystem erstellt, das meist auf einer Hierarchisierung von

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Formale Kriterien und Instrumente

Zielen aufbaut. So werden »Oberziele«, wie z. B. im Kontext der Luftverschmutzung das Ziel »Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung«, aufgespalten in Unterziele, wie z. B. »Reduzierung der Schadstoffemission« und »Verbesserung der Haltung der Bürger gegenüber der Frage der Luftqualität«. Diese können zum Teil wiederum aufgespalten werden, z. B. in die Einzelziele, die sich auf Reduzierung der Emission einzelner Stoffe beziehen. In diesem Fall ist man bei einem Zielniveau angelangt, das es erlaubt, diesen Zielen Attribute mit einer Skala zuzuordnen, die den Grad der Erreichung eines solchen Zieles anzeigen (Keeney & Raiffa 1976, 39). Im günstigen Fall sind schon objektive Skalen vorhanden, z. B. hier »Menge der ausgestoßenen Schadstoffe pro Jahr in Tonnen«, oder solche Skalen müssen konstruiert werden, wie im Falle der Haltung der Bürger gegenüber der Luftqualität. Die Zuordnung eines Attributs mit einer Skala wird entscheidungsanalytisch erforderlich, da aufgrund dieser Skalen und Skalenwerte, die den Zielerreichungsgrad angeben, die »Übersetzung« in Nutzeneinheiten erfolgt. Sind die Skalenwerte der Attribute einer Konsequenz ermittelt, kann die Konsequenz durch einen Vektor beschrieben werden, dessen Komponenten diese Skalenwerte sind, z. B. Konsequenz Kj : Kj = (x l v ..,x n ), wobei die Xj den Grad der Zielrealisierung bezüglich des i-ten Zieles angeben. Damit ist die Grundlage für eine Bewertung von Handlungsoptionen gegeben (die dann durch die Abbildung der Attributskalen auf ein Nutzenintervall von 0 bis 1 oder 0 bis 100 erfolgt). Die Konsequenzen jeder Option können nicht im Hinblick auf die Erfüllung eines einzigen Zieles bewertet werden, sei es, weil dieses Ziel selbst zu allgemein und umfassend ist (ein Ziel mit hohem Abstraktionsgrad), sei es, weil es mehrere verschiedene, eventuell auch gegenläufige Ziele des Entscheidungsträgers gibt. Die Spezifizierung bei der Strukturierung und gegebenenfalls Hierarchisierung von Zielen ist pragmatisch zu handhaben, d. h., die Zahl der Unterziele muß noch bearbeitbar sein, und der Grad der Spezifizierung muß zweckgerichtet, also auf den nächsten Schritt der Entscheidungsanalyse ausgerichtet sein (Keeney et al. 1984, 29f). Die Attribute sind so auszuwählen, daß der Entscheidungsträger in Kenntnis des Attribut-Niveaus einer bestimmten Situation ein deutliches Verständnis vom Ausmaß der Erreichung des damit verbundenen Zieles hat.

Entscheidungsanalytische Verfahren

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Die Attribute mit der dazugehörigen Skalierung müssen so beschaffen sein, daß sie (a) Wahrscheinlichkeitsaussagen über unterschiedliche Niveaus der Attribute ermöglichen, d. h. Aussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Zielausprägung mit dem Wert Xj auf der Attributskala eintritt, und (b) dem Entscheider ermöglichen, Präferenzaussagen zu machen, d. h. anzugeben, welchen Nutzen er einem auf der Attributskala erreichten Wert x, zuordnet. Um eine Ausuferung des Zielsystems zu verhindern, wird der Entscheider bei jedem Ziel gefragt, ob ein fiktiver optimaler Handlungsverlauf sich ändern würde, wenn dieses Ziel ausgeschlossen bliebe. Wird die Frage mit »ja« beantwortet, wird das Ziel aufgenommen, andernfalls nicht (v. Winterfeldt 1980; Weber et al. 1988; Keeney 1988). Auch bei der Erstellung eines Zielsystems gilt, daß dynamische Prozesse und Korrekturen Eingang finden sollen. Stellt sich z. B. im Laufe der Entscheidungsanalyse heraus, daß ein vorher als bedeutsam eingeschätztes Ziel gar nicht diese Wichtigkeit hat, kann es gestrichen werden; ebenso können Ziele, wenn es geboten erscheint, weiter aufgespalten werden, damit alle wichtigen Aspekte einer Entscheidungssituation berücksichtigt werden. 5.4.1.3 Festlegung von Optionen Zur Darstellung eines Entscheidungsproblems in einem Modell sollten zunächst alle im Verlauf des Entscheidungsprozesses auftretenden Handlungsoptionen aufgezeigt werden. Dabei wird es häufig der Fall sein, daß sich anfänglich als reale Handlungsmöglichkeiten eingeschätzte Optionen als nicht realisierbar erweisen oder aufgrund einer vereinfachten Auswahlstrategie suboptimale Optionen frühzeitig identifiziert und aus der Menge der zu analysierenden Optionen ausgeschlossen werden können. Eine systematische Reduzierung der denkbaren Optionen kann nach zwei Verfahren erfolgen: (a) »Satisfycing Strategy«. Danach haken die Individuen bei jeder Konsequenz ab, inwieweit ein für notwendig gehaltener Schwellenwert überschritten wird (Simon 1976). Sind einmal Minimalkriterien für jede Zieldimension festgelegt, werden die Optionen ausgewählt, die auf allen relevanten Zielen die Minimalanforderungen übertreffen.

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Formale Kriterien und Instrumente

(b) »Elimination by Aspect«. Alle Optionen werden daraufhin überprüft, inwieweit sie eine hierarchisch aufgebaute Liste von Zielanforderungen sukzessiv erfüllen (Tversky 1972). Auf diese Weise können relativ zuverlässig Subdominante Lösungen identifiziert und aus der Optionenliste gestrichen werden. Viele Entscheidungsanalytiker haben auf die besondere Relevanz der Optionensuche hingewiesen (v. Winterfeldt & Edwards 1986, 26ff; Keeney et al. 1984, 21). Häufig werden die Optionen, die zur Zielerreichung dienen können, zu eng gesehen. Z. B. wird bei der Frage nach der Wahl eines Beförderungsmittels die Option »Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel« oder »Fahrten mit dem Taxi« oft überhaupt nicht in Betracht gezogen, weil man das Problem nur im Sinne des privaten Verkehrs strukturiert hat. Gerade im Umweltbereich ist es sinnvoll, funktionsäquivalente Alternativen zu Umweltstandards mit in die Analyse einzubeziehen, weil diese häufig (aber, wie in Kapitel 6.2 ausführlich erörtert, nicht immer) gegenüber den starren Standards Nutzenvorteile bieten. 5.4.1.4 Prognose von Konsequenzen Prognosen über Konsequenzen sind Aussagen über Ursache und Wirkung; sie geben die Folgen von Handlungen und Ereignisverläufen an. Dies kann zunächst in undifferenzierter Form erfolgen. So z. B. in der Form: »Der Bau dieses Kraftwerkes hat eine Verschlechterung der Luftqualität zur Folge.« Innerhalb der Entscheidungsanalyse werden solche Ursache-Wirkungsbeziehungen präzisiert. Diese Präzisierung erfolgt auf der Grundlage der Aufspaltung von Oberzielen in Unterziele und der Zuordnung von Attributen mit Skalen (Keeney & Raiffa 1976, 39ff). Z. B. könnte die oben angeführte, allgemein gehaltene Aussage bezüglich des Attributs »S0 2 -Ausstoß« und der zugehörigen Skala »S0 2 Ausstoß in Tonnen pro Jahr« folgendermaßen präzisiert werden: »Der Bau dieses Kraftwerkes hat einen Anstieg des S0 2 -Ausstoßes von soundsoviel Tonnen pro Jahr zur Folge.« Etwas formaler ausgedrückt ergibt sich: Eine Menge von Konsequenzen K = (K],...,Kj) ist weiter zu bestimmen im Hinblick auf ihre Erfüllung der formulierten Ziele aus der Menge Z = (Zj,...,Z n ). Jedem Ziel Zj ist ein adäquates Attribut Xj zugeordnet, für das eine Meßskala schon existiert oder für das man eine Skala konstruieren kann. Die

Entscheidungsanalytische Verfahren

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Werte y, geben den auf der Skala angezeigten Grad der Erfüllung von Zj bei einer Konsequenz an. Bei der Auswahl von Attributen ist zu entscheiden, ob eine Skala konstruiert werden soll oder ob auf eine schon vorhandene zurückgegriffen werden kann. Dies hängt vor allem von den formulierten Zielen ab. Ist z. B. das Oberziel eines Entscheidungsträgers der S0 2 -Ausstoß, dann muß man zur Bewertung der Konsequenzen hinsichtlich dieses Oberziels eine Skala konstruieren. Ist das Oberziel die Verbesserung der Luftqualität und der S0 2 -Ausstoß damit ein Unterziel, so kann man hinsichtlich dieses Unterziels auf eine schon bestehende Skala, z. B. von Tonnen S0 2 -Ausstoß pro Jahr, zurückgreifen (Keeney 1981, 29). Zu bedenken ist hierbei auch, wie sinnvoll eine Skalierung im Falle des Oberziels überhaupt ist. Es kann nämlich einen derartig hohen Grad der Allgemeinheit aufweisen, der es nahezu unmöglich macht, zu einer rationalen Bewertung zu kommen; sämtliche Aspekte, die dieses Ziel beinhaltet, bleiben implizit. Hat man den Zielen adäquate Attribute zugeordnet, kann man die Konsequenzen im multiattributiven Fall als Vektoren y = (yi,...,y n ) betrachten, wobei die yj angeben, welchen Grad der Erfüllung das Attribut, gemessen am Ziel Z ( in dieser Konsequenz, annimmt. Diese Konsequenzvektoren haben nun Komponenten, die Werte in unterschiedlichen Maßeinheiten angeben. Ein weiterer Schritt der Entscheidungsanalyse besteht dann in der Bewertung (siehe Abschnitt 5.4.1.7), um diese verschiedenen Größen miteinander kommensurabel zu machen und damit für jede Konsequenz einen Wert angeben zu können. 5.4.1.5 Berechnung der Wahrscheinlichkeiten von Konsequenzen Stellt man Entscheidungsprozesse in Entscheidungsbäumen dar, kann jede Alternative auf Pfaden bis zu ihren Konsequenzen verfolgt werden. Ergeben sich im Verlauf erneut Entscheidungssituationen, werden diese durch Verzweigungen gekennzeichnet und weiterverfolgt. An vielen Punkten eines Entscheidungsprozesses unter Risiko ergeben sich Situationen, in denen mehrere Möglichkeiten des weiteren Verlaufs vorhanden sind. Hängt das Eintreten dieser Möglichkeiten nicht vom Entscheidungsträger ab, werden diese Situationen in Entscheidungsbäumen als Zufallsverzweigungen gekennzeichnet. Konsequenzen treten also nicht mit Sicherheit ein, sondern nur mit einer bestimmten Wahrschein-

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Formale Kriterien und Instrumente

lichkeit (Raiffa 1973, 27; Huber 1974, 432). Bild 5.1 stellt eine Entscheidungssituation unter Risiko graphisch dar. Das Quadrat in der Abb. 5.1 ist eine Verzweigung, die eine Entscheidungssituation darstellt; der Kreis ist eine Zufallsverzweigung. In der Skizze führt die Handlung A zu einer Zufallsverzweigung, an der mit einer Wahrscheinlichkeit p! die Konsequenz Ki eintritt und mit einer Wahrscheinlichkeit von 1-pi die Konsequenz K2. Die Handlungsoption B führt mit Sicherheit zur Konsequenz K3.

Bei Entscheidungsverläufen, in denen es nach der Ausgangsentscheidung zu weiteren Entscheidungssituationen mit mehreren Optionen kommt, werden die möglichen wählbaren Handlungssequenzen als Strategien bezeichnet und im Entscheidungsbaum auf Pfaden verfolgt. Eine Strategie ist also eine Sequenz von Handlungen in bestimmter Reihenfolge mit einer bestimmten Konsequenz. In die Bewertung fließt daher nicht mehr nur eine Ausgangsoption, sondern die ganze Strategie ein. Die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten für unterschiedliche Konsequenzen ist dann einfach, wenn genügend Datenmaterial aus der Vergangenheit vorliegt und sich gleichzeitig die äußeren Bedingungen, unter denen die im Datenmaterial festgelegten Ursache-Wirkungsbeziehungen gelten, weitgehend konstant bleiben. Z. B. läßt sich aus der Zahl der Verkehrstoten der Vorjahres relativ zuverlässig die Zahl der Toten für das kommende Jahr ableiten. In komplexen technischen Systemen werden auch häufig bekannte Ausfallwahrscheinlichkeiten von Teilsystemen oder Komponenten zu einer Systemwahrscheinlichkeit synthetisiert (Häfele et al. 1990, 378). In allen diesen Fällen liegt der

Entscheidungsanalytische Verfahren

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errechneten Wahrscheinlichkeit die relative Häufigkeit eines Ereignisses pro Zeiteinheit zugrunde. Im Zusammenhang mit der Anwendung neuer Techniken fehlen oft historische Daten. Sie sind häufig von nicht akzeptabler Qualität oder nicht repräsentativ für zukünftige Ereignisse. In diesen Fällen muß auf subjektive Wahrscheinlichkeiten zurückgegriffen werden (v. Winterfeldt & Edwards 1986, 93). Gleiches gilt im Prinzip, wenn für die zu behandelnden Handlungsoptionen zu wenig Erfahrungswerte vorliegen oder diese so weit streuen, daß statistische Konfidenzintervalle keine sinnvolle Aussage erlauben (Häfele et al. 1990, 402ff). Subjektive Wahrscheinlichkeiten sind nicht als reine Spekulationen zu betrachten, sondern als Formalisierung von Erfahrungswerten. Dabei sollen diejenigen Personen befragt werden, die aufgrund ihrer Erfahrung mit ähnlichen Systemen oder ihrer Vertrautheit mit den Systemkomponenten solche Schätzungen besser als andere vornehmen können (Winkler 1968). Im vorliegenden Kontext sind diese Urteile insbesondere auf der Grundlage von Expertenbefragungen zu bilden (Raiffa 1973, 274ff). Mit der Zuordnung von Wahrscheinlichkeiten zu den Konsequenzen der Handlungsalternativen ist eine Gewichtung aus der Bewertung der Konsequenz in Nutzeneinheiten (siehe Abschnitt 5.4.1.7) mit ihrer Wahrscheinlichkeit möglich. Formalisiert heißt das, daß sich der Erwartungsnutzen (expected wtility = EU) aus der Summe der Produkte aus dem Wert (Nutzen) der Konsequenzen mit ihren Wahrscheinlichkeiten ergibt (Raiffa 1973, 24) n

EU(A) = I ¡=i

Pi

x

Mi

wobei i die i-te Konsequenz angibt. In der vorangehenden Abb. 5.1 ist der Erwartungsnutzen der Alternative »A tun«: EU (A tun) = p, x u(Ki) + (1 -

Pl

) x

U

(K 2 ).

Dabei sind u(Ki) und u(K2) die Werte (Nutzen) der Konsequenzen. Wichtig ist hierbei die Bewertung der Konsequenzen, auf deren Basis letztendlich die Einschätzung der Handlungsoptionen erfolgt. Ehe man jedoch diese Bewertung vornehmen kann, müssen zunächst die Konsequenzen nach dem Grac ihrer Zielerfüllung bewertet und in Nut-

384

Formale Kriterien und Instrumente

zeneinheiten überführt werden. In einer multiattributiven Entscheidung ergibt sich dafür folgender Analyseverlauf: (a) (b) (c) (d) (e)

Bestimmung des Ausmaßes der Konsequenzen, d. h. Festlegung der Zielerreichungsgrade auf den Attributskalen; Erstellung einer Nutzenfunktion für jedes Attribut; Bestimmung von Gewichtungsfaktoren; Aggregation der Einzelnutzen jeder Konsequenz zu dem Gesamtnutzen der Option; Bestimmung des Erwartungsnutzens der Optionen.

5.4.1.6 Festlegung des Zielerreichungsgrades Um aus der Menge der Optionen diejenige auswählen zu können, deren Konsequenz mit hoher Wahrscheinlichkeit die höchste Ausprägung der Zielvorstellungen aufweist, ist eine Bewertung der Konsequenzen notwendig. Hier sind zunächst zwei Fälle zu unterscheiden: (a) Entscheidungen unter Sicherheit und (b) Entscheidungen unter Unsicherheit. (a) Im einfacheren Fall, bei Entscheidungen unter Sicherheit, kann man jede Handlungsalternative auf Pfaden mit Sicherheit bis zu ihrer/ihren Konsequenz/en verfolgen. Eine Option hat im Sicherheitsmodell mehrere Konsequenzen, wenn es im Entscheidungsprozeß noch weitere Entscheidungssituationen (in Entscheidungsbäumen: Verzweigungen) gibt. Um die Optionen zu bewerten, braucht man nur die Konsequenzen nach ihrem Nutzengewinn zu bewerten (siehe Abschnitt 5.4.1.7). Der Nutzen einer Option ist dann gleich dem Nutzen der sicheren Konsequenz. Hat eine Alternative mehrere Konsequenzen (dies ist die Regel), werden Kombinationen von Konsequenzen bewertet. Der Nutzen einer Kombination ist dann gleich der Summe der Nutzwerte einer jeden Konsequenz gewichtet mit ihrer relativen Bedeutung. (b) Bei Entscheidungen unter Unsicherheit treten Konsequenzen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ein. Um die Optionen zu bewerten, müssen wie im ersten Fall (a) zunächst die Konsequenzen bewertet werden. In einem zweiten Schritt wird dann der Erwartungsnutzen des letzten Punktes im Handlungsverlauf, von dem ab der weitere Verlauf nur mit Wahrscheinlichkeitsangaben bestimmt werden konnte, berechnet.

Entscheidungsanalytische Verfahren

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In Abb. 5.1 ist der letzte Punkt im Handlungsverlauf identisch mit der Zufallsverzweigung. Der Erwartungsnutzen beträgt an dieser Stelle, wie schon im letzten Abschnitt dargestellt: EU (A tun) = p, x u(K t ) + (1 -

Pl)

x u(K2).

In Abb. 5.1 kann dieser Wert gleich übertragen werden als Erwartungsnutzen der Alternative, da im Ereignisverlauf auf dem Pfad dieser Alternative keine Zufallsverzweigung mehr dazwischenliegt. Der kompliziertere Fall soll durch Erweiterung der bisherigen Abbildung dargestellt werden. In dem in Abb. 5.2 dargestellten Fall wurde die sogenannte »RollBack-Analyse« (Raiffa 1973, 39) durchgeführt. Dazu muß der Ent-

Abb. 5.2 scheidungsverlauf, einschließlich der Wahrscheinlichkeitsangaben und der Nutzenwerte der Konsequenzen, vorliegen. Zur Bewertung der Optionen werden anhand der vorhandenen Daten über Wahrscheinlichkeiten und Konsequenzen sukzessiv die Erwartungsnutzen der Zufallsverzweigungen im Entscheidungsbaum von rechts nach links bestimmt. Bei dem in Abb. 5.2 dargestellten Ereignisverlauf werden zunächst die Erwartungsnutzen der beiden letzten (d. h. der weiter rechts liegenden) Zufallsverzweigungen bestimmt. EU, = p! x K, + (1 - P l ) x K2 EU2 = p2 x K4 + (1 - p2) x K5. Aus diesen Werten und den Wahrscheinlichkeiten p 3 und 1 — p 3 läßt sich der Erwartungsnutzen des davorliegenden Zufallsverzweigungspunktes berechnen:

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Formale Kriterien und Instrumente

EU 0 = p3 x EU! + (1 - p3) x EU 2 . Da diesem Punkt kein weiterer mehr vorgelagert ist, ist der Erwartungsnutzen der Option »A tun« gleich EU 0 . Dieser wird nun wie bei dem obigen Modell mit dem Erwartungsnutzen der Option »B tun« verglichen (Raiffa 1973, 39ff). Nach der Unterscheidung dieser beiden Modelle ist es nun erforderlich, den Vorgang der Bewertung der Optionen weiter zu betrachten. Diese beruht nämlich auf der Bewertung der Konsequenzen. Dazu müssen die einzelnen Konsequenzen in Nutzeneinheiten überführt werden. 5.4.1.7 Erstellung einer Nutzenfunktion Mit Hilfe der Nutzentheorie werden den Konsequenzen in der dekomponierten Form, d. h. jedem einzelnen Attribut, Nutzenwerte zugeordnet; damit werden die verschiedenen Meßskalen der Attribute auf eine einheitliche Nutzenskala, deren Werte zwischen 0 und 1 (oder 1 bis 10 oder 1 bis 100) liegen, abgebildet. Diese Abbildung soll die Präferenzordnung des Entscheidungsträgers wiedergeben. Die Abbildungsvorschrift wird daher über Befragung des Entscheiders erstellt, z. B. durch Zuordnung von Minimal- oder Maximalwerten zu der schlechtesten bzw. besten Konsequenz und von Zwischenwerten für alle übrigen Konsequenzen. Hat man genügend Punkte ermittelt, erschließt man daraus die Abbildungsvorschrift (durch eine Kurve im Koordinatenkreuz) und überprüft in einem zweiten Schritt die Korrektheit dieser Abbildungsvorschrift, indem man dem Entscheidungsträger die ermittelten Werte zur Kontrolle vorlegt. Seinen Antworten entsprechend wird die Nutzenfunktion dann korrigiert (Farquhar 1984; v. Winterfeldt & Edwards 1986, 241ff). Dieses Verfahren wird für jedes Attribut durchgeführt. Anhand dieser Nutzenfunktionen kann dann jede Konsequenz in ihren Komponenten mit Nutzeneinheiten wiedergegeben werden (z. B. kann jeder Wert auf der Skala S0 2 -Ausstoß in Tonnen pro Jahr in Nutzeneinheiten ausgedrückt werden). Das Befragungsverfahren kann direkt oder indirekt durchgeführt werden. Bei direkter Methode wird der Entscheidungsträger befragt, wieviele Nutzeneinheiten er den skalierten Zielausprägungen zuordnet, z. B. welchen Nutzen er einem Schadstoffausstoß von soundsoviel Tonnen pro Jahr beimißt. Bei der Anwendung eines indirekten Verfahrens wird die Nutzenfunktion über das Arbeiten mit Lotterien erstellt. Dabei

Entscheidungsanalytische Verfahren

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wird der Entscheidungsträger gefragt, bei welchen Lotterien (Angaben der Lotterien mit Auszahlungen und deren Wahrscheinlichkeiten) er indifferent gegenüber der Lotterie und einem bestimmten Wert des Attributs ist, d. h., welchen Wert eines Attributs er einer bestimmten Lotterie gleichsetzt (Behn & Vaupel 1982, 27ff). Diese Befragung wird solange wiederholt, bis man eine Indifferenzkurve erhält, die den Bedingungen der Konsistenz und Transitivität genügen muß. Bei Inkonsistenzen wird solange nachgefragt, bis die Kurve diesbezüglich korrigiert wird. Diese Indifferenzkurve kann durch die Identifizierung dieser Lotterien mit Nutzenwerten als Nutzenfunktion interpretiert werden (Raiffa 1973, 174ff). Das Arbeiten mit Lotterien hat den Vorteil, daß es die einzelnen Attribute, damit die Ziele, so in den Hintergrund stellt, daß sie etwas von einer möglicherweise vorhandenen emotionalen Aufladung verlieren. 5.4.1.8 Bestimmung von Gewichtungen und Gesamtnutzen Bis zu diesem Punkt einer Analyse sind die Konsequenzen in Attribute aufgespalten. Um nun jeder Konsequenz einen Gesamtnutzen zuordnen zu können, muß festgestellt werden, in welchem Verhältnis zueinander die Ziele des Entscheidungsträgers gemäß seinen Präferenzen stehen. Sind die Ziele gleichgewichtig oder haben einige mehr Gewicht als andere? Wenn ja, welche sind das und wie kann die Gewichtung ausgedrückt werden? Es geht also darum, die Präferenzstruktur des Entscheiders zu berücksichtigen, um dann eine Aggregationsfunktion aufstellen zu können, die die Einzelnutzenwerte zu einem Gesamtnutzenwert zusammenfügt. Anhand dieses Wertes erfolgt dann die Gesamtbewertung der Handlungsoptionen, damit also die Entscheidung für die rationale Handlungsoption. Dabei folgt man dem Rationalitätspostulat: »Wähle die Option, die bei gegebenen Präferenzen und gegebener Wissensstruktur den größten Nutzen erwarten läßt« (vgl. Keeney Sc Raiffa 1976, 6). Zur Bestimmung der Gesamtnutzenfunktionen wurden seit den 70er Jahren unterschiedliche Verfahren entwickelt, von denen hier nur eines exemplarisch skizziert werden soll (Keeney 8c Raiffa 1976; Schoemaker 1982; Weber 1983; v. Winterfeldt & Edwards 1986). Ausgangspunkt vieler Verfahren zur Bestimmung der Nutzenfunktion sind Darstellungen von Konsequenzen, die in dekomponierter Form bereits die Zielerreichungsgrade der Attribute in Nutzeneinheiten angeben. Es soll nun

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Formale Kriterien und Instrumente

versucht werden, den Zusammenhang zwischen dem Vektor y = u(y!),...,u(y n ) und u(K), dem Gesamtnutzen einer Konsequenz, herzustellen. Einige Verfahren bestehen darin, ein Gewichtungssystem ( K l v . . , K n ) zu erstellen, das die Präferenzen des Entscheidungsträgers widerspiegelt. Die relative Gewichtung von Zielen ist eine explizite Forderung aller Entscheidungsverfahren nach dem M A U T Prinzip (Multiattribute Utility Theory). Gewichtungen können jedoch erst dann sinnvoll durch Befragung ermittelt werden, wenn die mögliche Schwankungsbreite der Ausprägungen genau definiert ist. Aus diesem Grunde muß die Nutzentransformation auf jedem Attribut zeitlich vor der Verteilung von relativen Gewichten für jedes Attribut erfolgen. Im folgenden soll als Beispiel eine Klasse von Verfahren vorgestellt werden, die von linearen Nutzenfunktionen ausgehen und sich darauf beschränken, das Gewichtungssystem des Entscheidungsträgers zu ermitteln (Weber 1983, 102ff). Für andere Nutzenfunktionen haben sich die sogenannten Trade-off-Verfahren bewährt (Keeney & Raiffa 1976; Raiffa 1973). Dabei wird der Entscheidungsträger gefragt, auf welche Menge eines bestimmten Attributs er verzichten würde, um bei einem anderen Attribut ein um eine Einheit höheres Niveau zu erreichen. Aus den Antworten des Entscheidungsträgers werden so viele Gleichungen aufgestellt, wie zur Ermittlung der Gewichtungsfaktoren notwendig sind. Die vorzustellende Klasse von Verfahren besteht im Kern darin, daß anhand der gegebenen Zielerreichungsgrade der Konsequenzen versucht wird, ein Gewichtungssystem der Ziele ( k l v . . , k n ) zu erstellen, das der Präferenzordnung des Entscheidenden entspricht. Für jedes Ziel soll also ein Gewichtungsfaktor bestimmt werden, der dessen Wichtigkeit für den Entscheidungsträger repräsentiert. Die Ermittlung der Gewichtungsfaktoren erfolgt über die Attribute, da diese skaliert und die Zielausprägungen der Konsequenzen bereits bekannt sind. Die Bewertung einer Konsequenz erhält man also, indem man die gewichteten und bereits auf einer Nutzenwertskala abgebildeten Werte der einzelnen Attribute aufsummiert. n

u{k) = Z fe, X u(y,) i= l

wobei u(y,) den Einzelnutzen des Attributs in der Ausprägung yj und

Entscheidungsanalytische Verfahren

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kj das Gewicht des dem Attribut zugehörigen Zieles angibt; u(K) ist der Gesamtnutzen einer Konsequenz, der sich aus der Summe der gewichteten Einzelnutzen ergibt. Vorausgesetzt werden bei diesem Verfahren die additive Unabhängigkeit und die Präferenzunabhängigkeit der Ziele (Fishburn & Keeney 1974). Die Vertreter dieser Methode sind sich der Vereinfachung wohl bewußt, können jedoch gleichzeitig die einfache Handhabung des Verfahrens hervorheben. Die formulierten Ziele werden entsprechend ihrer Wichtigkeit geordnet; dem am wenigsten wichtigen Ziel wird die Zahl 10 gegeben. Alternativ dazu kann man auch die beste Option (auf einem Attribut) mit der Nutzenzahl 100 und die schlechteste mit der Nutzenzahl 0 kennzeichen. Der Entscheidungsträger muß beurteilen, wieviel wichtiger ihm das zweitunwichtigste Ziel gegenüber dem am wenigsten wichtigen (oder wieviel unwichtiger ihm das zweitwichtigste Ziel gegenüber dem wichtigsten Ziel) ist. Dem zweiten Ziel ordnet er dann eine Zahl zu, die dieses Verhältnis widerspiegelt. Die Zahl, die dem drittunwichtigsten Ziel zugeordnet wird, soll aus dem Vergleich dieses Zieles mit den schon betrachteten Zielen resultieren. Bis zum Erreichen des wichtigsten Ziels wird der Entscheidungsträger möglicherweise einige Revisionen durchführen müssen. Das Gewichtungssystem ergibt sich, indem die relativen Gewichte auf 1 normiert werden. Zur Verdeutlichung ein Beispiel:4 An einer Fakultät ist eine Professorenstelle zu besetzen. Der Berufungsausschuß muß aus einer Anzahl von Bewerbern (diese sind in dem Fall die Optionen) auswählen. Er hat für seine Bewertung drei Ziele zugrundegelegt: — Zi: hohe Publikationstätigkeit — z2: angenehme Persönlichkeit — z3: hohe Einsatzbereitschaft in der Lehre Diesen Zielen werden folgende Attribute zugeordnet: — yi: Anzahl der Publikationen — y2: Persönlicher Eindruck — y3: Zahl der Lehrveranstaltungen In einem ersten Schritt wird die Reihenfolge der Attribute (damit der Ziele) ermittelt: y 2 > yi > y3. Gemäß dem Verfahren wird die Zahl 10 dem Attribut y3 zugeordnet. Der Entscheidungsträger beschließt, daß y] doppelt so wichtig ist wie y3; also ist y, = 20. y 2 ist wiederum doppelt 4

Entnommen aus Weber 1983, 103.

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Formale Kriterien und Instrumente

so wichtig wie also y 2 = 40. Er akzeptiert dabei die Transitivität, daß nämlich y 2 viermal so wichtig ist wie y 3 . Wäre dies nicht der Fall, müßten die Gewichtungen solange revidiert werden, bis die Bedingung der Transitivität erfüllt ist. Die so vermittelten Werte werden auf 1 normiert: ki = 20:70; k 2 = 40:70; k 3 = 10:70.

Aus der Multiplikation dieser Gewichtungsfaktoren mit den Einzelnutzen und der Aufsummierung der Produkte erhält man die Gesamtbewertung einer Konsequenz. Handelt es sich um Entscheidungen unter Unsicherheit werden diese Gesamtbewertungen der Konsequenzen vor der Aufsummierung mit den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten verknüpft. Durch Sensitivitätsanalysen kann der Einfluß der jeweiligen Nutzentransformationen und der Zielgewichtungen überprüft werden. In einem linearen System sind bei solchen Input-Veränderungen nur proportionale Output-Veränderungen zu erwarten. Nichtsdestoweniger hat sich in der Praxis eine Sensitivitätsanalyse bewährt, weil diese den Entscheidungsträger zwingt, seine Eingaben zu überprüfen und die Robustheit der Ergebnisse zu testen (v. Winterfeld & Edwards 1986, 399f). 5.4.1.9 Ein Beispiel: Autokauf Die abstrakte Vorgehensweise der Entscheidungsanalyse kann an einem einfachen Beispiel demonstriert werden. Gesetzt den Fall, daß der Entscheider sich einen neuen Wagen anschaffen will; seine Entscheidungssequenz würde folgendermaßen aussehen: (a) Zielbestimmung: Der Entscheider sollte sich über seine Ziele vor der Auswahl der Optionen klarwerden, weil sonst die intuitiven Präferenzen für bestimmte Optionen (etwa der rote Sportwagen im Schaufenster) indirekt die Zielauswahl beeinflussen würden. In unserem Fall entscheidet sich der Käufer für folgende Ziele: Preisgünstigkeit (untergliedert in Anschaffungspreis, Wiederverkaufswert und Benzinverbrauch); Zuverlässigkeit (untergliedert in Wartungshäufigkeit und Überraschungsfreiheit), Lebensdauer, Motorstärke (untergliedert in PSZahl und Beschleunigung), Bequemlichkeit sowie Ästhetik (untergliedert in Wagenform und Farbe). (b) Optionenbestimmung: Da es um den Kauf eines Personenkraftwagens geht, kommen andere Transportmittel, wie öffentliche Verkehrs-

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mittel oder Fahrrad, nicht in Betracht. Deshalb ist die Zahl der Optionen auf Personenkraftwagen beschränkt. Da es Hunderte von Möglichkeiten gibt, trifft der Entscheider eine Vorauswahl nach dem Satisfycing-Verfahren. Er setzt Minimalbedingungen fest, die jeder Kandidat erfüllen muß, um überhaupt in die Auswahl zu kommen. Diese Bedingungen können sein: Mindestzahl der Sitzplätze, eine Preisspanne von 15.000 bis 25.000 D M ; mindestens befriedigendes Abschneiden bei einem Autotest in einer Fachzeitschrift etc. Alle Wagen, die diese Bedingungen erfüllen, kommen in die nähere Wahl. (c) Prognosen über Konsequenzen: Jeder Wagen muß nun auf jedem Attribut bewertet werden. Dazu müssen die Informationen, soweit sie vorliegen, bei den entsprechenden Auskunftsstellen eingeholt werden. Einige Attribute, wie der Anschaffungspreis, stehen sicher fest und können ohne Modifikation in die Matrix aufgenommen werden; bei anderen Attributen sind Umrechnungen notwendig. Z. B. ist der Wiederverkaufswert keine feste Größe (vor allem für ein neues Modell) und muß deshalb subjektiv geschätzt oder durch Expertenbefragung erschlossen werden. In beiden Fällen spielen subjektive Wahrscheinlichkeiten, d. h. die Stärke der eigenen Überzeugung oder die der befragten Experten, eine wichtige Rolle. Andere Attribute, wie etwa die Bewertung der Form, erfordern neue Skalen, da dieses Attribut keine natürliche Maßeinheit aufweist. In diesem Falle könnte der Entscheider eine subjektive Ästhetikskala von 0 bis 10 aufstellen und jede Option relativ zueinander bewerten (0 für den häßlichsten Wagen und 10 für den schönsten, die restlichen Kandidaten zwischen diesen Extremwerten). (d) Errechnung von Wahrscheinlichkeiten: Einige Konsequenzen der Kaufentscheidung werden sich erst in Z u k u n f t herausstellen, so daß Unsicherheit über die wahre Ausprägung einer jeden Option auf der jeweiligen Zieldimension besteht. In diesem Falle muß entweder auf relative Häufigkeiten (falls vorhanden) oder auf subjektive Urteile zurückgegriffen werden. Nehmen wir etwa an, daß die Wartungshäufigkeit jedes Wagens in den letzten zehn Jahren getestet wurde. Aus den Testdaten von 20 oder 30 getesteten Wagen des gleichen Typs kann dann eine Verteilungsfunktion für Ausfälle erstellt werden. Diese Funktion gibt an, wie häufig ein jeder Wagen innerhalb der betrachteten Frist gewartet werden mußte. Daraus läßt sich ein objektiver Erwar-

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Formale Kriterien und Instrumente

tungswert errechnen, den man für die Entscheidungsmatrix zugrunde legen kann. Je nach Risikoaversion des Entscheiders kann man anstatt des Erwartungswertes auch den unteren Wert des Konfidenzintervalls oder den Zwei-Drittel-Wert eintragen, um unangenehme Überraschungen zu reduzieren oder um auf der sicheren Seite zu liegen, weil man glaubt, ständig den »Montagswagen« zu kaufen. Es ist aber unbedingt notwendig, diese Regel für alle Optionen gleich anzuwenden, um Chancengleichheit zu gewährleisten. (e) Bewertung auf der Zieldimension: Oft lassen sich Prognosen über Konsequenzen nicht direkt auf der jedem Ziel zugeordneten Skala messen. In diesem Falle müssen die Konsequenzen auf der Skala geschätzt werden. Dies ist dann besonders schwierig, wenn die Konsequenzen mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten gewichtet wurden. Das kann am Beispiel des Ziels Bequemlichkeit demonstriert werden. Der Entscheider hat jeden Wagen Probe gefahren und sich dabei Notizen über die Bequemlichkeit des Fahrens gemacht. Aus Erfahrung weiß er aber, daß eine gute Beurteilung der Bequemlichkeit erst nach längerer Fahrdauer möglich ist. Aus diesem Grund muß er Schätzungen für diese Größe angeben. Bei einigen Fahrzeugen hat er zusätzliche Informationen, z. B. von Freunden, die den gleichen Wagen besitzen, oder aus Automobilzeitschriften, die die Bequemlichkeit getestet haben. Wie kommt er von diesen kursorischen Informationen zu Beurteilungen? In der MAU-Analyse wird dabei wie folgt vorgegangen: Zunächst definiert er die verschiedenen Stufen der Bequemlichkeit und ordnet ihnen Nutzenwerte zu (etwa sehr unbequem 0 Punkte, etwas unbequem 10 Punkte, relativ bequem 40 Punkte, sehr bequem 60 Punkte und äußerst bequem 100 Punkte). Aufgrund aller seiner Vorinformationen vergibt er für jeden Wagen und jede Kategorie subjektive Wahrscheinlichkeiten (Wagen A [mit vielen Informationen]: 0 Punkte 5%; 10 Punkte 10%; 40 Punkte 70%; 60 Punkte 10%; 100 Punkte 0%; Wagen B [mit wenig Informationen]: 0 Punkte 10%; 10 Punkte 20%; 40 Punkte 30%; 60 Punkte 20% und 100 Punkte 10%). Der Skalenwert für beide Wagen ergibt sich dann aus der Summe der Nutzenwerte multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens. In unserem Beispiel sieht die Rechnung folgendermaßen aus: Wagen A: (0 x 5) + (10 x 10) + (40 x 70) + (60 x 10) + (100 x 0) = 3500 (35% Zielerfüllung)

Entscheidungsanalytische Verfahren

Wagen B: (0 x 10) + (10 x 20) + (40 x 30) + (100 x 10) = 3600 (36% Zielerfüllung)

(60 x 20)

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+

Das Ergebnis zeigt, daß der Nutzwert der riskanten Alternative etwas besser ausfällt als der der weniger riskanten Alternative. Die geringe Abweichung zwischen den beiden Optionen macht aber deutlich, daß weitere Kriterien notwendig sind, um eine sinnvolle Auswahl treffen zu können. Der Vorsprung der riskanten Option ist aber beachtenswert, weil er intuitiv nicht zu erwarten war. Natürlich läßt sich bei der Nutzenkalkulation auch Risikoaversion (d. h. eine besonders negative Gewichtung der unsicheren Konsequenzen) berücksichtigen. Zum Teil ist dies schon durch die Wahl eines asymmetrischen Punktesystems geschehen. Darüber hinaus gibt der Prozentsatz der Zielerfüllung an, wieweit die bewertete Option vom Idealzustand (äußerst bequem) entfernt ist. Diese Information ist hilfreich, um bei geringer Zielerfüllung nach neuen Optionen Ausschau zu halten (Keeney et al. 1984, 21). (f) Überführung in Nutzeneinheiten: Während viele der subjektiven Skalen, etwa die Beurteilung von Form und Farbe, bereits in subjektiven Nutzenwerten vorliegen, müssen die objektiven Skalen in Nutzenwerte transformiert werden. Eine solche Transformation ist notwendig, weil gleiche Intervalle an unterschiedlicher Stelle verschiedene Nutzenwerte haben können. Denkt man z. B. an das Ziel Lebensdauer in Jahren, dann macht es für einen Fahrer, der seinen Wagen nie länger als vier Jahre fährt, keinen Unterschied, ob der Wagen im Schnitt sieben oder acht Jahre hält, aber einen großen Unterschied, ob er drei oder vier Jahre hält. Aus diesem Grunde können die natürlichen Meßeinheiten nicht mit den Nutzeneinheiten gleichgesetzt werden. Der Entscheider muß entweder für die Zielgröße Lebensdauer eine kontinuierliche Nutzenkurve erstellen und dann anhand dieser Funktion die jeweiligen Nutzwerte ablesen oder aber den Nutzen der verschiedenen Optionen anhand einer Skala von 0 bis 100 relativ zueinander abschätzen. Am Ende dieses Schrittes müssen alle Optionen auf allen Attributen in Nutzenwerte transformiert sein. (g) Gewichtungen der Zieldimensionen: Für die Entscheidung müssen alle Dimensionen miteinander kommensurabel gemacht werden. Dies erfolgt am besten durch relative Gewichtung jedes Attributes. Dabei ist es zweckmäßig, zunächst die Attribute innerhalb eines Zieles zu

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Formale Kriterien und Instrumente

gewichten und dann die Ziele selbst mit Gewichten (von 0 bis 1) zu versehen (die Gewichte werden dabei im Roll-Back-Verfahren von den Attributen zu den Unterzielen und von dort zu den Zielen hin sukzessiv multipliziert). Obwohl Nutzenmessung und Gewichtung voneinander unabhängige Operationen sind, ist es sinnvoll, bei der Gewichtung die Streubreite der Optionen auf jedem Attribut zu berücksichtigen. Wenn sich Optionen auf einem Attribut nur geringfügig voneinander unterscheiden, ist es sinnvoll, das Gewicht dieses Attributs niedrig zu halten, selbst wenn das dem Attribut zugehörige Ziel als wichtig eingestuft wird. Am Ende dieses Schrittes verfügt der Entscheider über eine Optionenmatrix, in der jedes Attribut ein numerisches Gewicht erhält und jede Option auf jedem Attribut einen Nutzenwert aufweist. (h) Aggregation der Nutzenwerte-. Die Zusammenfassung der Nutzwerte erfolgt nach der einfachen Formel (5.2): n

u(Wagen A) = £ k, x u{y,) i=l

wobei u(yi) den mit der Wahrscheinlichkeit gewichteten Nutzenwert der i-ten Konsequenz und kj das relative Gewicht des i-ten Attributs und u (Wagen A) den Gesamtnutzen wert des Wagens A widerspiegelt. Die Anwendung der Summenformel ist allerdings davon abhängig, daß alle Attribute unabhängig voneinander und Interaktionseffekte zwischen den Attributen zu vernachlässigen sind. Dieses Postulat läßt sich oft nur dadurch erfüllen, daß Hilfsattribute eingeführt werden, die speziell auf Kombinationseffekte ausgerichtet sind. So mag z. B. die Interaktion von Farbe und Form eine eigene Größe darstellen, die neben den beiden Einzelkomponenten »Form« und »Farbe« bei der Bewertung der ästhetischen Qualität eine Rolle spielt. Durch geschickte Wahl von Hilfsattributen und Neuformulierung von Attributen (zum Zwecke der Vermeidung von Redundanzen) kann das Postulat der Unabhängigkeit in der Regel erreicht werden. Am Ende dieses Schrittes läßt sich für jede Option ein Gesamtnutzenwert angeben, der die kumulierten Nutzenwerte auf jedem Attribut widerspiegelt. Durch eine Sensitivitätsanalyse kann dann das Ergebnis auf seine Robustheit gegenüber geringen Veränderungen der Eingabedaten überprüft werden.

Entscheidungsanalytische Verfahren

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5.4.2 Entscheidungsanalytische Vorgehensweise bei Gruppenentscheidungen In den vorangegangenen Abschnitten wurde ein formaler Rahmen für die Bewertung von Handlungsoptionen unter der Bedingung vorgestellt, daß die Konsequenzen dieser Handlungsmöglichkeiten nicht nur hinsichtlich eines, sondern hinsichtlich mehrerer Ziele des Entscheidungsträgers bewertet werden sollten. Wurde bisher von einem Entscheidungsträger ausgegangen, sollen nun plurale Gruppenentscheidungen behandelt werden. Gruppenentscheidungen erhalten gerade im Kontext politischer Entscheidungen eine große Bedeutung, da diese sich durch divergierende Interessen von Entscheidungsträgern bei der Realisierung bestimmter Ziele auszeichnen. Im folgenden soll für Entscheidungen ein formaler Rahmen konstruiert werden, bei denen sich der Entscheidungsträger aus mehreren Parteien zusammensetzt, die zu einer gemeinsamen Entscheidung finden wollen (zur formalen Analyse vgl. Raiffa 1982, 44ff). Der Zweck der folgenden Strategieüberlegungen besteht also darin, den Gruppenkonsens dadurch zu ermöglichen, daß alle, auch die gegebenenfalls bloß latenten, Konsenschancen aufgespürt und Vorschläge für ihre optimale Ausbeutung im Sinne des Gruppenkonsenses gemacht werden. Die in den einzelnen »Entscheidungssituationen« zweckmäßigen sozialen Interaktionen heißen »Beratungen«. Es ist dabei hervorzuheben, daß das formale Instrumentarium der Entscheidungsanalyse zwar dazu dienen kann, durch Explikation und Rekonstruktion für alle Parteien Transparenz des Entscheidungsdiskurses herbeizuführen, es kann jedoch die faktischen Beratungen nicht durch quasi-algorithmische Mechanik ersetzen. Das heißt insbesondere auch, daß es kein formales Verfahren gibt, durch das ein Konsens herbeigezaubert werden kann, wenn die Bedingungen zur Konsensfindung nicht erfüllt sind. Daher ist zunächst auf die Explikation dieser Bedingungen besonders zu achten, um darauf aufbauend Strategien weiterer Konsensbildung zu erreichen. Konsensfindung kann sich auf zwei Aspekte beziehen: Konsens über Verfahren und Konsens über Inhalte. Ein Verfahrenskonsens besteht dann, wenn alle Parteien eine einvernehmliche Regelung über die Art der inhaltlichen Entscheidungsfindung treffen, z. B. eine Entscheidung durch das Verfahren der Mehrheitsbildung (konsensuell) akzeptieren. Auch die Verfahren zur Datenermittlung oder deren Interpretation können vorab durch Konsens geklärt werden. So können sich etwa die

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Formale Kriterien und Instrumente

verschiedenen Parteien darauf einigen, welche Methodik zur Ermittlung von Immissionen angewandt oder welche Gruppe von Wissenschaftlern mit welcher Aufgabe betreut werden soll. Ebenfalls läßt sich durch Verfahrenskonsens die Legitimation von Einwänden von vornherein beschränken. Ein inhaltlicher Konsens setzt dagegen voraus, daß alle Parteien einstimmig einer bestimmten Option ihre Zustimmung geben. Obwohl ein inhaltlicher Konsens dem Ideal einer aggregierten pareto-optimalen Nutzenmehrung am nächsten kommt, ist in der Praxis ein solcher Konsens schwer zu erzielen, weil jede Partei ein Vetorecht beanspruchen kann. Da ein Vetorecht häufig zur Entscheidungsunfähigkeit führt, liegt es oft im Interesse der Parteien, durch Verfahrenskonsens eine freiwillige Einschränkung des inhaltlichen Konsensprinzips vorzunehmen. Dies ist besonders dann zu erwarten, wenn Gruppenmitglieder der Aufrechterhaltung des Diskurses oder der Notwendigkeit einer Entscheidung eine höhere Präferenz einräumen als der Durchsetzung ihrer individuellen Meinung (Bacow & Wheeler 1984, 21ff). Zu den Methoden, das Konsensproblem zu bearbeiten, gehört die geeignete Wahl der Beschränkung dessen, worüber man sich geeinigt hat. Man kann sich z. B. leichter über Verbote als über Gebote einigen. Ein Verbot kann für einige Mitglieder unverzichtbar, für andere aber hinnehmbar sein, da es von ihnen stillschweigend geduldet werden kann und kein aktives Bekenntnis oder eine entsprechende Handlung erfordert. Dies ist gerade bei Geboten nicht der Fall, weil die Aufstellung eines Gebotes von jedem Gruppenmitglied eine positive Stellungnahme verlangt. Überdies setzt eine Welt von Geboten einen perfekten Kenntnisstand über ihre Folgen voraus, der meistens so nicht vorhanden ist. Es ist deshalb wichtig, diese Asymmetrie der Einigungsbereitschaft bei Gruppenentscheidungen zu erkennen und zu nutzen. 5.4.2.1 Merkmale und Ziele der Gruppenentscheidung bei Mehrfachzielen Eine Gruppenentscheidung bei mehrfacher Zielsetzung zeichnet sich aus durch eine Alternativenmenge mit mindestens zwei Elementen, der Charakterisierung der Optionen und ihren Konsequenzen durch mehrere Merkmale relativ auf einer gegebenen Zielmenge und einem Entscheidungsträger, der aus mehreren Parteien besteht. Mit der Rekonstruktion von Gruppenentscheidungen soll die »Qualität« der Entschei-

Entscheidungsanalytische Verfahren

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dung verbessert werden, d. h., Transparenz und Akzeptanz und damit die Durchsetzbarkeit der Entscheidung im politischen Prozeß sollen erhöht werden. Außerdem sollen möglichst viele Interessen berücksichtigt werden können (Weber 1983, 5). In der Theorie der Gruppenentscheidung gibt es zwei Hauptansätze, zum einen die Theorie der kollektiven Entscheidung, zum anderen die Theorie des interpersonalen kardinalen Nutzenvergleichs. Die Theorie der kollektiven Entscheidung verneint die Möglichkeit des interpersonalen kardinalen Nutzenvergleichs und versucht die individuellen Präferenzen ordinal zu ordnen und zu einer Gruppenpräferenz zu aggregieren (Arrow 1951; Külp 1976, 13ff). Die Theorie des interpersonalen Nutzenvergleichs arbeitet auf der Grundlage der individuellen Nutzenfunktionen und aggregiert diese durch gewichtete additive Verknüpfung (Schoemaker 1982; v. Winterfeldt & Edwards 1986). Diese Theorie wird im folgenden dargestellt. 5.4.2.2 Ausgangssituationen einer Gruppenentscheidung Relevante Komponenten bei der Beschreibung der Ausgangssituation der Gruppenentscheidung sind die Optionen, die Gruppe der Entscheider, die Individualzielsysteme der Gruppenmitglieder und das aggregierte Zielsystem der Gruppe, das ohne Verhandlungen über Ziele gleich der Vereinigung der Individualzielmengen ist. Die Optionen werden von der Gruppe selbst oder einer ihr zugeordneten Abteilung zu einer Alternativenmenge A = {A!,...A m } zusammengefaßt. Die Gruppe der Entscheider wird mit der Menge M = {mD—jinJ dargestellt. Die Menge Z = { Z ] v . . , Z n } bezeichnet das der Bewertung zugrundeliegende Zielsystem. Dieses wird noch vor Aufnahme der Beratungen über die Bewertung der Optionen von der Gruppe festgelegt. Es setzt sich aus den individuellen Zielsystemen der Parteien zusammen. Es soll gelten: (a) A, M und Z sind endliche Mengen mit jeweils mindestens zwei Elementen. (b) A und M sind allen Gruppenmitgliedern bekannt. (c) Jedes Mitglied m, aus M kennt sein Zielsystem Zj. (d) Jede Alternative kann auf Pfaden bis zu ihren Konsequenzen verfolgt werden, einschließlich der Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeiten und des Ausmaßes der Konsequenzen.

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Formale Kriterien und Instrumente

(e) Jede Konsequenz einer Alternative kann mit Hilfe des Zielsystems Z beschrieben werden. (f) Jede Partei ist in der Lage, jede Konsequenz bezüglich des Zielsystems zu bewerten. (g) Jede Partei hat das Recht, Elemente des Zielsystems mit Null zu gewichten. Ein Gruppenentscheidungsprozeß ist beendet, wenn es der Gruppe gelungen ist, eine gemeinsame, somit »Gruppen«-Bewertung der Alternativen zu finden. 5.4.2.3 Entscheidungssituationen Aufgrund des Komplexitätsgrades einer Gruppenentscheidung bei mehrfacher Zielsetzung wird nun ein Verfahren vorgestellt, das im Entscheidungsprozeß verschiedene Entscheidungssituationen unterscheidet. Als Kriterium für das Erreichen einer Stufe wird der Aggregationsgrad bei der Bewertung der Alternativen innerhalb der Gruppe herangezogen (Weber 1983, 32ff). (a) Eine Entscheidung befindet sich in Situation 1, wenn jede Partei eine Meinung bezüglich der Bewertung einer Konsequenz auf jedem Einzelziel hat. Jede Partei hat also pro Konsequenz eine Anzahl von Bewertungen, die der Anzahl der Ziele entspricht. Formal heißt das, daß es eine Bewertungsfunktion gibt: (p(mj,Zj) : K —• R mit m, aus M und Z; aus Z. Diese Bewertungsfunktion ordnet ensprechend der Präferenz des Mitglieds nij aus M jeder Ausprägung eines Zieles z, aus Z eine reelle Zahl zu. Im Rahmen von Nutzenfunktionen wird der Wertbereich auf das Intervall von [0,1] normiert; davon soll im folgenden ausgegangen werden. Damit ergibt sich für die Bewertungsfunktion in Situation 1: u(mj,Z!) : K —* [0,1]. Stellt man die Konsequenzen als Vektoren dar, deren Komponenten den Zielerreichungsgrad der Attribute angeben, so gibt es in Situation 1 maximal k ( = Anzahl der Parteien) Vektoren der Form y = [u(yj),...,u(y n )]. Es besteht also weder ein Konsens unter den Parteien, noch gibt es eine einheitliche, d. h. nicht in einzelne Zielausprägungen zerlegte Bewertung jeder Konsequenz. (b) In Situation 2 befindet sich eine Entscheidung, wenn Konsens unter den Parteien hinsichtlich der Einzelziele herrscht, d. h., es hat sich eine Gruppenmeinung über die Einzelnutzen gebildet. Es gibt also eine

Entscheidungsanalytische Verfahren

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Funktion bezüglich jedes Ziels: u(zj) : K —* [0,1] mit z, aus Z; es gibt einen Vektor ys" = [u(y!),...,u(y n )] je Konsequenz. (c) Hat jede Partei die Optionen bezüglich des Zielsystems bewertet und sich eine Meinung über die Konsequenzen gebildet, befindet sich der Entscheidungsprozeß in Situation 3. In dieser Situation gibt es der Anzahl der Parteien entsprechend viele Bewertungen der Konsequenzen für jede Option. Ein höherer Aggregationsgrad gegenüber Situation 1 zeigt sich in der Zusammenfassung der Einzelbewertungen, also der Bewertungen hinsichtlich jedes Ziels zu einer Gesamtbewertung jeder Option. Formal: u(nij) : K —* [0,1] mit nij aus M; anders: es gibt k Gesamtbewertungen, d. h., die Konsequenzen werden nicht mehr in dekomponierter Form beschrieben. (d)Situation 4 schließlich zeichnet sich durch die Identität der Meinungen der Parteien aus, d. h., daß für jede Option eine Gruppenmeinung gefunden wurde. Die Parteien sind nicht nur hinsichtlich der Einzelbewertungen einig, sondern hinsichtlich des gesamten Zielsystems. Damit liegt eine kollektive Präferenzordnung vor: u : K —• [0,1]. Aus den Nutzwerten der Konsequenzen und den Wahrscheinlichkeiten können die Nutzenerwartungswerte der Optionen berechnet werden. Diese Entscheidungsstufen sollen keinen zwingenden Verlauf eines Gruppenentscheidungsprozesses darstellen, sondern dienen dazu, einen bestimmten Stand einer Entscheidung zu identifizieren und zu charakterisieren mit dem Ziel, mögliche Schwierigkeiten bei der Konsensbildung zu beseitigen. Dies kann geschehen, indem auf die Möglichkeiten hingewiesen wird, die von einer bestimmten Situation aus bestehen, um zu einer Situation mit einem höheren Aggregationsgrad (im Hinblick auf die Gruppenmeinung) zu gelangen. Aufgrund der vier Situationen sind folgende Situationssequenzen möglich: (a) (d)

1-4 1-2-3-4

(b) 1 - 2 - 4 (e) 1 - 3 - 2 - 4

(c)

1-3-4

Wurde bisher ein formaler Rahmen für die Entscheidungsanalyse geliefert, soll nun in einem zweiten Schritt versucht werden, Strategien anzugeben, nach denen ein konkreter Entscheidungsdiskurs durchgeführt werden kann. Innerhalb des formalen Rahmens soll dargestellt werden, wie vorhandene Spielräume genutzt werden können, um Ent-

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Formale Kriterien und Instrumente

Scheidungen herbeizuführen, die von den beteiligten Parteien getragen werden. Dazu sollen Verfahren vorgeschlagen werden, nach denen die Mitglieder einer Gruppe konsensuelle Entscheidungen treffen können. Dabei werden die einzelnen Schritte des individuellen Entscheidungsablaufes, wie in 5.4.1 dargelegt, im wesentlichen übernommen und nur durch die verschiedenen Entscheidungssequenzen angereichert. 5.4.2.4 Bestimmung eines gemeinsamen Zielsystems Da sich die Bewertung der Handlungsoptionen mit ihren Konsequenzen auf die Ausprägung bestimmter Ziele stützt, muß zunächst ein Gruppenzielsystem der beteiligten Parteien erstellt werden. Man mag zunächst daran denken, einfach alle Zielsysteme der Parteien zu vereinigen. Hier lassen sich jedoch zwei Einwände vorbringen: Es ist erstens möglich, daß Ziele unterschiedlicher Parteien in direktem Widerspruch stehen, sich also deren gleichzeitige Realisierung ausschließt. Zweitens gibt es Ziele, die zwar nicht in direktem Widerspruch zueinander stehen, die jedoch nicht von allen Parteien angestrebt werden. Man sollte daher nicht unbesehen alle Zielvorstellungen zu einem Gesamtzielsystem vereinigen, da das Gruppenzielsystem einen Konsens repräsentieren soll, auf den die Parteien sich in ihrer Bewertung stützen. Daher soll in einem ersten Schritt versucht werden, ein gemeinsames Zielsystem zu erstellen. Dies ist kein zusätzlicher Aufwand im Gruppenentscheidungsprozeß, sondern bereits ein Schritt zur Konsensbildung. Dazu sollen zunächst alle Parteien ihre Zielsysteme angeben. Aus diesen wird dann die Schnittmenge ermittelt, um zunächst einen »Kernkonsens« zu haben, von dem aus man sich eventuell über dissente Zielvorstellungen verständigen kann. Nun werden die übrigen, nicht konsenten Ziele diskutiert. Dabei bietet es sich an, bei jedem Ziel eine Wichtigkeitsprüfung durchzuführen (Keeney & Raiffa 1976, 43), d. h., die Parteien werden gefragt, ob die Optionen sich soweit auf den jeweiligen Zieldimensionen unterscheiden, daß es zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen könnte, falls dieses Ziel ausgeschlossen würde. Bei einer affirmativen Antwort muß dieses Ziel weiterhin berücksichtigt werden, bei einer negierenden kann es ausgeschlossen werden. Im Falle einer affirmativen Antwort kann erneut versucht werden, Gruppenkonsens über die Aufnahme in das Zielsystem zu erlangen; gelingt dies nicht, muß es weiter diskutiert werden.

Entscheidungsanalytische Verfahren

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Bei noch fortwährendem Dissens können eventuell Extremziele eliminiert werden, wobei die Parteien, die Extremziele aufgeben, neue Ziele in größerer Nähe zum »cluster« angeben dürfen. Da auch für den Diskurs über die Erstellung des Zielsystems zeitliche Grenzen gelten werden, sollten die restlichen dissenten Ziele noch einmal verhandelt werden, und zwar in dem Sinne, daß eventuell eine Partei bereit ist, ein Ziel anders zu formulieren oder gar aufzugeben, wenn die andere dafür eine Gegenleistung bietet. Letztendlich muß über die noch dissidenten Ziele durch ein von der Gruppe konsensuell getragenes Abstimmungsverfahren entschieden werden. Eine Alternative zu dieser Vorgehensweise ist die von Keeney, Edwards und Winterfeldt entwickelte Wertbaumanalyse (Edwards 1977; v. Winterfeldt & Edwards 1986, 36ff; Keeney & Raiffa 1976). Nach diesem Verfahren werden alle Gruppen zunächst getrennt nach ihren Zielen und Attributen befragt, wobei alle Ziele, Unterziele und Attribute in Form von hierarchisch gegliederten Wertbäumen zusammengefaßt werden (Keeney et al. 1984, 20ff). Alle gruppenspezifischen Wertbäume müssen von den jeweiligen Parteien validiert und als Repräsentation ihrer Zielstruktur bestätigt werden. Nachdem alle Wertbäume erstellt worden sind, versuchen die Analytiker, die verschiedenen Bäume zu einem gemeinsamen Super-Baum zusammenzufassen. Dabei werden alle Ziele aufgenommen; lediglich Redundanzen und Überschneidungen werden durch Umstrukturierung so weit wie möglich ausgeschaltet. Der gemeinsame Super-Baum muß wiederum von allen Parteien auf die Repräsentationsfähigkeit der jeweiligen Gruppenziele hin überprüft werden. Ist diese gegeben, wird der gemeinsame SuperBaum für alle weiteren Verhandlungen zugrundegelegt. Im Super-Baum sind in der Regel Ziele enthalten, die nicht von allen Parteien geteilt werden. In diesem Falle steht es allen Parteien offen, im späteren Gewichtungsverfahren die Ziele oder Attribute, die sie als nicht relevant einstufen, mit Null zu gewichten (Keeney et al. 1984, 22). Durch die Möglichkeit der Nullgewichtung können zunächst alle Ziele und Attribute, die von den Parteien vorgeschlagen werden, aufgenommen werden. Auf diese Weise werden langatmige Grundsatzdiskussionen über die Legimität von einzelnen Zielen vermieden. Das Verfahren der Wertbaumanalyse wurde z. B. in der Bundesrepublik Deutschland bei der Sozialverträglichkeitsstudie des Forschungszen-

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Formale Kriterien und Instrumente

trums Jülich erfolgreich angewandt (Keeney et al. 1984, 39ff; Keeney et al. 1987). " Eine weitere Hilfe bei der Strukturierung von Zielen ist der »Top Down«-Ansatz, bei dem von abstrakten Zielen ausgegegangen wird und dann die jeweiligen Attribute sukzessiv entwickelt werden. Erfahrungsgemäß läßt sich eher ein Konsens über die Ziele mit einem hohen Abstraktionsgrad erzielen als über Ziele mit einem niedrigen. Sind z. B. mehrere Ziele auf einem niedrigen Niveau bei den unterschiedlichen Parteien vorhanden, die sich als Unterziele eines Zieles mit hohem Abstraktionsgrad (z. B. »Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung«) darstellen lassen, kann man von diesem Oberziel aus versuchen, neue und konsente Unterziele zu bilden. Umgekehrt gelingt es häufig, einen Konsens über konkrete Attribute herzustellen (bottom up), etwa Schadstoffausstoß pro Zeiteinheit, und über dieses Attribut das generelle Ziel oder Unterziel zu bestimmen (Eisenführ & Weber 1986). Darüber hinaus kann man versuchen, diese Ziele nicht nur als »Richtungsangaben« zu formulieren wie z. B. »Verringerung des Schadstoffausstoßes«, sondern sogleich als quantitatives Attribut, wie z. B. »Verringerung des Schadstoffausstoßes im Vergleich zum gegenwärtigen Zustand um 10%« (Keeney & Raiffa 1976, 34). Eine derartige Formulierung von Zielen ermöglicht eher eine einheitliche Bewertung der Konsequenzen, da sie Orientierungscharakter hat und den Umgang mit Zahlen optimiert. Wird nur eine Zielrichtung angegegeben, kann die eine Partei eine Verringerung des Schadstoffausstoßes um 5% schon als bedeutenden Erfolg ansehen und sehr hoch bewerten, während die andere Partei dieses als minimalen Erfolg sieht und dementsprechend niedrig bewertet. Solchen Meinungsdifferenzen kann vorgebeugt werden, indem die Ziele möglichst quantitativ und gruppenkonsent formuliert werden. Nach der Erstellung des Zielsystems, sollten die Ziele noch einmal hinsichtlich ihres Abstraktionsgrades untersucht werden und gegebenenfalls, wenn sie zu allgemein gehalten sind, weiter aufgespalten und möglichst als quantitative Ziele formuliert werden. Es sollten die schon bei den Individualentscheidungen angegebenen Beschränkungen bei der Differenzierung der Ziele eingehalten werden. Ist dieser Vorgang abgeschlossen, müssen den Zielen Attribute mit Skalen zugeordnet werden, d. h., der Menge Z wird eine Menge X = (x l v ..,x n ) zugeordnet.

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Dabei sollte möglichst auf schon vorhandene Skalen zurückgegriffen werden. Ist dies nicht möglich, müssen neue Skalen konstruiert werden. Innerhalb eines jeden Zielsytems (Ziele, Unterziele, Attribute) ist eine hierarchische Gliederung sinnvoll und notwendig, um später im RollBack-Verfahren die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten und Gewichtungen von hinten nach vorne durchführen zu können. Dagegen ist eine Hierarchisierung der Ziele untereinander in diesem Schritt nicht notwendig, weil jedes Ziel später mit einem numerischen Gewicht zwischen 0 und 1 versehen wird, aus dem die relative Rangordung der Ziele untereinander erschlossen werden kann (Edwards 1954; Humphreys 1977). Attribute und Skalen für jede Zieldimension sind an Meßanweisungen gebunden. Meistens bestehen für die meisten Attribute bereits wissenschaftlich anerkannte Indikatoren oder Indizes, mit deren Hilfe die Ausprägung einer jeden Option auf der Zieldimension gemessen werden kann. Auswahl der Indikatoren und Messung der Optionen sollten von Experten vorgenommen werden. Diese Messung von Optionen ersetzt aber noch nicht eine Bewertung jedes Meßwertes in Nutzeneinheiten (v. Winterfeldt & Edwards 1986, 298ff). Gilt z. B. das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen, dann sinkt der jeweilige Nutzenwert mit jeder zusätzlichen Einheit eines erstrebenswerten Gutes (vgl. das Autokaufbeispiel in 5.4.1.9). Die Überführung in Nutzenwerte ist an subjektive Präferenzen gebunden, kann aber durch Gruppenkonsens generalisiert werden. 5.4.2.5 Prognose der Konsequenzen und Ermittlung der Wahrscheinlichkeiten Vor einer Bewertung seitens der Entscheider sollte zunächst der Ereignisverlauf von Experten untersucht werden. Dies kann z. B. in Form von Ereignisbäumen geschehen. Jede Alternative sollte bis zu ihren Konsequenzen zu einem bestimmten Zeitpunkt untersucht werden. Dazu werden alle verfügbaren Informationen ausgenutzt, gegebenenfalls werden noch zusätzliche Informationen eingeholt. Gemäß diesem Informationsstand erfolgt die Prognose; die Konsequenzen werden sowohl in ihrem Ausmaß als auch in ihrer Wahrscheinlichkeit näher bestimmt. Die Einschätzung des Ausmaßes einer Konsequenz geschieht von Experten nur bei den Attributen mit objektiv meßbaren Skalierungen. Bei den subjektiven Skalierungen erfolgen die Einschätzungen durch die Parteien.

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Formale Kriterien und Instrumente

Bei hoher Unsicherheit über die Natur und das Ausmaß möglicher Konsequenzen und bei hohem Vernetzungsgrad der Konsequenzen untereinander ist häufig eine Messung der Konsequenzen durch intersubjektiv festgelegte Meßverfahren nicht möglich. In diesen Fällen muß häufig auf die kollektive Erfahrung von Experten zurückgegriffen werden. Dazu sind in der Literatur eine Reihe von Verfahren vorgeschlagen worden (Winkler 1968; Raiffa 1973, 274ff; Keeney & Raiffa 1976, 599ff; Bacow & Wheeler 1984, 76ff). Unter diesem Verfahren hat sich die DELPHI-Befragung besonders bewährt. Dieses Verfahren wurde von der RAND Co. Mitte der 60er Jahre entwickelt und zunächst für die Bewertung von Verteidigungstechnologien eingesetzt. Später wurde es vor allem als Prognoseinstrument im Rahmen von Technikfolgenabschätzungen verwandt (Mintroff & Turoff 1975; Benarie 1988). Das Delphi-Verfahren setzt sich aus den folgenden Schritten zusammen: (a) Ein Forschungsteam stellt einen Fragenkatalog auf, in dem die zu erwartenden Konsequenzen eines Stimulus (etwa Umweltstandards) abgefragt werden. Gleichzeitig werden für jede Antwortkategorie subjektive Konfidenzintervalle oder Prozentwerte der selbst eingeschätzten Urteilssicherheit (von 1 bis 100%) erhoben. (b) Dieser Fragebogen wird an eine Gruppe von anerkannten Experten des jeweiligen Fachgebiets verschickt. Die Experten werden gebeten, alle Fragen nach bestem Wissen zu beantworten und für jede Antwort die subjektive Gewißheit (ausgedrückt in Konfidenzintervallen bei 95% Sicherheitsniveau oder durch Angabe eines Prozentwertes der Urteilssicherheit) anzugeben. (c) Das Forschungsteam wertet alle Fragebögen aus und ermittelt die Durchschnittswerte, die Extremwerte und die Varianz für jede Frage. Dabei können die subjektiven Urteilssicherheiten als Gewichtungsfaktoren eingehen. Bei der Angabe von Extremwerten werden die jeweiligen Urteilssicherheiten mit aufgeführt. (d) Der ursprüngliche Fragebogen wird zusammen mit der Auswertung der ersten Befragung an die Experten zurückgesandt. Dabei werden alle Namen der Experten (etwa bei den Extremwerten) anonym gehalten, um Beeinflussungen durch Status oder Seniorität auszuschalten.

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Die Befragten werden gebeten, den Fragebogen noch einmal auszufüllen, diesmal aber mit der Vorgabe, die Ergebnisse der ersten Befragung als Korrektiv ihrer eigenen Urteile anzusehen. Zweck dieser zweiten Befragung ist es, die Varianz der möglichen Antworten zu reduzieren und die kollektive Urteilssicherheit zu erhöhen. (e) Die Schritte (b), (c) und (d) werden solange wiederholt, bis die Experten keine Änderungen ihrer Urteile mehr vornehmen. Als Resultat der iterativen Befragung verschieben sich die Häufigkeitsverteilungen der Antworten entweder zu einer steilen Normalverteilung (bei überwiegendem Gruppenkonsens) oder spalten sich in klare zwei- oder mehrgipflige Verteilungen auf (Repräsentationen unterschiedlicher wissenschaftlicher Lager). Im Idealfall sortiert das Delphi-Verfahren die Bewertungen aus, die innerhalb der Expertengruppe nicht konsensfähig sind. Durch die Anonymisierung der Teilnehmer und den iterativen Prozeß der Befragung kann der jeweilige Kenntnisstand ohne Rücksicht auf den Prestigewert eines jeden Teilnehmers am Delphi-Prozeß repräsentiert werden. Einer der gravierenden Nachteile des Delphi-Verfahrens ist das Fehlen von Begründungen für Urteile, die von dem Median aller Teilnehmer abweichen (Hill & Fowles 1975). Extreme Meinungen oder besonders hohe Urteilssicherheit können entweder auf begründbaren Einsichten eines Teilnehmers beruhen, die den anderen Teilnehmern nicht zugänglich sind, oder aber ein Produkt persönlicher Überschätzung bzw. der Versuch einer strategischen Vorgehensweise zur Beeinflussung des Ergebnisses sein. Deshalb haben Renn u. a. eine Modifikation des Verfahrens vorgeschlagen und in verschiedenen Bereichen getestet (Renn &c Kotte 1984, 190ff; Webler et al., 1991). Danach werden nach der ersten Befragung die Experten zu einer gemeinsamen Diskussionsrunde versammelt. In dieser Diskussion müssen alle Teilnehmer, deren Bewertungen vom Mittelwert aller anderen Teilnehmer signifikant abweichen, ihren Standpunkt begründen und im Streitgespräch verteidigen. Diese Streitgespräche werden auf Videofilm festgehalten und bei Bedarf den Experten bei der erneuten Befragung zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise lassen sich nicht nur unbegründbare Extrempositionen ausschalten; das Ergebnis eines solchen Delphis liefert auch die Argumentationsbasis für die Mehrheits- bzw. Minderheitspositionen.

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Formale Kriterien und Instrumente

Der Nachteil dieser Modifikation liegt in der Aufgabe der Anonymität der Teilnehmer. Da aber alle Experten in der Regel anerkannte Fachleute auf ihrem Gebiet sind, ist der Einfluß des Prestigewertes einzelner Teilnehmer als Störfaktor wenig relevant, zumal Experten mit hohem Prestigewert häufig das Mittelfeld der Meinungen beherrschen und deshalb innerhalb der Diskussion nur als Kritiker der Extremmeinungen in Erscheinung treten. Das Verfahren geht allerdings von der Annahme aus, daß Extremmeinungen eher begründungswürdig sind als die jeweils herrschende Lehrmeinung (Webler et al., 1991). Die durch das Delphi gefundenen Abschätzungen können als beste Approximierung des zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhandenen Expertenwissens angesehen werden (sofern die relevanten Experten befragt und die Verfahrensregeln des Delphi richtig angewandt wurden). Obwohl auch dieses Wissen objektiv falsch sein kann (und sich dies auch häufig im nachhinein hat feststellen lassen), so ist es doch in der Regel allen intuitiven Verfahren oder Abschätzungen aufgrund subjektiver Präferenzen vorzuziehen. Nach den beschriebenen Analyseschritten liegen die Konsequenzen (mit der eben erwähnten Einschränkung) skaliert und in dekomponierter Form vor, sie bieten damit die Grundlage der weiteren Bewertung. 5.4.2.6 Einigung über Entscheidungsschritte Nach der Abschätzung der Konsequenzen und ihrer Messung auf den Zieldimensionen gemäß objektiven oder subjektiven Skalen erfolgt in der Individualentscheidung die Überführung der jeweiligen Meßwerte in Nutzeneinheiten. In der Gruppenentscheidung ist dieser Schritt wesentlich komplizierter, da die jeweiligen Parteien unterschiedliche Nutzenbewertungen für jeden Skalenwert vornehmen. Da häufig auch die Ziele und Attribute umstritten sind, ist eine einheitliche Nutzentransformation meist illusorisch. Deshalb ist es ratsam, vor der Nutzentransformation und Gewichtung Einigung über die Entscheidungsschritte und wenn möglich Konsens über das Einigungsverfahren zu erzielen. In Anlehnung an Abschnitt 5.4.2.3 lassen sich folgende Entscheidungssequenzen für die Bewertung der Optionen unterscheiden: (a) Ziel des Entscheidungsschrittes 1—2 ist es, von den Bewertungen der Einzelziele jeder Partei zu einer Gruppenbewertung zu gelangen. D.h., die Parteien müssen sich n-mal (n entspricht der Anzahl der Attribute) auf die Bewertung einigen. Dies kann z. B. durch n-malige

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Bildung des arithmetischen Mittels geschehen. Andere Verfahren werden weiter unten behandelt. Der Gewinn dieses Schrittes liegt in der Reduktion von k (k entspricht der Anzahl der Parteien) Bewertungen je Zielausprägung auf eine. Damit liegen pro Alternative der Zahl der Attribute entsprechend viele Werte vor. Dafür lautet die Formel: f 1/2 : [u(m l5 yi),...,u(m k , yj)] = u(y;), yi aus Y; diese Operation muß n-mal durchgeführt werden, d. h. für jedes Attribut. In Vektorenterminologie gesprochen, liegt der Gewinn dieses Entscheidungsschrittes in der Reduktion von k Vektoren je Konsequenz auf einen. (b) Bei der Durchführung des Entscheidungsschrittes 1—3 bildet jede Partei aus ihrer Bewertung der Einzelzielausprägungen und aus den Gewichtungen der Ziele durch Aggregation eine Gesamtbewertung der Konsequenz. Damit liegen k Bewertungen einer Konsequenz vor. Formal: In diesem Fall gibt es keine einheitliche, konsente Funktion f 1/3 , sondern k verschiedene, die jeweils den Individualentscheidungsschritt einer Partei repräsentieren. In diesem Entscheidungsschritt finden Verfahren der »Entscheidung bei Mehrfachzielen« ihre Anwendung. (c) Im Entscheidungsschritt 1—4 einigt sich die Gruppe direkt auf die Bewertung der Optionen. In solchen Fällen finden die hier vorgestellten expliziten entscheidungsanalytischen Verfahren keine Anwendung. Die Bewertung der Optionen wird z. B. durch Bildung von Mittelwerten aus den Bewertungen der Einzelzielausprägungen der Parteien gebildet. Formal: fi/4 : [u(mj,yi)] = u, nij aus M, y; aus Y (d) Im Entscheidungsschritt 2 — 3 bildet jede Partei aufgrund der Gruppenbewertungen der Zielausprägungen in Situation 2 eine Meinung bezüglich der Option. D.h., jede Partei aggregiert die Bewertungen aufgrund eines eigenen Gewichtungssystems zu einer Gesamtbewertung der Alternative. Formal: fz/3 : [u(yi),...,u(y n )] = u(mj), y-, aus Y Dieser Entscheidungsschritt unterscheidet sich von Entscheidungsschritt 2 — 4 durch das individuelle Gewichtungssystem der Ziele. Der Entscheidungsschritt 2 — 3 kann somit so verstanden werden, daß jede Partei einen Vorschlag hinsichtlich eines Gewichtungssystems macht, über das man sich dann einigen muß. 2 — 3 könnte also eine Strategie

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darstellen, wie man zu einem gemeinsamen Gewichtungssystem der Ziele gelangt. (e) Bei dem Entscheidungsschritt 2 — 4 einigen sich die Parteien über ein Zielsystem und gelangen dann über Verfahren der Entscheidung bei mehrfacher Zielsetzung zu einer Gruppenbewertung der Alternativen. Formal: fi/4 : [u(yi),...,u(y n )] = u, y; aus Y Ausgehend von Situation 2 ist es zweckmäßig, ein gemeinsames Gewichtungssystem der Ziele zu ermitteln, um dann mit entscheidungsanalytischen Verfahren gegebenenfalls über Situation 3 Situation 4 zu erreichen. (f) Zur Durchführung des Entscheidungsschrittes 3 — 4 müssen die k Meinungen über die Alternativen auf eine Gruppenmeinung gebracht werden; das läßt sich formal so ausdrücken: f 3 / 4 : [u(m 1 ),...,u(m k )] = u, m, aus M Hier wäre wiederum das arithmetische Mittel möglich; weitere Verfahren werden jedoch im Abschnitt über Strategien besprochen. 5.4.2.7 Entscheidungsschritte in Gruppenentscheidungen (a) Sequenz 1—2: Nach der beschriebenen Prozedur der Prognoseerstellung liegen je Konsequenz maximal k (k entspricht der Anzahl der Parteien) verschiedene Vektoren vor. Der Entscheidungsprozeß befindet sich damit in Situation 1. Das Ziel ist nun, diese verschiedenen Werte gruppenkonsent auf eine Nutzenwertskala, d. h. auf Werte zwischen 0 und 1 (oder 1 bis 100) abzubilden. Dabei ergeben sich einige Schwierigkeiten, die im folgenden beschrieben werden sollen. Es sei zunächst der einfachere Fall betrachtet; dieser liegt bei objektiven Skalierungen vor, d. h. bei Zielausprägungen, die objektiv meßbar sind. In diesem Fall sind die Werte, die die Zielausprägungen angeben, bei allen Parteien gleich (sie wurden von Experten in einer Festlegung des Ereignisverlaufs ermittelt, sowohl bei Entscheidungen unter Unsicherheit als auch unter Sicherheit). Diese Werte müssen nun auf Nutzenwerte zwischen 0 und 1 abgebildet werden. Es gibt zwei Möglichkeiten für die weitere Vorgehensweise: (a) jede Partei führt diese Projektion selbständig durch oder

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(b) die Gruppe versucht gemeinsam, eine Abbildungsvorschrift zu erstellen. Verfährt man nach der ersten Möglichkeit, müssen in einem zweiten Schritt die Nutzenwerte jeder Gruppe nach einem gemeinsam zu bestimmenden Verfahren aggregiert werden (etwa durch Mittelwertbildung), während im zweiten Fall die Nutzen werte schon gruppenkonsent sind. Bei objektiven Skalierungen bietet sich die zweite Möglichkeit an, da man sonst von gemeinsamen Werten wieder zu Einzelbewertungen übergehen würde. Bei stark unterschiedlichen Zuordnungen von Nutzenwerten empfiehlt sich allerdings die getrennte Nutzenbewertung durch jede Partei. Dabei ordnet jede Partei durch Befragungen den Zielausprägungen Nutzenwerte zu (entweder direkt oder anhand von Lotterien). Dabei ist zu beachten, daß diese Zuordnung vollständig und transitiv sein muß, d. h., wenn eine Option B einer Option A vorgezogen wird und Option A einer Option C vorgezogen wird, dann muß Option B nun Option C vorgezogen werden. Im Falle eines negativen Grenznutzens (also einer Nutzenverminderung durch Erhöhung der Zielausprägung) sollte das jeweilige Attribut so umformuliert werden, daß es entweder monoton steigend oder fallend ist. So könnte etwa das Ziel Reinheit des "Wassers, das ab einem bestimmten Reinheitsgrad Nutzenverluste aufweisen würde, ersetzt werden durch das Attribut »Wasserqualität«, wobei zu reines Wasser als minderqualitativ einzuordnen wäre. Außerdem darf nicht bei den unterschiedlichen Konsequenzen für das gleiche Ziel eine andere Zuordnungsvorschrift zugrundegelegt werden. Diese Zuordnungen erfolgen also für jedes Ziel, indem die unterschiedlichen Ausprägungen in den verschiedenen Konsequenzen betrachtet und auf die Nutzenwertskala abgebildet werden. Die Ausführungen zur Nutzentransformation bezogen sich bislang auf objektive Skalierungen. Es ist noch der Fall der konstruierten, nicht meßbaren Skalierungen zu behandeln. In diesem Fall liegen keine einheitlichen Werte für die Zielausprägungen vor. Es bieten sich zwei Vorgehensweisen an: Man könnte zunächst versuchen, gemeinsame Werte bei den Zielausprägungen zu erzielen, um dann die Abbildung auf Nutzeneinheiten festzulegen; oder jede Partei könnte zunächst die Abbildung auf Nutzenwerte vornehmen, um dann in einem weiteren Schritt gemeinsame Nutzenwerte zu ermitteln. In beiden Fällen ist die

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Formale Kriterien und Instrumente

Messung direkt auf den Nutzen bezogen und benötigt deshalb auch keine Transformation. Werden die Nutzeneinheiten jedoch für jede Partei getrennt erstellt, dann stellt sich das Aggregationsproblem mit besonderer Schärfe. Die so erhaltenen Nutzenwerte müssen nun unter den Parteien verglichen und diskutiert werden. Meinungsunterschiede hinsichtlich der Nutzenwerte sollen durch Beratungen oder Verhandlungen soweit wie möglich aus dem Weg geräumt werden. Diese beiden Strategien der Konsensfindung werden das Thema in 5.4.2.8 sein. (b) Sequenz 1—3: Bei diesem Entscheidungsschritt handelt es sich um eine Individualentscheidung, wie sie bereits unter 5.4.1 beschrieben wurde. (c) Sequenz 1—4: Dieser Entscheidungsschritt wird zweckmäßigerweise mit Abstimmung durchgeführt. Die Entscheidungssequenz 1 — 4 erscheint jedoch wenig sinnvoll, da nicht klar ist, warum erst jede Partei jede Konsequenz hinsichtlich jeder Zielausprägung bewerten soll, um dann in einem weiteren Schritt über die Bewertung der gesamten Konsequenz abzustimmen. Hierbei bleiben viele Komponenten, wie z. B. Gewichtungsfaktoren, Bewertungskriterien etc., implizit. Damit bietet dieses Verfahren wenig Transparenz und sollte daher nicht weiter verfolgt werden. (d) Sequenz 2 — 3: Diese Vorgehensweise ist ebenfalls eher unzweckmäßig, da in diesem Fall der mühsam errungene Konsens als Resultat des Entscheidungsschrittes 1 — 2 nicht mehr weiterentwickelt wird. Es werden zwar die ermittelten Gruppennutzenwerte verwendet, auf deren Basis erstellt jedoch jede Partei einzeln ein Gewichtungssystem der Ziele und aggregiert diese Daten zu einer Gesamtbewertung der Konsequenz. Damit liegen je Konsequenz wiederum k Meinungen vor, die in einem weiteren Schritt 3 — 4 unter den Parteien verhandelt werden müssen. Es scheint also zweckmäßiger zu sein, ausgehend von Situation 2 der Entscheidung zu versuchen, ein gemeinsames Gewichtungssystem der Ziele zu erstellen (Entscheidungsschritt 2 — 4). Die Sequenz 2 — 3 kann jedoch bei nicht-linearen Einzelnutzenfunktionen von besonderem Interesse sein. (e) Sequenz 2 — 4: Bei diesem Entscheidungsschritt ist es das Ziel, von gruppenkonsenten Bewertungen der Einzelzielausprägungen zu einer

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gruppenkonsenten Gesamtbewertung der Konsequenzen zu gelangen. Dazu muß ein Gewichtungssystem der Ziele erstellt werden. Zur Erstellung eines Gewichtungssystems können die Ziele in eine Reihung gebracht werden, falls dies die kardinale Gewichtung erleichtert. Ziel der Gewichtung sollte es jedoch sein, jedem Ziel eine kardinale Gewichtung zu geben (auf einer Skala von 0 bis 1). Jede Partei sollte daher Gewichtungsvorschläge machen, die dann wieder mit den behandelten Beratungsstrategien innerhalb der Gruppe diskutiert, korrigiert und einem Konsens näher gebracht werden sollen. Bei Erstellung der Zielgewichtungen bietet sich auch die Gelegenheit, auf praktizierte gesellschaftliche Verhaltensweisen, die einen Rückschluß auf die Zielhierarchie erlauben, zurückzugreifen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist die Reihung der Ziele mit der Angabe der Attribut- und Zielgewichte, wie bereits im Kontext der Individualentscheidungen beschrieben. Auch hier muß natürlich auf Transitivität geprüft und, falls nötig, korrigiert werden. Damit können nach dem beschriebenen Verfahren die Gewichtungsfaktoren der Ziele bestimmt werden. Aus der Multiplikation der Gewichtungsfaktoren mit den Einzelnutzenwerten und der Summierung der Produkte ergibt sich der Gesamtnutzen einer Konsequenz. Handelt es sich um Entscheidungen unter Unsicherheit, werden aus den Nutzenwerten und den Wahrscheinlichkeiten der Konsequenzen im Roll-Back-Verfahren die Nutzenerwartungswerte der Optionen berechnet. (f) Sequenz 3 — 4: Ausgangspunkt dieses Entscheidungsschrittes sind die k Bewertungen jeder Konsequenz, entsprechend der k an der Entscheidung beteiligten Parteien. Das Ziel ist die einheitliche Bewertung aller Konsequenzen seitens der Parteien. Bei starken Bewertungsdifferenzen sollten die Gesamtnutzenwerte zunächst auf Konsistenz überprüft werden. Dazu ist die Angabe der Ausgangsdaten der Parteien und die Angabe des Verfahrens ihrer Meinungsbildung notwendig. Treten Unregelmäßigkeiten auf, sind diese im Sinne der Postulate Konsistenz und Transitivität zu korrigieren. Sind die Meinungen der Parteien in Situation 3 nicht über die Aggregation der Einzelnutzen mit Hilfe eines Gewichtungssystems zustandegekommen, sondern durch direkte Festlegung, also durch eher intuitive Meinungsbildung, so kann es bei nicht schnell beilegbarem Dissens erforderlich sein, die Entscheidungsanalyse neu zu beginnen, in diesem

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Formale Kriterien und Instrumente

Fall detaillierter. Das würde bedeuten, daß zunächst ein Zielsystem festgelegt werden muß, Einzelziele beschrieben und Attribute und entsprechende Skalierungen angegeben werden müssen. Ein solcher Fall kann eintreten, wenn eine Entscheidungsanalyse, wie sie hier beschrieben wird, ursprünglich nicht vorgesehen war, dann aber als Methode herangezogen wird, einen festgefahrenen Entscheidungsprozeß durch dessen Analyse zu einem Ergebnis zu führen. Oft bewirken aber schon die Nachfrage nach dem Gewichtungssystem und den Bewertungskriterien der Parteien sowie deren Überprüfung und Diskussion mit Hilfe der Beratungsstrategien eine Korrektur der Bewertungen im Hinblick auf einen Gruppenkonsens. 5.4.2.8 Strategien der Konsensfindung Zur Transformation von Skalenwerten in Nutzeneinheiten und zur Gewichtung der Attribute und Ziele sind bei Gruppenentscheidungen Konsensfindungsprozesse notwendig. Diese Prozesse können durch Beratungs- und Verhandlungsstrategien erleichtert oder beschleunigt werden. (a) Statische Strategien: Als statische Strategien werden solche bezeichnet, die dazu führen, daß die Meinungsänderung einer Partei herbeigeführt wird, ohne daß sich die Meinungen der anderen Parteien ändern müssen. Dies kann durch folgende Verfahren geschehen: — Fixierung von gleichen Zuordnungen: Ehe man die unterschiedlichen Nutzenzuordnungen diskutiert, sollten die gleichlautenden quasi als Fixpunkte, von denen aus die noch dissenten Bewertungen verhandelt werden, festgehalten werden. — Rekurs auf gemeinsame Oberziele: Unterschiede in der Nutzenwertzuordnung lassen sich in vielen Fällen durch Rückgriff auf ein konsentes Oberziel und Formulierung neuer, verträglicher Unterziele überwinden (Moralprinzip von Lorenzen/Schwemmer; (Lorenzen & Schwemmer 1972, 118ff)). — Clusterbildung und Extremeliminierung: Mit der Clusterbildung soll zunächst untersucht werden, ob und wo ein breiter Konsens in der Bewertung vorhanden ist. Alle Parteien geben also zunächst ihre Einschätzungen an; von da aus wird dann ermittelt, bei welchen Bewertungen sich »Cluster« bilden. Ausgehend von diesem Kernkonsens kann

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dann mit den dissenten Parteien über deren Bewertung diskutiert werden. Bei Extremwerten in der Bewertung sollte nach der Zuordnungsvorschrift und ihrer Legitimation gefragt werden, weiterhin sollte die Zuordnung auf Konsistenz, Transitivität und Vollständigkeit überprüft werden. Außerdem sollte sichergestellt sein, daß der Informationsstand über den zu bewertenden Gegenstand bei den beteiligten Parteien in etwa gleich ist. Bleiben auch nach diesen Korrekturen Extrembewertungen innerhalb der Gruppe übrig, sollte man versuchen, sich im Interesse der Entscheidungsbildung auf Extremeliminierung zu einigen. (b) Formale Strategien: Unter formalen Strategien versteht man Vorgehensweisen, die aufgrund vorher festgelegter Regeln eine Konfliktschlichtung ermöglichen. Diese formalen Strategien sind fast in jedem Falle notwendig und werden häufig als Ergänzung zu den statischen und interaktiven Strategien benötigt. Unter den formalen Strategien sind folgende Verfahren zu nennen: — Mittelung: Ist keine weitere Meinungsänderung der Parteien zu erwarten, kann das arithmetische Mittel der Nutzenwerte gebildet werden. — Mehrheitsentscbeidung: Ist im Sinne der genannten Strategien kein Konsens mehr zu erzielen, d. h., ist keine Partei mehr bereit, ihre Meinung zu ändern, sollte hinsichtlich der endlichen Zeit solcher Entscheidungsprozesse zur Methode der Mehrheitsentscheidung gegriffen werden. Hier gibt es viele Varianten; es kann z. B. qualifizierte Mehrheiten, gestufte Kompetenzen etc. geben. Mehrheitsentscheide können jedoch bei mehr als zwei Optionen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, je nachdem in welcher Reihenfolge man die Optionen zur Abstimmung vorlegt (Arrow 1951; Raiffa 1982, 44ff). Die Parteien ordnen gemeinsam — Gemeinsame Nutzentransformation: den Zielausprägungen jeder Konsequenz Nutzenwerte zu. Bei Dissens sind wiederum die oben dargestellten Beratungsstrategien einzusetzen. Die Vorteile dieses Verfahrens liegen darin, daß ein Verfahrensschritt entfällt und somit gemeinsame Zuordnungsvorschriften vorliegen. Rechtfertigungsforderungen für Abbildungsvorschläge können direkt im Verfahren und nicht erst nachträglich an die Parteien gerichtet werden, so daß diese direkt Korrekturen ihrer Bewertungskriterien vornehmen können. Ein Nachteil dieses Verfahrens liegt darin, daß es

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Formale Kriterien u n d Instrumente

nur in kleineren Gruppen durchgeführt werden kann. Es wäre zu überlegen, ob nicht bei einer Vielzahl der an der Entscheidung beteiligten Parteien versucht werden sollte, Koalitionen zu bilden, so daß sich die k Meinungen auf eine kleinere Zahl reduzieren ließen. Für die Konsensbildung ist es unerläßlich, daß sich die Parteien über die Art des Konflikts im klaren sind. — Super-Entscheidungsträger. In diesem Falle übertragen die Parteien die Nutzenaggregation einem Schlichter (benevolent dictator), der versucht, die verschiedenen Nutzenfunktionen der einzelnen Parteien so zu aggregieren, daß entweder eine paretooptimale Lösung erreicht wird oder das Kaldor-Hicks-Kriterium (Nutzeneinbußen sind nur dann zu verantworten, wenn der Nutzenverlust durch einen Nutzengewinn der anderen Partei kompensiert werden kann) erfüllt ist (Keeney & Raiffa 1976, 539f). — Partizipation: In diesem Falle wird die Aggregation der Nutzenwerte durch eine Delegation der Entscheidung auf die von der jeweiligen Maßnahme Betroffenen durchgeführt. Dabei ist es schwierig, vor allem bei ungleicher Verteilung von Risiko und Nutzen, die Zahl der Betroffenen zu identifizieren oder eine repräsentative Auswahl der Betroffenen durchzuführen. Unter Umständen können nach dem Zufallsverfahren ausgesuchte Bürger solche Bewertungen vornehmen (Renn 1986). Die Bewertungen selbst müssen dann jedoch wiederum durch eines der in diesem Abschnitt beschriebenen Verfahren vorgenommen werden. (c) Interaktive Strategien: Als interaktive Strategien werden solche bezeichnet, bei denen sich die Meinungen wechselseitig ändern können. Unter den interaktiven Strategien sind vor allem die Verhandlungen zu nennen. Verhandlungen werden im Hinblick auf mehrere Ziele gleichzeitig geführt. Sie entsprechen marktmäßigen Strategien. Z. B. ist herauszufinden, inwieweit eine Partei bereit ist, ihre Bewertung (Nutzenzuordnung) in einem Ziel zu ändern, wenn dafür eine andere Partei ihre Bewertung eines anderen Zieles ändert (Raiffa 1982, 310ff; Bacow & Wheeler 1984, 21ff). Es darf also nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß jede Partei unter allen Umständen auf ihren Einschätzungen beharrt und sich an der Situation 1 nur etwas durch Überreden, Überstimmen etc. ändert. Auch wenn man für derartiges Verhandeln moralische und/

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oder rechtliche Grenzen sieht, gibt es doch einen breiten Raum, innerhalb dessen das Verhandeln zu Erfolg führt (z. B. Wohnungen an lauten Straßen sind billiger; Berufe mit erhöhten Risiken sind mit Gefahrenzulage ausgestattet). Sieht die Gruppe für die Bewertung bestimmter Ziele zunächst keine Konsensmöglichkeit, kann sie die Entscheidung darüber an eine Gruppe/Institution delegieren oder eine Art Schlichter beauftragen, wie dies bei Tarifverhandlungen üblich ist. Dabei lassen sich folgende Modelle der Entscheidungsdelegation unterscheiden (Raiffa 1982, 218ff; Bacow Sc Wheeler 1984, 156ff; Neale & Bazaerman 1985): — Verhandlungen

ohne Schlichter (Selbstorganisation der Teilnehmer);

— Verhandlungen mit Schlichter ohne Stimmrecht. Dabei versucht der Schlichter, die Teilnehmer zu einem Kompromiß zu bewegen, hat aber selbst keine Macht, diesen Kompromiß durchzusetzen (role of facilitator); — Verhandlungen mit Schlichter, der über ein Stimmrecht verfügt. Dabei kann der Schlichter bei Pattsituation durch seine Stimme den Ausschlag geben; bei paritätisch besetzten Gremien kann dies eine starke Machtposition beinhalten. Eine solche Stellung des Schlichters ist nur durch Konsens der beteiligten Gruppen einzuführen (role of decisive negotiator); — Verhandlungen mit Schlichter, der den Verhandlungsausgang eigenverantwortlich bestimmt. Der Schlichter oder das Schiedsgericht hört die beteiligten Gruppen und bestimmt nach vorher festgelegten Regeln den Ausgang der Verhandlungen. Auch dieses Modell kann nur funktionieren, wenn die beteiligten Gruppen dieser Entscheidungsbefugnis des Schiedsgerichtes zustimmen (role of mediator). Gleichgültig nach welchem Verfahren man die Einigung sucht, ist es zweckmäßig, die Art des Konfliktes im voraus zu diagnostizieren, da je nach Konflikttyp unterschiedliche Formen der Konfliktschlichtung notwendig sind. Nach von Winterfeld und Edwards (1984) läßt sich folgende Klassifikation von Konflikten vornehmen: — Konflikte über Sachverhalte (Konsensfindung durch Festlegung eines Verfahrens zur Ermittlung des Sachverhaltes; Berufung eines wissenschaftlichen Expertengremiums zur Klärung der Frage; Anhörung von Experten etc.).

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Formale Kriterien und Instrumente

— Konflikte über die Interpretation von Sachverhalten (Konsensfindung durch Expertenbefragung; Hinweis auf Praxis in anderen Ländern; Verweis auf akzeptierte Interpretationen in ähnlichen Situationen; unter Umständen auch R-R-Vergleiche). — Konflikte über Zieldimensionen (Konsensfindung durch Anerkennung aller Ziele bei Möglichkeit der Nullgewichtung; Selektion aufgrund legaler oder politischer Vorhaben; Festlegung eines Schwellenwertes für Relevanz von Dimensionen; Zusammenfassung von Dimensionen in Cluster, etc.). — Konflikte über Zielgewichtungen (Konsensfindung durch Eliminierung von Subdominanten Optionen, Kompensation von Parteien, deren Zielgewichtungen nicht berücksichtigt werden; Mittelwertbildung von Gewichtungen; Einberufung eines Schiedsgerichts, etc.). — Konflikte über Entscheidungsverfahren (Konsensfindung durch offenen Diskurs; Übertragung eines Verfahrens, das sich in anderen Situationen bewährt hat, auf die vorliegende Fragestellung; Einbindung von Kritikern des Verfahrens in den Verfahrensablauf; etc.). Diese fünf Konfliktebenen sind nicht nach der Abfolge im Entscheidungsprozeß, sondern nach dem Grad der Einbeziehung problemunabhängiger Kriterien in den Konsensfindungsprozeß geordnet. Danach sind grundsätzliche Debatten in Konflikten über das Entscheidungsverfahren häufiger zu erwarten als etwa in Konflikten über Sachverhalte. 5.4.3 Verfahren der Entscheidungsanalyse im Rahmen von RisikoRisiko-Vergleichen R-R-Vergleiche können elementare Bestandteile eines entscheidungsanalytischen Verfahrens sein. Die Entscheidungsanalyse dient dazu, anhand von Informationen über Präferenzordnungen und Wahrscheinlichkeitsverteilungen überkomplexe Entscheidungsprobleme überschaubar und kommensurabel zu machen, so daß damit Vergleiche mit dementsprechend aufbereiteten, bereits akzeptierten Risiken ermöglicht werden. Die entscheidungslogisch aufbereiteten Handlungsalternativen mit ihren jeweiligen Konsequenzen sowie die ebenso aufbereiteten bereits akzeptierten Risiken werden dann zur Standardsetzung als eine wesentliche Regel der Akzeptabilität eines Risikos herangezogen.

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Auf der Grundlage der Entscheidungsanalyse, die gruppenkonsente Bewertungen von Konsequenzen zum Ergebnis hat, können solche Vergleiche durchgeführt werden. Diese zeichnen sich dadurch aus, daß sie kritisch geprüfte Überzeugungen als Maßstab für die Zumutbarkeit von Risiken heranziehen. Dabei werden analog zur Vorgehensweise bei der Entscheidungsanalyse nicht Risiken abstrakt mit anderen Risiken verglichen, sondern alle vorliegenden Optionen auf verschiedenen Zieldimensionen miteinander verglichen, wobei das Risiko, also die Wahrscheinlichkeit eines Schadens, eine wesentliche Bewertungskategorie darstellt. Da bei Gruppenentscheidungen diese Risikowerte mit unterschiedlichen Nutzwerten versehen werden, läßt sich als formale Entscheidungsregel festhalten, daß Risiken dann als zumutbar gelten können, wenn die jeweiligen Parteien explizit oder durch konkludente Zustimmung Risiken der gleichen oder geringeren Größenordung akzeptieren. Die für Risikovergleiche notwendigen Bedingungen (gleicher Nutzen, ausgeschöpfte Kosteneffizienz risikoreduzierender Maßnahmen, verbleibende Unsicherheit der Risikoschätzung, Risikoverteilung, etc.) können dabei unberücksichtigt bleiben, weil sie in anderen Zielen oder Attributen getrennt erfaßt und bewertet werden. Durch diese Dekomposition können die Risiken, sowohl die bereits akzeptierten als auch die den Standardüberlegungen zugrundeliegenden, verglichen werden, da sie durch die Einbeziehung der Bedingungen in andere Zieldimensionen miteinander kommensurabel sind. Zusammen mit der Forderung nach pragmatischer Konsistenz (vgl. Kapitel 1) ist damit eine Grundlage für eine rationale Beurteilung der Zumutbarkeit von Risiken gegeben. Dabei wird das Konsistenzpostulat sowohl auf Kollektive als auch auf Individuen bezogen. 5.4.4 Anwendung der Entscheidungsanalyse in der politischen Praxis Die Verfahren der Entscheidungsanalyse sind logisch und rational. Sie stellen sicher, daß bei gegebenen Präferenzstrukturen und gegebenem Wissensstand die Option gewählt wird, die den höchsten Nettonutzen verspricht. Außerdem verbessern sie die Transparenz von Entscheidungen und machen den Entscheidungsverlauf für Außenstehende nachvollziehbar. Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob sie auch im politischen Entscheidungsprozeß praktikabel sind.

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Formale Kriterien und Instrumente

Politische Entscheidungen sind häufig durch strategische Vorgehensweisen bestimmt. Die beteiligten Parteien sind oft nicht gewillt, ihre Ziele offenzulegen oder ihre Präferenzen öffentlich zu unterbreiten (Linnerooth 1983). Häufig versuchen sie, ihre partikularen Interessen dadurch zur Geltung zu bringen, daß sie allgemein anerkannte Ziele (z. B. Verbesserung der Umweltqualität) mit gruppenspezifischen Attributen verbinden (z. B. mehr Geld für die eigene Interessengruppe). Gleichermaßen sind sie nicht an der Einbindung des jeweils besten Sachverstandes interessiert, sondern versuchen, die Eingabedaten nach Maßgabe des eigenen Interesses zu filtern (v. Winterfeldt &c Edwards 1986, 517ff). Läßt sich unter diesen Umständen überhaupt ein rationales Entscheidungsverfahren durchsetzen ? Wie in Kapitel 4 ausführlich dargelegt, ist die gesellschaftliche Realität der Entscheidungsfindung keineswegs mit dem normativ vernünftigen Entscheidungsverfahren kongruent. Daraus sollte man allerdings nicht den Schluß ziehen, daß man deshalb auf normative Vorschläge zur Verbesserung der Situation verzichten sollte. Nur wenn die Anwendung der Entscheidungsanalyse unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen unmöglich wäre, könnte ein solcher Schluß gerechtfertigt sein. In der Tat sind entscheidungsanalytische Verfahren in der deutschen Politik selten zu finden. Nimmt man allerdings die USA und andere Länder als Vergleichsmaßstab, dann wird offenkundig, daß entscheidende politische Maßnahmen mit Hilfe der Entscheidungsanalyse vorbereitet und häufig auch getroffen wurden. 5 Einige Fälle wie die Standortwahl für den Flugplatz in Mexiko City haben inzwischen Modellcharakter für viele andere politische Entscheidungen angenommen. Im Bereich der Umweltpolitik haben »Environmental Protection Agency« (EPA) und die meisten »State Agencies« schon seit ihren institutionellen Anfängen entscheidungstheoretische Modelle herangezogen. Dies ist vor allem in der Wasserreinhaltepolitik zu beobachten, und zwar nicht nur für die USA, sondern auch für viele international tätige Organisationen (Major 1978; Loucks & Somlyody 1986). Dort 5

Eine ganze Reihe von Fallbeispielen für die Anwendung der Entscheidungstheorie finden sich in den Büchern von Keeney & Raiffa (1976, 354 — 479), Behn & Vaupel (1982), v. Winterfeld & Edwards (1986, 448 - 528), Susskind et al. (1979, 40 - 75) und Talbot (1987).

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ist der entscheidungsanalytische Ansatz (in seiner Ausprägung als Multi-Kriterienanalyse) inzwischen Standard geworden. Ein besonders interessanter Anwendungsfall ist die Bewertung unterschiedlicher Standorte für die Endlagerung radioaktiver Abfälle, die unter der Leitung von Merkhofer und Keeney im Auftrag der National Academy of Sciences in den USA vorgenommen wurde (1987, 173ff). Dabei wählten die Analytiker die oben beschriebene Vorgehensweise der MAU-Technik. Verschiedene Standorte wurden nach den Kriterien »geologische Eignungsfähigkeit«, »Kosten«, »kurzfristiges und langfristiges Risiko für Gesundheit und Umwelt«, »soziopolitische Auswirkungen auf die Umgebung« etc. bewertet. Nutzenaggregation und Gewichtung erfolgten durch Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Interessengruppen. Im Falle von unüberbrückbaren Konflikten wurde das Analytikerteam als unparteiischer Schiedsrichter tätig. Die Eingabedaten wurden durch Expertenbefragung gewonnen. Aufgrund dieser Analyse wurde eine Reihenfolge von geeigneten Standorten bestimmt. An der Spitze der Liste stand Yucca Mountain in Nevada; dieser Ort wurde dann auch später als Standort gewählt, obwohl das U.S. Department of Energy (DOE) anfänglich Hanford im Staate Washington den Vorzug geben wollte. Die Beispiele zeigen, daß die Entscheidungsanalyse in demokratischen Staaten praktikabel ist. Nicht alle Anwendungen waren erfolgreich und nicht alle Probleme lassen sich mit dieser Methode lösen (v. Winterfeld & Edwards 1986, 517ff). Es erscheint jedoch sinnvoll, angesichts der möglichen verheerenden Auswirkungen von Fehlentscheidungen in der Politik den entscheidungsanalytischen Verfahren auch in der deutschen Politik mehr Anwendungsraum zu geben. 5.4.5 Zusammenfassung Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen lassen sich Elemente für einen Verfahrensvorschlag bei multiattributiven Gruppenentscheidungsproblemen für den Bereich der Umweltpolitik ableiten. Diese Elemente sind nicht als normative Richtschnur zu betrachten, sondern als Gedanken- oder Entscheidungshilfe bei der Strukturierung und Vorbereitung der Standardsetzung. In einem ersten Schritt sollte ein gemeinsames Zielsystem erstellt werden; den Zielen müssen Attribute mit Skalen zugeordnet werden,

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Formale Kriterien und Instrumente

auf denen die Ausprägungen der Ziele festgehalten werden können. Die Ziele mit den entsprechenden Attributen müssen so gewählt sein, daß die Konsequenzen der Handlungsalternativen damit ausreichend beschrieben werden können. In einem zweiten Schritt sollten alle zu diesem Zeitpunkt als realisierbar erscheinenden Handlungsalternativen zusammengestellt und in ihrem möglichen Ereignisverlauf betrachtet werden. Das bedeutet, daß jede Handlungsalternative auf Pfaden verfolgt wird; es wird berücksichtigt, wo es bei einem Handlungsstrang wiederum zu Entscheidungsproblemen kommt und wo es Zufallsverzweigungen gibt. An diesen Zufallsverzweigungen müssen den möglichen Konsequenzen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden. Sind sämtliche Handlungsalternativen derart bis zu ihren Konsequenzen weiterverfolgt, müssen diesen Konsequenzen Werte zugeordnet werden. Die Zuordnung von Werten und Wahrscheinlichkeiten sollten im Rahmen der Umweltpolitik Expertengruppen vornehmen. Dabei kann auf Delphi-Verfahren oder auf andere Gruppenbefragungen zurückgegriffen werden. Konflikte zwischen Experten sollten möglichst durch Expertendiskurse und nicht durch politische Allianzen (Advokatenmodell) entschieden werden. Bei Gruppenentscheidungen sollte dies gemäß den vorhergehenden Überlegungen zweckmäßigerweise so geschehen, daß die Parteien entsprechend der Situationssequenz 1—2 — 4 vorgehen. Befindet sich der Entscheidungsdiskurs bereits in Situation 2, sollte der Entscheidungsschritt 2 — 4 durchgeführt werden; beginnt der Diskurs in Situation 3, ist die angestrebte Situation 4 eventuell nur über einen partiellen Rückschritt auf Situation 2 zu erreichen, indem Gesamtbewertungen aufgespalten werden und zunächst versucht wird, bei den Einzelzielbewertungen Konsens zu erzielen. Ist der Entscheidungsdiskurs bis zur Situation 4 geführt, liegen also gruppenkonsente Gesamtbewertungen der Konsequenzen mit ihren Wahrscheinlichkeiten vor, können die Nutzenerwartungswerte der Handlungsoptionen berechnet werden. Solche Erwartungswerte lassen sich auf jeder Zieldimension aufstellen. Obgleich die Entscheidungsanalyse Optionen nur relativ zueinander bewertet, kann es im politischen Prozeß der Konsensfindung häufig notwendig sein, für jede Zieldimension Akzeptanzregeln aufzustellen.

Entscheidungsanalytische Verfahren

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So ist es für die Zieldimension Risiko sinnvoll, die Risiken der jeweiligen Optionen daraufhin zu untersuchen, ob sie unterhalb oder oberhalb von Risiken liegen, die durch konkludentes Handeln als akzeptabel eingestuft werden. Für die Dimension des Nutzens kann nur eine solche Option akzeptiert werden, bei der ein positiver Nettonutzen anfällt. Weitere Entscheidungsregeln lassen sich aufstellen, die eine Beurteilung der jeweiligen Optionen erleichtern. Letztendlich muß die Entscheidung jedoch durch die Vergabe von Tradeoffs, also die relativen Gewichtungen der jeweiligen Zieldimensionen, getroffen werden. Dabei können nicht nur die unterschiedlichen Nutzenerwartungswerte betrachtet werden, sondern auch detaillierter die einzelnen Konsequenzen in der Aufspaltung ihrer Bewertung. So kann z. B. ermittelt werden, wie hoch ein bestimmter Nutzen bei einem Ziel sein muß, damit ein möglicher Schaden bei einem anderen Ziel hingenommen wird. Aufbauend auf den Bewertungen der Einzelziele können dann die einzelnen Optionen miteinander verglichen und kann die Option gewählt werden, die den größten Nutzen zu stiften verspricht. Die Vergabe der Gewichte ist nicht wissenschaftlich vorgegeben, sondern muß im politischen Prozeß durch Konsens der beteiligten Gruppen erarbeitet werden. Dabei können Strategien der Verhandlungsführung oder der Schlichtung angestrebt werden. Diese Entscheidungssequenz läßt sich auch stärker formalisiert mit dem folgenden Ablaufschema illustrieren: I

Zielbestimmung 1. Erstellung eines Zielsystems a) Risikoreduzierung (unterteilt in individuelles und kollektives Risiko), b) Nutzenmehrung (unterteilt in monetären Nutzen und intangiblen Nutzen), c) Verteilungsgerechtigkeit (unterteilt in Risikoverteilung und Risiko-Nutzen-Distribution), d) Soziopolitische Akzeptanz (unterteilt in Konfliktpotential und institutionelle Beherrschbarkeit) sowie e) Adaptionsfähigkeit (unterteilt in Flexibilität und Resilienz).

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Formale Kriterien und Instrumente

2. Festlegung von Optionen a) keine Aktion oder Vorschrift, b) Emissionsbegrenzungsstandards (mit unterschiedlichen Grenzwerten), c) Immissionsbegrenzungsstandards (unter Umständen Bubble Konzept), d) Technische Verfahrensvorschriften, e) Subventionen bzw. Umweltabgaben, f) Steuerreduzierung bzw. Steuererhöhung, g) Verkauf von Verschmutzungsrechten, h) Reduktion von Umweltkonsequenzen (etwa Kalkung von Wäldern, Umsiedlung von Bevölkerung etc.), i) Produktionsverbote. II

Datenbeschaffung 3. Ermittlung der Konsequenzen einer jeden Option a) Expertenbefragung, b) Delphi, c) Wissenschaftliche Gutachten (Aufträge). 4. Zuordnung von Wahrscheinlichkeiten für jede Konsequenz a) Relative Häufigkeiten für statistische Daten, b) Synthetisierte Wahrscheinlichkeiten für komplexe Systeme, c) Subjektive Wahrscheinlichkeiten für »educated guesses«. 5. Überführung in Nutzenwerte a) Situationssequenz 1 — 2, b) Nutzentransformation durch Entscheidungsgremium, c) Anhörung von Interessengruppen und Betroffenen.

III

Abwägung 6. Akzeptabilitätskriterien innerhalb jeder Dimension a) für Risikodimension: R-R-Vergleich als Maßstab, b) für Nutzendimension: positive Kosten-Nutzenbilanz, c) für Risikoverteilung: Anwendbarkeit eines Gerechtigkeitskriteriums oder Kompensation der Benachteiligten, d) für soziopolitische Akzeptanz: Konfliktkosten geringer als Nutzen; institutionelle Beherrschbarkeit, e) für Adaptionsfähigkeit: Reversibilität von Entscheidungen bei veränderter Wissenslage.

Entscheidungsanalytische Verfahren

7. Gewichtung

der jeweiligen

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Zieldimensionen

a) Situationssequenz 2 — 3 und 2 - 4 , b) Verhandlungen im Entscheidungsgremium, c) Anhörung der Interessengruppen, d) Möglichkeit von Berufung oder Revision. 8. Aggregation

der Erwartungswerte

auf jeder

Dimension

a) Prüfung auf Unabhängigkeit der Zieldimensionen, b) Nutzenberechnung durch Summenformel, c)

Sensitivitätsanalyse.

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Kapitel 6 Institutionelle und organisatorische Perspektiven Die vorausgegangenen Analysen haben sich mit inhaltlichen, instrumenteilen und institutionellen Problemen im Umgang mit der Bildung von Umweltstandards auseinandergesetzt und dabei auch Defizite deutlich gemacht. Zur Überwindung dieser Defizite stellt sich die Aufgabe, ein Verfahren der gesellschaftlichen Risikovorsorge zu finden, das folgenden Anforderungen zu genügen hat: — Das Verfahren soll den wissenschaftlichen Beitrag für die Entscheidungsfindung adäquat integrieren. Das schließt eine Auszeichnung des wissenschaftlichen Sachverstandes ein, der den internen Standards der wissenschaftlichen Disziplinen entspricht. Wissenschaftliche Kompetenz ist hinsichtlich dieser Standards und hinsichtlich des jeweiligen Standes der Wissenschaft überprüfbar zu machen. — Das Verfahren soll sich im Rahmen der gesellschaftlichen Strukturen entfalten. Die gesellschaftliche Meinungsbildung soll jedoch nicht unkritisch registriert werden, sie ist vielmehr anhand des in Kapitel 5 dargestellten Verfahrens auf ihren rationalen Kern hin zu prüfen. — Das Verfahren muß in die demokratischen politischen Institutionen integriert sein. Elemente eines solchen Verfahrens werden im folgenden dargelegt. Zuvor jedoch noch einige einleitende Bemerkungen zum öffentlichen Einfluß auf die Bildung von Umweltstandards. In Kapitel 4.1 wird beschrieben, welche kognitiven Heuristiken der einzelne bei der Bildung seiner intuitiven Urteile verwendet. Dabei werden auch Beispiele für das Abweichen der subjektiven Beurteilung eines Risikos von dessen objektiver Größe gegeben. So spielen leicht abrufbare Erinnerungen, plastische Vorstellungen, persönliche Erfah-

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Institutionelle Perspektiven

rungen und leicht nachvollziehbare Meinungen anderer eine besonders akzentuierende Rolle bei der eigenen Urteilsbildung. Weiter wird die Urteilsbildung durch die Dominanz aktueller Bezugssysteme beeinflußt, wobei die Formulierung des Entscheidungsproblems eine wichtige Rolle spielt. Der Wunsch nach schneller Gewißheit endlich begünstigt die latente Bereitschaft zu einem sich selbst bestätigenden Wunschdenken. Diese Umstände sind in Kapitel 4.1 auf die individuelle intuitive Risikobewertung der Kernenergie, in Kapitel 4.2 auf die soziale und institutionelle Ebene bezogen worden. Die selektive Verarbeitung von öffentlichen Themen in der Gesellschaft und die Bildung von politischen Arenen verbieten es allerdings, von einer Risikobewertung in der Gesellschaft zu sprechen. Im Alltagsleben dominieren Begriffe mittlerer Reichweite, die subjektiv vergleichbare Situationen miteinander verbinden. Kennzeichnend für die gesellschaftliche Bewältigung der Risikoproblematik ist die selektive Auswahl von Risiken, in denen sich das Unbehagen manifestiert. Gesellschaftliche Konflikte haben allgemeine Ursachen oder Themen. Die Umweltproblematik bietet ein reiches Feld an möglichen Risiken und Problemen, an denen sich gesellschaftliche Konflikte entzünden können. Alle im Kapitel 4.2.2 genannten Faktoren gelten für die Umweltproblematik insgesamt: — Mit der Zunahme des Wissens verfügt die Gesellschaft über Instrumente und Institutionen, um Risiken zivilisatorischen Handelns und ihre Folgen erkennen zu können. Mit der Zunahme der Empfindlichkeit der Meßinstrumente können immer kleinere Mengen problematischer Substanzen gemessen werden. Beides führt dazu, daß in zunehmendem Maße Entscheidungen gefällt werden müssen in Situationen, die früher entweder als Schicksal empfunden oder gar nicht wahrgenommen wurden. — Der relative Anteil naturgegebener Gefahren hat sich in Industriegesellschaften stark verringert, der Anteil zivilisatorischer Risiken erhöht. Umweltbelastungen gelten heute als dominante Risikofaktoren. — Die moderne Technik vermindert zwar das Risiko im Sinne von Schadenswahrscheinlichkeit mal Schadensausmaß, aber diese Risikominderung spiegelt sich nicht in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Einerseits führt die starke Verringerung der Eintrittswahrscheinlichkeit dazu, daß das Schadensausmaß von vielen Überpro-

Prinzipien u n d Probleme der gegenwärtigen Praxis

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portional wahrgenommen wird. Andererseits ist das potentielle Schadensausmaß bei Anwendung mancher neuer Techniken tatsächlich so stark gestiegen, daß die Eintrittswahrscheinlichkeit erheblich gesenkt werden muß. — Der individuelle Grenznutzen materiellen Wohlstandes ist gegenüber dem Grenznutzen von allgemeiner Gesundheit und sauberer Umwelt gesurfken. Es ist deshalb verständlich, daß die Umweltfrage Stoff für gesellschaftliche Konflikte liefert. Ferner ist verständlich, daß die Öffentlichkeit einen erheblichen direkten (z. B. über Bürgerinitiativen) und indirekten (z. B. über die Beeinflussung der politischen Entscheidung durch Meinungsumfragen) Einfluß auf die Festlegung von Umweltstandards nimmt. Da das individuelle und das öffentliche Urteil den eingangs beschriebenen Beschränkungen unterliegt und im Sinne einer rationalen Entscheidungsfindung keine optimalen Ergebnisse liefert, entsteht die Gefahr, daß bei einer ungehinderten - oder besser: unreflektierten Berücksichtigung der öffentlichen Meinung gesellschaftliche Ressourcen falsch eingesetzt werden und sich das Gemeinwesen durch seine eigenen Entscheidungsmechanismen schadet. Eine Verbesserung der Entscheidungssituation ist sowohl bei Entscheidungen mittlerer Bedeutung im häufigen Umgang mit Fragen der Umweltbelastung als auch bei größeren Problemen erforderlich, die von großindustriellen Anwendungen, z. B. in Chemie, Pharmazie und Energieerzeugung, ausgehen. Dieser Entscheidungsprozeß muß aufklärende Elemente gegenüber der öffentlichen Meinung enthalten, die für unsere demokratische Staatsform konstitutiv ist. Demzufolge muß der Entscheidungsprozeß so angelegt werden, daß sich durch ihn die öffentliche Meinung nach den Regeln ändern kann, durch die sie beeinflußbar ist. 6.1 Prinzipien der gegenwärtigen Praxis 6.1.1 Die Vielfalt der Umweltstandards Umweltstandards oder die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien sind in Gesetzen, Verordnungen, technischen Anleitungen und Verwaltungsvorschriften festgelegt.

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Formale Kriterien und Instrumente

(a) Beispiele aus dem Bereich des Gefahrstoffrechts: (aa) Chemikaliengesetz mit Gefahrstoffverordnung: Schutz vor schädlichen Einwirkungen gefährlicher Stoffe — Basis für MAK- und TRK-Werte, Prüf- und Anmeldepflicht für Neustoffe, Verbotsmöglichkeit (auch für Altstoffe), (ab) Düngemittelgesetz: Förderung des Pflanzenwachstums bei Unschädlichkeit für die Umwelt — Typenzulassungspflicht aufgrund gutachterlicher Stellungnahmen durch den Beirat für Düngungsfragen, (ac) Pflanzenschutzgesetz mit Pflanzenschutzmittelverordnung: Schutz von Kulturpflanzen und Abwehr von Umweltgefahren — unter anderem Zulassungspflicht; Anwendungsverbote, (ad) PflanzenschutzmittelHöchstmengen-Verordnung-. Festlegung der maximal zulässigen Konzentrationen in Lebensmitteln, darunter auch für DDT. (ae) DDTGesetz: Verbot des Umgangs mit DDT; Zulassung verschiedener Ausnahmen. (af) Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz: Schutz vor Gesundheitsschäden — Ermächtigung zur Festsetzung von zulässigen Höchstmengen von Fremdstoffen in Lebensmitteln und anderem, (ag) Trinkwasserverordnung: Vorsorge gegen Gesundheitsschäden — Grenzwerte und Minimierungsgebot für biologische und chemische Verunreinigungen. (ah) Arzneimittelgesetz: Sonderregelung zum ChemG — Versagung der Zulassung bei unvertretbaren (Neben-)Wirkungen; Gefährdungshaftung. (b) Beispiele aus dem Bereich des Immissionsschutzrechts: (ba) Bundesimmissionsschutzgesetz (bisher mit den Technischen Anleitungen Luft und Lärm): Prinzipien des Schutzes vor schädlichen Umwelteinwirkungen — Konkretisierung der Vorsorge und der Gefahrenabwehr durch Emissions- und Immissionsstandards in den Technischen Anleitungen. (bb) BundesimmissionsschutzverOrdnungen (Beispiele): Emissionsbegrenzung bei Kleinfeuerungsanlagen u. a. durch Normung von Brennern und Brennstoffen, Begrenzung der Emission von leichtflüchtigen Halogenkohlenwasserstoffen, Limitierung des Schwefelgehalts in bestimmten Brenn- und Treibstoffen, Begrenzung des Auswurfs von Holzstaub, Reduzierung des Rasenmäherlärms durch Beschränkung der Bauartenzulassung und der täglichen Einsatzzeit, Emissionsgrenzwerte für Großfeuerungsanlagen. (bc) Landes-Smogverordnungen: Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen bei austauscharmen Wetterlagen — Festlegung von Grenzwerten für Smogalarm; Beschränkungen des KfzVerkehrs in bestimmten Regionen und weitere emissionsmindernde

Prinzipien und Probleme der gegenwärtigen Praxis

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Maßnahmen, (bd) Benzinbleigesetz: Verminderung von Luftverunreinigungen durch Bleiverbindungen — Festlegung zulässiger Höchstgehalte in Benzin; Steuererleichterungen für unverbleites Benzin, (be) Fluglärmgesetz: Schutz vor Gefahren und erheblichen Belästigungen: Festlegung von Lärmschutzbereichen, Bauverbote und Baubeschränkungen sowie Gebote für passive Lärmschutzmaßnahmen. (c) Beispiele aus dem Bereich des Gewässerschutzrechts: (ca) Wasserhaushaltsgesetz und Landes-Wassergesetze: Schutz vor Beeinträchtigungen der Gewässer — besondere Vorschriften für den Umgang mit wassergefährdenden Stoffen; Gefährdungshaftung, (cb) Abwasserabgabengesetz: Minimierung der Einleitung von Abwasser durch eine »Besteuerung« nach Schadeinheiten, basierend auf verschiedenen Leitkriterien. (cc) Waschmittelgesetz mit Rechtsverordnungen: Schutz vor Beeinträchtigungen der Gewässerqualität — Höchstwerte für Tenside und Phosphate; Möglichkeit des Phosphatverbots bei Substituierbarkeit. (d) Beispiel aus dem Bereich des Abfallrechts: Abfallgesetz mit Technischen Anleitungen Abfall und Sonderabfall: Vermeidung bzw. Verringerung von Abfall — Bevorzugung von Rezyklierung gegenüber Deponierung; Grundsätze geordneter und kontrollierter Entsorgung; Konkretisierungen in den Technischen Anleitungen. (e) Beispiele aus dem Bereich des Atom- und Strahlenschutzrechts: (ea) Atomgesetz und Strahlenschutzverordnung — Förderung der Kernenergie und Schutz vor ihren Gefahren — unter anderem Definition der Schutzprinzipien. Setzung von Grenzwerten in der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV). (eb) Strahlenschutzvorsorgegesetz: Vorsorgender Schutz der Bevölkerung in außergewöhnlichen Situationen — unter anderem Ermächtigung zur Festsetzung von Grenzwerten und zur Einleitung expositionsminimierender Maßnahmen. Daneben existieren zahlreiche Richtlinien der Europäischen Gemeinschaften: EG-Richtlinien binden die Mitgliedsstaaten derart, daß diese verpflichtet sind, die EG-Normen binnen einer bestimmten Frist in nationales Recht zu transformieren. Ein Beispiel ist die EG-Trinkwasser-Richtlinie von 1980, auf der die Grenzwerte der oben aufgeführten Trinkwasserverordnung basieren. Die Vielfalt dieser Regelungen macht offenkundig, wie unterschiedlich die Festlegung von Umweltstandards gehandhabt wird. Sie können

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Formale Kriterien und Instrumente

z. B. national vom Parlament in Gesetzen oder von der Regierung in Rechtsverordnungen festgelegt werden, aber auch übernational von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften; sie können den Charakter von Grenzwerten haben oder in Prozeduren bestehen; sie können stoffbezogen oder medienbezogen sein, und sie können Emissionen, Immissionen oder das In-den-Verkehr-Bringen von Stoffen betreffen. Schließlich können sie auf Kriterien der Wirkung, einer natürlichen Basisexposition oder auf Kriterien der Realisierbarkeit basieren, und sie können der Vorsorge oder der Gefahrenabwendung dienen. Die Grundsätze, nach denen Umweltstandards gebildet werden, variieren von Bundesland zu Bundesland und von Staat zu Staat. Die jeweils gewählte Kategorie mag rational begründet und problemadäquat sein; was fehlt, ist jedoch eine erkennbare Systematik. Ob ein Umweltgesetzbuch, für das — wie man hört — bereits Vorarbeiten im Gange sind, helfen kann, die Systematik der Umweltstandards transparenter zu machen und damit auch zu ihrer Straffung beizutragen, bleibt abzuwarten. Die Strahlenschutzstandards, wie sie im Atomgesetz und in der Strahlenschutzverordnung vorsorglich festgelegt sind, bilden eine Art roten Fadens durch diese Studie. Sie sind — um das noch einmal zusammenzufassen - durch drei Prinzipien bestimmt: — Es gibt sowohl natürliche als auch nicht durch Standards begrenzte zivilisatorische Strahlenexpositionen, deren Höhe stark von den Lebensumständen abhängt (z. B. medizinische Anwendungen), die in ihren Variationsbreiten gut bekannt sind und die deutlich höher liegen als die durch die Standardsetzung zusätzlich zugelassene Strahlenexposition. Außerdem hat sich gezeigt, daß natürliche und anthropogene Expositionen hinsichtlich ihrer Größe und Wirkungen miteinander verglichen werden können. Daher können die natürlichen Strahlenexpositionen als Bezugssystem für die Strahlenschutzstandards dienen. — Es existieren wissenschaftliche Grundlagen bezüglich Strahlendosimetrie und Strahlenwirkungen, die durch jahrzehntelange Forschung einen Grad an Vollständigkeit und Gesichertheit erreicht haben, der eine für die Beurteilung von Grenzwerten hinreichend zuverlässige Risikoabschätzung erlaubt.

Prinzipien u n d Probleme der gegenwärtigen Praxis

-

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Es besteht ein Gebot, aber auch ein weitgehender Konsens zwischen Wissenschaft, Anwendern und Behörden, daß jede von der Strahlenschutzverordnung erfaßte Strahlenexposition ungeachtet der Einhaltung der gesetzten Grenzwerte durch ihren Nutzen zu rechtfertigen und bezüglich ihrer Höhe in vernünftigen Grenzen zu minimieren, also praktisch zu optimieren ist.

Diese drei Prinzipien sind nicht ohne weiteres auf andere Umweltstandards übertragbar bzw. sind nicht übertragen worden, was sich in der dokumentierten Vielfalt der existierenden Umweltstandards auch widerspiegelt: -

-

-

In aller Regel gibt es bei anderen regulierungsbedürftigen Umweltnoxen keine — zumindest keine nennenswerte — natürliche Exposition. Damit entfällt die Möglichkeit eines direkten Bezugs auf eine solche Exposition, dem die Strahlenschutzstandards ihre Einsichtigkeit verdanken. Ein weniger grundsätzlicher, aber genauso bedeutsamer Unterschied ist das wesentlich begrenztere Wissen einerseits über die am Wirkungsort wirksamen Dosen, andererseits über die Dosis-Wirkungsbeziehungen. In dem großen Feld der Chemikalien ist der Wissensstand hier sehr unterschiedlich, meist jedoch gering im Vergleich zur Strahlung. Minimierungsgebote gibt es zwar auch für Chemikalienexpositionen, in der Regel aber nicht als Ergänzung, sondern an Stelle von Grenzwerten, wenn diese mangels ausreichender Kenntnis von Dosis-Wirkungsbeziehungen oder aus prinzipiellen Gründen nicht festgesetzt werden können. Der Gedanke, Grenzwert und Optimierungsgebot zu kombinieren, ist in der umweltbezogenen toxikologischen und ökotoxikologischen Regelungspraxis bisher nicht verankert.

6.1.2 Prioritäten beim Setzen neuer Standards Bei aller Vielfalt existierender Umweltstandards fehlen viele denkbare Standards, insbesondere Grenzwerte für Chemikalien. Dies muß nicht von vornherein als ein gravierender Mangel angesehen werden. Umweltstandards sollte es vielmehr nur dort geben, wo ein dringendes,

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Formale Kriterien und Instrumente

rational begründetes Gefahrenabwendungs-, unter Umständen auch Vorsorgebedürfnis besteht. Gefahrenabwendungs- und Vorsorgebedürfnis haben sich an dem in Kapitel 1 definierten pragmatischen Ziel zu orientieren, die Umwelt vor weiteren Schäden zu bewahren und eingetretene Schäden nach Möglichkeit zu beseitigen. Dort, wo trotz des Fehlens von Standards für den Einzelfall regulatorisch gehandelt werden muß, bestehen allerdings Freiräume, die Rechtsunsicherheit schaffen. Eine Gefahr liegt vor allem darin, daß sich Zahlen, die in der regulatorischen Praxis in pragmatischer Hinsicht benutzt werden, durch die normative Kraft des Faktischen zu Standards verfestigen, ohne daß ein legitimierter Prozeß der Standardsetzung stattgefunden hat. In Anbetracht der vielen möglichen Umweltbeeinträchtigungen ist das Setzen neuer Standards ein Prioritätenproblem. Dies gilt um so mehr, als eine erste Phase der Standardsetzung abgeschlossen ist. Was die Luft betrifft, haben Großfeuerungsanlagenverordnung, Drei-WegeKatalysator und die Verwendung von schwefelarmem Heizöl und Erdgas die Emission der Massenschadstoffe S 0 2 und N O x entweder bereits um eine Größenordnung vermindert oder sie werden es tun. Dominierend ist dann der Import dieser Schadstoffe. Die FCKW sind ein weiteres Beispiel, für das eine solche Emissionsverminderung absehbar ist. Beim Wasser führen Kläranlagen, Abwasserabgabe, Indirekteinleitererfassung und verschärfte Einleiterbedingungen zur sichtbaren und meßbaren Erholung der Fließgewässer, so daß das Ziel optimaler Gewässergüte erreicht oder erreichbar ist. Es bleibt natürlich noch vieles zu tun. Da es aber nach dieser Phase im nationalen Rahmen keine ganz herausragenden Probleme der Standardsetzung mehr zu geben scheint, wird die Prioritätensetzung im Umweltschutz und damit auch bei der Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen immer schwieriger. Sie wird allerdings auch in dem Maße dringlicher, in dem öffentliches Problembewußtsein und wachsende Umweltverwaltungen den allgemeinen Handlungsdruck verstärken. Dabei sollte auch nicht vergessen werden, daß Prioritätensetzung zwangsläufig auch das Setzen von Posterioritäten einschließt, und das heißt nichts anderes, als daß man sich auch für Handlungsverzichte entscheiden muß. Bewußte und begründete Handlungsverzichte können im übrigen häufig mehr zur Effizienz des Umweltschutzes beitragen als ein unterscheidungsarmer Aktionismus.

Prinzipien und Probleme der gegenwärtigen Praxis

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6.1.3 Nicht-wirkungsbezogene Festsetzungen von Expositionsstandards Im Regelfall sollten sich Expositionsgrenzwerte auf Dosis-Wirkungsbeziehungen gründen. Wenn ein Schwellenwert der Wirkung ermittelt werden kann, wird sich der Expositionsstandard an diesem Wert orientieren. Wenn kein Schwellenwert nachgewiesen werden kann, bedeutet jeder Expositionsstandard die Inkaufnahme eines gewissen Risikos. Das Ziel muß in solchen Fällen sein, dieses Risiko quantitativ abzuschätzen, um seine Akzeptabilität diskussionsfähig zu machen. Der Handlungsdruck, unter dem Umweltpolitik heute steht, hat nun aber zur Festlegung auch solcher Grenzwerte geführt, bei denen die Kenntnis der Dosis-Wirkungsbeziehung für eine wirkungsbezogene Festlegung entweder nicht ausreicht oder nicht zur Grundlage für die Standardsetzung gemacht wurde. Bei solchen, im wesentlichen als Vorsorge zu verstehenden Festlegungen wurde in der Regel vom Stand der Technik ausgegangen, und zwar entweder vom Stand der Rückhaltetechnik oder vom Stand der analytischen Nachweistechnik. Letzteres läuft bei den großen Fortschritten der chemischen Analytik praktisch meist auf die Festsetzung der Nullemission bzw. Nullimmission als Umweltstandard hinaus. Ein Beispiel für eine auf dem Stand der Rückhaltetechnik basierende Festlegung sind die Emissionsstandards der Großfeuerungsanlagenverordnung. Hier sind vor allem für S 0 2 und N O x Werte festgesetzt worden, die mit verfügbarer Technik erreichbar sind. Dies war, jedenfalls für S 0 2 , ein ziemlich wirksamer, allerdings auch entsprechend teurer Beitrag zur Verbesserung der Luftqualität, der subjektiv sicher allgemein begrüßt wird, dessen meßbare Wirkung auf die Umwelt sich allerdings bisher nicht hinreichend beurteilen läßt. Ein Beispiel für eine eher bedenkliche Standardsetzung, die am Stand der Nachweistechnik orientiert ist, stellt der Grenzwert für Pflanzenschutzmittel in der Trinkwasserverordnung dar. Dieser Wert, der durch eine europäische Regelung vorgegeben ist, beträgt 10~ 7 g/Liter für jede einzelne Substanz und 5 x 10~ 7 g/Liter für ein beliebiges Gemisch. Als sich 1984 die Übernahme der EG-Grenzwerte durch die deutsche Gesetzgebung abzeichnete, mußte die Industrie mit einem aufwendigen Forschungsprogramm überhaupt erst einmal sicherstellen, daß Routine-

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Formale Kriterien und Instrumente

analysemethoden mit der notwendigen Empfindlichkeit wenigstens für die wichtigsten Wirkstoffe zur Verfügung stehen. Abgesehen davon, daß hier bei der Festsetzung der Standards KostenNutzen-Überlegungen unterblieben sind, können aus solchen extrem restriktiven Standards auch gravierende Belastungen des öffentlichen Vertrauens resultieren; denn diese Standards sind oft nicht einhaltbar. Im vorliegenden Fall mußten schätzungsweise 30% der Wasserwerke Ausnahmegenehmigungen erhalten, um die Trinkwasserversorgung überhaupt sicherstellen zu können. Die Überschreitungen, die hier genehmigt wurden, sind zwar nach toxikologischer Beurteilung weit davon entfernt, gesundheitsrelevant zu sein, doch wird dies dem Bürger kaum klarzumachen sein, nachdem erst einmal sehr viel niedrigere Grenzwerte festgesetzt wurden. 6.1.4 Optimierungsdefizite Wie in Kapitel 5 bereits angesprochen, macht die Mehrdimensionalität der Entscheidungen im Umweltschutz Optimierungen oder jedenfalls Abwägungen notwendig. Viele heute feststellbare Defizite in der Praxis der Umweltstandards sind entstanden, weil naturwissenschaftliche Bewertungsmaßstäbe fehlten und weil die Problematik nur eindimensional gesehen wurde. Der Fall der Pestizidgrenzwerte im Trinkwasser ist ein typisches Beispiel für eine nicht optimierte Standardsetzung, die dazu führt, daß es bei Überschreitung des Grenzwerts zu einer unberechtigten Verunsicherung der Bevölkerung kommt. Man hat hier einen einzigen Gesichtspunkt vor Augen gehabt, nämlich den der möglichst vollständigen Vermeidung von Pflanzenschutzmitteln im Trinkwasser. Die Festsetzung des Grenzwerts in der Trinkwasserverordnung für Pflanzenschutzmittel diente ausschließlich diesem Vorsorgeprinzip; sie nimmt nicht direkt Bezug auf die gesundheitliche Belastung durch einzelne Pflanzenschutzmittel. Der festgelegte Grenzwert liegt dabei weit unterhalb von Konzentrationen, die bei den bekannten Stoffen eine gesundheitliche Beeinträchtigung darstellen könnten. Alle anderen Gesichtspunkte, wie Kosten, technische Machbarkeit, psychologische Folgen der Nichteinhaltbarkeit, Vergleich des Risikos mit anderen Risiken, sind unberücksichtigt geblieben. Umweltpolitische Entscheidungen spielen sich auf zwei Ebenen ab, der der Standardsetzung, die der eigentliche Gegenstand dieser Studie

Prinzipien und Probleme der gegenwärtigen Praxis

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ist, und der des Vollzugs. Nicht nur auf der Ebene der Standardsetzung, sondern auch auf der des Vollzugs werden viele Entscheidungen getroffen, die zwar nicht zu Standards von allgemeiner Gültigkeit führen, die aber den Einzelfall regeln. Da sie nur für den Einzelfall getroffen werden, können es reine Verwaltungsakte sein, die anderen prozeduralen Kriterien unterliegen als die eigentliche Standardsetzung. Aber gerade weil es um den Einzelfall mit seiner ganz individuellen Parameterkombination geht, ist es hier oft eher als bei der Standardsetzung möglich, Abwägungen vorzunehmen; bei der Standardsetzung kann stets nur die Querschnittsbetrachtung zählen. Im Strahlenschutz hat diese Praxis dazu geführt, daß die Grenzwerte regelmäßig — meist erheblich — unterschritten werden. Daher sollte das beim Strahlenschutz gültige Prinzip der Kombination von Standards und Optimierungsgeboten allgemein das Prinzip der Wahl im Umweltschutz werden. Es sei offengelassen, ob man in einer solchen Kombination den Standard, der dann praktisch nur noch für Ausnahmefälle relevant ist, auch weniger restriktiv festlegen kann, als es im Strahlenschutz geschehen ist. Wesentliche Gesichtspunkte bei einer solchen Optimierung sind: — Die Multidimensionalität von Entscheidungen, die eine Abwägung möglichst aller Dimensionen erforderlich macht. — Die Vernetztheit eines Systems, die dazu führen kann, daß der Nutzen, der an einer Stelle erzielt wird, an anderer Stelle zu nicht vorhergesehenem oder durch den Nutzen nicht gerechtfertigtem Schaden führt. — Der Grenznutzen, der nicht zu klein werden darf. Das heißt hier konkret, daß Aufwand nur soweit getrieben werden darf, wie damit noch ein merklicher Zuwachs an Expositionsminderung erzielt wird. — Die unterschiedliche Effizienz verschiedener Wege, die zu einer angestrebten Expositionsminderung führen. Diese Gesichtspunkte müssen natürlich auch schon bei der Standardsetzung selbst beachtet werden, zumindest in dem Sinne, daß die Standards ihnen genügend Raum im Vollzug einräumen. Aus dem Optimierungs- bzw. Abwägungsgebot darf kein reines Minimierungsgebot werden; man darf also in dem amerikanischen ALARA-Prinzip (as low as reasonably achievable), das im Strahlen-

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Formale Kriterien und Instrumente

schütz gilt, das R nicht weglassen. Ein Minimierungsgebot käme der Bewußtseinslage vieler Bürger der Bundesrepublik Deutschland allerdings sehr entgegen. Exemplarisch für die Bereitschaft, dieser Bewußtseinslage Rechnung zu tragen, steht das in der politischen Diskussion um die Kernenergie geprägte Schlagwort »Sicherheit geht vor Wirtschaftlichkeit«. Dabei wird übersehen, daß es immer Möglichkeiten gibt, Expositionen noch weiter zu senken, wenn man nur genügend Aufwand treibt. Gelangt man hier an den Punkt, an dem das Produkt oder die Technik, um die es geht, an die Grenze der Wirtschaftlichkeit stößt, müßte zumindest abgewogen werden, welche Sicherheitseinbußen an anderer Stelle ein Verzicht zur Folge hätte. Dies wird in dem Bestreben, sich den antizipierten Bedingungen der öffentlichen Akzeptanz von vornherein zu unterwerfen, oft übersehen. Grundsätzlich sollten Abwägung oder Optimierung im Vollzug zwar eher erreichbar sein als bei der Standardsetzung, aber auch in der regulatorischen Tagespraxis ist Optimierung keineswegs selbstverständlich. Das Bemühen um Optimierung wird leicht als Suche nach dem faulen Kompromiß etikettiert. Das gilt vor allem für die Berücksichtigung der Multiattributivität von Entscheidungen (vgl. Kapitel 5.4). Was das Beachten von Vernetzungen betrifft, so sind die Grenzen oft durch mangelnde Einsicht gesetzt. Ein anderes Hindernis liegt schließlich darin, daß der effizienteste Weg zur Erreichung eines Zieles oft nicht der des geringsten Widerstands ist. Angesichts der in Z u k u n f t zwangsläufig steigenden Regelungsdichte dürften aber Abwägungen und Optimierungen zur Erhaltung der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit immer notwendiger werden. Einige Beispiele aus dem Vollzug des Umweltschutzes mögen Optimierungsdefizite und ihre Folgen anschaulich machen. (a) Als Beispiel für die Folgen von Vernetzungen führen die politisch erwünschten immer strengeren Schadstoffgrenzwerte für Materialien, die aus der Wiederverwertung von Rückständen stammen, zu wachsenden, politisch unerwünschten Abfallmengen: — Die Empfehlung von UBA und BMU zum mittelfristigen Verzicht auf die Ausbringung von Klärschlamm auf Weideland wegen Dioxinspuren führt zum Anwachsen der als Abfall zu behandelnden Klärschlammengen.

Prinzipien u n d Probleme der gegenwärtigen Praxis

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— Die Empfehlung der SSK bedroht die Verwendung von Ammoniak aus der Uranverarbeitung als Düngemittel, obwohl die Radioaktivitätskonzentration unter Umständen nicht größer ist als die in konventionellem Mineraldünger natürlich vorkommende; sie könnte damit zusätzlichen »radioaktiven« Abfall zur Folge haben. — Die SSK-Vorgaben zur Einschränkung der Verwertung von Material aus dem Abbruch kerntechnischer Anlagen selbst unterhalb der Freigrenzen könnten ebenfalls zu erheblicher Steigerung der Mengen an »radioaktiven« Abfällen führen. (b) Der Grenznutzen wird zu gering, wenn ins Extrem gesteigerte Anforderungen an die Resultate von Reinigungsprozessen zu entsprechenden Folgelasten führen: — Bei der Sanierung von Altstandorten (Altlasten) führen Extremforderungen bezüglich der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands zu teuren Verzichten auf die Wiedernutzung von erschlossenen Standorten, z. B. für Industrieanlagen. — Immer höher getriebene Anforderungen bei der Rauchgasreinigung führen zu wachsenden Mengen an Abfallkonzentrat, die unter Umständen als Sonderabfall beseitigt werden müssen. (c) Die effizientesten, d. h. in bezug auf Kosten und Wirkung optimalen, Wege setzen häufig die Überwindung psychologischer oder politischer Hemmnisse voraus; weniger effiziente Wege werden vorgezogen: — Schadstoffverminderung bei der Müllverbrennung durch Rauchgasreinigung statt durch Abfall-Vorsortierung beim Verbraucher, — Schutz des Grundwassers vor Nitraten und Phosphaten durch eine dritte Stufe in Kläranlagen statt durch Regelungen des Düngemitteleinsatzes in der Landwirtschaft, — Luftreinhaltung durch Ausschöpfen aller Fortschritte der Rückhaltetechnik in der Bundesrepublik statt durch internationale Maßnahmen zur Verminderung grenzüberschreitender Schadstofftransporte. Was die Standardsetzung betrifft, stellt sich, wie mehrfach dargelegt (vgl. Kapitel 1.3.4 und 2.1.6), die Frage der Optimierung exemplarisch bei der Festlegung konkreter Expositionsgrenzwerte. Wenn sich aus einer Dosis-Wirkungsbeziehung ein Schwellenwert ergibt, wird man in

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Formale Kriterien und Instrumente

aller Regel mit dem Grenzwert darunter bleiben. Das ist vernünftig, weil - jedenfalls im Prinzip — ein Schwellenwert die Grenze zwischen Schadlosigkeit und Gewißheit eines Schadens markiert. Grundsätzlich ist aber natürlich auch der Fall denkbar, daß die Einhaltung eines solchen Schwellenwerts so teuer bezahlt wäre, daß es sich empfiehlt, Expositionen oberhalb dieses Schwellenwerts zuzulassen. Beispiele dafür gibt es zwar nur für ganz spezielle Situationen, vor allem für gewollte therapeutische Expositionen in der Medizin oder für die Inkaufnahme hoher Expositionen im Katastropheneinsatz, aber auch dies sind Optimierungen. M a n nimmt nach sorgfältiger Abwägung ein Übel zur Vermeidung oder Minderung eines anderen in Kauf. Der Vorteil bei der Abwägung ist hier, daß die Risiken oder Chancen, die gegeneinander abzuwägen sind, die gleiche Dimension haben, nämlich Gesundheit. Mit der Notwendigkeit zur multiattributiven Abwägung wird man besonders in den Fällen konfrontiert, in denen ein Schwellenwert nicht existiert, also immer dann, wenn man es mit stochastischen Wirkungen (Krebs, Mutationen) zu tun hat. Da hier die Unschädlichkeit bei endlicher Exposition prinzipiell nicht erreichbar ist (so jedenfalls die Hypothese), hat man nur die Alternative zwischen dem völligen Vermeiden einer (zivilisationsbedingten) Exposition - und damit in der Regel dem Verzicht auf eine Anwendung — und der Inkaufnahme eines gewissen Risikos. Die Größenordnung eines akzeptablen Risikos für die Bevölkerung kann dann nur das Ergebnis eines rationalen Abwägungsprozesses sein. Eine solche Festlegung hat es bisher in der Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben. Die Strahlenschutzgrenzwerte für die Bevölkerung sind nach dem Prinzip der pragmatischen Konsistenz von der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition abgeleitet. Für die Exposition der Bevölkerung mit kanzerogenen bzw. mutagenen Chemikalien aus der Umwelt gibt es bisher keine Standards, sondern nur Minimierungsgebote; man schrak hier bisher vor der Festlegung eines akzeptablen Risikos zurück. Es zeichnet sich aber ab — vor allem aus Entwicklungen in den USA —, daß auch an dieser Stelle durch die Festlegung von Grenzwerten Risikobegrenzungen eingeführt werden müssen. Hierzu sind in Kapitel 3.3 Hinweise gegeben worden.

Instrumente des Marktes und des Rechts

6.2 Umweltinstrumente

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des Marktes und des Rechts

6.2.1 Marktwirtschaftliche Umweltinstrumente In demokratischen und marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaften lassen sich Entwicklung und Einsatz von Umweltinstrumenten grundsätzlich durch zwei unterschiedliche Steuerungsformen realisieren: das System des Marktes und das System des Rechts. Während die Instrumente des Marktes die Verfügbarkeit über Umwelt innerhalb eines gesetzlich gegebenen und gegebenenfalls laufend zu verändernden Rahmens nach Maßgabe der Zahlungsbereitschaft für einen bestimmten Nutzen bzw. der Kompensationsbereitschaft für einen entgangenen Nutzen bestimmen, schränken staatliche Vorschriften in Form von Verboten und Geboten den Handlungsspielraum der Individuen, der Institutionen und Organisationen ein und legen durch Standards das Maß an erlaubter Umweltnutzung administrativ fest (Züricher 1989, 1; Mohr 1990, 8; Steger et al. 1990, 200). Für alle freiheitlichen Demokratien gilt der Grundsatz der Abstinenz des Staates von allen Regelungen, die durch freiwillige Vereinbarungen oder marktkonforme Instrumente ersetzt werden könnten. Die Gegenüberstellung von marktkonformen und ordnungsrechtlichen Instrumenten der Umweltpolitik ist allerdings nicht so zu verstehen, daß diese beiden Vorgehensweisen der Regulation sich gegenseitig ausschlössen. Erst durch die Schaffung eines Ordnungsrahmens durch staatliche Vorschriften können sich Märkte überhaupt entwickeln. Manche Märkte sind erst durch staatliche Vorgaben geschaffen worden, z. B. durch die Rechtsform der Aktiengesellschaft und das Börsenrecht. Wenn hier von marktkonformen versus ordnungsrechtlichen Instrumenten die Rede ist, dann soll mit dem Begriff der Marktkonformität nicht die Abstinenz staatlicher Ordnungsvorschriften gemeint sein, sondern der auf Selbstorganisation beruhende Ausgleich von Angebot und Nachfrage nach Grenznutzen und Grenzkosten. Ordnungsrechtliche Instrumente sind nach dieser Auffassung Mengen- oder Preisfestlegungen durch den Staat. Die Regelung von Umweltqualität durch in diesem Sinne verstandene Vorschriften bedarf gemäß dem Grundsatz der Priorität marktwirtschaftlicher Verfahren der besonderen Begründung. Nur wenn nachgewiesen werden kann, daß der Markt keine äquivalenten Leistungen im Vergleich zu ordnungsrechtlichen Verfahren erbringen kann, ist der

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Formale Kriterien und Instrumente

Beweis für die Notwendigkeit staatlich festgelegter Umweltstandards geführt. Im folgenden wird die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Marktinstrumente erörtert und mit den Vor- und Nachteilen einer ordnungsrechtlichen Lösung verglichen. 6.2.1.1 Prinzipien marktkonformer Instrumente Marktwirtschaftliche Instrumente beruhen auf dem Grundsatz der optimalen Allokation von gesellschaftlichen Ressourcen nach dem Grad ihrer durch die Wirtschaftssubjekte bewerteten Knappheit. Dabei kommen vier Prinzipien des ökonomischen Handelns zum Tragen (Baumol & Oates 1975; Siebert 1987a; Smith 1986; Steger et al. 1990; Renn & Kais 1990): — der Grundsatz der Kosteneffizienz (Produktionsfaktoren müssen so kombiniert werden, daß ein gegebenes Ziel mit dem geringsten Aufwand an natürlichen Ressourcen, Arbeitszeit und Kapital erreicht werden kann), — der Grundsatz der marginalen Nutzenbewertung (der Wert eines Gutes oder einer Leistung ermißt sich aus dem Grenznutzen, der beim Nachfrager durch die Bereitstellung des Gutes bzw. der Leistung anfällt), (Güter und Leistungen wer— der Grundsatz des Marktgleichgewichts den auf dem Markt eingetauscht, bis der Grenznutzen der Nachfrager mit den Grenzkosten der Anbieter übereinstimmt), — der Grundsatz der Wohlfahrtssteigerung (Güter und Leistungen werden nur dann angeboten oder ausgetauscht, wenn alle Parteien zumindest ihr vorhandenes Nutzenniveau behalten und mindestens eine Partei einen Nutzengewinn erzielt). Nähme man diese vier Prinzipien als Maßstab für Umweltregulierung, dann schnitten die Instrumente der staatlichen Ordnungspolitik schlecht ab. Zunächst einmal sind ordnungspolitische Vorschriften nicht kosteneffizient (Züricher 1989, 2ff): Standards zwingen Unternehmen, ohne Rücksicht auf die Kosten der Reduzierung von Umweltbelastungen, die für jedes Unternehmen unterschiedlich ausfallen mögen, einen bestimmten Schwellenwert nicht zu überschreiten. Dabei mag für ein Unternehmen A eine Senkung der Belastung unterhalb des Schwellenwertes weniger kostenintensiv sein als die Einhaltung des Schwellenwertes für ein anderes Unternehmen B. Würde das Unternehmen B die Kosten des

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Unternehmens A zur Senkung unterhalb des Schwellenwertes übernehmen, würde die gleiche Umweltqualität erreicht, und zwar zu geringeren Kosten. Dabei müssen jedoch auch die Transaktionskosten berücksichtigt werden. Würde eine marktkonforme Organisation der Umweltregulierung mehr indirekte Kosten verschlingen, als man bei den direkten Kosten durch den Ersatz ordnungsrechtlicher Vorschriften einsparen würde, ist es auch volkswirtschaftlich sinnvoller, auf die marktkonforme Lösung zu verzichten. Die Höhe der Umweltstandards wird nicht durch den Ausgleich von Grenznutzen und Grenzkosten bestimmt, sondern durch einen politischen Willensakt. Dieser mag zwar aufgrund einer Kosten-NutzenAnalyse zustandegekommen sein, aber nur in Ausnahmefällen dürfte der Grenznutzen einer jeden Mark, die für Umweltschutz ausgegeben wird, den Grenzkosten zur Finanzierung der Auflagen entsprechen. Vielfach werden große Geldsummen für nur marginale Sicherheitsverbesserungen ausgegeben, während große Nutzengewinne nicht hinreichend ausgeschöpft werden (Smith 1986, 13f). Inwieweit die Wohlfahrt durch Umweltstandards gesteigert wird, ist ebenfalls fraglich. Zum einen könnten durch flexible Handhabung von Grenzwerten gemäß der jeweils gegebenen Kosteneffizienz die Gesamtkosten bei gleichbleibender Umweltbelastung verringert und damit die Wohlfahrt aller verbessert werden, zum anderen fehlen bei festen Standards Anreize für unternehmensinterne Innovationen, da eine Verbesserung der Umweltqualität unterhalb der Standards keine finanziellen Vorteile mit sich bringt (Züricher 1989, 3; Siebert 1987b; Mohr 1990, 8). 6.2.1.2 Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Marktes Der Einsatz von marktkonformen Instrumenten ist an bestimmte Voraussetzungen, darunter die Voraussetzung der Meßbarkeit, gebunden. Zunächst müssen die Marktteilnehmer über die Beschaffenheit und Qualität der Produkte so viel an Information haben, daß sie eine subjektive Bewertung vornehmen können (Koslowski 1983,169). Finden sich z. B. in bestimmten Produkten Schadstoffe, die gesundheitsschädlich sind, aber vom Konsumenten nicht wahrgenommen werden, so mag diese Unwissenheit zu einer Verfälschung der wahren, d. h. nutzenoptimierten, Nachfrage führen. Ferner setzt die Festlegung von Preisen auf dem Markt voraus, daß Anbieter und Konsument den

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Nutzen, der sich durch den Kaufakt für beide ergibt, auch exklusiv beanspruchen können (Tietenberg 1984; Mohr 1990, 6). Sind Dritte davon positiv oder negativ betroffen (externe Effekte) oder läßt sich der Nutzen nicht privatisieren (öffentliches Gut), kommt es zu suboptimalen Lösungen, wenn Verhandlungen unzulässig oder zu teuer sind. Schließlich werden Güter, die von allen als Nutzengewinn angesehen werden, in vielen Fällen gar nicht erst angeboten, weil sie für das Individuum nur dann interessant sind, wenn alle oder zumindest die Mehrheit sie gleichzeitig nachfragen (Sen 1967; Tullock 1976). Wenn man sich dieser allgemeinen Nachfrage nicht sicher ist, bleibt die individuelle Nachfrage in der Regel aus. Auch der umgekehrte Fall ist problematisch: Wenn die Nachfrage nach einem Gut (etwa Grundstück im Grünen) dann zu Nutzenverlusten führt, wenn alle ihre Nachfrage befriedigen (Zersiedelung der verbleibenden Grünfläche), treten Wohlfahrtsverluste auf, obwohl jedes Individuum für sich genommen seinen Nutzen optimiert. Es ist offenkundig, daß die Umwelt ein Gut darstellt, das genau diese Bedingungen nicht erfüllt (Steger et al. 1990,197). Die Umwelt ist zwar ein knappes und damit dem Wirtschaftsprozeß zugängliches Gut, aber es ist ein öffentliches Gut, für das oft nur unter schwierigen Bedingungen exklusive Nutzungsrechte beansprucht werden können (Kloepfer 1989, 196; Steger et al. 1990; Tietenberg 1988). Dies beruht auf folgenden Faktoren: (a) Umweltbelastungen sind in der Regel externe Effekte, d. h., sie schädigen meistens an der Transaktion von Gütern und Leistungen nicht beteiligte Dritte (Baumol Sc Oates 1975; Renn & Kais 1990, 61). Der Preis eines Gutes kann aber nur das Verhalten von Käufer und Verkäufer regeln, nicht den Nutzenverlust von Dritten. Ohne staatlichen Eingriff der Kompensation von Dritten (etwa als Abgabe auf den Kaufpreis) läßt sich dieses Problem allein durch den Markt nicht lösen. (b) Die Umwelt ist ein gutes Beispiel für ein nicht exklusiv nutzbares Gut. Die Nachfrager einer sauberen Umwelt können nämlich keinen ausschließen, der nicht zu zahlen bereit ist, obgleich er ebenfalls die saubere Umwelt genießt (Tullock 1976; Siebert 1987a). Wenn aber solche Trittbrettfahrer kostenlos an dem Gut Umwelt Anteil haben, werden auch die im Prinzip zahlungswilligen Nachfrager keinen Preis

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entrichten wollen. In diesem Falle wird das Produkt gar nicht erst angeboten, obwohl alle davon einen Nutzengewinn hätten. (c) Beide Gründe, die Existenz von externen Effekten und die NichtExklusivität der Nutzung, sind dafür verantwortlich, daß der Preis für eine saubere Umwelt nicht allein durch den Markt, d. h. den Ausgleich von Grenznutzen und Grenzkosten, Zustandekommen kann (Schürmann 1978). Die Kosten für die Wiederherstellung der Umwelt oder für die Rückgängigmachung einer Umweltbelastung sind zwar geeignete Indikatoren für einen solchen Preis (Wicke 1990), aber sie reflektieren nicht den Nutzengewinn oder Nutzenverlust (d. h. die subjektive Bewertung) des Umweltschadens. Die Preisfestlegung (oder Mengenfestlegung) muß daher extern erfolgen, etwa durch den Staat. (d) Der Nutzenverlust von Umweltbelastungen tritt häufig erst in der Zukunft auf, während der Nutzengewinn durch Konsum in der Gegenwart stattfindet (Koslowski 1983, 177). Wenn der gegenwärtige Nutzengewinn unwiederbringlich mit zukünftigem Nutzenverlust verbunden ist, dieser Nutzenverlust aber den Wirtschaftssubjekten nicht transparent ist, kann der am Markt zustande gekommene Preis falsche Signale setzen und langfristige Wohlfahrtsverluste bedingen, d. h., der Staat muß hier im Interesse der Allgemeinheit in den Marktprozeß eingreifen und durch Verbote bzw. Gebote die Nutzungsmöglichkeiten des jeweiligen Gesetzes begrenzen. (e) Umweltbelastungen können zu irreversiblen Schäden führen, die den handelnden Subjekten entweder nicht bewußt sind, oder die sie aus der dringenden Notwendigkeit bestimmter lebenswichtiger Güter in Kauf zu nehmen bereit sind (Koslowski 1983, 178). Gefährliche Stoffe, die zu schweren Gesundheitsschäden oder sogar zum Tode führen können, sind aus moralischen Gründen nicht gegen andere Güter einzutauschen. Der Markt setzt auf den Lernprozeß von Versuch und Irrtum. Wenn aber der Irrtum mit unzumutbaren Konsequenzen verbunden ist, tritt die Fürsorgepflicht des Staates in Kraft, um das Individuum vor einem irreversiblen Irrtum zu schützen (womit nicht unterstellt wird, daß der Staat in seinem Interventionshandeln immer irrtumsfrei ist). Das Umweltrecht in der Bundesrepublik Deutschland betont die Notwendigkeit der Einschränkung individueller Freiheitsoder Eigentumsrechte, wenn überragende Gemeinwohlbelange oder die Abwehr von Gefahren auf dem Spiel stehen (Kloepfer 1989, 196).

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Die weitgehende Marktunfähigkeit des Gutes Umwelt verhindert die ausschließliche Wirksamkeit marktwirtschaftlicher Regelungen und erfordert staatliche Eingriffe. Es gibt zwar bestimmte Umweltprodukte, auf die die oben genannten Kriterien, vor allem das Prinzip der NichtAusschließbarkeit, nicht zutreffen (etwa das Grundeigentum, Ferien am Luftkurort, sauberes Wasser in Flaschen). Aber selbst diese Nutzungsformen der Umwelt werden häufig in Ausnahmefällen durch Umweltstandards geregelt. Dies gilt erst recht für die Verbesserung der Luftoder Wasserqualität, weil hier der Markt keine exklusiven Nutzungsrechte zuläßt. Aus diesem Grund sind auch die marktwirtschaftlichen Instrumente, die im Bereich der Umweltpolitik diskutiert werden, immer Mischformen zwischen staatlicher Regulierung und marktwirtschaftlichen Anreizen. Das Ziel der staatlichen Regulierung ist dabei, durch die Schaffung oder Simulation von Marktbedingungen marktkonforme Leistungen hervorzubringen und dadurch die Inflexibilität und Ineffizienz staatlicher Standards zu überwinden. 6.2.1.3 Marktkonforme Instrumente der Umweltpolitik Die einfachste Art, den Markt als Lenkungsinstrument in der Umweltpolitik zu nutzen, besteht in der Privatisierung von Umweltgütern. Da Umwelt jedoch nur in Ausnahmefällen exklusiv nutzbar gemacht werden kann, läßt sich die Privatisierung durch die Schaffung umweltrelevanter Eigentums- oder Verfügungsrechte nicht vollständig durchführen. Dieses Konzept läßt sich bei Dienstleistungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Umwelt umsetzen, etwa bei der Privatisierung von Müllbeseitigung. Man kann z. B. umweltschädliche Behälter als Eigentum der Produzenten betrachten und diese Eigentumsrechte auch nach Verkauf des Behälterinhaltes als Verpflichtung zur Entsorgung aufrechterhalten. In dem hier interessierenden Bereich der Umweltstandards finden sich aber nur wenige Beispiele, bei denen die Schaffung individueller Verfügungsrechte möglich oder wünschbar ist (Steger et al. 1990, 198). Dagegen sind die Instrumente der Abgaben und der emissionsabhängigen Steuern, vor allem aber die Vergabe von Zertifikaten Lösungsvorschläge, die theoretisch in der Lage sind, ordnungsrechtliche Standards zu ersetzen oder zu ergänzen (Züricher 1989, 9ff; Mohr 1990, 13ff). Sie beruhen allerdings auf Vorgaben des Staates. Da Marktpreise

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für Umweltgüter sich nicht spontan auf dem M a r k t einstellen, muß der Staat entweder den Preis oder die Menge vorab bestimmen (Steger et al. 1990, 200). Im ersteren Falle werden Umweltverschmutzer mit einer Abgabe pro emittierter Menge Schadstoff zur Kasse gebeten, im zweiten Falle wird die erlaubte Menge der Umweltbelastung zunächst einmal festgelegt, wobei der Staat durch Aufkauf und Neudruck die Menge der Zertifikate zu einem späteren Zeitpunkt vermindern oder vermehren kann. Diese Menge wird wie auf einer Börse Stück für Stück meistbietend versteigert. Daneben lassen sich auch Mengenbegrenzungen dadurch erreichen, daß die Wirtschaftssubjekte untereinander die erlaubte Quote der Verschmutzung für jeden einzelnen unter der Voraussetzung aushandeln, daß alle zusammen unterhalb einer bestimmten Immissionshöhe (dem sogenannten Immissionsdeckel) bleiben (Kloepfer 1989, 194). Diese Form der flexiblen Kompensation wird im amerikanischen Umweltrecht bereits in dreifacher Weise praktiziert (Hahn & Hester 1989, 109ff; Mohr 1990, 13ff): (a) nach dem Netting-Verfahren, bei dem innerhalb eines Unternehmens Emissionen bei einer Produktionsstätte mit denen einer anderen Produktionsstätte in der gleichen Gegend aufgerechnet werden können. Dadurch lassen sich etwa Altanlagen, für die eine Nachrüstung mit umweltschonenden Technologien nicht mehr kostenwirksam wäre, ohne Emissionsbegrenzung weiter betreiben, sofern die daneben befindliche Neuanlage soweit unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Standard bleibt, daß die Mehremission durch die Altanlage zumindest ausgeglichen wird. Von dieser Möglichkeit des Netting ist in den USA bislang rund 10.000 mal Gebrauch gemacht worden. (b) nach dem Bubble-Verfahrert, bei dem mehrere Unternehmen innerhalb einer Region einen Emissionsausgleich durchführen können. Das Verfahren ist das gleiche wie beim Netting, nur daß die Produktionsstätten nicht innerhalb eines Unternehmens angesiedelt sein müssen. Von diesem Verfahren ist innerhalb der USA nur selten Gebrauch gemacht worden, vor allem deshalb, weil die Ausgleichszahlungen zwischen selbständigen Unternehmen nur schwer auf freiwilliger Basis zu organisieren sind. Außerdem sind die regionalen Glocken (Bubbles) oft zu kleinräumig definiert worden, um genügend Anreize für Unternehmen zur Kooperation zu bieten.

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(c) nach dem Offset-Verfahren, bei dem Emissionen von Produktionsstätten eines Unternehmens an verschiedenen Standorten miteinander verrechnet werden können. Auch dieses Verfahren ist bislang nur selten angewendet worden und ist zudem selbst bei Vertretern der marktkonformen Lösungen umstritten, weil die gebietsunabhängige Kompensation Regionen mit hoher Konzentration an Altanlagen systematisch in ihrer Umweltqualität benachteiligt. (d) nach dem Banking-Verfahren, bei dem die Einsparung von Emissionen unterhalb des erlaubten Schwellenwertes zu Emissionsüberschreitungen in der Zukunft berechtigt. Dieses Verfahren hat in den USA kaum Anwendung gefunden. Zum einen wird ein Unternehmen in der öffentlichen Meinung kaum auf Wohlwollen stoßen, wenn es zukünftige Anlagen mit höheren Emissionen von Schadstoffen errichten würde, als gegenwärtige Anlagen ausstoßen. Zum anderen garantiert das amerikanische Ordnungsrecht auch die Erlaubnis zu höheren Emissionen nicht, da aufgrund neuerer Erkenntnisse der jeweilige Schadstoff in Zukunft anders bewertet werden könnte, und sich dadurch der Emissionsstandard ändern würde. Die Möglichkeit der Kompensation nach dem Bubble- und NettingVerfahren ist inzwischen auch in der Bundesrepublik Deutschland in die TA Luft vom 27.2.1986 aufgenommen worden (Kloepfer 1989, 194). Danach dürfen Altanlagen von ordnungsrechtlichen Vorgaben im Vorsorgebereich (aber nicht im Gefahrenbereich) abweichen, sofern durch technische Maßnahmen an anderen Anlagen des Betreibers oder Dritter in diesem Gebiet insgesamt eine weitergehende Minderung von Emissionen derselben oder in ihrer Wirkung gleicher Stoffe erreicht wird, als dies sonst bei Beachtung der ordnungsrechtlichen Anforderungen der Fall wäre. Bislang ist diese Möglichkeit in Deutschland nur selten ausgeschöpft worden. Eine weitere Möglichkeit zur marktinternen Regulation besteht in der Ausweitung des Haftungsrechtes (Steger et al. 1990, 200f). Personen, die sich durch Umweltschäden in ihrer Gesundheit beeinträchtigt sehen, können vom Verursacher Schadensersatz fordern. Da Schadensersatz für Unternehmen Kosten und in zunehmendem Maße Verlust des Ansehens bedeutet, werden sie versuchen, den Schaden zu vermeiden und die Kosten für den Einbau umweltschonender Maßnahmen mit den Kosten, die ihnen durch mögliche Schadensersatzklagen drohen, in

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Beziehung zu setzen. Wie gezeigt wird (Kapitel 6.2.3), erfüllt diese Lösung nicht die gewünschte Lenkungsfunktion. Schließlich können wirtschaftliche Anreize zur Minderung der Umweltbelastung auch durch das Pfandsystem erzielt werden. Auf wiederverwertbare Produkte wird ein Pfand erhoben, das bei Rückgabe an den Produzenten oder Händler erstattet wird (Züricher 1989, 14ff). Dieses Verfahren soll hier nicht weiter betrachtet werden, da es auf den Bereich der Umweltstandards nicht anwendbar ist. Allerdings sind die Erfahrungen mit dem Pfandsystem in vielen Ländern erfolgreich und könnten sicher über den traditionellen Anwendungsbereich bei Flaschen auf andere potentiell umweltschädigende Produkte ausgedehnt werden (etwa auf Batterien). Fiskalische Steuern, Subventionen oder emissionsunabhängige Abgaben sind dagegen keine marktkonformen Instrumente, weil sie keine Lenkungsfunktion auf die Allokation von Umweltgütern ausüben. Anreize und Abgaben sind nur dann allokationswirksam, wenn umweltfreundliches Verhalten auf dem Markt belohnt und umweltschädigendes Verhalten bestraft wird, und zwar nach Maßgabe der dadurch vermiedenen oder entstehenden Kosten für die gesamte Volkswirtschaft. Alle marktkonformen Instrumente können nur dann ihre Lenkungsfunktion erfüllen, wenn sie einen Anreiz schaffen, die Kosten, die durch Umweltschäden entstehen, mit den Kosten, die zur Reduzierung dieser Schäden notwendig sind, in Ausgleich zu bringen. 6.2.1.4 Vor- und Nachteile der marktkonformen Instrumente Gegenüber festen ordnungsrechtlichen Standards haben die hier genannten marktkonformen Instrumente, vor allem die emissionsabhängigen Abgaben und Zertifikate den Vorteil, daß sie im Prinzip die vier Kriterien einer wirtschaftlichen Vorgehensweise erfüllen: Sie sind kosteneffizient, weil es jedem Unternehmen überlassen bleibt, nach eigenen Kosten-Nutzen-Berechnungen entweder die Emission zu reduzieren oder die Abgabe an den Staat zu zahlen bzw. Zertifikate in der gewünschten Höhe zu erwerben (Siebert 1987b). Zertifikate und Abgaben können so gestückelt werden, daß jedes Unternehmen die marginalen Kosten der Abgaben oder Zertifikate mit den marginalen Kosten der Umweltreduzierung zum Ausgleich bringen kann. Die marginale Einheit des Gutes »Umwelt« geht gerade in jene Verwendung, wo sie den größten Nutzen stiftet (Mohr 1990, 5). Ein Marktgleichgewicht wird

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dadurch erreicht, daß jene Wirtschaftssubjekte mit der größten Bereitschaft, zusätzlich auf Umwelt zu verzichten, mit jenen einen Nutzenaustausch organisieren, die die größte Bereitschaft zu einem zusätzlichen Erwerb von Umweltnutzungsrechten besitzen (Mohr 1990, 6). Die Konkurrenz um marginale Nutzeneinheiten durch den Kauf und Verkauf von Verschmutzungsrechten erhöht auch die Wohlfahrt, weil der Handel mit diesen Rechten Käufer und Verkäufer besser stellt als vor dem Handel. Beide haben aufgrund der unterschiedlichen Bewertung der marginalen Einheit Umwelt einen Nutzengewinn. Allerdings setzt dieser Ausgleich voraus, daß der kollektive Nutzen des Gutes Umwelt bei der externen Preis- oder Mengenbestimmung durch den Staat adäquat umgesetzt wurde. Trotz der bestechenden Vorteile sind eine Reihe von schwerwiegenden Problemen mit marktkonformen Instrumenten verbunden, die sich zum Teil aus der Natur des Umweltschutzes selbst, zum Teil aus der Notwendigkeit der Marktsimulation für den Einsatz dieser Instrumente ergeben. Unter diesen Problemen sind vor allem folgende zu nennen: (a) Die Messung von Umweltschäden: Die Wirksamkeit der Lenkungsfunktion der marktkonformen Systeme ist an die Bedingung gebunden, daß die Kosten der Umweltschäden in etwa bekannt und die Abgaben bzw. Zertifikate an eine emittierte Substanz gebunden sind, die ursächlich diese Schäden hervorruft. Beide Voraussetzungen sind häufig nicht erfüllt (Steger et al. 1990, 199ff). Die negativen Auswirkungen von Umweltnoxen sind oft mit großen Unsicherheiten versehen, die eine Bewertung erschweren. Häufig müssen zur Bewertung Indikatoren wie die Kosten zur Wiederherstellung des alten Zustandes oder wirtschaftliche Einbußen durch Umweltbelastungen herangezogen werden (Wicke 1990, 214ff). Noch schwieriger ist das Problem der Verursachung zu entscheiden (Mohr 1990, 11). Häufig müssen mehrere Schadstoffe gleichzeitig vorhanden sein, um einen bestimmten Schaden auszulösen (etwa bei der Ozonbildung). Diese Probleme treten in gleichem Maße auch bei ordnungsrechtlichen Verfahren auf, nur wird dort erst gar nicht der Anspruch erhoben, daß eine optimale Allokation der Ressourcen zustandekommt. (b) Preis- oder Mengenfestlegung durch den Staat: Bei Abgaben muß der Staat den Preis pro emittierter Einheit Schadstoff festlegen, bei Zertifikaten die zulässige Gesamtmenge des jeweiligen Schadstoffes.

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Beide Vorgaben können zu schwerwiegenden Allokationsverzerrungen führen (Züricher 1989, 13). Bei der Abgabenlösung kommt es auf den Preis an, welche Menge an Schadstoffen emittiert wird. Ist der Preis zu hoch, kommt es zu Wohlfahrtsverlusten, weil die Behinderung der Produktion größere Kosten verursacht als die Kostenersparnis durch eine sauberere Umwelt. Ist der Preis zu niedrig, kommt es ebenfalls zu Wohlfahrtsverlusten, weil die Kosten der Umweltbelastung diesmal die Kostenersparnis durch geringere Umweltauflagen übertreffen. Da sich der Preis für Umweltverbesserungen bzw. Umweltbelastungen nicht im Marktgeschehen auf den optimalen Gleichgewichtspunkt einpendeln kann und sich auch ex post keine eindeutigen Indikatoren für die Bewertung angeben lassen, kommt es bei der staatlichen Festlegung des Preises für das Gut Umwelt (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht zu einem Ausgleich von Grenzkosten und Grenznutzen. Bei der Zertifikatslösung wird die Menge beschränkt und dadurch das Ziel einer Begrenzung der gesamten Schadstoffmenge ähnlich wie bei ordnungsrechtlichen Standards festgeschrieben. Bei geringen Nachfrageelastizitäten, d. h. geringen Ausweichmöglichkeiten des Konsums, kann eine wirksame Mengenbegrenzung zu erheblichen Preissteigerungen führen (Züricher 1989, 13). Dies ist um so problematischer, als Interessengruppen aus Spekulationsgründen oder motiviert vom Umweltschutz den M a r k t an Zertifikaten künstlich verknappen können (Kloepfer 1989, 193f). (c) Kontrolle der Umweltbelastung: Schon bei ordnungsrechtlichen Vorschriften ist es schwierig, die Einhaltung von allgemeinen Grenzwerten zu kontrollieren. Bei Abgaben wie bei Zertifikaten erhält jedes einzelne Unternehmen differenzierte Grenzwerte für jeden emittierten Schadstoff. Der Aufwand, der erforderlich ist, um Verstöße gegen jede individuelle Grenzwertüberschreitung zu ahnden, dürfte für viele Schadstoffe (etwa organische Noxen wie Furane und Dioxine) wesentlich kostenintensiver sein als der Nutzengewinn durch die Einführung der nach Grenzkosten differenzierten Menge an Schadstoffen pro Unternehmen. (d) Verteilung der Umweltbelastung: Wie bereits bei der Beschreibung des Offset-Verfahrens erwähnt, können marktkonforme Systeme zwar eine insgesamt gegebene Menge an Schadstoffen zu den geringsten Kosten reduzieren helfen, aber die verbleibende Schadstoffmenge muß

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nicht unbedingt gleichverteilt sein (Kloepfer 1989, 194). Im Gegenteil: Regionen mit hohem Anteil an Altanlagen werden durch marktkonforme Instrumente meist benachteiligt, da sich dort der Aufwand für Umweltschutz am wenigsten lohnt. Gegenden mit neuen Anlagen werden dagegen besonders umweltfreundlich sein, weil die Unternehmen hier über den Standard hinaus Emissionen reduzieren werden. (e) Internationale und globale Umweltbeeinträchtigung: In immer stärkerem Maße sind Umweltbelastungen nicht mehr regional begrenzt, sondern breiten sich weiträumig über Ländergrenzen hinweg aus (Mohr 1990). Beispiele dafür sind der saure Regen oder die Schädigung der Ozonschicht durch FCKW. Da sich die Harmonisierung von marktkonformen Systemen auf internationaler Ebene wesentlich schwieriger gestaltet als die Setzung von international anerkannten Standards, werden auch in Zukunft internationale Vereinbarungen über Umweltbelastungen aufgrund von Grenzwerten oder anderen Standards Zustandekommen. Allerdings mag es jedem Land selbst überlassen bleiben, ob es die internationalen Verpflichtungen (etwa zur Reduzierung von FCKW) intern durch ordnungsrechtliche oder marktkonforme Instrumente erfüllt. (f) Unteilbarkeit der Güter Leben und Gesundheit: Die marginale Nutzentheorie geht davon aus, daß Güter in einzelne Einheiten untergliedert und gegen andere Gütereinheiten eingetauscht werden können (Steger et al. 1990, 201ff). Diese Sichtweise verliert jedoch ihre Gültigkeit, wenn die Güter unteilbar oder nicht eintauschbar sind. Wenn z. B. die Abgabe einer bestimmten Menge eines Schadstoffes akute und schwerwiegende Schädigungen hervorruft, wird der Staat gemäß unserer Verfassung diese Abgabe verbieten müssen, gleichgültig wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein mag (Mohr 1990, 16). Aus diesem Grunde ist auch in der Bundesrepublik Deutschland das Anwendungsspektrum der marktkonformen Instrumente auf den Vorsorgebereich beschränkt und bleibt aus dem Gefahrenbereich ausgeschlossen (Kloepfer 1989, 194). Das Postulat der Unverletzlichkeit des Lebens gilt auch dann, wenn der Betreffende dieser Verletzung zustimmen sollte. 6.2.1.5 Folgerungen für die Umweltpolitik Ohne Zweifel trägt die Einführung von marktkonformen Instrumenten in der Umweltpolitik zur besseren Kosteneffizienz bei. Die Wirksamkeit dieser Instrumente stellt sich aber nicht von selbst über den

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freien Markt ein, sondern kann nur aufgrund ordnungsrechtlicher Vorgaben und unter staatlicher Kontrolle erfolgen. Das Verhältnis von Staat und Markt ist daher für diesen Bereich der Politik weniger substitutiv als komplementär. Die entscheidende Frage lautet, in welchem Ausmaß marktkonforme Instrumente innerhalb des ordnungsrechtlichen Rahmens wirksam werden sollen. Eine wesentliche Begrenzung marktkonformer Instrumente liegt im Gefahrenbereich vor. Der Verlust von Gesundheit und Leben kann nicht gegen andere Güter eingetauscht werden. Sind akute Gefahren gegeben, hat der Staat in unserem Rechtssystem die Pflicht, seine Bürger zu schützen. Bei Abgaben oder emissionsabhängigen Steuern ist diese Begrenzung nicht immanent vorgegeben, bei der Zertifikatslösung kann man die Forderung nach Reduktion unter die Schädlichkeitsgrenze durch die Begrenzung der insgesamt erlaubten Schadstoffmenge erzielen. Marktkonforme Instrumente sollten also auf den Vorsorgebereich beschränkt bleiben. Eine weitere Begrenzung liegt in den Verteilungswirkungen von marktkonformen Instrumenten. Eine optimale Allokation führt nicht automatisch zu einer wünschenswerten Distribution der Effekte. Gebiete mit hohem Anteil an Altanlagen dürften bei großflächiger Anwendung von Zertifikaten oder Kompensationen systematisch in ihrer Umweltqualität benachteiligt werden. Technologien, deren Umweltbelastung erst in der Zukunft zu erwarten sind, dürften gegenüber anderen Technologien mit gegenwärtigen Umweltbelastungen bevorzugt werden. Aus diesen Gründen erweist sich das Ordnungsrecht als besser geeignet, für eine gerechte Verteilung der Umweltlasten in bezug auf Regionen, soziale Schichten und künftige Generationen zu sorgen. Eine dritte Begrenzung der marktkonformen Instrumente ergibt sich aus der Notwendigkeit, bei neuen Erkenntnissen über die Wirksamkeit von Schadstoffen die Grenzwerte herauf- oder herunterzusetzen. Falls sich Schadstoffe als weniger schädlich erweisen als angenommen, können Abgaben gesenkt oder kann die Menge der Zertifikate ausgedehnt werden. Mehr Probleme schafft die Verknappung von Verschmutzungsrechten. Im Falle der Notwendigkeit strafferer Umweltnormen muß der Staat Zertifikate zurückkaufen oder die Abgaben erhöhen. Im ersten Falle kann der Staat finanziell erpreßt werden, da er aus rechtlichen Gründen (etwa zur Abwehr von Gefahren) gezwungen ist, die Menge der Zertifikate zu verringern; seine Nachfrageelastizität ist also nahezu

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Null und marktstarke Anbieter können quasi jeden Preis für ihre noch nicht benutzten Zertifikate verlangen. Im zweiten Falle der Abgaben ist der Staat niemals sicher, ob die Erhöhung des Abgabepreises die gewünschte Mengenreduzierung bringt oder sie möglicherweise sogar übertrifft. Schließlich zeigt die Diskussion der Probleme in Abschnitt 6.2.1.4, daß marktkonforme Systeme in weiten Bereichen auch nicht unbedingt ihre Lenkungsfunktion erfüllen können. Hingewiesen sei darauf, daß anlagenbezogene Minimierungsgebote mit marktkonformen Systemen nicht kompatibel sind. Die Problematik der Bewertung der Umwelt, die Schwierigkeit, Umweltschäden zu messen und einem Verursacher kausal zuzuschreiben, die Möglichkeit der Marktbeherrschung durch Spekulanten oder Interessengruppen bei der Zertifikatslösung sowie die Nicht-Erfaßbarkeit von internationaler Umweltverschmutzung machen eine begleitende Kontrolle durch das Ordnungsrecht unabdingbar, ähnlich wie dies durch das Kartellrecht und andere Ordnungsvorschriften auf dem Güter- und Arbeitsmarkt geregelt wird. In vielen Fällen mag das weniger effiziente, aber einfachere Verfahren der ordnungsrechtlichen Standardsetzung praktikabler und unter Einbeziehung der Kontrollkosten sogar kostengünstiger sein als die Anwendung der marktkonformen Instrumente. Die Begrenzung der marktkonformen Systeme ist sicher ein Grund dafür, daß bislang kein Industriestaat diese Verfahren in größerem Maßstab eingesetzt hat. Die USA und in begrenzter Weise auch die Bundesrepublik Deutschland erlauben die Kompensationslösung, bei der Umweltbelastungen kosteneffizienter verteilt werden, wobei das Ordnungsrecht den Rahmen für die Bandbreite der Kompensation absteckt. Daher läßt sich als Fazit festhalten, daß marktkonforme Instrumente durchaus ihren Platz innerhalb der Umweltpolitik beanspruchen können, da sie besser als das Ordnungsrecht Produktion und Konsum von Umweltgütern nach den Gesichtspunkten der Kosteneffizienz und der Wohlfahrtsmehrung steuern können. Ihr Einsatz ist jedoch auf den Vorsorgebereich beschränkt und bedarf der weiteren Ausfüllung und Begrenzung durch ordnungsrechtliche Maßnahmen. Der Primat der Ordnungspolitik hat sich nicht nur in der Praxis bewährt, sondern ist auch aus theoretischen Gesichtspunkten einer umfassenden Marktlösung vorzuziehen.

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6.2.2 Umweltschutz im Zivilrecht und im öffentlichen Recht Aus dem vorausgegangenen Abschnitt 6.2.1 ergibt sich, daß marktwirtschaftliche Umweltinstrumente zwar durchaus geeignet sind, eine Reihe von Problemen des Umweltschutzes zu lösen, daß es aber eine Überschätzung ist, wenn man ihnen allein oder auch nur überwiegend die entscheidende Rolle zuspricht. Zwei Gründe sind es, die vor allem dagegen sprechen: — Wie für jeden Markt gilt auch für den Umweltmarkt, daß staatliche Strukturierung und Eingriffe unerläßlich sind. — Die Distribution des Gutes Umwelt allein nach Mechanismen des Marktes kann nur unterhalb der Gefahren- bzw. Schädlichkeitsschwelle akzeptiert werden. Die Marktmechanismen allein stellen die Einhaltung dieser Schwellen nicht sicher. Aus beiden Gründen, sowohl zur Schaffung eines Umweltmarktes als auch zur Markierung und Sicherung von Gefahren- bzw. Schädlichkeitsschwellen, muß daher der Staat mit dem Instrument des Rechts regelnd eingreifen. Dabei kommen grundsätzlich sowohl Regelungen des Zivilrechts als auch des öffentlichen Rechts in Frage. Regelungen zum Umweltschutz sind überwiegend im öffentlichen Recht zu finden. So werden nahezu alle umweltrelevanten Lebensbereiche von öffentlich-rechtlichen Vorschriften erfaßt, vom Fluglärmgesetz, Naturschutzgesetz über das Bundesimmissionsschutzgesetz bis zum Atomgesetz. Aber auch im Zivilrecht befinden sich den Umweltschutz betreffende und ihn berücksichtigende Regelungen. 6.2.2.1 Umweltprivatrecht Ein eigenständiges, in sich abgeschlossenes Umweltrecht kennt das Zivilrecht nicht; es besteht vielmehr aus Normen, die auch für umweltrelevante Probleme Regelungen treffen. 1 Die zentralen Normen des privaten Umweltrechts finden sich insbesondere im privaten Nachbarrecht (S§ 906ff, S 1004 BGB) und im Deliktsrecht (§S 823ff BGB). Dabei ist zu beachten, daß das private Nachbarrecht bisher grundsätzlich immobiliarbezogen ist. 2 1 2

Vgl. allgemein zum Umweltprivatrecht: Gerlach 1989; Medicus 1986, 778ff; Diederichsen 1986, L 48ff; Kloepfer 1989, 225ff; Baur 1987, 317 ff. Vgl. Münch-Komm/Säcker 1986, § 906 Rdnr. 6.

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6.2.2.1.1 Die Abwehr- und Schadensersatzansprüche im einzelnen a) Die Immissionsbestimmung des § 906 BGB, die die Zuführung von Gasen, Dämpfen, Gerüchen, Rauch, Ruß, Wärme, Geräuschen, Erschütterungen und ähnliche von einem anderen Grundstück ausgehenden Einwirkungen regelt, gibt in Verbindung mit § 1004 Abs. 1 BGB einen Abwehranspruch gegen die erwähnten Beeinträchtigungen. 3 Der Immissionsbegriff der §§ 906ff BGB schließt jedoch die negativen Einwirkungen, so den Entzug von Licht, Luft und Sonne, Wind nach herrschender Meinung 4 nicht mit ein. Der Beseitigungsanspruch nach § 906 in Verbindung mit § 1004 Abs. 1 BGB ist verschuldensunabhängig, wird jedoch beschränkt durch Duldungspflichten. 5 Zum einen ist der Anspruchsberechtigte zur Duldung verpflichtet, wenn es sich nur um eine unwesentliche Beeinträchtigung 6 handelt (§ 906 Abs. 1 BGB). Z u m anderen ist auch eine wesentliche Beeinträchtigung zu dulden, wenn sie durch eine ortsübliche Benutzung des Grundstücks herbeigeführt wird und nicht durch wirtschaftlich zumutbare Schutzmaßnahmen zu verhindern ist. In diesem Fall gewährt § 906 Abs. 2 S. 2 einen Ausgleichsanspruch in Geld. Die Kriterien für die Begriffe der Wesentlichkeit und Ortsüblichkeit führen gerade in Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Umweltschutz zu Problemen. Es ist ungeklärt, inwieweit öffentlich-rechtliche Vorschriften und die in ihnen festgelegten Umweltstandards die Wesentlichkeit und die Ortsüblichkeit bestimmen können. 7 So werden insbesondere die in der TA Luft festgelegten Grenzwerte als Anhaltspunkte für die Hinnehmbarkeit einer Beeinträchtigung aufgefaßt, allerdings nur, insofern ihnen eine Indizwirkung für die Ortsüblichkeit oder Ortsunüblichkeit zugewiesen wird. 8 Ortsüblichkeit stellt ab auf das Gepräge, das sich aus dem tatsächlichen Zustand und der jeweiligen Grundstücksbenutzung in 3 4 5 6 7

8

Vgl. allgemein zum System des Abwehranspruchs Gerlach 1989, 177 ff. Münch-Komm/Säcker 1986, § 906 Rdnr. 20; Palandt-Bassenge 1990, § 903 Anm. 26 aa; Staudinger-Roth 1988, § 906 Rdnr. 114 ff. Vgl. dazu Hohloch 1988, 691. Vgl. die Beispiele bei Palandt-Bassenge 1990, § 906 Anm. 3b. Im öffentlichen Recht sind die Grenzwerte für die verwaltungsgerichtliche Entscheidung verbindlich. Zur Problematik der Umweltstandards im Zivilrecht vgl. Marburger 1986; Diederichsen 1986, L 58 ff. BGHZ 46, 35; 69, 105; Palandt-Bassenge 1990, § 906 Anm. 3b.

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einem abgrenzbaren Gebiet ergibt. 9 Maßgeblich ist dabei grundsätzlich das Grundstück, von dem die Emissionen ausgehen. 10 Auch hier stellt sich die Frage, inwieweit die Ortsüblichkeit durch öffentlich-rechtliche Normen und öffentliche Planungen beeinflußt wird. 11 Dafür spricht, daß die öffentlich-rechtliche Planung durch das private Nachbarrecht negiert werden könnte und Planungsziele nicht mehr zu verwirklichen wären. Nach der herrschenden Meinung 1 2 im Zivilrecht ist maßgebend jedoch nur der tatsächliche Gebietscharakter, nicht aber die planerischen Vorgaben und Zweckbestimmungen nach öffentlichem Recht. Da grundlegende Entscheidungen des öffentlichen Rechts nicht mit Mitteln des Zivilrechts korrigierbar sein dürfen, enthalten bestimmte öffentlich-rechtliche Normen der Anlagengenehmigung eine Ausschlußwirkung gegenüber den privatrechtlichen Abwehransprüchen (so z. B. § 14 BImSchG, § 7 AtG, § 11 LuftVG) und beschränken somit von vornherein das Umweltprivatrecht. Der Beeinträchtigte kann jedoch Ansprüche auf Schutzvorkehrungen geltend machen, die auf Vermeidung der Beeinträchtigung abzielen. Sind solche Vorkehrungen nach dem jeweiligen Stand der Technik nicht wirtschaftlich vertretbar, steht dem Betroffenen ein Schadensersatzanspruch zu (vgl. § 14 Abs. 1 S. 2 BImSchG). Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist nach den Vorschriften des § 906 in Verbindung mit § 1004 Abs. 1 BGB absolut grundstücksbezogen, d. h., Ansprüche stehen nur dem Grundstückseigentümer oder dem ihm Gleichgestellten zu (Erbbaurechts-, Dauerwohnrechtsinhaber), worin eine weitere Einengung des Umweltprivatrechts liegt. 13 Die heutige Schutzfunktion des Abwehranspruchs liegt daher vor allem in den Bereichen, in denen der schädigende Betrieb oder die Anlage keiner Genehmigung bedarf oder sich nicht an die erteilte Genehmigung hält. 9 10 11 12

Münch-Komm/Säcker 1986, § 906, Rdnr. 78 ff. Staudinger-Roth 1988, § 906, Rdnr. 182. Marburger 1986, C 102 ff. BGH N J W 1983, 751f (Tennisplatz-Entscheidung) Nutzungsvergaben des Bebauungsplanes werden nur als Anhaltspunkte für eine ortsübliche Nutzung gesehen; Staudinger-Roth 1988, § 906, Rdnr. 188. 13 Ob der Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert werden kann, hat die Rechtsprechung bisher offengelassen: BGHZ 92, 143, 145 (Kupolofen-Entscheidung); vgl. weiter Marburger 1986, C 115 mit Lösungsversuchen, Münch-Komm/Säcker 1986, § 906, Rdnr. 18.

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b) Umweltschutz durch Deliktsrecht. Die zentrale Norm des zivilrechtlichen Haftungsrechts, § 823 Abs. 1 BGB, sichert Schutzgüter wie Leben, Körper, Gesundheit und vergleichbare Rechte (z. B. Persönlichkeitsrechte). Sie kennt jedoch weder das Schutzgut Umwelt noch einzelne Umweltgüter. 14 Damit scheidet § 823 Abs. 1 BGB als Anspruchsnorm für Umweltschutz aus. Zu beachten ist jedoch der Versuch, den deliktischen Umweltschutz durch den Ausbau der Verkehrssicherungspflichten 15 insoweit zu verstärken, als der Stand der Technik oder die örtlichen Verhältnisse bzw. die Berufung auf die Einhaltung der behördlichen Genehmigungsbedingungen allein eine Schädigung nicht mehr rechtfertigen. Die Verkehrspflichten, die sich in diesem Zusammenhang auch immer an öffentlich-rechtlichen Umweltschutzpflichten ausrichten, sollen im Einzelfall einen weitergehenden Schutz vor Beeinträchtigungen gewährleisten, als dies die öffentlich-rechtlichen Vorschriften tun, jedoch nur, wenn für den Emittenten erkennbar war, daß die alleinige Beachtung der genehmigten Emissionswerte nicht ausreichen kann, um unzulässige Immissionen zu vermeiden. 16 Als weitere deliktische Haftungsnorm kommt § 823 Abs. 2 BGB zur Anwendung, der einen Ersatzanspruch bei einem Verstoß gegen ein Schutzgesetz gewährleistet. Dabei können umweltschutzrechtliche Normen des öffentlichen Rechts, soweit sie drittschützenden Charakter haben, als Schutzgesetz heranzuziehen sein 17 (so z. B. § 5 Nr. 1, 2 BImSchG, § 8 W H G in Verbindung mit Ländergesetzen). 6.2.2.1.2 Problembereiche des Umweltprivatrechts Die Unzulänglichkeit des Umweltprivatrechts für die Gewährleistung eines effektiven Umweltschutzes manifestiert sich besonders bei den Kausalitäts- und Beweisfragen. 18

14 Kloepfer 1989, 235; Marburger 1986, C 120f; Medicus 1986, 778 (779). 15 Dazu Marburger 1986, C 121; Medicus 1986, 778 (780); BGHZ 92, 143 (152). 16 BGHZ 92, 143 (152). 17 Marburger 1986, C 122f; Hohloch 1988, 696; BGHZ 86, 356 (362); MünchKomm/Mertens 1986, 823, Rdnr. 154 f. 18 Dazu Kloepfer 1989, 236ff; Marburger 1986, C 123ff; Münch-Komm/Säcker 1986, § 906 Rdnr. 123ff; Diederichsen 1986, C 79ff; Diederichsen 1976, lff; Baur 1987, 317 (320f).

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Die oben dargestellten Abwehr- und Ausgleichsansprüche scheitern vielfach an der zivilrechtlichen Beweislast, wonach der Geschädigte den Kausalitätsnachweis, d. h. den Ursachenzusammenhang zwischen Emission und Schaden, zu führen hat. Dabei geht das Unaufklärbarkeitsrisiko zu seinen Lasten. Darüber hinaus muß er seinen Anspruchsgegner, den Emittenten, konkret benennen können. Dies ist bei komplexen Langzeitschäden kaum möglich. Den Nachweis bei den sogenannten summierten Immissionen zu erbringen, bei denen die Umweltschäden auf eine Vielzahl von Schadensursachen zurückzuführen sind, die zudem aus einem weiten Umkreis durch Ferntransport von Schadstoffen zusammenkommen und dadurch erst wirksam werden, ist nahezu unmöglich. 19 Das geltende Zivilrecht hat auch für diesen Problembereich keine Lösungsmöglichkeit anzubieten; 20 die in der Literatur 2 1 vorgeschlagenen Lösungsversuche sind ohne grundlegende Änderung der Zivilrechtsordnung nicht realisierbar. Um die Ineffizienz des Umweltprivatrechts einzudämmen, werden gerade in der Rechtsprechung 2 2 Verbesserungen durch Mittel der Beweiserleichterung sowie der Beweislastumkehr angestrebt. Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr sollen dann möglich sein, wenn der Emittent die in den Verwaltungsvorschriften (des öffentlichen Rechts) festgelegten Grenzwerte nachweislich überschritten hat. 2 3 Darüber hinaus hat der Emittent darzulegen und zu beweisen, daß er die erforderlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Immissionen ergriffen hat. 2 4

19 Siehe Diederichsen 1986, C 82, der für diese Defizite das öffentliche Planungsrecht verantwortlich macht. 20 Marburger 1986, C 124 f. 21 Hager 1986, 1961 (1967), der den in den USA entwickelten Gedanken der pollution share liability übernehmen will; Marburger 1986, C 124f, der die Einrichtung von Entschädigungsfonds vorschlägt, dazu auch Gerlach 1989, 364 ff. 22 B G H Z 92, 143ff (Kupolofen-Entscheidung); dazu Marburger & Herrmann 1986, 354ff; vgl. auch Gerlach 1989, 246. 23 B G H Z 92, 143 (147); 70, 102 (107). 24 B G H Z 92, 143 (150), in Anlehnung an die Beweislastumkehr bei der Produzentenhaftung. Vgl. zu den Problemen der Beweislastumkehr Adams 1986, 132 (148ff).

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Es obliegt aber weiterhin dem Geschädigten, den Kausalitätsnachweis für die Schädigung zu erbringen. 25 Dies wiederum dürfte in der Mehrzahl der Fälle (summierte Immissionen) nahezu unmöglich sein. Somit ist eine deutlichere Verbesserung des privaten Umweltrechts durch Beweiserleichterungen allein, jedenfalls bis heute, nicht erkennbar. 6.2.2.2 Öffentliches Umweltrecht 6.2.2.2.1 Allgemeine Prinzipien Die Sicherung des Umweltschutzes obliegt nahezu ausschließlich dem öffentlichen Recht. Z u m Kernbereich des öffentlichen Umweltrechts gehören insbesondere das Gefahrstoffrecht, das Immissionsschutzrecht, das Gewässerschutzrecht, das Abfallrecht, das Atom- und Strahlenschutzrecht und das Naturschutz- und Landschaftspflegerecht. Dabei haben sich bestimmte Hauptprinzipien 2 6 zum Schutz der Umwelt herausgebildet, die generell in jedem umweltschützenden Gesetz zum Tragen kommen und dessen Strukturen bestimmen. Dies sind: — das Vorsorgeprinzip 27 , das über die Gefahrenabwehr hinaus den vorausschauenden Schutz der Umwelt und die schonende Inanspruchnahme der Ressourcen gewährleisten will; — das Verursacherprinzip 28 , nach dem der Verursacher der Umweltbelastungen und Umweltschädigungen für die Kosten aufzukommen hat. Z u beachten ist, daß der Begriff des Verursachers im Umweltrecht nicht in jedem Fall denjenigen bezeichnet, jedenfalls nicht den allein, der einen wie auch immer gearteten Umwelteffekt, z. B. eine Emission, auslöst. Der Umweltschaden, z. B. eine Geruchs- oder Geräuschbelästigung, kann hier unter Umständen erst durch denjenigen herbeigeführt werden, der in die Nachbarschaft der Emissionsquelle zieht. Das Verursacherprinzip im Umweltrecht kann also durchaus reziprok sein; — das Kooperationsprinzip, nach dem effektiver Umweltschutz Aufgabe aller betroffenen gesellschaftlichen Kräfte, nicht nur die des Staates sein muß. 2 9 25 Marburger & Herrmann 1986, 354 (357). 26 Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl weiterer Prinzipien, s. Kloepfer 1989, 72; so noch wichtig Gemeinsamkeitsprinzip. 27 Kloepfer 1989, 74 ff. 28 Kloepfer 1989, 83 ff. 29 Kloepfer 1989, 91 ff.

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6.2.2.2.2 Instrumente des öffentlichen Umweltrechts Die Instrumentarien des öffentlichen Umweltrechts 30 lassen sich in Planungsinstrumente, Instrumente direkter Verhaltenssteuerung und Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung aufteilen. (a) Planungsinstrumente.31 Umweltplanung dient als Steuerung des Umweltschutzes und ist einer der Kernbereiche des Vorsorgeprinzips, wobei nicht nur umweltrechtlichen Fachplanungsnormen (wie z. B. Landschaftsplanung [§§ 5ff BNatSchG], Luftreinhaltepläne [§ 47 BImSchG], Planfeststellungen für Endlagerstätten für atomare Abfälle [§ 96 AtG], Abfallbeseitungspläne [§ 6 AbfG]), sondern auch den nicht direkt nur auf Umweltschutz bezogenen Fachplanungen (wie z. B. Fernstraßenplanung [§§ 17ff FernStrG], Flughafenplanung [§ 96 LuftVG]) Bedeutung zukommt, da in diesen Fällen der Umweltschutz als abwägungserheblicher Belang zum Tragen kommt. Des weiteren werden umweltschützende Belange auch in die raumbezogene Gesamtplanung einbezogen, so bei der Bauleitplanung, wo der Umweltschutz sowohl als allgemeines Planungsziel als auch in den individuellen Planungsleitlinien berücksichtigt werden muß 3 2 (§ 1 Abs. 5 S. 1, 2 BauGB). (b) Direkte Steuerungsmechanismen. Der überwiegende Teil der die Umwelt sichernden Normen besteht aus solchen der direkten staatlichen Anordnung, d. h., es handelt sich um ordnungsrechtliche Instrumente. Merkmal dieser Instrumentarien ist die Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten, gemeint sind Gebote und Verbote sowie umweltschützende Verpflichtungen. Das wichtigste Instrument ist das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt33, das der präventiven Gefahrenabwehr dient. Es stellt eine mögliche umweltschädigende Tätigkeit unter den Vorbehalt einer von besonderen Voraussetzungen abhängigen Erlaubnis oder Genehmigung (z. B. §§ 4, 6 BImSchG, § 12 AbfG, § 7 AtG). Daneben besteht als weitere Regelungsform das repressive Verbot mit Befreiungsvorbehalt, bei der eine gesetzlich generell mißbilligte Tätigkeit in besonderen Einzelfällen er30 31 32 33

Kloepfer 1987, 3 ff. Allgemein dazu Kloepfer 1989, 99ff mit weiteren Nachweisen. Kritisch dazu Breuer 1967/68, 636. Vgl. Kloepfer 1989, 117ff; allgemein dazu Maurer 1988, § 9 Rdnr. 51 ff.

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laubt wird. Hier besteht kein Anspruch auf Erlaubniserteilung, sondern nur auf fehlerfreie Ermessensausübung seitens der erteilenden Behörde (so z. B. §§ 7, 8 WHG; § 31 BNatSchG, § 9 BWaldG-Waldrodungsverbot). Die Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung werden durch die Instrumente der Nebenbestimmungen34, die die Anpassung von schon erteilten Erlaubnissen und Genehmigungen an neue Gefahren- oder Erkenntnislagen ermöglichen, noch erheblich erweitert. Dabei kommen insbesondere den Instrumenten der nachträglichen Anordnungen neben den Rücknahme- und Widerrufsvorschriften35 ganz besondere Bedeutung zu. Die nachträglichen Anordnungen (so z. B. § 17 BImSchG, § 17 AtG; § 5 WHG) ermöglichen der Verwaltung eine schnellere und flexiblere Anpassung der Betreiberpflichten an wechselnde Umweltbedingungen und fortschreitende technisch-wissenschaftliche Erkenntnisse.36 Zudem stellen sie schonendere Eingriffsmöglichkeiten im Verhältnis zum völligen Genehmigungswiderruf oder der Rücknahme dar. Sie bedürfen keines behördlichen Vorbehalts und können somit unmittelbar aufgrund des jeweiligen Gesetzes ergehen.37 Zu den ordnungsrechtlichen Befugnissen gehören die Umweltüberwachungsbefugnisse (z. B. § § 3 - 2 7 StrlSchVO, § 46 BImSchG - Messungen, § 21 WHG, § 19 AtG), die die Verwaltung auch zu Kontrollmaßnahmen38 berechtigt (Betretungs- und Besichtigungsrechte, Auskunftsrechte, Einsichtsrechte in Unterlagen usw.). Anzeigepflichten dienen einerseits als Eröffnungskontrolle für eine umweltgefährdende Tätigkeit 39 , andererseits aber auch der Überwachungskontrolle von noch nicht genehmigungspflichtigen Veränderungen einer umweltgefährdenden Tätigkeit (§ 16 BImSchG, § 11 AbfG, §§ 4ff ChemG). Weitere Instrumentarien sind die gesetzlich geregelten, aber relativen Pflichten, Umweltschädigungen überhaupt zu unterlassen oder zu ver-

3 4 Vgl. dazu Kloepfer 1989, 142 ff. 3 5 Z . B. § 21 BImSchG; § 17 Abs. 3 5 A t G ; § 12 Abs. 2 N r . 2 4 W H G . 36 Vgl. Kloepfer Sc Meßerschmidt 1986, 136 f. 3 7 Kloepfer 1975, 2 9 5 (301). 38 Vgl. z. B. § 5 2 BImSchG. 3 9 Kloepfer 1989, 116.

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meiden (§ la Abs. 2 WHG, SS 5, 22 BImSchG, § 1 AtG in Verbindung mit StrlSchVO). Dazu gehören die Pflege-, Erhaltungs- und Bewirtschaftungspflichten, die vor allem an Besitz oder Eigentum von Umweltgütern anknüpfen, so z. B. § 11 BNatSchG, SS 9, 11 BWaldG. Des weiteren sind Vorsorge-, Überwachungs- und Sicherungspflichten bei umweltgefährdenden Nutzungen zu beachten, so z. B. die Eigenüberwachungspflichten (S 7 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG), die Störfallvorsorgepflichten (S§ 3ff StörfallVO) sowie Warnpflichten. Hinzu kommt die Verpflichtung von umweltgefährdenden Betrieben zur Bestellung von Betriebsbeauftragten für den Umweltschutz40 (Institutionalisierung der Verantwortlichkeit für Umweltschutzbelange), die betriebsintern die Einhaltung und Kontrolle der umweltschützenden Vorschriften sichern sollen. Zu der direkten Verhaltenssteuerung gehören auch die Straf-Ai bzw. Ordnungswidrigkeitsvorschriften41, die in den meisten umweltschützenden Gesetzen und Verordnungen sowie im Strafgesetzbuch mitgeregelt sind (vgl. SS 3 2 4 - 3 3 0 d StGB). Mit diesen Mitteln soll ebenfalls die Einhaltung und Durchsetzung der umweltschützenden Normen gesichert werden. Instrumente der indirekten Steuerung43 werden gerade in jüngster Zeit immer wichtiger, da das Umweltbewußtsein allgemein zugenommen hat und, wie schon erwähnt, deutlich wurde, daß effektiver Umweltschutz nicht nur aufgrund staatlicher Ge- und Verbote zu erreichen ist. Umweltabgaben44 sind wichtige Instrumente der indirekten Steuerung, indem sie durch die Abgabenbelastung für umweltschädigendes Verhalten zur Vermeidung von Umweltschädigungen beitragen, darüber hinaus aber auch zur Finanzierung des Umweltschutzes dienen45 (Abwasserabgabe46 als wichtigste Umweltabgabe). 40 So z. B. Immissionschutzbeauftragte, §§ 53ff; BImSchG; Gewässerschutzbeauftragte, §§ 21 a ff WHG; Strahlenschutzbeauftragte, §§ 26ff StrlSchVO. 41 § 30e in Verbindung mit § 30 BNatSchG; §§ 59ff LuftVG. 42 Z. B. S 62 BImSchG, § 46 AtG, § 51 WHG, § 18 AbfG. 43 Allgemein dazu Kloepfer 1989, 159 ff. 44 Allgemein dazu siehe Meßerschmidt 1986. 45 Meßerschmidt 1986, 46 ff. 46 Geregelt im Abwasserabgabengesetz.

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Die Umweltsubventionen47 sind Vermögenswerte Leistungen des Staates für umweltschonendes Verhalten. Neben direkten Finanzzuwendungen sind insbesondere Steuer-48 und Gebührenvergünstigungen 49 wichtige Instrumentarien. Auch informelle Instrumente haben umweltschützende Wirkung, wobei gerade die Vorteile des informellen Handelns, Kosten- und Zeitersparnis, Flexibilität und Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten zur Effektivierung beitragen können. Zu diesen Instrumenten gehören insbesondere staatliche Informationen über Umweltdaten und Umweltschutz, Werbung für umweltschützende Produkte (Umweltzeichen), Empfehlungen50 und insbesondere sogenannte Umweltabsprachen51 (Selbstbeschränkungsabsprachen52 oder Selbstbeschränkungszusagen der Industrie, z. B. hinsichtlich Vermeidung der FCKW-Verwendung). 6.2.2.3 Das Verhältnis von Umweltprivatrecht und öffentlichem Umweltrecht Die Zweigleisigkeit der die Umwelt schützenden Normen führt vielfach zu großen Unsicherheiten und Problemen, so z. B. bei der Frage, inwieweit öffentliche Umweltstandards die Auslegung der zivilrechtlichen Vorschriften beeinflussen53, ob öffentlich-rechtliche Genehmigungen grundsätzlich privatrechtsgestaltende Wirkung haben und inwieweit öffentliche Planungsentscheidungen und Planungsvorgaben das Privatrecht54 überlagern. Um das Verhältnis55 der umweltschutzrechtlichen Normen der beiden Rechtsgebiete näher bestimmen zu können, sind besonders die strukturellen Unterschiede und Intentionen beider Rechtsgebiete zu berücksichtigen.

47 48 49 50 51 52 53 54

Benkert 1984, 132 ff. Insbesondere durch Abschreibungsmöglichkeiten. Z. B. Gebührenverringerung für lärmarme Flugzeuge. Vgl. Ossenbühl 1986. Kloepfer 1989, 198. Vgl. auch Sander 1988, 344ff, mit Beispielen. Vgl. dazu Diederichsen 1986, L 58ff; Marburger 1986, C 86 ff. Vgl. nur die Tennisplatzentscheidung, BGH N J W 83, 751f; kritisch dazu Johlen 1984, 134 ff. 55 Allgemein dazu Gerlach 1989, 43ff; Gerlach 1988, 161ff; Peine 1987, 169ff; Kleinlein 1987, 8ff; Marburger 1986, C 14ff; Diederichsen 1986, L 48ff; Hohloch 1988, 702.

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Privatrechtsnormen sollen grundsätzlich die Regulierung kleinerer Lebensbereiche ermöglichen. 56 Sie haben deswegen auch nur eine begrenzte Schutzfunktion für die konkret betroffenen subjektiven Rechte einzelner und greifen erst überwiegend dann ein, wenn es zu einem Schadenseintritt gekommen ist. Ihr Charakter ist also ausschließlich restitutiv, bezogen allein auf individuell verursachte und individuell erlittene Schäden. Daher erklärt sich auch die große Schwäche des Umweltprivatrechts. Schutz und Ersatz von Schäden an Allgemeingütern (wie Wald, Wasser, Luft) sind mangels individueller Zurechenbarkeit durch die zivilrechtlichen Regelungen nicht zu gewährleisten. 57 Durch die Schadensersatzverpflichtung bei konkret-individuellen Umweltschäden ist das Privatrecht zwar ein mittelbares Steuerungsinstrument zur Vermeidung von Umweltschädigungen, aber als Instrument für ein ökologisch sinnvolles Handeln und zur präventiven Schadensverhütung gänzlich ungeeignet. 58 Gerade für die Gewährleistung eines effektiven Umweltschutzes ist es entscheidend, daß schadensverhütende Instrumentarien zur Verfügung stehen. Erst einmal eingetretene Umweltschäden sind zum Teil kaum noch oder nur mit hohem finanziellen und wissenschaftlich-technischen Aufwand (z. B. bei Tankerunfällen, Waldschäden) wiedergutzumachen. Des weiteren sind die Beweisschwierigkeiten zu berücksichtigen, die die Durchsetzbarkeit der zivilrechtlichen Ansprüche hemmen. 5 9 Trotz der teilweise durch die Rechtsprechung zugestandenen Beweiserleichterungen bleiben unlösbare Probleme bestehen, z. B. bei summierten Immissionen und Langzeitschäden, die durch das Zivilrechtssystem kaum lösbar erscheinen. 60 Mit den Beweisproblemen verbunden ist der verfahrensrechtliche Nachteil im Zivilprozeß. Grundsätzlich hat die Klägerseite alle anspruchsbegründenden Tatsachen vorzutragen und zu beweisen (vgl. §§ 56 Vgl. auch daher die heutige Funktion des § 906 BGB hinsichtlich des Schutzes vor kleinen Immissionen im engeren Nachbarrecht, wie Lärm etc. MünchKomm/Säcker 1986, § 906 Rdnr. 13. 57 Allgemeine Ansicht auch im zivilrechtlichen Schrifttum; vgl. Diederichsen 1986, C 48f; Marburger 1986, C 15. 58 Siehe auch Medicus 1986, 778 (785); Ritter 1987, 927 (935). 59 Vgl. Abschnitt 6.2.2.1. 60 Vgl. Baur 1987, 317 (320); Ritter 1987, 929 (939f); Marburger & Herrmann 1986, 354 (358).

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138, 282, 288 ZPO). Dies führt neben der höheren Kostenlast und unkalkulierbaren Streitwerten im Zivilprozeß zu einem hohen Prozeßrisiko. 61 Dem gegenüber stehen im öffentlichen Recht der Amtsermittlungsgrundsatz 62 und geringere Streitwerte (durch Regelstreitwerte). Das öffentliche Umweltrecht stellt gerade durch seine präventiven Eingriffsmöglichkeiten Schutz- und Vorsorgemechanismen für einen effektiven Umweltschutz zur Verfügung. Die Kritik am öffentlichen Umweltrecht, es sei durchgehend von zu unbestimmten Rechtsbegriffen geprägt, die den Schutz relativieren, ist überzogen. Z u m einen müssen sich Umweltschutzregelungen jederzeit an neue wissenschaftlich-technische Erkenntnisstände anpassen können, denn nur so ist es möglich, sich auf neue Gefahrenpotentiale einzustellen. Gerade unbestimmte Rechtsbegriffe wie »Stand der Technik« erlauben eine schnelle und flexiblere Anpassung an neue Erkenntnisse, ohne daß es vorher eines langen Gesetzgebungsverfahrens bedürfte. Z u m anderen ist es gerade die Funktion von Umweltstandards, die unbestimmten Rechtsbegriffe des Umweltrechts griffiger und berechenbarer zu machen, ohne damit sogleich dieselbe, nicht rasch veränderbare Verfestigung herbeizuführen, wie sie durch detaillierte gesetzliche Regelungen bewirkt wird. Darüber hinaus verfügt das öffentliche Recht durch gesetzliche Überwachungsmöglichkeiten über wirksame Kontrollmechanismen, die die Einhaltung der umweltschützenden Vorschriften direkt gewährleisten. Die Kontrolle wird von verschiedener Seite als ineffizient bezeichnet, wobei auf die Fälle der Zusammenarbeit zwischen Behörde und Industrie und auf Vollzugsdefizite der öffentlichen Verwaltung hingewiesen wird. Es darf jedoch nicht verkannt werden, daß diese Fehler nicht Schwächen der Strukturen des öffentlichen Umweltrechts sind, sondern die Umsetzung von Normen generell betreffen; sie treten grundsätzlich bei jeder gesetzlichen Regelung auf. Demgegenüber ist zu bedenken, daß der Private auf seine Ansprüche verzichten und sie sich abkaufen lassen kann. Das öffentliche Recht regelt heute nicht nur das Verhältnis Staat — Bürger, sondern verleiht auch Privaten Ansprüche auf behördliches Einschreiten gegen Dritte. So haben Normen des öffentlichen Umweltrechts nicht nur einen objektiv-rechtlichen Charakter, sondern auch 61 Baur 1987, 317 (329); Gerlach 1988, 161 (163). 62 Vgl. S§ 24, 26 VwVfG und im Verwaltungsprozeßrecht § 86 VwGO.

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einen subjektiv-rechtlichen, d. h. drittschützenden Charakter. Sie gewähren ebenfalls einen im Wege des Verwaltungsrechtswegs geltend zu machenden Individualschutz. Normen 6 3 , die auch drittschützende Wirkung 64 haben, geben Betroffenen Abwehr-, Schutz- und Entschädigungsansprüche. Durch diesen Individualschutz im öffentlichen Recht wird über die objektivierte Kontrolle der Verwaltung hinaus die Einhaltung und Kontrolle der Vorschriften auch durch Dritte ermöglicht und gewährleistet. Insoweit hat auch das öffentliche Recht die Abwehrfunktionen des Umweltprivatrechts übernommen. Insgesamt läßt sich feststellen, daß das öffentliche Umweltrecht einen flexibleren, schnelleren und somit effektiven Umweltschutz ermöglicht. Vor Umweltschädigungen, die aufgrund der technischen Entwicklung immer großflächiger auftreten, kann das Zivilrecht mit seinen auf nur enge Nachbarschaftsbereiche zugeschnittenen Vorschriften keinen ausreichenden Schutz gewährleisten. 6.3 Institutionalisierung Umweltstandards

des Verfahrens

zur Bildung

von

6.3.1 Umweltdiskurs Die Setzung von Umweltstandards ist besonders dort problematisch, wo das naturwissenschaftliche Wissen sehr unvollständig oder unsicher ist bzw. wo es (anders als im Strahlenschutz) keinen natürlichen Vergleichsmaßstab gibt. Die Umweltstandards sollen der gesellschaftlichen Risikovorsorge dienen und unter Berücksichtigung vieler evaluativer Gesichtspunkte (Multiattributivität; vgl. Kapitel 5.4) in einer real vorliegenden Konfliktsituation den ungleich verteilten Präferenzen in der Gesellschaft Rechnung tragen und dabei die Mängel einer intuitiven Risikobewertung überwinden. Bei kognitiver Unsicherheit und evaluativem Dissens, wie in Kapitel 1.3.4 dargelegt, werden Entscheidungen 6 3 So z. B. § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 0 Abs. 2 , 2; § 2 5 Abs. 2 BimSchG; §§ 5 , 7 Abs. 2 Nr. 3, § 8 Abs. 3, 2 A t G ; § 28 Abs. 3 , § 4 5 StrlSchVO. 6 4 D a n a c h m u ß die Vorschrift nicht nur dem Interesse der Allgemeinheit dienen, sondern auch den Schutz individueller Interessen bezwecken, st. Rspr. B V e r w G E 5 5 , 2 8 0 (285); 66, 3 0 7 (308).

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eher aufgrund des Verfahrens, in dem sie Zustandekommen, als auf aufgrund ihres Inhaltes als angemessen und begründet beurteilt. Damit das Verfahren dieses leistet, muß es die Form eines öffentlich nachvollziehbaren Rechtfertigungsdiskurses (vgl. Kapitel 1.2.1) haben, der die Zweckmäßigkeit der Umweltstandards plausibel macht. Dabei muß einerseits der »Stand der Wissenschaft« nachgewiesen (Beispiel: Kapitel 2) und in den Diskurs integriert werden, andererseits muß die Pluralität der Präferenzeinstellungen zu Wort kommen und im normativen Entscheidungsprozeß vertreten sein. Dieser muß rational, z. B. unter Beachtung entscheidungsanalytischer Kriterien (Kapitel 5.4), erfolgen und auf pragmatische Konsistenz (Kapitel 1.3.3) bedacht sein. Ein Diskurs, der diesen Vorgaben zu genügen versucht, soll als Umweltdiskurs bezeichnet werden. Ziel des Umweltdiskurses im engeren Sinne ist es, für bestimmte Umweltnoxen einen wissenschaftlich begründeten Zusammenhang zwischen dem schädigenden Agens und der resultierenden Wirkung darzustellen und in einem in sich schlüssigen Verfahren Umweltstandards festzulegen. Dieser Standard soll in ein rechtlich praktikables Verfahren einbezogen werden, das den Zielen des Umweltschutzes gerecht wird und von allen Betroffenen akzeptiert werden kann. In den vorangegangenen Teilen der Studie wurde dargelegt, warum dieses Ergebnis nicht durch das naturwissenschaftliche Wissen und durch den naturwissenschaftlichen Verstand allein erreicht werden kann, und warum es in diesem Zusammenhang auch des sozialwissenschaftlichen, des juristischen und des ethisch-philosophischen Verstandes bedarf. Daraus ergibt sich die Aufgabe, fachliche Zuständigkeiten und Verfahren so zusammenzuführen, daß das Ziel einer vernünftigen Umweltpolitik realisierbar wird. Dazu gehört, daß der jeweilige wissenschaftliche Erkenntnisstand in optimaler Weise der Festlegung eines Umweltstandards nutzbar gemacht werden kann. Wegen der Komplexität der beteiligten Zuständigkeiten und der Interessenbedingtheit der Zielbestimmungen kann dies nur in institutioneller Form geschehen. Es sind daher institutionalisierte Verfahren zu entwickeln, die gesellschaftliche Anerkennung finden und eine hinreichende operationale Flexibilität besitzen, um durch Informationsrückkoppelung (feedback) und Verarbeitung gewonnener Erfahrung ohne großen administrativen Aufwand angepaßt werden zu können. Erforderlich ist eine unabhängige

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Institution, zu deren Aufgaben es gehört, in systematischer und wissenschaftlich kompetenter Weise — die Notwendigkeit der Festlegung eines Standards festzustellen, — die faktischen und operationalen Voraussetzungen für eine rationale Bearbeitung aufzuklären, — die Prinzipien der Beurteilung zu formulieren, — den Umweltstandard quantitativ auszudrücken und — den quantitativ ausgedrückten Umweltstandard als Empfehlung in die Verfahren der staatlichen Entscheidung einzubringen. Dabei sind insbesondere folgende Gesichtspunkte zu beachten: 6.3.1.1 Problemformulierung und Auftrag Grundlage institutionalisierter Verfahren sind eine präzise Problemdefinition und ein auf ihr beruhender konkreter Arbeitsauftrag. Dieser Auftrag ist durch die politisch zuständigen Institutionen (Parlamente) zu verantworten. Umweltinstitutionen mit diffusen, globalen Zuständigkeiten passen nicht in dieses System und sollten daher auch vermieden werden. Der Arbeitsauftrag kann um so präziser festgelegt werden, je mehr Informationen über die Art der Noxe und ihre Herkunft, über die Transport- und Expositionswege, die Expositionsgröße und Expositionshäufigkeit (Expositionswahrscheinlichkeit) zur Verfügung stehen. Auch die Art und Geschwindigkeit des Abbaus schädigender Stoffe und des Abtransports sind zu berücksichtigen. Besondere Bedeutung kommt dem Erkennen des Wirkungsmechanismus der Noxe, der Dosis-Wirkungsbeziehungen, der Wirkungsdauer und der Möglichkeit von Kombinationswirkungen zu. 6.3.1.2 Schutzziele Die Untersuchung, ob der gesuchte Standard ausschließlich oder überwiegend dem Schutz des Menschen, anderer Lebewesen, von Biotopen oder von abiotischen Objekten (z. B. Gebäuden) dienen soll, ist wesentlicher Teil der Schutzzielbestimmung. Da letztlich der Mensch der Zweck der Schutzzielbestimmung ist (vgl. Kapitel 1.1.2), muß geprüft werden, ob der Schutz allgemein oder für bestimmte Gruppen (beruflich Exponierte, Risikogruppen) gelten soll. Besondere Probleme werfen dabei Schutzziele auf, die aus faktischen oder operativen Gründen nur supranational oder weltweit sinnvoll sind.

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6.3.1.3 Prinzipien der Beurteilung Die ermittelten Daten müssen darauf geprüft werden, ob für die zu betrachtende Noxe und für die aus der Exposition resultierende Wirkung ein Schwellenwert existiert. Wenn dies der Fall ist, muß ferner geprüft werden, ob dieser Schwellenwert sich als Standard eignet und welche Sicherheitsmargen darüber hinaus vorgegeben werden sollen (z. B. im Hinblick auf die genetische Variabilität der Gesamtpopulation oder auf bestimmte Risikogruppen). Ist ein Schwellenwert nicht zu erkennen, muß Art und Umfang der potentiellen Gefährdung darüber entscheiden, ob das Vorsorge- oder das Minimierungsprinzip (z. B. ALARA-Prinzip) als Grundlage angezeigt ist. Für die Entscheidung dieser Fragen sind rationale Risikoabschätzungen ausschlaggebend. Die normativen Implikationen dieser Risikoabschätzungen lassen sich in vielen Fällen durch Risiko-Risiko-Vergleiche innerhalb von Risikoklassen entscheiden (vgl. Kapitel 1.2.3 und Kapitel 5). Aufgrund des RisikoRisiko-Vergleichs muß das Akzeptabilitätsproblem mitgelöst sein. Es ist Aufgabe der politischen Institutionen, die Ergebnisse rationaler Risikoabschätzung auf die subjektive (individuelle und kollektive) Risikowahrnehmung zu beziehen und damit eine öffentliche Risikokommunikation zu führen. Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit des institutionellen Verfahrens hängen wesentlich von der fachlichen Zuständigkeit, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der am institutionalisierten Verfahren Beteiligten ab. Der wissenschaftliche Sachverstand soll in seiner Gesamtheit die für Fragen des Umweltschutzes relevanten wissenschaftlichen Disziplinen repräsentieren. Die einzelnen Vertreter der Fachwissenschaften müssen das Vertrauen der überwiegenden Mehrheit ihrer Fachkollegen besitzen und bereit sein, ihre Aussagen vor der scientific Community zu vertreten. Voraussetzung für eine gerechtfertigte Bildung von Umweltstandards sind somit die Verläßlichkeiten naturwissenschaftlicher Fakten und die Glaubwürdigkeit des Wissenschaftlers, der sie erhebt oder in einer Expertise verwendet. Ausweis der Glaubwürdigkeit eines Wissenschaftlers ist unter anderem die wissenschaftliche Anerkennung, die dieser auf seinem Fachgebiet gefunden hat. Diese stützt sich auf erbrachte wissenschaftliche Leistungen und den Sachverstand, der aus diesen Leistungen spricht. In diesem Falle urteilt mit dem Urteil der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Experte über den Experten. Dieses Urteil

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ist aufgrund der »Öffentlichkeit« der erbrachten Leistungen jederzeit nachprüfbar. Das wiederum gilt auch im Falle der Beurteilung eines »Außenseiters« in seinem Fach. Fehlende Anerkennung eines Wissenschaftlers durch die wissenschaftliche Gemeinschaft allein genügt noch nicht, um die von ihm vertretene Meinung oder Position aus der Diskussion zu nehmen bzw. sie ungeprüft zu übergehen. Allerdings müssen Bedingungen der Reproduzierbarkeit und der Kontrollierbarkeit erfüllt sein. Wer diese Bedingungen nicht anerkennt oder ihnen nicht entspricht, scheidet aus der wissenschaftlichen Diskussion aus. Seine Stellungnahme hat dann auch keine Relevanz bei der Festlegung von Umweltstandards. Schwierigkeiten in Zuständigkeitsfragen könnten in der Abgrenzung des einschlägigen Fachgebiets liegen. Diese darf nicht zu eng, aber auch nicht zu weit vorgenommen werden. Zu weit wäre sie z. B., wenn Leistungen auf anderen Feldern der Medizin oder der Biologie als Legitimation für eine strahlenbiologische Expertise akzeptiert würden. Hier hat der Strahlenbiologe bzw. hier haben die durch wissenschaftliche Leistungen qualifizierten Vertreter der Strahlenbiologie den Strahlenbiologen zu beurteilen. Dabei gibt es sicher viele berechtigte Einwände gegen die Überschätzung des Expertentums gerade in der umweltpolitischen Diskussion; für die Zuverlässigkeit naturwissenschaftlicher Fakten und Daten vermag beim heutigen Stand der Naturwissenschaften aber nur der Wissenschaftler zu bürgen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf das von MaierLeibnitz vorgeschlagene »Stichprobenverfahren zur Klärung wissenschaftlich-technischer Kontroversen« (Maier-Leibnitz 1983). Dieses Verfahren besteht im Kern in einer schriftlich oder mündlich unter Leitung eines unbeteiligten und unumstrittenen Mitglieds der wissenschaftlichen Gemeinschaft geführten kontroversen Diskussion. Sofern es sich hier wirklich um eine rein naturwissenschaftliche Kontroverse handelt, wird sich in der Regel nach einiger Zeit für den sachkundigen und unvoreingenommenen Beobachter eine »Wahrheit« herausschälen. Erweist sich in diesem Verfahren eine einzelne Quelle überdurchschnittlich oft als tendenziös und widerlegbar, ist ein genereller Glaubwürdigkeitsoder Verläßlichkeitsvorbehalt berechtigt. Im übrigen wäre es ein Mißverständnis, zu glauben, man könne den wissenschaftlichen Irrtum durch Verfahren ein für allemal ausschließen. Irrtum ist Teil auch des

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Wissenschaftsprozesses und kann sich somit bis in die Bildung von Umweltstandards hinein fortsetzen. Aussagen des Systems "Wissenschaft sind keine Aussagen, die konkurrierend, bestätigend oder abweichend neben die Aussagen anderer Systeme, z. B. des Systems der öffentlichen Meinung, treten. Wissenschaft tritt mit dem Anspruch auf, auf der Basis wissenschaftstheoretisch geklärter Voraussetzungen der Wahrheit zu dienen. Wahrheit ist das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, der die Bildung wissenschaftlicher Aussagen streng an die Bedingungen der Reproduzierbarkeit und Kontrollierbarkeit bindet; der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß duldet keine Parteinahme, es sei denn die Parteinahme für die Bedingungen der Wahrheit selbst. In diesem Sinne ist Wissenschaft ihrer Idee nach verallgemeinerbares Wissen, der Wissenschaftler nur den Bedingungen wissenschaftlicher Wahrheitsbildung verantwortlich. Das bedeutet nicht, daß die Wissenschaft und der einzelne Wissenschaftler diesen Ansprüchen immer entsprächen. Tatsächlich bleibt die Wissenschaft und bleiben die Wissenschaftler hinter ihren Ansprüchen immer wieder zurück. Doch das schränkt den Anspruch des Systems Wissenschaft, nicht Meinung unter Meinungen und nicht Partei unter Parteien zu sein, nicht ein, sondern besagt nur, daß sich die Wissenschaft und jeder einzelne Wissenschaftler ständig an einer normativen Idee von Wissenschaft messen lassen müssen. Das gilt sowohl hinsichtlich der Qualität wissenschaftlicher Arbeit als auch hinsichtlich der Tragweite wissenschaftlicher Aussagen. Qualität setzt die Erfüllung allgemein akzeptierter wissenschaftlicher Standards voraus, zu denen wiederum die Bedingungen der Begründung und der Kontrolle gehören; die Tragweite wissenschaftlicher Aussagen bemißt sich unter anderem an der Klarheit, mit der in wissenschaftlichen Kontexten zwischen Wissen und Nicht-Wissen, d. h. dem, was sich mit wissenschaftlicher Strenge erklären läßt, und dem, was der Erklärung noch bedarf, unterschieden wird. Wissenschaft in diesem Sinne bedeutet immer Klarheit über das, was man weiß, und das, was man (noch) nicht weiß. Wo die Grenze zwischen beidem verwischt wird, verwischt sich auch die Abgrenzung gegenüber Meinungen, die sich den Anschein des Wissens geben, kann auch Wissenschaft zur Partei werden. Die Aussagen des Systems Wissenschaft verlieren in solchen Fällen ihren rationalitätssichernden Charakter.

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Zu den Rationalitätsverpflichtungen des Systems Wissenschaft gehören nicht nur die Wahrheitsverpflichtungen, sondern auch die Verantwortungsverpflichtungen. Wissenschaft, die ihrer normativen Idee folgt — formelhaft mit den Begriffen des reinen Wissens und der Wahrheit umschrieben —, ist weder einäugig noch Partei, aber sie steht auch nicht außerhalb von gesellschaftlichen Zusammenhängen, weil Wissenschaft nicht nur eine Form der Wissensbildung, eben Wissensbildung in Wissenschaftsform, ist, sondern auch eine gesellschaftliche Institution. In beiden Formen, ihrer Wissensform und ihrer institutionellen Form unterliegt sie Verantwortlichkeiten. Das aber bedeutet, daß Wissenschaft auch eine moralische Form hat (vgl. Mittelstraß 1982, llff). Oder anders ausgedrückt: Die Aussagen des Systems Wissenschaft, die dem Umweltdiskurs seine rationale Grundlage geben sollen, haben nicht nur eine im engeren Sinne wissenschaftliche, nämlich auf Qualitäts- und Forschungsstandards bezogene, sondern auch eine ethische Dimension, die allerdings in keine spezielle Wissenschaftsethik, sondern in die allgemeine Bürgerethik führen sollte. 6.3.2 Umweltrat Für die in Abschnitt 6.3.1 beschriebenen Bedingungen der Institutionalisierung des Umweltdiskurses sind mehrere Möglichkeiten denkbar, unter anderem auch in Form einer Querschnittsaufgabe mehrerer mit Umweltfragen befaßter Ressorts. Der Akzent sollte hier allerdings auf der Aussage des Systems Wissenschaft liegen. Daher wird die Bildung eines Umweltrates vorgeschlagen und für seine Zusammensetzung und seine Verfahren der Wissenschaftsrat als Modell gewählt. Der Wissenschaftsrat, der durch ein Abkommen zwischen Bund und Ländern 1957 errichtet wurde (1975 und 1991 durch ein Verwaltungsabkommen bestätigt), erarbeitet Empfehlungen zur inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Hochschulen, der Wissenschaft und der Forschung (Art. 2). Er besteht aus zwei Kammern: der Wissenschaftlichen Kommission, deren Mitglieder durch den Bundespräsidenten berufen werden, und der Verwaltungskommission, deren Mitglieder von Bund und Ländern entsandt werden (Art. 5). Die Beschlüsse der Vollversammlung werden von der Wissenschaftlichen Kommission unter fachlichen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten, von der Verwaltungskommission unter verwaltungsmäßigen und finanziellen Gesichtspunkten vorbereitet (Art. 6). Sie haben über ihre Empfehlungs-

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form hinaus einen relativ verbindlichen Charakter, da sie bereits die Zustimmung von Bund und Ländern einschließen. Entsprechend der Struktur des Wissenschaftsrates wird auch für den Umweltrat ein Zwei-Kammer-System vorgeschlagen. Mitglieder der Wissenschaftlichen Kammer sind Wissenschaftler aus den Naturwissenschaften, den Sozialwissenschaften (einschließlich Ökonomie und Jurisprudenz) und der Philosophie (praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie). Die naturwissenschaftlichen Fachvertreter repräsentieren die umweltrelevanten naturwissenschaftlichen Disziplinen. In der Wissenschaftlichen Kammer herrscht Einigungszwang. Die Mitglieder der Wissenschaftlichen Kammer werden, um auch auf diese Weise Neutralität und Unabhängigkeit zu gewährleisten, auf Vorschlag der Allianz, d. h. des Wissenschaftsrates, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft, der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen, der Fraunhofer-Gesellschaft und der Hochschulrektorenkonferenz vom Bundespräsidenten berufen. Mitglieder der Verwaltungskammer sind Vertreter der Legislative und der Exekutive. Die Vertreter der Legislative werden nach Mehrheit, die Vertreter der Exekutive nach Weisung bestimmt. Das Zusammenwirken beider Kammern soll durch den Primat des Sachverstandes bestimmt sein; im Vordergrund aller Beratungen und Beschlüsse steht die Aussage des Systems Wissenschaft. Um diesen Primat zu gewährleisten, bildet die Wissenschaftliche Kammer sowohl ständige als auch ad hoc eingerichtete Fachkommissionen. Ihre Mitglieder sind zum Teil Mitglieder der Wissenschaftlichen Kammer. Die Fachkommissionen erarbeiten Empfehlungen, die der Wissenschaftlichen Kammer und der Verwaltungskammer zur Beratung vorgelegt und in der Vollversammlung, der gemeinsamen Sitzung beider Kammern, als Aussage des Umweltrates beschlossen werden. Kommt ein gemeinsamer Beschluß nicht zustande, erfolgt die Empfehlung allein durch und im Namen der Wissenschaftlichen Kammer. In diesem Falle ist keine separate Empfehlung der Verwaltungskammer vorzusehen. Weil der Umweltrat die Aussage des Systems Wissenschaft zur Geltung bringen soll, wäre ein genereller Einigungszwang gegenüber beiden Kammern dysfunktional. Die Verwaltungskammer soll, nicht zuletzt unter Durchsetzungsgesichtspunkten, an den Beratungen beteiligt werden, und zwar durchaus unter dem wünschenswerten Gesichtspunkt gemeinsamer Empfehlungen, doch soll die Mitwirkung der Verwal-

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tungskammer den Umweltrat nicht zu einer Kompromißstelle zwischen dem wissenschaftlichen Verstand und dem Verwaltungs- und politischen Verstand machen. Ersichtlich unterscheidet sich hier die Konstruktion des Umweltrates von der des Wissenschaftsrates. Während die Wissenschaftler im Falle des Wissenschaftsrates wegen ihrer wissenschaftlichen und ihrer wissenschaftspolitischen Kompetenzen berufen werden, steht im Falle des Umweltrates allein die wissenschaftliche Kompetenz im Vordergrund. Der Umweltrat bereitet nicht so sehr beratend die Beschlüsse des Bundes und der Länder vor, sondern bringt den Sachverstand der Wissenschaft zur Geltung. Die Empfehlungen des Umweltrates werden veröffentlicht. Sie sind an die Parlamente und Regierungen gerichtet. Der Umweltrat bestimmt jährlich sein Arbeitsprogramm. Er wird durch Bund und Länder angerufen, kann aber auch auf eigene Initiative hin tätig werden. Die Möglichkeit einer Anrufung durch Verbände und andere gesellschaftliche Gruppen ist nicht vorzusehen, um die 'Ansprechschwelle' zu Lasten der Arbeitsfähigkeit des Umweltrates nicht zu niedrig zu setzen. Allerdings kann der Umweltrat selbstinitiativ Anregungen von außen aufnehmen. Dies kann auch in Form von Anhörungen erfolgen (z. B. mit Naturschutzverbänden, Vertretern der Wirtschaft und der Gewerkschaften). Diese Anhörungen können vor beiden Kammern stattfinden, aber auch nur vor der Wissenschaftlichen Kammer oder vor den ständigen und den ad-hoc-Fachkommissionen. Entsprechende Prozeduren sollen 'gerichtsähnlich' bestimmt sein. Zu den ständigen Fachkommissionen des Umweltrates sollen neben anderen die (bereits bestehende) Strahlenschutzkommission und eine Chemiekommission gehören. 6.3.2.1 Strahlenschutzkommission Die Kommission soll sich mit den durch ionisierende Strahlen hervorgerufenen Risiken befassen. Sie soll Empfehlungen abgeben, in welcher Weise Emissionen und Strahlenexpositionen zu minimieren und welche Expositionen unter welchen Bedingungen tolerabel sind. Die Bewertungen müssen für den Normalbetrieb, für Störfälle und Unfälle in den Einrichtungen vorgenommen werden. Auch die Langzeitsicherheit, z. B. bei Endlagern für radioaktive Stoffe, muß betrachtet werden. Die Kommission soll zu allen grundsätzlichen Fragen des Strahlenschutzes Stellung nehmen und beratend tätig werden. Dazu müssen die Meßeinrichtungen bei den Emittenten, die Ausbreitung radioaktiver Stoffe in den Medien, in der Atmosphäre, im

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Boden und Wasser, der Transport der Stoffe über Nahrungsketten zum Menschen mit Hilfe entsprechender Meßdaten bzw. Modelle beurteilt werden. Ferner müssen über biokinetische Modelle sowie dosimetrische Konzepte die Dosisverteilung im Menschen und die Strahlenwirkungen in einzelnen Organen für spezifische radioaktive Stoffe nach Inkorporation und nach Bestrahlungen von außen bewertet werden. Daher müssen der Kommission Wissenschaftler aller Bereiche des Strahlenschutzes, insbesondere folgender Fachrichtungen angehören: Strahlenphysik, Radioökologie, Strahlenbiologie, Medizin. Die Wissenschaftler müssen unabhängig sein, sie sollen in der Regel nicht in Behörden mit Weisungsbindung tätig sein. Zur Bestellung der Mitglieder der Kommission käme das Modell der DFG-Fachgutachter-Ausschüsse in Betracht. Wahlvorschläge könnten unter der Mitwirkung der Wissenschaftlichen Kammer des Umweltrates von Fachverbänden, Großforschungseinrichtungen, Umweltinstituten und Universitäten kommen; die Wahl erfolgt durch die Wissenschaftliche Kammer. Die Strahlenschutzkommission kann Themen auf Vorschlag des Umweltrates, der Wissenschaftlichen Kammer und der Regierungen des Bundes und der Länder behandeln. Sie kann ferner aus eigener Initiative Beratungsthemen aufgreifen. Die Themen können allgemeiner Art sein und sie können spezielle Einrichtungen betreffen. Die Kommission erarbeitet Empfehlungen, die zunächst an den Umweltrat gerichtet werden. Sie soll die Regierungen in Fragen des Strahlenschutzes eingehend beraten und kann für spezielle Sachgebiete oder Sachfragen Ausschüsse (ständig oder ad hoc) einrichten. Der Vorsitzende eines solchen Ausschusses muß Mitglied der Kommission sein. Die Kommission muß auf offene Fragen des Strahlenschutzes aufmerksam machen und zur Lösung notwendige Forschungsprogramme anregen bzw. diese fordern. 6.3.2.2 Fachkommission Chemie und Toxikologie Die Kommission soll sich mit bereits eingetretenen oder vorhersehbaren langfristigen Schadensmöglichkeiten durch chemische Noxen befassen (z. B. Ozonabbau durch FCKW, Klimaänderungen durch C 0 2 plus Spurengase, Waldschädigung durch verschiedene Einflüsse, die noch nicht vollständig erkannt sind, Absterben der Seen durch sauren Regen und Überdüngung der umliegenden Felder, Vergiftung der Böden durch Chemikalien und Schwermetalle, gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Pharmaka). Sie soll darauf hinwirken, daß entsprechende

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Programme zur Erforschung der Zusammenhänge aufgestellt und entsprechende Mittel bereitgestellt werden (von Umweltministerien, Umweltbundesamt, DFG, Industrie, Europäische Gemeinschaft, europäische Organisationen). Ihr 'tägliches Geschäft' ist die Prüfung, Einschätzung und Dokumentation aktueller Daten. Dabei könnte man daran denken, die MAK-Kommission in die Arbeit der Kommission Chemie und Toxikologie zu integrieren. Die Kommission sammelt fundierte Fakten über chemisches Verhalten und biologische Wirksamkeit von Stoffen und delegiert Einzelprobleme und ihre Lösungen an entsprechende Ämter (Umweltbundesamt etc.). Die Kommission sollte im Rahmen der für den Umweltrat insgesamt vorgeschlagenen Regelungen anrufbar sein, etwa dann, wenn wieder ein 'Stoff des Monats' eine Verseuchung verursacht hat. Der Schweregrad der Folgen sollte von ihr direkt abschätzbar sein; nach Möglichkeit sollte sie Gegenmaßnahmen aus wissenschaftlicher (nicht technischer) Sicht aufzeigen. In der Kommission sollten (mindestens) folgende Bereiche vertreten sein: Anorganische Chemie, Organische Chemie, Physikalische Chemie, Biochemie, Pharmakologie, Toxikologie, Meteorologie. Dabei sollten die Bereiche nicht zu eng vorgegeben sein und die Spezialisierung nicht zu sehr ins Detail gehen. Die Mitglieder der Kommission sollten nicht aus Umweltbehörden kommen. Man könnte wiederum an das Modell der DFG-Fachgutachter-Ausschüsse denken, dabei nicht nur an Fachgutachter für bestimmte Disziplinen, sondern auch für Bereiche wie Umweltchemie, Umweltphysik und andere Umweltwissenschaften. Wahlvorschläge könnten wie im Falle der Strahlenschutzkommission unter der Mitwirkung der Wissenschaftlichen Kammer des Umweltrates von Fachverbänden, Großforschungseinrichtungen, Umweltinstituten und einzelnen Universitäten kommen; die Wahl erfolgt durch die Wissenschaftliche Kammer. Im übrigen gelten die für die Strahlenschutzkommission formulierten Regelungen. 6.3.3 Das Normalverfahren: Anleitungen für die Festlegung von Umweltstandards innerhalb der Umweltbehörden Durch den Umweltrat bleiben die normalen Aufgaben der Umweltbehörden in Bund und Ländern unberührt. Dabei handelt es sich um Aufgaben, die die Früherkennung möglicher Umweltschäden, die Iden-

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tifikation und Bewertung von Handlungsoptionen und die effektive Auswahl des geeigneten Standards bzw. eines äquivalenten Instrumentes zur Beseitigung oder Minderung des Umweltschadens betreffen. Gleichzeitig muß die praktische Anwendung des Standards überwacht und die Wirksamkeit kontrolliert werden. Alle diese Aufgaben müssen ferner in enger Kooperation mit wissenschaftlich besetzten Beratungsausschüssen vorgenommen werden. Die Sequenz und Struktur dieses Prozesses sollte sich wie bei der Entscheidungssequenz im Umweltrat nach entscheidungsanalytischen Kriterien ausrichten und in folgenden Schritten erfolgen: 6.3.3.1 Problemerfassung Im ersten Schritt des Entscheidungsprozesses muß die Notwendigkeit eines regulativen Eingriffs festgestellt und öffentlich dokumentiert werden. Dies kann durch folgende Mechanismen geschehen: — Neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die systematisch von einem Review-Ausschuß gesammelt und ausgewertet werden. — Regulationsbestrebungen in anderen Ländern, die mit Hilfe eines internationalen Netzwerkes (durch maschinellen Datenaustausch und Austausch von Dokumenten) laufend übermittelt und ausgewertet werden. — Verbesserungen der Rückhaltetechniken, die durch eine Gruppe beim VDI oder im UBA laufend beobachtet werden und die durch gesetzliche Anreize gefördert werden können. — Systematische Früherkennung von Umweltschäden durch gezielte Forschungsprojekte in Universitäten und Großforschungseinrichtungen mit Rückmeldung an die Behörden. — Einrichtung einer Meldestelle, in der Beobachtungen von Umweltschäden durch gesellschaftliche Gruppen gesammelt und ausgewertet werden. Es erscheint sinnvoll, die Initiativbefugnis im Normalverfahren dem Bundesministerium für Umweltschutz in Zusammenarbeit mit dem Umweltbundesamt zu übertragen. Es muß eine zentrale Stelle geben, deren Aufgabe es ist, wissenschaftliche Daten zu sammeln, neue Untersuchungen in Auftrag zu geben, die internationale Praxis bei Umweltstandards systematisch auszuwerten und die Früherkennung von

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Umweltschäden institutionell zu betreuen. Die Landesbehörden sollten dagegen stärker bei der Implementation der Standards herangezogen werden. 6.3.3.2 Prüfung auf Konfliktrelevanz Ist aufgrund der Ergebnisse des ersten Schrittes zu erwarten, daß die Festlegung eines Standards zu schwerwiegenden Konflikten oder Kontroversen in der Gesellschaft führen wird, ist vom Normalverfahren abzuweichen und der Umweltrat anzurufen. Dies gilt auch für Entscheidungen von besonderer umweltpolitischer Bedeutung. 6.3.3.3 Auswahl von Optionen Falls die Prüfung der Konfliktträchtigkeit negativ verläuft, ist zunächst zu prüfen, inwieweit überhaupt Handlungsbedarf besteht (abhängig vom Ausmaß der Gefährdung und der legalen Möglichkeit des Eingriffs). Kommt man zu dem Schluß, daß ausreichend Grund für eine staatliche Intervention besteht, müssen Möglichkeiten erwogen werden, mit deren Hilfe das Problem angegangen werden kann. Die Umweltbehörde sollte deshalb mit Hilfe eines Ausschusses (intern oder extern), in dem Naturwissenschaftler, Ökonomen, Techniker und Sozialwissenschaftler vertreten sind, mögliche Handlungsoptionen diskutieren und diejenigen auswählen, bei denen eine positive Bilanz zwischen Ertrag und Aufwand zu erwarten ist. Es müssen in jedem Falle mehrere Optionen vorgeschlagen werden. 6.3.3.4 Messung der Option Hier müssen die voraussichtlichen Konsequenzen der einzelnen Optionen nach wissenschaftlichen Kriterien abgeschätzt werden. Diese Abschätzung kann im Routinefalle durch die Behörde selbst oder durch ihre externen Gutachter, in besonderen Fällen auch durch die Fachkommissionen des Umweltrates, vorgenommen werden. Am Ende liegt eine Matrix vor, die alle Handlungsoptionen bezüglich folgender Kriterien beurteilt: — Bestimmung des Risikos ohne staatlichen Eingriff und das zu erwartende Potential für Risikoreduktionen aufgrund der vorgeschlagenen Optionen (oder kontinuierliche Reduktionsfunktionen). — Bestimmung der Kosten und des volkswirtschaftlichen Nutzens, der mit jeder Option zu erwarten ist.

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— Kosteneffizienzfunktion für einzelne Optionen bezüglich Optionsmischungen. — Bestimmung der Verteilungswirkungen von Nutzen und Risiken. 6.3.3.5 Nutzenbewertung der Optionen Da alle Meßwerte in natürlichen Meßgrößen vorliegen, bedarf es der Transformierung dieser Werte in Nutzeneinheiten (positiv und negativ). Dies kann unter Zuhilfenahme entscheidungsanalytischer Verfahren numerisch geschehen, ist aber nicht unbedingt notwendig. Da die Überführung in Nutzeneinheiten keine rein wissenschaftliche Aufgabe darstellt, aber hinreichendes Sachwissen voraussetzt, erscheint entweder eine Anhörung von Sachverständigen oder eine Überführung der Meßwerte in Nutzwerte durch eine interne Arbeitsgruppe innerhalb der Behörde angemessen. An dieser Stelle erscheint es ferner sinnvoll, andere Behörden und Institutionen mit in die Beratungen einzubinden, um die möglichen Auswirkungen der Optionen auf nicht risikorelevante Bereiche zu identifizieren und soweit wie möglich zu berücksichtigen. 6.3.3.6 Gewichtung der Optionen Für diesen Schritt sollte es innerhalb der Behörde eine Arbeitsgruppe geben, die gegebenenfalls aus Mitarbeitern des Umweltministeriums und Vertretern der Länder besteht (etwa Bund-Länder-Konferenz). Auch externe Gutachter, vor allem Wissenschaftler, können an der Entscheidungsfindung in diesem Gremium beteiligt werden. Bei Bedarf kann sie Anhörungen mit Interessengruppen veranstalten. 6.3.3.7 Entscheidung Unter Berücksichtigung der wissenschaftlich erstellten Konsequenzenprofile, der Nutzenprofile und der Erkenntnisse aus der Anhörung sollte die jeweilige Behörde unter Einschaltung der jeweiligen Dienstordnungen die Entscheidung treffen. Dabei geht es zunächst einmal um die Wahl einer der behandelten Optionen, dann um die Höhe oder Stärke der jeweiligen Option, die ausgewählt wurde (etwa Höhe des Standards oder der Steuervergünstigung). 6.3.3.8 Entscheidungsbegründung und Einspruch Die jeweilige Behörde hat jede Entscheidung in schriftlicher Form ausführlich zu begründen, wobei die Anwendung der Regeln als auch die vor der Entscheidung gesammelten Profile und Zeugenaussagen in die Begründung Eingang finden sollten. Die trade-offs zwischen den

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Kriterien sollten offengelegt werden und die Schritte der Entscheidungsfindung für den potentiellen Leser im einzelnen nachvollziehbar sein. Dadurch wird die Transparenz des Entscheidungsprozesses erhöht und übertriebenen Erwartungen der Bürger entgegengewirkt. Innerhalb einer bestimmten Frist können die am Prozeß beteiligten Gruppen Einspruch erheben. Einem Einspruch kann nur dann stattgegeben werden, wenn der Verdacht einer Regelverletzung oder die offenkundige Mißachtung von faktischen Erkenntnissen bzw. Interessenverletzungen vorliegen. Das hier vorgeschlagene Verfahren setzt keine grundsätzliche Reform der jetzigen Verwaltungstätigkeit voraus. Es schlägt lediglich eine neue sequentielle Arbeitsteilung vor. Diese Arbeitsteilung soll auf der einen Seite die wissenschaftliche Fundierung der Standards sicherstellen, andererseits die interministerielle Zusammenarbeit verbessern. Schließlich dürfte die Verbesserung der Transparenz des Entscheidungsprozesses ein wichtiger Vorteil bei der Akzeptanzfindung in der Gesellschaft sein. 6.3.4 Mögliche institutionelle Bedenken Der Vorschlag, in der Bundesrespublik Deutschland eine neue, zentrale Beratungsinstitution für Umweltfragen zu schaffen, erfordert eine (selbst-)kritische Prüfung des zu erwartenden Nutzens und der zu erwartenden Kosten einer solchen Einrichtung. Institutionen können ja durch ihr bloßes Vorhandensein oder durch die Erfüllung ihrer Aufgaben nicht nur die erwünschten Wirkungen erzielen, sondern zugleich auch unbeabsichtigte und unerwünschte Nebeneffekte erzeugen, die bei der Planung rechtzeitig bedacht und bei der praktischen Realisierung nach Möglichkeit vermieden werden müssen. Hinzu kommt, daß schon gegen die Planung eines Umweltrats Einwände von Interessengruppen zu erwarten sind, weil durch eine solche, mit großer wissenschaftlicher Kompetenz ausgestattete Institution — auch wenn es sich dabei ausdrücklich um ein Beratungs- und nicht um ein Entscheidungsgremium handelt — die strategischen Spiel- und Handlungsräume der Politik, der Verwaltung, der Wirtschaft und der Umweltverbände eingeschränkt werden. Die dadurch provozierte Kritik ernst zu nehmen und von Anfang an zu berücksichtigen, gebietet nicht nur die wissenschaftliche Sorgfalt, sondern auch die praktische Vernunft.

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Die antizipierbaren Argumente gegen einen Umweltrat dürften sich auf fünf bzw. sechs verschiedene Befürchtungen erstrecken: (a) Mit der Einrichtung des Umweltrats könnten zentralistische Tendenzen verstärkt und gleichzeitig dezentrale, regionale und sektorale Besonderheiten der Umweltpolitik zunehmend vernachlässigt werden. Übersehen wird bei diesem Einwand, daß der Umweltrat keineswegs für alle umweltrelevanten Fragen zuständig sein soll und daß darüber hinaus auch in einem zentralen Gremium regionale Abweichungen berücksichtigt werden können. Es geht nicht um eine Monopolisierung der Beratungsaufgaben und auch nicht um eine Beschränkung der notwendigen lokalen Handlungsspielräume. Im übrigen kann aber nicht bezweifelt werden, daß universelle Umweltprobleme auch die Setzung möglichst genereller Standards erfordern, für deren Gewinnung zentrale Beratungsgremien und Entscheidungsinstanzen notwendig sind. (b) Ein Umweltrat könnte der Bürokratisierung von Beratungs- und Entscheidungsprozessen Vorschub leisten und dies bei Problemen, die von vielen Bürgern als existentiell erlebt werden. Die Befürchtung wäre nicht unbegründet, wenn eine hauptamtlich arbeitende große Geschäftsstelle einen Kompetenz-, Informations- und Einwirkungsvorsprung gegenüber den ehrenamtlich tätigen Mitgliedern des Umweltrats gewinnen würde. Die Art der Institutionalisierung, die Festlegung der Arbeitsprozesse und die Sicherstellung öffentlicher Kontrolle müssen deshalb die einem solchen Gremium naturgemäß innewohnenden Bürokratisierungstendenzen von Anfang an kontinuierlich und kontrolliert blockieren. Das macht die volle Transparenz der Arbeit und der Arbeitsergebnisse erforderlich. Dadurch wird der Umweltrat nicht nur den ihm selbst innewohnenden Bürokratisierungsmechanismen wirkungsvoll begegnen können, sondern auch dazu beitragen, die zur Zeit dominante, aber schwer durchschaubare Rolle der Bürokratie bei der Festsetzung von Umweltstandards einzuschränken. (c) Eng mit den befürchteten Zentralisierungs- und Bürokratisierungstendenzen zusammenhängend könnte der Verdacht verbunden sein, ein Umweltrat würde zu einer »Neutralisierung« gesellschaftlicher Konflikte benutzt werden. Unterstellt wird dabei fälschlicherweise, daß ein Gremium von Experten die persönlichen Betroffenheiten, die individuellen Wertentscheidungen, die sozialen Konfliktpotentiale und die

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kollektiven Handlungsbereitschaften der Bürger durch die Autorität wissenschaftlicher Urteile, rationaler Entscheidungsprozesse und konsensualer Beratungsmodelle (polemisch: durch konstruierte Sachzwänge) neutralisieren und damit schwächen könnte. Eine Versachlichung der Argumente braucht jedoch keineswegs das persönliche Engagement für Umweltprobleme zu beeinträchtigen, sondern kann zu einer besseren Orientierung der Betroffenen und Besorgten beitragen. Nur eine Neutralisierung von Konflikten würde — und dies wird vermutlich ein weiterer Punkt der Kritik sein — zu einer Entpolitisierung der öffentlichen Umweltdiskussion führen. Auch wenn man von jener Interessengruppe absieht, die den Aufmerksamkeitswert von Umweltproblemen für die Durchsetzung anderer politischer Ziele nutzen will, bleiben zweifellos große Teile der Bevölkerung zu beachten, die in der Umweltpolitik zu Recht eines der wichtigsten Gebiete gesellschaftlicher Meinungs- und Willensbildung sehen. Diese eminent politische Aufgabe nicht an ein Expertengremium zu delegieren, dürfte die Zustimmung vieler finden. Allerdings würde in einer solchen Kritik die Aufgabenstellung des Umweltrats völlig mißverstanden werden. Es geht bei dieser Institution ja gerade nicht um eine Okkupation politischer Willensbildungen, sondern um deren sachliche Fundierung durch möglichst kompetente, objektive und nicht-partikularisierte Beratung. (d) In engem Zusammenhang mit der Befürchtung einer möglichen Entpolitisierung der Umweltdiskussion könnte der Einwand stehen, der Umweltrat würde durch seine institutionelle Struktur und Funktion die wissenschaftliche Urteilsbildung in ihrer jetzigen Vielfalt und Unterschiedlichkeit in unzulässiger Weise vereinheitlichen. Einer solchen Sorge liegen wenigstens drei Mißverständnisse zugrunde: Erstens gibt es zur Zeit den beklagenswerten Zustand, daß manche ( N a t u r w i s senschaftler ihre fachlichen Urteile und ihre persönlichen Überzeugungen in einer für die Öffentlichkeit nicht durchschaubaren Weise miteinander vermengen. Diese unbefriedigende Situation kann und soll durch die Diskussionen im Umweltrat überwunden werden. Zweitens wird das offene Gespräch kompetenter Fachleute dazu beitragen, wissenschaftlich zwar begründete, aber einseitige oder noch nicht hinreichend gesicherte Auffassungen zu relativieren und zu einem Urteil zu bringen, das den jeweiligen Erkenntnisstand und den daraus ableitbaren praktischen Schlußfolgerungen am besten Geltung verschafft. Schließ-

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lieh muß drittens mit Nachdruck betont werden, daß der Umweltrat verpflichtet ist, wissenschaftliche Kontroversen und differierende, aber gleichermaßen begründete Urteile offenzulegen. Das kann in Form der Kenntlichmachung von Mehrheits- und Minderheitenmeinungen geschehen. Natürlich muß es darüber hinaus dem Gremium überlassen bleiben, in jeweils konkreten Fällen die mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand am besten verträgliche, wenn auch nicht direkt daraus ableitbare Empfehlung abzugeben. Voraussetzung dafür ist, daß auch die wissenschaftlichen Erkenntnislücken, Widersprüche und Unsicherheiten offen ausgesprochen werden. Bei allen diesen Problemen dürfte aber alles in allem ein Gremium von Experten aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen die beste Gewähr für eine sachliche und solide Urteilsfindung bieten. (e) Schließlich wird vielleicht argumentiert werden, daß der Umweltrat für seine Beratungen viel Zeit benötigt, Umweltprobleme aber oft plötzlich erkannt werden und schneller Lösungen bedürfen. Politiker können sich in einer solchen akuten Problemsituation durch rasches, effektives und überzeugendes Handeln in der Öffentlichkeit besonders profilieren. Sie werden diese Chance durch ein Gremium wie den Umweltrat zumindestens beeinträchtigt sehen. Dies trifft allerdings nur zum Teil und dann in durchaus erwünschter Weise zu. Keine Frage ist, daß es unabhängig vom Umweltrat politische Entscheidungsmechanismen geben muß, die bei akuten Problemen und Konflikten rasches Reagieren ermöglichen und zeitliche Verzögerungen vermeiden. Die sorgfältige und sachkundige Urteilsbildung in einem Gremium wie dem Umweltrat bietet aber die Gewähr dafür, daß schnell getroffene Entscheidungen aufgrund verbesserter Einsichten auch wieder korrigiert werden können. Andererseits besteht eine wichtige Funktion des vorgeschlagenen Umweltrats gerade darin, solche reaktiven politischen Entscheidungen unter massivem Zeitdruck und im Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit zugunsten einer langfristig angelegten, aktiven, nicht von aktuellen Problemen, sondern vom wissenschaftlichen Erkenntnisstand gesteuerten Umweltpolitik zu modifizieren. Damit ist ein Argument genannt, das in der zu erwartenden öffentlichen Diskussion für die Einrichtung eines Umweltrates mit Nachdruck vorgetragen werden muß. Es geht darum, durch eine institutionalisierte

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Bündelung naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und administrativen Sachverstandes dazu beizutragen, daß die Umweltpolitik besser als jetzt in die Lage versetzt wird, erstens statt hektisch auf plötzlich auftretende Probleme zu reagieren, gezielt und vorsorgend für die rechtzeitige Vermeidung oder Lösung von Umweltproblemen zu sorgen; zweitens statt ad hoc abrufbare Beratung von mehr oder minder ausgewiesenen Wissenschaftlern beanspruchen zu müssen, auf eine permanent verfügbare, wissenschaftlich repräsentative Expertise zurückgreifen zu können; drittens statt viele einzelne Spezialisten fragen zu müssen, ein Gremium zu haben, das spezialisierten Sachverstand mit einer ganzheitlichen Urteilsbildung verbinden kann. Ergebnis dieser institutionalisierten Form der Politikberatung soll nicht die Vermeidung gesellschaftlicher Konflikte, die Neutralisierung persönlichen Engagements oder gar die Entpolitisierung der Umweltpolitik sein, sondern die Versachlichung der Beratung durch Bereitstellung einer möglichst vollständigen Informationsbasis und eines rationalen Beurteilungsverfahrens. 6.3.5 Umweltrat und Risikokommunikation Die politische Akzeptanz des Umweltrates wird weitgehend davon abhängen, ob es gelingt, durch Kommunikation mit den interessierten gesellschaftlichen Gruppen und der Öffentlichkeit den Umweltrat als kompetentes und überparteiliches Beratungsgremium zu etablieren. Die Kommunikation über Umweltrisiken und ihre Begrenzung finden in einer politischen Arena statt, in der Meinungen zu Umweltfragen besonders polarisiert und entsprechende politische Positionen mit extremen Werturteilen verknüpft sind. Da Risiken von Natur aus keine direkten Rückschlüsse auf Einzelergebnisse erlauben (vgl. Kapitel 1.2.2), sind Aussagen über Risiken schwer zu falsifizieren. Beispiel dafür ist der Versuch, im Falle des Strahlenrisikos Anomalien oder zufällige Häufigkeitsschwankungen von Krankheiten auf Strahlenexpositionen kausal zurückzuführen. Der Umweltrat bewegt sich also in einem Kommunikationsumfeld, in dem die Öffentlichkeit interessenungebundene Informationen erwartet, aber keine Möglichkeit besitzt, die Richtigkeit von Aussagen und die Zuverlässigkeit von Informationsquellen zu überprüfen. Somit stellt sich für den Umweltrat die Frage, wie er sich eine Autorität als überparteiliche und sachverständige Beratungsinstanz verschaffen kann.

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Die wahrgenommene Leistungsbilanz einer Institution gilt als primärer Einflußfaktor auf die Perzeption von Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Diese Bilanz ist von zwei Faktoren abhängig: den Erwartungen an die Institution und den wahrgenommenen Leistungen. Sind die Erwartungen hoch, wird auch bei relativ hohem Leistungsniveau der jeweiligen Organisation ein Vertrauensentzug erfolgen. Bei niedrigen Erwartungen können Organisationen, die in ihren Leistungen stetig die in sie gesetzten Erwartungen übertreffen, dagegen von einer eher unbedeutenden Rolle in eine maßgebliche Funktion hineinwachsen. Deshalb wird es sinnvoll sein, den Umweltrat zunächst mit wenigen Aufgaben zu betrauen und dabei nicht zu hohe Erwartungen zu wecken. Wenn der Umweltrat durch seine Empfehlungen die in ihn gesetzten Erwartungen übertrifft, wird er sich schnell Ansehen und politische Wirksamkeit erwerben. Die MAK-Kommission ist für eine solche Entwicklung ein gutes Beispiel. Wenn sich also der Umweltrat Vertrauen in seine Funktionsfähigkeit und seinen Sachverstand verschaffen will, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein, die seine Rolle in der Risikokommunikation bestimmen. Dazu gehören: (a) Wahrgenommener Sachverstand: In der Regel ist die Wahrnehmung von Sachautorität mit der erfolgreichen Bewältigung von Aufgaben verknüpft (z. B. richtige Voraussagen, erfolgreiches Krisenmanagement, Übereinstimmung zwischen institutionell vorgegebenen Zielen und ihrer Erfüllung). In den Fällen, in denen ein Erfolg schwer beurteilbar ist, treten periphere Bewertungsmuster in den Vordergrund. Hier dienen dann das Prestige der Institution oder ihrer Mitglieder und ihr Status im politischen Gefüge als Orientierungen für die Beurteilung von Sachverstand. In diesem Punkt ergibt sich für den Umweltrat eine mögliche Konfliktsituation: Um die Erwartungen an seine Leistungsfähigkeit nicht zu hoch anzusetzen, sollte er in der politischen Hierarchie relativ niedrig angeordnet sein; um jedoch genügend Prestige vorzuweisen, ist ein hoher Status innerhalb des Institutionensystems besonders vorteilhaft. Eine Auflösung dieses Konflikts kann etwa dadurch erreicht werden, daß die Mitglieder des Umweltrates aufgrund der Ernennung durch den Bundespräsidenten einen hohen Status erhalten, der Umweltrat selbst aber eine eher informelle Beratungsfunktion gegenüber den Ministerien ausübt.

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(b) Wahrgenommene Objektivität: Sofern Kriterien verfügbar sind, anhand derer die Wahrheit von Aussagen leicht überprüfbar ist, bietet die Wahrnehmung von Objektivität keine Schwierigkeiten. In komplexen Fällen werden ebenfalls periphere Indikatoren herangezogen. Häufig wird Objektivität durch die (im nächsten Punkt angeführte) Fairness substituiert. Dann gilt die Institution als objektiv, wenn ihre Vorschläge in der Mitte zwischen Extremforderungen der Gruppen liegen. Dieses Verständnis von Objektivität wird für den Umweltrat problematisch werden, wenn dieser Mittelwert mit der wissenschaftlich festgestellten Wahrheit nicht in Einklang steht. Die Wahrnehmung von Objektivität kann auch durch die Unabhängigkeit der Informationsquelle, die Reputation der Sachverständigen und durch die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Gruppen verbessert werden. Für den Umweltrat sind das Berufungsverfahren und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder von politischen oder wirtschaftlichen Interessengruppen ausschlaggebend. Dagegen ist eine proportionale Repräsentanz der gesellschaftlichen Gruppen im Umweltrat mit seinem wissenschaftlichen Anspruch nicht verträglich. (c) Wahrgenommene Fairness: Die Bereitschaft einer Institution zur vorbehaltslosen Prüfung aller relevanten Standpunkte im Entscheidungsprozeß bedeutet nicht, daß der Mittelwert aller Gruppenmeinungen das Resultat seiner Urteilsbildung sein muß (obwohl dies häufig als Indikator einer fairen Lösung angesehen wird). Vielmehr geht es um die Offenheit der Institution, die Bedenken und Forderungen aller relevanten Gruppen aufzunehmen und in den Urteilsprozeß einzubinden. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, daß der Umweltrat durch Hearings und andere Beteiligungsverfahren den begründeten Eindruck einer fairen Anhörung aller relevanten Gruppen vermittelt. (d) Berechenbarkeit: Bei ähnlichen Sachverhalten und Randbedingungen sollte eine Institution unabhängig von Akteuren und Zeitpunkt zu gleichen Ergebnissen kommen. Eine entsprechende Kontinuität der Urteilsbildung und damit der Funktionserfüllung führt zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit. Auf der übergeordneten Ebene schafft Berechenbarkeit im positiven Sinne Systemvertrauen, auf der institutionellen Ebene verringert sie die Notwendigkeit von Kontrolle als organisiertem Mißtrauen. Berechenbarkeit basiert auf der freiwilligen Unterwerfung der beteiligten Personen unter Prozeß- und Entscheidungsregeln, die als

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rational und sinnvoll anerkannt werden. Durch die Bindung des Umweltrates an bestimmte Entscheidungsregeln und Verfahren (etwa R-RVergleiche) wird eine solche Berechenbarkeit erzielt (vgl. Abschnitt 6.3.3).

(e) Zweckmäßigkeit: Unter dem Eindruck, daß eine Institution zur Erfüllung einer gesellschaftlich wichtigen Funktion notwendig ist, wird ihr auch das entsprechende Vertrauen entgegengebracht. Der Umweltrat wird in dieser Hinsicht besondere Probleme haben, da Umweltpolitik ja auch ohne ihn zu funktionieren scheint. Es wird also darauf ankommen, die Zweckmäßigkeit des Umweltrates über die bisher in der Umweltpolitik erreichten institutionellen Verfahren hinaus deutlich zu machen. Versachlichung der Debatte dürfte hier als Legitimationsgrundlage allein nicht ausreichen. Vielmehr müssen der integrative Charakter des Entscheidungsprozesses innerhalb des Umweltrates und seine Stellung als »wissenschaftliches Clearing-House« vor der Öffentlichkeit herausgestellt werden. Die Wirksamkeit dieser fünf Komponenten der Vertrauensbildung ist sowohl für die Schaffung einer geeigneten organisatorischen Struktur des Umweltrates als auch für sein Auftreten in der Öffentlichkeit zu beachten. Ohne Glaubwürdigkeit wird der Umweltrat keine Rolle in der Setzung von Umweltstandards spielen, gleichgültig wo er institutionell angesiedelt wird. Glaubwürdigkeit ist ein Produkt eines komplexen Wirkungsgefüges, in dem Leistungsfähigkeit die wichtigste Komponente darstellt und wahrgenommener Sachverstand, Objektivität, Fairness, Berechenbarkeit und Zweckmäßigkeit das öffentliche Ansehen bestimmen. Erfolgreiche Kommunikation setzt vor der Informationsvermittlung an; sie schafft die institutionellen und strukturellen Voraussetzungen dafür, daß Informationen und auf ihnen beruhende Empfehlungen akzeptiert werden. Literatur Adams, M . (1986): Z u r Aufgabe des Haftungsrechts im Umweltschutz, Z Z P 99, 129 ff. Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen (1986): Das Umweltgespräch: Umweltstandards — Findungs- und Entscheidungsprozeß, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen e.V., AGU-29, Bonn.

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Schluß Die Ergebnisse dieser Studie gehen in ihrer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung weit über die betrachtete Umweltproblematik hinaus. Umweltstandards sind Regulierungsvorschriften zur Bewältigung von Technikfolgen oder, allgemeiner gesagt, von Handlungsfolgen in ihrer Auswirkung auf die Umwelt. Solche Regulierungsvorschriften sind erforderlich, weil das System Umwelt nicht mehr beliebig aufnahmefähig gegenüber den Folgen der Lebensäußerungen einer wachsenden Bevölkerung ist. Der in der Studie herausgearbeitete Dreischritt von Zieldefinition, Ermittlung gesetzmäßiger Zusammenhänge (vor allem durch die Naturwissenschaften) und Entscheidungsfindung im interdisziplinären Rechtfertigungsdiskurs ist von allgemeiner Gültigkeit. Technikfolgenabschätzung muß im Rechtfertigungsdiskurs weiter verstanden werden; sie darf nicht nur in einer wissenschaftlichen Faktenfeststellung bestehen. Für Ausgangspunkt, Ziel und Vorgehensweise des Rechtfertigungsdiskurses werden wichtige Erkenntnisse gewonnen. Ausgangspunkt ist die bestehende Situation, Ziel nicht etwa ein Paradies, sondern die Verbesserung der bestehenden Situation im Interesse humaner Lebensformen. Die die unterschiedlichen Dimensionen von Problemen und Präferenzen verknüpfenden Urteile können nur auf der Grundlage pragmatischer Konsistenz dieser Lebensformen gefunden werden. Die Orientierungen dieser Lebensformen können wiederum nur dann Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit erheben, wenn sie durch rationale Vorgehensweisen bestimmt sind. Ihre Rationalität ist der beste Garant für ihre gesellschaftliche Wirksamkeit. Dies ist zugleich der einzige Weg, der demokratischen Gesellschaften offensteht, Probleme zu bewältigen, die sich aufgrund der zunehmenden Belastung des Systems Erde durch den Menschen und seine Tätigkeiten ergeben.

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AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN Forschungsberichte

Sonnenenergie Herausforderung für Forschung, Entwicklung und internationale Zusammenarbeit Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Arbeitsgruppe: Langfristige Chancen der Sonnenenergienutzung Groß-Oktav. XX, 281 Seiten, 12 Abbildungen. 1991. Kartoniert DM 68,- ISBN 3 11 012954 X (Band 1)

Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung Herausgegeben von Paul B. Baltes und Jürgen Mittelstraß Groß-Oktav. XVI, 814 Seiten, 57 Abbildungen. 1992. Kartoniert DM 148,- ISBN 3 11 013248 6 (Band 5) Preuänderangen vorbehalten

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PSCHYREMBEL WÖRTERBUCH

Radioaktivität, Strahlenwirkung, Strahlenschutz Bearbeitet von der Pschyrembel-Redaktion unter der Leitung von Christoph Zink 2., aktualisierte Auflage Groß-Oktav. X, 108 Seiten, 92 Abbildungen, 25 Tabellen. 1987. Kartoniert DM 24,80 ISBN 3 11 011343 0

Die vorliegende 2. Auflage wurde vor allem in folgenden Bereichen aktualisiert und vervollständigt: - biologisches Verhalten von Radionukliden im menschlichen Organismus und in der Umwelt - neue Modelle der Dosisberechnung - neue gesetzliche Regelungen im Strahlenschutz Die zentralen Begriffe Radioaktivität, Strahlenwirkung und Strahlenschutz wurden völlig neu gestaltet und erleichtern die rasche Orientierung im Wörterbuch. Preisänderung vorbehalten