Ehre und Gesellschaft: Ehrkonstrukte und soziale Ordnungsvorstellungen am Beispiel des Gottesfriedens (10.-11. Jh.) 3534220684, 9783534220687

Mihai Grigore zeigt eindrücklich, welche Bedeutung Ehrvorstellungen für die Konstituierung der mittelalterlichen Gesells

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German Pages 430 [432] Year 2009

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Table of contents :
Vorwort 7
I. Einleitung 9
II. Das vielfältig eEthos der Ehre. Eine Orientierung 30
II.1. Die Ehre als allgemeines Phänomen 30
Was ist Ehre? 31
Ehre. Begrifflich-historische Betrachtung 34
Die Ehre und die Sozialisation des Menschen. Aspekte der Ehre 38
Die Ehre in der Aktualität. Kulturell-anthropologische Betrachtung 46
II.2. Eine revolutionäre Theorie 53
Ein junger Indoeuropäist 53
Drei, die heilige Zahl 66
Die Zahl Drei in den indoeuropäischen Traditionen 74
Soziales Bild und die 'Sünden' jeder Funktion 78
Schluss: Die Ehre und die Dreiteilungstheorie 82
II.3. Drei Funktionen, drei Ehranschauungen. Anmerkungen zu einer altirischen Saga 84
Táin Bó Cúalnge 84
Der gut eName 87
Die 'Qualitäten' 90
Engel und Dämon 97
Die funktionale Ehre 101
Der Entstehungskrieg 106
III. Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft 111
III.1. Zur Definition einiger Begriffe 111
Verschwendungs- und Akkumulationsmentalität 112
Privates und öffentliches Leben 126
III.2. Die Verschwendungs- und Akkumulationsehre in Lebensbildern des Mittelalters 133
Ehre im Feudalwesen 134
'Jo nen ferai nient, Ich werde so etwas nicht tun': Grenzen der kriegerischen Ehre 144
'Nihil ergo servat Deus justius quam suae dignitatis honorem': Die feudale Persönlichkeit Gottes 153
Arbeit und Arbeitende 162
'What should wax of that wealth, if no waste were to come?" Die Schwierigkeiten des Kaufmannes in einer kriegerischen Welt 174
Am Ende des Kapitels 181
III.3. Die Frau 183
IV. Die Vertretungsehre. Über einen neuen Ehrbegriff in seiner sozial-historischen Wirksamkeit: Dem Gottesfrieden 197
IV.1. Das Jahr 1000 in der Gottesfriedensproblematik. Eine Klarstellung 197
IV.2. Ein Zeitalter der Kirche. Die Vertretungsehre 221
Die Ehre, ein Vertreter Gottes zu sein. Zur Konturierung eines neuen Begriffs 222
'[R]es juris mei sanctis apostolis Petro videlicet et Paulo, de propria trado dominatione, Clugniacum scilicet villam': Cluny, eine Burg der Apostel 229
Der Mann auf dem Stuhle Petri 252
IV.3 Ehrkonstrukte im Gottesfrieden 290
Annäherung 292
'[A]nte omnia pacem et iustitiam observari monebant': Zur Phänomenologie der Bewegung 299
'[C]onvenimus aulam quae olim Korrof vocitatur': Zur Geographie und Chronologie 323
'[C]lamorem facio de saecularibus potestatibus parochianis meis': Beteiligte und Betroffene 344
Zu 'pauper' und 'paupertas'. Eine Anmerkung 368
V. Schlussbetrachtung 379
VI. Bibliografie 390
VI.1 Hauptquellen 390
VI.2 Andere Quellen und Literatur 394
Personenregister 426
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Ehre und Gesellschaft: Ehrkonstrukte und soziale Ordnungsvorstellungen am Beispiel des Gottesfriedens (10.-11. Jh.)
 3534220684, 9783534220687

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Mihai-D. Grigore Ehre und Gesellschaft

Symbolische Kommunikation in der Vormoderne Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst Herausgegeben von Gerd Althoff, Barbara Stollberg-Rilinger und Horst Wenzel

Mihai-D. Grigore

Ehre und Gesellschaft Ehrkonstrukte und soziale Ordnungsvorstellungen am Beispiel des Gottesfriedens (10. – 11. Jh.)

Diese Arbeit ist in Zusammenarbeit mit dem Graduiertenkolleg 706 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg entstanden.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Neil McBeath, Stuttgart Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534–22068-7

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das vielfältige Ethos der Ehre. Eine Orientierung . . . . II.1 Die Ehre als allgemeines Phänomen . . . . . . . . Was ist Ehre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehre. Begrifflich-historische Betrachtung . . . . . . Die Ehre und die Sozialisation des Menschen. Aspekte der Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ehre in der Aktualität. Kulturell-anthropologische Betrachtung . . . . . . II.2 Eine revolutionäre Theorie . . . . . . . . . . . . . Ein junger Indoeuropäist . . . . . . . . . . . . . . Drei, die heilige Zahl . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zahl Drei in den indoeuropäischen Traditionen Soziales Bild und die „Sünden“ jeder Funktion . . Schluss: Die Ehre und die Dreiteilungstheorie . . . II.3 Drei Funktionen, drei Ehranschauungen. Anmerkungen zu einer altirischen Saga . . . . . . Táin Bó Cúalnge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der gute Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Qualitäten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Engel und Dämon . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die funktionale Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Entstehungskrieg . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.1 Zur Definition einiger Begriffe . . . . . . . . . . . Verschwendungs- und Akkumulationsmentalität . Privates und öffentliches Leben . . . . . . . . . . . III.2 Die Verschwendungs- und Akkumulationsehre in Lebensbildern des Mittelalters . . . . . . . . . . Ehre im Feudalwesen . . . . . . . . . . . . . . . . „Jo nen ferai nient, Ich werde so etwas nicht tun“: Grenzen der kriegerischen Ehre . . . . . . . . . . .

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„Nihil ergo servat Deus justius quam suae dignitatis honorem“: Die feudale Persönlichkeit Gottes . . . . Arbeit und Arbeitende . . . . . . . . . . . . . . . . . „What should wax of that wealth, if no waste were to come? Die Schwierigkeiten des Kaufmannes in einer kriegerischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . Am Ende des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3 Die Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Die Vertretungsehre. Über einen neuen Ehrbegriff in seiner sozial-historischen Wirksamkeit: Dem Gottesfrieden . . . . . . IV.1 Das Jahr 1000 in der Gottesfriedensproblematik. Eine Klarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2 Ein Zeitalter der Kirche. Die Vertretungsehre . . . . . . . Die Ehre, ein Vertreter Gottes zu sein. Zur Konturierung eines neuen Begriffs . . . . . . . . . . . „[R]es juris mei sanctis apostolis Petro videlicet et Paulo, de propria trado dominatione, Clugniacum scilicet villam“: Cluny, eine Burg der Apostel . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mann auf dem Stuhle Petri . . . . . . . . . . . . . . . IV.3 Ehrkonstrukte im Gottesfrieden . . . . . . . . . . . . . . . Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „[A]nte omnia pacem et iustitiam observari monebant“: Zur Phänomenologie der Bewegung . . . . . . . . . . . . „[C]onvenimus aulam quae olim Korrof vocitatur“: Zur Geographie und Chronologie . . . . . . . . . . . . . . „[C]lamorem facio de saecularibus potestatibus parochianis meis“: Beteiligte und Betroffene . Zu pauper und paupertas. Eine Anmerkung . . . . . . . . .

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V. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.1 Hauptquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI.2 Andere Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Meinem Vater, Gheorghe, und meiner Mutter, Elisabeta, sei dieses Buch gewidmet

Vorwort Nach einem dreieinhalbjährigen Kampf in den Gefilden der Ehre(forschung) konnte diese Schrift an der Erlanger Friedrich-Alexander-Universität als Dissertation vorgelegt werden. Das Projekt genoss die großzügige finanzielle und wissenschaftliche Unterstützung des Graduiertenkollegs „Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz“. Mit dem Anlass der Veröffentlichung dieser Dissertationsschrift möchte ich meine Dankbarkeit ausdrücken: Erstens meiner Lehrerin in der Grundschule, Maria Mitu, die meine Vorliebe für Geschichte zu erkennen und zu pflegen wusste, durch Rat, aber auch durch pädagogische Strenge. Zweitens meinen magistri: Professor Dr. Berndt Hamm, der sich von diesem Projekt überzeugen ließ und es Schritt für Schritt durch seine gesamte Entwicklung hindurch mit aufmerksamster Lektüre jeder Seite, mit Anregungen, freundlicher Kritik und technischer Unterstützung begleitete; diese Veröffentlichung ist vor allem Frucht seines Engagements. Professor Dr. Hans G. Ulrich für seine entscheidende Hilfe zur Befestigung des theoretischen Gerüstes und für sein Verständnis gegenüber meinem philosophischen Nicht-Können, unsere langen Gespräche waren mir ein wahres Vergnügen und eine große Hilfe. Beide haben mich in die wissenschaftliche Landschaft Deutschlands eingeführt und diese Schrift durch eine wahre sokratische Hebammenarbeit möglich gemacht. Drittens möchte ich mich auf dieser bescheidenen und ausgleichsunfähigen Weise bei meiner Frau, Birgit Grigore, für ihre Geduld und für ihre Hilfe bezüglich meiner allzu „undeutschen“ Sprache bedanken, welche sie in langen und mühsamen Korrekturstunden öffentlichkeitstauglich machte. Last, but not least mögen alle, die ich in diesem Vorwort – welches sich so in die Unendlichkeit erstreckt hätte – nicht namentlich erwähne, mir verzeihen und sollen wissen, dass sie nicht vergessen sind: Allen meinen herzlichen Dank! Mihai-D. Grigore Erlangen, März 2009

I. Einleitung Die Ehre als ein Phänomen mit fließenden Grenzen, das eine ständige innere Dynamik aufweist, zu untersuchen, ist ein schwieriges Vorhaben. Wenn es zudem im Hinblick auf eine Zeit, für die ohnehin ein starker Mangel an urkundlichen Belegen besteht, problematisiert werden soll, sieht man sich vor einem Dilemma: Wie lässt sich die scheinbare Kluft zwischen dem, was war, und dem, was überliefert worden ist, überbrücken und wie lassen sich trotz aller Schwierigkeiten Aussagen machen? In dieser Hinsicht könnte man meines Erachtens mit Ehrkonstrukten der unterschiedlichen sozialen „Einheiten“, die integrative und identitätsverleihende Formen des sozial-symbolischen Daseins sind, Phänomene und Fakten beschreiben, von deren Existenz man zwar weiß, die jedoch in einer bestimmten Epoche lückenhaft dokumentiert worden und daher schwer analysierbar sind. So sieht sich der Historiker nicht mehr gezwungen, vor im „Nebel“ liegenden Themen zurückzuschrecken und sie lieber bei Seite zu lassen. Man muss den Tatsachen ins Auge sehen – um uns nun direkt auf die deutsche Historiografie zu beziehen – und mit Gerd Althoff zugeben: „Man hätte herauszuarbeiten, dass die historische Mittelalterforschung, und namentlich die deutsche, im vielstimmigen internationalen Chor der Religionswissenschaften und Ethnologie, der Philosophie, Soziologie und der Literaturwissenschaften, lange Zeit nur eine bescheidene, wenn überhaupt eine Rolle spielte [...]. Ein Hauptgrund [dafür] dürfte darin liegen, dass die historische Mittelalterforschung selbst lange Zeit den Stellenwert unterschätzte, den Zeichen, Symbole und Rituale in der mittelalterlichen Kommunikation hatten, und sie es daher gar nicht versuchte, ihre Empirie in die laufenden interdisziplinären Diskurse einzubringen“.1 Obwohl die Vorteile einer integrativen Erforschung des Mittelalters zunehmend wahrgenommen werden, steht dieser Ansatz doch noch am Anfang.2 Die vorliegende Arbeit versucht vor allem eine alternative – stark interdisziplinär verankerte – Interpretationsweise ausgewählter Ereignisse anzubieten, die sich u. a. an strukturalistischen Arbeitsmethoden historischer

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G. Althoff 2003c, S. 275. Vgl. G. Althoff 2003c, S. 276.

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Einleitung

Anthropologie3 und Komparatistik orientiert4. Es ist leicht, Postmodernismus und Dekonstruktivismus in Zeiten der Informationsflut methodologisch einzusetzen. Wenn man sich aber mit der Geschichte des Frühmittelalters und besonders des späten Frühmittelalters (des 9.-11. Jahrhunderts) befasst, braucht man zweifellos eine strukturalistische Vorgehensweise, um Typologien zusammenzustellen, die aufgrund komplexer Informationen und Vergleiche als Anhaltspunkte und Auslegungsinstrumente für Ereignisse fungieren, die hinsichtlich der Quellenlage „benachteiligt“ sind. Ich habe versucht, die ständisch-funktional geprägten Ehrkomplexe in meiner Untersuchung durch eine Zusammenfügung von scheinbar zerstreuten und voneinander unabhängigen Motiven zu problematisieren (wohl mit dem ständigen Wissen um die Existenz vielfältiger Nuancen und nicht reduzierbarer Aspekte). Dabei gehe ich in gleicher Weise vor, wie sich Lévi-Strauss der mythologischen Komparatistik ehemals annäherte5 – in dem Bestreben, „eine Ordnung hinter dem zu finden, was sich als Unordnung zeigt“.6 Eine solche Methode lässt sich wohl nicht nur in der Mythologie-Forschung und Ethnologie anwenden, sondern ebenso in der historischen Anthropologie7, was zu einer Reflexion erst der 3 „Nous pourrions définir l’anthropologie historique comme une histoire des habitudes: habitudes physiques, gestuelles, alimentaires, affectives, habitudes mentales“ (André Burguière apud C. Kiening 1997, S. 22, Anm. 34). 4 Über die Vorteile der Einbindung anthropologischer Ansätze in der historischen Arbeit siehe U. Peters 1992. 5 „Der Mythos wird zunächst durch eine ethnographische Dokumentation untermauert, die ihn in eine lebendige Erfahrung stellt. Aber nachdem man einen bestimmten Mythos mit einer lokalen Erfahrung verbunden hat, sucht man ihn mit anderen Mythen zu verbinden, sofern man gewisse gemeinsame Strukturen vermutet“ (zitiert v. U. Daniel 2002, S. 133). Siehe über die Mythologie als Form der Geschichtsbildung in den traditionellen Gesellschaften C. Kiening 1997, S. 31f. 6 Zitiert v. U. Daniel 2002, S. 133. 7 Der Mythologie (als Poetisierung des Kontaktes mit der Wirklichkeit – Vgl. H. Blumenberg 1981, S. 10ff und S. 68) liegt der Versuch zugrunde, den Mythos – als Träger von Informationen – zu entziffern (vgl. H. Blumenberg 1981, S. 63). Der Mythos ist wohl kein Träger der „Wirklichkeit“ – was auch immer das sein mag – sondern der Wünsche und Bilder, die die unbenannte Wirklichkeit in Menschen hervorruft. Es geht also in der mythologischen Komparatistik nicht darum, die Götter durch ihre Epitheta zu beschreiben, sondern darum, zu erschließen, wie und evtl. warum Menschen durch bestimmte Namen/Epitheta/Metaphern (vgl. H. Blumenberg 1981, S.11f) bestimmte Koordinaten der „Wirklichkeit“ hervorheben und deuten, d. h., es dreht sich alles um die Kategorien des Narrativen (vgl. G. Flood 1999, S. 113) im Mythos. Götter sind in diesem Sinne keine Träger von Eigenschaften, sie sind die Eigenschaften, d. h. Namen bestimmter erkannter „Wirklichkeiten“ (im Plural) (vgl. H. Blumenberg 1981, S. 69). Die Mythologie als Wissenschaft ist wohl selbst eine Mythos-Form, in dem Sinne, dass sie gezielt und absichtlich, d. h. mit Finalität was, wie, warum, wo usw. fragt. Diese Aussage aber beleuchtet die positive Seite der Mythos-Forschung als Reflexion und Deutungsform, als Wissenschaft (vgl. H. Blumenberg 1981, S. 70ff). Denn der gesamte Streit um

Einleitung

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konstruktivistischen Ansätze der Quellen und dann der menschlichen Handlungen selbst beitragen könnte. Mit einer solchen Methode lassen sich – paradoxerweise – Nuancen und Unstimmigkeiten aufzeigen, aber auch Strukturen und Typologien beschreiben. „Die Aufgabe historischen Wandel in der komplexen Gleich- und Gegenläufigkeit verschiedener Teilbereiche zu beschreiben, erfordert also wohl gemäß dem sowohl systemischen wie erratischen Charakter der Untersuchungsgegenstände ein Oszillieren [!] (auf mehreren Ebenen) zwischen strukturaler Komponentenanalyse und historischer Kontextrekonstruktion“.8 In diesem Zusammenhang ist es eine Voraussetzung dieser Arbeit, dass die menschlichen Handlungen Sinn suchen und Sinn haben9, also nicht dem Zufall zuzuschreiben sind; daher können im menschlichen Sein und Handeln Leitfäden bzw. Strukturen festgestellt und analysiert werden. Der Mensch jeder Kultur und Gesellschaft, die ein Labor der Kultur ist, benötigt zu seiner eigenen Verortung im Ganzen eine Reihe von symbolischen Handlungen und Haltungen, die seinem biologischen, funktionalen und existenziellen Status Ausdruck und eben Sinn verleihen. Die kategoriale Vielfältigkeit solcher Vorgänge erfordert komparatistische und integrative indikatorische Komplexe, wie es in meinem Fall die Ehre ist. Solche Termini können wohl nur als Summenbegriffe (oder Listenbegriffe) fungieren. Daher vermeidet meine Untersuchung eine allzu stark begrifflich-philologisch orientierte Auseinandersetzung mit der Problematik, in dem Wissen, dass die reiche Verzweigung von Ehrsemantik und -handlungen tief hinter die Termini dringt und von diesen eben nicht vollkommen abgedeckt wird. Wenn jedoch – wie der Leser feststellen wird – in der vorliegenden Arbeit Formeln wie „System“ oder „Begriff“ auftauchen werden, geschieht dies nur in den abgeschwächten Formen von „Konnex/Vorgang“ bzw. „Terminus/Semantik“. Hier soll zur Erleichterung des Lesens das Verhältnis zwischen Struktur und Semantik kurz erläutert werden: Strukturen werden hier als erklärende, in Typologien beschreibbare Kategorien an der historischen prozessualen Oberfläche verstanden, ohne die Absicht einer ontologischen, ja strukturellen Deutung der menschlichen Existenz; sie sind keine existenziellen bzw. ontologischen Kategorien des Menschseins.

den Obskurantismus und das Unreflektierte des Mythos’ entsteht als Ergebnis des Aufeinanderprallens irreduktibler, eben (im finsteren Sinne) mythisierender Positionen der „vernünftigen“ aufklärerischen Naturwissenschaften oder Sozialwissenschaften und der „mythologisierenden“ Geisteswissenschaften. Der Mythos ist an sich nicht gut oder falsch, sondern schlechthin eine Form der menschlichen Reflexion. Er gewährt einen tieferen Zugang zum Menschen selbst. 8 C. Kiening 1997, S. 28. 9 Vgl. R. Münch 2002, S. 28 und M. Oswald 2004, S. 54f.

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Damit distanziere ich mich, wie der Leser sehen wird, auch von dem Ansatz C. Lévi-Strauss’: Es wird eine problematische Generalisierung vermieden, indem die beschriebenen Strukturen im Bereich des Beobachtbaren bleiben, d. h. auf der Ebene des konkreten gesellschaftlichen Aufbaus oder des historischen Geschehens, was zum Ergebnis hat, dass sie anhand bestimmter spezifischer Fallbeispiele partikularisiert und nicht als ontologische Konstanten des Menschen dargestellt werden. Dies ist möglich, weil ich das Verhältnis Struktur - Semantik auf drei Ebenen systematisiere. Erstens hat die Semantik zuerst die Abbildungsfunktion konkreter/beobachtbarer Erscheinungen – in diesem Falle sozialer Stände, welche ihre Eigenart durch symbolische Handlungen, durch Sprache und durch bestimmte Konnexe artikulieren. So vollzieht sich, zweitens, eine Gesellschaftskategorie in ihrer Semantik. Drittens generiert die Semantik eine Gruppe und aktualisiert sie ständig, indem in der Semantik jene Kriterien und Wertungskonnexe bewahrt, vererbt und weiter tradiert werden, welche zum Artikulieren und Existieren einer sozialen Struktur nötig sind und welche diese Struktur für definierend hält. Aus diesen Gründen kann der gesellschaftliche Konnex letzten Endes nicht von seinem semantischen Niederschlag getrennt werden. Summa: Semantik wird in diesem Zusammenhang als strukturübergreifend und als integrierend verstanden. Sie bildet gesellschaftliche Prozesse ab, generiert solche aber auch, und ist somit eigentlich gar nicht von der gesellschaftlichen Gruppe als empirischer Konstruktion zu trennen. Die Ehre z. B. ist die semantische Abbildung der sozialen Wirklichkeit einer Gruppe, andererseits aber kann sie semantisch/sprachlich vermittelt werden und zu bestimmten Handlungen führen.10 Aus diesem Grund bevorzuge ich die indikatorische Semantik der Ehre sowohl für die historische Erforschung der früheren Gottesfriedensbewegung (989-1038) – deren Kanonistik starke inhaltliche Parallelen zu archaischen europäischen Ehrkonstrukten aufweist – als auch für die allgemeine Kulturhermeneutik. Der Letzteren steht mit „Ehre“ ein wohl flexibleres Mittel zur Verfügung als mit „Macht“, „Gewalt“ oder „Prestige“, denn meiner Auffassung nach kommen Ehre und Ehrhandlungen nicht nur in Konflikt- und Krisensituationen auf, sondern begleiten die gesamte menschliche Existenz überhaupt. So wird in manchen sozialen Kategorien unter Umständen die Friedlichkeit an sich als eine Ehrensache betrachtet. Meine Untersuchung beschäftigt sich mit dem Selbstverständnis sozialer ordines des Mittelalters, das sich in Ehrkomplexen erfassen lässt. Diese sind das Ergebnis langfristiger mentaler Reifeprozesse, die ihren ersten Nieder10

Vgl. N. Luhmann 1980, S. 9f und S. 17ff.

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schlag bereits in den Mythologien und sozialen Strukturen vorchristlicher Gesellschaften Europas finden. Jedes Sozialkorpus entsteht aufgrund der interagierenden Sozialkategorien. Diese Voraussetzung scheint gut begründen zu können, warum das Zusammenleben der gerade erwähnten gesellschaftlichen Schichten durch die Analyse und Spezifizierung ihrer Ehranschauungen treffend erläutert werden kann. Ein interessantes Fallbeispiel ist in dieser Hinsicht die Gottesfriedensbewegung, ein Phänomen, das sich aufgrund der schlechten Quellenlage historisch, sozial oder rechtsgeschichtlich schwierig deuten lässt, auf das sich aber durch umrissartige Vergleiche auf der Ebene der symbolisch-sozialen Umgangsformen und Sprache eben bisher übersehene Perspektiven eröffnen. Der Aufbau der Untersuchung wurde vor allem durch den Bedarf an einem erhöhten Anteil an anthropologischen und interdisziplinären Ansätzen motiviert.11 So beginne ich mit einem vogelperspektivischen Überblick über die allgemeine Erörterung der Ehre-Problematik, die ich in demselben ersten Teil in die Sozialisationsfrage des menschlichen Daseins und den strukturellen Aufbau der Gesellschaft schlechthin einbette. Dabei ziehe ich für mein Thema scheinbar weit entfernte Bereiche und Beispiele heran: mythologische Komparatistik, Anthropologie, Antikeforschung usw. Diese Spur verfolgend spreche ich das tripartite soziale Denkmuster in den europäischen Traditionen an, in der Vermutung, dass sich unterschiedliche soziale Kasten durch ausdifferenzierte Wertungskategorien und Ehrkomplexe Identität verleihen und gesellschaftlichen Vorrang beanspruchen. Diese Annahme wird Gewissheit im zweiten Teil, wo ich mit den von Friedhelm Guttandin übernommenen Termini Verschwendungs- bzw. Akkumulationsehre die gerade angedeuteten unterschiedlichen „Ehrmuster“ anhand historischer Beispiele des Mittelalters typologisiere. Die mittelalterlichen Realitäten geraten im ersten Teil durch häufige Bezugnahmen nicht aus dem Blick. Der zweite Teil jedoch soll als Übergang zur Punktualisierung durch das Fallbeispiel des Gottesfriedens dienen und ist daher stark in der Mittealter-Phänomenologie verankert. Im Zusammenhang mit der kirchlichen Ethos- und Kastenbildung, die ich in der Zeit zwischen dem 10. und 11. Jahrhundert vermute, füge ich dem gesamten Diskurs die Kategorie der Vertretungsehre hinzu und zeige danach, wie sie im Fall der Pax Dei-Bewegung mit den anderen, im zweiten Teil genannten Komplexen 11 Unter dem anthropologischen Ansatz und Zugang verstehe ich, „dass er Muster von Verhaltens- und Denkweisen nicht als historisch gegeben voraussetzt, vielmehr in ihren Repräsentationen erfasst und zugleich diese Repräsentationen als material gebundene auf (einen nicht selbst erreichbaren) nicht-interpretativen Raum bezieht“ (C. Kiening 1997, S. 43). Schlicht gesagt beruht das Lesen der Texte auf dem Wissen, dass sie bloße Repräsentationen der dem Forscher unerreichbaren „nackten“ historischen Tatsachen sind.

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Einleitung

(Verschwendung bzw. Akkumulation) interagiert. Die kirchliche Ethisierung und deren Indikator, die Vertretungsehre, wird umfassend und anhand mehrerer parallel verlaufender sowie phänomenologisch zusammenhängender Ereignisse betrachtet: der monastischen Reform, der pax-Bewegung und des Investiturstreites. Allerdings erscheint das zweite Beispiel stärker für die soziale Landschaft relevant, während sich die beiden anderen auf der Stufe der politischen und religiösen Eliten abspielen. Insgesamt gleicht das Vorgehen einer auf dem Kopf gestellten Pyramide, deren Spitze der punktuell angelegte Teil bildet. Auf einen Forschungsüberblick in der Einleitung verzichte ich und binde stattdessen jeden Begriff oder jede angesprochene Problematik im Verlauf der Arbeit in den Zusammenhang der bisherigen Forschung ein. Das Quellenkorpus ist sowohl „horizontal“ als auch „vertikal“ strukturiert. So bezieht sich die Auswahl der Quellen auf das vom jeweiligen Teil der Arbeit angesprochene Thema. Die Thesen des ersten Teils beruhen auf einer vergleichenden Betrachtung von Quellen, die erstens den germanischen und indoeuropäischen Hintergrund des Mittelalters ansprechen und das funktional dreigeteilte Denkmuster erkennen lassen und die zweitens die Wahrnehmung der heidnischen Welt und ihrer Mythologie bzw. Sozialstruktur bei christlichen Autoren – die eben den Ton im Mittelalter angaben – widerspiegeln. Daher werden u. a. Rig-Veda, Homer, Titus Livius und die altirische Saga Táin Bo Cúalnge herangezogen, die von den Berichten Adam Bremensis’, Saxo Grammaticus’ und der Edda Snorri Sturlusons ergänzt werden. Als Quellen „zweiten Ranges“ sind in diesem Teil die häufigen ethnologischen und anthropologischen Beispiele zu nennen. Der zweite Teil soll das gesamte Mittelalter abdecken, wobei aber auf manch relevante Blicke in die Frühneuzeit nicht verzichtet wird. Da in dieser Untersuchung die Ehre nicht nur in spezifischen Bereichen, sondern auch in der alltäglichen Komplexität der menschlichen Lebensformen betrachtet wird, werden die Quellen dementsprechend ausgewählt: „symbolische Literatur“ (Heldenlieder), Chroniken und religiöse Literatur.12 Der 12 In diesem Sinne ist für mich ein Kriterium für die Relevanz von in der Epik identifizierten Motivstrukturen ihre Bestätigung in den Chroniken oder in der religiösen Literatur (vgl. C. Kiening 1997, S. 18). Es ist allerdings eine falsche Anschauung, die Epik-Quellen als bloße „Texte“ im Sinne von reinen Konstrukten zu betrachten. „Sie [die epischen Quellen] stellen im passiven wie aktiven Sinne Konstruktionselemente eines ‚Zivilisationsprozesses’ dar und müssen, will man über das banale Diktum hinausgelangen, dass ‚Textualität’ selbst eine anthropologische Gegebenheit sei, als je eigene Formen von historischer Materialität begriffen werden: als ‚mimetische Repräsentationen’ und zugleich Objektivationen spezifischer Kommunikationssituationen, als ‚Monumente’ und zugleich Elemente von Sinn- und Überlieferungssystemen“ (C. Kiening 1997, S. 19). Die Texte an sich, wohl auch die Epik, sind Träger von Informationen anthropologischer Natur (vgl. G. Althoff 2003b, S. 6f), solange sie

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dritte Teil bemüht sich um eine Zuspitzung der gesamten Thematik anhand der Analyse eines Fallbeispiels, des Gottesfriedens. Daher sind die inhaltsreiche Kanonistik der Pax Dei sowie die Chroniken von Rodulfus Glaber und Ademar von Chabannes primäre Quellen. Als Quellen „zweiten Ranges“ sollen hier jene Quellen in Betracht gezogen werden, welche die ergänzende Problematik der cluniazensischen Reform und des Investiturstreits und damit zwei Aspekte der kirchlichen Ethos- und Machtbildung, die ich im 10.-11. Jahrhundert vermute, verdeutlichen. Die gewichtigsten Begriffe der Arbeit, die häufig auftauchen werden, versuche ich bereits im Folgenden zu konturieren. Bei der Vertiefung in die Lektüre wird der Leser auch auf die terminologischen Klarstellungen etlicher anderer Arbeitsbegriffe stoßen, die nicht in der Einleitung angesprochen werden. Griechische und lateinische Zitate habe ich zumeist übersetzt. Wo dies nicht der Fall ist, habe ich trotzdem ihren Inhalt paraphrasiert, sodass kein Leser aufgrund nicht ausreichender Latein- bzw. Griechischkenntnisse von der Thematik ferngehalten wird. Die Zitate aus dem Mittelhochdeutschen habe ich – angesichts der relativ großen Ähnlichkeit mit dem modernen Hochdeutsch – nicht immer übersetzt. Die Untersuchung wurde u. a. durch die Tatsache angeregt, dass die Forschung sich mit der Ehre in der mittelalterlichen (genauer, in der frühmittelalterlichen) Gesellschaft relativ wenig auseinandergesetzt hat. Außer den Pionier-Beiträgen von Achatz von Müller und Knut Görich sind mir keine bedeutenden Untersuchungen über die Ehre in der Zeit vor dem 14. Jahrhundert bekannt. Ich wollte meine Arbeit als Fortsetzung und Erweiterung der Untersuchungen von Knut Görich gestalten, indem ich die Ehre nicht im Bereich des politischen Handelns, sondern allgemein anthropologisch und alltagsbezogen im Bereich des mittelalterlichen sozialen Miteinanders untersuche. Weiterhin habe ich mich hinsichtlich der Ehreforschung auch über die Gebiete der Begrifflichkeit und komparatistischen Philologie hinausbewegt: Es werden in den Quellen Handlungen beschrieben, die sich innerhalb der Ehre-Phänomenologie deuten lassen, ohne dass ein einziges Mal das Wort „Ehre“ auftaucht. Die bisherige Literatur betrachtet zumeist die Problematik der Ehre entweder mit dem Spätmittelalter beginnend13 bzw. im Kontext der Duellpraktiken (also der konfliktual gelösten Ehrverletzungen) der Frühneuzeit (wie z. B. bei Friedhelm Guttandin) oder aus der Perspektive der christlichen Moraltheologie (wie z. B. bei Wilhelm Korff). Tatsache ist, dass man eines tieferen Eineben verfasst wurden, um rezipiert, verstanden und evtl. „beliebt“ zu werden. Ihre Botschaft also – obwohl ja literarisch konstruiert – entsteht in einem gegebenen Rahmen von habitualer Kommunikation (im Sinne Bourdieus) und überschreitet bestimmte Grenzen nicht (vgl. auch C. Kiening 1997, S. 38f). 13 Siehe u. a. E. Wechsler 1991 oder K. Schreiner/G. Schwerhoff 1995.

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blicks in die zurückliegende Geschichte bedarf. Daher greift meine Untersuchung auf frühmittelalterliche – u. a. vom Germanentum geprägte – Ehrkonstrukte anhand eines Beispiels zurück, das bisher überhaupt nicht in Verbindung mit der kategorialen Wertungsdynamik sozialer ordines des Mittelalters bzw. der Ehre gebracht wurde, nämlich anhand des Gottesfriedens. Die sozialwissenschaftliche Forschung über die Ehre ist durch die Arbeiten Bourdieus oder im deutschen Raum von Ludgera Vogt relativ gut vertreten, sie greifen allerdings als Gegenstand entweder außereuropäische oder nicht-mittelalterliche Fälle auf. Es existiert ebenfalls eine rechtswissenschaftliche Forschung über die Ehre, allerdings im Kontext der gerichtlich und rechtlich belegten Fälle der Ehrverletzungen und ihrer konfliktualen Lösungen14, die leider lediglich ab der Frühneuzeit gut verfolgbar sind. Des Weiteren wurde eine Abgrenzung von den philosophischen Überlegungen über die Ehre auf der Basis der antiken Tugenddiskurse beabsichtigt. In diesem Kontext stellen sich die Fragen: Was können wir über die Menschen des 7.-11. Jahrhunderts aussagen? Orientierten sie sich an keinen Ehrkonstrukten oder – wenn doch – nur in Konfliktsituationen, wie z. B. Fehde oder Blutrache? Und wie wichtig bzw. unwichtig ist die Friedensbewegung in der Geschichte Europas und was für eine Bedeutung besitzt sie in der gesamten Entwicklung des Kontinents?15 Solche Fragen müssen thematisiert und, wenn möglich, beantwortet werden. Trotz etlicher Versuche16 bleibt – nebenbei angemerkt – die geschlechterorientierte Ehreforschung ebenfalls erweiterungsbedürftig. Im Folgenden werde ich mich näher mit Begriffen beschäftigen, die in meiner Untersuchung häufig gebraucht werden. Macht und Ehrsemantik im späten Frühmittelalter. Ich bevorzuge das Konzept der „Macht“, da es mittlerweile verbreitet ist. Das Konzept ist wichtig für die Skizzierung des Kontexts der Bildung eines kirchlichen Vertretungsethos im hohen Mittelalter, wo der Terminus „Macht“ zu den neuen Verhältnissen im Zusammenhang der Vertretungs-, Kriegs- bzw. Arbeitssemantik entscheidend beiträgt. 14

Vgl. K. Amelung 2002, S. 6ff und S. 37. Die bisherige Forschung ist gespalten: Für einige ist die Pax-Bewegung eine Revolution im wahren Sinne des Wortes, für andere ist sie der Auslöser spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Prozesse, die sich in der Stadtkultur und in den zentralisierten Monarchien äußern; für andere Forscher dagegen ist die Pax-Bewegung ein überschätztes Phänomen, das eigentlich eine viel kleinere Rolle in dem historischen Geschehen spielte, als bislang angenommen: Die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Politik seien nach dem Gottesfrieden nicht anders als davor. Daher kommt diesem Phänomen aufgrund der wenigen, konkret beobachtbaren Ereignisse in der mittelalterlichen Phänomenologie keine Bedeutung zu. 16 Vgl. M. Dinges 1995, S. 48. 15

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Im Mittelalter ist Macht weder im politischen Sinne der antiken Polis – wie etwa Hannah Arendt annahm17 – noch (wie bei Max Weber18) als Resultat des Gewaltmonopols eines überpersonellen Verbands, des Staates, zu betrachten. Insoweit gab es im Hochmittelalter kein Machtverständnis. Die mittelalterliche potestas bedeutete eher die Befugnis und gleichzeitig die Verheißung, in einem höheren Namen etwas zu bestimmen, und ließe sich als ein „In-der-Lage-sein“, „Befähigt-sein“, ja sogar als „Verwaltung“ verstehen. Daher wird die Macht in der mittelalterlichen Auffassung unter der Kategorie eines Herrschafts- bzw. Bestimmungsverbands zusammengefasst, welcher ursprünglich auf Verwandtschaft (oder „Gentilismus“, so manche Forscher19) beruht und später in der Gefolgschaft und in Treuebeziehungen idealisiert, vergesellschaftet und symbolisiert wurde. So ist die mittelalterliche Kategorie der Herrschaftsausübung kein Staat, sondern ein potestas-Bund des Königs, der eine große familia darstellen sollte. Dennoch ist die Macht kein äußerer Vorgang, sondern gewissermaßen Selbstbestimmung familiärer bzw. konsensualer Natur, indem man die hierarchischen Strukturen als väterliche, karitative und verantwortungstragende Instanzen empfindet; ihre ideale Zuspitzung finden sie in dem König als pater patriae. Die Macht im mittelalterlichen Sinne äußert sich also in Geboten und Erlässen als Zeichen der Fürsorge. Wenn ich über Vormachtbzw. Machtansprüche der Kirche oder der zweiten kriegerischen Schicht spreche, meine ich letztlich den Versuch einer Miteinbeziehung des gesamten sozialen Korpus in eine familia – mit all ihren Regeln (d. h. Ehre), 17

Vgl. H. Arendt 1970, S. 41. „Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat“ (H. Arendt 1970, S. 42). So entspreche „Macht“ „der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“ (H. Arendt 1970, S. 45). Arendt befürwortet also eine Auffassung der Macht als jene Bestimmungsform, die demo-kratisch entsteht und die ihre Ontologie der konsensualen bürgerlichen Bestimmung mittels des Gesetzes verdankt. Das bedeutet mit anderen Worten die Gesetzlichkeit als Form politischer Gleichheit und Tätigkeit. Allerdings passt dies nicht zum Mittelalter, wo die Herrschaft zwar konsensual ausgeübt wurde, aber von einem geschlossenen Kreise mancher Großen, die ihre Vorrangstellung aufgrund charismatischer und symbolischer (manchmal mythologischer) Überlegenheit rechtfertigten. 18 „Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes [...] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht. Denn das der Gegenwart Spezifische ist, dass man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur soweit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zulässt: Er gilt als alleinige Quelle des ‚Rechtes’ auf Gewaltsamkeit“ (M. Weber 1976, Bd. 2, S. 822); vgl. auch M. Weber 1966, S. 27ff. 19 Vgl. J. Hannig 1982, S. 299.

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sei sie die familia Dei oder die familia irgendeines irdischen dominus bzw. potentior. So ist die pax die Bemühung der Kirche, jene Aufgabe zu übernehmen, die ihr von Christus übertragen, vom König aber zum Merkmal und zur Rechtfertigung seiner eigenen Herrschaft in den Dienst genommen wurde: „[W]er unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern, dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele (Mt 20, 26-28).“

Folglich ist die potestas die Verheißung, die Schöpfung Gottes zu verwalten und die Verantwortung dafür zu tragen.20 Im Mittelalter liegt, wie es die Kirche immer wieder erneut betonte, das „Gewaltmonopol“ bei Gott. Ich vermeide es aber, über ein Monopol solcher Art in Bezug auf Gott zu reden. Jegliches Monopol setzt einen Monopolisierungsvorgang – und logischerweise einen ursprünglich „monopollosen“ Zustand – voraus. Bei Gott jedoch ist dies nicht der Fall. Die einfache Existenz Gottes, als Ursache der Existenz der Welt, macht aus ihm die Quelle der Gewalt. Gott monopolisiert diese nicht, weil er sie durch sein einfaches Existieren innehat. Er ist Maßstab der Schöpfung. Durch seine Existenz, die er auch der Kreation erteilt, und noch mehr durch seine im schöpferischen Akt offenbarte Natur setzt er die „Grenzen“ des Kosmos fest, im ontologischen, aber auch im moralischen Sinne. Damit übt er eine ontologische Gewalt aus. Wir sind so, weil Gott so ist, und wir können auch nicht anders sein, also können wir keine anderen Kategorien von Gut und Böse haben. So ist das „Böse“ das, was Gott nicht ist. Aber weil Gott die Existenz überhaupt ist, hat das „Böse“ keine Existenz in se. Dies wurde bereits von Augustin begriffen und im Hochmittelalter von der Kirche – der Vertreterin Gottes auf Erden – politisch-theoretisch umzusetzen versucht. Hier zeichnen sich die ersten Schritte eines Machtdiskurses ab, die im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit in der staatlichen Machtbildung kulminieren werden. Da jedes Anordnen und Verwalten auch mit Kontrolle und Gewalt (violentia)21 verbunden ist, spitzt sich die Entwicklung notwendigerweise in einer Gewaltmonopolisierung zu.22 In unserer Zeit aber (10.-11. Jahrhundert) wohnen wir zum ersten Mal einer Bildung der familia Dei unter der unmittelbaren Beobachtung und Beschirmung seitens der kirchlichen Institution bei, die funktionell alle Schichten miteinbeziehen und somit die Schöpfung wieder „perfekt“, im Sinne jener Zeit vor dem Sündenfall, herstellen möchte. Diese „Perfektion“ wird als Hierarchie und Zusammenarbeit nach dem Bild der himmlischen Ordnung aufgefasst. Es ist kein Zufall, dass die christliche 20

Vgl. S. Weinfurter 2005, S. 46. Vgl. B. Waldenfels 2000, S. 10. 22 Vgl. die kurze begriffliche Untersuchung bei C. Künzel 2005, S. 117f. 21

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Theologie des Mittelalters und die politische Sprache oft von potestates statt potestas sprechen, d. h. ein gleichzeitiges Existieren und Handeln verschiedener bestimmungsbefugter Ordnungsinstanzen – freilich unter der Führung der Kirche als Vertreterin Gottes. Verglichen mit dem heutigen Macht- und Staatsbegriff wäre beispielsweise die Polizei der Pax-Milizen eine „korrupte“ Institution, da sie nicht objektiv das öffentliche Leben schützt – vielleicht nur in ideeller und theoretischer Weise –, in der Praxis aber letzten Endes private Angelegenheiten der Bischöfe, der Fürsten und des Königs durchsetzt. Die pax Dei versucht im Endeffekt die Wiederherstellung der bereits angesprochenen konsensualen Herrschaft, d. h. des gesellschaftlichen Konsensus’ der karolingischen Epoche. Dafür spricht, dass die PaxOrdnungen Frucht der sozialen Verhandlungen und des konsensualen Abkommens der Kirche, der Magnaten und – passiverweise – des Volkes waren. Der Sinn der Pax ist die Schaffung eines sozialen Korpus, einer Gemeinschaft von Individuen, welche nach hierarchischen Stufen strukturiert ist. Dies bestätigt die Tatsache, dass eben diese „Gemeinschaft“ im 10. bis 11. Jahrhundert ein fragiles Wesen ist, indem die „Individuen“ – eigentlich soziale familiale Segmente – sich dem allgemeinen Trend entgegenstellen und den „Frieden“ brechen können. Da es also keine transpersonelle Autoritätsdurchsetzung gibt, sind die Gesellschaftstendenzen des Mittelalters einem idealen – abgesehen von Hierarchien und politischem Spiel – konsensualen Korpus wesentlich ähnlicher. Dies ist ein Unterschied im Vergleich zu den modernen „staatlich regierten“ Gesellschaften23, wo der Sozialkorpus von der „Materialität der Macht über den Körper der Individuen“24 gebildet wird. Im Mittelalter haben zumindest manche Kategorien – Bischöfe, lokale Seigneurs usw. – die Möglichkeit, sich von der „Allgemeinheit“, die es eigentlich außerhalb des Konsensus’ gar nicht gibt, abzutrennen. Das Mittelalter kennt kein internationales Recht und auch keine universell geltenden Menschenrechte, weil es eben keinen modernen Macht- und Staatsbegriff gab; deswegen ist jede Gewalt und jeder Raptus gerechtfertigt, solange sie im Interesse der eigenen „Allgemeinheit“ geschehen. Die geografischen Grenzen sind im Mittelalter durch eine enorme Mobilität überflüssig gemacht worden und daher bestanden nur Handlungs- und Herrschaftsräume, die allerdings ebenso relativ fließend waren und ständig behauptet werden mussten.

23 „Und dieser Regierungsstaat, der sich wesentlich auf die Bevölkerung stützt und sich auf die Instrumente des ökonomischen Wissens beruft und davon Gebrauch macht, entspräche einer durch die Sicherheitsdispositive kontrollierten Gesellschaft“ (M. Foucault 2005, S. 173). 24 M. Foucault 2005, S. 74.

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Solche Tatsachen lassen sich meiner Meinung nach als Ehranschauungen lesen und in solche übersetzen. Bei den ersten zwei Funktionen (die Geistlichkeit bzw. die Militärelite) wurde deren Ehrsemantik bereits seit der indoeuropäischen protohistorischen Zeit durch spektakuläre symbolische Akte und Handlungen, in Ritualen, geäußert. Bei der dritten Funktion dagegen sind die Elemente ihrer Ehrsemantik nicht-ostentativer alltäglicher Natur: Während ein Krieger z. B. seine kriegerische Kühnheit symbolisch zeigt, indem er die Köpfe seiner besiegten Feinde sammelt25 und die unter ihm in der Schlacht gestorbenen Pferde zählt, entwickelt das Bauertum keinen offensichtlichen Ehrdiskurs. Das bedeutet nicht, dass er keine „Ehre“ hätte, sondern dass diese in dem alltäglichen „banalen“ Handeln zu suchen ist, indem der villanus mit Sturheit und Durchhaltevermögen das ganze Jahr hindurch seiner Arbeit nachgeht. So ist die Ehre an sich und die damit verbundene Semantik außerhalb des Handlungsraums, der durch die Aneignung bestimmter Praktiken und Vorgänge konstituiert wird, undenkbar. Ein Mensch – welchen Standes auch immer – darf nicht alles, wenn er ein „funktionales“ Mitglied seiner Kategorie bleiben will. Daher reden wir über Grenzen, sprich über Handlungsräume. In dieser Hinsicht spielt das Symbol die Rolle eines aktiven Diskurses über jene Tatsachen, von denen man nicht auf andere Weise „erzählen“ kann. Ein Krieger sammelt die Köpfe seiner Feinde, weil er nicht mehr die Kämpfe an sich und ihre Relevanz für seine kriegerische Ehre aufführen kann. Solche Symbolik schlägt sich aber auch mythologisch nieder, indem die vorchristlichen Götter der Funktionen (ordines) bestimmte Epitheta und Eigenschaften aufweisen, die den anderen Göttern nicht bzw. nur bedingt zugänglich sind. So werden die hinduistischen Asvins als Besitzer vieler Herden bezeichnet, während Indra, der Kriegsgott, dies nicht für sich in Anspruch nimmt – und er braucht es auch nicht für seinen Ehrdiskurs. So sind in der Mythologie und im symbolischen Handeln die Symbole eben zu Zeichen geworden; sie sind selbstverständlich und daher keiner Interpretation und Übersetzung mehr bedürftig, sondern erlangen eine apriorische Aussagekraft. Deswegen können die Zeichen in den Ehrdiskursen der traditionellen Gesellschaften als Symbole wahrgenommen werden und umgekehrt, weil sie schließlich ein und dasselbe sind. Während man heute in dem Diskurs der Macht zwischen Zeichen und Symbol unterscheidet, war dies in den älteren Kulturen unmöglich, da eben die gesamte Welt ein Zeichen Gottes schlechthin war und gleichzeitig ein Symbol seiner unbeschreiblichen Allmacht und Weisheit. Die Mythologie erfüllt gewissermaßen die Funktion eines Dekantors jener gesellschaftlichen Verhältnisse, welche – im Sinne

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Vgl. BEOWULF, 1420, S. 95 und 1612-14, S. 103.

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Bourdieus und seines Habitus-Konzepts26 – auf der sozialen Ebene in symbolischer Sprache festgelegt und nicht hinterfragbar sind. Daher ist die Ehrsemantik ein Medium (im Sinne einer Umwelt, nicht einer Vermittlung!) der Ehre. Ehre lässt sich in der Ehrsemantik „erzählen“, sie ist die soziale Wirklichkeit eines Individuums und muss vermittelt werden, um zu existieren; sie ist aber auch vermittlungsfähig, d. h., sie muss jenen Verständniskategorien entsprechen, die eben ihre Vermittelbarkeit bestimmen: Man kann nicht etwas vermitteln oder mitteilen, wenn es nicht verstanden wird. Somit ist die Ehre dialogische soziale Ontologie als Ergebnis eines Vermittlungsprozesses. Individuen können gesellschaftlich nicht ohne „Ehre“ existieren, sie können nur als in der Wüste lebende Einsiedler ohne Ehre auskommen. Und selbst dies ist zu relativieren. Funktion, Ordnung, Stand. Die Mediävisten, die sich mit den drei ordines beschäftigen, nämlich den oratores, laboratores und agricultores, sind in ihrer Meinung gespalten. Georges Duby z. B. bevorzugt die Bezeichnung Ordnung, die wörtliche Übersetzung des von den Quellen verwendeten Begriffs ordo, eines Terminus, der semantisch der Dumézilschen fonction viel näher steht. Wie ich aufzeigen werde, meinte der Franzose Georges Dumézil mit „Funktion“ sowohl ein existenzielles Gebilde (z. B. Hunger, Sicherheitsbedürfnis usw.) als auch die gesellschaftliche und funktional bestimmte Konkretisierung dieses Gebildes, die sogenannten „Funktionen“, die in ihren eigenen Lebensformen, Mythologie, Ehre usw., die Existenz wahrnehmen und deuten. Sie besitzen eine spezifische Weltanschauung, verhalten sich den anderen „Ordnungen“ gegenüber misstrauisch und verachten sie häufig. Diese dreigeteilte Betrachtungs- und Deutungsweise ist 26

„Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, um als strukturierte Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen“ (P. Bourdieu 1987, S. 99). „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen“ (P. Bourdieu 1987, S. 101). Der Habitus gründet auf der Selbstverständlichkeit der Inhalte, „die unmittelbar verständlich und vorhersehbar sind und daher als evident und selbstverständlich wahrgenommen werden: Mit dem Habitus können die Praktiken und Werke mit einem geringeren Aufwand an Absicht nicht nur erzeugt, sondern auch entziffert werden“ (P. Bourdieu 1987, S. 108). Solche Inhalte und Handlungen gründen daher auf nicht hinterfragbaren, jedoch konstruierten Voraussetzungen.

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die über Jahrtausende hinweg existierende mentale Grundlage der mittelalterlichen Ideologie der drei Ordnungen, so wie sie sich im Hoch- und Spätmittelalter entwickelte und theoretisch fundiert wurde. „Funktion“ taucht sowohl bei Duby als auch bei Dumézil auf. 27 Die deutsche Mittelalterforschung, die der Dreiteilungsideologie skeptisch gegenübersteht28, verwendet vorzugsweise den Terminus „Stand“29, und verleiht ihm eine viel akzentuiertere soziale Prägung. Das heißt, religiös-symbolische Aspekte der menschlichen Assoziierungen werden in den Schatten der wirtschaftlich-sozialen Raison gestellt. Otto Brunner nennt das Mittelalter eine „Adelswelt“, wobei er unter „Welt“ keine soziale Schicht oder Kategorie versteht, sondern einen Lebensstil der gesamten (!) mittelalterlichen Gesellschaft30. Es ist aber eindeutig, dass er eine Kultur im Blick hat, welche von den für einen Stand spezifischen Werten dominiert ist. Da es unmöglich ist, dass alle Mitglieder der mittelalterlichen Gesellschaft das gleiche Leben führten, sollte unter „Adelswelt“ nur eine Welt verstanden werden, die von Vorgängen geprägt war, die für den Adel charakteristisch waren. Mit wenigen Ausnahmen betrachten die Deutschen die oben angesprochene Dumézilsche Tripartition als eine falsche Hypothese und sehen folglich in der mittelalterlichen Soziologie und Theologie die „Mutter“ der Dreiteilung, d. h., die drei ordines seien ein Produkt des europäischen Abendlandes. Es wird angenommen, dass die Stände erst im Hochmittelalter erschienen (ca. im 11. Jahrhundert)31 und bis dahin die gesamte Bevölkerung aus funktionell und wirtschaftlich nicht individualisierten Schichten bestand, z. B. aus Bauernkriegern oder aus Kriegern, die Ackerbau treiben usw. Nach der Meinung dieser Forscher gab es auch den damit gemeinten Stand nicht, solange es z. B. den Begriff „Bauer“ als solchen nicht gab.32 Die Argumentation aber ist grundsätzlich falsch, da, wie andere deutsche Forscher zeigen, schon in dem allgemeinen indoeuropäischen und altgermanischen Sprachkomplex Begriffe zu finden sind, die nur für spezifisch bäuerliche Tätigkeiten verwendet wurden. Bäuerliche Tätigkeiten (Ackerbau, Viehzucht usw.) und die sie ausübende Personen werden schon 27

Vgl. G. Duby 1981, passim. Ich werde diese Auseinandersetzung später aufgreifen. 29 Einerseits ist Duby diesem Begriff gegenüber misstrauisch und verwendet ihn in Anführungszeichen. Theoretisch aber ist sein Verständnis dieser menschlichen Sozialisationsformen der Weberschen Auffassung ähnlich, sie seien „soziale Verbände“; nur terminologisch steht Duby in einer gewissen Distanz zu Weber (vgl. G. Duby 1981, S. 11). 30 Vgl. O. Brunner 1949, S. 62. 31 Vgl. R. Wenskus 1975, S. 11. Manche legen ein viel späteres Datum fest: das 13. Jahrhundert (vgl. K. Bosl 1973, S. 8ff). 32 Vgl. R. Wenskus, S. 11ff. 28

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viel früher als im 11. Jahrhundert in der Lex Salica genannt.33 Trotz einer „Abwesenheit“ des Bauer-Begriffes gab es also sowohl im mentalen als auch im sprachlichen Bereich lexikalische Komplexe, die eine semantische und funktionelle Abgrenzung der bäuerlichen Kategorie schufen34, d. h. einer Kategorie mit ihren eigenen Werten, Betätigungen und Weltanschauungen. Der Ritterstand (ordo militaris) wird bereits im 9. Jahrhundert genannt35. Folglich muss es manche Eigenschaften gegeben haben, die diesen ordo individualisierten und sie als solche – als eigenartige spezifische Ordnung – wahrzunehmen empfahlen. Meistens halten sich deutsche Forscher, wenn sie die Stände betrachten, an die Definition dieses Begriffes von Max Weber. Für ihn ist der Stand ein Verband mehrerer Menschen, die an einer spezifischen Lebensführung, an einer eigenen Art und Weise der Erziehung festhalten und an dem eigenen Abstammungsprestige interessiert sind.36 Der Stand kann nicht, so Weber, als Klasse betrachtet werden, da diese wirtschaftliche Grundlagen habe37, d. h., die Klassen würden anhand von Erwerb, Besitz, Eigentum sowie anhand der Methoden, durch die man diese Postulate erreicht, unterschieden werden. Die der Weberschen Auffassung des Standes ähnlichste Bedeutung haben die sozialen Klassen, die von persönlichen Beziehungen über Generationen hinweg geprägt sind. „Dem ‚Stand’ steht von den ‚Klassen’ die ‚soziale’ Klasse am nächsten, die ‚Erwerbklasse’ am fernsten“.38 Indem sich der Stand um eine gemeinsame Ehre herum strukturiert, postuliert Weber eine symbolische Prämisse der Standesbildung.39 Von seiner Meinung sind bislang die meisten deutschen Forscher, welche die drei mittelalterlichen Stände untersucht haben, beeinflusst.40 Der Franzose Emile Durkheim bot hingegen keine direkte Definition des Standes. Für ihn, wie seine Kommentatoren zeigen, ist die Arbeit an sich als eine sozialmaterielle Bedingung das Fundament jeder menschlichen Assoziierung, d. h. der Gesellschaft und ihrer Schichten. Der Stand selbst sei logischerweise nur ein Ergebnis der Arbeitsteilung in den entwickelten Kulturen, und die symbolischen Koordinaten (wie z. B. die Ehre), die Weber zufolge einen Stand individualisieren, seien nur sublimierte Projektionen der sozial33

Vgl. R. Schmidt-Wiegand 1975, S. 129ff. Vgl. W. P. Schmid 1975, S. 222ff und K. Ranke 1975, S. 206. 35 Vgl. G. Köhler 1886, S. 17. 36 Vgl. M. Weber 1976, S. 179f. Andere Definition siehe bei J. Kocka 1979, S. 138. 37 Vgl. M. Weber 1976, S. 177f. Andere Definition bei J. Kocka 1979, S. 139. 38 Vgl. M. Weber 1976 S. 180. Diese Logik erlaubt K. Bosl, die Benennung „Klasse“ bzw. „Schichten“ zu bevorzugen (vgl. K. Bosl 1973). 39 M. Weber 1988, S. 41: „‚Stand’ ist eine Qualität sozialer Ehre oder Ehrlosigkeit und wird, dem Schwerpunkt nach, durch eine bestimmte Art der Lebensführung sowohl bedingt wie ausgedrückt“. 40 Siehe z. B. die Definition des Standes bei R. Schmidt-Wiegand 1975, S. 128. 34

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materiellen Bedingungen.41 Diese Meinung ist ebenfalls bei manchen deutschen Mediävisten zu finden42, die behaupten, dass die Erscheinung des bäuerlichen Standes nur wirtschaftliche Gründe habe, d. h., der steigende Bedarf der Adligen an Vorräten, Waffen und Pferden habe zur Folge gehabt, dass sich manche Mitglieder der Gesellschaft nur den diesem Bedarf entsprechenden Tätigkeiten widmeten. Diese Betrachtungsweise ist wohl nicht grundsätzlich abzulehnen: Die Stände als soziale Verbände sind tatsächlich spät aufgekommen und rechtlich verfasst worden. Ihre offenkundig wirtschaftliche Prägung – im Fall des dritten Standes – erscheint ebenfalls spät, zusammen mit einem starken Selbstbewusstsein angesichts der eigenen Rolle im Kosmos. Aber diese Erscheinung ist nicht plötzlich und zufällig und auf keinen Fall nur von sozial-wirtschaftlichen Motoren verursacht. Es muss Denkmechanismen, Begriffe und mythisch bzw. magisch begründete Vorgänge gegeben haben, die den „neu“ erschienenen sozialen Kategorien eine mentale Einbettung vermitteln sollten. Man konnte im Hochmittelalter nicht das Bauerntum als eigenständigen ordo betrachten, sprich als eine bestimmte, nach eigenen Werten, Anschauungen und Hoffnungen gestaltete Kategorie, ohne dass man zuerst (zumindest mental) eine Differenzierung derjenigen Werte schuf und diese in Einheiten strukturierte, die nach Weber um verschiedene religiös-symbolische Kerne herum gebildet waren. Ich meine also, dass die symbolischen und individualitätsverleihenden mentalen Fundamente der hochmittelalterlichen Stände bereits mehrere Jahrtausende zuvor entstanden sind.43 Die mir am nähesten stehende Auffassung der sozialen Funktion, so wie sie von Dumézil begriffen wurde, beruht auf den kulturphilosophischen Kategorien Ernst Cassirers (†1945).44 Sein Entwurf über die Entstehung und Funktionsweise einer Kultur gliedert sich in drei Dimensionen der Erkenntnis. Als Beispiel seiner Theorie zieht er Raffaels „Schule von Athen“ heran. Die erste Dimension des Kontaktes mit diesem Gegenstand sei das Sehen einer „Leinwand, die mit Farbflecken von bestimmter Qualität und in bestimmter räumlicher Anordnung bedeckt ist“.45 In diesem Moment ist das Gemälde nichts anderes als ein „Ding unter Dingen“. Aber durch unsere Versenkung in die Darstellung des Gegenstandes dringen wir zu den anderen zwei Dimensionen durch: 1. „Die Farben auf dem Gemälde Raffaels haben ‚Darstellungsfunktion’, sofern sie auf ein Objektives hin41 Vgl. alles mit dem Kommentar von N. Luhmann (E. Durkheim 1988, ab S. 19). Der Mechanismus sei: Gesellschaft → Kollektivbewusstsein → Solidarität → Moral → Recht (E. Durkheim, S. 25). 42 Z. B. bei R. Wenskus 1975, ab S. 11. 43 Die Mentalitäten entstehen und sterben langsam, wie Duby bemerkt (vgl. G. Duby 1977b, S. 88 und 217f). 44 Obwohl ich nicht weiß, ob Dumézil selbst mit dem Werk Cassirers vertraut war. 45 E. Cassirer 1961, S. 43.

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weisen. Wir verlieren uns nicht in ihrer Betrachtung, wir sehen sie nicht als Farben; sondern wir sehen durch sie ein Gegenständliches, eine bestimmte Szene, ein Gespräch zwischen zwei Philosophen“ und 2. „Das Gemälde ist nicht einfach die Darstellung einer historischen Szene, eines Gesprächs zwischen Platon und Aristoteles. Denn nicht Platon und Aristoteles, sondern Raffael ist es, der hier in Wahrheit zu uns spricht“. Daraus folgt: „Diese drei Dimensionen: Die Dimension des physischen Daseins, des GegenständlichDargestellten, des Persönlich-Ausgedrückten sind bestimmend und nötig für alles, was nicht bloß ‚Wirkung’, sondern ‚Werk’ ist, und was in diesem Sinne nicht nur der ‚Natur’, sondern auch der ‚Kultur’ angehört“.46 Die Kultur besteht aus Symbolen als Formen der Ausdrucksvermittlung und wahrnehmung. In diesem Sinne ist das Symbol das aktive Dasein des Gegenständlich-Dargestellten, das das Gegenständlich-Dargestellte zum Persönlich-Ausgedrückten macht. Nichts kann als existierend erkannt werden, ohne es symbolisch – d. h. in seinem Ausdrücklichen – wahrzunehmen, zu bewerten und auf andere Weise wieder zu interpretieren. Im sozialen Bereich ließe sich dieses Kulturverständnis folgendermaßen umsetzen: Das Symbol ist in der Gesellschaft ‚Funktion’, die das Fortleben – das Gegenständlich-Dargestellte – in persönlichem47 bzw. einheitlichem Ausdruck sichert, indem „es“ – das physische Datum: Hunger, Angst, Schmerz – sich z. B. als Sicherheitsbedürfnis, Ordnungsbedürfnis darstellen lässt. Auf diese Gegenstandswahrnehmung (Sicherheitsbedürfnis, Ordnungsbedürfnis) wird reagiert, indem die Gesellschaft funktionellpragmatisch handelt, um diese „Nöte“ zu erleben (im Sinne von Erfüllen). Diese sozialen Entitäten – die Funktionen – sind demzufolge symbolhafte gesellschaftliche Kategorien, die den Gegenstand (das wahrgenommene physische Datum) des Hungers, Schmerzes, z. B. in dem Sicherheitsbedürfnis als Gegenständlich-Dargestellten handelnd bearbeiten und erleben (in einheitlichen Ausdrucksformen und Symbolen). Wenn wir aber bereits über Handlungen und Einheitliches im sozialen Sinne sprechen, reden wir im Endeffekt über spezifische Ausdrucksdimensionen, die sich an Ehre, Geltung und Funktionalität beobachten und verstehen lassen. Die Ehrsemantik ist die Sprache der Funktion – der aktiven Bearbeitung des sozialen Gegenstandes –, in der die gesellschaftlichen Kategorien ihr Dasein deuten. Eine genaue Benennung der unterschiedlichen sozialen Assoziierungsformen der Antike und des mittelalterlichen Europas ist allerdings schwer 46

Alle Zitate dieses Paragrafen stammen von E. Cassirer 1961, S. 43. D. h. dialogisch: „Wenn die Menschen durchaus nur Individuen und nicht Personen wären, so ließe sich nicht einsehen, wie sie zur Führung eines Gesprächs [bzw. eines gesellschaftlichen Zusammenlebens] welches doch Mitteilung, also geistige [bzw. soziale] Teilung und Vereinigung ist, gelangen könnten“ (E. Cassirer 1961, S. 54). 47

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zu finden, da eigentlich jeder von den bislang vorgeschlagenen Begriffen seine Berechtigung hat. Es ist mir wichtiger zu zeigen, wie diese Schichten und ihre Wertsysteme interagieren, als mich in einer endlosen analytischen Untersuchung zu verlieren, die nicht das direkte Ziel meiner Arbeit ist. Sowohl „Funktion“, „Ordnung“, „Schicht“, „Kaste“48 als auch „Stand“ oder „Klasse“ werden mir helfen, diejenigen sozialen Lebensformen zu begreifen, die sich in ihr Zentrum einen ihnen spezifischen religiös-symbolischen Kern von Wertungen und Prioritäten stellten, der ihnen eben für das soziale Fortleben wesentlich erschien. Alles wird aber auch auf einen transzendenten Sinn hin projiziert. Wertung und Wert. Es wurde gezeigt, dass der Wert-Begriff eine ökonomisch bedingte Sprachkategorie des 18. Jahrhunderts ist, die dem wirtschaftlichen Sprachkomplex und Denken entspringt und durch einen Bedeutungswandel zum Hauptbegriff der Politik- und Sozialwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts wurde. „Der Sprachkomplex der Werte, in dem sich Umdeutung und Neologismus mischen, signalisiert den Durchbruch eines neuen gesellschaftlichen Existenzverständnisses, das den Kernbestand der alteuropäischen ethisch-politischen Sprache radikal eliminiert hat“.49 Dieser Tatsache sind sich allerdings die meisten Forscher der Soziologie, Politologie, Geschichte und anderer Sozialwissenschaften nicht bewusst, daher bekam der Terminus „Wert“ eine weitgehend nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit. Die vorliegende Arbeit macht, wegen seiner gerade angesprochenen Gängigkeit, ebenfalls häufig von diesem Begriff Gebrauch; der Wortinhalt von „Wert“ – eine wichtige Forschungskategorie der symbolischen Sprache und Systeme – ließe sich aber besser mit dem Begriff „Wertung“ wiedergeben, so wie ihn Charles Taylor hinsichtlich der Psychologie des sich „selbstinterpretierenden Subjektes“ auffasst.50 Taylor verknüpft aber die subjektive Ebene des Individuums nicht mit der metasubjektiven Umwelt der Gesellschaft, im Sinne von transpersonellen und überindividuellen Bestimmungskategorien des menschlichen Lebens, die sich in den Wertungsvorgängen materialisieren. Der Diskurs von Werten verliert durch die „Wertung“ jeden Anspruch auf eine Objektivität, die die Werte eigentlich nicht besitzen.51 Der Wertungsbegriff weist daher eine 48

Vgl. M. Weber 1988, S. 36. J. Gebhardt 1989, S. 36. 50 Vgl. C. Taylor 1988, S. 49. Taylor spricht an dieser Stelle von den „starken Wertungen“. Die Wertungen sind stark, weil sie – trotz fehlender objektiver apriorischer Instanzen – den personellen Einstellungen der „Bewunderung“ bzw. der „Verachtung“ als Basis dienen (vgl. C. Taylor 1994, S. 17). 51 Hier verfehlt Taylor die Pointe der sozialen Verortung des wertenden Subjektes, indem er meint, dass die Wertungen „sich auf den qualitativen Wert unterschiedlicher Wünsche“ beziehen (C. Taylor 1988, S. 11). Somit wird der Wert weiterhin objektiviert, 49

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erhöhte Flexibilität auf. Durch Wertungen bilden unterschiedliche „ethische“ Gruppen, d. h. Handlungsgemeinschaften52, ihre Urteilskategorien von „richtig“ und „falsch“, „gut“ und „böse“, „tauglich“ und „untauglich“ aus. Folglich werden die Individuen nach Maßstäben „bewertet“, welche von ihren eigenen „Vorlieben und Wünschen unabhängig sind“.53 Deshalb weist die Bezeichnung „Wertung“ auf die gemeinschaftlich bestehende Kraft einer nicht objektiven Urteilsinstanz hin, die durch in einem Ehrsystem koagulierte Wertungsvorgänge die Gruppenmitglieder einstuft. „Wertung“ meint demnach einen bedingten und aktiven Regelungsvorgang jeder funktionalen Sozialkategorie. Dagegen beansprucht „Wert“ eine apriorische übergesellschaftliche Selbstverständlichkeit, die einigermaßen erstarrt und passiv wirkt. Die Wertung entsteht aufgrund dynamischer und ständiger Erfahrung der Menschen, und obwohl sie manchmal sehr „konservativ“ ist, kann sie sich doch wandeln. Sie beruht auf der institutionalisierungsfähigen Tradition eines positiven menschlichen bzw. sozialen Verhältnisses zu einer gegebenen Tatsache. In dieser Hinsicht ist die Ehre die Anpassung an ein überpersonelles Denk- und Erwartungsmuster einer bestimmten Gruppe durch einen Wertungskomplex. Durch diese Erläuterungen sollte klargestellt werden, dass, wenn in dieser Arbeit die gängige Bezeichnung „Wert“ auftauchen sollte, damit die semantische Sphäre von „Wertung“ anvisiert wird. Symbolisches Kapital. Das Konzept „symbolisches Kapital“ verdanke ich Pierre Bourdieu. Obwohl der Terminus von Marx und nach ihm von der neo-marxistischen Soziologie gebraucht wurde, ist er mit manchen Nuancierungen doch zur Verwendung hinsichtlich der mittelalterlichen Ehrsemantik tauglich. „Kapital“ soll in diesem Zusammenhang nicht wirtschaftsgeschichtlich verstanden werden, da es in diesem Sinne anachronistisch erscheint. „Kapital“ soll, wie es üblich ist, im Sinne eines Akkumulationsvorgangs aufgefasst werden, der sich nach dem Ziel und der Art dieser Akkumulation differenzieren und benennen lässt. So taucht ein symbolisches bzw. religiöses Kapital auf, wo das ökonomische keine Geltung findet. Sie sind in den archaischen Gesellschaften eher parallele Konstrukte, keine unbedingt zusammenhängenden. Ferner sind sie nicht in wobei allerdings übersehen wird, dass auch dieser „qualitative Wert“ ebenso das Ergebnis eines sozialen und erzieherischen Wertungsprozesses über Generationen hinweg und dessen Institutionalisierung als „Wert“ ist. 52 Die gerade genannten „starken Wertungen“ beziehen sich auf die Eigenschaften von Handlungen (vgl. C. Taylor 1988, Anm. 4, S. 13f); sie sind nicht mehr kontingent, d. h. von äußeren Umständen abhängig (wie die „schwachen Wertungen“, so Taylor), sondern sind die wertende Unterscheidung zwischen „richtigen“ und „falschen“ Handlungen (vgl. C. Taylor 1988, S. 15). 53 Vgl. C. Taylor 1994, S. 17.

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der verkehrten Ordnung Pierre Bourdieus zu betrachten; er meinte, das religiöse und das symbolische Kapital seien nichts anderes als Verschleierungsformen des eigentlichen ökonomischen Sinns des „primitiven“ wirtschaftlichen Denkens traditioneller Gesellschaften54, was jedoch gerade durch die starke Ablehnung materieller Inhalte und deren starke Sublimierung in den archaischen Gesellschaften widerlegt wird: Der „traditionelle“ Mensch erstrebte keinen Reichtum, sondern verfolgte symbolische jenseitsgerichtete Zwecke; sonst könnten wirtschaftlich absolut unproduktive Tätigkeiten nicht verstanden werden, z. B. das Bebauen eines völlig erschöpften und unfruchtbar gewordenen Grundstücks, nur weil es seit Generationen einer Familie gehört. In solchen traditionsorientierten Gesellschaften ist es sowieso schwer, das Materiell-Ökonomische von dem Symbolischen zu trennen.55 Der Begriff „Kapital“ lässt sich also nur sinnvoll verwenden, solange er als Kategorie akkumulativen Verfahrens materieller, aber vorwiegend symbolisch-religiöser Natur verstanden wird; es handelt sich um „EtwasAkkumulieren“, materiellen Reichtum oder Ehre bzw. Heil im religiösen Sinne. Dies wird mir helfen, diesen Terminus zur Konturierung der Ehre als integrative soziale Semantik – die sich jedoch in den archaischen Kulturen messbar, vermehrbar usw., also als Kategorie einer materiellen quantitativen Auffassung erweist – sowie zur Unterscheidung des Verschwendungs- und Akkumulationsethos einzusetzen. Der Begriff wird mir folglich dabei helfen, die „Realität“ einerseits und die innere Bedeutung der Handlungen andererseits zu zeigen, welche jenseits des Materiellen liegen. Die Handlungen haben ihnen innewohnende, tief liegende Inhalte, die, obgleich sie immateriell bzw. immateriell aus54

„In einer Wirtschaftsform, die dadurch definiert ist, dass sie sich weigert, die ‚objektive’ Wahrheit der ‚ökonomischen’ Praktiken anzuerkennen, d. h. das Gesetz des ‚nackten Interesses’ und der ‚egoistischen Berechnung’, kann das ‚ökonomische’ Kapital selbst nur wirken, wenn es auch um den Preis einer Rückverwandlung [...] Anerkennung findet: das symbolische Kapital ist jenes verneinte, als legitim anerkannte, also als solches verkannte Kapital [...], das gewiss zusammen mit dem religiösen Kapital dort die einzig mögliche Form der Akkumulation darstellt, wo das ökonomische Kapital nicht anerkannt wird“ (P. Bourdieu 1987, S. 215). 55 Wie es z. B. Ruth Groh versucht: Sie teilt das menschlich-soziale Handeln in zwei Modelle ein, in das horizontale Modell, das nach dem ökonomischen Prinzip des Ausgleichs funktioniere und in das vertikale Modell, das auf dem hierarchischen Prinzip der Macht bzw. Gewalt-Anwendung fußt (vgl. R. Groh 2005, S. 218ff und R. Groh 2006, S. 345ff). Eine solche Einteilung finde ich aber unplausibel, weil die archaischen Gesellschaften nicht nach den heutigen Kategorien des Materiellen bzw. Symbolischen dachten; somit sind auch die Begriffe des Ökonomischen und Hierarchischen hinsichtlich der archaischen Kulturen noch einmal zu überprüfen. In den sakral geprägten und motivierten Kulturen verschmolzen Handeln und Ideal in einem gemeinsamen Telos, dem Jenseits.

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gerichtet sind, doch quantifiziert, überprüft, verglichen und „gehandelt“ werden können. Daher spreche ich über eine Kapitalform, die sich allerdings symbolisch deuten lässt. „Symbolisch“ ist in diesem Zusammenhang nur ein Epitheton, wie gerade Bourdieu es auffasst, der kein „Symbol“ in se definiert, weil das Verstehen des „überökonomischen Kapitals“ nur relational, also adjektivisch, eben „symbolisch“ zustande kommen kann. Das Adjektiv „Symbolisch“ erhält seinen Sinn aus der Vermittlungsfunktion zwischen der akkumulativen/materiellen und der inneren postakkumulativen/postökonomischen Bedeutung des Ausdrucks „symbolisches Kapital“.

II. Das vielfältige Ethos der Ehre. Eine Orientierung Die Ehre als allgemeines Phänomen Motto: „Ehre ist des Lebens einziger Gewinn; nehmt Ehre weg, so ist mein Leben hin.“ (Norfolk in Richard III.) Im Jahre 1909 veröffentlichte Ferdinand Kattenbusch, Theologie-Professor in Halle, ein Buch, das zum Anhaltspunkt der Erforschung eines bestimmten sozialen Phänomens wurde: „Ehren und Ehre“. Für ihn als Theologe ist natürlich die Wahrnehmung der Ehre zunächst bei Christus selbst am wichtigsten, dann bei den anderen Verfassern der neutestamentlichen Schriften. In seinem Buch kommt Kattenbusch zur bitteren Erkenntnis, dass zwei „Christentümer“ existieren: „[D]as Christentum, ich meine nicht das vielfach deklarierte, oft unheimlich auf Ehren bedachte Christentum der langen Zeit, die uns von Jesus trennt, sondern das Christentum, welches sich auf das Evangelium besinnt, von Ehre nichts wissen will“.1 Die christliche Kultur unterscheidet sich durch die Tyrannei der Zeit von der ursprünglichen Botschaft Christi. Weiterhin sehen wir: Was der einen „Christentumsform“ so fremd ist, ist der anderen so wertvoll, nämlich die Ehre als rivalisierende Aggressivität. Kattenbusch behauptet, dass die einzig gültige Ehre jene sei, die den Christen gehört; er spricht in diesem Zusammenhang von der Aristokratie der „zweimal geborenen“ Kinder, d. h. der Christen, die als Menschen, und, noch wichtiger, als Söhne Gottes geboren sind. Die einzig anzuerkennende Ehre also sei die der reinen Seele2, des teuersten Schatzes des Menschen. Er schließt die Darlegung seiner persönlichen theo1

F. Kattenbusch 1909, S. 24. Natürlich geht die Liebe für die christlichen Ethiker vor: „Der Christ ist bereit, um der Liebe willen oft auf Werbung und Wahrung der tatsächlichen Ehre vor den Mitmenschen zu verzichten“ (R. Egenter 1937, S. 9). Die einzig gültige Ehre des Menschen erkläre sich in der christlichen Moraltheologie nur aus seiner Gottesebenbildlichkeit: „[D]enn alles im Christenleben ist ja Abbild, Menschenehre ist Gleichnis der Gottesehre“ (R. Egenter, S. 151 und S. 123). Es bleibt die schwierige Aufgabe dieser Arbeit, zu zeigen, dass sich die kulturgeschichtlichen Tatsachen hinsichtlich der Ehre von dieser idealisierenden Anschauung wesentlich unterscheiden. 2

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logischen Anschauung von der Ehre mit folgenden Worten ab: „Wenn Sitte und Recht, lebendige eigenartige Volksempfindung und scharfe psychologisch charakterologische Überlegung der Philosophen die Gedanken über die Ehre verbreitet und vertieft, verdeutlicht und veredelt hatten, ist es doch der Religion vorbehalten gewesen, vollends herauszuarbeiten, was wir ohne Widerspruch jetzt schon lange gelten lassen, dass nicht nur Ehre und soziales konventionelles Ansehen, auch nicht nur Ehre und Seinsgefühl der Person für berechtigten Anspruch ihrer selbst und anderer an sie, sondern darüber hinaus Ehre und Gewissen, Ehre und um des Gewissens willen souveräne Selbstbehauptung zueinander gehören“.3 Wir müssen jedoch zugeben, dass dies noch ein rein theologisch-theoretisches Ideal ist.4 Die präzisere Forschung über das Phänomen der Ehre kann nur erkennen, was wichtig und wertvoll in den Augen der Menschheit ist5, nämlich die Ehre als konventionelles Ansehen, als gesellschaftliche Anerkennung, als Wettbewerb, Herausforderung und Kampf.6

Was ist Ehre? „Ehre ist im allgemeinen Sprachgebrauch die Zuerkennung persönlicher Integrität. Als solche besteht sie unabhängig von besonderen Ehrungen, durch welche hervorgehobene Leistungen gewürdigt werden. Deshalb ist sie im Unterschied zu ‚Ehrungen’ und zu ‚Ruhm’ nicht quantifizierbar. Sie drückt vielmehr einen qualitativen personalen Rang aus: den der Vertrauenswürdigkeit. Insofern kennt sie keinen Komparativ und unterliegt der Alternative, entweder gegeben oder nicht gegeben zu sein“.7 „Ehre ist das soziale Entgelt für die Erfüllung von Statuspflichten“.8 In den Ehrkonstrukten wird der Einzelne als Teil des Ganzen betrachtet; die Gemeinschaft ist also die entscheidende Urteilsinstanz, die Ehre als Regulierungsmittel benutzt und die in der gemeinsamen Ehre ihre Existenzquelle hat.9 Die Ehre (und damit meine ich alle anderen Begriffe und Wendungen, die diesem Bereich angehören) ist vielleicht der wichtigste Kommunikations- und Sozialisationsraum des menschlichen Daseins. Als Tatsache unserer Welt 3

F. Kattenbusch 1909, S. 27. Eine extrem trocken-abstrakte Analyse der Ehre macht Otto H. Nebe. Seine Soliloquien haben keine Relevanz für die reale Frömmigkeitsgeschichte und Anthropologie (vgl. O. H. Nebe 1936, S. 83ff). 5 Vgl. M. Dinges 1995, S. 30f. 6 H. Emmel behauptet, dass mit der altgermanischen ere des Menschen „das ganze Sein“ gemeint sei (vgl. H. Emmel 1936, S. 11). 7 H. Thielicke 1982, S. 362. 6 J. Stagl 1994, S. 36. 9 Vgl. O. H. Nebe 1936, S. 26. 4

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überschreitet sie die puren theoretischen Grenzen und erhält pragmatische sozial-konstitutive Akzente, sie ist gemeinsamer Schatz der Gesellschaft, oftmals materiell und quantifizierbar vorgestellt. Da die Ehre in Relation zu verschiedenen Anhaltspunkten steht10, d. h., dass es unterschiedliche „Institutionen“ und Wertungssysteme gibt, die die Ehre an- oder aberkennen, spricht man nicht über Ehre im objektiven Sinne, sondern über Ehrkonstrukte. Theoretisch teilt man die Ehre in drei Kategorien ein: die Ehre coram hominibus, coram Deo und coram meipso.11 Das kritische Forum, das einem Menschen Ehre (bzw. coram hominibus-Ehre) verleihen oder verweigern kann, ist im „menschlichen“ Bereich die Gemeinde, d. h. die Nachbarschaft, das Dorf, der Stand, der Beruf usw.12 Dies ist aber an bestimmte Wertungen, die das Kommunikationsmilieu unterschiedlicher gesellschaftlicher Kategorien bilden, gebunden, denn es gibt z. B. auch Outsider-Kreise, die ihre eigene Ehre und ihre eigenen Ehrvorstellungen haben: Ganoven, Dirnen, Schmuggler u. ä. Was für manche Ehre heißt oder was ehrenhaft ist, ruft oft bei anderen sozialen Schichten den Verdacht der Bedrohung des eigenen Daseins hervor und wird folglich nicht anerkannt.13 In dieser Hinsicht wird auch die Ehre coram Deo relativiert, solange die Urteilsorgane letzten Endes ebenso die Menschen sind. Diese Ehre-Form versucht, die Ehrenhaftigkeit unserer Taten vor ein „objektives“ Gericht zu bringen, das sich auf die Offenbarung Gottes beruft; damit gelangen wir auf eine Ebene hoch konstruktivistischer Ansätze, da es eben die Menschen sind, welche die Offenbarung verwalten. In dieser Situation, in der Gott keine objektive Instanz mehr ist, ist man bestrebt, sich selbst zum endgültigen Urteilsforum zu erheben, und begutachtet sich selbst im exklusiven Bezug auf ein eigenes Wertungssystem: Dies nennt man Ehre coram meipso. Eine solche Auffassung könnte den falschen Eindruck einer unbeschränkten Freiheit erwecken, alles tun zu können, wie, wo und wann man will. Doch so etwas ist nur theoretisch möglich: Die neuere ethische Forschung zeigt, dass die Artikulierung solcher „arbiträren“ Individualität eben nicht arbiträr und uneingeschränkt ist, sondern immerhin kulturbedingt, d. h. von konse-

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Vgl. M. Scheler 1957, S. 153. „Honour is the value of a person in his own eyes, but also in the eyes of his society“ (J. Pitt-Rivers 1966, S. 21). 11 Vgl. H. Thielicke 1982 und H. Reiner 1956; O. Angehrn 1982, S. 13; K. Schreiner/G. Schwerhoff 1995, S. 4 und K. Binding 1909, S. 7f und 36ff. 12 Eine sehr interessante Untersuchung der Ehre aus rechtswissenschaftlicher Perspektive bietet Hans J. Hirsch (siehe H. J. Hirsch 1967). 13 Dieser soziale Aspekt der Ehre wird von manchen Soziologen mit dem Begriff „Prestige“ bezeichnet oder mit dem Ausdruck „äußerliche Ehre“ (vgl. F. Stippel 1938, S. 2), was allerdings stark zu relativieren und kritisieren ist.

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krierten Wertungskomplexen, durch deren Ablehnung bzw. Aufnahme, abhängig.14 In diesem Sinne können wir zusammenfassen, dass der theoretische Ehrediskurs weit entfernt von der anthropologischen Wirklichkeit ist. Eine objektive Ehre gibt es nicht. Sie entsteht als Form des menschlichen Miteinanders, indem sie anerkannt wird; entweder infolge der Zugehörigkeit zu einem Stand oder zu einer Familie, also a priori, ganz unabhängig von jeglichen persönlichen Handlungen, oder indem sie von der Gruppe zuerkannt wird als „Preis“ für die Erfüllung ihrer Erwartung an eines ihrer Individuen, wodurch es sich als „funktionales“ Mitglied der Gemeinde erweist.15 So kann man von „Ehre“ und „Ehren“ sprechen, wie es Kattenbusch tut, was eigentlich zwei verschiedene Kategorien sind, die doch in der menschlichen Praxis verschmelzen. Die eigene Ehre, die man hat (entweder aufgrund seiner Geburt oder seiner Handlungen) und deren man sich bewusst ist, kann „Ehrungen“ veranlassen16, die nur als eine kontingente Krönung der Ehre17 angesehen werden. Für jeden wichtig ist aber die Ehre, und man ist bereit, erbittert für sie zu kämpfen. Das führt zu einem ganz komplexen anthropologischen Verhalten des menschlichen Individuums mit dem Ziel, sein Verlangen nach Ehre, das letztendlich wohl als Sozialisationsbedarf anzusehen ist, zu erfüllen: „Genauso wie die Luft ist auch die Ehre eng mit dem Menschen und seinem Überleben verwoben“.18 Man meint, dass der Tod z. B. ein gutes Mittel sei, um Ehre zu erreichen. Deshalb beziehen sich meistens die Ehrkonstrukte auf die postmortem-Dimension des Daseins. Dadurch bekommt die Ehre eine Position in der Abstufung zur metaphysischen Erfüllung. Wir können nun vermuten, dass die Wichtigkeit der Ehre die biologische Notwendigkeit überschreitet und im Jenseits als effiziente Möglichkeit der Erlösung auftritt19: Dass der dem Streben nach Ehre eigentlich innewohnende Sinn religiös ist, werde ich in einem der kommenden Abschnitte aufzeigen.

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Vgl. K. A. Appiah 2005, S. 15ff. Vgl. L. Vogt/ A. Zingerle 1994, S.17. 16 „The argument goes like this: the sentiment of honour inspires conduct which is honourable, the conduct receives recognition and establishes reputation, and reputation is finally sanctified by the bestowal of honours” (J. Pitt-Rivers 1966, S. 22). 17 Dies ist allerdings auch eine Form der Integration in das „System“, eine Form gesellschaftlicher Zensur (vgl. D. Burkhart 2002, S. 27). 18 R. Girtler 1994, S. 212. Vgl. E. Spranger 1934, S. 225. 19 Nicht nur religiös, sondern auch rechtswissenschaftlich verleiht man der Ehre eine Finalität post mortem (vgl. H. J. Hirsch 1967, S. 125ff). 15

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Ehre. Begrifflich-historische Betrachtung Wegen der Vielfältigkeit des Problems findet man im Begriffsfeld „Ehre“ viele Bezeichnungen und Bedeutungen. Aber unabhängig davon, ob er Ehre (ere) oder Ruhm, Anerkennung oder Ruf, honos, honores oder existimatio, timé oder megalopsychía genannt wird, dieser „Wert“ ist Bestandteil aller Kulturen. Es gibt vermutlich keine Epoche, in der die Ehre als wesentliche Sozialisationssemantik nicht integriert wurde. Dies lässt die Einseitigkeit der heutigen „Ehreforschung“ problematisch erscheinen, welche bei ihren Untersuchungen ausschließlich auf jene Quellen zurückgreift, die ausdrücklich das Wort „Ehre“ verwenden. Aus diesem Grund beginnen die Ehreforschungen mit der deutschen Vormoderne: Die Quellen verwenden nun die deutsche Sprache (lingua teutonica) und so taucht die Wortfamilie des altgermanischen Begriffs ere auf. Doch lassen sich die Ehrkonstrukte nur mangelhaft durch Begriffe beschreiben. Deswegen sollte die wichtigste Quelle der Ehreforschung der menschliche Alltag sein20 und, wie ich betonen möchte, nicht nur das Konfliktäre. Die Ehrsemantik ist nicht der Gegenstand, der sich aus der Analyse der „Ehrauseinandersetzungen“ ergibt, wie es heute fälschlicherweise behauptet wird.21 Nachdem dies geklärt wurde, wende ich mich nun einer knappen begrifflichen Untersuchung zu. Die Ehrhandlungen sind bei den Griechen wohl nicht älter als bei anderen Völkern, aber sie sind vielleicht am frühesten explizit in literarischen Quellen betrachtet worden. Bereits die homerische Ilias und Odyssee könnten als Poeme der Ehre bezeichnet werden, weil es fast keine Szene gibt, in der man keine Verbindung mit dem Ehrgefühl herstellen könnte. Die verletzte Ehre des Helden kann diesen zu „unvernünftigen“ Handlungen veranlassen: Aias beging Selbstmord, weil nicht er es war, der die Waffen des gestorbenen Achilles gewonnen hat, sondern Odysseus.22 Es soll von Anfang an gesagt werden, dass die archaischen Griechen, wie z. B. die der Ilias, deutlich eine egozentrische, individualistische und rücksichtslose Ehrsemantik (und damit verbundene Handlungen) aufweisen.23 Die berühmte politische Ehrkultur der im Dienste des Staates gepflegten Tugenden24 ist eine spätere Erscheinung der griechischen Antike.25 20

Und damit befürworte ich eine historisch-anthropologische Betrachtung der Ehrthematik. 21 Vgl. S. Backmann/ H.-J. Künast 1998, S. 15. 22 HOMER- Odyssee, XI, 543-564. 23 Siehe dafür H. Lloyd-Jones 1987; T. Fatheuer 1988, S. 55ff und F. Stippel 1938, S. 8. 24 Vgl. O. Angehrn 1982, S. 17ff. 25 Es geht um zwei Arten des Ehrerwerbs im Dienste der polis: 1. die spartanische Weise, indem die Hauptaufgabe des Bürgers darin liegt, militärische Leistungen zu

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Da man bei den Griechen das ehrenvolle Verhalten und die Hochschätzung der Ehre als Erziehungsziel betrachtete, haben diese ein komplexes begriffliches System26 um die Ehre herum aufgebaut. Jeder Terminus nimmt bestimmte Nuancen und Bedeutungen an: 1. kleós wird gebraucht im Bezug auf den kriegerischen Nachruhm, wie beispielsweise bei den homerischen Helden; 2. mnemé oder mnemeion bezeichnen das rühmliche Andenken, d. h., sie haben keinen Bezug auf das gegenwärtige Leben; diese zwei Begriffe erweisen sich als wichtiges unterstützendes Argument für die Theorie, dass die Ehre letztlich einen religiösen Drang aufweist, nämlich jenen nach Unsterblichkeit; mnemé meint z. B. bei Isokrates die Gedanken über die Unsterblichkeit des menschlichen Wesens, das durch gloriose Taten den Ruhm erlangt hat. In diesem Zusammenhang benutzt man oft die Wendung athánathos mnemé, die einen Ruhm bezeichnet, der nur durch Kriegstaten und bürgerliche Tüchtigkeit erreicht werden kann; 3. dóxa gehört im Vergleich zu kleós dem politisch-sozialen Bereich an; eudóxos ist derjenige, der z. B. für die Stadt stirbt, also für das Wohl der Bürgergemeinschaft. Das Wort weist eine Doppelbedeutung auf: Es bezeichnet entweder die „eigene Meinung“ (von dokein = ich glaube, ich meine) oder das allgemeine Urteil der Gesellschaft (von dokein = scheinen, gelten)27; 4. timé: „In dem Wort timé lässt sich der Hauptbegriff des griechischen Ehrmotivs, der in der gesamten griechischen Literatur anzutreffen ist, erkennen. Die hier benutzte gängige Übertragung ‚Ehre’ dient nur als Hilfsübersetzung. Ehre in unserer Wertvorstellung setzt die klare Zweiteilung einer individuell-ethischen und einer sozial-rechtlichen Bedeutung voraus – einer inneren ‚Würde’ und einer äußeren ‚Anerkennung’. In der homerischen Gesellschaft ist timé der grundlegende Begriff für die soziale Existenz des Adligen und hat eine starke Rückbindung an den materiellen Besitz“.28 Heute wird von manchen griechischen Gemeinschaften das Wort als Bezeichnung für den wirtschaftlichen Wert auf dem Markt, für die Keuschheitstugend der Frau oder für soziale Anerkennung

vollbringen, und 2. die athenische Weise, wobei die politische „Klugheit“ entscheidend ist (vgl. F. Stippel 1938, S. 16ff). 26 Zur terminologischen Betrachtung siehe: E. Alexiou 1995 (S.18-47), M. F. Greindl 1938 und 1940, G. Steinkopf 1937. 27 Siehe die ausführliche Begriffsgeschichte für dóxa (u. a. auch im christlichen Kontext) bei J. Schneider 1932. 28 E. Alexiou 1995, S. 40. Die starke kultische Bedeutung des Wortes sollte nicht übersehen werden: philotimía meint vor allem Rituale, Spenden und Dienste, die ein vorbildlicher Bürger zum allgemeinen Wohl der polis leistet (vgl. N. R. E. Fisher 1976, S. 28). Dass timé eine überwiegend öffentlich-soziale Dimension bezeichnet, zeigt uns ihr Antonym atimía (= Verlust der bürgerlichen Rechte und des Status) (vgl. N. R. E. Fisher 1976, S. 14).

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benutzt.29 Timé ist ein Ehrbegriff der „shame-cultures“ und nicht der „guiltcultures“ in dem Sinne Eric Dodds’: Der höchste Wert war „nicht ein ruhiges Gewissen, sondern das Genießen der timé, der öffentlichen Hochschätzung“.30 In der Geschichte des Wortkomplexes lässt sich demnach ein Wandel von der individualistischen Bedeutung31 hin zu einer „Vergesellschaftung“ im Sinne einer „Verstaatlichung“ beobachten, sodass bei den Römern nur die exklusiv sozial-politische Ehre bleibt. Die römischen Hauptbegriffe dieses Themenkomplexes sind honos (die sich in vom Staat verliehenen honores widerspiegelt) und existimatio.32 Honos ist die höchste Qualität des Bürgers33, der sein ganzes Leben und seine Tätigkeit in den Dienst des Staates stellt und vom Staat34 als Anerkennung seiner Dienste verschiedene honores bekommt. Hier ist die Vorstellung von Ehre mit der Politik und den verschiedenen Ämtern verknüpft, daher wird nicht selten honor synonym mit officium gebraucht.35 Die existimatio ist die „Einschätzung“ der bürgerlichen Handlung für das allgemeine Interesse der Gemeinde, und man nimmt an, dass ihre konkrete Bedeutung die Treue zum Staat sei, die sich als Rechtsgesinnung manifestiert36. Wer gute Leistungen zugunsten des Staates erbringt, der profitiert von der sog. fama (=dem guten Ruf)37, dem Ergebnis eines positiven sozialen Urteils über ihn.38 Man kann also abschließend festhalten, dass die Ehre in der römischen Gesellschaft immer eine politisch-juristische Relevanz hat. Das Individuum wurde so gut in den 29

Vgl. J. K. Campbell 1964, S. 268 und J. K. Campbell 1966, S. 147. Zitiert bei A. Angenendt 2001, S. 83. 31 Die archaischen und klassischen Griechen betonen auch stark die Pflicht des Mannes, sein Haus (oikía) und die Angehörigen seines Hauses zu schützen. Ein guter Mann (agathós) ist derjenige, der in einer aktiven Weise seine Tüchtigkeit (areté) beweist (vgl. N. R. E. Fisher 1976, S. 6, G. Steinkopf 1937, S. 12 und F. Stippel 1938, S. 8), beim Sport (vgl. S. G. Miller 1991, S. vii ff) sowie im Krieg. Das bringt ihm Ehre (timé) (vgl. H. Lloyd-Jones 1987, S. 3). Es handelt sich also um eine archaische Anschauung, indem der Mann von seiner biologisch-anthropologischen Akzeptanz als Beschützer bzw. Verteidiger abhängig ist. 32 O. Haken meint, dass existimatio durch „Rechtswürdigung“ zu übersetzen und dass sie keineswegs von der Meinung und der Anerkennung von den Mitbürgern abhängig sei (vgl. O. Haken 1850, S. 14), was eigentlich gegen die Logik verstößt. 33 Vgl. O. Angehrn 1982, S. 20. 34 Vgl. J. C. Baroja 1966, S. 82f. Die politische Ideologie des Sterbens für den Staat haben die Römer wahrscheinlich von den Griechen übernommen. Im 7. Jahrhundert v. Chr. beginnt in der griechischen Rhetorik ein langer Prozess der Bewertung des ehrenhaften Sterbens des Bürgers im Dienste seines Stadtstaates (vgl. C. W. Müller 1989, S. 318). 35 Vgl. H.-G. Krause 1960, S. 89. 36 Vgl. O. Haken 1850, S. 14ff: Er versteht existimatio als „Rechtswürdigkeit“ (S. 16). 37 Vgl. K. Thiele-Dohrmann 2004, S. 151. 38 Vgl. R. Egenter 1937, S. 15. 30

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staatlichen Apparat integriert, dass seine persönliche Ehre vom Staat kontrolliert wurde: Ich spreche von einer „politischen Persönlichkeit“.39 Genau im Gegensatz dazu steht die Ehrvorstellung bei den Germanen in der Antike und im Mittelalter. Die althochdeutsche era, oder mittelhochdeutsch ere, die man heute als „Ehre“ kennt, hat eine rein subjektive Bedeutung. Was bei den Römern bei Ehrverletzungsfällen (calumnia oder iniuria40) in Rechtsprozessen geregelt werden konnte, war bei den Germanen nur gewaltsam vor den Augen der Genossen regulierbar.41 Die Ehre des Menschen war somit nicht mehr von Staat und Recht abhängig, sondern von der unmittelbaren Anerkennung und Beurteilung durch die Gemeinschaft. Wir können also von einer „objektiveren“ Ehranschauung bei Römern als bei den Germanen sprechen. „Was dem Germanen eine Ehrung war, bedeutete dem Römer vielleicht nur wenig“.42 Die Vermutung, dass auch das heutige oder zumindest das mittelalterliche Ehrverständnis im Abendland eine germanische Grundlage hat, ist in diesem Zusammenhang nicht abzulehnen, denn das ganze Ethos – Bereitschaft zur gewaltsamen Behauptung und Bereitschaft, das Leben für Ehre aufs Spiel zu setzen – ist damit verbunden, weil die Ehre eine ontologische Wichtigkeit für das Dasein des Einzelnen in der sozialen Ordnung hatte.43 Diese Mentalität ist so resistent, dass sie sogar in der aufgeklärten Renaissance weitergeführt wurde: „Erst was man in den Augen des Standgenossen und Fürsten ist, ist man wirklich und ganz. Was nicht so in das Lichtfeld von Ehre und Ruhm tritt, erscheint als ohne Wert, ja es existiert eigentlich nicht“.44 Die wichtigsten Begriffe sind bei den Germanen das althochdeutsche era und das mittelhochdeutsche ere, Wörter, die ursprünglich „Kaufpreis“45 bedeuteten, wie das griechische Wort timé. Die Ehrvorstellung bei den Juden war in diesem Kontext viel weniger gewaltsam als bei den Germanen.46 Bei ihnen war der Mitmensch der eigentliche Anhaltspunkt jedes Verhaltens, d. h., durch göttliches Gebot war 39

Vgl. F. Kattenbusch 1909, S. 21. „Nur der Staat ist die Quelle der Ehre, nur der Staat kann sie entziehen“ (O. Haken 1850, S. 15). 40 Calumnia ist die Verletzung der öffentlichen Ehre und die iniuria die der persönlichen (vgl. O. Haken 1850, S. 16). 41 Vgl. O. Haken 1850, S. 18f. Für den mentalen Mechanismus des Zweikampfes vgl. H. Reiner 1956, S. 28 und U. Frevert 1991, S. 19ff. 42 U. Frevert, S. 20. 43 Vgl. H. Reiner 1956, S. 10-21 und F. Kattenbusch 1909, S. 20-23. 44 H. Reiner 1956, S. 21. 45 Vgl. R. Egenter 1937, S. 17. Nicht unbedeutend ist der religiös-magische Inhalt des Wortes, wobei era durch „Ehrfurcht, Scheu, Verehrung“ übersetzt werden könnte (vgl. W. Danckert 1963, S. 15). 46 Zu den anthropologischen Koordinaten des Ehrgefühls bei den Germanen ist das Kapitel „Die Ehre des Mannes“ in dem Buch „Die geistige Welt der Germanen“ von J. de Vries empfehlenswert (siehe die Bibliografie).

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es verboten, den Mitmenschen zu schädigen und Unrecht zu tun, da auf diese Weise die Ordnung der Gesellschaft selbst in ihrer Wahrnehmung als göttliche Harmonie gefährdet wurde. Das Gesetz stellte klar die Rechte jedes Mitmenschen fest und es verteidigte sie streng. Die Juden haben ihren eigenen Begriff für Ehre, kabod, der vom Wortstamm kbd ausgeht. Kbd meint die körperliche „Schwere“47, weiterhin bezeichnet es die Schwere als Wichtigkeit und den Reichtum eines Menschen, also die Gründe einer gerechtfertigten48 Ehrenhaftigkeit. Bei den Germanen verteidigte das Individuum selbst seine Rechte, welche stets in direkter selbstverständlicher Verbindung mit der Ehre standen: Darum entwickelte sich im Vergleich zu den Semiten der Brauch des Zweikampfes so stark bei den Germanen49 bzw. in allen indoeuropäischen Traditionen. Z. B. wurde der bekannte biblische Zweikampf David vs. Goliath von dem Philister gefordert (1 Samuel 17, 4-8); dadurch wird meine Vermutung bestätigt, denn die Philister wurden von den Historikern als indoeuropäischer Stamm identifiziert.50 Diese kampfesfreudige Denkweise beeinflusste das Christentum, das ursprünglich keine gewaltsame oder mit Machtansprüchen verbundene Ehrsemantik entwickelt hatte. Die einzig gültige Ehre für einen Christen war jene, dass er durch sein reines, unschuldiges, geduldiges und gewaltloses Leben zum Kind Gottes wird. Die Ehre dieser Welt ist für den frühen Christen unbedeutend, weil er schon Bürger civitatis Dei ist; d. h., die Ehre des demütigen, milden und barmherzigen Christus ist letzten Endes seine eigene Ehre.51

Die Ehre und die Sozialisation des Menschen. Aspekte der Ehre Die Ehrenhaftigkeit wird als notwendiges und essenzielles Moment jeder menschlichen Existenz angesehen. Der Mensch als soziales Wesen kann nur 47 Vgl. mit dem lateinischen gravitas. Die Septuaginta übersetzt den Begriff durch dóxa, ebenso wurde er auch von Paulus übernommen (vgl. L. L. Belleville 1991). 48 Unter der Voraussetzung der göttlichen Gunst (vgl. W. Korff 1966, S. 68 und R. Egenter 1937, S. 156, Anm. 8). Bei den Juden hatte man sogar im Kampfe kein eigenes Meritum im Falle eines Sieges, da dieser ja nicht von Menschen kommt, sondern von Gott: „Sie haben zwar das Land erobert, doch nicht durch ihre Schwerter kam der Sieg und nicht durch ihre eigene Kraft: Durch deine Hand und deine Macht und deine Gegenwart ist es geschehen“ (Ps. 44, 4). 49 Vgl. W. Korff, S. 40ff. 50 Vgl. J. Spanuth 1980, S. 125. Natürlich ist der gottesgerichtliche Zweikampf in der Antike weit verbreitet. In den Quellen des Mittelmeerraums der vorchristlichen Zeit wird diese Art des Gottesurteils am häufigsten von der indoeuropäisch geprägten Überlieferung erwähnt (vgl. M. Liverani 1990, S. 156). 51 Vgl. H. Lloyd-Jones 1990, S. 254-255.

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durch die Anerkennung durch andere Mitglieder seiner sozialen Gruppe existieren: „Immer wenn die Menschen sich zu einer besonderen Gesellschaft (société particulière) zusammenschließen, entsteht unter ihnen auch eine Ehre“.52 Das Kind zeigt sein Bedürfnis nach Beachtung durch Schreien und der Erwachsene durch verschiedene Merkmale, wie Schmuck, Kleidung, Ehepartner, Beruf usw. Das ist nur ein Aspekt eines größeren Komplexes, welcher uns als Geltungsbedürfnis bekannt ist. Als eine höhere Stufe des primären Beachtungsbedürfnisses kann man in der Gesellschaft das Streben nach Anerkennung oder Ansehen beobachten53, das sich durch Besitz, Schönheit oder bestimmte Fähigkeiten (Sport, Krieg, Kunst, Wissenschaft) äußert. All das verleiht der Person einen Wert, transformiert das Individuum in ein wichtiges Element der Gemeinde, von dem sie Nutzen haben kann.54 Der fundamentale Sinn einer Ehrkonstruktion ist, dass sie zur Begründung und Konturierung der gesellschaftlichen Ordnung beiträgt. Ohne eine „einheitliche“ Wahrnehmung der Ehre kann es demnach keinen SozialOrganismus geben. Die gesellschaftliche Einheit erfordert ein einheitliches Wertungssystem55, eine kongruente Ehranschauung, denn die Ehre wird in der Gemeinde und von der Gemeinde verliehen56, sie ist also ein Unitätsfaktor. Ein Individuum kann natürlich in den Augen einer anderen Gesellschaft (bzw. Gemeinschaft) verachtet werden, aber das schadet seinem Status nicht, solange seine soziale imago von mindestens einem Wertungssystem anerkannt wird.57 Die Ehre ist die Verbindung zwischen Menschen 52 Alexis de Tocqueville zitiert von A. Zingerle 1990, S. 236. Hinsichtlich der Mechanismen der menschlichen Vergesellschaftung – Anerkennung, Ehre, Identität, Nationalität – vergleiche dieses Subkapitel mit C. Taylor 1993. 53 Die Individuen streben vor allem danach, sich in ihren eigenen Gruppen auszuzeichnen. Man spricht von einer „universellen Tendenz des Wertens (evaluation)“ (vgl. E. K. Scheuch 1961, S. 86). 54 Nach der Definition M. Schelers ist die Ehre „ein natürlicher Wert des sozialen Individuums“ (M. Scheler 1957, S. 152). Scheler stellt aber eine Verbindung zwischen der Ehre des Individuums und der Moral der jeweiligen Person her (vgl. M. Scheler 1957, S. 152); entscheidend ist bei ihm die Bewertung einer Ehre coram meipso. In dem sozialen Bereich gibt es aber keine Ehre außerhalb des gesellschaftlichen Korpus, da das Individuum in seiner Einmaligkeit einfach nicht zählt, und es sich in seinen Anschauungen der Allgemeinheit unterwerfen muss (vgl. O. Haken 1850, S. 27). 55 „Jede Ehre ist ursprünglich Standesehre“ (K. Schreiner/ G. Schwerhoff 1995, S. 5). 56 In diesem Zusammenhang können wir die Definition der Ehre, so wie sie bei Alexis de Tocqueville zu finden ist, besser begreifen. Für ihn ist die Ehre „die Gesamtheit der Regeln“ (vgl. A. Zingerle 1990, S. 235). Dennoch postuliert die Ehre einen aktiven Zustand, d. h., die Ehre müsste besser als Erfüllung der Regeln betrachtet werden und ferner als Anerkennung dieser Erfüllung durch die Gruppengenossen (vgl. K. Amelung 2002, S. 38). 57 Vgl. J. Pitt-Rivers 1966, S. 22.

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zu einem gemeinsamen Anteil an einer Sache58, und diese Sache ist nicht unbedingt ein objektiv ethischer Wert im Sinne eines gesetzlichen Rechtes, sondern einfach ein gemeinsamer Habitus59, der ein Wertungs- und Tugendsystem determiniert. Das geschieht z. B. im Falle der outsiders, die eigene Ehrsysteme und somit eine eigene Ethik entwickeln, welche der „gängigen“ Moral widerspricht.60 In diesem Zusammenhang wird ganz deutlich, warum die Ehre einen relationalen Komplex repräsentiert; sie hat keine eigene Existenz an sich, sondern ist wesentlich vom Leben der Gemeinschaft abhängig: Sie kann eine Gemeinschaft (bzw. Gesellschaft) bilden, aber wird zugleich auch von ihr verwaltet.61 Die Gesellschaft hat durch die Ehresemantik ein Mittel, ihre Mitglieder zu kontrollieren, zu disziplinieren und sich ihr Verhalten zunutze zu machen. So baut sich durch die Ehre ein festes Verhältnis zwischen dem Menschen und der Gemeinschaft, der er angehört, auf: „Beide verhalten sich zueinander wie Thema und Variation. Ein Individuum kann seiner Gruppe Ehre einbringen oder sie Ehre kosten“.62 Hiermit soll gesagt werden, dass die Ehre ein Konstrukt ist, das als Überbrückung der individuellen und kollektiven Identität agiert63, in dem Sinne, dass die Ehre die aktive, selbstbewusste und sinntragende Manifestation menschlicher Identitätsformen ist. Dadurch wird das gesellschaftliche Miteinander ermöglicht. Im Vergleich zu der allgemeinen Ehre der sozialen Einheit kann auch das Individuum selbst eine individuelle Ehre erreichen, die in diesem Falle Ruhm genannt wird. Der Ruhm ist die individuelle Erscheinung der Ehre. 58

Vgl. ARISTOTELES- Nik. Eth., 8. Buch, 11, 1159 b 25-35 und 1159 a 1-4. Die Auffassung der Ehre als Medium ist problematisch. Sie entstammt oft einem oberflächigen Verständnis des Habitusbegriffs bei Bourdieu. Die Ehre ist kein Medium im Sinne von Vermittlung, durch das eine Gruppe Wertschätzung zuteilt oder entzieht (vgl. S. Brackmann / H.-J. Künast 1998, S. 15), sondern ist vielmehr die kategoriale Ursache und der Maßstab, der die Kategorien dieser Wertschätzung ermöglicht und verursacht. Man stellt sich jene Probleme, die man auch bearbeiten und lösen kann, so Bourdieu. In diesem Sinne ist Ehre kein Medium (als Vermittlungskategorie), sondern ein Milieu im Sinne einer semantischen und existenziellen Umwelt. Hiermit möchte ich auf den Narratologie-Begriff von Mieke Bal hinweisen, der ursprünglich auf einer literaturwissenschaftlichen Basis entstand, jedoch kulturanalytische Dimensionen beansprucht. So sei Narratologie ein „vorrangiges Reservoir unseres kulturellen Gepäcks“, das „uns dazu befähigt, aus einer chaotischen Welt und den in ihr stattfindenden unverständlichen Ereignissen Sinn herauszuholen“ (M. Bal 2002, S. 9). Die Narratologie äußere sich anhand intersubjektiver Vorgänge, die in Begriffen materialisiert werden und die „das Verfahren mit Macht [...], mit Ausschließung und Integration“ (M. Bal 2002, S. 9) bestimmen. 60 H. Ringeling 1984, S. 347. 61 Vgl. E. Wechsler 1991, S. 11. 62 J. Stagl 1994, S. 36. 63 Siehe das Buch von Kwame A. Appiah (K. A. Appiah 2005). 59

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Ihn kann man durch eigene Tugenden und Taten erlangen64, zugleich ist er aber unmittelbar von dem Ehrkanon einer Gemeinschaft abhängig und infolge dessen ihr untergeordnet. Ein Held (der Träger des Ruhmes) muss z. B. in den meisten archaisch-traditionellen Gesellschaften unbedingt eine ehrenhafte Abstammung haben.65 Das ist eine Forderung sine qua non: Herakles ist der Sohn Zeus’, Roland ist der Neffe Karls des Großen usw. Ebenso beriefen sich die angelsächsischen Könige auf ihren göttlichen Ursprung und führten fast ausnahmslos unter den Ahnen in der Kette ihrer Genealogie den Gott Odin bzw. Wodan auf.66 Der Ruhm bedarf also einer gesellschaftlich festen Basis, die in der Ehre als gemeinsames Gut der Gemeinschaftsgenossen besteht. Ein sozialer Organismus ist ehrenvoll und ehrenhaft, auch wenn sich keines seiner Mitglieder besonders auszeichnet, denn kein Held kann in dieser Gesellschaft Ruhm erreichen, wenn er nach dem Maßstab ihres Wertungssystems höchsten Ansprüchen genügt. Aufgrund dessen versteht man die Wichtigkeit illius temporis, gemeint hier als religionswissenschaftlicher Begriff der mythologischen vorhistorischen Zeit. Jede Gesellschaft ist von Göttern und mythischen Helden begründet. Dies verleiht ihr Ehre und logischerweise Geltung. Sie bekommt einen „Ehre-Schatz“, der vergrößert oder verkleinert werden kann, aber er ist in keinem Fall von dem Auftreten neuer Helden abhängig. Die einfachen Mitglieder haben trotzdem Zugang zur Ehrenhaftigkeit, nämlich durch ihren Gehorsam gegenüber dem gemeinsamen Wertungssystem, das ihre Gesellschaft reguliert. Wofür brauchen Menschen Ehre? Im 4. Jahrhundert v. Chr. (am 21. Juli 356) warf eine verbrecherische Hand in den Artemistempel von Ephesos eine Brandfackel, die den Täter unsterblich machen sollte. Bei dem richterlichen Verhör erklärte der Brandstifter, Herostratos, dass es sein einziges Ziel war, von sich ewig reden zu machen. Herostratos suchte also die Unsterblichkeit, welche seine vergängliche biologische Natur ihm nicht sichern konnte.67 Da das Ewig-Sein eine göttliche Eigenschaft ist, kann man vermuten, dass sein Ziel, und das Ziel aller Ruhmsuchenden, die Vergöttlichung ist. Die Ehre wird in diesem Sinne zur Erfüllung einer religiösen Sehnsucht benötigt, nämlich der nach ewigem Leben.68 In seiner „Nikomachischen Ethik“ betrachtet Aristoteles die Ehre im Zusammenhang mit den Göttern. Die Ehre ist nicht nur ein Wert coram 64 Vgl. K. Thiele-Dohrmann 2004, S. 148. „Ehre meint Existenz, Ruhm und Ehre meinen Leistung“ (O. H. Nebe 1936, S. 28). 65 Vgl. G. Althoff 2003b, S. 3. 66 Vgl. BEDA, c. 15, S. 27 mit der Anm. auf S. 368. 67 Vgl. K. Thiele-Dohrmann 2000, S. 49 ff . 68 J. C. Baroja schlägt zwei existenzielle Verhältnisse in Bezug auf Ehre bzw. Ehrlosigkeit vor: 1. Ehre → Ruhm → Leben (ewiges Leben, sage ich!) und 2. Unehre → Infamie → Tod (vgl. J. C. Baroja 1966, S. 85).

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hominibus, sondern hat ihren Ursprung bei den Göttern. Obwohl die Ehre, so Aristoteles, von dem Menschen nur innerhalb der Polis erreicht werden kann69, d. h. in einer bestimmten und klar definierten sozialen Struktur, stellt sie doch das Zeichen der konstitutiven Beziehung zwischen der göttlichen Gemeinschaft und dem sozialen Raum bzw. der Polis dar. In diesem Kontext ist der „Besitzer“ des Ruhmes und implizit der Ehre ein Halbgott, weil er in und von der Polis ausgezeichnet wird, welche einen sakralen Sinn und Ursprung hat: Er ist ein megalopsychós, ein Großseliger, ein Göttergenosse70. Bei Aristoteles ist das eigentliche Ziel jeder menschlichen Existenz die „Glückseligkeit“ (Nik. Eth., 1. Buch, 3, 1095 b 14). Sie kann durch mehrere Handlungen erreicht werden: durch Lust, Ehre (in Verbindung mit den „energischen Menschen“ – Nik. Eth. 1. Buch, 3, 1095 b 23), Tüchtigkeit und Ökonomie. Was mich interessiert, nämlich die Ehre, wird im vierten Buch betrachtet. Sie ist das größte von den äußeren Gütern (4. Buch, 7, 1123 b 19) und steht in unmittelbarer Abhängigkeit von der Tugend als innerer Qualität, d. h. des Charakters des Menschen. In der Gesellschaft kann jemandem keine Ehre zuerkannt werden, wenn er keinen guten Charakter hat, wenn er nicht ein megalopsychós ist. „Denn die Ehre ist der Siegespreis der Tugend“ (4. Buch, 7, 1123 b 35). In diesem Zusammenhang sind auch Reichtum und Macht ehrwürdig, wobei sie allerdings nur Mittel zur Aktivierung der inneren Tugend sind. Sie zeigen, dass der Ehrenmann maßvoll und vernünftig handelt, da die Tugend vor allem der mittlere Weg zwischen den Extremen ist. Die Ehre bei Aristoteles hat demnach einen öffentlichen Charakter; sie ist der Ausdruck innerer Tugendhaftigkeit und Tüchtigkeit. Sie kann nur in einer Gemeinschaft verliehen (d. h. erkannt) werden, da das die eigentliche öffentliche Dimension des Menschen ist. Weiterhin wird sie in einem breiteren Zusammenhang gesehen: als Wertungsform, die zwischen Himmel und Erde liegt: Als größten Wert „werden wir wohl jenes bezeichnen, was wir den Göttern zuschreiben, was die Angesehenen am meisten erstreben und was der Siegpreis bei der edelsten Handlung ist“. Und das wiederum bedeutet nichts anderes als die Ehre (4. Buch, 7, 1123 b 16-19).71 Eine alternative Meinung bietet Philipp Lersch in seinem Buch „Aufbau der Person“. Ausgehend von den Forschungen eines Biologen, der bemerkte, dass ein Hühnervolk durch Hierarchiestufen organisiert ist, wobei diese Hierarchie auf Machtverhältnisse hinweist, folgert P. Lersch: „Diese Erfahrungen zeigen deutlich genug, dass der Trieb, den wir im menschlichen Bereich als Wille zur Macht bezeichnen, auch schon im tierischen 69

Es gibt in der Ilias noch kein bürgerliches Ethos des Sterbens im Dienste der Polis. Für die Helden der Ilias zählt nur die eigene Ehre (vgl. C. W. Müller 1989, S. 318). 70 Vgl. H. Thielicke 1982, S. 363 und E. Voegelin 1988, S. 20-40. 71 Vgl. ARISTOTELES- Nik. Eth., S. 108ff und S. 187ff.

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Leben seine Vorform hat, und es ist klar, dass dieses Streben, dem anderen überlegen zu sein, im unmittelbaren Bezug zu den biologischen Notwendigkeiten, also in engstem Zusammenhang mit dem Selbsterhaltungstrieb steht. Genealogisch gesehen hat der Wille zur Macht auch beim Menschen diese Wurzel und wird um so mehr zu einem Grundtrieb seines Lebens, als die biologische Notwendigkeit der Selbsterhaltung bei ihm ungleich größer ist als beim Tier“.72 Diese exklusiv biologisch-darwinistische Argumentation ist aber sowohl theoretisch als auch praktisch unbefriedigend.73 Dass der Wille zur Macht nur eine Äußerung des Selbsterhaltungstriebes sei, sprich nur eine Notwendigkeit biologischen Überlebens, könnte ab initio in Frage gestellt werden. Als Otto Wells, damaliger Fraktionssprecher der SPD, in der letzten freien Sitzung des Parlaments im Januar 1933 sagte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“74, drückte er eine Mentalität aus, die mehrere Jahrtausende die menschlichen Handlungen bestimmte: Die Ehre hat eigentlich nicht so viel mit dem Leben zu tun, weshalb das Leben in Ehrensachen häufig „leichtsinnig“ aufs Spiel gesetzt wird, sondern ist auf das Jenseits bezogen. Das Überleben als biologisches Problem (Nahrung, Kleidung, Klima) ist seit Langem keine Herausforderung für die Menschheit mehr, trotzdem bleibt das Streben nach Ehre und Macht immer aktuell. Wenn die Ehre also wichtiger ist als das Leben, dann haben wir es tatsächlich mit einer religiösen Sehnsucht zu tun, die das Leben überschattet. In diesem Kontext meine ich, dass die „Machtbesessenheit“ und selbst die Ehre nur anthropologische Mittel eines jenseitsorientierten Denkens sind, um die Verewigung zu erlangen.75 Dem Verehrten bzw. dem Helden wird eine bestimmte soziale Funktion zugeordnet76. Er weckt die Hoffnung, die namenslosen Einzelnen, zu denen fast alle Mitglieder einer Gemeinschaft gehören, aus ihrer persönlichen 72

P. Lersch 1951, S.114. Mittlerweile ist die Soziobiologie oder Biosoziologie ziemlich trendy: Sie sieht in vormenschlichen, d. h. tierischen, Instinkten und Vorgängen die Grundlage der menschlich-sozialen Beziehungen und versucht so viele gesellschaftliche Mechanismen zu erläutern (vgl. R. Groh 2005, S. 214ff). 74 Zitiert von V. Ludgera/A. Zingerle 1994, S.15. 75 Die Komplexität des Ehrgefühls sollte keine Verwirrung stiften. (Zumindest) die heutigen Kulturen Europas behalten den Wert der Ehre i. S. sozialen Prestiges. Damit ist die ausschließlich gesellschaftliche Seite des Ehrenethos gemeint, wobei das Prestige keine persönlich-religiöse Relevanz hat, d. h., es reflektiert nur die Anerkennung, die einem Einzelnen von seiner Gruppe aufgrund bestimmter Eigenschaften verliehen wird (vgl. E. K. Scheuch 1961, S. 72). Die Ehre ist vor allem das Geltungsgefühl eines Individuums, das ihm die Sicherheit einer ewigen Existenz post mortem verleiht. Das Prestige ist sozusagen die entsakralisierte Vorstellung der Ehre in den heutigen säkularisierten Gesellschaften. 76 „Bilder vom Helden werden zu Leitfiguren [...]. Er selbst wird zum Fluchtpunkt der kollektiven Empfindung, zur Repräsentanz des Ganzen“ (J. Wertheimer 1986, S. 19). 73

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Ohnmacht herauszuholen: „Diese Sehnsucht verspricht immer Erfüllung. Die Sicht auf die reale Funktion des Helden in der Verkörperung der gesellschaftlichen Macht und Gewalt ist verstellt. Die regressive Leere der persönlichen Ohnmacht unter der institutionellen Macht ist gefüllt. Man identifiziert sich, wird selbst Teil des Helden, Teil des herrschenden Systems. Gedanken, Gefühle und Affekte nähren sich aus dem Unbewussten. Die Bilder sind als solche nicht mehr erkennbar. Sie werden zur erlebten Realität“.77 Im Bild des Helden konturiert sich einer der wichtigsten Unterschiede in der Ehrenanschauung bei Semiten und Indoeuropäern: Die Juden kennen keine andere Quelle der Ehre und des Ruhmes außer Gott, sowohl im Krieg als auch im häuslichen Leben. Der Mensch ist nichts ohne Gott, und alles, was er hat, ist von ihm. Auch im Krieg werden die Feinde eigentlich von Gott besiegt und die Menschen sind nur bloße Instrumente in Gottes Händen. Gott spricht zu Josua vor einer Schlacht gegen die Kanaaniter: „Hab keine Angst vor ihnen! Ich habe sie alle in deine Hand gegeben. Keiner wird sich gegen dich behaupten können“ (Josua, 10,8). Die Perfektform zeigt ganz deutlich, dass der Mensch hier kein Meritum hat, sondern dass alles von Gottes Willen und von seiner Macht abhängt. Dieser Diskurs wurde in der mittelalterlichen Kirche aus der alttestamentlichen Tradition übernommen. Es gibt bereits im 6. Jahrhundert die Auffassung, dass die Gebete der Geistlichen mehr als die Waffen der Krieger ausrichten können. So sagt in der Vita Sancti Severini (6. Jahrhundert) der Tribun Mamertinus, der mit einer kleinen Truppe eine große Schar plündernder Barbaren abwehren musste, zum Heiligen Severin: “Milites quidem habeo paucissimos, sed non audeo cum tanta hostium turba confligere. Quod si tua veneratio praecipit, quamvis auxilium nobis desit armorum, credimus tamen tua nos fieri oratione victores“. Dei famulus ait: „Etiam si inermes sunt tui milites, nunc ex hostibus armabuntur: nec enim numerus aut fortitudo humana requiritur, ubi propugnator Deus per omnia comprobatur“. (Leider habe ich nur einige wenige Soldaten; darum kann ich mich nicht erkühnen, den Kampf mit einer so beträchtlichen Feindesschar zu eröffnen. Befiehlt es aber deine Heiligkeit, so sind wir festen Glaubens, dass uns dein Gebet den Sieg erwirkt, wenn uns auch der Waffenbeistand mangelt“. Der Diener Gottes erklärte darauf: „Mögen deine Streiter auch waffenlos sein, so werden sie nunmehr von den Gegnern ihre Waffen erhalten: denn wo Gott sich als Vorkämpfer in allem erweist, spielen Anzahl und Beherztheit der Menschen keine Rolle).78

Und danach kommentiert der Heilige Severin weiter: 77

E. Katschnig-Fasch 1994, S.106. Vgl. H. Reiner 1956, S.16 und M. Weber 1972, S.

661. 78

Vita St. Severini, c. 4, S. 31.

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“Deo pro suis famulis dimicante, quos ita consuevit superna virtute protegere, ut tela hostium non eis inferant vulnera, sed arma potius subministrent.” (Kämpft ja doch Gott für seine Diener, die er mit seinem erhabenen Beistand stets dermaßen schirmt, dass ihnen die feindlichen Geschosse keine Wunden schlagen, sondern geradezu Waffen darreichen.)79

Bei den Indoeuropäern liegt der Ursprung des Ruhmes beim Menschen. Dieser kann sich durch eigene Taten erheben oder erniedrigen, und er kann sein Tun in den Dienst Gottes stellen, wobei das seine eigene Wahl und das Verdienst seiner Fertigkeiten (Tapferkeit, kriegerische Fähigkeit) ist. Darum kann in der indoeuropäischen Mentalität der Mensch vergöttlicht werden, während dies im jüdischen Denkmuster einer Blasphemie gleichkäme. Die Ehre ist nichts anders als jenes Gefühl des Einzelnen, durch seine Taten, die sich mit den Taten seiner Vorfahren verbinden, Ansehen in der Gemeinschaft, Anerkennung, guten Ruf und ewige Erinnerung erlangt zu haben. „Wo immer Menschen, gemäß ihrem elementaren Drang nach sozialer Geborgenheit, miteinander leben, formt sich ein für sie geltender Kanon von Anschauungen über Lobens- und Tadelnswertes aus, nach dem sich sowohl der innere Wert des Einzelnen, wie auch seine Gliedschaft und sein Rang in der Sozialeinheit, oder wie die Soziologie sagt, sein Status bemisst. Den Selbstwert, den das Individuum durch jeweilige Teilhabe an solchen maßgebenden Wertungsvorgängen empfängt und der sich nach außen darstellt in dem Ansehen und der Achtung, die er bei anderen genießt, nennen wir Ehre“.80 Die Ehre als allgemeines Phänomen der Gesellschaft verursacht natürlich komplexe Handlungen der Mitglieder. Sie wird eng mit physischen und anthropologischen Elementen verknüpft, welche die Ehre als alltägliche Dimension darstellen und bestimmte ritualisierte Mentalitäten, Handlungen und Institutionen schaffen.81

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Vita St. Severini, c. 4, S. 33. W. Korff 1966, S. 33. 81 Ehre kann spontan er- oder bewiesen werden, ist aber eine Semantik, die starke Verankerung in einer Wertungstradition voraussetzt . Deshalb äußert sich Ehre häufig in Formen ritueller Kommunikation (im Sinne von G. Althoff 2003, S. 19). Die Ehre braucht Rituale, denn diese sind jene Handlungskategorien, die Symbole schaffen und Symbole als Deutungswege einer bestimmten Weltanschauung etablieren. Die Rituale vermitteln zwischen dem sich zeigenden Individuum und seinem kulturellen Hintergrund von Vorgängen, Werten und Selbstverständlichkeiten (vgl. G. Althoff 2003, S. 24). Die Ehre bedeutet Bearbeitung und Erfüllung eines solchen Systems; der ehrenhafte Zustand eines „guten Mannes“ äußert sich daher rituell. 80

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Die Ehre in der Aktualität. Kulturell-anthropologische Betrachtung Wie gesagt, kann sich die Ehre auf Individuen, aber auch auf Gruppen (Familie, Stamm, Sippe, Volk, Nation) beziehen. Als gemeinsamer Schatz dieser Gruppen kann sie in der menschlichen Vorstellung besetzt, verloren, akkumuliert und verhandelt werden. Das bedeutet, der Ehre-Schatz der Gesellschaft wird als materielle quantifizierbare Habe angesehen, eigentlich ein Kapital, das zum ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapital gezählt werden kann. Diese Kapitalform wird von Pierre Bourdieu „symbolisches Kapital“ genannt; sie ist wichtig für die allgemeine Existenz der Gesellschaft, denn sie trägt zur Regulierung innerer Mechanismen bei. Bourdieu spricht von einem partiellen Materialismus der Ehrhandlungen – die Ehre, als Treue und Glaube (Vertrauen), wird als Fundament einer archaischen Ökonomieform mancher traditioneller Gesellschaften angesehen. Der Zweck solcher kodifizierter Handlungen ist allerdings die Ehre-Akkumulierung, nicht das Reich-Werden, denn die Ehre ist die wichtigste und dauerhafteste Reichtumsform. Der Reiche hat immer bestimmte soziale, also ehrenhafte, Pflichten, welche allerdings die Heilsdimension als endgültiges Ziel haben, denn der „Freigebige ist ein Freund Gottes.“82 Obwohl man bei einer theoretischen Betrachtung des Ehrgefühles auch in den traditionellen Gesellschaften persönlich-ethische Konnotationen erkennt, ist der eigentliche Hauptaspekt die materialisierende, eben die „kapitalistische“ Auffassung dieses Wertungskonstruktes: Ehre kann geerbt werden, kann aber auch verkauft werden, und, was wichtig für meine anthropologische Betrachtung ist, sie konstituiert das Ziel. Oftmals ist sie der Einsatz in einem Wettbewerb und funktioniert nach dem Prinzip der Herausforderung. Ehre bildet immer ein Kapital, das investiert werden kann. Darum war es in mittelalterlichen Gesellschaften z. B. kein Hindernis für eine Eheschließung, wenn einer der Partner nicht reich war, aber von einer berühmten und ehrenvollen Familie abstammte.83 In diesem Sinne ist die „qualitative Ehre kollektiv bezogen, vergangenheitsorientiert, gesellschaftsstabilisierend. Sie ist die Voraussetzung der quantitativen Ehre. Diese ist individuumsbezogen, gegenwartsorientiert und trägt zum Wandel der Gesellschaft bei. Sie ist die Umsetzung der qualitativen Ehre in Wirklichkeit“.84 Sehr wichtig für meine Untersuchung ist, dass die Ehre gemäß diesem Zitat wichtige Wandlungen der Gesellschaft und ihrer Strukturen widerspiegelt. Das geschah beispielsweise in den traditionellen Gesellschaften der Antike und des Mittelalters: Zu dieser 82

Vgl. P. Bourdieu 1976, S. 350-356. Im Sinne der Veränderung der Ehre vom symbolischen zum ökonomischen oder zu einer anderen Kapitalform (vgl. P. Bourdieu 1976 und 1983). 84 J. Stagl 1994, S. 39-40. 83

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Zeit gab es keine wirkliche Einheit der Gesellschaft bezüglich der Ehrenanschauung, denn sie war eigentlich ständisch strukturiert, d. h. nach verschiedenen Gruppierungen und Wertungssystemen, implizit nach unterschiedlichen Ehrvorstellungen, die Interaktionen, Konflikte und Wandel veranlassten. Was man noch heute als Berufsehre kennt, war früher die Standesehre. Heute nehmen wir an einem ständigen Wettbewerb teil, der, obwohl verborgen, existiert und andauernde soziale Prozesse verursacht. Man kann heute über eine Ehre des Wissenschaftlers sprechen, des Arztes usw., aber gleichzeitig gibt es die Ehre des Verbrechers und anderer am Rande der Gesellschaft lebender Menschen.85 Doch das Auffälligste in den allgemeinen Ehrkomplexen ist die Trennung nach Geschlechtern86: Das (kriegsbezogene) Ehrgefühl war bis in die Gegenwart meistens mit dem Männlichen assoziiert. Bourdieu meint, dass z. B. die ritterliche Investitur und ihr Ritual in der Erkennung und Konsekration (also einer Institutionalisierung) eines Unterschiedes bestünden, was wohl auf starke magische Inhalte in der jeweiligen Gesellschaft hinweist.87 Da die Ehre am Anfang immer mit der körperlichen Kampfbereitschaft zu tun hatte, werden auch die daraus folgenden Manifestationen der Ehre zu Eigenschaften der männlichen Sphäre. In den traditionellen Gesellschaften war die Frau am kriegerischen Geschehen nicht beteiligt. Der Misserfolg des Königs Louis VII. im Heiligen Land wurde von Chronisten der Anwesenheit seiner Frau Eleanor von Aquitanien bei seinem Feldzug zugeschrieben, die er eigentlich nie hätte mitnehmen 85

Vgl. R. Girtler 1994. Das Ganze dreht sich um den Begriff der Hegemonie. Am Anfang muss die Hegemonie des Mannes funktionell bestimmt gewesen sein: Er war derjenige, der die Aufgabe bzw. die Ehre hatte, aufgrund seiner physisch überlegenen Kraft seine Familie und seinen Stamm zu schützen (vgl. C. W. Müller 1989, S. 324), und dies mittels des Kampfs und der Gewaltanwendung. Mit der Zeit wird aber die Hegemonie des Mannes nicht mehr in Bezug auf ihre funktionellen Grundlagen betrachtet, sondern als „kulturgeschichtliche hegemoniale Selbstverständlichkeit“ (L. Böhnisch/ R. Winter 1993, S. 35). Judith Butler versucht –meiner Meinung nach vergebens (vgl. auch C. Breger 2005, S. 56ff) – eine Kritik der konstruierten Unterscheidung zwischen Geschlechtern. Eine Geschlechtsidentität sei nichts anderes als eine Einheit des anatomischen Geschlechtes, der kulturell und performativ konstruierten Geschlechtsidentität und des Begehrens als eine „heterosexuelle Fixierung“, die die „diskreten, asymmetrischen Gegensätze von ‚männlich’ und ‚weiblich’“ (J. Butler 1991, S. 38) produziere. Die gesamte Unterscheidung zwischen den „sexuell bestimmten Körpern“ und den „kulturell bedingten Geschlechtsidentitäten“ (J. Butler 1991, S. 23), spitzt sich bei Butler in einer Hinterfragung der apriorischen anatomischen Gegebenheit des Geschlechtes schlechthin zu (vgl. J. Butler 1991, S. 190). Bewusst versucht sie zu verleugnen, dass die kulturelle Entwicklung der Geschlechtsidentitäten aufgrund einer anatomischen Gegebenheit entsteht. Daher bleibt ihre gerade erwähnte Hinterfragung eine bloße Hinterfragung: Die Autorin bietet keine Lösung an (vgl. alles mit J. Butler 1991, S. 193ff). 87 Vgl. P. Bourdieu 1997, S. 118. 86

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dürfen.88 Auch die Amazonen der Antike behielten von ihrer Weiblichkeit nur den Namen, denn ihr Aussehen und ihre Handlungen waren nach männlichem Standard gestaltet. Ihre physische Selbstverstümmelung, das Fehlen der linken Brust, hatte eigentlich keinen anderen Sinn als zu zeigen, dass sie faktisch nicht mehr weiblich waren, und das durch ihren eigenen Willen. Die Sexualorgane spielen in der Ehr- und Überlegenheitssymbolik eine bedeutende Rolle, da sie den einzigen physisch deutlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen bezeugen. Ehre, Überlegenheit und Sieg sind in traditionellen Kulturen vorwiegend männliche Semantik-Sphären89 und daher häufig mit phallischen Symbolen verknüpft.90 Als Beispiel

88

Vgl. G. Duby 1983, S. 195f. Auch heute können solche diskriminierenden Tendenzen bemerkt werden: Lange Zeit war es unvorstellbar, dass Frauen als Soldatinnen an einem Krieg teilnehmen, und wenn sie mit vielen Schwierigkeiten doch rekrutiert wurden, wurden sie in non-combat Stellen beschäftigt. Als Soldaten werden sie immer noch verachtet, misstrauisch angesehen und misshandelt (vgl. E. Katschnig-Fasch 1994, S.106-107). 89 Vgl. T. Vanggaard 1971, S. 78. 90 Es ist bekannt, dass in der griechisch-römischen Antike der Phallos eine mächtige Abwehr-Waffe (vgl. J. Gassner 1993, S. 43ff) gegen Dämonen und Unglücksstifter war. Man stellte symbolische Phallus-Gestalten vor das Haus oder in das Haus, um es vor Unglück zu schützen (vgl. T. Vanggaard, 1971, S. 57f). Er hatte auch wichtige apotropäische Konnotationen; phallische Statuetten wurden in Gräber gelegt (vgl. T. Vanggaard 1971, S. 81; J. Gassner 1993, S. 51 und Komisches in der Antike, S. 60ff, mit Bildern) als Symbol des ewigen Lebens und als Schutz für den Verstorbenen gegen die Mächte des Hades. Hier seien auch jene frühneuzeitlichen Beispiele Leo Steinbergs aus der Malerei herangezogen (Bilder von Ludwig Krug und Maerten van Heemskerck, beide im 16. Jh.), wo Christus als „Schmerzensmann“ mit erigiertem Penis dargestellt wird. L. Steinberg interpretiert dies als Symbol des Sieges des Lebens über den Tod, wobei dieser Sieg eben in der symbolischen Sprache phallische Konnotationen annimmt (vgl. L. Steinberg 1983, S. 82ff, auch H. P. Duerr 1988, S. 271f). Natürlich wurde diese Theorie heftig kritisiert. Eine Kritikerin, Caroline W. Bynum, verliert sich dabei selbst in fragwürdigen Spekulationen: „Sind wir berechtigt in der Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts Genitalität mit Sexualität in Verbindung zu bringen? Dachten Menschen im Mittelalter (wie das die heutigen offenbar tun) sofort an Erektion und sexuelle Aktivität, wenn sie einen Penis sahen?“ (C. W. Bynum 1996, S. 66). Wenn man mehr mit Anthropologie und Volkskunde vertraut wäre, würde man diese Frage nicht mehr so stellen. In den traditionellen Gesellschaften waren die Geschlechtsorgane gewiss sexuell geprägt und wurden in ihrer Reproduktionsfunktion wahrgenommen; sie wurden in dem Falle des Phallos’ und der männlichen Erektion auch asexuell begriffen, im Sinne einer nicht-erotischen fruchtbarkeitsstiftenden, aber sexuell-aggressiven Erektion, deren Existenz wohl als Form der männlichen Aggressivität und des Überlegenheitsdrangs zu deuten ist (vgl. T. Vanggaard 1971, S. 99 und S. 104; J. Gassner 1993, S. 203f). Andererseits deutet die Forscherin an, diese „Erektion“ Christi auf den von Steinberg herangezogenen Gemälden sei eine bloße optische, von den „gemalten Falten und Drapierungen“ der Gewänder verursachte Illusion (vgl. C. W. Bynum 1996, S. 66). Es ist aber nicht zu verstehen, wieso die Maler in einer Zeit stark tabuisierter Sexualität übersahen, dass ihre Darstellungen die Blicke

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können wir das spätmittelalterliche Grabmal des François I. in La Sarraz heranziehen, wobei der Adelige als Zeichen seiner Demut (humilitas)91 in Erwartung des Weltgerichtes sein Gesicht und seine Genitalien (!) mit Fröschen bedeckt, was als Ablehnung der weltlichen Ehre und ihrer vergänglichen Symbole zu deuten wäre.92 Die Assoziierung der Ehre mit der Nase93 (denn es ist in manchen Gesellschaften eine Beleidigung, die Nase eines Mannes zu berühren) weist ebenfalls eine phallische Konnotation auf. Ein weiteres wichtiges Symbol der Männlichkeit und deren Potenz sind die Haare: Viele Kulturen – sogar die europäische – kennen Formen der Skalpierung oder der Erniedrigung durch Rasur des Hauptes. Durch seine Haare verlor der Mann ein bedeutendes Merkmal seines Status’, seiner Stärke und seines Ansehens.94 Ferner ist die Familienehre in den meisten von der indoeuropäischen Mentalität geprägten Gesellschaften des Mittelalters eine Privatform der Ehre des Mannes, solange die Familie als seine soziale „Verbreitung“ angesehen wird.95 Die ekklesiologische Auffassung Christi als des Hauptes der Kirche und der Kirche als seines Leibes geht wohl auf diese archaische Mentalität zurück. Manchmal ist dort, wo der Staat z. B. durch das Recht die Ehre der Individuen nicht schützen kann oder wo der Staat nicht als Regulierungsautorität in Sachen der Ehre anerkannt wird, die Familie der einzige Ort der Ehre96, aber nur der Ehre des Mannes. Die Frauen sind lediglich Sekundärorgane, die die Ehre des Mannes durch ihre Handlungen gefährden könnten. Darum ist in allen traditionellen Gesellschaften die ständige Beobachtung der Frauen des Hauses wichtig.97 Dies geschieht oftmals durch die alten Frauen, die über die Einhaltung von zwei Forderungen wachen, die eine Frau erfüllen muss: des Zuschauers auf den Genitalbereich Christi lenken. Ich glaube, es handelt sich um ein bewusstes berechnetes Motiv bestimmter Malereien des 16. Jhs. 91 Die humilitas wurde im Mittelalter oft rituell von Herrschern als Zeichen ihrer Unterwürfigkeit inszeniert: Um zu zeigen, dass ihr einziges Oberhaupt Gott ist – und um damit ihre irdische absolute Gewalt zu deuten –, haben verschiedene Souveräne des Frühund Hochmittelalters rituell durch das Liegen auf dem Boden einer Kirche bzw. durch das Hinknien Demut ausgedrückt (vgl. G. Althoff 2003, S. 106ff, besonders S. 111). 92 JEZLER, S. 176. 93 Siehe V. Groebner 1995 mit seiner Analyse der Nase als Symbol der Ehrenhaftigkeit im europäischen Spätmittelalter. 94 Vgl. E. Piper 1998, Anm. 123, S. 153. 95 Vgl. M. Dinges 1995, S. 49. 96 Die Ehre ist in solchen archaischen Gesellschaften ein absolut privater Wertungskomplex, wie z. B. im Mittelalter, als nur die Familie und die Verwandtschaft zählten. Die nicht verwandten Familien wurden als potenzielle Feinde bzw. Rivalen in dem Ehrwettbewerb angesehen (vgl. A. Schmidt 1994 und J. K. Campbell 1964, S. 263ff). 97

Vgl. E. Stavrianopoulou 2005, S. 24. Hier sei an die antike griechische Gestalt des Gynaikonomos, des Frauenaufsehers, erinnert.

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sich nicht bemerkbar machen (im Falle der verheirateten Frau und der Töchter – d. h. die Wichtigkeit des Schamgefühls) und die Bewahrung der Jungfräulichkeit (bei den Töchtern und unverheirateten Schwestern). Dies sind zwei Eigenschaften, die letztlich als Garantie der Ehre des pater familias angesehen werden.98 Da die Ehre als männlich konzipiert wird, finden sich die prägnantesten Ehrsymbole freilich in den Wettbewerben der männlichen Sphäre, im Krieg und in Sportwettbewerben.99 Alles, was zu einem Krieg gehört, Töten, strategische Bewegungen, Beute Machen, kann in einer anthropologischen Interpretation mit der Ehre in Verbindung gebracht werden.100 Alles soll zur Entehrung des Feindes führen, d. h. zu seiner Erniedrigung auf eine Stufe, auf der er keine gefährliche Potenzialität mehr aufweisen kann. Im symbolischen Sinne muss er also „entmannt“ werden, d. h. seine symbolische Verwandlung in eine Frau: Verweiblichung.101 Deshalb sind uns viele Fälle von homosexueller Vergewaltigung102 oder Kastrierung103 der Feinde nach einer Schlacht bekannt. Eine solche Vorstellung lässt sich sogar in der Bibel aufzeigen. In Psalm 78, 65-66 lesen wir: „Da erwachte der Herr wie ein Schlafender, wie ein Starker, der beim Wein fröhlich war, und schlug seine Feinde hinten und hängte ihnen ewige Schande an“.

Im Lichte der mittelalterlichen Auslegung meinen diese Verse die Verweiblichung des Feindes durch Vergewaltigung104. Die neu eroberten bzw. entdeckten Festungen oder Länder wurden in symbolischer Sprache als weibliche Dimension wahrgenommen. Sie wurden durch den männlichen Eroberungsakt entweder „defloriert“ oder „vergewaltigt“.105 In diesem Kon98 Vgl. C. Giordano 1994, S. 176-177; J. K. Campbell 1964, S. 270 und K. ThieleDohrmann 2004, S. 155. 99 Vgl. D. Burkhart 2002, S. 65ff. 100 Vgl. U. Jeggle1994. 101 In den patriarchalen Gesellschaften zeigen die Männer ihre Macht über die Frauen auch durch die sexuelle Dominanz (vgl. J. Goldberg 2006, S. 112f). 102 Vgl. T. Vanggaard 1971, S. 74. Symbolische Sodomisierungsformen überleben als strafrechtliche Schmähung bis ins 15. Jh. hinein (vgl. E. Wechsler 1991, S. 76f). Die Sodomisierung zeigt die soziale Annulierung der Privatsphäre des Sodomisierten (vgl. M. Camille 2006, S. 30) und damit seiner Eigenständigkeit, weil nur die Männer ja eigenständig sein können. 103 Die Kastrierung annulliert die soziale Kompetenz des Mannes, sie entehrt ihn (vgl. K. v. Eickels 2005, S. 90ff). 104 Vgl. H. P. Duerr 1993, S.246-247. 105 Nicht zufällig wurde in den archaischen Gesellschaften der Einbruch in ein Haus in einen umfassenderen Komplex des sexuellen Verbrechens (!) eingebettet. Als Beispiel nenne ich das Argument eines Griechen, der im 4. Jahrhundert v. Chr. den Liebhaber (namens Eratosthenes) seiner Frau ertappt und legal (!) umbringt: „Eratosthenes schlief mit meiner Frau, verführte sie, brachte meinen Kindern Schande, schließlich verletzte

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text spielt die der Fahne innewohnende Semantik eine essenzielle Rolle: Sie symbolisiert den Phallus als Zeichen der aggressiven Männlichkeit. Das neu eroberte Land wird durch das Einstecken der Fahne in den Boden „zivilisiert“. Der lateinische Terminus vomer heißt gleichzeitig „Pflugschar“ und „Penis“. Die Frau und der fruchtbar zu machende Boden werden dadurch in eine Unterwerfungssemantik der sexuellen bzw. zivilisatorischen Eroberung eingeordnet. Das Gewinnen der Fahne des Feindes in der Schlacht wird als Demütigungsakt und als Entmannung wahrgenommen.106 Genauso geschieht es im Sport, wo die meisten Sportarten die Penetration des gegnerischen Schutzsystems zum Ziel haben oder das „Einstecken“ des Balles in das Tor, in ein Loch usw. Verbale Konflikte der Fans haben immer einen reichen sexuellen Inhalt. „[A]ll of these games and sports are essentially variations on one theme. The theme involves an all-male preserve in which one male demonstrates his virility, his masculinity at the expense of a male opponent. One proves one’s maleness by feminizing one’s opponent”.107 Die beiden Handlungen, Krieg und Sport, stehen in einer logischen Verbindung: Der Sport, so wie ihn die Männer sich vorstellen, ist ebenso ein Krieg, ein mini-war (A. Dundes). Die Waffe ist in dem männlichen Kompetitionsethos ein konstitutives Element des Virilen und seiner kämpferischen Ehrenhaftigkeit. Phallus und Waffe sind ausschließlich männliche Attribute.108 Der männliche Verband schließt grundsätzlich die Teilnahme jeder Frau aus: Nur unter Männern – Gilgamesch und Enkidu109, Achilles und Patroklos, Roland und Olivier – kann wahre Liebe erotischer Natur entstehen, wenn wir Eros im platonischen Sinne meine Ehre, als er mein Haus betrat“ (Übersetzung bei N. R. E. Fisher 1976, S. 48). Ebenso sind im mittelalterlichen Irland die sogenannten Sheela-na-gig Figuren verbreitet, symbolische Darstellungen von weiblichen Gestalten (vgl. E. Kelly 2006, S. 125), die mit weit gespreizten Beinen ihre pars pudenda dem Betrachter zeigen und anbieten. Solche imagines wurden meistens auf den Toren von castella oder auf Türmen eingelassen zur Erinnerung an die Tatsache, dass eine Festung – genau wie eine Frau – nur dem Stärkeren gehören kann, jenem, der ihre Ehre (Unantastbarkeit) vor Angreifern und „Nebenbuhlern“ schützen und behaupten kann (vgl. E. Kelly 2006, S. 131ff). 106 Im Mittelalter kennen wir das Beispiel des Herzogs Heinrich von Kärnten (†1122), der zu erreichen versuchte, dass bei dem von ihm vor dem Sieger zu leistenden Unterwerfungsritual die Fahnen der anwesenden gegnerischen Armee nicht aufgerichtet werden (vgl. S. Weinfurter 2005b, S. 67), d. h., er wollte seine eigene symbolische Entmannung durch den Gegner vermeiden. Dies ist ihm freilich nicht gelungen, da die Feinde wohl nicht bereit waren, auf ein so wichtiges Siegessymbol zu verzichten und somit ihren Sieg zu relativieren. 107 A. Dundes 1994, S.155. 108 „Die Waffe gehört zum Manne. Ohne Waffe ist der Mann kein Mann, ist nicht angezogen.“ (G. Gesemann 1943, S. 33). 109 Vgl. zur beeindruckenden Klage Gilgameschs über den Tod des Enkidu S. M. Maul 2005.

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deuten, also als Unsterblichkeits- bzw. Verewigungsdrang, der sich in den Waffentaten des Helden oder in seiner bedingungslosen Liebe zu dem männlichen Gesellen manifestiert.110 In diesem Sinne kennt auch das Mittelalter unlösbare Freundschaftsbeziehungen zwischen Männern, die als Bund der Treue und der gegenseitigen Partnerschaft verstanden wurden, ohne fleischliche Konnotationen.111 Das Ehrgefühl manifestiert sich, unabhängig von jeglicher historischen Periode, beinahe in derselben Weise. Besser kann man solche Ehrhandlungen jedoch in den traditionellen Gesellschaften beobachten, wo stets einerseits die Tradition und die Religion und andererseits die patriarchalische Sozialstruktur bestimmend waren. Die Gesellschaft ist ein alltäglicher „Ehre-Markt“, wo stets die Ehre verhandelt, erworben und bewiesen wird.

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Vgl. K. Hildebrandt 1979, S. 8f und 17f. Vgl. K. v. Eickels 2004, S. 19f, S. 23, S. 28, S. 33f, insbes. S. 43f.

Eine revolutionäre Theorie Motto: „Aber wenn nicht das Firmament herabfallen wird mit seinen Regen von Sternen auf das Burgenantlitz der Erde, oder wenn nicht die Erde sich spalten wird aus ihrem Erdbeben, oder wenn nicht der Furchen ziehende ränderblaue Ozean auf das Stirnhaar der Welt kommen wird, werde ich jede Kuh und jedes Weib von ihnen nach ihrem Stalle und nach ihrem Hofe, nach ihrer Behausung und nach ihrer eigenen Wohnstätte bringen, nach dem Siege der Schlacht und des Kampfes und des Streites” (Altirischer Eid aus der Saga Táin Bó Cuálnge). Der gesellschaftliche Raum ist der Ort, wo Ehre mit anderen „Ehren“ konfrontiert wird. Jeder Stand ist im Zusammenhang mit seinem Auf- oder Abstieg auf der sozialen Skala auch Träger einer eigenen Vorstellung von Ehre. In der Interaktion und Dynamik gesellschaftlicher Schichten werden spezifische Wertungssysteme hervorgebracht. Die Soziologie der Stände, so wie sie sich heute konturiert, verdankt man überraschenderweise der komparatistischen Mythologie. Jahrtausendalte Mythologien und Denkstrukturen ermöglichen die mentale Einbettung mancher Phänomene des Mittelalters und der Frühneuzeit.

Ein junger Indoeuropäist Indogermanen und Indoeuropäer.1 Bis zu seiner Betrachtung als „an absolute monstrosity“2 hatte der Begriff „Indogermanen“ (oder Indoeuropäer)3 1

Einen breiten Überblick über den beginn und die Entfaltung der IndogermanistikStudien bietet Maurice Olender (siehe M. Olender 1995, S. 17ff). Zu den ersten Forschern der neuen Disziplin zählen: Friedrich Schlegel (1772-1829), Antoine Léonard de Chézy (1773-1832), Franz Bopp (1791-1867) usw. M. Olender weist ebenfalls auf die Geschichte der Begrifflichkeit hin: „Arier“ wurde anscheinend von A. H. AnquetilDuperron (1731-1805) verwendet, „Indogerman“ wird von C. Malte-Bruns (1810) bevorzugt und „Indo-Europäer“ erscheint in einer Rezension J. C. Adelungs (ca. 1810) (siehe alles bei M. Olender 1995, S. 156, Anm. 62, 63 und 64). 2 J. Baldick 1994, S. 4. 3 Das Wort versucht nur der linguistischen Tatsache gerecht zu werden, dass zwischen Nord-West-Indien und dem Atlantischen Ozean die meisten Bevölkerungen zu derselben Sprachfamilie gehörten. Der Begriff kann aber auf keinen Fall ein Volk benennen. Das Urvolk, das den ganzen Prozess der "Indogermanisierung" in der vorgeschichtlichen Welt determinierte, war lediglich ein Wandervolk. Seinen Namen kennt man heute nicht mehr, nur die Namen der Töchter-Kulturen. Deswegen haben die Forscher die linguistische

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eine stürmische Geschichte. Die zweifellos erfreuliche Entdeckung einer indoeuropäischen Sprache und Sprachfamilie4, die die akademische Welt des 19. Jahrhunderts begeisterte, überschattet ein fundamentales Problem: Es gibt – oder besser gesagt, es gab – keinen unstrittigen Hinweis, dass auch eine „indoeuropäische“ Ethnie existierte. So bemerkte Jean Haudry einst mit leichter Ironie, die Begeisterung der Philologen des 18. Jahrhunderts, die indoeuropäische Sprache wieder ans Licht zu bringen, werde von den dürftigen und unklaren archäologischen Befunden in Frage gestellt. Der vergleichenden Forschung über den indoeuropäischen Wortschatz konnte es nicht gelingen, auch die indoeuropäische Kultur selbst wieder herzustellen. Aus diesem Grund sind die Indoeuropäer lange Zeit nur ein „linguistischer Geist“ gewesen. Ein Synonym für „Indogermanen“ bzw. „Indoeuropäer“ ist der Begriff „Arier“. Seine Konfiszierung und sein Missbrauch zu propagandistischen Zwecken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben dieses Wort für immer kompromittiert. Das Konzept ist jedoch sehr alt: Die indo-iranische Subfamilie der Indoeuropäer benutzte den Begriff, um sich selbst zu benennen und sich von den eroberten vorindoeuropäischen Agrarkulturen abzuheben und zu unterscheiden. Der Archäologie des 20. Jahrhunderts ist es mittlerweile doch gelungen, einen ethnischen Träger (also eine Bevölkerung oder mehrere ethnische Gruppen) der indoeuropäischen Sprache nachzuweisen. Damit wurde eine störende Lücke gefüllt. Nach bestimmten archäologischen Kriterien konnte man sowohl die Züge der indoeuropäischen Auswanderung verfolgen als auch Zeitgrenzen und Benennungen vorschlagen. Archäologisch werden die Indoeuropäer aufgrund der zwei wichtigen Merkmale ihrer materiellen Existenz als Kurgan-5 oder als Streitaxtkultur bezeichnet. Die Meinungen über die Urheimat dieses mysteriösen Volkes bleiben dennoch geteilt. Nach Pedro Bosch-Gimpera hätten die ersten indoeuropäischen Gruppen in der Region des heutigen Tschechien und der Slowakei gesiedelt, und ein

Benennung auf die ethnische Entität übertragen. J. Haudry betont, dass eine sprachliche Gemeinschaft nicht automatisch auch ein Volk oder eine Nation ist, genauso wie Frankofonie nicht gleich eine ethnische Identität bedeutet (Vgl. J. Haudry 1998, S. 8f). Die Archäologie des 20. Jhs. konnte jedoch ethnische Träger dieser „indoeuropäischen“ Kultur identifizieren. Es ist allerdings klar, dass der Begriff „indogermanisch“ bzw. „indoeuropäisch“ nicht der genaueste ist. Allerdings ist es der Forschung nicht gelungen, einen besseren zu finden, deswegen werde ich weiterhin die konventionellen Termini „Indoeuropäer“ und „indoeuropäisch“ verwenden. 4 Zum ersten Mal wurde die indogermanische Idee von William Jones (1746-94) in einer Vorlesung (Kalkutta, 2. Februar 1786) formuliert (siehe W. Jones 1788). Die deutsche Übersetzung: William Jones, Abhandlungen über die Geschichte und Alterthümer, die Künste, Wissenschaften und Literatur Asiens, aus dem Englischen, Bd. 1, Riga 1795. 5 Von dem slawischen kurgan (= Grabhügel).

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sekundäres Aggregationszentrum wären die polnisch-pontischen Gebiete gewesen6. Im Gegensatz zu ihm lokalisiert Marija Gimbutas die tatsächliche Urheimat der Bevölkerung, die konventionell als Indoeuropäer bezeichnet wird, in den Steppen der Wolga, nordöstlich vom Kaspischen Meer.7 Dieser zweiten Theorie schließen sich mehrere Forscher aufgrund vielfältiger Hinweise an: 1. Die Indoeuropäer haben keine einheitliche Bezeichnung für „Meer“, also haben sie es nicht gekannt; 2. Im Wortschatz der indoeuropäisch sprechenden Traditionen tauchen gemeinsame Begriffe auf, welche im Bezug auf ein temperat-kontinentales Klima mit breiten Steppen, großen Flüssen und Steppenwäldern stehen; 3. Dies gilt analog für die Tiernamen. Die Ausbreitung der Indoeuropäer beginnt nach Marija Gimbutas im 4. Jahrtausend v. Chr. (circa 3500): Um 2500-2000 v. Chr. wird Anatolien (Micro Asia) erobert und das Hethitische Imperium gegründet. Es war ein wichtiger Gegner der Semiten und der Ägypter, jener ethnischen Gruppen, die nicht dem indoeuropäischen kulturellen Raum angehören. In der oben genannten Zeitspanne eroberte ein anderer Zweig der „westlichen“ Migration das gesamte Europa. Infolge dessen sind alle Völker Europas, von der Antike bis heute, indoeuropäisch geprägte Kulturen. Nachdem sich die Indoeuropäer Richtung Osten ausgebreitet hatten, wanderten sie nach Süden weiter, am Aral-See vorbei, und kamen 1450-1200 v. Chr. in NordWest Indien an, wo sie die dort vorgefundene Induszivilisation vernichteten. In derselben Zeit expandierten sie zudem nach Mesopotamien. So wurden die Grundlagen der indo-iranischen Sprach- und Kulturfamilie geschaffen. Damit sind die Perser ebenso eine indoeuropäische Bevölkerung.8 In Europa haben die Indoeuropäer die vorherige megalithische Kultur ersetzt. Das wäre nach der Meinung mancher Forscher die historische Grundlage der Mythologie des Entstehungskrieges, wie sie die meisten indoeuropäisch sprechenden Kulturen bewahren. Die megalithische Kultur wurde von einem Ackerbau-Volk getragen, dessen Ausbreitungszentrum die Provinz Almeria in Spanien war. Ihre riesigen Monumente lassen sich auf Malta, in Spanien, West-Gallien, der Bretagne, England und Irland, Dänemark und Süd-Schweden finden.9 Das bekannteste unter ihnen ist wohl der architektonische Komplex von Stonehenge (3. Jahrtausend v. Chr.). Die Mehrheit der Forscher geht davon aus, dass die Indoeuropäer ein Wandervolk waren, bei dem die Viehhaltung einen wichtigen Platz einnahm. 6

Vgl. P. Bosch-Gimpera 1968, S. 512. Vgl. M. Gimbutas 1968. 8 Die indoeuropäische Ausbreitung in mehreren Wellen lässt sich auch an den in europäischen Märchen erhaltenen Motiven feststellen (vgl. A. Nitschke 1976, S. 165ff und 173f). 9 Vgl. M. Eliade 1992, S. 119f. 7

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Manche behaupten weiter, dass sich die Indoeuropäer auch mit dem Ackerbau beschäftigten, und unterscheiden deshalb zwei Migrationswellen: die Migration der indoeuropäischen Ackerbauern (circa 5500 v. Chr.) und die „große Migration“ (circa 3500 v. Chr.).10 Dies ist aber strittig und schwer zu beweisen. Möglicherweise sind die Indoeuropäer viel „älter“ als oben genannt. Als sie am Horizont der Geschichte erscheinen, „liegt schon eine lange historische Vergangenheit hinter ihnen“.11 Ihre Wurzeln sind wohl im Mesolithikum zu finden. Interessant ist, dass „dieser ihnen [den Indoeuropäern] charakteristische Prozess – Auswanderung, Eroberung neuer Territorien, das Unterwerfen und Assimilieren der Einwohner – bis ins 19. Jahrhundert andauerte. Man kennt kein anderes Beispiel einer linguistischen und kulturellen Ausbreitung von solchen Umfängen“.12 Georges Dumézil (1898-1986) leitet in der Geschichte der Religionswissenschaft eine neue Ära ein. Viele andere Disziplinen, die Geschichte, die Soziologie oder die Anthropologie, verdanken dem Franzosen revolutionär neue Sichtweisen der mythologischen Grundlagen der Mentalitäten und gesellschaftlichen Strukturen in einem immensen geografischen und ethnischen Raum. Kritisiert oder unterstützt, Georges Dumézil13 bietet in erster Linie der Religionswissenschaft, aber auch der Indogermanistik und der Geschichtsforschung, eine Ebene zur Auseinandersetzung und eine neue Methode, die die Forschung eines ganzen Jahrhunderts beschäftigt haben: Ich spreche hier von seiner „idéologie tripartite“.14 Die Mediävistik z. B. findet in Dumézils Dreiteilungstheorie eine Grundlage für die mittelalterliche Einteilung der Gesellschaft in drei Stände: oratores, bellatores (pugnatores), laboratores (agricultores15). Es ist allerdings klarzustellen, dass Dumézil die Vaterschaft seiner Theorie und Entdeckung mit dem von der Forschungsgeschichte vergessenen Abel Bergaigne teilen muss.

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Vgl. T. Venemann gen. Nierfeld 1998, S. 121. P. Bosch-Gimpera 1968, S. 511. 12 M. Eliade 1992, S. 189. 13 Einen empfehlenswerten Beitrag zur Einführung ins Werk Dumézils bietet sein Schüler Daniel Dubuisson (siehe D. Dubuisson 2003). Ich vergesse natürlich nicht den Beitrag Èmile Benvenistes zur Konturierung und Forschung der Dreiteilungsideologie (vgl. D. Dubuisson 2003, S. 36); er war ein Freund und Unterstützer Dumézils und seines Werkes. 14 Dumézil nennt seine Theorie „die Dreiteilungsideologie“. Seiner Meinung nach ist die Hauptfunktion einer Ideologie, die für eine Gemeinschaft spezifische Weltanschauung zusammenzufassen (vgl. D. Dubuisson 2003, S. 21 und 53). Ich werde jedoch die Bezeichnung „Dreiteilungstheorie“ verwenden. 15 Zur mittelalterlichen Benennung der dritten Funktion siehe G. Köbler 1975. 11

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Bergaigne hatte schon im Jahre 188116 die ersten Anmerkungen zu einer tripartiten Ideologie in dem archaischen indischen Pantheon gemacht. Die religionsgeschichtlichen Theorien des 19. Jahrhunderts befanden sich, was den direkten mythologischen Bereich betrifft, in einer aussichtslosen Lage.17 Der Vorschlag Dumézils, dass die Gesellschaft, dabei meinte er nur die indoeuropäisch sprechenden Kulturen, sich bildet und strukturell aufgrund dreier Funktionen agiert, war ein Hoffnungsstrahl. Einer von seinen Kommentatoren meinte: „When Georges Dumézil entered the Germanic arena [als Ort der indoeuropäistischen Forschung] his primary concern was to place his comparativism on a firm footing. As an IndoEuropeanist he had already replaced the etymological approach of Max Müller with a more solidly grounded structural approach that took into account the social, religious, and ideological facets of the Indo-European heritage. The task he then set himself was to establish that he had found the correct structure of the parent Indo-European society and to show that the link between Indo-European and various national traditions was not merely typological but genetic”.18 Was Dumézil vorgeschlagen hat, ist nicht mehr als eine Arbeitstheorie, d. h., er bietet dem Forscher einen Anhaltspunkt, wobei konkrete gesellschaftliche „Fälle“ identifiziert werden müssen bzw. sollen, bevor eine Verallgemeinerung erlaubt sein kann. Seine Theorie hat Schwächen, weshalb Dumézil nicht zur Einheitlichkeit in der Forschung beitragen konnte. Ein Schwachpunkt liegt z. B. in der Zweideutigkeit der Terminologie bezüglich der drei Kasten: Es werden keine klaren sozialen Kategorien beschrieben, sondern eher soziale Verhältnisse, die auch allgemein menschlich sein können und nicht unbedingt indoeuropäisch sind.19 Die Kritik wirft dem Franzosen vor, durch hochspekulative Ansätze eine eigene Mythologie kreiert zu haben. Wie ich bereits in der Einleitung auf den Spuren Hans Blumenbergs bemerkte, sind die Götter selbst Namen der von Menschen wahrgenommenen „Wirklichkeiten“. Diese Namen bilden eine Basis-Struktur des Benannten, die durch unterschiedliche, aber auch gemeinsame Epitheta bereichert und geschildert wird. Das verhindert, dass die Götter künstlich in einem strikten dreigeteilten Schema „organisiert“ werden, wie es Dumézil tat. Dumézil kann eben über die Tatsache, dass den Göttern unterschiedliche, aber auch gemeinsame Epitheta zugeschrieben werden, nicht hinweg16 Daniel Dubuisson weist auf das Werk Bergaignes: La religion védique d’après les hymnes du Rig-Veda, II, Paris 1881, hin. 17 Vgl. C. S. Littleton 1973, S. ix. 18 U. Strutynski 1973, S. xxiv. 19 Vgl. B. Schlerath (b) 1996, S. 58, wobei dieser Kritiker der Versuchung, einen „monogenetischen Ursprung (eines) Weltbildes“ anzunehmen (Vgl. B. Schlerath (b) 1996, S. 58), erliegt.

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gehen, weshalb seine Theorie sehr labil ist, ein Hin und Her der funktionalen Einteilung, indem z. B. Götter, die einmal der 2. Funktion zugeordnet werden, später als Götter der 1. Funktion auftauchen, wobei er argumentiert, dass sie in der Geschichte einfach ihre Funktion wechselten; so werden auch die „funktionalen“ Epitheta dieser Götter vermischt.20 Dumézil selbst zeigt in seinen späteren Werken, dass sich die mythologische Tripartition nicht immer klar im sozialen Bereich widerspiegelt. Bis zum Schluss glaubt er aber an eine Entsprechung zwischen der mythologischen und gesellschaftlichen Ebene21, und dies widerlegt den Vorwurf der „Unstimmigkeit“ und Inkonsequenz der Dreiteilung: Weil die Mythologie der Spiegel eines eben lebendigen, d. h. sich aktualisierenden Sozialorganismus ist, kann man ohne Probleme verstehen, warum die Götter einer Funktion im Laufe der Zeit Eigenschaften einer anderen Funktion annehmen. Was die Forschung der Dumézilschen Theorie zu verdanken hat – abgesehen von der oftmals problematischen Einteilung der Götter – ist die Konturierung der drei Gesellschaftsprinzipien an sich mit ihren anthropologischen Erscheinungen, denen er individualisierende Epitheta zuweist. Die offensichtliche Dreiteilung der Gesellschaft bis ins Spätmittelalter hinein lässt sich allerdings schwer leugnen22. Obwohl der mythologische Niederschlag dieser Gesellschaftsstruktur (so Dumézil unter dem Einfluss Durkheims) unwahrscheinlich schwierig ist, ist er zugleich auch reizvoll. Es muss wohl Entsprechungen zwischen einer Gesellschaft und ihrer mythologischen Idealisierung geben: Fraglich bleibt, ob diese rekonstruiert werden können, und wenn ja, mit welchen Methoden. Die Komparatistik bleibt freilich eine solche Methode, solange „durch die Heraustrennung von Einzelaussagen wichtige Sinnzusammenhänge (nicht) zerrissen werden, die eine andere Deutung erfordern“.23 Die komparatistische Mythologie entstand in Deutschland im 19. Jahrhundert; die Romantik und mit ihr die philologische Suche nach den Wurzeln der „germanischen“ Sprache waren die Vorgänger dieser neuen Wissenschaft. Die Forschung über die archaischen germanischen Mythen und die indoeuropäische Sprache und Kultur begann sich zu entwickeln. Die Philologen hatten nun endgültig festgestellt, dass es eine indoeuropäische Sprache und Sprachfamilie mit eigener Individualität unter den anderen Sprachfamilien der Vorgeschichte gegeben hat. Einen wichtigen Beitrag haben in diesem Zusammenhang die Gebrüder Grimm geleistet. Später wurde ihr Werk von Max Müller weitergeführt, der trotz seiner 20

Vgl. B. Schlerath (a) 1995, S. 46 und (b) 1996, S. 60. Vgl. D. Dubuisson 2003, S. 62f. 22 Wie es B. Schlerath tut, wenn er die Aussagen von Klaus von See unverändert aufnimmt (vgl. B. Schlerath (b) 1996, S. 61). 23 B. Schlerath (b) 1996, S. 57. Vgl. auch K. v. See 1978, S. 4 und S. 8. 21

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philologischen Ausbildung der mythologisch-komparatistischen Schule in Deutschland angehörte. Was er auf einer philologischen Basis entwickelte, ist die sogenannte „Solare Mythologie“. Seiner Meinung nach hat diese Mythologie ihre Quelle in der Unfähigkeit des Menschen, alle meteorologischen und himmlischen Phänomene (als Ausgangspunkt seiner Überlegungen wählt Müller das solare Drama) linguistisch zu begreifen; für Müller ist der Mythos ein Desaster der Sprache, da er meteorologische Phänomene mit menschlichen Kategorien versteht und erklärt. Folglich ist der Mythos das Resultat einer fehlerhaften Begrifflichkeit.24 Für Müller hat diese Mythologie ihren Ursprung in dem andauernden Streit zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis, den zwei Prinzipien aller Existenz. Die Theorie Max Müllers ist auf scharfe Kritik gestoßen. Von 1880 bis 1890 fand eine Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Schotten Andrew Lang25 statt. Lang beschuldigt alle Anhänger Max Müllers, dass sie sich zu viel mit dem philologischen Ursprung des Mythos beschäftigen, und ihn von der sozialen, historischen sowie geopolitischen Realität trennen. Dies sei, so Lang, eigentlich die Ursache, durch die Mythen entstehen und sich entwickeln. In der deutschsprachigen Forschung über die germanischen und indoeuropäischen Mythologien lassen sich mehrere Schulen unterscheiden: 1. Die positivistische Schule Wilhelm Grönbechs, die die psychische Welt der Germanen aufgrund zentraler Werte rekonstruieren wollte: Ehre, magische Macht, Fatalismus; sie konstituieren alle zusammen den sogenannten „germanischen Schicksalsglauben“26; 2. Die „ekstatische“ Schule, die die Ekstase in der germanischen Welt sehr stark betont. Als Reaktion auf das Buch Bernhard Kummers „Midgards Untergang“ (1927), welches ein antiekstatisches Bild der alten Germanen entwarf, schrieb Otto Höffler 1934 aus einer mystisch-ekstatischen Perspektive das Werk „Kultische Geheimbünde der Germanen“; 3. Die anthropologische Schule Wiens; Alois Closs meinte, dass die Germanen das Ergebnis einer Symbiose zwischen den indoeuropäischen Eroberern und den Angehörigen der megalithischen Kultur Europas seien.27 Die Forschung über die Indoeuropäer führte aber zu keinem konkreten Resultat. Die komparatistische Philologie, welche freilich gute Ergebnisse in der Rekonstruktion indoeuropäischer Sprachstrukturen lieferte, brachte Chaos in den mythologischen Bereich, wo Götter – trotz ähnlicher Namen – ganz verschiedene Aufgaben erfüllten. Außerdem verlor sich die komparatistische Methode in den weiten Ebenen der größeren nicht-indo24

Vgl. D. Dubuisson, S. 30f. Zu ihrem „feurigen“ Streit siehe R. M. Dorson 1958. 26 Vgl. W. Grönbech 2002, S. 25ff. 27 Vgl. U. Strutynski 1973, S. xx und C. S. Littleton 1982, S. 33 ff. 25

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europäischen Kulturräume, und alles, was dem Komparatisten blieb, war, dass er nur einzelne Motive verfolgen konnte – Motive, die manchmal derart verbreitet und vielen Kulturen gemeinsam waren, dass ihre Spuren und ihr Ursprung nicht mehr identifiziert werden konnten.28 In diesem allgemeinen Kontext tritt ein neuer Forscher auf: Georges Dumézil. Ihm verdankt die akademische Welt, wie bereits gesagt, die Formulierung der sogenannten Dreiteilungstheorie.29 Endlich hatte man einen Ausgangspunkt. Bereits 193030 zeigte Dumézil Parallelen zwischen den Ständen und den Göttern auf, 193831 aber macht er seine große Entdeckung, dass die archaischen indoeuropäisch sprechenden Kulturen von Italien bis Nord-Indien durch ein dreigeteiltes Sozial- und Mythologiemuster charakterisiert sind. Zwischen 1940 und 1941 entwarf er ein gewissermaßen kohärentes Modell der gemeinsamen indoeuropäischen Ideologie. Sein Beitrag wurde so berühmt, dass er in einem seiner späteren Werke behaupten konnte: „The conceptual religious structure which is manifested in these three hierarchized terms is now familiar to IndoEuropeanist. It can be observed, with the special particularities of each of the societies, among the Indians and the Iranians as well as among the ancient Scandinavians and, with more pronounced alterations, among the Celts. [...] I have proposed for the sake of brevity, to call this structure ‘the ideology of the three functions’. The principal elements and the machinery of the world and of the society are here divided into three harmoniously adjusted domains. These are, in descending order of dignity, sovereignty with its magical and juridical aspects and a kind of maximal expression of the sacred; physical power and bravery, the most obvious manifestation of which is victory in war; fertility and prosperity with all kinds of conditions and consequences”.32 In der Theorie scheint alles simpel zu sein, aber Tatsache ist, dass sich nicht in allen indoeuropäisch sprechenden Kulturen ausreichende Indizien finden lassen, welche die These Dumézils belegen könnten, was er allerdings durch gewisse Spekulationen zu kompensieren 28

Vgl. C. S. Littleton 1982, S. 35. Die Gelehrten, die eine wichtige Rolle am Anfang der Karriere Dumézils gespielt haben, sind: Michel Bréal (1832-1915) aus der Schule Max Müllers, der Komparatist Antoine Meillet (1866-1936) und Sir James George Frazer (1854-1941) mit seiner Theorie, dass der Ursprung der Religion in der Magie und in den archaischen Fertilitätsritualen liege (vgl. D. Dubuisson 2003, S. 29ff). 30 In dem Artikel: La préhistoire indo-iranienne des castes, wo er die drei iranischen Stände analysiert. 31 Vgl. D. Dubuisson 2003, S. 21. 32 G. Dumézil 1970, S. 161. Ich habe englische Auflagen von den Werken Dumézils benutzt, weil die meisten von ihnen ergänzt sind. Im Zusammenhang mit diesen Übersetzungen kann auch die daraus resultierende angloamerikanische Sekundärliteratur in Betracht gezogen werden, da diese Schule fundamental von Dumézil geprägt ist. 29

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versuchte. Daher erfordert diese Theorie noch sehr viel Forschungsarbeit; bei den Thrakern z. B. gibt es, obwohl sie als Indoeuropäer gelten, weder in ihrer bisher bekannten Mythologie noch in der Soziologie eine Spur von Tripartition. Für eine vorgeschichtliche Kultur ein solch genaues Schema vorzuschlagen, in das zudem große Imaginations- und Spekulationskraft investiert worden ist, konnte für den Franzosen nur mit Risiken verbunden sein. Seine Dreiteilungsideologie kann daher seinen Anhängern nur als Forschungsmethode dienen, da noch viele Fragen beantwortet werden müssen, für die Dumézil keine Zeit mehr fand. Sogar seine Anhänger – wobei ich unter „Anhängern“ jene Forscher verstehe, die die dumezilsche klassische33 Theorie lediglich als Anfangs- und Anhaltspunkt benutzen – finden die genannte Theorie ergänzungsbedürftig. Julian Baldick z. B. führt in das dumezilsche Schema eine Reihe von sekundären Begriffen ein: So seien alle drei Funktionen jeweils wieder nach den drei Prinzipien strukturiert; innerhalb der ersten Funktion kann man beispielsweise von magisch-religiöser Souveränität, von physischer Kraft und von Fruchtbarkeit sprechen; damit werden alle drei Prinzipien in einer einzigen Funktion zusammengefasst. Das Ergebnis ist ein Mosaik von neun Kombinationen der drei Prinzipien.34 Im Vergleich dazu modifiziert der Anthropologe Nick J. Allen von Oxford Dumézils Schema noch stärker: Er benutzt die Dreiteilungsideologie Dumézils nur als Anfangshypothese und kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass es ungenau sei, nur von drei Funktionen zu sprechen. Es gäbe eigentlich vier existenzielle Prinzipien bzw. vier Funktionen, wobei das Prinzip „des Anderen“ das vierte Prinzip sei: „[T]he hypothetical fourth might be defined as relating to what is outside or beyond. But one need not rely so heavily on spatial imagery: what is outside or beyond is likely to be qualitatively other (or ‘Other’). We have here a cluster of ideas which in principle may hang together sufficiently to constitute a function in Dumézil’s sense of the word”.35 Man muss jedenfalls zugeben, dass ein wichtiges Durkheimsches Muster36 in dieser dumezilschen Theorie zu erkennen ist. Für Durkheim ist

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„Klassisch ist eine Theorie, wenn sie einen Aussagenzusammenhang herstellt, der in dieser Form später nicht mehr möglich ist, aber als Desiderat oder als Problem fortlebt“ (Niklas Luhmann in der Einleitung von E. Durkheim 1988, S. 19). 34 Vgl. J. Baldick 1994, S. 15. 35 N. J. Allen 1996, S. 14. 36 Dumézil benutzt sehr intensiv die Methodologie der französischen soziologischen Schule. Die Mitglieder dieser Schule, Marcel Mauss und Henri Hubert, blieben jedoch seiner Theorie gegenüber skeptisch, da er am Anfang seiner Karriere zu stark von den abenteuerlichen Ideen James Frazers geprägt war (vgl. D. Dubuisson 2003, S. 43ff).

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die Religion eine ethische Gemeinschaft.37 D. h., die Religion ist eigentlich in der mythischen Dimension eine Spiegelung der Gesellschaft und ihrer Moral, welche der Einheit stiftende Faktor jeder Gemeinschaft ist.38 Dies hat Dumézil zu seiner Idee inspiriert, dass die komparatistische Mythologie in einer vergleichenden Soziologie der indoeuropäisch-sprechenden Kulturen eine Basis haben könnte. Er ist der Meinung, dass sich die gemeinsame indoeuropäische Anschauung auf drei fundamentale Prinzipien39 stützt, die zu jeder Gesellschaft als existenzielle Kategorien gehören: 1. Die Bewahrung der kosmischen und juristischen Ordnung; zwei Aspekte der Ordnung, die sich gegenseitig ergänzen: der magische und der herrschaftsjuristische.40 Die erste Funktion war die der sogenannten geistlichen Klasse, der Priester, und sie wird im Pantheon von zwei Göttern (z. B. MitraVaruna in Indien, Odin-Tyr bei Germanen usw.) für die jeweiligen zwei Aspekte repräsentiert. 2. Die Anwendung der physischen Kraft für die Verteidigung der Gemeinde oder für den Angriff gegen andere. Aus dieser Funktion heraus entstehe in jeder indoeuropäischen Gesellschaft eine kriegerische Elite; die göttlichen Charaktere dieser Funktion seien Indra (in Indien), Thor (im germanischen Raum), Mars (bei den Römern)41 usw. 3. Der Beitrag zu einem gemeinsam-glücklichen materiellen Wohlstand wird zur Aufgabe der Masse des schaffenden Volkes, die aus freien Hirten und Bauern, später auch aus Handwerkern und Kaufleuten besteht. Dieser Teil der Gesellschaft ist u. a. für die materielle Versorgung der ganzen Gemeinschaft verantwortlich. Die charakteristischen Götterfiguren seien die zwei Nasatya (Indien), Frey und Freya (Germanen), Quirinus (Römer) usw. Alle diese Prinzipien zusammen mit ihren Manifestationen in der gesellschaftlichen Ebene werden von Dumézil „Funktionen“ genannt.42 37

Für Durkheim ist die Gesellschaft ein harmonisches Ganzes, ohne innere Spannungen und Spaltungen, genau im Gegensatz zu Karl Marx, der die sozialen Konflikte zwischen den Klassen betonte (vgl. H.-P. Müller 2003, S. 156). 38 Vgl. J. Puhvel 1970, S. 371: “It is advisable to assume that gods are the supernatural projections of the same social divisions”. 39 Siehe z. B. J. de Vries 1943, S. 157 und 181. 40 Vgl. G. Dumézil 1964, S. 3-4. 41 Siehe zur Parallele Indra-Thor-Herkules als mythologischen Gestalten der zweiten kriegerischen Funktion den Aufsatz von F. R. Schröder (F. R. Schröder 1957). Dumézil und seine Theorie werden aber nicht erwähnt. 42 Wie C. S. Littleton anmerkt, geben die meisten Soziologen der „Funktion“ nur die exklusive Bedeutung „of the effect or consequence of a behaviour or institution upon the social system in which it occurs” (1973, S. xi). J. Baldick ist mit dem Begriff „Funktion“ unzufrieden. Er bringt dafür kein Argument, und es reicht ihm zu sagen: „I prefer to call them concepts“ (J. Baldick 1994, S. 6). Ich weiß nicht, wie vertraut Dumézil mit der Kulturphilosophie Ernst Cassirers war, allerdings ist sein Verständnis des FunktionBegriffs jenem des deutschen Theoretikers sehr ähnlich. Cassirer kann in seiner Erkenntnistheorie die Wahrnehmung einer Wirklichkeit nicht von ihrer Funktion trennen,

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Da Dumézil offensichtlich ein Strukturalist ist, hat man versucht, sein System mit Claude Lévi-Strauss in Verbindung zu bringen. Wesentliche Unterschiede trennen sie jedoch. Das von Lévi-Strauss vorgeschlagene Interpretationsschema für die Auslegung der Mythen ist das Muster, das die Verknüpfung mit dem strukturalistischen komparatistischen Ansatz Dumézils rechtfertigen sollte.43 Im Vergleich zu Lévi-Strauss erhebt Dumézil für seine dreigeteilte soziale Struktur keinen Anspruch auf generelle Gültigkeit, sondern sie sei nur im indoeuropäischen Kulturraum zu beobachten. „In short, the two scholars are working at two different levels of abstractions and inclusiveness. For Lévi-Strauss, the level is one of the human mind per se; for Dumézil, the level is the much more immediate one of a historically and geographically bounded set of related traditions”.44 Der Beitrag Dumézils stieß in der akademischen Welt nicht Überall auf Begeisterung. Deutschland zählt zu den Ländern45 in denen die Dumézilsche Dreiteilung abgelehnt wurde. Für die Deutschen beschäftigt sich „die Indogermanistik [...] in der Regel mit Rekonstruktion im sprachlichen Bereich“46; sie sollte jedoch die gesamte indoeuropäische Kultur, von der die Sprache nur ein Teil ist47, im Blick haben, ansonsten könnte man wieder der Einseitigkeit Max Müllers verfallen. Von Dumézil wurden in Deutschland lange Zeit nur zwei Werke übersetzt: „Loki“ und „Aspects de la fonction mehr noch: Die Wirklichkeit ist die funktionstragende Wahrnehmung: „Der Inhalt des Kulturbegriffs lässt sich von den Grundformen und Grundrichtungen des geistigen Produzierens nicht loslösen: das ‚Sein’ ist hier nicht anderes als im ‚Tun’ erfahrbar“ (zitiert von U. Daniel 2002, S. 93). Dasselbe Verhältnis, das bei Cassirer das Erfahrungsund Kulturverständnis bestimmt, scheint dem soziologischen Funktionsgedanken Dumézils Struktur zu geben. 43 Anders als für manche Forscher, die in der Mythologie eine Summe von unlogischen, verstümmelten und unstrukturierten Erzählungen sahen, sind die Mythen für Lévi-Strauss keine chaotischen Erzählungen. Der Mythos ist für ihn ebenso wenig chaotisch wie eine musikalische Partitur. So wie die Partitur im Hinblick auf Notengruppen, die miteinander harmonieren, gelesen werden sollte, genauso sollte der Mythos auf Tatsachen hin interpretiert werden, die sich um ein zentrales Motiv gruppieren. Grob schematisiert lässt sich Lévi-Strauss’ Theorie in folgender Weise veranschaulichen: Eine scheinbar unlogische Reihenfolge von Zahlen, z. B. 1, 2, 4, 7, 8, 2, 3, 4, 6, 8, 1, 4, 5, 7, 8, 1, 2, 5, 7, ist nicht mehr schwierig zu verstehen, wenn man das Ganze so liest: 1, 1, 1, 2, 2, 2, 3, 4, 4, 4, 5, 5, 6, 7, 7, 7. Der Mythos wird also zu einer Sukzession von Spalten, die aus ähnlichen Motiven konstituiert sind (Vgl. C. Lévi-Strauss 1958, S. 54). 44 C. S. Littleton 1982, S. 203. Wie wir aber bereits bemerkt haben, ist es nicht leicht, für den gesamten indoeuropäischen Bereich die Gemeinsamkeit der Dreiteilungsideologie zu beweisen. 45 Siehe den neuen Beitrag von B. Schlerath (a) und (b) 1995 bzw. 1996, sowie die Rezension von „Mythos und Epos“ in der Zeitschrift: Kratylos, 40/1995, S. 189-190. 46 M. Meier-Brügger 1998, S. 521. Siehe auch Vgl. B. Schlerath (b) 1996, S. 57. 47 Vgl. J. Baldick 1994, S. 4.

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guerrière chez les indo-européens“ (dt. „Aspekte der Kriegerfunktion bei den Indogermanen“); 1989 und 1992 sind weitere zwei Übersetzungen erschienen, „Mythos und Epos“ (fr. Mythe et épopée), Teil 1 und 2. In Skandinavien hingegen war das Interesse an Dumézil größer, sodass man in Schweden und Dänemark sein wichtiges Buch „Les Dieux des Germains“ übersetzt hat, von dem sogar mehrere Auflagen publiziert wurden. Der Holländer Jan de Vries (†1964) war ein begeisterter Anhänger Dumézils. Die größte Unterstützung und Förderung hat Dumézil jedoch in der angloamerikanischen akademischen Welt gefunden, wo fast all seine Werke übersetzt wurden. Er hatte hier wichtige Freunde, unter ihnen Mircea Eliade von der University of Chicago. Wie schon angedeutet hat die Theorie Dumézils, die sowohl kritisiert als auch begeistert aufgenommen wurde, die indogermanistische, religionswissenschaftliche und historische Forschung in starkem Maße geprägt und beeinflusst. Im deutschsprachigen Raum lassen sich bei Otto Höffler, Alois Closs und Franz Rolf Schröder in deren Monografien über Indra, Thor sowie Herakles deutliche Einflüsse Dumézils feststellen. Frankreich werde ich übergehen, da es das Heimatland Dumézils ist, wo einige Generationen von Forschern unter dem Einfluss seines Werkes standen. Hier genügt es, seinen Schüler und Freund Lucien Gerschel und den anderen wichtigen Forscher, Jean Haudry, zu nennen, der von den Angloamerikanern ganz übersehen, aber von der Wiener Schule stark rezipiert wurde. In den USA. kann man von einem Boom der indoeuropäischen Komparatistik sprechen, bei dem die Dreiteilungsideologie eine zentrale Rolle spielt: Jaan Puhvel initiierte 1959 ein Program of Comparative Indo-European Studies an der Universität Kalifornien, und C. Scott Littleton stellte in seinen Aufsätzen Dumézils Theorie der akademischen Welt Amerikas vor. Als zwei wichtige Nachfolger auf amerikanischem Boden sind zu nennen: Edgar Polomé und Donald Ward. Sogar in Japan finden sich Anhänger der Dumézilschen Theorie: Atsuhiko Yoshida entdeckt Spuren der funktionellen Dreiteilung in der japanischen Mythologie (in seinem Artikel „Sur quelques figures de la mythologie japonaise“).48 Zu den wichtigsten Kritikern zählt der Germanist Ernst Alfred Philippson (Universität von Illinois), der meint, dass z. B. Thor kein Kriegsgott sei, sondern wegen seiner Bedeutung für die Bauern ein Gott der Fruchtbarkeit.49 Dagegen argumentieren die „Dumézilianer“, dass Thor als 48 In: Acta Orientalia, XXIX, 1-2, Copenhagen, 1965, S. 221-233. Über ihn siehe auch J. Baldick 1994, S. 30 ff. 49 Vgl. E. A. Philippson 1953, S. 35 (oder E. A. Philippson 1929, S. 136: „Er [Thor] beherrscht das Wetter, sein Hammer spendet Fruchtbarkeit und Segen. So übernimmt der Wettergott auch den Schutz von Äckern, Häusern und Gewässern“. Es muss gesagt werden, dass Philippson keine direkte Kritik an Dumézil übt, da er ihn in seinem Buch an keiner Stelle erwähnt, obwohl 1953 Dumézil schon ein Name der Komparatistik war und jede Studie über die Indogermanen auf seine Theorie stieß.

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Kriegsgott auch die meteorologischen Kräfte (Blitz, Donner, Sturm) kontrolliert, welche ebenfalls im Ackerbau wichtig sind.50 Die mediävistische Forschung über die drei mittelalterlichen Stände oratores, bellatores, laboratores konnte natürlich die Dumézilsche Theorie nicht unbeachtet lassen. In Frankreich stieß sie auf Zustimmung (trotz einiger Nuancierungen): G. Duby schreibt „Les trois ordres ou l’imaginaire du féodalisme“ (Paris 1978)51 und Jacques Le Goff, „Les trois fonctions indoeuropéennes, l’historien et l’Europe féodale“ (Annales E. S. C. 34/1979).52 Dieser Übernahme von Dumézils Theorie steht die deutsche Mediävistik skeptisch gegenüber: Obwohl sie eine dreigeteilte mentale Struktur erkennt53, meint sie, dies sei lediglich eine ideal-theoretische Anschauung, ohne Entsprechung in der realen gesellschaftlichen Struktur des europäischen Mittelalters.54 Eine der wenigen Stimmen aus der deutschen Forschung, die eine positive Meinung über die Dreiteilungstheorie äußert, ist Otto Gerhard Oexle.55 Ihm zufolge entspricht dieses dreigeteilte Deutungsschema durchaus der Wirklichkeit, solange es die einzige Art ist, durch die der Mensch des Mittelalters die Wirklichkeit an sich wahrnimmt und deutet.56 Meiner Meinung nach steckt in Dumézils Theorie mehr Wahrheit, als die Skeptiker glauben wollen. Dennoch bleibt es die Herausforderung dieser Arbeit, in einer mittelalterlichen Gesellschaft ein tripartites Denkmuster nachzuweisen und glaubwürdig zu begründen. Ich verstehe den Beitrag Dumézils als einen Ansatzpunkt, wobei noch viel aufzuklären bleibt.57

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Vgl. C. S. Littleton 1973, S. xxxii. Die deutsche Übersetzung G. Duby 1981. In diesem Werk hält Duby die Filiation der drei mittelalterlichen Ordnungen aus der indoeuropäischen tripartiten Mentalität für „evident“ (vgl. G. Duby 1981, S. 17). 52 Annales E. S. C. = Annales. Économies-Sociétés-Civilisations. 53 Vgl. R. Wenskus 1975, S. 23. Die Argumentation Wenskus’ halte ich für grundsätzlich falsch, da er mythische Zusammenhänge historisch, sprich einseitig, interpretiert. 54 Vgl. O. G. Oexle 1988, S. 27. Selbst Duby fragt sich: „[I]n welcher Beziehung steht dieses Modell zu den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen? Wie wir sehr wohl wissen, ist die Ideologie keine Widerspiegelung des Erlebten“ (G. Duby 1981, S. 19). Wir dürfen aber nicht vergessen, dass in den traditionellen Gesellschaften die Ideologie ein Ziel und ein existenzielles Postulat ist. Das Verhältnis Ideologie-Realität ist in einer säkularisierten und in einer traditionellen Kultur verschieden. 55 Neben ihm erwähne ich Otto Hintze, der ebenfalls die ständische Gesellschaft des europäischen Mittelalters mit der indogermanischen Dreiteilung in Verbindung bringt (vgl. O. Hintze 1970, S. 160). Siehe auch W. P. Schmid 1975. 56 Vgl. O. G. Oexle, S. 29. 57 Vgl. J. Baldick 1994, S. 29-39. 51

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Drei, die heilige Zahl Die menschliche Existenz wird in den indoeuropäischen Kulturen meistens in Bezug auf verschiedene Triaden verstanden und gedeutet. Diese Tendenz wurde von Kolonisten auch auf amerikanischen Boden getragen, wo man das Spezifische der „Zahl-Drei-Kulturen“ in der Interaktion mit den Kulturen „anderer Zahlen“ bemerken kann: Die Indianer z. B. haben in der Regel als heilige Zahl die Vier58; allerdings gibt es auch Kulturen, in denen die Nummer Fünf die „Alltagsnummer“ ist.59 All dies beruht wohl auf einem unterschiedlichen mentalen Hintergrund. In den indoeuropäischen Traditionen verknüpfen sich die sozial-menschlichen mit den göttlichen Triaden, und daraus entsteht ein spezifisches Modell. Die Indoeuropäer müssen die Welt aus einer dreiteilig strukturierten Perspektive gesehen haben. Man kann bei all ihren Nachfolgekulturen Triaden von Naturkatastrophen, von Ereignissen usw. beobachten. Sogar in Anekdoten taucht meistens eine Reihenfolge von drei Abläufen, drei Versuchen, drei Proben usw. auf. „Die Welt und die Gesellschaft können nur durch harmonisches Zusammenwirken der drei einander übergeordneten Funktionen leben (Souveränität, Macht, Fruchtbarkeit)“.60 Manche Forscher glauben sogar in den modernen totalitär-kommunistischen Staaten eine tripartite Struktur zu erkennen.61 Im Jahre 1380 v. Chr. schrieb ein hethitischer Herrscher einen Vertrag, in dem er zu der klassischen indisch-arischen Triade, Mitra-Varuna (Variante: Uruvana), Ind(a)ra und den zwei Göttern Nasatya betet. Herodot weist in seinen Historien (IV, 5-6) auf die bei den iranischen Skythen vorherrschenden drei Schichten der Gesellschaft hin, welche im Zusammenhang mit drei symbolischen Objekten stehen: die Priester mit dem Becher, die Krieger mit der Axt, die Bauern mit dem Joch und Pflug.62 In De bello Gallico (15) bemerkt Caesar ebenso, dass die angesehenen drei Klassen der Kelten die Barden, die Vates und die Druiden seien. Ich weiß nicht, ob dies bloß ein Missverständnis ist, denn die drei Namen repräsentieren eigentlich nur Aspekte der geistlichen Schicht. Die für mich wichtige Information ist, dass die Barden die Hymnensänger waren, die Vates jene, die Opfer dar58 G. Bataille weist auf den heliogonischen Mythos bei den Azteken hin, in dem der Gott Tecuciztecatl vier Mal (!) versuchte, sich in das schöpferische Feuer hineinzuwerfen, es jedoch wegen seiner Angst nicht tat (vgl. G. Bataille 1975, „Der verfemte Teil“, S. 76). In den indogermanisch sprechenden Traditionen hätte man nie verstehen können, warum der Gott nicht dreimal den Versuch gemacht hat. 59 Vgl. A. Dundes 1968. 60 G. Dumézil 1964, S. 14. 61 Vgl. J. Baldick 1994, S. 158 ff. 62 Ich werde noch über die charakteristischen Waffen und Objekte jedes Standes sprechen.

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brachten, und schließlich die Druiden jene, zu deren Aufgabe die Betrachtung der Natur gehörte.63 Hier sind Eigenschaften jeder der drei Funktionen zu erkennen. Für das alte Indien ist die Hauptquelle der Rig-Veda. Diese Sammlung von Hymnen stellt uns das gesamte indische Pantheon vor, das sich durch eine wichtige funktionelle Triade auszeichnet: Mitra-Varuna, Indra und die Nasatya- (oder Asvins-) Zwillinge. Die Tripartition verzweigt sich weiter, da jeder Gott Nebengottheiten oder verschiedene Helden in seinem Dienst hat. Mitra wird manchmal zusammen mit Aryaman und Bhaga genannt. Der Partikel arya- in Aryaman verweist darauf, dass er die Gottheit der arischen Nation ist, die deren Zusammenhalt und Überleben beschirmt; Bhaga ist eine Gottheit der Verträge. Die zwei „Hilfskräfte“ des Mitra können als personifizierte Nebenaspekte seiner Funktion betrachtet werden, da er selbst oft mit diesen Epitheta beschrieben wird: Er stützt den Himmel und die Erde und gibt seinem Volk alles, was es braucht. Varuna und Mitra sind funktional eng aufeinander bezogen: Mitra ist der Gesetzgeber, der als ein disposer geboren wurde, und Varuna ist der Gott, der die kosmische und menschliche Ordnung mittels Gewalt und Magie bewahrt, er ist der Wächter, der die Sünden bestraft. Fast alle Hymnen des Rig-Veda nehmen Bezug auf ihn, sehen ihn als Richter und bitten ihn um Verzeihung der Sünden. Die zwei göttlichen Figuren sind untrennbar verbunden und ergänzen sich: Denn das Gesetz kann ja nicht ohne Herrschaft und Gewalt existieren. Darum erhält Varuna oftmals furchterregende Epitheta, er ist stets der Strafende. Indra ist die kriegerische Figur der Triade. Er steht immer im Zusammenhang mit der kriegerisch-mystischen Wut, die vom heiligen Getränk soma ausgelöst wird. Er ist der Gott, der im Streitwagen kämpft, sein symbolisches Tier ist das Pferd. Der göttliche Krieger Indra hilft seinem arischen Volk bei der Eroberung Indiens; er ist es, der die Lande der Feinde vermindert und der das Dasyu-Volk den Ariern unterwirft.64 Diese Be63

Vgl. M. Dillon/ N. K. Chadwick 1966, S. 22. Hier sei die These der arischen Eroberung Indiens angesprochen. Da sie im 19. Jh. rassische und koloniale Prägungen erhielt, wurde von der modernen hindunationalistischen Renaissance in Indien selbst die Vorstellung von den Indoeuropäern bzw. Ariern und der Eroberung Indiens in Frage gestellt. S. G. Talageri 1993, bricht erbittert eine Lanze, dafür, dass “The Rigveda and the Puranas, as we saw, provide conclusive evidence that India was the Original Homeland of the Indo-European family of languages“ (S. 360) (er verteidigt also die These der „vollständigen Indigenität“ der Arier – vgl. M. Bergunder/ R. P. Das 2002, S. 10). Man bemerkt aber, dass sein „wissenschaftliches“ Verfahren völlig defizitär ist: Ca. 370 Seiten „revolutionärer“ Ergebnisse werden von einer gerade 40 Titel beinhaltenden „dünnen“ Bibliografie unterstützt; andererseits lässt er sich viel zu sehr ideologisch beeinflussen („Original Homeland“, beides groß geschrieben). Tatsache ist, dass im Moment die Eroberung Indiens durch 64

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schreibung hängt wohl mit der historischen Tatsache zusammen, dass im 2. Jahrtausend v. Chr. die Einwanderung der Indoeuropäer in Indien von furchtbaren Zerstörungen der städtischen Kultur der autochthonen Ackerbauern begleitet wurde. Als Konsequenz dessen erhielt der Kriegsgott der Eroberer das Epitheton „der Mauer- oder Festungszerstörer“.65 Die dritte Funktion wird von den Asvins- (Nasatya-) Zwillingen vertreten, den Patronen der Hirten sowie der Pferde- und Viehherde. Die Nasatya sind „reich an Pferden“, wobei die Betonung hier nicht auf dem Pferd an sich liegt, das ein Zeichen der zweiten Funktion ist, sondern auf dem Reichtum, der Vielzahl der Pferde. Die Asvins sind sehr schön und haben auffällige erotische Merkmale. Weiterhin sind sie geschickte Heiler der physischen Krankheiten und allgemein für den Wohlstand des Volkes „verantwortlich“.66 Dieselbe Einteilung nach Funktionen herrscht auch in der indischen Gesellschaft vor: Brahmanen, ksatrya67 (Krieger) und vaisya (die Vieh- und Pferdehalter).68 Indien ist überhaupt die einzige indoeuropäisch-sprechende Kultur, die diese funktionelle Dreiteilung im sozialen Aufbau in strenger indoeuropäisch-sprechende Gesellschaften nicht widerlegt werden kann (vgl. M. Bergunder/ R. P. Das 2002, S. 11). Es gab wohl eine gewaltsame Eroberung, das rechtfertigt aber keineswegs die Entstehung ebenso pseudo-wissenschaftlicher Rassen-, Überlegenheits- und Diskriminierungstheorien wie im englischen Kolonialismus oder bei den Nationalsozialisten. Bei dieser Eroberung handelt es sich nicht um eine rassische Auseinandersetzung – im modernen Sinne –, sondern um die Kollision zweier Kulturen, eine von Einwanderern/Eroberern und eine von Autochthonen. Über die Farbe ihrer Haut kann man heute wenig sagen. Auch wenn die Farbe unterschiedlich gewesen sein sollte, spielte sie bei dieser Kollision mit Sicherheit keine Rolle (vgl. T. R. Trautmann 2002, S. 36f). Obwohl wohlmeinende Forscher um der Vermeidung von Polemik willen behaupten, dass die „arische Einwanderungsthese [..] weder widerlegbar noch beweisbar“ ist (M. Bergunder 2002, S. 174), sagt keiner, dass es sich letzten Endes um zwei distinkte Kulturen handelt (die indoeuropäische und die vorarische). Nun zeigt uns die Geschichte der Menschheit, dass, wenn zwei traditionell-archaische Kulturen aufeinander treffen, dies meistens mit Gewalt verbunden ist. Indien machte – nehme ich an – keine Ausnahme. 65 Vgl. M. Eliade 1992, S. 189. Zu anderen Epitheta von Indra F. R. Schröder 1957, S. 9. 66 Für die vedischen Figuren habe ich die Sammlung A. A. Macdonell 1960 benutzt. 67 Interessant zu erwähnen ist, dass die Roma im heutigen Rumänien, die aus der Punjab-Region Indiens im Mittelalter ausgewandert sind und häufig als Söldner tätig waren, ihre Wanderungseinheit, in der die Pferde eine essenzielle Stellung einnehmen, „ atra“ nennen. Sie sind Träger einer indoeuropäischen Sprache (vgl. T. R. Trautmann 2002, S. 17). 68 Die keltisch-irischen Gesellschaften bewahren bis ins Frühmittelalter diese drei Begriffe: fili, druí (für Priester), rí (Krieger) und aire oder bó aire (Bauer). „Rí“ hat denselben Wortstamm wie der indische „raj“ (= König). Die letzte Benennung ist die genaue Analogie des indischen Begriffes: bó aire heißt „Viehhalter“ (Vgl. M. Dillon/ N. K. Chadwick 1966, S. 177).

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Weise bewahrt hat: Nirgendwo sonst sind die drei Schichten noch so strikt getrennt wie hier. In der indischen Gesellschaft heißen die Kasten varna, „Farben“. Eine Analogie findet man im avestischen Iran, wo die sozialen Stände ebenfalls mit dem Begriff für „Farbe“ (pistra) benannt werden. Im Iran war die Standesfarbe der Priester weiß, der Krieger rot und der Bauern blau.69 Es ist kein Zufall, dass die Traditionen die Kriegsgötter Thor und Indra als rothaarig beschreiben.70 In der mythischen Geschichte Indiens, wie auch später bei den Römern, wird die Gesellschaft als Spiegel der göttlichen Welt betrachtet, die in drei Funktionen aufgeteilt erscheint. Das indische Poem Mahabharata (5. oder 4. Jahrhundert v. Chr.) teilt die PandavaHelden nach drei Haupttätigkeiten ein: Pandu und sein ältester Sohn (Yudhishtira) sind Könige (nach dem varunaischen und mitraischen Aspekt); der zweite und der dritte Sohn Pandus sind Krieger (Bhima und Arjuna); die letzten zwei Söhne sind Zwillinge (Nakula und Sahadeva) und haben nur positive Eigenschaften: Sie sind gut, ehrlich, stehlen nicht und respektieren so die materielle Habe und das Eigentum; sie treiben außerdem Pferde- und Viehhaltung.71 Die Römer haben ebenfalls ihre tripartite Tradition. Dumézil teilt sie in zwei Richtungen ein: 1. Die Capitolium-Triade: Jupiter, Mars, Quirinius (als theologische Richtung); 2. Die Triade der mythischen Könige: Romulus, der Halbgott, der Nutznießer der Auspizien; Numa Pompilius, der Weise, der Rechtsspezialist (consultissimus vir, ut in illa quisquam esse aetate poterat, omnis divini atque humani iuris72) und der Gesetzgeber (qui regno ita potitus urbem novam [...] iure eam legibusque ac moribus de integro condere parat).73 Tullius Hostilius, die kriegerische Figur Roms, war ferocior als Romulus selbst und immer materiam excitandi belli quaerebat74 (suchte einen Grund, Krieg anzuzetteln). Er ist nicht nur Verteidiger der Heimat, sondern zugleich auch Angreifer75, und das konturiert eine weitere Aufgabe, die die indoeuropäische Mentalität der kriegerischen Funktion zuschrieb: den Angriffskrieg zur Ehre der Gemeinschaft. Nicht zufällig findet zu seiner Zeit der berühmte Kampf der Horatii und Curiatii statt. Ancus Marcius ist im Gegensatz zu Hostilius ein Schützer des Volkes,

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Vgl. E. Benveniste 1973, S. 227. Siehe die anthropologische Untersuchung über die Korrespondenz von Ehre, Farben und dem sozialen Status bei D. Burkhart 2002, S. 165ff (für Weiß), S. 170ff (für Rot), S. 165f (für Schwarz, Braun, Dunkelblau). 71 Vgl. G. Dumézil 1964, S. 15. 72 LIVIUS, I, 18. Für die deutsche Übersetzung habe ich die Auflage: Titus Livius, Römische Geschichte, O. Güthling (Hg.), Leipzig 1884, verwendet. 73 LIVIUS, I, 19. 74 LIVIUS, I, 22. 75 Vgl. G. Dumézil 1964, S. 15 f. 70

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ein Eroberer mit dem Reichtum als Ziel, ein großer Städte- und Mauerbauer. Die mythische Geschichte transponiert folglich die generelle Dreiteilungsmentalität in eine Quasirealität, in der die ersten Könige die drei wichtigsten Funktionen jeder Gesellschaft verkörperten: Romulus und Numa sind Begründer-Herrscher bzw. Gesetzgeber, Hostilius ist ein aggressiver Krieger-König und Marcius ist der König, der Güter und Territorien akkumuliert und sie durch Festungen beschützt (im Gegensatz dazu war Indra der „Festungszerstörer“). Genau wie bei den Indern kann man auch in der römischen Kultur eine gegenseitige Beeinflussung der göttlichen und gesellschaftlichen Sphäre erkennen. Bei den Germanen lassen die Quellen eine göttliche Dreiheit in der nordischen Religion vermuten: Odin gilt als der mächtigste Zauberer, der Meister der Runen, das Haupt der göttlichen Gesellschaft, der Patron der Helden. Thor (Donner) ist der mit einem Hammer bewaffnete Gott, der Schreck der Giganten. Etymologisch bedeutet sein Name: „der donnernde Gott“; er hilft oder schadet den Bauern bei ihrer landwirtschaftlichen Tätigkeit mit seinem atmosphärischen Kampf. Die dritte Figur besteht bei Germanen aus einer ganzen Göttergruppe, nämlich aus den Vanen Njord, Frey, Freya, welche physische Lust und Reichtum verschenken. Dumézil erinnert z. B. an eine Triade bei den von Karl dem Großen besiegten Sachsen.76 Sie mussten eine abiuratio aussprechen, dass sie die heidnische Religion mit ihren drei Hauptgottheiten Thunar, Uuoten und Saxnot ablehnen. Bei den ersten zwei ist die Etymologie deutlich ersichtlich, der dritte Gott jedoch stellt mich vor einige Probleme. Dumézil macht dazu einen Vorschlag: Durch eine semantische Parallele zwischen dem lateinischen Quirinus (co-uirinos) und dem germanischen Begriff (Ge)noss, in dem die wichtige Partikel noss mit dem altgermanischen (Sax)not (oder bei den Angeln Seaxeneat) assoziiert werden kann, löst er das Problem. Demnach wäre nach Dumézil diese Gottheit „’veraldar god’, that is the god of that complex Germanic notion (Ger. Welt, Eng. World, Swed. Värld etc.) which designates etymologically men (ver-) through the ages (-old)”.77 Man spricht also von einem Gott der sächsischen „Nation“. Die einzigen Quellen, die ich für die germanische Mythologie und für das Dreiteilungsmuster benutzen kann, stammen aus dem Mittelalter. Natürlich geben auch Caesar oder Tacitus in der Germania wichtige Informationen über die Germanen und ihre Religion, aber die interpretatio Romana der Gottheiten ist doch zu verwirrend, so dass der reale Charakter der göttlichen Figuren des Nordens fast nicht zu erkennen ist:

76 77

G. Dumézil 1973, S. 19 f. G. Dumézil 1973, S. 20.

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“Deorum maxime Mercurium colunt, cui certis diebus humanis quoque hostiis litare fas habent. Herculem et Martem concessis animalibus placant. Pars Sueborum et Isidi sacrificat.“ 78 (Am meisten von ihren Göttern verehren sie Merkur, dem sie an bestimmten Tagen sogar Menschenopfer darzubringen für eine religiöse Pflicht halten. Herkules und Mars besänftigen sie durch tierische Opfer. Im Gebiet der Sueben opfert man auch der Göttin Isis).

In diesem Fall ist die Triade angedeutet, in der Merkur als Gott der Magie angesehen werden kann (es gibt also eine Verbindung mit der ersten Funktion)79, aber beide, Herakles und Mars, sind eigentlich Vertreter der zweiten Funktion. Der dritten Funktion ist wohl die enigmatische Figur der weiblichen Gottheit zuzuordnen, die aber mit Sicherheit nicht Isis sein kann. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist hier die germanische Freya gemeint. Zur Feststellung der nordischen Dreiheit sind für mich wie gesagt die mittelalterlichen christlichen Quellen am hilfreichsten. Bei ihrer Mission in Skandinavien hatten die christlichen Autoren einen intensiven Kontakt mit der heidnischen Religion der Germanen, wobei manche von ihnen zu deren Überlieferung beigetragen haben. Der Isländer Snorri Sturluson schrieb im 13. Jahrhundert Heimskringla80 (dt. „Sagen der norwegischen Könige“). Das Buch beginnt mit einer generellen geografischen Beschreibung der Erde und mit der Festlegung der ursprünglichen Länder zweier Göttervölker: der Vanen im Vanaland oder Vanaheim und der Asen in Asien, Asaland oder Asaheim. Odin, der Herrscher über Asaheim, hat seinen Hauptsitz in einer Stadt von großer religiöser Bedeutung, denn Asgaard war laut Snorri eine wichtige Opferstadt (Ynglingasaga, I). Das wichtigste Ereignis in dieser sakralen Geschichte ist der Krieg zwischen den zwei mythischen Göttervölkern. Odin mit seinem riesigen Heer greift Vanaheim an, doch die Vanen waren gut vorbereitet und konnten daher nicht besiegt werden. Snorri berichtet, dass jede Seite abwechselnd siegte und das Land der anderen plünderte. Als sie müde von dem unentschiedenen Krieg waren, schlossen sie Frieden und tauschten Geiseln. Die Vanen haben ihre besten Männer als Geiseln geschickt, Njord „den Reichen“ (wie Snorri ihn nannte) und seinen Sohn Frey. Ein wichtiger Aspekt in der Überlieferung Snorris ist, dass Njord, als er sich noch in seinem Land aufhielt, seine eigene Schwester geheiratet und mit ihr zwei Kinder gezeugt hat, Frey und Freya. Der Autor betont, dass dieser Brauch im Vanaland durchaus üblich war, aber im Asaland unvorstellbar und verboten (Ynglingasaga, IV). Odin wird 78

TACITUS- Germ., IX. Vgl. C. E. Fell 1980, S. 35ff. 80 HEIMSKRINGLA, Ynglingasaga. Obwohl es auch eine deutsche Übertragung von Felix Niedner gibt, habe ich die englische Übersetzung benutzt, da sie die poetische Form genauer widergibt. 79

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als Gott der ersten Funktion sehr detailliert beschrieben: Er war der Klügste von allen, ein guter Rhetoriker und Dichter, ein mächtiger Zauberer (Ynglingasaga, VI) und Schamane (Ynglingasaga, VII), aber vor allem war er ein Gesetzgeber (Ynglingasaga, VIII). Ein Gegner der nordischen Götter war der christliche Geistliche Saxo Grammaticus († ca. 1220). Seine Berichte hatten die Entmystifizierung und Abwertung der heidnischen göttlichen Figuren zum Ziel: „In dieser Zeit wurde ein gewisser Othinus in ganz Europa (Europa tota), allerdings zu Unrecht, göttlich verehrt (falso divinitatis titulo censeretur); in Uppsala aber pflegte er sich am häufigsten aufzuhalten, und diesen Ort würdigte er, sei es wegen der Einfalt der Bewohner (habitationis consuetudine) oder wegen der Anmut der Gegend, einer ganz besonderen Vorliebe in seinen Besuchen. Die Könige des Nordens wollten nun seine Göttlichkeit mit besonders hingebendem Eifer ehren und ließen ein Bild von ihm in Gestalt einer goldenen Statue herstellen.“81 „Von Alters begannen nämlich gewisse, in der Zauberei bewanderte Leute (magicae artis imbuti), Thor, Othinus und einige andere, die sich durch ihre wunderbare Fertigkeit in Hexenkünsten auszeichneten, einfältige Menschen zu betören und sich selbst den Glanz der Göttlichkeit anzumaßen (divinitatis sibi fastigium arrogare coeperunt).“ 82

Adam von Bremen erzählte in seiner Geschichte des Hamburger Bistums (ca. 107583) Folgendes: „Dieses Volk hat einen sehr berühmten (nobilissimus) Tempel, der Ubsola heißt, und nicht weit von der Stadt Sictona ist. In diesem Tempel, der ganz mit Gold geschmückt ist (quod totum ex auro paratum est), betet das Volk die Bildsäulen dreier Götter an (statuas trium deorum veneratur populus), und zwar so, dass der mächtigste (potentissimus) von ihnen, Thor, mitten im Gemach seinen Thron hat; rechts und links Wodan und Fricco. [...] „Thor“, sagen sie „hat den Vorsitz in der Luft, er lenkt Donner und Blitz, gibt Winde und Regen, heiteres Wetter und Fruchtbarkeit (presidet in aere, qui tonitrus et fulmina, ventos ymbresque serena et fruges gubernat). Der andere, Wodan, d. h. die Wut/Raserei, führt Kriege und gewährt dem Menschen Tapferkeit gegen seine Feinde (id est furor, bella gerit hominique ministrat virtutem contra inimicos). Der dritte ist Fricco; er spendet den Sterblichen Frieden und Lust (pacem voluptatemque largiens mortalibus). Sein Bild stellen sie auch mit einem ungeheuren männlichen 84 Glied versehen dar (cum ingenti priapo).“

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SAXO, 1, VII, 1. Die Übersetzung von H. Jantzen (Saxo Grammaticus 1900, S. 37). SAXO, 6, V, 3; Saxo Grammaticus 1900, S. 293. 83 Vgl. V. Scior 2005, S. 16f. 84 ADAM BREMENSIS, IV, 26. 82

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Aus der chaotischen und uneinheitlichen Beschreibungen kann man lediglich herauslesen, dass die Männer des Nordens eine göttliche Triade verehrten, die im Bezug zu den drei Funktionen stand. Die Namen der Götter sind gut erhalten geblieben, nur die Zuordnung der Namen zur jeweiligen Funktion ist mancherorts aufgrund von Verwechselungen nicht richtig wiedergegeben oder vielleicht noch in germanischer Zeit selbst „aktualisiert“ worden. Die Texte weisen aber auf eine starke kultische Verehrung und eine entwickelte Mythologie dieser Götter hin. Nach der Christianisierung wurden im Falle einer Krankheit die drei genannten Namen zur Heilung weiterhin angerufen.85 Ein Problem, das sich dem Komparatisten stellte, war das angebliche Fehlen der Dreiteilungsideologie in einer wichtigen indoeuropäischen Tradition, nämlich der griechischen. „From the Indo-European comparative perspective, Greek tradition may for all intents and purposes be discounted“.86 Nirgendwo in jener Gesellschaft oder im Pantheon konnte man deutliche Spuren von Tripartition finden. Das wiederum hatte aber zwei wichtige Konsequenzen: primo, wenn eine so wichtige Tradition die Dreiteilungsideologie nicht enthält, ist die gesamte Theorie vielleicht nur Spekulation; secundo, wenn die Dreiteilung unbedingt zu jeder indoeuropäisch sprechenden Kultur gehört, dann ist die griechische Kultur eben keine indoeuropäische mehr. Zudem wurde sie von den Kulturen im Mittelmeerraum assimiliert. Man kann allerdings nicht jene Informationen übersehen, die beweisen, dass die griechische Kultur (trotz einer starken Mediterranisierung) doch wichtige indoeuropäische Merkmale bewahrt hat, unter die eben auch die Tripartition zu zählen ist. Die Ionier nennen in ihren Mythen mehrere Stände, welche die Basis ihrer Gesellschaftsordnung bildeten: 1. georgoi (die Bauern); 2. demiourgoi (die Handwerker); 3. hieropoioi (die Priester) und 4. phylakes (die Wächter).87 Indra wird im RigVeda auch „Wächter“ genannt.88 Platon teilt in der Politeia den politischen Organismus in drei große Teile auf, die drei wichtigen seelischen Komponenten: Vernunft, Tapferkeit und Instinkt. Die Vernunft ist die vorherrschende und gewinnt in der politischen Dimension im Herrscher-Stand Gestalt (IV, 16). Im Regierungsakt wird sie von der Tapferkeit und dem Instinkt begleitet. Die Tapferkeit gehört zu den Wächtern oder den Helfern (IV, 16). Der Instinkt sorgt für die physiologische Not, die von den Arbeitern, Bauern und Handwerkern gestillt wird. Die drei Funktionen

85

Vgl. G. Dumézil 1973, S. 5 oder HILDEBRANDLIED, 49, S. 39. U. Strutynski 1973, S. xxv. Vgl. M. Eliade 1992, S. 196. 87 Vgl. E. Benveniste 1973, S. 235, G. Dumézil 1970, S. 163 und J. Haudry 1998, S. 55. 88 RIGVEDA BRAHMANAS, viii, 12, S. 330. 86

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werden Erwerbs-, Helfer- und Ratsherrenstand genannt (IV, 15).89 Im XVIII. Gesang der Ilias fertigt der Handwerker-Gott Hephaistos einen wunderbaren Schild für Achilles. Auf diesen zeichnet er verschiedene Szenen aus allen Bereichen des Lebens. Die Zeichnung wird durch drei Ebenen strukturiert, die den drei Funktionen entsprechen: Erde, Himmel und Meer (en mèn gaian éteux’, en d’ouranón, en dé thálassan – XVIII, 483).90 Der Himmel wird als Erster beschrieben, mit all seinen kosmischen Wundern, dann folgt eine zweite Ebene, die Erde mit zwei Städten, wo interessanterweise Konflikte aufflammen. In der einen Stadt streiten die Teilnehmer bei einer Hochzeit, was eine Störung und Rücksichtslosigkeit der dritten Funktion gegenüber bedeutet, gleichzeitig wird die andere Stadt von einem Heer belagert. Die zweite Funktion – Streit, Aggressivität, Eroberung – wird also von ihren zwei Aspekten repräsentiert, dem negativen (die Störung des inneren Friedens der Gemeinde) und dem positiven (die Eroberung einer fremden Stadt mit dem Ziel der Vermehrung des Reichtums und der Ehre). Die dritte Ebene ist durch mehrere Motive dargestellt, die alle in Verbindung mit den Wertungskategorien der dritten Funktion stehen: 1. ein Acker, 2. Getreidefelder, 3. ein Weinberg usw.

Die Zahl Drei in den indoeuropäischen Traditionen Bisher habe ich dargestellt, wie sich die funktionale Struktur der Gesellschaft in der Mythologie der bekanntesten indoeuropäischen Kulturen spiegelt. Die Betrachtung mancher Motive im Bereich des Alltagslebens ist mir aber ebenso nützlich, da man auf diese Weise leichter die Kommunikation zwischen mentalen Strukturen der mittelalterlichen indoeuropäisch sprechenden Kulturen und der indoeuropäischen Mutterkultur selbst verfolgen kann, je mehr diese Strukturen im Mittelalter in Interaktion mit dem Christentum kommen.91 Die indoeuropäischen Farben. Wie bereits gezeigt, wurde in den indoeuropäisch sprechenden Traditionen das tripartite Denkmodell auch durch eine strenge Korrespondenz zwischen Ständen und einer bestimmten Farbe akzentuiert.92 Die „indoeuropäischen“ Farben der ersten und zweiten 89

PLATON-Politeia. HOMER-Ilias. Es ist daher nicht zu verstehen, dass das europäische Christentum gar nicht durch solche Denkstrukturen beeinflusst sein soll. Im Gegenteil, je verborgener, desto kräftiger sind alle Reste dieser politisch-sozialen Einteilung, die die gesamte Ständedynamik eines großen Zeitraumes bis ins Mittelalter hinein prägen. 92 Was allerdings zur Spekulation mancher Forscher führte, dass es kein Zufall sein kann, dass die heutigen Flaggen der europäischen Staaten dreifarbig sind bzw. aus drei 90 91

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Funktion sind ohne Ausnahme weiß bzw. rot.93 Im Falle der dritten Funktion ergibt sich ein etwas uneinheitlicheres Bild. In Indien ist die Farbe der dritten Funktion gelb, da die schwarze Farbe, die normalerweise die dritte Schicht bezeichnete, in Indien zur Farbe der eroberten Bevölkerung, der verachteten Schwarzen, wurde. Im Iran hingegen und im gesamten indoiranischen und indoeuropäischen Raum sind die Farben der dritten Klasse entweder schwarz, blau oder beides zugleich.94 Im frühmittelalterlichen Irland sprach man über drei gültige Martyrien, die durch Farben bezeichnet wurden: die weißen, die roten und die blauen Märtyrer. „The white martyrdom was exile, best understood as living outside the kin group and its customary laws rather than an emotional situation of nostalgia; the red martyrdom, death typically by weapons in defence of the faith, the glas [blaugrün] martyrdom, penance”.95 Des Weiteren teilt man im Mittelalter die Toten nach dem Partikulargericht in zwei Kategorien ein: die Geretteten (meistens weiß angezogene Pilger) und die Verdammten (meistens rot angezogene Ritter).96 Wichtig zu erwähnen ist, dass jene Sünden in besonderem Maße zur Verdammnis führen, die dem militärischen Ethos angehören: Die Sünder sind entweder bei einem Kampf oder einer Plünderung gestorben oder wurden wegen Ungehorsams gegenüber dem geistlichen Stand verurteilt. Diese Vorstellung ist natürlich Teil der kirchlichen Propaganda um das Jahr 1000 für die Befriedung der Gesellschaft. Es ist damit eindeutig eine tripartite Mentalität zu erkennen – ein Argument dafür, dass die Friedensbewegung des 10.-11. Jahrhunderts eine Dynamik der drei Funktionen repräsentiert.97 Die Waffen. W. Sayers behandelt in einer seiner Studien die Dreiteilungsmentalität bei den irischen Kelten im Frühmittelalter. Er stellt mehrere Triaden vor, die alle miteinander in kausaler Verbindung stehen: 1. Der Bereich der Religion, des Gesetzes und der Weisheit hat als Organe die Priester, die Juristen und die Barden (Dichter), in Entsprechung dazu steht der Kopf mit seinen Augen und dem Mund, als Waffe wird der Speer benutzt. Das ist die erste Funktion. 2. Der Bereich des Friedens und des Krieges wird von Kriegern vertreten, die als Waffe das Schwert besitzen. 3. Der Bereich der leiblichen Dimension des Lebens wird von Bauern, Hirten und Jägern repräsentiert. Diese tragen als Waffe die Keule, besser den Ebenen bestehen. Im Falle Russlands oder Frankreichs sind diese drei Farben der Flagge weiß, rot und blau (vgl. J. Haudry 1998, S. 29). 93 Vgl. E. Stavrianopoulou 2005, S. 27. 94 Vgl J. Haudry 1998, S. 55 und G. Dumézil 1988, S. 26. 95 W. Sayers 1996, S. 61. Siehe auch P. Dinzelbacher 1993, S. 20. 96 Vgl. C. Lecouteux 2001, S. 51f und S. 65f. 97 Vgl. J.-C. Schmitt 1998, S. 125.

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schweren Stab (der im Mittelalter oft als fuscus bezeichnet wird).98 Dabei weist jedes Motiv Variationen auf: Der Speer z. B. kann auch durch Pfeile als kleine fliegende Speere symbolisiert werden oder die zweite Funktion kann als Waffe ebenso die Axt haben (so wie es manchmal bei Indra oder den iranischen Skythen geschieht); so werden interessanterweise die Indoeuropäer von manchen Archäologen als „Kampfaxtkultur“ bezeichnet. Auch der Hammer (wie bei Thor), den ich als Variation der Axt ansehe99, kann als Symbol der zweiten Funktion fungieren.100 Die symbolischen Tiere. Das einzige symbolische Tier ist das Pferd, das die Kriegsfunktion repräsentiert.101 Die anderen beiden Schichten haben kein spezielles Tier. Obwohl laut manchen Forschern die Indoeuropäer das Pferd erst später im Kampf einsetzten102, kann man wohl schwer bestreiten, dass das Pferd in der historischen Zeit insbesondere als Zugtier für Streitwagen zu einem wichtigen Symbol für die zweite Funktion wurde, und damit auch das Joch – ein wichtiger Bauteil des gerade genannten Streitwagens.103 Die Opfer. Jede Funktion hat anscheinend ihren spezifischen Opferkomplex, sowohl bei Tier- als auch bei Menschenopfern, die nach verschiedenen, für die jeweilige Funktion spezifischen Methoden vollzogen wurden. Adam von Bremen (IV, 27) berichtet, dass die Menschen des Nordens bei verschiedenen Nöten unterschiedlichen Göttern opferten: 1. Bei Hungersnot und Pest opferte man dem Gott Thor, 2. bei Krieg Wodan und 3. bei einer Hochzeit Fricco. Adam von Bremen erzählt auch: „Von jeder Gattung männlicher Geschöpfe werden neun dargebracht [...]. Die Körper aber werden in dem Hain aufgehängt (corpora autem suspenduntur in lucum). Dort hängen auch Hunde und Rosse neben den Menschen (canes et equi pendent cum hominibus).“ 104 98

Vgl. W. Sayers 1996, S. 161. Vgl. G. Dumézil 1988, S. 117. 100 Es ist wahrscheinlich kein Zufall – angesichts der sexuellen Symbolik im Bereich des Krieges –, dass im frühmittelalterlichen Norden die Axt (sowie das Schwert, die Lanze usw.) mit dem Phallos und seiner Kraft assoziiert wurde (vgl. T. Vanggaard 1971, S. 80). 101 Nebenbei möchte ich auf den Aufsatz von K. Schreiner und G. Schwerhoff hinweisen, in dem auf der Seite 21 die Rolle verschiedener Tiere in den Entehrungsritualen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit betrachtet wird (siehe K. Schreiner/ G. Schwerhoff 1995). Die Assoziierung des Pferdes mit dem Krieger war so prägnant, dass im Mittelalter miles Synonym für eques und caballarius war (vgl. J. Johrendt 1971, S. 33). 102 Vgl. M. Meier-Brügger 1998 und P. Raulwing 1998. 103 Vgl. E. Windisch 1905, S. XII ff. 104 ADAM BREMENSIS, IV, 27. Man kann spekulieren, dass die Hunde die Opfertiere des dritten Standes darstellten. 99

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Saxo Grammaticus überliefert, dass Odin diejenigen, die seine Statue besudelt hatten, durch Erhängen bestrafte (1, VII,1105). Weiterhin berichtet er davon, dass auch der norwegische König Wicarus als Opfer für Odin ausgewählt wurde und durch Erhängen geopfert werden musste (6, V, 7).106 Daraus kann man folgern, dass die Opfer für die Götter der ersten Funktion erhängt wurden. In den mittelalterlichen Niederlanden und England galt das Ertränken als übliche Strafe, die deutliche Eigenschaften eines ursprünglichen Ritus’ aufwies: Es geschah nachts und heimlich. Tacitus (Germania, XL) erzählt, dass manche Menschen als Opfer für die Göttin Nerthus (eine der dritten Funktion) versenkt wurden.107 In Frankreich wurden ebenso im 17. Jahrhundert Erwachsene oder auch Kinder als Schutzritus gegen die Pest lebendig begraben. Ein Leipziger Text von 1765 berichtet über den Fall eines englischen Zwitters, der die beiden Töchter seines Herrn geschwängert hatte. Die Richter verurteilten ihn zum Tode, d. h., er sollte “lebendig in die Erde verscharret werden“.108 Das Begraben wurde folglich zur Bestrafung des Verstoßes gegen Werte der dritten Funktion (Sexualität, Mutterschaft, Gesundheit usw.) verhängt. Man kann also abschließend sagen, dass auch die dritte Funktion ihren eigenen Opferkomplex hatte: das Ertränken bzw. lebendig Begraben.109 Hier möchte ich anmerken, dass ein mittelalterliches Poem110 die Treue eines Vasallen lobt, wenn der Gefolgsmann seinem Herrn verspricht, ihm in den Tod zu folgen, egal wie ehrenhaft oder ehrlos dieser Tod sein würde, egal ob durch Erschlagen, Erhängen oder Ertrinken. Kann eine solche Formulierung zufällig sein? Handlungen. In vielen Märchen bzw. Legenden indoeuropäisch sprechender Kulturen hatte der Held drei Proben zu bestehen. In der heroischen Dichtung des Mittelalters „überleben“ die drei Proben, und, was noch viel bedeutsamer ist, diese Proben beziehen sich oft auf die drei Funktionen. Im Nibelungenlied z. B. muss Gunther drei Proben bestehen, damit er Brünhild zur Frau nehmen darf. Brünhild selbst nennt sie: „Den Stein sol er werfen 105

Oder Saxo Grammaticus 1900, S. 37f. Oder Saxo Grammaticus 1900, S. 295. Es war eigentlich der gescheiterte Versuch eines Scheinhängens. Der Brauch des Scheinhängens dauert als Initiationsritus bis in das Spätmittelalter und die Frühneuzeit an (vgl. W. Danckert 1963, S. 34). 107 Es ist nicht nur Zufall, dass die Helden der Ilias (Angehörige der zweiten Funktion) so viel Angst vor dem Tod im Wasser durch Ertränken hatten. Sie betrachteten diese Art des Todes als völlig ruhmlos (vgl. K. Thiele-Dohrmann 2000, S. 18), vielleicht auch, weil das Ertränken ein Symbol bzw. ein Ritus der dritten Funktion war. 108 Zitiert von M. Lipping 1986, S. 41. 109 Vgl. D. J. Ward 1970, J. L. Sauvé 1970, J. de Vries 1960, S. 96ff und K. F. Werner 2000, S. 163. 110 Zitiert von M. Bloch in M. Bloch 1964, S. 232. 106

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unt springen dar nach, / den ger mit mir schiezen.“ 111 Bezüglich der zweiten Probe ist anzumerken, dass Achilles sehr schnell war, und dass auch Starcatherus, der nordische kriegerische Held, beträchtliche Distanzen in großer Geschwindigkeit zurücklegen vermochte; die Agilität galt demnach als eine wichtige Qualität des Kriegers. Die Medizin ist ebenso ein Bereich, in dem sich Spuren von dem indoeuropäischen Dreiteilungsmuster finden lassen. Im antiken Iran waren die Medizinspezialisten in drei große Gruppen eingeteilt: jene, die durch Zauberei Menschen heilen konnten, jene, die durch Messer heilen konnten, und schließlich jene, die bei ihren Behandlungen verschiedene Pflanzen verwendeten. In Griechenland umfasste die vollkommene Heilkunst Asklepios’ drei wichtige Aspekte: Er konnte sowohl die Geisteskranken heilen, die im Krieg Verletzten als auch die von Fieber Geplagten. Offensichtlich wird die „Vollkommenheit“ durch diese drei Dimensionen strukturiert. Eschaton. In einem Vortrag behauptete Volker Leppin aus Jena, dass drei verschiedene Naturkatastrophen im Mittelalter, wenn sie auf das Erscheinen eines Kometen folgten, für den Anfang des Eschatons gehalten wurden: Zu nennen wären die Überschwemmung, das Erdbeben und das Gewitter. Selbiges befürchteten die antiken Kelten: Sie hatten Angst, das Meer könnte die Erde überfluten, die Erde beben oder der Himmel einfach auf die Erde herabstürzen.

Soziales Bild und die „Sünden“ jeder Funktion In Saxos Gesta Danorum beging der Held Starcatherus als Analogfigur Indras oder Herakles’ drei Kapitalfehler, die man sogar als „Sünden“ bezeichnen könnte. In diesen sah man eine Verletzung der Werte oder der „Ethik“ einer der drei Funktionen: 1. Während eines Gewitters auf dem Meer, als die Situation ein menschliches Opfer forderte, wurde der norwegische König Wicarus dafür ausgewählt. Normalerweise hätte eine bloße Simulation des Opferritus’ ausreichen müssen112, aber Starcatherus ermordete den König tatsächlich und machte sich so der Verletzung der königlichen Majestät schuldig113; 2. In einer Schlacht zwischen den Königen Sywaldus und Regnaldus war Starcatherus über den gewaltsamen Tod seines Königs Regnaldus derart erschrocken, dass er – von einer für ihn normalerweise unvorstellbaren 111

NIBELUNGENLIED, 7. Aventiure, 425-426. In vielen Kulturen ist das symbolisch-simulierte Opfer genauso gültig wie das echte. 113 Vgl. SAXO, 6, V, 7; Saxo Grammaticus 1900, S. 295. 112

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Angst ergriffen – vom Schlachtfeld floh. Er verletzte durch sein feiges Verhalten die Wertungskategorien der zweiten Funktion114; 3. Für materiellen Reichtum tötete Starcatherus im 8. Buch den König Olo von Schweden. Die Gründe, die diese Untat zu einem Verstoß gegen die dritte Funktion machten, waren, dass Olo im eigenen Bad (Wohlstand) umgebracht wurde, als er also unbewaffnet (Friede, Harmlosigkeit) dalag.115 Nach Dumézil stehen diese drei Fehler des Helden in Analogie zu denen von zwei anderen indoeuropäischen kriegerischen Figuren: Indra und Herakles.116 Allerdings ist die Ähnlichkeit zwischen Herakles und Starcatherus noch größer, da die beiden Sterbliche waren: Sie mussten zur Strafe für ihre Taten Selbstmord begehen, während Indra sich als Unsterblicher nur rituell zu reinigen hatte.117 Ein irischer juristischer Text nennt die drei von Gott verhassten Sünden: Verrat, Ermordung von Verwandten und Diebstahl.118 Im 12. Jahrhundert teilt uns Ordericus Vitalis in seiner Historia119 eine wunderbare Geschichte mit, die ihm ein glaubwürdiger Zeuge berichtet hatte. Der Erzähler, ein junger Priester namens Walchelin aus der Diözese Lisieux, wollte angeblich eines Nachts mit eigenen Augen einen Geisterzug gesehen haben, wobei es sich um nicht weniger als um die berüchtigte Familia Herlechini (haec sine dubio familia Herlechini est) handelte, eine häufig bezeugte kollektive Erscheinung im mittelalterlichen Imaginären. Der Zug war in drei Gruppen geteilt, wohl nach den drei Ständen: Die erste Gruppe bestand aus Verdammten, die für Sünden gegen die Werte der dritten Funktion Strafe erlitten: Geizigen, Ehebrecherinnen (sic nimirum pro illecebris et delectationibus obscenis quibus inter mortales immoderate fruebantur) usw. Zur zweiten Einheit gehörten die Geistlichen, Bischöfe und Kleriker (clerici et episcopi), die allerdings bei unserem Zeugen eine große Überraschung hervorriefen, da er sie zu Lebzeiten für gute und vorbildliche Menschen gehalten hatte (multos nimirum magnae estimationis ibi presbiter se uidisse retulit: quos humana opinio sanctis in coelo iam coniunctos astruit). Offensichtlich waren sie aber Scheinheilige und Betrüger. Als Letztes sind die als am gefährlichsten einzustufenden Verdammten zu nennen, die Ritter (ingens 114

Vgl. SAXO, 7, IV, 5; Saxo Grammaticus 1900, S. 355. Vgl. Saxo Grammaticus 1900, S. 413f. 116 Nebenbei soll daran erinnert werden, dass sich der kriegerische Arjuna, einer der Pandava-Brüder des Mahabharata-Epos’, ebenfalls der Feigheit schuldig macht: Erstens will er nicht kämpfen, weil die Gegner seine Verwandten seien, und zweitens tötet er einen Feind, als dieser unfähig ist, sich zu verteidigen (vgl. 1. und 2. Gesang von Bhagavadgita, herausgegeben v. H. Martens, Starnberg am See 1947; siehe auch P. Thieme 1952, S. 9ff und 15.). 117 Vgl. G. Dumézil 1983, S. 1ff. 118 Vgl. W. Sayers 1996, S. 161. 119 ORDERIC VITALIS, VIII. 115

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exercitus militum) mit ihren Funktionszeichen, den Pferden, schwarzen Fahnen und Waffen, so dass jedes Missverständnis von Anfang an ausgeschlossen war. Es ist also von einer vollständigen „korrekt“ strukturierten dämonischen Gesellschaft die Rede. Obwohl manche Kommentatoren die Familia Herlechini lediglich als Symbol der zweiten Funktion betrachten120, handelt es sich hier meiner Meinung nach um eine typische nach dem tripartiten Denkmuster strukturierte Gesellschaft. Die Teilung nach den drei Prinzipien ist nach der indoeuropäisch geprägten Auffassung das strukturelle Muster jeder Gesellschaft überhaupt (sei sie dämonisch oder menschlich), also auch einer fremden. Indra erschlug ein dreiköpfiges Monster, welches die Menschen bedrohte. Bei den Römern berichtet Titus Livius: „Es dienten eben in jedem der beiden Heere Drillingsbrüder, an Jahren und Stärke einander nicht ungleich. Dass sie Horatier und Curiatier geheißen haben, darin kommt man überein; und nicht leicht ist eine andere Begebenheit des Altertums bekannter. Dennoch bleibt man in einer so kundigen Tatsache über die Namen in Ungewissheit, zu welchem Volke nämlich die Horatier, zu welchem die Curiatier gehört haben sollen. Beide werden von Geschichtsschreibern beiden Völkern zugerechnet: doch finde ich mehrere, welche die römischen Brüder Horatier nennen, und ich glaube ihnen folgen zu müssen. Die Könige machten diesen Drillingen den Vorschlag, sie möchten diesen Kampf der Entscheidung für ihr Vaterland eingehen; auf welcher Seite der Sieg wäre, auf der werde künftig die Oberherrschaft sein.“ 121

Die Indoeuropäer stellen sich folglich selbst die Feinde dreigliedrig strukturiert vor. Die Welt – jede Welt (!) – und jede menschliche Gemeinschaft funktioniert und bekommt ihre Geltung nach diesem mentalen Mechanismus. Auch im christlichen Europa war es nicht so wichtig, welche Feinde man eigentlich zu besiegen hatte, ob sie Muslime oder Heiden waren. Jeder Gegner hatte – und dies war wichtig! – eine dreigliedrige Sozialstruktur, da der indoeuropäische Verstand einen effizienten SozialOrganismus, der eine solche Struktur nicht aufwies, nicht begreifen konnte. Bei Roncevaux sieht Roland die Sarazenenarmee, die Kampffahnen trägt: weiße, rote und blaue (der LXXIX. Gesang). Da die Dreiteilungsideologie weit verbreitet und in vielen Traditionen verankert ist, könnte man sich fragen, ob sie noch immer eine indo120

Vgl. J.-C. Schmitt 1998, S. 125 f. „Forte in duobus tum exercitibus erant trigemini fratres nec aetate nec viribus dispares. Horatios Curiatiosque fuisse satis constat, nec ferme res antiqua alia est nobilior; tamen in re tam clara nominum error manet, utrius populi Horatii, utrius Curiatii fuerint. Auctores utroque trahunt; plures tamen invenio, qui Romanos Horatios vocent; hos ut sequar, inclinat animus. Cum trigeminis agunt reges, ut pro sua quisque patria dimicent ferro: ibi imperium fore, unde victoria fuerit“ (LIVIUS, I, 24). 121

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europäische Charakteristik darstellt oder ob sie zum allgemeinen menschlichen Dasein gehört. Die Forscher haben bei vielen Völkern außerhalb des indoeuropäischen Kulturraumes ebenfalls Formen der funktionellen Einteilung der Gesellschaft festgestellt. Nach Claude Lévi-Strauss wäre die Vermittlung zwischen Extremen eine allgemeine menschliche Tendenz122. Demnach sei die indoeuropäische Tripartition nur eine normale generelle menschliche Reaktion, gleichsam ein natürlicher Versuch, einen effizienten Sozialorganismus aufzubauen; so gehört die Dreiteilungsideologie nicht mehr lediglich zur indoeuropäischen Sphäre, sondern wird zu einer allen Menschen gemeinsamen Haltung. „Dumézil uses the fact that tripartition is absent from non-Indo-Europeans cultures […]. Where tripartition is found elsewhere, Dumézil claims that this is the result of Indo-European influence. For instance, the tripartition that can be found in a text from the reign of Thutmosis IV. (1415-1405) can be explained by the fact that this pharaoh was married to an Aryan princess of the Mitanni, a daughter of Artatama. Dumézil explains other traces of tripartition as the result of contact with Indo-European cultures“.123 In derselben Weise erklärt ein Schüler Dumézils, Atsuhiko Yoshida, seine Entdeckung, dass der japanische Pantheon nach funktionellen Eigenschaften dreigeteilt ist. Seiner Meinung nach ist dies das Resultat eines ethnischen Kontaktes zwischen den Japanern und den skytho-sarmatischen Bevölkerungen Ostasiens. Dumézil selbst meinte, dass sich die drei Bedürfnisse, Ordnung, Sicherheit und materieller Wohlstand, die Basis jeder Gesellschaft bilden. Doch nur die Indoeuropäer hätten sie in „theoretische“ Bahnen geleitet und ein System um sie herum gebildet. Die anderen Gesellschaften hingegen hätten diese Bedürfnisse nur physisch erfüllt und nicht theologisch oder mythisch abgebildet.124 Mit dieser Auffassung bringt er in seine Systematik eine wichtige Nuance hinein, die von seinen Kritikern oft übersehen wird: Er distanziert sich von einem radikalen Strukturalismus und geht zu einer Form des Poststrukturalismus’ über, indem er seine Forschung auf einen bestimmten Sprach- bzw. Kulturraum bezieht125 – in diesem Falle auf den indoeuropäischen; in dieser Tatsache, dass er die Texte als anthropologische Narrativdimensionen (Diskurse) liest, zeigt sich letzten Endes die Moderni122

Vgl. C. S. Littleton 1973, S. xvii. W. Belier 1996, S. 42. 124 Vgl. G. Dumézil 1970. S. 162. 125 Vgl. B. Schlerath (a) 1995, S. 3. Diese Distanzierung vom Strukturalismus wird ihm von den Kritikern vorgeworfen (vgl. B. Schlerath (a) 1995, S. 5) mit dem Argument, dass er durch diese reduktionistische (?) Dreiteilungstheorie reiche Vielfalt der Religionen der indoeuropäischen Völker übersehe (vgl. B. Schlerath (b) 1996, S. 60); dies ist allerdings nicht der Fall, weil Dumézil nicht den Anspruch erhob, eine endgültige Lösung für das Problem der indoeuropäischen Religion anzubieten, sondern nur einen Aspekt von ihr aufdecken wollte. 123

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tät Dumézils.126 Der Franzose wendet die Phänomenologie gewissermaßen partikulär an. Man kann zur Lösung des Problems die Meinung einer Kritikerin Dumézils heranziehen: „I do think it was wrong to claim the system as exclusively Indo-European, but I still set a high value on his identification [von Dumézil] of the three functions which it would have been difficult to trace in old world cultures outside the Indo-European area without the help of his theory, since, although the triad is present in the structure there, it is not dominant. The stress laid on the triad in the Indo-European historical record may still be regarded as a unique feature, distinguishing the Indo-European tradition from other cultures where the triad is a less evident part of the system“.127

Schluss: Die Ehre und die Dreiteilungstheorie Die Annahme einer allgemeinen tripartiten Mentalität, die sich einen riesigen Zeitraum hindurch in allen Bereichen des menschlichen Lebens widerspiegelt, ist eine Arbeitshypothese, die für meine Untersuchung die methodisch notwendige Grundlage bildet: Einerseits sollte das für alle gesellschaftlichen Schichten charakteristische Bedürfnis an Ehrenhaftigkeit und Ehrsymbolik hervorgehoben werden, andererseits sollten die Unterschiede zwischen den nach ständischer Zugehörigkeit ausdifferenzierten Ehranschauungen innerhalb der Gesellschaften berücksichtigt werden. Das Paradoxon, das die Zeit um das Jahr 1000 n. Chr. dem Forscher bietet, besteht darin, dass die funktional geprägte Ehre als zentraler Sozialisationsfaktor in der „Neuzeitkultur“ dauerhaft überlebte, während sich aber die Wertungskategorien, die ihr innewohnen und ihr Gestalt verleihen, wandelten. Dieses Paradoxon lässt sich mit der These G. Dumézils erklären. Keine Gemeinschaft kann einen Einheitsstatus ohne eine gleiche und gemeinsame Ehrsemantik beanspruchen, welche von den Mitgliedern jener Gemeinschaft als geltungsverleihende Instanz anerkannt wird. Die soziale Arbeitsteilung (als conditio sine qua non jeder funktionierenden Gesellschaft) führt jedoch zur Entstehung von gesellschaftlichen „Ständen“ (Segmenten, welche sich wohl um unterschiedliche symbolische Kerne herum koagulieren). Solche unterschiedlichen Ehrkomplexe stehen miteinander in einem gewissen Wettbewerb zueinander: Da das Sozialkorpus eines ist, soll auch seine definitorische und individualisierende Semantik eine sein. Rivalität entsteht dann, wenn sich eines der „ständischen“ Ehrkonstrukte als Matrix der allgemein gültigen Auffassungen etablieren 126 127

Vgl. G. Flood 1999, S. 235f. E. Lyle 1996, S. 103.

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will.128 So wird die Ehre – wie wir sehen werden – zum grundlegenden Merkmal jenes sozialen Wandels, der sich in der Zeitspanne um Jahr 1000 ereignete. Die indoeuropäischen Gesellschaften waren sich bewusst, dass jeder Sozial-Organismus konfliktuale Valenzen in sich birgt, und dass solche potenziell gefährlichen Spannungen jederzeit das gesellschaftliche Gleichgewicht ins Wanken bringen können. Die Soziologie der drei funktionellen Stände und ihrer Verknüpfung zu einem sozialen Ganzen hat in den indoeuropäisch sprechenden Kulturen ihre mythische Analogie: Die Geburt jeder Gesellschaft ist das Ergebnis eines Entstehungskrieges.

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Auch in den heutigen entsakralisierten Gesellschaften, in denen die Ehre (als mystisch-religiöser Wert) von dem sozialen Prestige ersetzt wurde, kann man eine Abhängigkeit der sozialen Struktur von den Prestigevorgängen ihrer Mitglieder bemerken (vgl. E. K. Scheuch 1961, S. 66). Dies zeigt die Aktualität dieses Themas.

Drei Funktionen, drei Ehranschauungen. Anmerkungen zu einer altirischen Saga Motto: “Fergus, der Schlachtenkrieger und der Breschenbrecher von Hunderten in der Schlachtreihe und der Hammer der Zermalmung und der Vernichtungsstein der Feinde und das Haupt des Standhaltens und der Feind der Massen und das Zerhacken des großen Heeres und die angezündete Leuchte und der Führer der großen Schlacht” (die Vorstellung eines Kriegers, Táin Bó Cúalnge).

Táin Bó Cúalnge Die keltisch-irischen Sagen beinhalten im Vergleich zu den skandinavischen, die von christlichen Autoren überliefert wurden, authentische alte Motive, die einst die Denkweise der vorchristlichen Welt prägten. Die Isolation der britischen Inseln gewährleistet eine bessere Bewahrung alter anthropologischer Traditionen und Mentalstrukturen. Glücklicherweise bietet die irische Folklore dem heutigen Forscher ein paar linguistische und mentale „Fossilien“, welche zur Rekonstruktion „heidnischer“ Typologien und Ehrkonstrukte beitragen können. An den kriegerischen Gesellschaften der Kelten und später der Iren kann man gewaltsame menschliche Interaktion beobachten, in der die Ehre das Individualisierungs-, Rechtfertigungs- und Überlegenheitselement gegenüber Feinden bzw. Mitgliedern der eigenen Gemeinschaft repräsentiert. Eine der wichtigsten irischen Sagas, eine sogenannte Ilias Britanniens, ist Táin Bó Cúalnge (TaBoC). „Táin Bó Cúalnge, the Cattle-Raid of Cooley, is the longest and the most important heroic tale of the Ulster cycle. Plundering raids, especially cattle-raids, are a characteristic feature of Irish heroic saga […]. The earliest recension of the tale, a conflation of 9th-century versions, is found in a manuscript written about 1100“.1 Eigentlich ist diese Heldensage sehr viel älter; wie mehrere Kommentatoren richtig anmerken, findet man in ihr keine Spuren von einem christlichen Ethos. Die Helden reden stets über ihre Götter; das einzige vermutlich christliche Element findet sich ganz am Ende, wo der Verfasser den Lesern eine Segnung erteilt. Allerdings bleibt offen, von wem diese Segnung kommen soll – sowohl der 1

Cecile O’Rahilly, Introduction, in: Táin Bó Cúalnge, Cecile O’Rahilly (Ed.), Dublin, 1967, S. ix.

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christliche Gott als auch irgendeine andere Gottheit könnte gemeint sein. Hinweise innerhalb der Saga lassen mich zu der Auffassung kommen, dass sie aus der vorchristlichen Zeit stammt oder zumindest aus einer Epoche, in der die Ausbreitung des Christentums auf den britischen Inseln erst begonnen hatte. In der Saga geht es um den Versuch, durch Waffengewalt den Stier Dónn Cúalnge zu erwerben. Dieser Stier wird wie ein Krieger beschrieben; dass er bloß Tier ist, kann als irrelevant betrachtet werden: Dónn Cúalnge ist ein Krieger, sehr groß und kräftig (fünfzig Kinder können auf seinem Rücken spielen) und auch sehr männlich (er kann an einem Tag fünfzig Kühe begatten). Darum gilt er als wertvoller Preis im Kampf der Armee der vier Gebiete Irlands gegen das fünfte – das Ulster-Gebiet –, das von König Chonchobor beherrscht und von Cú Chulainn, dem berühmten Recken, verteidigt wird. Für meine Arbeit ist von besonderem Interesse, dass TaBoC, wie z. B. die Ilias, wichtige Informationen über die Ehrvorstellungen bei den Kelten bzw. Iren liefert, die – wie wir sehen werden – deutliche Korrespondenzen in vielen anderen indoeuropäisch-sprechenden Kulturen finden. Genauso wie der Rig-Veda, die Ilias oder die nordischen heroischen Sagen stellt TaBoC bemerkenswerterweise die Figur des Kriegers, implizit seine Ehre, ins Zentrum. Die Repräsentanten der anderen zwei Funktionen werden marginalisiert. Durch eine interessante soziale Dynamik steht der Krieger in der Geschichte der indoeuropäischen Völker im Vordergrund der funktionalen Gesellschaft. Obwohl seine Funktion wohl nicht wichtiger als die der anderen ist, scheint es dennoch so, als ob der kriegerische Glanz und die Ostentation des gewaltsamen Aktes aus dem Krieger das edelste und notwendigste Element jeder Gesellschaft machen. „Eine Klasse, die sich an die Spitze aller anderen und über sie zu stellen vermochte und die sich unablässig bemüht, sich auf diesem höchsten Rang zu halten, muss jene Tugenden besonders ehren, von denen Größe und Glanz ausgehen und die sich leicht mit Stolz- und Machtliebe verbinden. Die kriegerischen Ursprünge des mittelalterlichen Adels und die Tatsache, dass seine Macht in den Waffen lag, hätten seinen Grundsätzen und Bedürfnissen eine bestimmte Richtung gegeben; aus ihr seien die Vorrangstellung des kriegerischen Mutes unter den adeligen Tugenden und die Eigentümlichkeiten adeliger Ehrenwahrung durch Zweikampf ableitbar“.2 Dieser Aufstieg hat einen funktionellen Grund. Obwohl in der Theorie alle drei Funktionen gleichberechtigt und gleichgestellt sind, gibt es tatsächlich eine kleine Gruppe einflussreicher Familien, die die res publica kontrollieren und die Entscheidungen des thing3, des Bundes der freien bewaffneten Männer jedes indoeuropäischen Volkes, beeinflussen. Diese Tendenz wird 2 3

Alexis de Tocqueville zitiert von A. Zingerle 1990, S. 236. Der Begriff ist altskandinavisch.

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dauerhaft und die Mitglieder dieser Familien stärken ihre Position durch die Behauptung eines privilegierten und rechtfertigenden Ursprungs, manchmal göttlicher, meistens jedoch nur heroischer Art. Diese Abstammung von einem Gott bzw. Helden verleiht ihnen Ehre, Einfluss und damit auch das Recht, das Schicksal der gesamten Gemeinschaft zu bestimmen. Z. B. waren an den Grenzen zum Römischen Reich die germanischen Stämme besonders kriegerisch und gewaltsam, während zur selben Zeit die Germanen der baltischen Gebiete friedlich gesinnt waren; bei ihnen war der Kult der Götter der dritten Funktion wesentlich stärker als bei den anderen entwickelt.4 Folglich ist die Ehre jenes Phänomen, das einerseits die gesellschaftliche Struktur aufgrund der dringenden Notwendigkeit und des Vorrangs eines Standes beeinflusst und sie andererseits widerspiegelt. Eine Ehrsemantik nimmt an Bedeutung zu oder geht zusammen mit ihrer jeweiligen sozialen Schicht unter. Im letztgenannten Fall wird ihr Platz auf der sozialen Skala von einer Ehrenanschauung anderer Funktionen übernommen. „In the mythology […] the gods of the first level are quite diminished and although they have not completely vanished, it is Indra who figures as king of the gods, which no doubty reflects a social evolution favourable to the warrior class“.5 Titus Livius (VII, 6) berichtet: Als die Götter böse auf die Menschen waren, weil diese den Plebejern den Zugang zum Konsul-Amt erlaubten, öffneten sie ein riesiges Loch auf dem Forum. Das Loch konnte sich nur dann schließen, wenn das wertvollste Gut Roms hineingeworfen würde. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, bei denen man Weizen oder Rinde, Symbole der dritten Funktion, hineinwarf, war es ein junger Krieger – bewaffnet, gepanzert und auf dem Pferd (!) –, der sich in das Loch stürzte und die Wut der Götter dadurch besänftigte. Die gesamte Episode zeigt deutlich genug, was in der römischen Gesellschaft am „teuersten“ ist: die Angehörigen der zweiten Funktion. Diese Schicht wird von den Göttern am stärksten unterstützt. Nicht einmal die Gebete der ersten Funktion, der Priester, konnten bei der oben erwähnten misslichen Lage helfen. Damit steht eindeutig der Krieger an der Spitze der Hierarchie. In diesem Zusammenhang ist es relativ leicht zu zeigen, warum die bekanntesten „indoeuropäischen“ Dichtungen und Epen die zweite Funktion beschreiben und ihr Wertungssystem als normativ ansehen. TaBoC macht hierbei freilich keine Ausnahme. Allerdings bleibt die Aufgabe, trotz dieses kriegerischen „Monopols“ auch Indizien für die Ehrvorstellungen der anderen zwei Funktionen zu entdecken.

4 5

Vgl. E. Polomé 1970, S. 59. G. Dumézil 1973, S. 17.

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Der gute Name Die Ehre eines jeden Kriegers hängt in erster Linie von seinem Namen bzw. seinem guten Ruf ab. Für einen „guten Namen“ sind zwei Aspekte wichtig: 1. die Ehrenhaftigkeit und der gute Ruf der Ahnen und 2. die eigenen Taten. Der Held von TaBoC, Cú Chulainn, wird in folgender Weise von einem Bekannten vorgestellt: „Es überkam Fergus der scharfe scharfschneidige Gedanke an Cú Chulainn, und er sagte zu den Männern von Irland, Vorsicht zu beobachten, dann es würde kommen zu ihnen: der reißende Löwe und die Vernichtung der Feinde und der Feind der Menge und das Haupt des Standhaltens und das Niederhauen des großen Heeres und die Hand des Spendens und die angezündete Leuchte, nämlich Cú Chulainn, der Sohn des Sualtach.“6

Mit anderen Worten könnte man sagen, dass dem Krieger sein Ruf vorauseilt und ihm dadurch alle Pforten öffnet. Dass der Held sich vorstellt, ist wesentlich und obligatorisch. Wenn jemand seinen Gegner nicht kennt, können daraus viele Probleme entstehen, wie z. B. eine furchtbare Verletzung der Ehre, falls aus Versehen jemand mit einem Angehörigen eines niedrigeren Standes kämpfen würde.7 Darum fragt der Krieger vor jedem Zweikampf denjenigen, den er zu töten bereit ist, nach seinem Namen und dem seines Vaters: „Wer und wessen Sohn bist du?“.8 Laut Jean Haudry ist die indoeuropäische Sprache (soweit man sie rekonstruieren kann) im Vergleich zum Lateinischen – einer Sprache der Bauern – eindeutig die Sprache einer kriegerischen Elite; die rekonstruierten Begriffe lassen seiner Meinung nach eine große Vorliebe für kriegerischen Ruhm und für die Ehre erkennen. Der Ruhm wird als essenzielles Ideal angesehen, denn er verleiht Macht, schafft Verbündete und verhindert Aufstände und Betrug der Untertanen und Freunde.9 Vor jedem Zweikampf findet immer ein „Berühmtheitsduell“ statt, wie es in einem Bericht Saxo Grammaticus’ erzählt wird: 6

TaBoC, S. 60. Als Siegfried von Ortwin von Metz zum Zweikampf herausgefordert wurde, lehnte er dies ab und begründet es damit, dass der andere im Vergleich zu ihm, der selbst einer königlichen Familie angehörte, der Mann eines Königs sei, d. h. ein Vasall (NIBELUNGENLIED, 3. Aventiure, 118). Auch der Sachsenspiegel hält es für selbstverständlich, dass eine Herausforderung zum Zweikampf nur zwischen zwei Standesgenossen stattfinden kann (SACHSENSPIEGEL, 63, 1, S. 84. Vgl. M. Scheler 1957, S. 153 und J. Pitt-Rivers 1966, S. 31). In manchen patriarchalischen Gesellschaften des Balkans hielt sich noch lange die Sitte, dass der in einem Kampf besiegte Mann vom Sieger enthauptet wurde. Falls der Sieger einem niedrigeren Stand als der Besiegte angehörte, musste die Enthauptung von einem Kämpfer gleichen Ranges vollführt werden (vgl. G. Gesemann 1943, S. 135). 8 Vgl. J. Haudry 1998, S. 25. 9 Vgl. J. Haudry 1998, S. 21ff. 7

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„Da sprach Gro [eine Frau!]: ‚Gro ist mein Name, mein Vater ist König, vom ruhmvollen Blute, strahlend in Waffen [...]’. Ihr antwortete Bessus: ‚Bessus bin ich, tapfer in Waffen, grimmig den Feinden, den Völkern ein Schrecken.’“10

Da der Krieger unfähig war, schöne und plastische Ausdrücke zu finden, um sich vorzustellen, ist das Können des Barden, der mit wunderschönen und sorgfältig ausgewählten Worten die Unsterblichkeit des Besungenen vermitteln kann11, von einer ungeheueren Wichtigkeit.12 Es genügt wohl nicht, ein Achilles zu sein, man braucht auch einen Homer, um Achilles Taten berühmt zu machen.13 Manchmal jedoch sind der Ruhm des Helden und seine Taten so herausragend, dass der Dichter überfordert ist, sie richtig zu beschreiben; die Worte werden unbefriedigend: “Olaf’s avenger who can sing? / The scald cannot overtake the king / Who makes the war-bird daily drain / The corpse-blood of his foemen slain. / Four battles won within a year- / Breaker of shields.“14

Die Anwesenheit eines Dichters am mittelalterlichen Hof war notwendig, um aus dem Hausherrn einen „anständigen“ Herrn zu machen und seinen Taten die Chance zu geben, ihn zu überdauern. Als Konsequenz des „Dichter-Phänomens“ entstand eine Dichter-Börse15, auf der die Häuptlinge gegeneinander „kämpften“, um die Dienste eines besseren Barden zu erwerben und in den schönsten Worten besungen zu werden. Der Dichter wurde zu einem essenziellen Organ der Lob- und Tadelsinstitution, jener sozialen Instanz, durch die der Sozialorganismus sein Urteil über die Ehrenhaftigkeit und Geltung von jemandem aussprach. In Irland z. B. waren bis „ins 16. Jahrhundert [...] die Barden Personen, die eine bedeutende politische Macht besaßen. Sie hatten die Aufgabe, den Mut ihres Herrn zu entflammen oder seine Leidenschaften zu beschwichtigen. Sie stachelten die Häuptlinge mit ihren Liedern, in denen sie die tapferen Taten ihrer Vorfahren feierten, zum Krieg an. Sie waren die Ratgeber, die Warner, die Bedroher und Anfeuerer; ihr Lob wurde ebenso erstrebt, wie ihr Tadel gefürchtet“.16 Dadurch wurde die Ehre fundamental mit dem Mediatisierungs10

Saxo Grammaticus, S. 22. Vgl. BEOWULF, 868-74, S. 65f. 12 Vgl. K. Thiele-Dohrmann 2004, S. 149. “Et bardi quidem fortia virorum illustrium facta heroicis conposita versibus cum dulcibus lyrae modulis cantitarunt” – Ammianus Marcellinus über die Barden der Kelten, zitiert nach J. de Vries 1960, S. 116. 13 Vgl. J. de Vries 1943, S. 27ff. 14 HEIMSKRINGLA, Saga of Magnus the Good, XXXV. 15 Vgl. M. Dillon/N. K. Chadwick 1966, S. 194. 16 J. de Vries 1960, S. 116. Vgl. M. Dillon/ N. K. Chadwick 1966, S. 177: „Der fili [der Barde auf Irisch] wurde geehrt und gefürchtet wie der Brahmane in Indien. Er war in dieser christlichen Gesellschaft kein Priester mehr, verfügte aber über eine Sehergabe, die der Zauberei verwandt war“. 11

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faktor, dem Hofdichter, verbunden. Ein guter Dichter bzw. Chronist am heidnischen und später am christlichen mittelalterlichen Hof17 konnte vom lokalen Herrn auch als eine schreckliche Waffe gegen die Feinde eingesetzt werden. Durch seine Worte war der Barde fähig, die allgemeine Meinung der Gesellschaft über eine bestimmte Person zu beeinflussen und jemanden in schlechtes Licht zu rücken, was schwerwiegende Konsequenzen für die Ehre des Angegriffenen haben konnte. In diesem Zusammenhang können wir den antiken oder mittelalterlichen Dichter zu den ersten und wichtigsten Faktoren der Meinungsmanipulation in der Geschichte zählen. Die gesellschaftliche Funktion des ausgesprochenen oder geschriebenen Wortes zieht religiöse Aspekte an. Nicht zufällig überleben die heidnischen Druiden im Mittelalter als Barden an den irischen Höfen. Das Wort „Brahman“ z. B. trägt in sich die Wurzel rta (= Wahrheitswort) und bezeichnet nicht nur eine Person, nämlich den Priester, sondern auch die poetische Formel, geheimnisvoll und nicht jedem Menschen zugänglich.18 Die erste Funktion hat das Privileg des Wortes und darin gründet ihre Ehre; der Krieger ist somit vom zu fällenden Urteil und von der Propaganda der Repräsentanten der ersten Funktion abhängig. So wie der Krieger gelebt hat, muss er auch sterben und begraben werden. Seine eigenen Taten und die Ehre der Vorfahren „zwingen“ ihn zu einem ehrenhaften und ruhmvollen Tod und zu einem schönen Begräbnis. Die Mentalitäten ändern sich aber im Laufe der Zeit und das Urteil über die Ehrenhaftigkeit einer Todesart wandelt sich daher ebenfalls. Bei Christen z. B. war das Erhängen die Todesart des Verräters Juda, eine schmachvolle Art zu sterben; diese Auffassung wird von der mittelalterlichen europäischen Welt übernommen, ohne allerdings von jeglichen heidnischen Prägungen absolut frei zu werden. Bei den heidnischen Nordgermanen hingegen war das Erhängen ein ehrenhafter Tod, der normalerweise nur den Königen und den Helden bestimmt war. In ihrer Vorstellung konnte das Erhängen jemandem ermöglichen, in die Walhalla zu gelangen und sich in der Gesellschaft Odins zu erholen.19 Der Tod ist demnach für den Krieger genauso wichtig wie das Leben, er ist eigentlich ein Anlass, ein Mehr an Ehre zu erwerben; er ist nur ein Moment des ewigen Lebens der heroischen Existenz, denn ein Held stirbt niemals. „Denn er [Starcatherus], der so viele herrliche Kämpfe bestanden hatte, hielt es für schwächlich, eines unblutigen Todes zu sterben, und um durch 17

Vgl. M. Oswald 2004, S. 15. Vgl. J. Haudry 1998, S. 27. Der Hofdichter des vedischen Indien, der suta, ist nicht nur Dichter, sondern auch der Wagenlenker seines Herrn. Seine Abkunft wurde streng geregelt: Er musste der Sohn eines ksatrya sein, und als Mutter eine Brahmanin haben. Dies ist eindeutig die Rolle, die die indoeuropäische Mentalität dem Hofdichter zuschrieb (Vgl. J. de Vries 1960, S. 117). 19 Vgl. G. Dumézil 1973, S. 30. 18

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ein rühmliches Ende den Glanz seines früheren Lebens nur noch zu vermehren, wollte er sich lieber von der Hand eines vornehmen Mannes töten lassen als den allzu späten Todespfeil der Natur erwarten.“20

Ein schönes Begräbnis gehört stets zur Ehre eines Kriegers. Manchmal wird vom Erzähler bedauert, dass irgendein berühmter Krieger einen unwürdigen (und zugleich unverdienten) Tod erlitten hat, obwohl er aufgrund seiner Taten ein ehrenvolles Sterben verdient hätte. Der Gedanke, dass sein Leib nach dem Tode auf dem Schlachtfeld bleiben und von Tieren (Wölfen, Hunden, Schweinen usw.) gefressen werden könnte, war für den Krieger furchterregend und gab ihm Anlass zur Sorge.21 Darum bittet der sterbende Hektor ängstlich den Sieger Achilles22, dass seine Leiche nach dem baldigen Tode gepflegt und ehrenhaft begraben werden soll: „Lass die achaischen Hunde mich nicht bei den Schiffen zerreißen“ (Ilias 22, 349). Ynglingasaga23 beschreibt das heroische und monumentale Begräbnis des schwedischen Königs Hake (XXVII). In einer Schlacht wurde dem König eine tödliche Wunde zugefügt, und, um sicher zu gehen, dass mit seinem Leichnam angemessen verfahren werde, organisierte er selbst seine eigenen Funeralien: Er befahl, dass alle in der Schlacht gestorbenen Krieger zusammen mit ihrer Ausrüstung auf ein Schiff gebracht, und er selbst, noch lebendig, in ihre Mitte gelegt werden soll. Dann wurde das Schiff angezündet und treiben gelassen. Sehr beeindruckt schließt Snorri Sturluson die Beschreibung mit folgenden Worten ab: „Der Wind wehte über das Land – das Schiff schwebte, brennend mit heller Flamme, durch die kleinen Inseln hinaus, in den Ozean. Groß war der Ruhm dieser Tat in den folgenden Zeiten.“24

Die „Qualitäten“ Die Eroberung. Das Bild eines Kriegers wird durch seine “Qualitäten” konstituiert. Was heute in einer von Wertungskategorien der dritten Funktion stark geprägten Welt als nicht mehr gültig oder „barbarisch“ erscheint, wurde in der indoeuropäischen Vorgeschichte und auch noch in der mittel20

Saxo Grammaticus, S. 268. Vgl. H. P. Duerr 1988, S. 16. 22 Nachdem der griechische Held in seinem Hass ihm gedroht hatte: „Nun sollen dich Vögel und Hunde schimpflich zerfleischen“ (sé mén kýnes ed’ oionoi helkésous’ aikos) (HOMER-Ilias, 22, 335-6). 23 Siehe HEIMSKRINGLA, Ynglingasaga. 24 Vgl. die ähnliche Bestattung des dänischen Königs Scyld in der Beowulf-Dichtung (BEOWULF, 34-53, S. 29). In einem bahnbrechenden Aufsatz rät J.R.R. Tolkien davon ab, Beowulf als ein Epos zu betrachten: Es handle sich um eine Dichtung (vgl. J.R.R. Tolkien 1987, passim). 21

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alterlichen Kultur für ehrenhaft gehalten. TaBoC schildert die Vorzüge des Cú Chulainn: „Es waren aber viele Siege [oder Meisterschaften – in der englischen Übersetzung: „gifts“] – bei Cú Chulainn: der Sieg der Schönheit, der Sieg der Gestalt, der Sieg des Baus, der Sieg im Schwimmen, der Sieg im Reiten, der Sieg im Schach und Brettspiel, der Sieg in der Schlacht, der Sieg im Kampf, der Sieg im Zweikampf, der Sieg in der Abschätzung, der Sieg in der Beredsamkeit, der Sieg im Ratgeben, der Sieg im Benehmen, der Sieg im Verwüsten, der Sieg im Beutemachen aus einem benachbarten Gebiet.“25

In dieser Beschreibung werden neben positiven Eigenschaften auch „düstere“ genannt, die heute auf scharfe Kritik stoßen würden: „Plünderungs-“ und „Verwüstungsgabe“. Diese zwei Handlungen sind für die Eroberungsmentalität wohl charakteristisch und stehen meines Erachtens immer noch in enger Verbindung mit den Mentalitäten der indoeuropäischen Auswanderung.26 Es wird deutlich, dass die kriegerischen Eigenschaften im Kontext einer Eroberungskultur bewertet werden, und sie eng mit dem destruktiven Vermögen27 verbunden sind. Ein ruhmreicher Krieger ist derjenige, welcher dem Gegner viel Schaden zufügt und viele Länder erobert. Wichtig für die Eroberungsmentalität ist es, dass diese Lebensform nicht als eine willkürliche, unbegründete Gewalttätigkeit angesehen wird, sondern als ein zivilisatorischer Vorgang: Alles, was außerhalb der Welt der Eroberer ist, von den Göttern bis zu den Menschen und Institutionen, wird erobert, dann ausgelöscht bzw. assimiliert; die eigenen Götter und Werte werden dabei durchgesetzt.28 Der Angriffskrieg wird in der Eroberungsmentalität als eine nötige, sogar heilige Tätigkeit betrachtet, und diese Tendenz bleibt Jahrtausende später in der mittelalterlichen Kirche bestehen, die trotz der friedlichen Botschaft Christi eine Rechtfertigung für den Krieg finden wird. Als unbesetztes Land gilt, entsprechend dieser Mentalität, nicht unbewohntes Land, sondern ein von uns unbewohntes Land. Als die Römer z. B. eine Stadt belagerten und kurz vor ihrer Eroberung standen, hatten sie stets eine bestimmte evocatio an die Götter jener Stadt gerichtet und ihnen versprochen, dass sie einen 25

TaBoC, S. 80 Sie sind natürlich charakteristisch für jedes Wandervolk, nicht nur für die Indoeuropäer. Aber sie wurden von den europäischen Völkern aus einer ursprünglich gemeinsamen Mentalität übernommen, also aus der indoeuropäischen. 27 J.-P. Bodmer interpretiert die Zerstörung nicht als qualitative Handlung des Kriegers an sich, sondern als notwendige Konsequenz der Plünderung, d. h., wenn man plündert, zerstört man auch (vgl. J.-P. Bodmer 1957, S. 80). Diese Simplifizierung kann aber für die völlig unbegründeten Zerstörungen verschiedener Städte (z. B. Carthago) oder Monumente keine befriedigende Erklärung bieten. 28 Vgl. M. Eliade 1995, S. 28 und M. Liverani 1990, S. 135. 26

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größeren und monumentaleren Kult in Rom haben werden. Das geschah deshalb, da sie sich nicht vorstellen konnten, dass der Sieg ohne die „Bekehrung“ dieser Götter29 vollkommen sei. Eintausend Jahre später berichtet der Verfasser des Rolandsliedes stolz: „[K]ein einziger Ungläubige blieb [nach der Eroberung der Stadt Cordres durch Karl den Großen] in der Stadt / Der nicht erschlagen wurde oder sich zum Christentum nicht bekehrte“.30 Die Zivilisierung stellte folglich den Opfern zwei Möglichkeiten zur Wahl, die Ausrottung oder die Bekehrung (!). Die Eroberung ist der Sinn der Existenz des Krieges und des Kriegers. In einem Gebet bitten die Arier Indra, ihnen dabei zu helfen, ein möglichst großes Territorium zu erwerben. Bei Juden z. B. ist die Eroberung ein göttliches Gebot (Exodus 23, 22-33), bei den Indoeuropäern ist das Streben nach Ruhm und Ehre die mentale Haltung, die zur Auswanderung und Eroberung führt. Der Zweikampf. Die gesamte Saga TaBoC besteht aus Zweikämpfen zwischen Cú Chulainn und seinen Feinden. Die mystische Wut, der kriegerische furor31, machte die Eroberung ebenfalls zu einem mystischen Akt. Manche Forscher meinen, dass die indoeuropäische Ausbreitung in mehreren Stufen geschehen ist, am Anfang nur durch Jugendbanden, magisch-kriegerische Bünde32, die am Rande der eigenen Gesellschaft standen, wie es z. B. im Fall der Schar des jungen Romulus zu beobachten ist: Es war „the practice of gradual occupation of the soil which had led the Indo-Europeans far away from their point of departure. In a difficult situation, a group of men religiously took the decision to swarm, to make the generation, which was in the process of being born leave its territory when it reached adulthood. When they came to maturity, Mars took charge of the expelled children, who were still only a band”.33 Der mythische Ursprung Roms unterscheidet sich wesentlich von der Kriegsmentalität der historischen Römer. Bei den Indoeuropäern und später bei den „barbarischen“ Germanen oder Galliern äußerte sich die kriegerische Tapferkeit durch die oben genannte unkontrollierte Raserei (furor). Der Krieg wurde als eine magisch-religiöse Tätigkeit gesehen, durch die man Ehre, Ruhm und implizit Unsterblichkeit erlangen konnte. Darum war der Sieg nicht mehr so wichtig wie die Teilnahme an einer Schlacht. Anders als bei den Barbaren zählte bei den Römern stets Disziplin und Pragmatismus34, zwei Faktoren, 29

Bei G. Dumézil 1970, Bd. 2, S. 425; vgl. auch M. Liverani 1990, S . 140. „En la citet nen ad remés paien, / Ne seit ocis u devient chrestien“ (ROLAND, VIII, 101-2). 31 Vgl. V. Scior 2005, S. 20f. 32 Vgl. A. H. Price 1980, S. 558. 33 G. Dumézil 1970, S. 208. 34 Diese Disziplin der römischen Armee – welche aus Bürgern bestand – ist auch bei den Griechen zu finden: Die berühmte Phalanx ist nicht eine Erfindung Alexanders des 30

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die eine Armee von einer chaotischen Bande unterschieden.35 Bei ihnen war die Schlacht Sache des gesamten Heeres, während bei den Barbaren der Zweikampf immer erwünscht war und gesucht wurde, als eine bessere Möglichkeit, die persönliche kriegerische Tüchtigkeit des Einzelnen unter Beweis zu stellen. Die keltisch-irische und germanische Mythologie bzw. Geschichte ist voll von Zweikämpfen jeglicher Art: wegen eines Grundstücks oder um eine Frau zu bekommen oder wegen Ehrverletzungen usw. Die indoeuropäischen Kulturen tragen diesen Brauch mit sich bis ins Herz der semitischen Territorien. Der Philister Goliath erfüllt im Kampf gegen David das Ritual des Zweikampfes: Herausforderung, Einschüchterung, Zurschaustellung. Die Ehre vermehrt sich infolge eines Zweikampfes stärker als in einer normalen Schlacht, da auf diese Weise die getöteten Gegner quantifiziert und bezeugt werden können und auch die Standesgleichheit leichter geprüft werden kann.36 Der allgemeine Brauch dieses Kampfes findet sich in zahlreichen Quellen. Saxo Grammaticus37 beschreibt sogar das Ritual des Zweikampfes und zeigt dabei, dass die Reihenfolge der Schläge fest geregelt war: Der Ranghöhere darf zuerst zuschlagen. Bei Roncevaux kämpfen die Franzosen immer eins zu eins gegen den Sarazenen, und jeder Kampf wird einzeln betrachtet. Welche Waffen als edel gelten, ist für einen Krieger von entscheidender Bedeutung, da seine Ehre davon abhängt. Für die Germanen und Kelten waren z. B. Pfeil und Bogen „gemeine“ Waffen, die keine Ehre brachten, da man mit ihnen jemanden aus weiter Entfernung töten konnte.38 Jan de Vries weist darauf hin, dass sich im Hause des Königs Chonchobor nur Schwerter, Speere und Schilde befanden.39 Die Waffen, die der Krieger nutzte, sind von Volk zu Volk unterschiedlich: Herakles, als Prototyp des griechischen Kriegers40, benutzte oft seinen Bogen gegen Feinde, ebenso Indra. In der germanischen Vorstellung ist diese Waffe häufig das Zeichen der Feiglinge oder der Bauern, die sich – nach der Meinung der zweiten

Großen, sondern die Quellen berichten über sie bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. (vgl. C. W. Müller 1989, S. 320). Die bürgerliche Kriegsführung unterscheidet sich wesentlich von der der zweiten Funktion. 35 Vgl. J.-P. Bodmer 1957, S. 103ff und 122. 36 Der Zweikampf war auch für den Dichter leichter zu beschreiben und „ereignisreicher“ (vgl. J. Wertheimer 1986, S. 22). 37 Saxo Grammaticus 1900, S. 56. 38 Vgl. J. Spanuth 1980, S. 125. 39 Vgl. J. de Vries 1960, S. 115 und E. Windisch, Einführung, in: Die altirische Heldensage, Ernst Windisch (Hg.), Leipzig 1905, S. XVII. 40 Obwohl die Bilder auf der griechischen Keramik deutlich zwischen den erwachsenen volljährigen Bürgern, die meistens als Hopliten kämpften (mit Lanze, Schwert und Schild), und den Buben oder niederen Schichten unterscheiden, welche Pfeil und Bogen einsetzten.

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Funktion – sowieso nicht so gut mit kriegerischen Angelegenheiten auskannten. Es ist wichtig, hier zu betonen, dass der Krieg freilich nicht nur eine Tätigkeit der kriegerischen Funktion war: Die Bauern oder die Kleriker nahmen im Mittelalter erfolgreich an verschiedenen Kämpfen teil. Aber nur für den Krieger wurde die Gewalt, d. h. das Töten und das Erobern, zu einem Ethos, zu einem echten Lebensstil mit bestimmten Institutionen, Handlungen und Regeln. Das Einzige, was für einen Angehörigen der dritten Funktion im Kampf zählte, war, den Sieg zu erringen – eine rein pragmatische Sicht des Problems. Darum setzte dieser oft und ohne sich über die „Moralität“ seiner Tat Gedanken zu machen Tricks und „schmutzige“ Methoden ein, die von einem echten Krieger in der Regel normalerweise nicht eingesetzt worden wären. Die heroische Nacktheit. In den Kontext der im Kampf eingesetzten „Waffen“ würde ich auch die heroische Nacktheit einordnen, die wie die Römer oder die antiken griechischen Geografen berichten, bei den Barbaren, bei den Kelten und Germanen, üblich war.41 Livius (XXII, 46) berichtet über die Kelten, die in der Armee Hannibals kämpften: Galli super umbilicum erant nudi. Ein wahrer Krieger braucht weder Panzer noch verschiedene andere Mittel, um sich vor den gegnerischen Schlägen zu schützen. Er zieht es vor, vor den Augen der gesamten Schar alleine und nur mit seiner Axt oder seinem Schwert zu kämpfen, manchmal trägt er dabei einen Schild. „In der Beschreibung der Helden von Ulster [in TaBoC] [...] erscheint in keiner Nummer des Buchs von Leinster der Helm, in keiner der Panzer“.42 Auch die Griechen der Ilias sind in vielen Fällen nackt, zumindest werden sie so auf Bildern dargestellt, nicht aus ästhetischen und philosophischen Gründen, sondern um zu zeigen, dass die Heroen tatsächlich nackt kämpften. Jan de Vries weist auf ein mittelalterliches Ereignis hin: Im Jahr 1066 wird der norwegische König Harald der Gestrenge, der in England gelandet war, ohne Panzer und leicht bewaffnet beim Spaziergang von einem englischen Heer überrascht. Die wenigen Gefolgsmannen raten ihm, zurück zu den Schiffen zu fliehen, sich zu rüsten und das eigene Heer zu versammeln, aber der kühne König lehnt dies ab und reitet ins Gefecht, wo er den Tod fand.43 Der Held Beowulf kämpft um der Ehre willen mit Grendel unbewaffnet im mannhaften Ringen.44 Zu diesem mentalen Komplex der heroischen Nacktheit zähle ich Helden wie Achilles und Siegfried. Die magische Immunität, die sie gegen jede 41

Vgl. C. O’Rahilly 1967, S. xi. E. Windisch 1905, S. XVII. 43 HEIMSKRINGLA, Harald the Stern, LXXXVIII-XCII. Vgl. auch J. de Vries 1943, S. 19. 44 BEOWULF, 677-84, S. 57f. 42

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Waffe (gegen edle Waffen!, nicht aber z. B. gegen Gift, das als Waffe der Frauen gilt) besitzen, ist unvollkommen, und man kann sagen, dass sie eine „nackte“ Stelle haben, einen Ort, wo man sie verwunden kann. Die zwei Helden ordne ich deshalb in den Komplex der heroischen Nacktheit ein, weil sie nichts unternehmen, um diesen schwachen Punkt irgendwie zu schützen, mit einem speziellen Panzerstück oder auf irgendeine andere Weise; ihnen genügt ihre Tapferkeit und Waffenfertigkeit. Die Beute als Ehrenfaktor. Die Ehre des Kriegers beruht auf seiner quasireligiösen „Tätigkeit“, Menschen zu töten. Seine Ehre und Ehrenhaftigkeit gründen auf der „Effizienz“ seines Waffenhandwerks, der Anzahl der getöteten Menschen. Diese Zahl gehört untrennbar zu seinem sozialen Bild, sie ist gewissermaßen seine „Visitenkarte“. Wie viele Feinde jemand getötet hat, ist eine Prestigesache und ein Unterscheidungsmerkmal.45 Cú Chulainn stellt sich mit stolzen Worten vor: “[B]y the virtue of those I have slain, I am the veteran who guards Ulster.”46 Die Tugend (Tüchtigkeit) der Getöteten ist also die Quelle für die eigene Ehre von Cú Chulainn. Es ist natürlich unedel und bringt weder Ehre noch Ruhm, einen feigen Menschen oder eine schutzlose Frau um sein bzw. ihr Leben zu bringen; selbst ein unbewaffneter Mann sollte nicht angegriffen werden. Ehrenhaft dagegen ist es für einen Krieger, seinen Gegner zu respektieren, und dieser Respekt äußert sich im Kampf manchmal durch Höflichkeit oder auch durch Korrektheit und nach dem Sieg (nach dem Tod des Feindes) durch einen lobenden Nekrolog. Allerdings wird mit einem solchen Nekrolog ein viel eigensüchtigeres Ziel verfolgt, als wie wir gerne annehmen würden. Durch die „Werbung“, die man für einen getöteten Feind macht, zeigt man, dass der, der gerade am Boden liegt, ein tapferer Krieger, mutiger Gegner und hervorragender Kämpfer war – kurz gesagt war er also ein an Ehre reicher Mann. Dadurch wird die Tat des Lobenden besonders außergewöhnlich. Wie die Ausrüstung des Toten vom Sieger als Kampfpreis bzw. Beute übernommen wird, so auch seine Ehre. Folglich ist die Ehre eines Kriegers nichts anderes als die Summe der „Ehren“ getöteter Feinde. Nachdem z. B. Cú Chulainn seinen Gegner Fer Diad im Zweikampf getötet hatte, pries er die Verdienste des gefallenen Helden. All dies dient aber dem Ziel, den eigenen Status in ein positives Licht zu rücken – nach dem Motto: Du bist so gut, dennoch habe ich dich getötet, also ich bin noch besser. Cú Chulainn verkündet nach seiner Lobrede:

45

Vgl. K. F. Werner 2000, S. 142. TaBoC (englische Übersetzung.) 70, 1445-1448, S. 39, Übersetzung. S. 178 (Dt. Da ich durch das Recht der Erstechungen der beschützende Veteran Ulsters bin). 46

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„Wohlan, o Fer Diad, traurig war für dich, dass du mit keinem von den Leuten, die meine richtigen Taten der Tapferkeit und Waffenkunst kannten, gesprochen hast“.47

Die Konsekration des Kriegers. Wer die Stellung eines Kriegers, der sich im ständigen Wettbewerb um Ehre und Ruhm befindet, innehat, ist ein „registrierter“ Wettbewerbspartner, d. h., man kennt ihn und er hat bestimmte Initiationsriten erfolgreich durchlaufen, sodass er in den Kreis der Krieger aufgenommen worden ist. Stand, Kaste und Funktion genügen nicht, um aus einem Menschen einen Krieger zu machen, ihn als erwähnenswerten Partner im Wettbewerb um Ehre anzusehen. Ein Knabe kann einer adeligen Krieger-Familie angehören, doch das allein reicht nicht aus, er muss seinen Wert selbst zeigen. In der indoeuropäischen Mentalität muss ein Junge drei Proben bestehen, damit er zu einem Krieger wird. TaBoC48 berichtet uns von der Initiation Cú Chulainns: 1. Er beweist seine sportlichen Fähigkeiten in einem Spiel (einer Art Rugby) mit anderen Jungen, die von ihm besiegt werden. Ebenso muss Siegfried aus dem Nibelungenlied in einem Ringkampf den Zwerg Alberich besiegen. 2. Er tötet ein Monster. Cú Chulainn tötet einen riesigen und gefährlichen Hund, der gegen hundert Bewaffnete kämpfen konnte. Dieser Tat verdankt er seinen Spitznamen Cú Chulainn, der im Irischen „der Hund des Culand“ bedeutet. (Da er den Hund von Culand erlegte, hatte dieser folglich keinen Schutzhund für seinen Hof mehr: Als Wiedergutmachung bot Cú Chulainn an, bis zur Beschaffung eines neuen Hundes Culand und sein Haus zu schützen; daher kannte man ihn als „der Hund des Culand“.) In Analogie dazu tötet Siegfried den Lindwurm. 3. Er findet eine gute Waffe, die ab diesem Moment zu einem Teil seiner Persönlichkeit wird. Cú Chulainn nimmt die Waffen des Königs Chonchobor an sich, die einzigen, die er aufgrund ihrer außergewöhnlichen Festigkeit nicht brechen konnte. Siegfried bekommt von den Nibelungen-Brüdern das Schwert Balmunc. Es ist kein Zufall, dass ich die Aufnahme des Kriegers in die Waffenwelt an das Ende gestellt habe. Dadurch soll hervorgehoben werden, wie wichtig diese Handlung für jenen ist, der zum Krieger werden will, denn einen guten Ruf erwirbt er eben erst damit. Die bisherige Untersuchung der kriegerischen „Qualitäten“ kann verwirren: Alles scheint sich um Gewalt, Selbstlob, Zerstörung, Brutalität usw. zu drehen. Warum aber betrachtet man dann den Krieg als eine gesellschaftlich notwendige, eine strukturelle (!) Funktion des Sozial-Organismus? Nach seinen Eigenschaften ist der Krieger nichts anderes als ein Monster und damit eine Gefahr für das reibungslose Funktionieren jeder Gesell47 48

164.

TaBoC, S. 572. TaBoC, S. 106ff. Bei O’Rahilly, 62, 739- 65, 963, S. 21-26, Übersetzung S. 158-

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schaft. Daher möchte ich im nächsten Subkapitel zeigen, inwiefern das „Böse“ des Kriegers den anderen Gesellschaftsgenossen nützlich sein kann. Er kann eine dämonische Erscheinung sein, aber auch eine providenzielle: In einer sonst unlösbaren Situation wirkt oftmals der tapfere Krieger als Retter.

Engel und Dämon „The Indo-European warrior, divine or mortal, played an ambiguous role in the ideology. He was once integral to the system, forming as we have seen, ‚the second function’, thereof, and in the same time something of an outsider, an untrustworthy fellow who might at any time turn against representatives of the other two functions”49. Da der Krieger Teil eines sozialen Ganzen ist, wird seine Rolle im Vergleich zu den anderen zwei Funktionen beurteilt und konturiert. Seine Gewaltsamkeit und seine Rücksichtslosigkeit werden als gefährlich eingestuft, solange sie sich gegen die Sozialgenossen der beiden anderen Funktionen richten. An sich sind aber solche Eigenschaften erwünscht und können der Gesellschaft großen Nutzen bringen, wenn sie sich nach außen, gegen die äußeren Feinde, richten. Ohne Krieg können eine traditionelle Gemeinschaft und ihre Welt nicht überleben, weil der Krieg der einzige Anlass für jene Gemeinschaft ist, ihre besten Fähigkeiten in einer konfliktualen Interaktion zu aktivieren, zu nutzen und ihnen Sinn zu verleihen. Eine traditionelle Gesellschaft, die nicht mehr kämpft, wird alt und von Wertungen und Mentalitäten jüngerer und aggressiverer Gruppen „erobert“. Tullus Hostilius „war nicht nur dem vorigen Könige ganz unähnlich, sondern auch noch kriegerischer als Romulus. Teils stimulierte Jugend und Stärke seinen Mut, teils der Ruhm des Großvaters. Weil seiner Meinung nach der Staat durch die Ruhe in Kraftlosigkeit verfiel, suchte er überall Anlass zum Krieg.“50

Vor diesem Hintergrund werden wir viel besser verstehen, wie die Aggressivität der Krieger bewertet wurde: Man sah in ihr die einzige Lösung, um das Fortdauern einer Kultur im interkulturellen Zusammenhang zu sichern. Der Krieger hat in einer ideal funktionierenden Gesellschaft beinahe (!) keine Aufgaben im Inneren einer Sozietät, aber in deren Verhältnis zu anderen Gesellschaften spielt er eine wichtige Rolle.

49

C. S. Littleton 1973, S. xiv. “[N]on solum proximo regi dissimilis sed ferocior etiam quam Romulus fuit. Cum aetas viresque tum avita quoque gloria animum stimulabat. Senescere igitur civitatem otio ratus undique materiam excitandi belli quaerebat“ (LIVIUS I, 22). 50

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Die zweite Funktion ist rebellisch und daher schwer zu kontrollieren. Man nimmt an, dass die kriegerischen Scharen der indoeuropäisch sprechenden Kulturen in der dunklen Vorgeschichte Outsider-Elemente der jeweiligen Gesellschaft waren, die nicht völlig integriert waren, sondern am Rande des „offiziellen“ Sozial-Korpus standen und magische und esoterische Eigenschaften aufwiesen. Ich habe hier jene Männerbünde im Blick, welche von der deutschen Forschung eingehend untersucht worden sind und welche sich jedenfalls in allen indoeuropäischen Kulturen finden: Bei den Germanen wurden sie Berserker genannt, bei den Indo-Iraniern ghandarva, bei den Griechen kentauroi und bei den Dakern daoi (= Wölfe). Diese Männerbünde hatten einen vorwiegend sakralen Charakter und wurden als Inkarnation verschiedener totemistischer Raubtiere, an deren Verhalten sich die eingeweihten Männer orientierten, angesehen. Sie griffen schnell und unerwartet aus der Dunkelheit an und verschwanden nach schrecklicher Zerstörung und Verwüstung ebenso schnell wieder. Durch ihr Vorgehen identifizierten sie sich mit ihren mythisch-tierischen Ahnen. Dies gehört zur dunklen Seite des Kriegers und hat immer Angst und Misstrauen hervorgerufen. In der Regel waren die Mitglieder solcher geheimen Verbände Jugendliche. Bis ins Hochmittelalter bleiben solche archaischen Erscheinungen des anarchischen kriegerischen und plündernden Wahns bei Jugendgruppen erhalten.51 Manchmal aber hat der Ungehorsam des Kriegers gegenüber dem Gesetz positive Auswirkungen. Dumézil zieht für seine Untersuchung eine Erzählung des Rig-Veda heran: Ein Brahmane muss dem Gott Varuna als Opfer dargebracht werden. Zu den Funktionen, die die Existenz eines Brahmanen begründen, gehört nämlich den König zu ersetzen, welcher in der vorgeschichtlichen Zeit in verschieden Situationen geopfert wurde. Was also mit unserem Brahmanen geschehen muss, ist völlig „normal“ und gerechtfertigt. Der Vertrag der Menschen mit den Göttern verlangt die Erfüllung auch solcher “Aufgaben“. Aber, da er jung ist und so jung nicht sterben will, versucht der Priester eine Vergebung der Götter zu erwirken, damit ihm ein solch grausames Schicksal erspart bleibt. Nachdem er mit jedem wichtigen Gott geredet hatte, hat keiner von ihnen den Mut, dem Varuna und dem Mitra, den Wächtern der Verträge und der Ordnung, zu widerstehen und einen rechtsgültigen Vertrag zu brechen. Nur Indra, rücksichtslos gegenüber jedem Gesetz, gibt dem jungen Brahmanen die gewünschte Freiheit und verhindert das Unglück. Anhand dieser Geschichte können wir zwei verschiedene Verhaltensweisen vergleichen, von denen eine der ersten Funktion eigen ist, die andere der zweiten. In der indischen Mythologie ist Mitra der Gott des Abkommens, was die wörtliche Bedeutung seines Namens ist. Varuna, der andere Gott des souveränen Paares, 51

Vgl. U. Friedrich 1999, S. 160, Anm. 45.

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muss die Erfüllung eines Vertrages überwachen und einen eventuellen Vertragsbruch bestrafen.52 Nach der Logik der ersten Funktion bleibt ein Vertrag ein Vertrag (und in diesem Sinne ist die Religion – re-ligare – ein fesselnder Vertrag); niemals darf er gebrochen werden. Die Justiz ist oftmals blind und die formale Gerechtigkeit absurd. Nach Dumézils Meinung zeigt in diesem Falle das Verhalten Indras, dass der Krieger in dem sozialen Kontext der unflexiblen vertraglichen Beziehungen manchmal mehr Barmherzigkeit beweist und Gutes tut.53 Er kämpft gegen die mechanische Anwendung des Gesetzes, obwohl das in der juristischen Terminologie als Anarchie und Gesetzlosigkeit betrachtet werden könnte. Meiner Meinung nach ist diese Legende eine Rechtfertigung des „gutartigen Aufstandes“, der manchmal erforderlich ist, wenn das Rechtssystem unmenschlich wird. Freilich wird meistens die Opposition des Kriegers gegen die gesetzliche Ordnung als verwerflich angesehen, doch ist dann und wann eine Rebellion solcher Art nötig, um die blinde Herrschaft des Gesetzes zu brechen und es zu vermenschlichen. Wie bereits gesagt, bleibt in den Augen der anderen Mitglieder einer indoeuropäischen Kultur die zweite Funktion wegen ihrer unkontrollierbaren Natur, ihrer Aggressivität und ihres Stolzes doch eine potenzielle Gefahr. Ein wichtiger Aspekt der kriegerischen Ehre im Unterschied zu der anderer Stände besteht in der „Freiheit“ zu tun, was man will. Für die Bauern als Repräsentanten der dritten Funktion, die ohnehin keine Macht hatten, wäre ein solches Verhalten unvorstellbar gewesen, denn die „bäuerliche“ Ehre, später die bürgerliche, entstand aufgrund des Gehorsams gegenüber dem Gesetz. Darum war es selbstverständlich, dass sich in der Friedensbewegung des 10.-11. Jahrhunderts die erste Funktion, die die Gesetze und Verträge beschließt, und die dritte, für die das Gesetz das Leben einer gesunden Gesellschaft regelt, zusammen gegen die tendenziell chaotische kriegerische Funktion „verbunden“54 haben. Die Ehre der ersten Funktion besteht darin, die Gesellschaft durch ein gerechtes Rechtssystem zu organisieren, und die Ehre der dritten besteht darin, diesem System, da nur so Sicherheit, Frieden und Wohlstand gewährleistet sind, zu gehorchen. Ein interessantes Beispiel für die Wahrnehmung des Kriegers in den alten indoeuropäisch sprechenden Kulturen ist, dass im alten Rom die Marstempel stets außerhalb der Stadtmauer gebaut wurden, da „the sanctuaries of Mars conformed to one rule, explicitly formulated: as a kind of a sentinel, he has his place not in the city, where peace should reign, where the armed 52 Alle Hymnen des Rig-Vedas beschreiben Varuna als König und Wächter der kosmischen Ordnung, als furchtbaren und unbeeinflussbaren Richter. 53 Vgl. G. Dumézil 1988, S. 104ff. 54 Die Anführungszeichen wird man beim Lesen des dritten Teils dieser Arbeit verstehen.

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troops do not enter, but outside of the precincts, on the threshold of the wilderness which is not though it has been so called“.55 Der Krieg hat mit dem Inneren einer Gesellschaft nichts zu tun, sein einziger Sinn liegt im Krieg gegen äußere Feinde. Die inneren Probleme der Gesellschaft sind eigentlich das „Revier“ der ersten Funktion und der legalen Herrschaft (die gewiss manchmal auch gewaltsam handelt, sich aber ständig auf das Gesetz beruft und somit eine gesetzliche Gewalt ausübt). Die Ynglingasaga56 erzählt in ihrem XXX. Kapitel eine interessante Episode: Tunne, ein Sklave am Hof des Königs Egil von Schweden, zettelte einen Aufstand an und organisierte im Gebirge eine Armee von outlaws, die, wie die Übersetzung lautet, „draußen in den Wäldern lauerte“. Diese Plünderer verwüsteten regelmäßig das Land, und alle Versuche des Königs Egil, sie zu vernichten, waren erfolglos, denn sie waren gute Krieger, während der arme König Egil überhaupt „kein Krieger“ war. Deswegen war Egil gezwungen, den Dänenkönigs Frode um Hilfe zu bitten, der schnell und positiv antwortete und seine Recken schickte; diese töteten den rebellischen Tunne und kehrten, nachdem sie die Regierung Egils wiederhergestellt hatten, nach Dänemark zurück. Noch einmal wird hier der ambivalente Charakter des Kriegers deutlich: Einerseits ist der Krieg zerstörerisch und anarchisch, kommt aus der Dunkelheit der Wälder und ist deshalb illegal, andererseits gibt es doch ebenso Krieger, die sich als notwendig und positiv erweisen, die die soziale Ordnung wiederherstellen und die Störungsfaktoren beseitigen. Die kriegerische Funktion nimmt eine notwendige Aufgabe im Inneren einer Gesellschaft wahr, solange sie als Polizei-Kraft unter dem Befehl der ersten Funktion57 (in unserem Falle der legalen Souveränität des Königs) tätig ist.58 Nur der völlige Gehorsam des Kriegers gegenüber den Repräsentanten der ersten Funktion kann ihm Anerkennung, Belohnung und Erfolg einbringen. Das Mittelalter übernimmt diese Mentalität unverändert: „[N]ec ei mortalis manus resistere potest, quamdiu Deo militaveris et vicario sancti Petri principis apostolorum obedieris“.59 Die Botschafter des Papstes versprechen dem Normannen Robert Guiscard (12. Jahrhundert), dass ihm keine menschliche Kraft widerstehen kann, wenn er für Gott kämpft und dem Vikar des Heiligen Petrus gehorsam ist. 55

G. Dumézil 1970, S. 206. Siehe HEIMSKRINGLA, Ynglingasaga. Im Mittelalter erledigen milites auch polizeiliche Aufgaben auf Befehl von Klerikern (siehe das Beispiel bei J. Johrendt 1971, S. 61f). 58 Der Rig-Veda sagt deutlich, dass „ein Brahmane größer als ein ksatrya ist“ (RIGVEDA BRAHMANAS, vii, S. 303), der Krieger hat also dem Brahmanen zu gehorchen. 59 ORDERIC VITALIS VII. 56 57

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Wenn also ein Krieger Gerechtigkeit auf eigene Faust durchsetzen will, wird dies von der ersten Funktion als ein direkter Angriff auf ihre Ehre verstanden. Da der Krieger seine Ehrangelegenheiten naturgemäß nur durch Gewalt regelt, wird in diesem Kontext die Rache bzw. die Blutrache zu einem Mittel, sich Gerechtigkeit zu verschaffen.60 Dies wiederum wird aber von den Repräsentanten der ersten Funktion als eine Einmischung und ein Missbrauch etlicher Werte seitens einer „ungeeigneten“ Funktion angesehen. Es ist Aufgabe der Souveränität, zu Strafen und Gesetze durchzusetzen, während die Blutrache im Gegensatz zu dieser Auffassung steht. Nur in einer Gesellschaft, die keine Ordnung hat, kann man sich selbst verteidigen und rächen, ansonsten erfüllt die Justiz und die zentrale Gewalt durch das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und durch ihre Autorität das Bedürfnis nach Genugtuung jedes benachteiligten und geschädigten Mitgliedes. Dies sind die Kriterien der Ehre der ersten Funktion und jede Einmischung gilt als Ehrverletzung. Deshalb besteht durch das Racheethos der zweiten Funktion eine Bedrohung der gesamten Gesellschaft und ihrer Ruhe. In diesem Zusammenhang lassen sich manche Formen des gerichtlichen Zweikampfes als Versuche verstehen, die Racheinstitution zu vergesellschaften und ihr einen sozialen Sinn zu geben: Darum wird der Zweikampf zu einem Justizakt, durch den man vor den Augen der gesamten Gemeinschaft seine Rechte behaupten kann. Obwohl diese Lösung nicht weniger ungerecht als die Blutrache ist, müssen bei diesem „rechtsentscheidenden“ Zweikampf bestimmte Regeln eingehalten werden; somit hat die erste Funktion ihre Mentalität durchgesetzt.

Die funktionale Ehre Die erste Funktion schafft also wie ihre Götter Legalität und Ordnung innerhalb der Gesellschaft. „Politics and law, power and justice, are united, at least ideally, at many points. Another element of the prestige of Jupiter, as of Zeus and the sovereign gods of Vedic India, Varuna and Mitra, is his role as witness, as guarantor, as avenger of oaths and pacts, in private as well as in public life, in commerce between citizens or with foreigners“.61 Durch ihre Gesetzgebung wirkt die erste Funktion in alle Bereiche menschlichen Lebens hinein. Nur wenn sie diese vorgegebene Ordnung wahrt, kann eine Gesellschaft sich als gesund bezeichnen. Der Krieg selbst unterliegt ebenfalls bestimmten Gesetzen und Reglementierungen. Die „JuristenGötter“, wie z. B. Mitra, Deus Fidius oder der nordische Tyr, breiten ihren 60 61

Zur Mentalität und „Ethik“ der Rache siehe H. Reiner 1956, S. 28 ff. G. Dumézil 1970, S. 179.

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Herrschaftsbereich auch durch Krieg aus62, denn alles, was es gibt, muss nach Gesetzen, nach der Logik und Ordnung funktionieren. Durch die gewaltige Herrschaft und Wirkung der ersten Funktion bekommt der Krieg eine eigene Ethik: So entsteht z. B. in der Neuzeit ein Ehrenkodex des Kriegführens, mit dem in einem parallel laufenden Prozess eine Rechtfertigung und Ethisierung des gewaltsamen Aktes verbunden ist. Regeln spielen in der indoeuropäischen und später europäischen Kriegsmentalität eine wichtige Rolle: „In general too much emphasis has been placed on the warlike aspects of Tyr and his significance for Germanic law has not been sufficiently recognized. It should been noted that, from the Germanic point of view there is no contradiction between the concepts ‘god of war’ and ‘god of law’. War is in fact not only the bloody mingling of combat, but no less a decision obtained between the two combatants and secured by precise rules of law. That is why the day and place of battle are frequently fixed in advance; in provoking Marius, Boiorix offers him the choice of place and time. So is explained, also, how combat between two armies can be replaced by a legal duel, in which the gods grant victory to the party whose right they recognize“.63 Es ist freilich wahr, dass sich Götter der ersten Funktion (jene des varunaischen Aspektes) im Krieg engagieren und daran teilnehmen, jedoch stets in Konformität mit ihrer Natur. G. Dumézil zitiert64 eine Hymne aus dem Rig-Veda, die die spezifische Wirkung Varunas und Indras im Krieg aufzeigt: “Einer von Euch [Indra] tötet das [Monster] Vrtra im Kampf, / Der andere [Varuna] wacht stets über die Gesetze. / Einer [Varuna] bewahrt die Ordnung unter den erschrockenen Menschen, / Der andere [Indra] bekämpft das unbesiegbare Vrtra.“

Wie ich schon gezeigt habe, ist die souveräne Funktion durch folgende zwei Aspekte strukturiert: Der varunaische Aspekt ist dunkel und magisch. Zu ihm gehören die verborgenen und mysteriösen Kräfte der ersten Funktion. Es ist die Magie, die der souveränen Funktion neue Formen zu schaffen oder auch alte Formen zu modifizieren erlaubt. Varuna ist der mächtige Souverän, der menschliche Opfer fordert und erhält. Im Gegensatz zu ihm, und zugleich ihn ergänzend, ist der mitraische Aspekt der Funktion hell. Zu ihm gehört, dass das menschliche Leben nach Gesetzen geführt wird und dass Freundschaften als soziale Beziehungen entstehen, welche z. B. durch gegenseitigen Austausch von Geschenken gefestigt werden. Die erste Funktion kann sich auch schwerer „Sünden“ schuldig machen, wenn sie den ursprünglichen Sinn ihrer raison d’être vernachlässigt: Da das Wort eine 62

J. de Vries spricht in diesem Sinne von einer „juristischen Seite des Krieges“ (J. de Vries 1943, S. 181). 63 Jan de Vries zitiert von G. Dumézil 1973, S. 44. 64 In „Gods of the Ancient Northmen“, S. 41.

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äußerst wichtige Rolle in der sakralen Herrschaft spielt, ist die Lüge die häufigste „Sünde“, die die erste Funktion begeht. Natürlich ist es für jeden Menschen unehrenhaft zu lügen, aber die Lüge der Repräsentanten der ersten Funktion wird zu einer allgemeinen Gefahr für die soziale Ordnung.65 Die spätere christliche Simonie wird beispielsweise von der ersten Funktion als Betrug beurteilt, da die religiös-magischen Kräfte mit Geld erkauft werden, was als ein Eindringen der merkantilen Werte bzw. Methoden der dritten Funktion in den sakralen Bereich angesehen wird, wo nur das Heile herrschen soll. Auch die Übertreibung der Satire, die als Kontrollfaktor in der Gesellschaft die anderen Funktionen durch Gedichte beurteilt und im Falle eines Fehlers korrigiert, kann zu einem falschen und gefährlichen Verhalten führen, das den sozialen Frieden bedroht, wenn sie Unzufriedenheit und Aufstände verursacht. Es ist wohl kein Zufall, dass das Priestertum im frühen und mittelalterlichen Christentum die richtige Dosierung von Kritik und Lob seitens des Priesters besonders betonte. Im Vergleich zu den anderen beiden Funktionen hat die dritte Funktion, am anderen Rand der sozialen Skala, die materiellen Aspekte des alltäglichen Lebens im Griff. Ihre Götter haben nichts Hermetisches, Geheimnisvolles und Transzendentes an sich. Im Unterschied zum Paar Mitra-Varuna und zu Indra leben die Götter der dritten Funktion wie Menschen unter den Menschen. Sie kümmern sich nicht darum, die Sünden zu bestrafen; ihre Erscheinung strahlt weder etwas Schreckliches noch eine souveräne Bedrohung aus. Sie sind freundlich und wohlwollend. Als Heiler machen sie die Menschen wieder jung und kräftig und als Schutzgötter beschirmen sie das Vieh und den Ackerbau. Alles, was sie tun, hat nur das Ziel, das schwere Schicksal der Sterblichen zu erleichtern und erträglich zu machen. Obwohl sie auch manchmal in den Krieg ziehen, geschieht dies meistens nur, um die Verletzten zu retten. Die dritte Funktion betont den Wert des Lebens, nicht die Gerechtigkeit und die Legalität bzw. den Tod und die kriegerisch-anarchische Kühnheit. Oft wird im Hinblick auf die dritte Funktion eine offenkundige Tatsache übersehen: Die anderen verdanken ihr die eigene Existenz und das Überleben. Bei einem geheimen Männerbund (die zweite Funktion) des antiken Rom, die Luperci, gab es den Ritus, einen Hund zu opfern in Erinnerung an die Wölfin, die Romulus und Remus ernährt und beschützt hat. Dadurch wurde die Wichtigkeit der dritten

65

Der frühmittelalterliche irische König war z. B. der „Besitzer“ der sakralen Macht der Wahrheit (fír flatha). Eine Lüge von ihm konnte schreckliche Katastrophen über sein Volk bringen. Das steht in direkter Beziehung zu dem Glauben der hinduistischen Inder an die Kraft des ausgesprochenen wahren (!) Wortes. „Hindu glauben, das bloße Aussprechen einer wahren Feststellung könne Wunder wirken“ (M. Dillon/ N. K. Chadwick 1966, S. 171).

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Funktion anerkannt und die Mutterschaft als Wert dieser Funktion verehrt.66 Durch die Geburt entsteht jede Gesellschaft, und es muss betont werden, dass die Angehörigen der dritten Funktion sich immer bewusst waren, dass der soziale Organismus ihnen seine Existenz zu verdanken hat. Dieses Wissen gehört grundsätzlich zum Ehrenethos der dritten Funktion und wird – wie wir sehen werden – im Spätmittelalter z. B. oft als Argument gegen die anderen zwei Funktionen eingesetzt. Die Sprache des Körpers. Die Haltung zur Sexualität ist ein entscheidender Unterschied zwischen den Ehranschauungen der Funktionen. Ich werde das Problem von hinten aufrollen, d. h. über die Einstellung der dritten Funktion zur Sexualität. Bei ihr ist dieser physiologische Akt mit der Fortpflanzungsidee verknüpft, aber auch mit der unbegrenzten Lust: Deshalb war in den Ackerbau-Kulturen Inzest nicht immer und wenn, dann nicht sehr stark verurteilt. Was den anderen Funktionen unmoralisch erschien, wird zur Moral für die dritte, denn ihr ist die Weiterführung der menschlichen Existenz wichtig; darum gilt hier alles, was das Fortdauern der Spezies begünstigt, die Sexualität mit eingeschlossen, als moralisch und erforderlich. Für die Repräsentanten der zweiten Funktion kommt die Sexualität nur als Maßstab der Männlichkeit zur Geltung. Sie beruht auf der mannhaften Kraft, derjenigen Qualität, die für jeden Krieger grundlegend ist. Die sexuellen Eigenschaften bei Kriegern sind Ausdrucksform ihrer physischen männlichen Stärke, letzten Endes ihrer kriegerischen Fähigkeit. Man sagte, dass Indra tausend Hoden hätte, aber man sprach nicht über eventuelle physische Kontakte mit Frauen. In TaBoC erzählt man über den Stier Donn Cúalnge, dass er fähig wäre, an einem einzigen Tag fünfzig Kühe zu begatten, aber es wird nie eine konkrete Paarung erwähnt. Denn die Frau an sich ist für den Krieger unbedeutend, sie ist für ihn nur ein Anlass, seine Überlegenheit zu demonstrieren.67 Symbolisch durch Beleidigung, aber auch physisch durch Vergewaltigung des Feindes als Siegesritual will der Krieger zeigen, dass er dem Besiegten überlegen ist; die sexuellen Symbole sind also im Falle der zweiten Funktion nichts anderes als Macht- und Kraftsymbole.68 Das bedeutet, dass man bei der Nennung der sexuellen 66

Vgl. G. Dumézil 1988, S. 27. Vgl. H. Reiner 1956, S. 26. Bei den Römern wurde der Sieg als eine Göttin dargestellt (Victoria) und bei den Kelten stellte man sich vor, dass die Herrschergewalt ebenfalls eine Göttin sei. Die Könige stammten aus der kriegerischen Klasse, genauso wie in Indien. Die Verkörperung der Autorität in einer weiblichen Figur kann bedeuten, dass von dem Krieger die Frau als Objekt bzw. Symbol des Besitzes und der Herrschaft angesehen wurde (Vgl. M. Dillon/ N. K. Chadwick 1966, S. 168). 68 Der Krieger brauchte die Frau als „Gegenstück“, als Gegenpol bzw. als NichtMächtige, „über die sich noch der ohnmächtigste Mann definieren kann“ (L. Böhnisch/ R. Winter 1993, S. 37). 67

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Qualitäten die generelle physische Kraft im Blick hat, nicht die Sexualität an sich (die Frau wird vom Krieger beinahe institutionell verdächtigt, gefürchtet und abgelehnt). Bei der ersten Funktion sieht es anders aus. Durch die propagierte Askese bzw. durch die vielen Restriktionen, denen ein Priester bzw. Mönch69 im Bezug auf den sexuellen Akt unterliegt, konnte man eine Übermännlichkeit, eine Beseitigung der gewöhnlichen, irdischen Männlichkeit behaupten. Das Ergebnis dieses kurzen Vergleichs ist, dass die Sexualität für alle drei Funktionen große Bedeutung besitzt, allerdings in unterschiedlicher Hinsicht. Das Verhältnis zum sexuellen Mysterium ist für die Anschauung über die Ehre selbst relevant, da sich (wie schon bemerkt) die Ehranschauungen sexueller Symbolik bedienen. Die dritte Funktion – um nun zu ihr zurückzukehren – hält alles, was Wohlstand, Sicherheit und Überfluss schafft, für Ehre bringend. In der nordischen Mythologie, die die Götter am Anfang der Geschichte als mythische irdische Könige agieren lässt, wird die Zeit des „Königs“ Njord und seines Nachfolgers Frey als Goldenes Zeitalter beschrieben: „Njord von Noatun war dann der alleinige Herrscher der Schweden […] [nach dem Tode Odins]. Unter seiner Herrschaft war Frieden und Überfluss, und so gute Jahre, in allen Hinsichten, dass die Schweden glaubten, Njord herrschte über das Wachstum der Jahreszeiten und den Wohlstand des Volkes. […] Frey übernahm nach Njord das Königreich […]. Er war genau wie sein Vater, glücklich, [gute] Freunde [die gesellschaftlich vetragliche Freundschaft als Bindungsfaktor der gesamten Gesellschaft, von der ersten Funktion beschirmt und überwacht] und gute Zeiten zu haben [...]. Danach begann in seinen Tagen der Frode-Frieden; und dann gab es gute Zeiten [im Sinne von Ernten] im ganzen Lande, welche die Schweden dem Frey zuschrieben, sodass er mehr als die anderen Götter verehrt wurde, denn das Volk wurde in seinen Tagen viel reicher aufgrund des Friedens und der guten Jahreszeiten [d. h. Ernten].”70

Das Wichtigste für die dritte Funktion sind also Frieden und Überfluss, Sicherheit und Akkumulation. Ihre Wertungen haben zur Folge, dass die Kühnheit bzw. Gewaltsamkeit der zweiten Funktion als verschwenderische, selbstlose und sinnlose Handlung angesehen wird. Alle diese oben genannten Wertungen der dritten Funktion können nicht auf der Ehrenskala herabgestuft werden, d. h., alle Versuche der zweiten Funktion aufzuzeigen, dass diese Wertungen feige, unmannhaft und „weich“ sind, haben immer den Widerstand (manchmal den gewaltsamen Widerstand) der dritten Funktion hervorgerufen. Wir haben es also mit einem inneren Spannungs69 70

Vgl. G. Duby 1998, S. 45. HEIMSKRINGLA, Ynglingasaga, XII.

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feld zu tun, das die Repräsentanten der ersten Funktion (als „Wächter“ über das gute Funktionieren der sozialen Ordnung) stets beunruhigt hat. „Originally the gods of the lower level, the Nasatya or givers of health and prosperity were apart from the other gods. The gods, headed by Indra, whose weapon is the lightning, refuse them what is the privilege and practically part of the credentials of divinity, participation in benefits of the oblations, under the pretext that they were not ‚proper’ gods, but rather some kind of artisans or warriors who were too much mixed with men. On the day when Nasatya raised their claims and tried to enter into divine society, a bitter conflict ensured“.71 Der gerade beschriebene Konflikt dreht sich um die Ehre, in diesem Fall um die Ehre, Gott sein zu „dürfen“, überhaupt um die Anerkennung, die das Wertungssystem, das von den zwei Asvins verkörpert wird, in gleicher Weise ehrbar macht wie den Krieg oder die Souveränität.

Der Entstehungskrieg Die oben erzählte Episode aus dem archaischen Indien beschreibt ein für die Entstehung jeder Gesellschaft fundamentales Ereignis. Da sich die Indoeuropäer vorgestellt haben, dass die Gesamtheit des Kosmos’ nach drei Prinzipien strukturiert ist, haben sie auch die gesellschaftliche Koexistenz und Dynamik mythologisch einzubetten versucht. Es war ja deutlich erkennbar, dass der Sozial-Organismus verborgene Spannungen in sich birgt und dass sich die drei Funktionen auf verschiedene Wertungskategorien berufen; es musste also dafür eine Erklärung gegeben werden, die natürlich, wie in allen traditionellen Gesellschaften, mythisch war. Die Evidenz, dass es drei verschiedene Auffassungen von Ehre gibt, weist darauf hin, dass sich die Gesellschaft in einem fragilen Gleichgewicht befindet, weil eine gefährliche Spannung sie bedroht. Ursprung und Logik dieser Spannung werden durch einen Entstehungskrieg erklärt, einen Mythos, der sich in verschiedenen Formen bei allen indoeuropäisch-sprechenden Kulturen findet.72 Die Ynglingasaga erzählt73, wie das Volk der Asen unter der Führung Odins das westliche Vanaland angriff und dadurch eine ganze Kette von gegenseitigen Plünderungen und Zerstörungen begann. Obwohl Odin und 71

G. Dumézil 1973, S. 20. Durkheim und seine Schule betrachten die Gesellschaft als eine Einheit spannungsloser, durch Religion repräsentierter und ausgedrückter Kategorien. Die moderne französische Soziologie (die sich vom Marxismus deutlich beeinflussen lässt) verweist aber auf die u. a. durch Ausbeutung verursachten ökonomischen Sozialspaltungen und konflikte (vgl. D. Dubuisson 2003, S. 54ff). 73 HEIMSKRINGLA, Ynglingasaga, I ff. 72

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sein Volk bekannt für ihre kriegerische Natur waren und man wusste, dass sie nie einen Krieg verloren hatten, waren die Vanen gut vorbereitet und haben ihr Land erfolgreich verteidigt, sodass der Kampf unentschieden blieb. Viele Forscher sehen in der Beschreibung dieses Konfliktes eine Erinnerung an die ursprüngliche indoeuropäische Auswanderung. Die Interpreten des Entstehungskrieges spalten sich hier in eine historische und eine mythisch-soziale Richtung. Nach der Beschreibung Snorris wird Asaland von Vanaland durch den Fluss Tanais getrennt; Vanaland liegt westlich von Asaland. Nach dem Frieden zwischen den zwei Göttergruppen wanderte das nun vereinigte Volk unter dem Befehl Odins zuerst nach Westen zu Garthiriki (Russland), dann nach Süden nach Saxland (Nord-WestDeutschland), danach nach Norden, nach Skandinavien. Es legt quasi den gesamten Weg des nordischen indoeuropäischen Ausbreitungszuges zurück. Diese historische Hypothese des Entstehungskrieges wurde von Bernhard Salin (1861-1931) begründet und in der letzten Zeit von Ernst A. Philippson verteidigt, nach dessen Meinung die gesamte Geschichte ein Bericht über die ethnischen und politische Aspekte eines Eroberungskrieges ist. In archäologischer Sicht könnte man die Auslöschung des megalithischen vorgeschichtlichen Europas durch die Indoeuropäer behaupten. Auf der anderen Seite stehen die Anhänger der mythologisch-sozialen Erklärung: Jan de Vries74, Otto Höfler, Georges Dumézil. Ihre Theorie wird von Letzterem zusammengefasst: „But we do believe that the duality of the Aesir and the Vanir is not a reflection of these events [die indoeuropäische Auswanderung], nor an effect of that evolution. We believe rather that it is a question here of two complementary terms in a unitary religious and ideological structure one of which presupposes the other. These were brought fully articulated by these Indo-Europeans invaders […]. We believe that the initial war between the Aesir and the Vanir is only a spectacular manifestation, as it is the function of the myth, in the form of a violent conflict, of the distinction, the conceptual opposition, which justifies their coexistence. Finally we suggest that the unbreakable association that follows the war only prepares for, signifies that the opposition is also a complementarity, a solidarity, and that the Aesir and Vanir adjust and balance themselves for the greatest good of a human society”.75 Eine Gesellschaft muss zunächst 74

Die Meinung J. de Vries’ zu diesem Problem ist allerdings zweideutig und unklar. Er bekämpft die historische These des Entstehungskriegs nicht, sondern relativiert sie nur. In seinem Buch „Die Geistige Welt der Germanen“ meint er: „[D]ie Bauern, die breite Volksschicht also, haben sich neben den hervorragenden Ständen der Krieger und der Priester als drittes Element in die gesellschaftliche Ordnung einfügen müssen, sind vielleicht [!] sogar teilweise [!] die Nachkommen unterjochter Völker gewesen (wie z. B. das nordeuropäische Megalithvolk mit den indogermanischen Streitaxtleuten zu den Germanen verschmolzen ist)“ (J. de Vries 1943, S. 158). 75 G. Dumézil 1973, S. 13.

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ihre eigene Funktionalität erreichen, dann erst ist sie fähig, neue Länder zu erobern und zu „zivilisieren“. Deswegen entsteht vermutlich die Mythologie des Entstehungskrieges in den indoeuropäischen Traditionen selbst und wird danach von all den anderen Töchter-Kulturen übernommen. Das Problem gehört demnach eher in den mythologischen Bereich, weshalb wir die geschichtliche Entwicklung (die indoeuropäische Ausbreitung und Eroberung) nur als logische Folge dieser Mentalität betrachten können. Jede Gesellschaft entsteht, gemäß der indoeuropäischen Mentalität, infolge eines Konfliktes zwischen den miteinander verbündeten Repräsentanten der ersten zwei Funktionen und denen der dritten Funktion, die am Anfang zwei verschiedene Gesellschaften bildeten, von mir AsaGesellschaft und Vana-Gesellschaft genannt. Aber jede von diesen ist unvollkommen: Jeder fehlt etwas. Die Asa-Gesellschaft ist eine kriegerische Gesellschaft, aber auch ein Raum der höchsten Magie, in dem es mächtige Zauberer gibt, eine Gesellschaft also, die von den Göttern der ersten und der zweiten Funktion beschützt und unterstützt wird. Ihre Mitglieder sind aber materiell arm. Die Vana-Gesellschaft ist demgegenüber eine friedliche Gesellschaft, mit seltsamen Bräuchen (z. B. Inzest), aber reich, mit schönen Frauen, Eigenschaften, die der Asa-Gesellschaft fehlen. Wie gezeigt, geschieht bei den Germanen alles im mythologischen Bereich: Selbst die Götter teilen sich in diese zwei Gesellschaften auf, die gegeneinander kämpfen. Bei den Römern wird der gesamte Konflikt als eine historischlegendäre Episode betrachtet: Ich meine hier den Krieg zwischen den Römern unter Romulus und den Sabinern unter Titus Tatius. Titus Livius beschreibt (I, 9) die zwei Lager mit ihren Vorteilen. Romulus hat die Großgötter und die kriegerische Tüchtigkeit auf seiner Seite (satis scire origini Romanae et deos adfuisse et non defuturam virtutem). Die Sabiner verfügen aber über begehrenswerte Dinge, die den Römern fehlen: Sie sind reich und haben Frauen. Bei den Römern hingegen ist das Fortleben ihrer Gesellschaft stark gefährdet, da sie keine Frauen (oder nicht genug) haben, um Kinder zu gebären. Deshalb müssen sie diesen Mangel mit Gewalt beheben: Sie entführen schlichtweg die Frauen der Sabiner, wodurch der Krieg entfacht wird. Tatius verschafft sich am Anfang einen Vorteil: Durch Geld kauft er die Dienste einer römischen Frau, Tarpeia (filiam virginem auro corrumpit Tatius – I, 11), die seiner Armee das Tor Roms öffnet. Die Römer werden überrascht und kämpfen erbittert. Schnell wird ihr Widerstand gebrochen und sie müssen die Flucht ergreifen. In diesem Moment ruft Romulus Jupiter an, er solle ein Wunder wirken und den Untergang der Römer verhindern. Das geschieht, und die Römer schaffen es endlich, die Sabiner aus der Stadt zu jagen. Aufgrund dieses Ereignisses entsteht der

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Kult von Jupiter Stator76, der die römischen Truppen auf ihrer Flucht gestoppt und wieder ermutigt hat. Jede Gesellschaft kämpft also mit ihren eigenen Waffen: 1. Tatius mit Geld, einer Vielzahl von Soldaten und einer Frau bzw. 2. Romulus mit Magie und Kampfkraft der Soldaten. Nachdem Frieden herrscht, werden die beiden, Romulus und Tatius, Kollegen (bei der Führung Roms) und jeder begründet seinen eigenen Kult: Romulus für Jupiter und Tatius für verschiedene Gottheiten der dritten Ebene. Die Schlussfolgerungen sind klar. Anscheinend war für die Indoeuropäer keine Gesellschaft illo tempore vollkommen. Die drei Funktionen waren getrennt und entsprachen ganz verschiedenen Weltanschauungen und Werten: Die ersten zwei Funktionen bildeten eine gemeinsame magischkriegerisch-sakrale Gesellschaft (Asa-Gesellschaft) und die dritte eine andere Sozialdimension (Vana-Gesellschaft). Beide brauchten einander, wobei hier zu betonen ist, dass ausschließlich die indische Überlieferung ausdrücklich darauf hinweist, dass die Vana-Gesellschaft die AsaGesellschaft benötigt (die Nasatya wollen auch Götter sein und an den Opfern beteiligt werden), alle anderen Mythologien sprechen nur davon, dass die Asa-Gesellschaft Not leidet und dringend der Eigentümer der Vana-Gesellschaft bedarf. Da sie fundamental verschieden waren, mit verschiedenen Wertungsdimensionen und Mentalitäten, konnte kein Dialog zustande kommen, im Gegenteil, es begann Krieg, ein Krieg, der keine Entscheidung brachte. Schließlich wurde zwischen beiden Frieden geschlossen und es entwickelte sich eine gemeinsame Gesellschaft mit drei komplementären Funktionen. Dieser Frieden wurde mehr oder weniger unfreiwillig vereinbart, solange es keine andere Möglichkeit gab, diesen sinnlosen und absurden Krieg zu beenden. Damit ist der Frieden wohl eine reine Notlösung (!), eher ein Waffenstillstand. Keiner der Forscher, die den Entstehungskrieg untersucht haben, zeigt, dass der Friede am Ende ein erzwungenes Abkommen ist, da der Sozial-Organismus, der aus diesem Frieden entsteht, auf einem Konflikt basiert. Diese permanente Spannung, die jeder Gesellschaft zugrunde liegt, wird von der indoeuropäischen Denkweise so erklärt. Natürlich haben die drei Funktionen nach dem Entstehungsfrieden ihre eigenen Wertungssysteme nicht vergessen und auch nicht verändert.77 76

Das Kulturmotiv des Deus Stator kann auch im mittelalterlichen Abendland angetroffen werden. Das Epos über Roland und seinen Tod berichtet, dass Karl der Große seinen gefallenen Baron nach dem Gemetzel von Roncevaux rächen wollte, und darum verfolgt er die Sarazenen. Es besteht aber die Gefahr, dass die Rache erfolglos bleibt, da die Sonne untergeht, und die Feinde noch nicht erreicht wurden. Da betet Karl zu dem allmächtigen Gott, die Sonne zu stoppen, und das geschieht auch (vgl. ROLAND, CLXXIX, 2449-50). 77 Obwohl Duby drei Ordnungen der Gesellschaft annimmt, spricht er nur von einem gemeinsamen Wertungssystem (vgl. G. Duby 1981, S. 18), was unlogisch ist, denn so

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Das vielfältige Ethos der Ehre

Die Dynamik der Sozietät ermöglicht aufgrund der wechselnden dringenden Bedürfnisse der Gesellschaft den Aufstieg oder den „Untergang“ einzelner Stände. Politische, ökonomische oder klimatische Umstände sind u. a. Faktoren, die eine solche Dynamik veranlassen können. Das heißt aber nicht, dass zusammen mit dem Abstieg das Wertungssystem einer Funktion, also ihre Ehrsemantik, verschwindet. Jeder Stand bleibt unabhängig von der sozialen Gegenwart der Überzeugung, dass nur jene Welt, die auf seinen eigenen Kriterien gründet, gültig ist. Die Unterdrückung bzw. Aberkennung der eigenen Ehrformen durch einen anderen Stand hat immer Konflikte provoziert.

können die sozialen Spannungen im symbolischen Bereich nicht mehr erklärt werden. Es gab unterschiedliche Wertungssysteme, deren Verhältnis zueinander konfliktträchtig war.

III. Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft Zur Definition einiger Begriffe Motto: „And let us right there try ourselves and do so much that people will speak of it in future times in halls, in palaces, in public places and elsewhere throughout the world“ (Kapitän Bamborough vor der Schlacht der Dreißig, Die Chronik von Jean Froissart). Im Mittelalter und in der Frühneuzeit gibt es zwischen den drei Funktionen weiterhin Konflikte um Anerkennung und Ehre, denn die Gesellschaft ist kein homogener Organismus, solange sich die drei Ordnungen nicht auf dasselbe Wertungssystem beziehen. Die große Völkerwanderung am Anfang des Mittelalters führte dazu, dass die kriegerische Funktion und ihre Mitglieder unbedingt benötigt wurden und daher rasch aufstiegen. Die Krieger werden zu den wichtigsten und „edelsten“ Figuren des Sozialorganismus und ihre Ehrvorstellungen setzen sich auf der allgemeinen gesellschaftlichen Skala durch. Die Kluft zwischen der Asa- und VanaGesellschaft wird dadurch noch größer, dass die Repräsentanten der dritten Funktion ihren Status einbüßen und den anderen Ständen unterworfen werden. Es mussten erst die extremen Verhaltensweisen der Krieger im Feudalismus die Gesellschaftsordnung bedrohen, damit eine „alternative Ehre“ in Erscheinung treten konnte. Ich meine hier aber nicht eine Erscheinung ex nihilo, sondern die „Auferstehung“ einiger bisher unterdrückter und verachteter Wertungen, die der von Exzessen gereizten mittelalterlichen Welt eine neue Option anboten. Die moderne Ordnung und die neuen Werte Europas wurden als Reaktion auf die Übertreibungen des kriegerischen Standes und als Alternative zu ihnen geboren. Verhaltensweisen, die einen gesamten Kontinent beunruhigten, wurden nach neuen, anderen Maßstäben1 kritisiert, und evtl. modifiziert. Man musste nicht ein 1 Ich meine hier vor allem die Zentralisierung europäischer Monarchien. Ein Beispiel: „Um Mitte des 11. Jahrhunderts bestand Frankreich noch aus unzähligen, praktisch autonomen Schlossherrschaften, Ende des 12. Jahrhunderts gab es wenige, gut

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neues Verhalten und neue Normen schaffen, es genügte, einen unterdrückten Stand zu „befreien“, d. h., ihm eine angesehene Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen. Der Friede, die Disziplin, der Überfluss, der Reichtum und der nutzbringende, kalkulierte Krieg sind neue Ziele und Kriterien einer erfolgreichen Gesellschaft. In all diesen Begriffen kann man alte Wertungsformen der dritten indoeuropäischen Funktion erkennen. Gottesfrieden, Renaissance, Aufklärung sind nur Etappen einer Wiedergeburt.

Verschwendungs- und Akkumulationsmentalität Von Anfang an möchte ich klarstellen, dass ich in meiner Untersuchung die „Bourgeoisie“ (Bürgertum) zusammen mit den Bauern als Repräsentanten der dritten Funktion behandeln werde.2 Im Frühmittelalter sind die Unterschiede zwischen den zwei Subklassen nicht so deutlich, da es damals ja kaum Kaufleute im spätmittelalterlichen Sinne gab. Man kann daher davon ausgehen, dass keine Bourgeoisie im eigentlichen Sinne vorhanden war, nur Produktionskräfte der feudalen Domäne. Die beiden Schichten gehen von denselben Prinzipien aus und gründen sich auf ursprünglich gemeinsame Wertungskonnexe. Das Bürgertum hat seine Quelle im Bauerntum und im Leibeigentum der feudalen Domäne.3 In dieser Zeit hat die kriegerische Funktion nichts mehr mit den bekannten Bauernkriegern4 der indoeuropäisch-sprechenden Kulturen zu tun. Ich werde die Militäraristokratie in den Blick nehmen sowie die zweitrangige Kategorie der milites, die vom Krieg und für den Krieg lebte oder sich mit Tätigkeiten der kriegerischen Sphäre beschäftigte: Fehde, Plündern, Bankette, Jagd usw.5 Als zweiten Stand betrachte ich folglich sowohl den Geburtsadel, dessen Ursprung in der Militäraristokratie der barbarischen Königreiche zu finden ist, als auch organisierte Fürstentümer, gab es Städte und Handel. Es ist klar, dass damit die alten Kriegertugenden als Fürstentugenden von zweitrangiger Bedeutung wurden“ (M. Waltz 1985, S. 177). 2 Schon mit der städtischen Revolution findet ein Differenzierungsprozess in der dritten Funktion statt, in der die Kaufleute und die Handwerker als Bourgeoisie mehr Wertschätzung für „Vielzahl“, Akkumulation, Reichtum und sozialen Ehrgeiz zeigen. Die Bauern hingegen bleiben den traditionellen Werten verhaftet: Friede und Wertschätzung der physischen Arbeit, eines gesunden Lebens mitten in der Natur, des Fleißes usw. 3 Vgl. K. Bosl 1973, S. 7. 4 Die Bauernkrieger sind eigentlich mehr Krieger als Bauern, da, wie S. F. Wemple beweist, alle landwirtschaftlichen Tätigkeiten in solchen Gesellschaften den Frauen und den Alten überlassen waren (vgl. S. F. Wemple 1981, S. 11 und 13). 5 Vgl. J. Johrendt 1971, S. 61.

Zur Definition einiger Begriffe

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den „Dienst- und Leistungsadel“ (so Karl Bosl), der manchmal von ursprünglich unfreien ministeriales abstammt.6 Ich möchte sogleich einräumen, dass der Begriff miles ab dem 11. Jahrhundert von allen Unterschichten des zweiten Standes (vom einfachen „Ritter“ bis zum König) mit Vorliebe aufgenommen wurde als Zeichen der Ehre, dem kriegerischen Stande anzugehören.7 Damit soll klar werden, dass diese zweite Schicht rein soziologisch schwer zu definieren ist; symbolisch aber, nach der allgemeinen Zugehörigkeit zum Kriegsethos, ist sie leichter zu typologisieren.8 Der Begriff der „Verschwendung“ versucht wie viele andere Termini eine Realität auszudrücken, die den Anthropologen als eine Konstante der archaischen Kulturen (also auch der mittelalterlichen Gesellschaft) aufgefallen ist: die apparent unvernünftige Verausgabung von Gütern bzw. Personen durch vornehme Individuen. Die Existenz eines Verschwendungsethos ist unbestritten, es gibt aber zahllose Erklärungsversuche dafür, welchen Zwecken ein solches Verhalten dient. In seinem Werk „Der Begriff der Verausgabung“9 schlägt der französische Soziologe Georges Bataille den Terminus Verausgabung (dépense) für das oben genannte Phänomen vor. Für ihn gehören alle „unproduktiven Ausgaben“, zu denen er Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, Spiele usw. zählt, zu diesem kulturellen Verschwendungskomplex. „Der Akzent [liegt] auf dem Verlust, der so groß wie möglich sein muss, wenn die Tätigkeit ihren wahren Sinn erhalten soll“.10 Als unproduktive Ausgaben gelten alle Tätigkeiten, die ihren Zweck nur in sich selbst haben. Der Leser sei aber vorgewarnt, denn der Diskurs Bataille stützt sich auf eine kommunistisch-materialistische Ideologie; ihm fehlen dementsprechend wichtige Ansätze, die in den menschlichen Handlungen eine religiöse Finalität erkennen lassen. Z. B. spricht der Franzose von einer „bedingungslosen Verausgabung“11, doch der heutige Anthropologe und Historiker weiß, dass es 6

Vgl. K. Bosl 1973, S. 14. Zur Absonderung der milites aufgrund ihrer Waffenfertigkeit siehe L. T. White 1968, S. 34f und J. Johrendt 1971, S. 237. 8 Vgl. G. Althoff 1981, S. 321 und S. 333. Miles unterscheidet sich in den Quellen kaum von „Ritter“ (vgl. H. G. Reuter 1975, passim). Solche Termini bezeichnen eigentlich keinen Stand, solange wir Stand als rechtlich verfasste soziale Schicht definieren. In diesem Sinne kann man von einem Ritterstand erst ab dem Spätmittelalter sprechen (vgl. H. G. Reuter 1975, S. 53ff). Wenn aber ein milites-Stand als Ethosgemeinschaft mit symbolischer Sprache, symbolischen Handlungen und Objekten aufgefasst wird, dann sind diese milites wohl z. B. von rustici bzw. clerici zu unterscheiden. 7

9

In: G. Bataille, Das theoretische Werk, München 1975, S. 9-31. G. Bataille, S. 12. 11 G. Bataille, S. 12. Die Untersuchung Bataille wird von einer außergewöhnlich reichen Terminologie hinsichtlich auf Verausgabung begleitet, wobei ein Kommentator 10

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

im kulturgeschichtlichen und religionswissenschaftlichen Kontext kein unproduktives Verhalten gibt, da sich der Begriff „produktiv“ nicht unbedingt auf materielle Gegenstände bezieht. Seiner Theorie fehlt die Kategorie des symbolischen Kapitals, so wie sie bei Bourdieu auftaucht. Das, was durch die Verausgabung sozial und symbolisch ausgedrückt wird, ist für Bataille die Souveränität, welche ein mit Arroganz und Selbstbewusstsein verbundenes Merkmal der feudalen europäischen Welt sei, die z. B. aus „Verachtung nützlicher Tätigkeit“ verschiedene grandiose Monumente errichtet habe, um Bewunderung zu erregen.12 Ich halte allerdings in diesem Kontext die Bezeichnung „Bewunderung“ für unrichtig, denn die architektonischen Schöpfungen des Mittelalters sollten ein Spiegel und ein Denkmal des Ruhmes und der Ehre einer überlegenden kriegerischen Aristokratie sein, die auf diese Weise ihren Wunsch nach Unsterblichkeit und Verehrung ausdrückte. Auf die Theorie und Forschung Batailles stützt sich der Anthropologe Marcel Mauss mit seinem Essay „Die Gabe“13, in dem er einen anthropologischen Terminus für das Phänomen der Verausgabung vorschlägt: Potlatsch. Dies ist ein Ausdruck der Chinook, also der Indianer an der Nordwest-Küste Amerikas, und bedeutet „im wesentlichen ‚ernähren’, ‚verbrauchen’. Diese sehr reichen Stämme, die auf den Inseln, an der Küste oder zwischen der Küste und den Rocky Mountains leben, verbringen den Winter in einem unaufhörlichen Fest: Bankette, Ausstellungen und Märkte sind zugleich die feierlichen Versammlungen des Stammes“.14 Mauss fügt den Potlatsch-Begriff in die Kategorie der totalen Leistungen ein: „Zunächst sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen: Clans, Stämme, Familien, die einander seines Werkes bemerkt, der Grund dafür sei, „dass Frankreich das klassische Land einer feudalen Kultur ist“ (Gerg Bergfleth, „Theorie der Verschwendung“, in: G. Bataille 1975, S. 293). Ich werde weiter die Verschwendungsehre als spezifische Ehranschauung der zweiten Funktion bzw. des zweiten Standes betrachten. 12 G. Bataille, „Kommunismus und Stalinismus“, in: G. Bataille 1975, S. 237-238. Bataille behauptet ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Verschwendung bzw. Verausgabung und Souveränität. Eine verschwenderische Souveränität könne sich als gefährlich erweisen, solange sie sich als „Maßlosigkeit“ manifestiert (S. 258-260). „Souveränität [bei Bataille] konstituiert sich infolge des Primats von sinn- und zweckloser Verausgabung über das Prinzip der Akkumulation. Aufgrund der Unabhängigkeit von den angehäuften Dingen [...] stehe Souveränität in Widerspruch zu Akkumulation, die die Menschen an die ihnen äußerlichen Dinge fessele“ (F. Guttandin 1993, S. 18). 13

Frankfurt/ M 1990. Es sei hier darauf hingewiesen, dass Marcel Mauss nicht der Urheber der Gabentheorie ist, sondern sie weitergeführt hat (vgl. M. Oswald 2004, S. 13, Anm. 1). 14 M. Mauss 1990, S. 23.

Zur Definition einiger Begriffe

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gegenübertreten, seis als Gruppen auf dem Terrain selbst, seis durch die Vermittlung ihrer Häuptlinge, oder auf beide Weisen zugleich. Zum anderen ist das, was ausgetauscht wird, nicht ausschließlich Güter und Reichtümer, bewegliche und unbewegliche Habe, wirtschaftlich nützliche Dinge. Es sind vor allem Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze, Feste, Märkte [...]. Schließlich vollziehen sich diese Leistungen und Gegenleistungen in einer eher freiwilligen Form, durch Geschenk, Gaben, obwohl sie im Grunde streng obligatorisch sind, bei Strafe des privaten oder öffentlichen Kriegs. Ich habe vorgeschlagen, all dies das System der totalen Leistungen zu nennen“.15 Das europäische frühund hochmittelalterliche Abendland kennt ebenfalls solche Formen „primitiven“ sozialen Umgangs, was die Forschung als gift economy im Gegensatz zu der profit economy des Spätmittelalters bezeichnet.16 Tatsächlich ist der Potlatsch kein Ausdruck selbstloser Großzügigkeit, sondern beruht auf dem Prinzip der Herausforderung und Rivalität zwischen den verschiedenen Häuptlingen. Durch eine größere und nicht durch eine entsprechende Gegengabe ausgleichbare Verschwendung kann man seine Überlegenheit demonstrieren. Es geht hier natürlich um die Ehre als symbolisches Kapital, wobei ein Häuptling und implizit sein Clan durch Verausgabung und Übertrumpfen die größte Ehre erlangen kann.17 Solches Verhalten findet sich auch in der mittelalterlichen europäischen Kultur.18 Der Feudalismus und die Gefolgschaftsbeziehungen entstehen und funktionieren durch eine große und andauernde Verschwendung und Beschenkung, oder genauer gesagt nach dem Prinzip Leistung-Gegenleistung. Durch extravagante und teure Gaben wird der Gefolgsmann verpflichtet, weil er sich angemessene Gegengaben nicht leisten kann, und infolgedessen vergilt er mit seinem symbolischen Kapital, der Ehre, indem er seinem Herrn treu ist und sich für ihn aufopfert. Das Potlatsch-Phänomen umfasst mehrere und vielfältige Formen der Verausgabung, deren Spektrum von normalen Geschenken im Rahmen eines Festes bis hin zu extremen Formen reicht: öffentlicher Kampf bzw. die Tötung anderer Adliger, verschwenderische Zerstörung des eigenen Besitzes usw.19 All dies ist eine öffentliche Herausforderung der Rivalen im Wettbewerb um Ehre. Der deutsche Soziologe Friedhelm Guttandin übernimmt von den zwei genannten Franzosen die wichtigsten Begriffe, die er dann in den Zu15

M. Mauss, S. 22 Vgl. L. K. Little 1983, S. 3 und 7. Vgl. F. Guttandin 1993, S. 13. 18 Vgl. J. Hannig 1988, S. 35. 19 Vgl. M. Mauss 1990, S. 24. Konkrete Beispiele für die verschwenderische Zerstörung: Stämme aus Sibirien töten ganze Hundemeuten und die reichen Stämme Nordwest-Amerikas brennen Dörfer nieder und zertrümmern ihre Bootsflottillen (vgl. G. Bataille 1975, „Der Begriff der Verausgabung“, S. 18). 16 17

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

sammenhang des mittelalterlichen Abendlandes einbettet. Er arbeitet mit der Antinomie Verschwendung-Akkumulation und versucht, den Wandel von der Verschwendungsmentalität zu einer Ehrenhaftigkeit der Akkumulation im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit zu untersuchen. Trotz einiger Nuancierungen ist für ihn, wie auch für Bataille, die Verschwendung Prinzip der mittelalterlichen Gefolgschaftsbeziehungen. „Die Leistungen des Gefolgsmannes hatte der Häuptling durch Gaben zu vergelten, und je verschwenderischer seine Geschenke, desto größer seine Autorität, und je geringer die Möglichkeit auf Seiten des Gefolgsmannes, ein noch größeres Gegengeschenk darzubringen, desto größer dessen Abhängigkeit“.20 Der Hauptgegenstand der Untersuchung Guttandins ist die Entstehung der zentralisierten Monarchien durch Akkumulation von Macht und Gewaltmonopolisierung sowie durch Vergeltung und finanzielle Belohnung verschiedener Dienste. Dieser Prozess kann nur dann stattfinden, wenn der Staat mächtig und reich ist, wenn er über eine Akkumulation von Herrschaft und finanziellem Kapital verfügt. Im Gegensatz zur freiwilligen und exzentrischen „Verrücktheit“ der Verschwendung, so wie sie vom zweiten Stand verkörpert wird, steht das Kalkül, das den Menschen nicht verschwenden lässt, sondern ihn zur Akkumulation zwingt. Für den Angehörigen der dritten Funktion ist das Hasard eine Katastrophe. „Das Unbekannte, Unberechenbare sucht er immer mehr aus seinem Leben auszuscheiden, indem er Erfahrungen sammelte, die Gründe seiner Erfolge und Misserfolge prüfte und lernte, den vorhandenen Umständen sich anzupassen“.21 Der Bauer des Mittelalters ist unglücklich über die Abhängigkeit seiner Ernte von der Witterung22 und der Kaufmann hat panische Angst vor Raubrittern. Diese sind nur zwei aus einer ganzen Reihe von Hindernissen, die der Akkumulation als Wert und Ziel der dritten Funktion im Weg stehen können. Solche Ängste haben den technologischen Wettbewerb der Neuzeit verursacht. In der Kriegsführung gab es von der Antike bis ins Hochmittelalter keine Weiterentwicklung der Kriegstechnologien. Erst mit dem Erscheinen der Bürgerheere, die für das Erringen eines Sieges nicht unbedingt Tapferkeit, Kühnheit, Selbstlosigkeit oder andere Ideale dieser Art für wesentlich hielten, beginnt der technologische Wettbewerb; durch „unehrenhafte“ Methoden besiegten sie immer mehr Armeen der Adeligen. Nicht zu vergessen sind die „dämonischen“ Waffen wie die Armbrust oder die Schusswaffen, die häufig von bürgerlichen Heeren benutzt wurden. Die „feige“ Strategie dieser Heere, welche bäuerliche und handwerkliche Infanterie einsetzten, wurde zur Zielscheibe der adligen Verachtung. Z. B. sieht man in der Bilderchronik Diebold 20

F. Guttandin 1993, S. 14. F. Guttandin 1993, S. 110 . 22 Vgl. A. Borst 1979, S. 359. 21

Zur Definition einiger Begriffe

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Schillings (15. Jahrhundert) wie in der Schlacht von Näfels (1388), einem schweizerischen Crecy, ein Adelsheer von einer bäuerlichen Armee besiegt wurde. Die Adligen ritten im Gegensatz zu den Bauern auf Pferden.23 Die Bauern gewinnen jedoch diesen Konflikt durch einen strategischen Trick, indem sie einen Sumpf als Falle für die feindliche Armee nutzen. Interessant ist, dass die drei oben genannten Forscher als mentale Matrix der Verschwendung in verschiedenen Kulturen ein agonales24 Verhalten identifizieren. Das sei typisch für eine von Werten der zweiten Funktion beherrschte Gesellschaft, in der die materiellen Güter nur dann nützlich und bedeutsam sind, wenn sie aufs Spiel gesetzt werden können, um Siege zu erringen, also Ehre und Ruhm zu erlangen.25 Alles, was zur exzentrischen feudalen Gesellschaft gehört, wie Fehden, Jagd, Turniere usw., ist das Resultat der Spielbereitschaft der Herren um den wertvollen Preis des Ruhmes und der Ehre. Der Krieger liebt das Risiko und das Unvorhersehbare und zeigt damit seine totale Freiheit, die vielleicht der wichtigste Aspekt seiner Ehre ist. Z. B. war ein wichtiges Epitheton des Kriegsgottes Indra „der Freie“.26 Der Erfolg im Krieg ist unabhängig von jeder Handlung (Darbring von Opfern, bestimmten Gebeten), denn letztlich bleibt es eine reine Glücksache. Dies bewusst zu akzeptieren, ist ein wesentliches Merkmal der agonalen Freiheit. Die Ehre der Verschwendung basiert nicht in erster Linie auf ökonomischen27 oder biologischen Grundlagen28, weshalb es dem mittelalterlichen Krieger besonders wichtig war zu zeigen, dass

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JEZLER, S. 278. Vom Griechischen „agón“ (= Wettkampf). 25 „Da aber die Früchte des Potlatsch sozusagen schon im voraus für einen neuen Potlatsch vorgesehen sind, ist das archaische Prinzip des Reichtums frei von jenen Abschwächungen, die von der später entstandenen Habgier herrühren: Reichtum ist ein Erwerb, insofern der Reiche Macht erwirbt, aber er ist vollständig für den Verlust bestimmt, insofern diese Macht eine Macht des Verlustes ist. Nur durch den Verlust sind Ruhm und Ehre mit ihm verbunden“ (G. Bataille 1975, „Der Begriff der Verausgabung“, S. 19). 26 Vgl. G. Dumézil 1964, S. 9ff. 27 „In a society still primitive, and at a time when food supplies were limited, the ‘man of power’ showed himself first of all as the man who could always eat as much as he wished. He was also open handed, the man who provided others with food and the yardstick of his prestige was the number of men whom he fed, and the size of his ‘household’” (G. Duby 1968, S. 35). 28 Bataille hält in seinem Werk „Der verfemten Teil“ (in G. Bataille 1975, S. 33-234) den Konflikt in seinen verschiedenen Arten für die Grundlage des Fortschritts. Die Konflikte werden aber von einem Überschuss an biochemischer Energie im menschlichen Organismus verursacht. Dieser „Überschuss“ sei durch Feste, Feiern und Bau von Monumenten zu reduzieren. All dies reiche aber nicht aus, um das aggressive Potenzial im Menschen abzubauen. Deswegen entstehen Kriege (S. 48ff). 24

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seine Ehre von materiellen Dingen völlig unabhängig ist.29 Denn sie besteht aus Tapferkeit, Kampffertigkeit, Selbstlosigkeit, Kühnheit und in der Annahme jedes Risikos. Die Realität war aber wohl weniger romantisch als diese Vorstellung. In den Ehrenkriegen des Früh- und Hochmittelalters (Raubzüge, Plünderungen, Burgeroberungen usw.) war der erworbene Reichtum kein sekundärer Aspekt. Der Unterschied zur Akkumulationsmentalität wird aber aus der Verwendung30 dieses Reichtums31 deutlich. Jede Verschwendung ist letztlich eine Form der Herausforderung. In diesem Kontext wird Verschwendung in einem viel umfassenderen Sinne verstanden: Es kann Reichtum ausgegeben werden, aber auch das Leben von Menschen, es geht darum, Gaben zu verschenken, aber auch um Rauben und Plündern. „Der Gegenbegriff zur ‚Herausforderung’ ist der der ‚Vergeltung’. Nur derjenige, der eine Herausforderung zu vergelten vermag, kann seine Ehre bewahren oder steigern. Dabei hat die Vergeltung für den ursprünglichen Herausforderer meist die Bedeutung einer neuerlichen Herausforderung“.32 Nach Pierre Bourdieu ist dieses System der Herausforderung und Vergeltung nur ein Teil einer archaischen Art der Ökonomie, in der das symbolische Kapital bzw. die durch Herausforderung und Vergeltung erlangte Ehre zu jeder Zeit in ökonomisches Kapital verwandelt werden kann. Das allerletzte Ziel sei nur die Steigerung des eigenen Reichtums, der die Grundlage der Macht bildet.33 Dieser Behauptung ist allerdings mit großer 29 Bei Johan Huizinga sind Kampf und Spiel letztlich dasselbe. Sein Schema ist eine Relation Kampf-Spiel-Agon, wobei das wesentliche Merkmal das völlig fehlende Interesse am materiellen Erwerb sei; das Ziel sei, den Anderen zu übertreffen und als Sieger Ehre zu erlangen (vgl. F. Guttandin 1993, S. 23). 30 Vgl. G. Althoff 2003b, S. 4. Der Reichtum war Anlass zur Verschwendung (vgl. H. Kallfelz 1960, S. 21f). 31 G. Gesemann zitiert einen modernen balkanischen Spruch: „Wohlstand gibt Gott, wem er will, aber nicht das besingen die Guslen, sondern Heldentum“ (vgl. G. Gesemann 1943, S. 99). 32 F. Guttandin 1993, S. 44. 33 Vgl. P. Bourdieu 1976, S. 370 ff. Bourdieu betrachtet die symbolischen Handlungen als Formen primitiver Ökonomien, wobei z. B. in nordafrikanischen Kulturen durch „Überbetönung des symbolischen Aspekts von Handlungen und Produktionsverhältnissen“ verhindert wird, „dass Ökonomie als Ökonomie, d. h. als ein von den Gesetzen egoistischer Berechnung, von Konkurrenz und Ausbeutung regiertes System herausgebildet wird“ (P. Bourdieu 1987). So werden eigentlich ökonomische Handlungen durch symbolische „verschleiert“ (P. Bourdieu 1987, S. 209). Was Bourdieu aber übersieht, ist eben diese Priorität der symbolischen vor den materiell-ökonomischen Inhalten. Solange der Merkantilismus vermieden und verschleiert wird, zeigt es sich, dass das Symbolische über dem Materiellen steht; die Ehre steht über der materiellen Habe. Obwohl das Materielle keine geringe Rolle spielt – eben wegen seiner Relevanz für den symbolischen Bereich –, wird es trotzdem „kosmetisiert“, verschwiegen und in symbolischen, „ehreschonenden“ Vermeidungspraktiken verkleidet. Daher ist es ungenau, dem symbolischen

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Skepsis zu begegnen, da sie dem symbolischen Denken der traditionellen Kulturen nicht entspricht.34 Bourdieu zieht als Untersuchungsgegenstand eine kabylische Gesellschaft heran, die nur bedingt zur feudalen mittelalterlichen Gesellschaft Europas passt. In Letzterer waren die sozialen Beziehungen „nicht so sehr auf ökonomische Dienstleistungen [gegründet], sondern vornehmlich auf militärische Gefolgschaftsdienste, die über Ehre und Treue geregelt wurden. Hier ging es im Sinne Bourdieus immer um die Akkumulation des symbolischen Kapitals der Ehre, die nun aber nicht vorrangig mit Hilfe der Konversion ökonomischen Kapitals in Ehre, sondern über Konversion militärischer Erfolge in Ehre betrieben wurde“.35 Die Verschwendung in der mittelalterlichen feudalen Gesellschaft kennt zwei Richtungen: Zum einen gibt es das verschwenderische Verhalten des Vasallen gegenüber seinem Herrn, indem der Vasall im Kampf ständig sein Leben auf Spiel setzt; denn je größer die Selbstlosigkeit und die Aufopferungsbereitschaft, desto größer seine Ehre. Zum anderen können wir in der Gegenrichtung von einer verschwenderischen Handlung des feudalen Herrn gegenüber seinen Mannen sprechen, indem er die Gefolgschaft ausrüstet, ernährt, mit teuren Gaben beschenkt und letztlich belehnt. Dabei ist die Größe des Lehens nichts anderes als der symbolische Ausdruck der Tapferkeit und der kriegerischen Ehre des Belehnten.36 Wir müssen daher den Grundbesitz als eine Form des symbolischen Kapitals ansehen, da er nur ein Symbol der kriegerischen Tüchtigkeit ist. In diesem Sinne wird das Lehen zum Bestandteil der physischen Person des Kriegers und seiner Macht.37 Dagegen meint M. Bloch, dass das Lehen mit dem benefecium in Verhalten eine ökonomische Vernunft zugrunde zu legen (vgl. P. Bourdieu 1987, S. 210); es handelt sich eher um zwei parallel laufende Konstrukte. Die traditionellen Gesellschaften kennen ebenfalls die wirtschaftlichen Verhältnisse von „Arbeit-Nutzen“ und „Investition-Profit“ (vgl. P. Bourdieu 1987, S. 214f), welche sie – im Vergleich zu den modernen – oft als unehrenhaft betrachten. 34 Hier bricht Marion Oswald zu Recht eine Lanze für die antiökonomistische Auffassung der Gabe und des Tausches, wenn sie sagt: „Die Gabe mag [...] ökonomischen Notwendigkeiten und Regeln unterliegen, aber darüber hinaus ist sie immer auch ein Zeichen, welches [...] auf den Status von Geber oder Empfänger verweist“ (M. Oswald 2004, S. 14; vgl. auch S. 20). Ihre Gabentheorie endet aber mit einer unkritischen Aufnahme der bourdieuschen Ansicht (vgl. M. Oswald 2004, S. 31f), wobei sie übersieht, dass bei Bourdieu die Argumentation in guter sozialistischer Tradition darauf hinausläuft, dass die Machtverhältnisse schlechthin ihren Grund in ökonomischen Vorgängen haben. 35

F. Guttandin 1993, S. 33. Vgl. H. Emmel 1936, S. 9. 37 „Sie [die frühmittelalterlichen Könige] konnten ihnen [den Gefolgsleuten] zur Besoldung, als Belohnung oder Belehnung nur Boden zuweisen, und sie mussten ihnen viel Land zuweisen, damit sie als Repräsentanten der Zentralgewalt in ihrem Gebiet auch tatsächlich mächtiger waren als alle anderen Krieger oder Gutsherren dieses Gebietes“ (N. Elias 1979, S. 20). 36

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Verbindung zu bringen sei, da es eine überwiegend ökonomische Bedeutung habe.38 Folglich sei der Feudalismus eine primitive Wirtschaftsform. Diese Anschauung wird von seinem Schüler G. Duby nicht übernommen, der in wichtigen symbolischen Komponenten die Grundlage der mittelalterlichen Gesellschaft sieht.39 Paradoxerweise hat diese „gewaltsame“ und „rücksichtslose“ Verschwendung (Verausgabung, Potlatsch) auch eine sozial nützliche Funktion. „In den primitiven Gesellschaften [...] fließen die Produkte der menschlichen Tätigkeit [zu denen ich auch die materiellen Früchte der kriegerischen Gewalt zähle] den Reichen nicht nur für die ihnen zugeschriebenen sozialen Schutz- und Führungsfunktionen zu, sondern auch für die spektakulären Ausgaben der Gemeinschaft, deren Kosten sie tragen müssen“.40 Im Mittelalter hat die „Verschwendung“ von Gaben nicht nur den Sinn der Herausforderung, sondern auch jenen, soziale Kontakte zu vermitteln, Freundschaften und Allianzen zu schaffen sowie Bündnisse zu schließen, denn die Güter wurden als Teil der eigenen Person und somit als Kommunikationsmedium angesehen.41 Das Lehnswesen, ein System verschwenderischer Belohnung, wobei das Lehen an der Spitze einer gesamten Mentalitätsstruktur steht, hatte den Nachteil, dass „die dadurch entstandene Konzentration von Macht [...] wenig dauerhaft und stabil [war], da sie ja auf der Verschwendung des Reichtums beruhte“.42 Durch ständige Belehnung kommt es zu einer Blockierung des Grundbesitzes, da mit der Zeit kein Grundstück mehr frei bleibt. Deshalb behaupte ich, dass das feudale System nur funktioniert, solange Gebiete vorhanden sind, die erobert werden können. Zur Eroberung eines neuen Landes wurde man motiviert durch das Versprechen, dass dieses Land dem Eroberer als Lehen gegeben werde. In dem Moment aber, in dem es kein Lehen mehr zu vergeben gab, konnte eine feudal strukturierte Gesellschaft nicht mehr expandieren. Die konfliktualen Potenzen richteten sich in diesem Falle nach Innen, und das führte zu einem anarchisch unsicheren Zustand, der das soziale Gleichgewicht gefährdete.43 In diesem Kontext reden wir über eine Zersplitterung der Autorität. Der dritte Stand beschäftigt sich nicht mit solchen Gedanken, sondern verfolgt ein anderes Ziel, die Emanzipation von der sozialen Unter38

Vgl. M. Bloch 1964, S. 167. Vgl. G. Duby 1977b, S. 84. 40 G. Bataille, „Der Begriff der Verausgabung“, S. 21. Im Gegensatz dazu hat sich die Bourgeoisie (als Repräsentant der dritten Funktion) abgesondert durch den Hass auf die Verschwendung und durch Ausgaben nur im persönlichen Interesse (vgl. S. 23). 41 Vgl. F. Guttandin 1993, S. 49. 42 In solchen Gesellschaften konnte es nicht „zu einer stabilen Zentralisierung von Macht und Herrschaft kommen“ (F. Guttandin 1993, S. 14). 43 Vgl. N. Elias 1979, S. 77 ff. 39

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drückung. Die Angehörigen der dritten Funktion sind sich bewusst, dass ihre eigenen Wertungen und Handlungen produktiv und nutzbringend sind. Die Akkumulation ist in jeder Hinsicht (sozial, politisch, wirtschaftlich) immer stabiler und effizienter als die Verschwendung. Wer die Ehre erforscht, soll nicht der Versuchung erliegen, die Akkumulation aus der Perspektive des Verschwendungsethos zu beurteilen, denn in diesem Falle würde man z. B. entdecken, dass die moderne Ordnung merkantil, materialistisch und ehrlos sei. Verschwendungs- und Akkumulationsmentalität sind zwei Denkweisen, die auf unterschiedlichen Prinzipien und Handlungen beruhen. Paradoxerweise nimmt die dritte Funktion in der hochmittelalterlichen Gesellschaft, als die Pazifizierung und Funktionalisierung der Krieger im allgemeinen Interesse begonnen hatte, das verschwenderische Verhalten der kriegerischen Aristokratie in den Dienst ihrer Akkumulation. Die durch Plünderung, Raub, Kreuzzug und Turniere erworbenen Güter werden für Gaben, Wucherzinsen, Luxus und feierliche Feste ausgegeben und werden dadurch zu akkumulierten Gütern der Kaufleute, Bankiers und Bauern.44 Somit trägt die kriegerische Aristokratie substanziell zur Vergrößerung des Vermögens der Bourgeoisie und zu ihrem eigenen Niedergang bei, da vor allem die Akkumulationsmentalität die Begründung des zentralistischen Staates determiniert. Durch die Verwendung der kriegerischen Ehre, die sich eben als verschwenderische Selbstlosigkeit und Treue manifestiert, schaffen die Fürsten und Monarchen eine Monopolisierung der Autorität und Gewalt. Diese zwei Aspekte der kriegerischen Ehre werden zu mentalen Argumenten für eine Kampfbereitschaft im Interesse des Staates, nicht mehr im Interesse der eigenen feudalen Familie. Viele Forscher sehen in der Verbreitung des Protestantismus in der urbanen Welt der Frühneuzeit einen Ausdruck des Aufstieges des dritten Standes und seiner Individualisierung als Kategorie mit eigenem Wertungssystem und eigener Ehre.45 Den Soziologen ist aufgefallen, dass insbesondere die auf kapitalistischer Wirtschaft beruhenden Gesellschaften, wie in Norddeutschland, der Schweiz und den Niederlanden, diejenigen sind, die zuerst den Protestantismus angenommen und ihn gefördert haben. Doch „bei dieser Geistesprägung spielte das Luthertum [...] nicht die Hauptrolle. Dagegen entspricht die Einflusszone des Calvinismus (Holland, Großbritannien, USA.) im Großen und Ganzen den Gebieten früher industrieller

44 „Die Interessiertheit und Zweckgerichtetheit des Handelns der Kaufleute und Ingenieure [Repräsentanten des dritten Standes] steht einem originär archaischen, an der Form orientierten Handeln (Gabentausch bei Mauss, Agon bei Huizinga, Verausgabung bei Bataille) entgegen“ (F. Guttandin 1993, S. 27). 45 Vgl. M. Weber 1905, S. 1ff und F. Guttandin 1993, S. 18-19.

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Entwicklung“.46 Das Verhalten Calvins könnte man mit seiner französischen Herkunft erklären: Er kam aus einem typisch feudalen Land, in dem sich die Interaktion und der soziale Konflikt zwischen den drei Ständen viel deutlicher zeigten. Diese Realität spiegelt sich in der Tatsache wider, dass er die neue Konfession als Individualisierung der dritten Funktion und als Konkretisierung ihres Strebens nach Anerkennung verstand. Sicher ist allerdings, dass der Protestantismus großen Erfolg in den Städten und bei den Fürsten hatte, die politisch zum Zentralismus tendierten. Die Protestanten waren sich immer bewusst, dass sie die Konfession des dritten Standes repräsentieren: Ihre Ikonografie bringt diese Tatsache zum Ausdruck. Ein Kupferstich aus dem 16. Jahrhundert von Daniel Hopfer zeigt ein Weltgericht, das wichtige, typisch protestantische Ideologiemerkmale beinhaltet. Bemerkenswerterweise sind die Verdammten, die am rechten Rand des Bildes im Höllenfeuer stehen, ausnahmslos Repräsentanten des römischen Klerus und der Militäraristokratie; dagegen sieht man auf der Seite der Guten (linker Rand) nur Bauern, Handwerker, Frauen und kleine Kinder47, die wahrscheinlich tot geboren wurden und daher nach katholischem Kirchenrecht vom Paradies ausgeschlossen waren. Das gesamte Bild ist eine offene Kritik an der Unterdrückung des dritten Standes und an seiner Verachtung durch die anderen beiden Stände. Die Lehre dieses protestantischen Weltgerichtes besteht darin, dass genau diese Verachteten und Marginalisierten die große Ehre haben, durch ihre Handlungen (und implizit Wertungen!) das Paradies zu erwerben. Dass in der Frühreformation die Ehre und die familiale Liebe eine so wichtige Rolle spielten, während Askese und Mönchtum kritisiert wurden, ist wohl kein Zufall. Denn hier geht es eigentlich um die Wertungen der dritten Funktion, welche jenen der ersten gegenübergestellt werden, d. h., grob formuliert, Fruchtbarkeit/Sexualität steht der Keuschheit/Enthaltsamkeit gegenüber. Für einen von der kommunistischen Ideologie beeinflussten Soziologen wie Georges Bataille, ist das Sparen, eigentlich seine extreme Manifestation, die Gier48, das Schlimmste bei Akkumulationshandlungen. Die Akkumulation dient nur dem eigenen Interesse, und die Gesellschaft als Ganzes hat vom akkumulierten Reichtum keinen Nutzen mehr; durch die Ver46 Das ist die Meinung G. Batailles (G. Bataille 1975, „Der verfemte Teil“, S. 148), wobei seine Theorie auf den Behauptungen Max Webers basiert. Die beiden Forscher vergessen aber, dass es das Luthertum war, das die „kaufmännischen“ Handlungen der katholischen Kirche angeprangert hat. Die schwierigste Aufgabe ist von Luther erfüllt worden, der das Risiko auf sich genommen hat, das extrem laisierte Verhalten des römischen Klerus zu kritisieren. Was Luther als universell gültig und christlich wahr verkündet hat, wurde von Calvin als Konfession eines Standes strukturiert. 47 JEZLER, S. 144. 48 Was von den proletarischen Schichten der Neuzeit, die einen sozialen Staat forderten, der Bourgeoisie vorgeworfen wurde.

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schwendung der Adligen wurden viele Segmente der feudalen Gesellschaft begünstigt. Die Bourgeoisie „hat sich von der Aristokratie dadurch abgesetzt, dass sie beschlossen hat, nur für sich zu verschwenden, innerhalb der eigenen Klasse, d. h., indem sie ihre eigenen Ausgaben vor den Augen der anderen Klassen soweit wie möglich verbirgt [...]. Der Hass auf die Verschwendung ist der Daseinsgrund und die Rechtfertigung der Bourgeoisie; er ist zugleich der Grund für ihre abscheuliche Heuchelei“.49 Mit all diesen Aspekten habe ich lediglich versucht, den Rahmen der Verschwendungs- und Akkumulationsmentalität zu skizzieren. Daher werde ich als Nächstes verdeutlichen, was für einen „Verschwendungs-“ bzw. „Akkumulationsmenschen“ ehrenhaft bzw. ehrenlos war. In erster Linie hat die gesamte Polarisierung hinsichtlich der Akkumulation und Verschwendung ihren Grund in der Wahrnehmung des Reichtums und des materiellen Besitzes. Für den feudalen Herrn ist das Lehen sein einziges und wichtigstes Eigentum. Denn das Lehen galt als Spiegel der kriegerischen Ehre und des sozialen Ansehens, d. h., kriegerische Tüchtigkeit, Tapferkeit oder Kühnheit50 wurden durch Belehnung anerkannt und belohnt. Je größer und reicher die Domäne war, die man erhielt, desto ausgezeichneter waren die kriegerischen Leistungen, die eine solche Belohnung veranlassten.51 Die anderen Güter, die ein Krieger im Kampf gewann, Beute, Preise, die Ausrüstung der im Zweikampf besiegten Rivalen, sind dem Krieger als Zeichen der Ehre wichtig, blieben ihm aber als finanzieller Wert letztendlich äußerlich. Der dominus benutzte sie, um ein immer größeres symbolisches Kapital zu gewinnen: Er spendete häufig maßlos für Feste und Bankette, machte seinen Vasallen teure Geschenke, rüstete seine Gefolgschaft mit wertvollen Waffen und Pferden sowie mit kostbarer Kleidung und zeigte seinen Rivalen durch Geschenke, wie ehrenvoll er ist. Das war zweifellos auch eine Form von Akkumulation52, aber es geht um das Akkumulieren von symbolischem Kapital, von Ehre. Doch was ist im Gegensatz zum „edlen“ Krieger ein Kaufmann ohne seinen materiellen 49

G. Bataille 1975, „Der Begriff der Verausgabung“, S. 23. „Entscheidend sei der Aspekt der Hingabe, der Aufopferung, die in einer maßlosen Verausgabung von Energien, die dem Kampf seine leidenschaftliche Form gebe, mündet. Der Kampf sei insofern ruhmvoll, als er ab einem bestimmten Moment jedes Kalkül überschreitet“ (F. Guttandin 1993, S.18). 51 Beowulf legt seinem König als Beweis der eigenen kriegerischen Tüchtigkeit die Unmenge der im Lauf seiner „Karriere“ erhaltenen Geschenke vor. Sie sind die „Belohnung für die Heldenkraft“ (BEOWULF 2146, S. 127). Er schenkt sie seinem König weiter (2165-71, S. 128f) und fordert ihn dadurch auf, seinen Kriegerstatus anzuerkennen. Dies geschieht: Beowulf wird mit 7000 Hufen Land belehnt (2195, S. 130). 52 Vgl. L. Vogt 1994, S. 295. 50

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Reichtum? Durch großes Kalkül und große Mühe hat er diesen erworben. Eine große familiale Tradition hat er nicht; oft wurden die Eltern in ihrem Dorf zurückgelassen, um sich in der Stadt ein besseres Leben zu erarbeiten. Folglich ist sein Reichtum alles, was ein Kaufmann hat; die materielle Habe ist sein Leben. Die häufigen Selbstmorde bei Angehörigen der Bourgeoisie im Falle eines Bankrottes sind daher nicht verwunderlich.53 Das Ergebnis seiner Untersuchung über Reichtum und Besitz im bürgerlichen Ethos fasst Friedhelm Guttandin in der folgenden kausale Beziehung zusammen: Arbeit – Leistung – Reichtum.54 Dieses Schema ergänze und verdeutliche ich folgendermaßen, wobei ich einen Vergleich zwischen den zwei Ehranschauungen ermöglichen will: Bei Adligen: Kampf – Leitung (Aufopferung) – Reichtum – Verschwendung (Luxus) – Ehre. Beim dritten Stand: Arbeit – Leistung (Merkantilismus) – Akkumulation (Sparen) – Reichtum – Ehre. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass die Sippenehre der feudalen familia im Gegensatz zu der auf die Person bzw. das Individuum bezogenen Ehre des Bürgertums steht.55 Damit behaupte ich, dass im Feudalismus die Ehre als gemeinsamer Schatz der gesamten familia begriffen wurde, als die Summe der „Ehren“ gegenwärtiger und verstorbener Mitglieder bis zum mythischen bzw. legendären Urvater zurück. In der öffentlichen Welt der Bourgeoisie wurde die Ehre mehr unter ihrem individuellen Aspekt, als Ruhm bzw. Prestige (aufgrund geschäftlicher Erfolge), wahrgenommen. Der Geschäftsmann braucht für seinen Handel nicht unbedingt die Tradition einer Familie und im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf wird seine Berühmtheit seinen Nachfolger vor einem eventuellen Bankrott nicht schützen.

53 Bataille nimmt an, dass ein wichtiger Aspekt der Verschwendung darin besteht, dass die Krieger die Wertungen des dritten Standes verachten („Der verfemte Teil“, S. 100). Eine Ausnahme von den typischen verschwendungs- und akkumulationsorientierten Handlungen der Stände bildet in den spätmittelalterlichen Gesellschaften die Schicht der sogenannten ritterlichen Kaufleute: „Von vornherein wird ihre Lebensweise von aristokratisch-ritterlichen Elementen mitgeprägt, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens spielen verschiedene Spielarten der Gewalt und des Beutemachens bei der Entstehung bürgerlicher Vermögen eine große Rolle. Und es sind nicht zuletzt Adelige, die sich auf diese Weise mit dem aufkommenden Bürgertum vermischen. Zweitens wird es – wie in Florenz – den aufstrebenden Bürgern bei entsprechenden Vermögen erlaubt, in den Ritterstand aufzusteigen. Der ritterliche Großkaufmann ist in seinem Leben daher nicht nur an bürgerlich-kaufmännischen Kriterien, sondern auch an dem ritterlichen Ehrbegriff orientiert“ (F. Guttandin, S. 107). 54 Vgl. F. Guttandin, S. 110. 55 Unter diesem Individualismus verstehe ich die typische bürgerliche Kleinfamilie. Es gab bei den Bürgern Stiftungen, aber nur zum Nutzen der Familienangehörigen: der beiden Eltern, der Kinder und eventuell der verstorbenen Verwandten ersten Grades.

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Das Verschwendungs- und das Akkumulationsethos sind nicht nur mit dem Leben, sondern noch mehr mit dem Tod eng verknüpft. Der archaische Mensch lebte bis in die Moderne hinein in einer sakralen Dimension. Für ihn war das irdische Leben nur ein Teil von dem „Großen Leben“, das vor allem aus der ewigen Existenz im Jenseits besteht. Deswegen unterscheidet sich der Verschwendungsmensch auch hinsichtlich des Todes stark vom Akkumulationsmenschen. Der beste Vorkämpfer der Achäer im Krieg um Troja, Achilles, wurde vor die Wahl gestellt: Ein kurzes ruhmreiches Leben, mit dem Heldentod beendet, oder eine lange häusliche Existenz in vollkommener Anonymität.56 Seine Wahl ist uns gut bekannt und ich verstehe sie als eine Form der Selbstlosigkeit und der Verschwendung seines eigenen Lebens. Dieser kriegerische „Wahn“ der Helden musste dem dritten Stand wohl unbegreiflich gewesen sein. Ein ruhiges Leben inmitten der Familie, als guter Bürger angesehen und anerkannt, eventuelles Engagement in der städtischen Politik und im öffentlichen Leben waren die Hoffnungen eines jeden Bauern, Kaufmannes oder Handwerkers. Man erlitt den Tod auf verschiedene Art und Weise: Roland stirbt auf dem Schlachtfeld von toten Kriegsgesellen und abgeschlachteten Feinden umgeben, eine Art zu sterben, die sich jeder Krieger wünschte. Er brauchte keine „direkte“ Familie, weil er schon die große Ehrgemeinschaft hatte. Der feudale Krieger befindet sich immer inmitten seiner familia; er wird immer von der symbolischen Anwesenheit aller Mitglieder (verstorben oder lebendig) begleitet. Er trägt die Ehre der Sippe in sich und repräsentiert sie jede Sekunde seines Lebens, auch nach seinem Tode, sodass es für Roland nicht von Interesse war, dass er beim Überfall von Roncevaux Hilfe bekommt, sondern wesentlich wichtiger, wie er die Ehre seiner Familie vertritt und wie die Nachfolger über ihn reden werden. Leider haben wir für das kriegerische Sterbeethos nicht viele Gemälde, die meine Theorie stützen könnten. Von den Mitgliedern der dritten Funktion steht uns aber seit dem 14.-15. Jahrhundert eine ganze Reihe von Bildern zur Verfügung. Auf allen ist zu sehen, dass der Bürger auf dem Sterbebett nur von wenigen Leuten umgeben wurde: seiner Frau, seinen Kindern, eventuell einer Putzfrau und, wenn nicht von Ärzten, dann von einem Priester57. Auf den Epitaphbildern der Patrizier oder der verschiedenen wohlhabenden Stifter sind diese als Betende nur von der direkten Verwandtschaft umgeben, d. h. von ihren Gattinnen und 56 Vgl. K. Thiele-Dohrmann 2000, S. 16. Dasselbe geschieht auch mit Herakles: Der Held wählt wohl auch den ehrenhaften Weg (vgl. A. Nitschke 1976, S. 160f). 57 Vgl. P. Dinzelbacher 1993, S. 252. Obwohl es von der Kirche untersagt und als gefährlich für das des ewige Leben bezeichnet wurde, haben im Spätmittelalter die Angehörigen des dritten Standes auf dem Sterbebett den Arzt dem Priester vorgezogen. Es zeigt sich hier ein Vorrang der Werte der dritten Funktion und der auf diesen Werten beruhenden Hoffnungen.

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Kindern. Das verrät dem heutigen Beobachter das Fehlen jener Familientradition (über mehrere Generationen), also der kollektiv vorgestellten Ehre. Ganz im Gegensatz dazu steht das Bild einer feudalen Stiftersippe. 1185 stifteten die Herren von Eschenbach eine Kapelle, die Keimzelle eines zukünftigen Klosters. Fast 250 Jahre später wurden sie an der Wand der Kapelle zur Erinnerung bildlich verewigt. Es fehlt jedes weibliche Mitglied der Familie und in der Reihe der knienden Männer sind mehrere Generationen und ein breiteres Verwandtschaftsspektrum vertreten: Großväter, Onkel, Vetter, Enkel.58 Man kann auch nicht verleugnen, dass die großen Patrizierfamilien des Spätmittelalters versuchten, eine Familientradition zu schaffen.59 Oft änderten sie ihren Namen durch einen Titel oder durch Latinisierung, um die bescheidene Herkunft zu verschleiern. Deutlich wurde, dass sich die zwei Funktionen bzw. Stände voneinander unterscheiden. Die Spannung, die sich aus dieser Verschiedenheit ergibt, hat in der Moderne die Relativierung der kriegerischen Wertungen und den Aufstieg des bürgerlichen Ehrenhaftigkeitssystems zur Folge. Es geschieht eigentlich das Gleiche: Die vorher Unterdrückten und Verachteten werden zu Maßgebenden und Herrschern einer neuen Welt, die auf ihren Wertungskriterien beruht.

Privates und öffentliches Leben60 Im mittelalterlichen Feudalismus war der Mensch untrennbar mit seinem Lehen verbunden, wobei ich mit „Mensch“ hier den feudalen Herrn meine, da nur er eigentlich Besitzer und Eigentümer war, solange die bäuerliche Klasse fast vollständig unterworfen war und die meisten Städte noch saisonale Märkte verschiedener Domänen waren. Alles, was als Eigentum und Besitz bezeichnet wurde, gehörte einem geschlossenen sozialen Kreis, ebenso auch die immateriellen Kapitale, wie Ehre und Ansehen. Deshalb bezeichne ich die Ehre der feudalen Sippe als „private Ehre“. Wenn wir über privates Leben reden, müssen wir es im Zusammenhang mit dem Verschwendungsethos betrachten. Es gab einen Eigentümer, den Feudalherrn (dominus)61, der eine ganze Gruppe mit allem, von Lebensmitteln bis hin zu Sicherheit und Schutz, versorgte. Seine Vasallen, Bauern, Handwerker, 58

Siehe beide Bilder bei JEZLER, S. 219 bzw. S. 194. Vgl. H. Bookmann 1994, S. 68. 60 Ich schreibe dieses Subkapitel nur zur Verdeutlichung der sozialen Kausalität der Verschwendungs- und Akkumulationsmentalität, als Ergänzung des vorherigen Abschnitts. Deswegen werde ich nicht explizit auf die französischen und lateinischen Begriffe für privatus und publicus eingehen. 61 Vgl. R. Schmidt-Wiegand 1975, S. 148. 59

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ministeriales am feudalen Hof, waren von ihm und seinem Wohlstand abhängig. Das konnte nur aufgrund eines „verschwenderischen“ Verhaltens geschehen. Eine feudale Familie war ein privater sozialer Raum mehrerer durch dieselbe Existenzquelle verbundener Mitglieder. Die Mühsal des Alltagslebens und der Mangel an Lebensmitteln machte aus einem Spender, wie dem feudalen Herrn, einen kleinen Gott, um den ein ganzer Mikrokosmos entstand. Solch ein pater familias und seine Anhänger tolerierten keine Einmischung in das innere Leben des Hauses, weswegen solche Gesellschaften von der „staatlichen“ Gewalt als anarchisch und unkontrollierbar angesehen wurden. Eine Vermittlung zwischen Familien geschah direkt, durch direktes Verhandeln, man brauchte/wollte kein gesetzliches System in einer Welt des Kompromisses, der Inkonsequenz und der Ungleichheit. Im Gegensatz dazu kann ein von Akkumulation geprägtes Leben nicht ohne den Staat existieren, denn die Kernfamilien, die nur aus Eltern und Kindern, eventuell Großeltern, bestanden, benötigten eben den Staat als Garanten ihrer Sicherheit62 und Rechte; dieser konnte solche Aufgaben durch Kontrolle, Monopolisierung der Macht und Gewaltanwendung einigermaßen erfolgreich erfüllen. Das hieß aber eine Veröffentlichung der inneren Probleme und Nöte; deswegen behaupte ich, dass eine bürgerliche Gesellschaft ein öffentlicher, auf dem Recht beruhender Sozialorganismus ist. Die Konflikte, Vertragsangelegenheiten usw. können in einer solchen Gesellschaft letztlich öffentlich, z. B. im Gerichtshof, geregelt werden, wobei das direkte Verhandeln nur ein vorläufiger erster Schritt ist. Georges Duby versucht in einer seiner Publikationen63, die Terminologie und die kulturelle Bedeutung von „privat-öffentlich“ zu klären. „Privat“ komme von priver (= domestizieren); diese Bedeutung stellt eine Verbindung zwischen dem Begriff und dem kulturellen Komplex des Hauses (domus)64 und der Familie her, deutet also die Idee der Familie an.65 Der Staat mit seinem öffentlichen Leben stehe in Opposition zur privaten Sphäre. Für Duby ist das „Öffentliche“ der Gegenpol von „privat“, und bezieht sich auf „alles, was offensichtlich und manifest ist“.66 Natürlich ist in diesem Zusammenhang das „Private“ all das, was eine Person ausmacht, d. h. bewegliches und unbewegliches Hab und Gut sowie Personen.67 Man

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Die wichtigste Aufgabe des Staates sei für Arnold Gehlen die Sicherheit seiner Bürger (vgl. F. Guttandin, S. 14 ff). 63 Phillipe Ariès/G. Duby (Coord.), Istoria vieŃii private, aus dem Französischen, Bucuresti 1995, S. 16-56. 64 Vgl. R. Schmidt-Wiegand 1975, S. 147. 65 Phillipe Ariès/G. Duby, S. 17. 66 Phillipe Ariès/G. Duby, S. 18. 67 Duby führt das folgende Beispiel an, um zu verdeutlichen, wie die mittelalterliche Welt das Verhältnis „öffentlich-privat“ verstand: „Si facultates inimicorum publicarentur

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muss aber vorsichtig sein, um das normale intime Leben jeder Familie nicht mit dem Terminus „privates Leben“ zu verwechseln. In dieser Hinsicht hatten auch die bürgerlichen Familien ein privates Leben, allerdings im Sinne eines Familienlebens. Deswegen schlage ich zur besseren Unterscheidung als Bezeichnung für den Familienalltag den Begriff „partikuläres Leben“ vor, aufgrund der lateinischen particula (= Teilchen). Das Familienwesen als Zelle des gesellschaftlichen Organismus ist so viel besser gedeutet und getrennt von der Semantik des privaten Lebens. Der private Raum und das Öffentliche haben verschiedene Symbole. In diesem Kontext dürfen wir nicht alles, was geschlossen ist, als Symbol der privaten Sphäre verstehen. Z. B. dient die Stadtmauer nur zur Verteidigung und bewirkt keine Isolation, da es keine kosmopolitischere und offenere Siedlungsform als die Stadt gab. „Im wirtschaftlichen Sinne68 ist die Stadt in erster Linie ein ‚Markt’, d. h. ein Ort, der sich aus seinem Umland durch die raumbeherrschende Zentralität des Warenverkehrs und -umschlags, des Warenimports, -exports und -konsums hervorhebt. [...] Die Stadt ist daher [...] – trotz der bäuerlichen Betätigung vieler Bürger – der Sitz von Gewerbe und Handel, die Ansiedlung von Handwerkern und Kaufleuten, ein Ort des hinein- und herausströmenden Verkehrs“69. Die Stadtmauer garantierte die Sicherheit ihrer Bürger, aber sie verhinderte nicht neue Kontakte, weil das für ihre Geschäfte eine Katastrophe gewesen wäre. Die Stadt war nämlich kein geschlossener Raum, sondern ein Ort des Austausches von Waren und Informationen. Deswegen unterscheidet sich die städtische Ehranschauung von der Ehre des privaten Raumes.70 Die Stadt behält und schätzt alte Werte der dritten indoeuropäischen Funktion: Geld (als akkumuliertes finanzielles Kapital), die große Anzahl der Leute und den Überfluss an Waren, Geschäften und Märkten.71 Symbol für den privaten Raum ist, im Gegensatz zum städtischen Mauerring, die Burg oder die Festung eines feudalen Herrn. Diese bedrohlich wirkenden Gebäude sollten die umgebende Landschaft dominieren, sodass paupertas egenorum temperaretur“ (zitiert aus Orderic Vitalis auf der S. 19). Die „Veröffentlichung“ bedeutete also, eine Sache der privaten Sphäre zu entziehen. 68 Und natürlich auch im sozialen Sinne, wobei das Treffen der Bürger auf dem Markt ein Anlass war für Eheschließungen, Freundschaften, für die öffentliche Meinungsbildung. 69 B. Hamm 1996, S. 31; vgl. auch K. Bosl 1991, S. 46ff. 70 Das „Öffentliche“ war das Stichwort: „Die Dynamik des Ruhmes [und der Ehre] ist der Dynamik der freien Konkurrenz nachgebildet: Prägend sind nicht Zurückgezogenheit, Privatheit, die den Produktionsprozess der Zunfthandwerker oder den geistigen Schaffensprozess des Mönches charakterisieren, sondern bestimmend wird eine Öffentlichkeit, die sich einerseits in eine Bühne, eine Ebene der Präsentation und andererseits in das Gewühl des Volkes gliedert“ (F. Guttandin 1993, S. 114). 71 Vgl. J. Rossiaud 1999, S. 133.

Zur Definition einiger Begriffe

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man wusste, wie mächtig der lokale Herr ist und wo er lebt. Die feudale Burg hat ihr Zentrum im Turm oder Donjon, dem Kernbau des früh- und hochmittelalterlichen Festungssystems. Manchmal war nur der Wartturm befestigt, der für die Ehrsymbolik der kriegerischen Klasse unersetzbar war. Der Donjon galt als Zeichen der Macht des Herrn. Die Domäne und ihre Einwohner können gewissermaßen als die soziale und symbolische „Erweiterung“ des feudalen Herrn betrachtet werden, soweit er wegen seiner persönlichen Verdienste im Krieg belehnt wurde. Interessant ist, dass die Wurzel des Wortes „Donjon“ etymologisch auf das lateinische dominium zurückgeht (das englische danger hat denselben Ursprung). Demzufolge geht es stets um die Absonderung, Verteidigung und Behauptung des privaten Raumes.72 Ein geografisch offener Raum wird durch solche Autoritätssymbole zu einem geschlossenen Raum, und hier findet man ein weiteres Paradoxon der mittelalterlichen Gesellschaft. Eine Domäne bestand aus Äckern, Wäldern, Weiden und offenen Dörfern, die von unklaren und immer umstrittenen Grenzen umgeben waren. Indem sie sich um solche Machtsymbole schart, wird aus der gesamten feudalen Domäne eine große und feste Familie. Zur Symbolik des kulturellen „Donjonskomplexes“ kann man auch die Flaggen, die Grenzsteine oder bei Frauen sogar den Schleier zählen. In der Öffentlichkeit mussten die weiblichen Angehörigen der familia dieses Kleidungsstück immer tragen, als Symbol der Unberührtheit und Integrität der privaten Sphäre. Die Ehre des Feudalherrn bestand in der vom Donjon symbolisierten Selbstständigkeit; der Donjon war Zeichen seiner Souveränität und Freiheit. Die Domäne war die Belohnung für seine kriegerische Tüchtigkeit und sie war der Ort, an dem das gesamte symbolische Kapital der Sippe (aus mehreren Generationen bestehend) bewahrt wurde. Ein anderer privater Raum des Mittelalters ist das Kloster73, das ebenfalls eine geschlossene Sphäre repräsentierte. Auf der Grundlage der Gehorsamspflicht der Brüder gegenüber dem Abt entstand eine Großfamilie, in der alles gemeinsam war: von den materiellen Gütern bis zu den Gebeten der Brüder füreinander. Stirbt beispielsweise ein Mönch, geschieht ebenso alles gemeinschaftlich. Der verstorbene Bruder liegt in der Mitte der Kapelle, während die anderen Mönche Gottesdienste halten und ihm mit ihren Gebeten auf seiner Jenseitsfahrt helfen. Die Leiche bedeutet zudem eine Mahnung für die Lebenden, ein konkretes memento mori, wie es

72

Vgl. P. Ariès/G. Duby 1995, S. 79. Hier sind die mittelalterlichen Benediktinerklöster gemeint. Sie sind von dem offenen Ethos der Bettelorden zu unterscheiden; sie waren geschlossene Gemeinschaften. 73

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

Berndt Hamm interpretiert.74 Das Kloster meidet den Lärm der äußeren Welt und den Kontakt mit der Öffentlichkeit, soweit es möglich ist. Für die Öffentlichkeit der Stadt75 hat man gegensätzliche Symbole geschaffen und „aktiviert“. Hier war vor allem die Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz entscheidend, natürlich mit bestimmten Nuancen und Ausnahmen.76 So bestand der wesentlichste Unterschied zum feudalen Lehnssystem darin, dass man nun die vom Recht angebotene Sicherheit genießen konnte.77 In der Stadt war der Markt ein öffentlicher Treffpunkt, wo man die allgemeinen Probleme der Gemeinde besprechen und regeln konnte, manchmal im Rahmen einer Feier. Das feudale Bankett war im Vergleich dazu nur ein Anlass zu Rivalitätshandlungen und zur Selbstdarstellung. Es galt: Wer ist besser angezogen, wer hat eine schönere Gefolgschaft, Ausrüstung usw., wer kann glorreichere Geschichten über sich erzählen.78 Die Existenz der einfachen Menschen war durch chronische Unsicherheit geprägt: gegenseitige Plünderungen von rivalisierenden Herren, Racheakte, Streitereien um domaniale Grenzen. Darum stellte man sich die Stadt als ein Friedensparadies vor und idealisierte sie.79 Hier konnte man in der Nachbarschaftsinstitution eine persönliche und soziale Erfüllung erlangen, d. h., in einer Gemeinschaft leben, in der alle, ob verwandt oder nicht, gleich sind. Die Orte der Nachbarschaft sind die Kneipen (wo sich die patres familiarum treffen), der Friedhof (der Spielplatz der Kinder und der Ort, wo die Jugendlichen tanzen) und der Brunnen (der Treffpunkt der Frauen).80 Der mittelalterliche deutsche Spruch „Stadtluft macht frei“ verdeutlicht die Opposition öffentlich-privat in der hoch- und spätmittelalterlichen Gesellschaft. „Frei“ heißt hier, dass man mit dem Betreten einer Stadt nicht mehr der privaten und vom Feudalherrn abhängigen Sphäre angehört. Dort war die Ehre im feudal-kriegerischen Sinne eine Gesamtheit der „Ehren“, d. h., die persönliche Ehrenhaftigkeit war unmittelbar von den Ehren der anderen Sippenmitglieder abhängig. Wenn einer von ihnen sich einer tadelnswerten Tat schuldig machte, litten alle Mitglieder der Familie unter dieser Schande, obwohl sie nicht direkt und freiwillig daran beteiligt 74 In dem Seminar über die ars moriendi (Wintersemester 2003/04) an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. 75 Für die heutige Bürgergesellschaft sind, so Ralf Dahrendorf, drei fundamentale Merkmalen charakteristisch: 1. die Vielfalt ihrer Elemente, 2. die Autonomie und 3. die Toleranz (vgl. R. Dahrendorf 1992, S. 69f). 76 Die Stadt kann sich als eine spannungsvolle Konfliktgemeinschaft erweisen (vgl. B. Hamm 1996, S. 51ff). Die städtischen Eliten monopolisieren die Macht und bilden eine Oligarchie (vgl. H. Bookmann 1994, S. 60). 77 Vgl. W. Kölmel 1980, S. 394. 78 Vgl. P. Ariès/G. Duby 1995, S. 19. 79 Vgl. B. Hamm 1996, S. 41. 80 Vgl. J. Rossiaud 1999, S. 144.

Zur Definition einiger Begriffe

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waren. Das implizierte ernsthafte Konsequenzen in dem empfindlichen Bereich der Ehre, und es führte dazu, dass man seine soziale Geltung und Anerkennung nicht mehr anderen Menschen anzuvertrauen wagte. In der Stadt konnte so etwas nie passieren, doch gab es auch dort den Nachteil, dass die Vergeltung und das Rächen einer Beleidigung komplizierter wurden, da man den anderen alleine gegenüberstand.81 Deshalb ist die urbane Gesellschaft pazifistischer und nimmt nicht so schnell Rache. Das Herausforderung-Vergeltung-Ethos zeigt eine deutliche Tendenz zur Vermeidung: Die Leute vermeiden die gefährlichen Kreise, wo stets die Herausforderung durch Beleidigung oder Angriff lauerte, oder verbale Angriffe werden übersehen oder zumindest als „nicht so schlimm“ bewertet, also als etwas, was keine Vergeltung erfordert. Solange das Individuum nur für sich verantwortlich ist, ist die Vermeidung keine ehrlose Handlung; in der feudalen Gesellschaft, in der jeder der Repräsentant der Ehre der ganzen Sippe ist, war die Vermeidung fast unvorstellbar. Die einzige Institution, die die Rechte und Ehrenhaftigkeit der Bürger gegen Beleidigungen und Provokationen verteidigt, ist das Gesetz. Deshalb entwickelt sich das Recht in der urbanen Umwelt so stark und die Städte werden zu Vorkämpfern im Zentralisierungsprozess und in der Herausbildung der staatlichen Macht durch Höchstschätzung des Gesetzes.82 Die Stadt wird im Mittelalter eine Oase für diejenigen, die des privaten Lebens überdrüssig waren. Als eine Marktwelt ist sie eine relativ tolerante Welt. Für den geschäftlichen Erfolg ist es erforderlich, dass es keine rassistischen, sozialen und moralischen Diskriminierungen gibt, und in der Geschichte der städtischen Kultur lässt sich eine ständige Entwicklung hin zur unbegrenzten Toleranz beobachten.83 J. Rossiaud führt zwei Beispiele für die Wahrnehmung des städtischen Kosmopolitismus an: den Mönch Richard de Devizes und den Dichter Fitz Stephen, zwei mittelalterliche Zeugen, die ihre Meinung über die Hauptstadt London äußern. Der Mönch ist empört und verabscheut das bunte Leben Londons, am meisten die Tavernen der Stadt, wo die ekelhafteste Gesellschaft angetroffen werden kann. Die laute Öffentlichkeit ist für einen Angehörigen des klösterlichen privaten Raumes etwas Furchtbares: Die Anwesenheit der Päderasten und Homosexuellen treibt ihn fast in den Wahnsinn. D. h. aber nicht, dass diese Sünde in 81

Vgl. E. Goffman 1971, S. 21 ff. Zur Wildheit der mittelalterlichen feudalen Gesellschaft und zu ihrer Freude an der Gewalt siehe M. Waltz 1985, S. 177. 82 „Was die Prediger vor allem bei dem Bürger lobend hervorheben, ist dies, dass sein Leben von Natur aus, wie kein anderes, sich den Forderungen der Ordnung und der Regelhaftigkeit anpasst“ (B. Groethuysen 1978, S. 84). In diesem Zusammenhang wird die Stadt von dem Soziologen O. Brunner als „Sonderfriedensbezirk“ definiert (vgl. O. Brunner 1956, S. 89ff). 83 Verbunden mit der Forderung, dass man das gemeinsame Leben durch die eigenen Handlungen nicht stört oder in Gefahr bringt (vgl. J. Rossiaud 1999, S. 135 ff).

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

Klöstern nicht zu finden war. In diesem Falle aber galt dies als inneres Problem, wurde heimlich geregelt und vor den Augen der anderen Menschen verborgen. Einen Gegenpol zu dem Mönch bildet Fitz Stephen, der London lobte und sich vom Ruhm und Reichtum, von der Ehrenhaftigkeit der Bürger und von der weltweiten Macht dieser Stadt begeistert zeigte, also von allem, was zum öffentlichen Leben einer Stadt gehört.84 Abschließend will ich ein letztes Paradoxon ansprechen. Die feudale Sittlichkeit versteht den Menschen als Teil seiner großen Familie und kann ihn nicht von ihr trennen. Alle Verträge und sozialen Beziehungen der feudalen Welt waren das Ergebnis direkter Verhandlungen des dominus, ohne jede Vermittlung einer externen Autorität, die im bürgerlichen Leben der Staat mit seinem Recht ist. Das Recht verwandelt den Einzelnen in eine persönliche Entität, in eine „physische Person“.85 Deswegen heißt es, dass das öffentliche Leben stärker individualisierend wirkt als das private. Meine kurze Untersuchung der Begrifflichkeit von „privat-offen“ bzw. „öffentlich“ soll aber nicht so verstanden werden, dass ich jede Form von privatem Leben bei den Repräsentanten der dritten Funktion verleugne. Das private Leben, wie es der Feudalismus kennt, wird von mir als eine extreme Manifestation und als arrogantes Verhalten der kriegerischen Aristokratie angesehen, die meinte, dass nur sie einen Ehrbegriff besitze und nur ihre Wertungen eine gesellschaftliche und über den Tod hinausreichende Geltung86 beanspruchen können. Der Krieger hat in seiner privaten Welt ein trauriges und gespaltenes Schicksal. Als Repräsentant der Sippe – von den legendären Vorahnen bis zum letzten Nachfolger – hat er die schwere Bürde, der Wächter der Ehre der familia zu sein: Er muss also nicht nur direkt gegen ihn gerichtete Beleidigungen rächen, sondern alles, was seinen Clan in irgendeiner Weise verletzt. „Man kann sich fragen: Hasst Agamemnon die Troer, weil ein Troer seine Schwägerin geraubt hat, und unterwirft er sein Volk seinem Hass? Oder ist er – der Völkerkönig – gezwungen, einen Hass auszuleben, den er vielleicht gar nicht fühlt?“87

84

Vgl. J. Rossiaud, S. 131. Arnold Angenendt nennt diesen Prozess eine „Internalisierung“ des Rechtes, eine „Weckung individuell-persönlicher Verantwortung“ (A. Angenendt 2001, S. 90). Daher können wir die langsame Entfaltung des Rechts als eine Form der Emanzipation der dritten Funktion betrachten: Durch das Recht und seine objektive transpersonelle Autorität überwindet der dritte Stand seine Unterlegenheit in der traditionellen hierarchisch aufgebauten Gesellschaft des Mittelalters. Obwohl dies von der Kirche durchgesetzt wurde, wird diese Anschauung stark von den Bürgern und Bauern des Spätmittelalters unterstützt, da sie ihren eigenen „Gerechtigkeitsvorstellungen“ entgegenkommt. 86 Hier meine ich die Unsterblichkeit durch kriegerischen Nachruhm. 87 M. Waltz 1985, S. 181. 85

Die Verschwendungs- und Akkumulationsehre in Lebensbildern des Mittelalters Motto: „Einen König soll man haben, damit er Ruhm schaffe, nicht damit er lang lebe“ (König Magnus, Norwegen 1102). Die mittelalterliche Gesellschaft bewahrt interessanterweise in ihrer inneren Struktur dieselbe Ständeeinteilung, wie ich sie schon im Paragraf über den Entstehungskrieg vorgestellt habe1: Auf einer Seite der „Barrikade“ stehen die Geistlichen und Krieger, die oft aus denselben Familien stammen und gleiche politische Ziele verfolgen, auf der anderen Seite die Angehörigen der dritten Funktion2, die in den traditionellen kriegerischen Kulturen des Mittelalters eine unbedeutende Stellung besaßen. Die ersten zwei Kategorien haben eindeutig viel mehr Gemeinsamkeiten miteinander als mit den Bauern und den Bürgern. „If the oratores – the clerics – ultimately came to accept the bellatores at their side in a position of eminence, both these groups were in accord in regarding the inferior order of workers, laboratores, with the utmost contempt“.3 Die Tätigkeiten der Menschen verursachten wesentliche Unterschiede in ihrer Lebensweise: Der Kampf verlangte vor allem physische Stärke, ein eiskaltes Herz und Gewaltbereitschaft, dagegen erfordern Handel und Geldgeschäfte (z. B. Wucherei) hohe Intelligenz, breitere Perspektiven, Toleranz und Kalkül. Für einige waren hohe Ausgaben Ausdruck von Großzügigkeit und Ehre, für die anderen bedeutete es Verschwendung und unvernünftiges Verhalten.4 Wegen dieser wichtigen Diskrepanzen werde ich die zwei Kategorien von Menschen als Verschwendungs- bzw. Akkumulationsmensch betrachten.5 Ein interessanter Prozess findet zwischen diesen beiden Typologien statt, deren Interaktion die Grundlage jenes symbolischen und sozialen Wandels bildet, 1

Dort habe ich die zwei sozialen Gruppen als Asa- und Vana-Gesellschaft bezeichnet. Vgl. G. Duby 1977, S. 173. 3 J. Le Goff, „Trades and Professions as Represented in Medieval Confessors’ Manuals“, in: J. Le Goff 1980, S. 107-121, S. 110. 4 Vgl. A. J. Gurjewitsch 1994, S. 229. 5 A. Gurjewitsch meint (vgl. A. J. Gurjewitsch 1994, S. 230), dass die zwei Konkretisierungen des Edelmannes und Bürgers der Ritter und der Kaufmann seien. Ich finde aber, dass diese Auffassung zu sehr die Perspektive eines Standes übernimmt, denn die Noblesse (= Ehre) ist, wie schon gezeigt, nicht nur der Vorrang eines einzigen Standes. Jeder Stand hielt sich für ehrenhaft, deswegen können sie ethisch-qualitativ nicht in edel und „nicht-edel“ eingeteilt werden. 2

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welcher in der Gottesfriedensbewegung seinen Anfang nimmt. Ich möchte darauf hinweisen, dass die moderne Soziologie in den zeitgenössischen Gesellschaften Europas drei Kriterien für das soziale Prestige und die von ihm bestimmte gesellschaftliche Schichtung identifiziert hat: 1. das Einkommen, 2. den Beruf und 3. die Schulbildung.6 Das ermöglicht mir zu behaupten, dass die moderne Ordnung auf den Werten der dritten mittelalterlichen Schicht beruht: 1. Reichtum bzw. Überfluss, 2. Arbeit, 3. Ausbildung bzw. Kalkül.

Ehre im Feudalwesen Das Ehrgefühl des Feudalismus beruhte auf der sozialen und symbolischmystischen Verbindung Herr-Vasall. Dies war aber zugleich die Grundlage für die Absonderung und Elitenbildung der kriegerischen Schicht, solange es solche feudalen Beziehungen nur zwischen Männern gab, die ausschließlich Krieger waren und die Nicht-Krieger missbilligten. Frauen und Bauern z. B. waren ausgeschlossen.7 Die Ursache einer solchen Polarisierung war wohl die Entstehung einer Schicht von Kriegsherren (warlords) in den großen Völkerwanderungen des Frühmittelalters.8 Ob sie Angreifer oder Verteidiger waren, es steht fest, dass die soziale Wichtigkeit ihrer Tätigkeit als Kämpfer rasch zunahm, sodass sie an die Spitze der Gesellschaft aufstiegen.9 Sie werden nicht nur zu einer Elite, sondern auch zu einem wichtigen Polarisierungsfaktor der Gesellschaft, indem sie um sich große soziale Einheiten versammelten, die sogenannten Feudalfamilien, die ihren Ursprung in den altgermanischen, auf charismatischer Herrschaft10 beruhenden Gefolgschaftsverhältnissen haben.11 Durch ihr Charisma erlangten 6

Vgl. E. K. Scheuch 1961, S. 72. Vgl. J. Le Goff, „The Symbolic Ritual of Vassalage“, in: J. Le Goff 1980, S. 237287, S. 261. 8 Vgl. H. Gneuss 1976, S. 24. 9 Vgl. A. Borst 1979, S. 235f. Ich habe bereits gezeigt, dass auch in der antiken Geschichte der indoeuropäisch-sprechenden Kulturen Europas ein ähnlicher Prozess stattfindet: Die zweite Funktion und ihr Wertungssystem steigen auf der gesellschaftlichen Skala auf, was zugleich mit einer Entwertung der Wichtigkeit, sprich Ehrenhaftigkeit, der anderen Funktionen einhergeht. 10 Indem der Herr sich gegenüber den anderen durch sein kriegerisches Charisma durchsetzte, welches ihn zu einem Halbgott machte. Am Anfang also waren die eigenen taten die Grundlage des Ruhmes und der Herrschaft, dann aber kommt es zu einer „Veralltäglichung des charismatischen Kriegsführer-Gefolgschaftsverhältnisses“ (vgl. F. Guttandin 1993, S. 61f). 11 Vgl. K. F. Werner 2000, S. 454f und K. Thiele-Dohrmann 2000, S. 32. Viel über die archaischen keltisch-germanischen Ursprünge der mittelalterlichen Herr-VasallBeziehungen hat Jan de Vries geschrieben (vgl. z. B. J. de Vries 1943, S. 182f). K. Bosl 7

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sie Ehre, die die Unsterblichkeit ihres Besitzers sichert. Dieser gesamte Prozess führt zu einer Privatisierung12 der Ehre: Die Krieger meinen, dass die einzige gültige Ehre diejenige sei, welche mit Waffentaten zusammenhängt, und dass zudem nur die Ehre der eigenen Familie gültig sei. Dies fordert die anderen feudalen Familien heraus, ihre eigene Ehre zu beweisen und zu verteidigen.13 Den nicht-kriegerischen Schichten wurde die Ehre a priori abgesprochen. Die Privatisierung heißt in diesem Kontext „Ehrenraub“. Es gab im Früh- und Hochmittelalter noch keinen generellen Ehrenkodex, jedes Haus hatte gewissermaßen seine eigene Ehre und Ehranschauung: Die Lob- und Tadelinstitution der gesellschaftlichen Allgemeinheit14 besaß in dieser Zeit lediglich eine beschränkte Gültigkeit. Sogar die Kirche verlor ihre Kontrolle über die kriegerischen Feudalfamilien, da jede Domäne eine eigene Kirche hatte, mit selbst bestimmten eigenen Priestern und Regeln15. Jean Froissart berichtet in seiner Chronik, dass der Sohn des Earls von Stafford, Sir Ralph Stafford, von dem Bruder des Königs Richard II. (14. Jahrhundert) getötet wurde. Der alte Mann äußerte folgendermaßen über seine Rachepflicht: „[A]uch wenn mir mehr Tadel als Ehre zuteil würde, ich werde ihn doch so erbittert rächen, dass darüber in England sogar nach hundert Jahren erzählt werden wird.“16

stellt neben die germanisch geprägten Vorgänge der domanialen Einheiten auch die „christlich-kirchlichen Gemeinde- und Herrschaftsformen“ (K. Bosl 1973, S. 10). Für Max Weber sind die feudalen Institutionen (König, Staat, Lehnswesen usw.) „eine Veralltäglichung des Charisma“ (M. Weber 1972, S. 661ff). 12 Man kann genauso gut auch von einer Konfiszierung der Ehre sprechen. Wie ich schon im ersten Teil der Arbeit gezeigt habe, bringt die Ehre in den archaischen Gesellschaften Unsterblichkeit und Vergöttlichung. Die Konfiszierung der Ehre bedeutete also, dass nur bestimmte, für eine Funktion spezifische Handlungen Unsterblichkeit schaffen konnten, in unserem Falle den Werten der Krieger entsprechende. Im symbolischen und religiösen Kontext findet schlechthin ein Diebstahl statt: Der dritten Funktion wird der Zugang zur Verewigung und Erlösung verwehrt. Das Christentum mildert solche drastischen Konsequenzen durch die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott. Im sozialen Bereich und danach auch im theologischen sind die Folgen der Konfiszierung der Ehre Absonderung, Diskriminierung, Unterdrückung und Verachtung gegenüber dem dritten Stande. 13 Vgl. U. Friedrich 1999, S. 156. In diesem ständigen Wettbewerb um Macht und Ansehen handeln die Mitglieder der Großfamilien nicht egozentrisch, sondern „noszentrisch“ – wenn ich diesen Ausdruck benutzen darf. Nur die Familie als Ganzes war wichtig. 14 Die Ehre coram hominibus, wie ich sie im ersten Teil dieser Arbeit nannte. 15 Vgl. J. Fleckenstein 2000, S. 50. Man könnte, so Fleckenstein, von einer „personalen Kirche“ der feudalen Domäne sprechen. Es gibt in der Kirchengeschichte des Mittelalters echte Priester- oder Abtdynastien (vgl. P. Dinzelbacher 1993, S. 22, K. Schreiner 1989 und G. Duby 1977b, S. 67) 16 FROISSART II, 170, S. 269.

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Anscheinend ist die Missbilligung seiner Tat durch die Gemeinde nicht wichtiger als die Ehre seiner eigenen Familie. Der Ruhm ergibt sich daraus, dass man über seine Rache noch hundert Jahre später sprechen wird. Die Pflicht zur Rache steht immer an erster Stelle unter den Aufgaben des feudalen Kriegers. Demnach sind alle Bedingungen gegeben, um von einer Entstehung der sogenannten „Kollektiven der gemeinsamen Ehre“17 zu sprechen, oder, wie ich sie nenne, der Ehrgemeinschaften. Man hatte das Recht, seine Ehre selbst zu verteidigen, eine Ehre, die die Summe der Ehren aller lebendigen oder verstorbenen Mitglieder seiner familia war. Angriff und Beleidigung betrafen stets die gesamte Sippe, die folglich immer als Ganzes unter einer eventuellen Ehrenkränkung litt. Die aus Waffentaten resultierende Arroganz der kriegerischen Klasse hat sie in Ehrensachen empfindlich gemacht: „Auch die fremdartige Sprache gewaltbereiter Leidenschaft ist genuiner Ausdruck einer kriegerischen Adelsmentalität, die sich der Gültigkeit ihrer Werte gerade nicht im Frieden und nicht nur in der Dichtung, sondern in Krieg- und Fehdeführung immer wieder erneut versicherte“.18 Zugleich würde eine Romantisierung solcher Ehrgemeinschaften der historischen Wahrheit nicht entsprechen. Wie M. Bloch u. a. zeigt, werden die feudalen Familien oft von inneren, außergewöhnlich blutigen Konflikten erschüttert.19 Sie präsentieren sich nach außen in der Regel als kompakte Einheiten. Wie oben erwähnt, bilden die Herr-Vasall-Beziehungen, die durch das Lehen und die Belehnung geprägt sind, die Grundlage des Feudalwesens. Deswegen hat das Lehen für das Ehrenethos des Kriegers eine fundamentale Bedeutung. Durch das Lehen entsteht vor allem eine personale Bindung zwischen zwei Menschen20, wobei nicht der eine der Überlegene und der andere der Untertan ist, sondern beide sind vielmehr Genossen in einer Ehrgemeinschaft. Im Waltharius-Lied (10. Jahrhundert) wird Waltharius von seinem Herrn Attila amicus21 genannt, obwohl er nur eine Geisel und ein Gefolgsmann des hunnischen Königs war. Den Begriff amicus („Freund“ im deutschsprachigen Raum, „ami“ bzw. „ami charnel“ in Frankreich) verwenden die Quellen auch für die Blutverwandten, da viele der Vasallen auch Verwandte des Lehnsherrn waren.22 Amicus ist ein Status, der auf einem Vertrag beruht. Ein amicus gehört einer familia an und der Herr

17

Vgl. M. Waltz 1985, S. 187 und F. Guttandin 1993, S. 95. K. Görich 2001, S. 3. 19 Vgl. M. Bloch 1964, S. 134f. 20 Vgl. H.-W. Goetz 1993, S. 467. 21 WALTHARIUS, S. 30. Ebenso ist der Herr in Beowulf, 2567, S. 147, „Herr der Freunde“ oder der „Gold verteilende Freund“ (2419, S. 141). 22 Vgl. M. Bloch 1964, S. 123f; siehe auch E. Boshof 1993, S. 93. 18

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verkörpert die Ehre seiner amici, so wie es Wilhelm der Eroberer tat: Er brachte seinen Kumpanen Ehre ein (esset decori amicis).23 Die Vasallität endet nie, ist ewig, deswegen habe ich kein Bedenken, sie als religiös-mystische Bindung zu betrachten. Der Gefolgsmann muss während seines Lebens weiter die Befehle seines verstorbenen Herrn entgegennehmen, welcher manchmal als Wiedergänger erscheinen kann. Seine Pflicht zum auxilium kann er in diesem Falle durch die von seinem Feudalherrn im Jenseits benötigten Gebete erfüllen.24 Der Herr errichtet seinerseits immer verschiedene Monumente oder Stiftungen zur Erinnerung an seine verstorbenen Vasallen und für deren Erlösung: Am 30. Juli 1071 schenkte Heinrich IV. eine Domäne dem Kloster Hersfeld pro anima fidelissimi et carissimi nostri militis Livpoldi.25 Allerdings galt es häufig als Ehrenkränkung für einen Vasallen, seinen Herrn auf dem Schlachtfeld zu überleben.26 Die Huldigung27 ist ebenso ein Beleg dafür, dass das feudale Verhältnis eine religiöse Kategorie repräsentiert. Wie andere Gesten hat die immixtio manuum eine reiche Symbolik: Der Vasall übergibt sich selbst der Macht des Herrn in der Annahme, dass die Ehre des Herrn so groß und „unwiderstehlich“ ist, dass sie würdig ist, zu seiner eigenen Ehre zu werden. So wird er Vasall, also Ehrgenosse des Herrn, und in diesem Zusammenhang spielt die materielle Gabe (das Lehen, das Schwert, die Ausrüstung) nur eine ergänzende Nebenrolle. Meine Theorie ist, dass das Vasallentum ein symbolisches Ritual der Ehre ist, in dem das materielle Interesse nicht so bedeutend ist, wie die meisten Forscher behaupten. Der Vasall bekommt ein Lehen nur nach der immixtio manuum, also nach der Anerkennung der Überlegenheit seines Herrn. Deswegen ist der Feudalismus vor allem ein ethisch-symbolisches System und keine primitive Wirtschaftsform, wie die heutigen Soziologen ihn deuten. Natürlich wusste der Vasall, dass er ein Lehen bekommen wird, aber er hätte wahrscheinlich nicht gerne zugegeben, dass dies das Ziel seiner Unterwerfung sei oder dass die materielle Seite seine Entscheidung bestimmte. Der Vasall ist ab sofort verpflichtet zum consilium und auxilium gegenüber seinem Herrn: 23

Vgl. Gesta Gvillelmi, I, 13, S. 16/17. Vgl. J.-C. Schmitt 1998, S. 13. 25 Zitiert von K. Schmid 1984, S. 248. Vgl. E. Boshof 1993, S. 94. 26 Vgl. H. Gneuss 1976, S. 19. 27 M. Bloch identifiziert zwei Aspekte der Huldigung: 1. Die altgermanische Huldigung (engl. und fr. „homage“, dt. „Mannschaft“), bestehend aus immixtio manuum und dem Kuss auf den Mund und 2. das karolingische hominium (engl. „fealty“, fr. „foi“, mhdt. „triuwe“ bzw. „hulde“) stellt die zwei Rituale in den Rahmen eines Gottesdienstes, und fügt einen Eid mit der Hand auf dem Evangelium bzw. auf den Reliquien (also eine starke christliche Prägung) hinzu (vgl. M. Bloch 1964, S. 146 und zur „hulde“ siehe D. H. Green 1965, S. 140). 24

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„Hier sind alle Edlen einander getreu, / freundlich gesinnt und dem Fürsten ergeben, / Die Degen willig und dienstbereit alle.“28

Der König Marsil in Chanson de Roland weiß nicht, wie er die Eroberung seiner Hauptstadt Saragossa durch Karl den Großen verhindern kann, deswegen versammelt er all seine Vasallen um sich und sagt zu ihnen: „Cunseilez mei cume mi saive hume.“ (Gebt mir den Rat, den Ihr mir als weise Vasallen schuldet.)29. Der Herr, der die Hände des Vasallen bekommt, lädt ihn ein, in den Raum einer kollektiven Ehre einzutreten, in dem seine eigene Ehre verteidigt und gerächt wird. Nach der Beschreibung des Gemetzels von Roncevaux, in dem viele tüchtige Krieger Karls fielen, unter ihnen auch Hruodlandus Britannicus, entschuldigt Einhard seinen König, weil er das Unglück nicht – wie es normal gewesen wäre – gerächt hat: „Bis heute konnte das [unselige] Geschehen nicht gerächt werden, da sich der Feind nach vollbrachter Tat so weit verstreute, dass man keine Ahnung hatte, wo er zu suchen sei.“ 30

Die kollektive Ehre ist nach der feudalen Auffassung keine assimilierende, im Sinne einer absoluten Integration aller „Ehren“ der Mitglieder, wobei die individuelle Ehre des Vasallen entpersonalisiert und in eine allgemeine, neutrale Ehre der Gemeinschaft überführt wurde. Die Ehrkollektive waren assoziativ konzipiert: Die eigene Ehre eines jeden Vasallen bewahrte ihre Eigenständigkeit und konnte neben den anderen „Ehren“ in dem Kollektiv besser verteidigt und behauptet werden, denn sie wurde dem Kollektiv anvertraut, nicht geschenkt. Wenn ein Mitglied der Gemeinschaft spürte, dass seine Ehre in irgendeiner Weise nicht mehr gut aufgehoben bzw. geschützt ist, oder wenn die anderen Genossen – sogar der Lehnsherr oder der König – durch tadelnswerte Handlungen seine eigene Ehrenhaftigkeit bedrohten, konnte der betroffene Mann das Kollektiv verlassen. Bei einem Eid des Lehnsherrn schworen alle seine Vasallen, dass sie darauf Acht geben und garantieren werden, ob ihr Herr das Beschworene einhält. Sollte dies nicht der Fall sein, durften, ja mussten die Gefolgsmänner ihn um ihrer Ehre willen verlassen und waren von der Treuepflicht entbunden.31

28

BEOWULF 1228-30 (Übersetzung H. Gering, Heidelberg 1929). In M. Lehnerts wörtlicher Übersetzung: „Hier ist jeder Edle dem anderen treu, / Milden Gemüts, dem Machthaber ergeben. / Das Gefolge ist gefügig, das Volk allzeit bereit“ (1228-30, S. 85). Der Sinn ist aber der gleiche. 29 ROLAND II, 20. 30 „Neque hoc factum ad praesens vindicari poterat, quia hostis re perpetrata ita dispersus est, ut ne fama quidem remaneret, ubinam gentium quaeri potuisset“ (EINHARD X, S. 22-23). 31 Siehe NITHARD, III, S. 440/441, 5-10. Vgl. auch G. Althoff 2003, S. 65.

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Das Lehen hat vor allem eine aus der germanischen Zeit stammende Symbolik. Der Besitz zeigt die Qualitäten des Besitzers, daher können wir von einer engen ontologischen Beziehung32 zwischen einem Krieger und seinem Lehen sprechen. Jeder Eroberung folgte eine Aufteilung des neuen Territoriums unter den Gefolgsmannen, je nach ihrer im Krieg erprobten Tapferkeit (sprich Ehre). Das erhaltene Grundstück bedeutete im Mittelalter honor33, weil es die symbolische personale Ehre des Kriegers widerspiegelte. Die materielle Seite der kriegerischen Ehre spielt schließlich eine wesentliche Rolle, nicht weil sie dem materiellen Interesse entspricht, sondern weil sie der sichtbare Beweis einer symbolischen Tatsache ist.34 Deswegen steht der „verschwenderische“ Charakter des Feudalismus in untrennbarer Verbindung mit materiellen Ausgaben verschiedener Art: Belehnung, Geschenke, Versorgung. Im Mittelalter war die wichtigste Pflicht des Herrschenden, seinen Kriegern Unterkunft und Ausrüstung zu besorgen. Im Waltharius-Lied bietet der Flüchtling Waltharius einen Teil des Attila gestohlenen Schatzes König Gunther als Geschenk an, um einen Kampf zu vermeiden. Hagen, der treue Gefolgsmann Gunthers, berät seinen Herrn: „Nimm den angebotenen Schatz (porrectam suscipe gazam)! Mit ihm kannst du, Vater (pater), dein Gefolge ausstatten (comitantes decorare).“35

Die Ehrenhaftigkeit des Herrn hing davon ab, wie freigebig er war: Eine ärmliche Ausrüstung der Gefolgsleute, eine bescheidene Mahlzeit oder wenig Geschenke bedeuteten eine Gefahr für das Ansehen bzw. für die Ehrenhaftigkeit des Hauses.36 „Ehre wird durch Gaben und Geschenke gewährt. Sind letztere nicht präsent, dann scheint auch die Ehre zu fehlen. Das Haben und Nicht-Haben von Ehre ist noch vorwiegend eine Frage des Besitzes, seines Umfanges und seiner Unversehrtheit“37. Doch ging es hierbei nicht um Besitzgier, sondern der Grund dafür lag wahrscheinlich in der mehrfachen Bedeutung des materiellen Eigentums: 1. Es zeigte, wie wichtig der Gefolgsmann in der Ehrgemeinschaft war. 2. Es zeigte, wie ehrenhaft 32

Einen glücklichen Ausdruck für diese Tatsache fand Karl Marx, der das Lehen als „Ehrenehe mit der Erde“ bezeichnete (siehe bei F. Guttandin 1993, S. 53). 33 Vgl. M. Waltz 1988, S. 15 und F. Guttandin 1988, S. 24. 34 Wilhelm der Eroberer musste die Ländereien Haralds zuerst plündern, um den zögernden König der Sachsen dazu zu bringen, sich auf einen offenen Kampf einzulassen. Der Eroberer benutzte in diesem Falle eine symbolische Sprache: Er zeigt, dass der Sachse ein Feigling und ein unwürdiger König sei, sofern er seine Territorien und Untertanen nicht schützt (vgl. M. Chibnall 1987, S. 135). 35 WALTHARIUS, S. 61. 36 Vgl. J. Johrendt 1971, S. 56. 37 F. Guttandin 1988, S. 20ff.

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und mächtig sein Herr war. 3. Es zeigte die Kriegstüchtigkeit des Beschenkten, da Größe und Schönheit des Geschenkes in direkter Verbindung mit den militärischen Leistungen standen. Der Vasall ist stets der Spiegel seines Herrn38: „Wohl erkenne ich an deiner Rüstung, / dass du habest zuhause einen Herrn gut.“39 Als Karl der Große Ganelon als Botschafter zum König Marsil schickt, sagt er zu ihm: „Gehe in Jesu Namen und in meinem...“ (Al Jhesu e al mien). Seines Status bewusst legt Ganelon seine beste Ausrüstung an, um damit den Wert auszudrücken, den er in den Augen seines Königs hat, gleichzeitig aber auch die Macht des Königs zu demonstrieren, dessen Vasall er ist.40 Eine gute Versorgung erfordert eine entsprechende Gegenleistung des Vasallen. Die gesamte Mentalität funktioniert also nach dem Potlatsch-System.41 Der Chronist Einhard (9. Jahrhundert) erzählt im Vorwort seiner Chronik über Karl den Großen, weshalb er sein Werk verfasste: „Daher bin ihm sehr verpflichtet, und er hat mich im Leben wie im Tode zu seinem Schuldner gemacht. Man könnte mich also mit Recht undankbar nennen, wenn ich die großartigen Taten dieses Mannes, der sich um mich so sehr verdient gemacht hat, stillschweigend überginge und es zuließe, dass sein Leben keine schriftliche Würdigung oder gebührende Anerkennung erhielte – ganz so, als hätte er nie existiert.“42

Die Pflicht des Herrn, seinen Gefolgsmann zu versorgen, spiegelt sich auch in verschiedenen Etymologien wieder. Im Angelsächsischen heißt der Kriegsherr hlaford, d. h. „Brotwart“ oder „Brotwächter“. Die Verpflichtung ist die Grundlage für die klassische Form des Feudalsystems, das Lehnswesen. Der Inhalt der Verpflichtung bildet jedoch einen Unterschied zwischen den Gefolgschaftsarten. In diesem Sinne kann man von zwei Arten von Gefolgschaft sprechen, von dem angelsächsischen und dem karolingischen Modell. Während bei den Angelsachsen die Gefolgschaft nur ein einfacher 38

Vgl. H. Emmel 1936, S. 9. Sagt Hildebrand zu seinem Sohn Hadubrand im Hildebrandlied (HILDEBRANDLIED 46-7, S. 39). „Das ist kein kleiner Gefolgsmann, / Der so würdig mit Waffen versehen“, sagt man in BEOWULF, 249-50, S. 39 (siehe ebenso die Verse 1900-03, S. 116). 40 ROLAND XXVII, 342-6. Vgl. M. Waltz 1988, S. 26. 41 „[T]he state the potlatch inevitably creates between its participants, of peace, of order, of collaboration, with alternating rights and duties, is indeed a beginning of ‘friendship’, particularly among the semi-civilized [traditional societies], where a simple absence of relations is already equivalent to hostility“ (G. Dumézil 1988, S. 69). 42 “[Q]ua me ita sibi devinxit debitoremque tam vivo quam mortuo constituit, ut merito ingrates videri et iudicari possem, si tot beneficiorum in me colantorum immemor clarissima et illustrissima hominis optime de me meriti gesta silentio praeterirem patererque vitam eius, quasi qui numquam vixerit, sine litteris ac debita laude manere“ (EINHARD Prologus, S. 6-7). 39

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Verband von freien Männern war, die zum Haus des Herrschers gehörten, der sogenannte Hausadel43, welcher als Gegenleistung für seine militärischen Dienste Unterkunft und Verpflegung vom Herrn bekam, war im karolingischen Reich die Belehnung die Form, die die normale Versorgung mit Essen und Waffen ersetzte, was vor allem Verwaltungsgründe hatte. Die comites werden belehnt, d. h., sie sind weiter ihrem Herrn gegenüber zu Treue und militärischen Diensten verpflichtet, aber sie gehören nur symbolisch zu seinem Haus: Sie essen nicht mehr an seinem Tisch und werden nicht mehr von ihm ausgerüstet.44 Das Wichtigste aber ist, dass der Feudalismus auf hohen Ausgaben beruhte, und somit ein System war, das seine Existenz unterschiedlichen verschwenderischen Handlungen verdankte. Voller Erbitterung wird in der Dichtung über die Schlacht Maldon (10. Jahrhundert, siehe S. 135) erzählt, dass Godric ehrenlos und undankbar von dem Schlachtfeld floh, genau in dem Moment, als er seinem Herrn Byrhtnoth zur Seite stehen sollte: „Godric floh aus der Schlacht und verließ den wackeren Mann, / Der ihm so oft viele Pferde geschenkt hatte.“45 Eigentlich ist die Flucht vom Schlachtfeld nicht selten; in der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele von Kriegern, die ihr Leben mehr als ihre Ehre lieben.46 Dies vermindert aber keineswegs die allgemeine Hochschätzung und Idealisierung des Wertes der bedingungslosen Treue eines Vasallen. Den Glanz des kriegerischen Nachruhms nennt man in den Quellen decus, das Antonym von ignominia, d. h. „Namens- bzw. Rufslosigkeit“ und im weiteren Sinne „Ehrlosigkeit“.47 Allerdings war die Akkumulation in einer Welt voller Kriege schwer zu erreichen; die Waffen, die Pferde, das Essen waren in dieser Zeit teuer und selten, man war also angewiesen auf manche „Verschwendungsorgane“, welche durch ihre aufgrund der Ausgaben erworbene Macht Sicherheit schaffen konnten. Die familia war in der mittelalterlichen Gesellschaft eine Hausgemeinschaft, zu der sowohl Personen als auch Gegenstände gezählt wurden.48

43

Vgl. M. Bloch 1964, S. 169ff. Vgl. H. Gneuss 1976, S. 20ff. 45 MALDON 187-8. Dasselbe geschah ebenfalls Beowulf, als er im Kampf mit dem Drachen von seiner Gefolgsschar allein gelassen wurde. Sein Getreuer, Wiglaf, wirft den Feiglingen vor: „Das muss wahrlich leider sagen, wer die Wahrheit liebt, / Dass der Schutzherr, der euch die Schätze gab, Eure Kriegsausrüstung, [...] eure gute Kampfausrüstung / Nutzlos verschwendet hat. Als er zum Schwertkampf kam, / Konnte sich der König keineswegs seiner Kampfgefährten / Im Ganzen rühmen.“ (BEOWULF, 2864-74, S. 160f). 46 Vgl. J.-P. Bodmer 1957, S. 132. 47 Vgl. Gesta Gvillelmi, II, 15, S. 124/125f. 48 Vgl. G. Duby 1977, S. 36f, K. Bosl 1973, S. 6f und M. Bloch 1964, S. 123. 44

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Servi oder ancillae49 gehörten zu den materiellen Gegenständen, mancipium, da sie nicht mehr als lebendige Werkzeuge der Domäne waren. Sie konnten aber durch ihre Taten die Ehre des Herrn verletzen, solange ihre Unfreiheit völlige Abhängigkeit bedeutete, d. h., der Herr war vor Gericht für ihre Übeltaten verantwortlich. Die Lex Thuringorum (LVII) sagt: Omne damnum, quod servus fecerit, dominus emendet. Nicht nur die Verwandten waren Mitglieder der Familie, sondern auch die ministeriales, und, was mir am wichtigsten erscheint, es gehörten zu dieser festen Gemeinschaft auch die Toten.50 Die Familie ist in der mittelalterlichen Gesellschaft das „Reservoir der Ehre“ des pater familias, deshalb kann sie als seine soziale Erweiterung betrachtet werden. Alles, was dem Hause angehört, nimmt an der Ehre des Familienoberhauptes teil, und kann diese vermehren oder vermindern.51 „Nur eine [solche] Gruppe konnte in einer Zeit mangelnder Staatlichkeit, täglicher Gewalt und dauernder Kriege zwischen der Völkerwanderung und den Invasionen der Araber, Wikinger, Ungarn, sowie permanenter innerer Kämpfe einige Sicherheit bieten“.52 Die militärischen Bedingungen müssen aber nicht unbedingt die Hauptursache sein, da wir wissen, dass in den indoeuropäisch sprechenden Traditionen die Sippe eine wichtige Rolle als Bewahrerin des gemeinsamen Ehrenschatzes spielt. Am Anfang der Völkerwanderung brauchte man keine neuen Militär- und Sozialeinheiten zu bilden, da es sie schon lange gab, und zwar in Form der Sippen, die soziale Entitäten um die private Ehre herum bildeten.53 Die symbolische Einheit kann die Ursache der sozialen sein. Der harte Wettbewerb um Ehre und Macht, zu dem auch Eroberungen oder erfolgreiche Verteidigungskämpfe gehören, erfordert eine große Einheit, und das ist die familia, das feudale Haus, in dem alle an einer gemeinsamen Ehre Anteil hatten. Man kann also solchen Assoziierungen nicht die praktischen Zwecke absprechen. 49 Zur Terminologie von servus und ancilla im Mittelalter siehe R. Schmidt-Wiegand 1975, S. 129ff. 50 Im Gegensatz zu den großen Familien des von kriegerischen Werten geprägten Früh- und Hochmittelalters stehen die bäuerlichen oder bürgerlichen Familien, die sich ab dem 13. Jahrhundert immer häufiger in den Quellen finden lassen. Ihre Familie beschränkt sich nur auf die Verwandten ersten Grades, d. h. Vater, Mutter, Kinder, und ihre zeitlichen Wurzeln gehen selten weiter zurück als bis zum Großvater (vgl. A. Borst 1979, S. 60 und G. Duby 1977, S. 39f). 51 P. Dinzelbacher 1993, S. 21. 52 P. Dinzelbacher 1993, S. 19 und M. Bloch 1964, S. 148. 53 Deswegen sprechen die Historiker und die Soziologen von den sogenannten Mehrgenerationenfamilien, da ihnen klar ist, dass die archaisch-traditionelle Familie ein „unsterbliches“ Kollektiv repräsentierte. Die Bindung zwischen den Generationen entsteht durch memoria, d. h. durch den Ruhm der Ahnen und durch die Bemühungen der Nachfolger, diesem Ruhm würdig zu sein. Es geht schlechthin um Ehre (vgl. A. Borst 1979, S. 70 und K. Görich 2001, S. 3f).

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Vor allem benötigte man in diesen Zeiten besonders dringend Schutz, weshalb das Interesse groß war, sich unter den Schutz eines Mächtigen zu begeben, damit das Eigentum, die körperliche Integrität, die Familie (also alle Faktoren der Ehre) eine gewisse Sicherheit genießen konnten.54 Schon bekannt ist die mittelalterliche55 Sitte, dass die Mitglieder der kriegerischen Aristokratie in nicht wenigen Fällen am Ende ihres Lebens in ein Kloster eintraten, in die familia eines mächtigen Herrn, in diesem Fall des allmächtigen Gottes. Obwohl die familia im Inneren eine hierarchische Struktur mit mehreren Rangstufen aufwies, präsentierte sie sich nach außen als ein einheitliches, kompaktes Ganzes.56 Der gereizte Roland antwortete Olivier, der auf den verräterischen Ganelon57 schimpfte: „’Tais Oliver’, li quens Rollant respunt, / ‚Mis parrastre est, ne voeill que mot en suns.’“ („Sei still Olivier“, erwiderte Graf Roland, / „Er ist mein Stiefvater, ich will nicht, dass du noch ein einziges Wort mehr über ihn sagst.“)58

Die Schimpfworte gegen seinen Vater trafen natürlich seine eigene Ehre. Die familiale feudale Solidarität ging sogar so weit, dass z. B. in dem Fall Ganelons, der für seinen Betrug die Todesstrafe erlitt, auch dreißig andere männliche Mitglieder seiner Familie mit ihm zusammen erhängt werden mussten (der CIX. Gesang).59 Ehrenhaftigkeit und Ehrlosigkeit gehörten stets zusammen. Während für die Bauern oder Kaufleute das Misstrauen eine Tugend und ein Intelligenzbeweis war, bedeutete Vertrauen für die kriegerische Schicht Ehre und Furchtlosigkeit vor den Konsequenzen eines eventuellen Betrugs.60 In dem Bereich der Ehre herrscht also im Feudalismus eine Verschwendungsmentalität. Alles beruht auf verschwenderischen Handlungen: Der Herr muss den Vasallen mit Waffen, Ausrüstung bzw. Lehen versorgen, solange er mit den militärischen Diensten des Gefolgsmannes rechnet, die ihm die Ehre bewahren und weitere Ehre einbringen. Nicht nur die gewöhnlichen Ausgaben, Geschenke, Rüstungen, Unterkunft usw., sind an sich verschwenderisch, sondern auch das Lehen. Was als eine Erleichterung der 54

Vgl. O. Brunner 1956, S. 69. Ich bin nicht sicher, ob ich die Geste Konstantins des Großen, der sich erst auf dem Sterbebett taufen ließ (so Eusebius von Caesarea), in dieselbe mentale Struktur einordnen kann. 56 Vgl. W. Rösener 1984, S. 671. 57 Wir wissen, dass Ganelon der Stiefvater Rolands war. Ob leiblicher Vater oder Stiefvater, diese Frage war für die mittelalterliche Gesellschaft ein relativ unwichtiges Detail. 58 ROLAND LXXX, 1026-7. 59 Vgl. auch M. Bloch 1964, S. 125. 60 Vgl. J. Le Goff 1989, S. 83. 55

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Verwaltung gedacht war, wird zu einer Ursache der Zersplitterung der Herrschaft und der Vernichtung der Staatlichkeit. Dies ist der einzig mögliche Weg in einem kriegerischen Ethos, in dem die Ehrenhaftigkeit nach Erfolgen in Schlachten und nach der gewaltsamen Entehrung der Feinde beurteilt wird. Eine solche Ehranschauung braucht eine fest zusammenhaltende Gruppe, die familia, aber der Unterhalt der Gruppe erfordert Ausgaben. Deswegen gibt es die sparsame Akkumulation nur in kleinen Familien. Herr zu sein kostete in der mittelalterlichen Welt viel, aber die Erwartungen waren entsprechend hoch. Die Gefolgsleute setzten ihr Leben ein, sich der Ehrenhaftigkeit ihres großzügigen Herrn würdig zu erweisen. Die Verschwendungsmentalität ist kennzeichnend für die militärischen Dienstleistungen des Vasallen bzw. des mittelalterlichen miles. Es geht um Aufopferung, Selbstlosigkeit und vor allem um unbegrenzte Treue.

„Jo n’en ferai nient, Ich werde so etwas nicht tun“: Grenzen der kriegerischen Ehre Die Kriege des klassischen Mittelalters erforderten keine großen Heere, dauerten nicht lange, und waren weniger dramatisch, als sie von der mittelalterlichen Dichtung geschildert werden. Die Ehre des Kriegers bedurfte der Anerkennung und deswegen der beeindruckten Augen der anderen. Es ging in diesen Kriegen nicht immer um die totale Zerstörung, sondern eher um die Gewinnung der Stützpunkte und der Burgen, von denen der kriegerische Glanz des Herrn ausstrahlen konnte.61 Im Feudalismus war Sieg nicht unbedingt gleichzusetzen mit der Tötung des Gegners und seiner Familie, sondern Sieg bedeutete eher, dass der Gegner die Herausforderung nicht mehr vergelten konnte und somit seine Unterlegenheit erkannte. Ziemlich wichtig war allerdings, dass er am Leben blieb als lebendige Erinnerung an die kriegerische Tüchtigkeit des Siegers. Der verschwenderische Aspekt ist hier, dass das Überleben des Besiegten eine Gefahr schaffte, indem er während seines Lebens immer von Rache träumte, und den Hass seinen Nachfolgern weitergab. So entstanden die Mehrgenerationenkriege und fehden, bei denen die Ruhe und die Sicherheit der Allgemeinheit, sogar selbst der kämpfenden Familien, für das Interesse der Ehre geopfert wurden.62 Wer waren aber die Krieger, das Objekt meiner Untersuchung? Alle, die sich in ihrem Alltag mit dem Krieg oder den damit verbundenen Tätigkeiten beschäftigten. Der Alltag solcher Menschen bestand im Kampf und im Wettbewerb um Ehre. Dieses Phänomen war so verbreitet, dass es als 61 62

Vgl. A. Borst 1979, S. 432. Vgl. U. Frevert 1991, S. 21f.

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Normalität wahrgenommen wurde. Der Verfasser der Vita Sancti Guthlaci – eines berühmten englischen Asketen des 7. Jahrhunderts – erzählt ohne große ethische Zweifel, wie sich sein Meister im Alter von fünfzehn Jahren (!) neun Jahre lang den kriegerischen Angelegenheiten widmete, bevor er Mönch wurde. Der junge Guthlac, begeistert von den Großtaten seiner Vorfahren, sammelte eine Schar von Jugendlichen um sich, mit der er die Städte, die Residenzen, die Dörfer und die Festungen seiner Feinde durch Feuer und Schwert verheerte und unermessliche Beute gewann: “[E]t cum adversantium sibi urbes et villas, vicos et castella igne ferroque [!] vastaret, conrasis undique diversarum gentium sociis, inmensas praedas gregasset.“63

Der Verfasser der Vita, Felix, versucht vergeblich, diese kriegerische Aura abzumildern, indem er für ein solch gewaltsames Verhalten stets gute Gründe findet: Tatsache ist, dass der junge Adlige Guthlac vor seiner Bekehrung eine anarchische, rücksichtslose Natur war. Das ständige Kämpfen, Verwüsten usw. gehörten zur Erziehung eines Adligen, und solche Handlungen galten als nicht so schlimm, dass sie nicht in der Vita eines Heiligen erzählt werden sollten. Ist das bei Felix Realismus oder nur natürliche Indifferenz gegenüber gravierenden Taten? Uns bleibt die Hauptinformation, die uns das Bild eines kriegerischen Alltags nach der obigen Definition vermittelt. Viele der feudalen Vasallen und Burgherren waren von bescheidener Herkunft: Ihre Vorfahren waren einfache ministeriales auf den Domänen der großen Herren oder Könige.64 Da sie aber für Krieg benötigt wurden, konnten sie frei und adelig werden, solange sie die Pflichten und die Anforderungen eines bestimmten Wertungssystems erfüllten.65 Sie werden durch Belehnung selber adelig, denn die Vasallen sind Ehrgenossen des Herrn, seine amici und seine Gleichen.66 Auf der symbolischen Ebene hingegen hatte die kriegerische Schicht keinen bekannten historischen Anfang: Die Krieger waren immer da und immer Besitzer der größten Ehre. Diese Stellung bewahrten und pflegten sie durch eine ständige Individualisierung von Kennzeichen und Merkmalen, die nur ein Krieger besitzen konnte. Am wichtigsten war die Freiheit, und Vasall zu sein war der größte Selbstständigkeitsbeweis: Jeder Vasall entscheidet frei, welchem Kollektiv der Ehre er sich anschließt.

63

Vita St. Guthlaci XVII. Zu den Kategorien der Ministerialität siehe K. Bosl 1973, D. 11f. 65 „Adelethos, welches in der kriegerischen Tüchtigkeit den zentralen Wert menschlicher Bewährung und sozialen Aufstiegs erkannte“ (A. v. Müller 1977, S. 88). Vgl. U. Frevert 1991, S. 20 und K. Görich 2001, Anm. 15, S. 379). 66 Wobei der Herr stets als primus inter pares aufgefasst wurde. 64

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Die Kriegsmannen stehen und trinken als Ehrgenossen mit dem Herrn am Tisch in der Met-Halle: „Denkt an die Reden, die wir oft beim Met hielten.“67 So spricht Aelvin, der Sohn von Aelfrich, in der Dichtung über die Schlacht von Maldon, welche einen Kampf zwischen den Angelsachsen unter dem Earl68 Byrhtnoth und den Wikingern in der Zeit des Königs Aethelred II. (†1016) beschreibt.69 Nach der Darstellung der mittelalterlichen Epen, ist der Met bzw. Wein ein Getränk der Krieger, nicht weit von der indoeuropäischen „Soma“-Typologie entfernt, dem heiligen Getränk des Kriegsgottes Indra. Die Met-Halle ist der Ort zur Selbstdarstellung; je größer sie ist, desto ruhmreicher ist ihr Besitzer: Dort versammeln sich die Krieger (Gäste oder Gefolgsmannen) und bei verschwenderischen Banketten werden Waffentaten aufgezählt und verglichen oder Herausforderungen ausgesprochen.70 Es gibt also mentale Konstanten der kriegerischen Funktion, die langfristig über mehrere Jahrtausende erhalten bleiben. Die Farbe Rot, die ich in einem früheren Kapitel als Merkmal der indoeuropäischen zweiten Funktion identifiziert habe, ist auch für den mittelalterlichen Krieger typisch. Im Früh- und Hochmittelalter, genauso wie bei den plündernden germanischen Horden, war der König kein Souverän nach der spätmittelalterlichen oder antiken Auffassung, sondern eher ein einfacher Kriegsherr einer größeren oder kleineren Gefolgschaft. Deshalb trägt er z. B. bei seiner Krönung meistens Rot71 wie jeder einfache Ritter bei der Huldigung. Von Bedeutung ist auch das Fortleben der Symbolik des Speeres als Zeichen der Herrschaft unter germanischen Souveränen des Mittelalters – den Merowingern, den Karolingern und den deutschen Kaisern, wobei die Heilige Lanze als ein definitorisches insigne der herrscherlichen Würde fungierte.72 Das Selbstbewusstsein des Kriegers konkretisierte sich in der Emblematisierung der Elemente seiner Ausrüstung, so wird z. B. das Schwert zum

67

Zitiert von A. Borst 1979, S. 424. Earl oder eorl, meistens gleichbedeutend mit ealdorman, entspricht in den lateinischen Quellen einem dux, princeps oder comes (vgl. M. Chadwick 1963, S. 161ff und F. Liebermann 1906, S. 359ff). Zu seinen Privilegien und Aufgaben siehe M. Chadwick 1963, S. 168ff. 69 Ein Bericht über diese Schlacht findet sich in der Anglo-Saxon Chronicle, Jahr 991, S. 82. 70 Vgl. L. K. Little 1983, S. 5. 71 „marina purpura auro decorat“ (vgl. R. Elze 1984, S. 330). 72 Vgl. G. Althoff 2003, S. 37 und S. 88. Dies ist mit meinen Thesen im ersten Teil der Arbeit in Beziehung zu setzen, wo ich den Speer und seine Derivate als Symbol der ersten magisch-religiösen Funktion identifizierte. 68

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Kennzeichen des mittelalterlichen Kriegers.73 Der sterbende Roland spricht mit seinem Schwert Durandal: „Il nen est dreiz que paiens te baillisent, / De chrestiens devez estre servie. / Ne vos ait hume ki facet cuardie!“ (Es ist ungerecht, dass Heiden dich besitzen, / Du musst wohl von Christen bedient werden. / Es möge nie ein Feiger dich besitzen.)74

Aus der Perspektive des Kriegers wäre es eine große Entehrung, mit dem eigenen Schwert erschlagen zu werden, wie es Waltharius mit Kimo tut: Qui caput orantis proprio mucrone recidens.75 Dies empfand man zugleich als einen Verrat seitens des Schwertes und als eine Vergewaltigung durch den Gegner. Wie schon im ersten Teil behauptet, müssen die Waffen, mit denen der Krieger kämpft, selbst ehrenhaft sein. Trotz gewisser Ausnahmen kann man feststellen, dass in der germanischen Vergangenheit Europas76 die verachteten Waffen Bogen und Pfeil waren.77 Als ehrmindernd galt alles, was zur Vermeidung des direkten Einzelkampfs führte, und alles, was aus Distanz jemanden töten konnte, ohne dass der Gegner durch seinen Widerstand seinem Feind den Anlass geben konnte, seine kriegerische Tüchtigkeit zu beweisen. Nur die Bauern und Schwachen kämpften mit Pfeilen, die „echten“ Krieger bevorzugten meistens Schwert und Speer.78 Manche Forscher sehen in den andauernden Kämpfen der Adligen die Ursache des spätmittelalterlichen technologischen Wettbewerbs um bessere Waffen und Panzer. Ich meine dagegen, dass das Verlangen nach einer besseren Ausrüstung (insbesondere Schutzrüstungen) hauptsächlich durch die Benutzung unehrenhafter Waffen – Bogen, Armbrust, Feuerwaffen – hervorgerufen wurde.79 Den ehrenlosen Kriegsmethoden gegenüber stehen zwei Krieger-Typen, der Achilles- und der Odysseustyp, d. h. der tollkühne bzw. der intelligent kämpfende Krieger. Diese zwei Typen sind schließlich komplementäre Aspekte der kriegerischen Persönlichkeit. Das Verhalten Odysseus’ ist nicht grundsätzlich zu verurteilen. Er erbt die Waffen Achilles’, bekommt also Anteil an der größten Ehre, die sich ein griechischer Held vorstellen konnte. 73 Im ersten Teil zeigte ich, dass das Schwert wichtige phallische Bedeutungen hat, deswegen wird es in der exklusiv männlichen Angelegenheit des Krieges zu einem Symbol. 74 ROLAND CLXXIII, 2349-51. 75 WALTHARIUS, S. 66 76 Mental ist Europa ein Ergebnis der germanischen Wandervölker der Spätantike. Deswegen kann der heutige Forscher feststellen, dass manche Vorstellungen die Kriegsführung im Mittelalter weiterhin bestimmten. 77 Vgl. G. Köhler 1886, S. 12. 78 Vgl. N. Brooks 1991, S. 209. Siehe die spezifischen Waffen der equites und der weniger angesehenen pedites bei J. Johrendt 1971, S. 33ff. 79 Vgl. G. Duby 1977, S. 171 und M. Vale 1981, S. 121.

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Intelligenz im Kampf ist zu empfehlen, solange sie nicht übertrieben und zu billigem Austricksen verwendet wird. Als Strafe für sein Holzpferd muss Odysseus lange Zeit weit von seinem Haus entfernt bleiben und viele mühsame Proben bestehen. Nach demselben Muster verhält sich das Paar Roland-Olivier. Der vernünftige Olivier, der die Sicherheit dem ruhmvollen Tod vorzieht und Roland rät, seinen Olifant zu verwenden, stirbt vor Roland; dadurch werden die von ihm verkörperten Werte „bestraft“. Das in der germanischen Volksüberlieferung oft verwendete Motiv der Tarnkappe ist eigentlich ein verwerflicher teuflischer Trick.80 Siegfried benutzt die Tarnkappe zwei Mal: Beim Kampf Gunthers mit Brünhild, als er unsichtbar dem König half, und zum zweiten Mal im Ehebett, als er ebenfalls unsichtbar an der Stelle des Königs die wilde Brünhild überwältigt.81 Diese Tricks bescheren unserem Helden jedoch lediglich eine Strafe, da sich Brünhild als die Ursache seines Todes erweisen sollte.82 Wie vorher gesagt, ist es für den Krieger eine Ehrensache, seinen Besitz offen auszugeben und seine Reichtümer zu zeigen83, da sie der offensichtliche Beweis seiner kriegerischen Tüchtigkeit sind: Nur ein guter Kämpfer kann die Burgen des Feindes plündern, Feinde besiegen und ihre Ausrüstung als Siegespreis erwerben oder seinen eigenen Herrn durch Kühnheit

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Zum ersten Mal findet man dieses Motiv in Heliand, in der altsächsischen Übersetzung des Evangeliums aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Dort wird ein altes, christlich-traditionelles Motiv aufgegriffen, indem berichtet wird, dass die Frau von Pilatus einen Traum hatte, in dem sie gewarnt wurde, dass ihr Mann einen großen Fehler macht, wenn er Christus zum Tode verurteilt. Das germanische Spezifikum der Episode ist, dass der Albtraum der Frau vom Teufel gebracht wurde, der sich in einer Ecke des Zimmers versteckte, unsichtbar, da er einen „magischen Helm“ trug (siehe HELIAND, S. 180). 81 Siegfried bleibt aber seinem Freund Gunther treu, d. h., die Überwältigung Brünhilds bedeutet keinen sexuellen Verkehr (vgl. H. Emmel 1936, S. 12). Auch in der altnordischen Fassung des Nibelungenlieds, wo Siegfried als Sigurd auftaucht, wird klar gestellt, dass die Überwältigung Brünhilds (bzw. Brynhilds) keine Vergewaltigung bedeutet: „Ruhn wirst du [Sigurd], ruhmvoller Führer / der Heerschar, bei der Jungfrau [Brynhild], wie’s bei deiner Mutter wäre“ (Heldenlieder Edda, 43, S. 88). 82 Gerd Althoff meint dagegen, dass man mit List und Schlauheit im Mittelalter Ruhm verschaffen konnten (vgl. G. Althoff 2003b, S. 9ff). Aus den zehn Beispielen, die er anführt, beziehen sich jedoch nur zwei auf „normale“ Krieger, die meisten (6) beschreiben Handlungen der Könige bzw. Bischöfe, die um ihrer Herrschaft willen so handeln. Die zwei anderen Beispiele beziehen sich auf Belagerungsgeschichten, wobei man – angesichts des unausgeglichenen Verhältnisses zwischen der Stärke der Festungen und der Belagerungstechnik – im Mittelalter schwer eine Festung erobern konnte, wenn man sich nur auf die physische und kriegerische Stärke verließ. Selbst Odysseus musste den Trick des Pferdes anwenden, weil Troja sonst nicht einzunehmen war. 83 Vgl. H. F. Werner 2000, S. 165.

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beeindrucken und ihn folglich zu großen Gaben veranlassen. Die Gabe84 nach dem Prinzip des Potlatsch hat im Mittelalter zwei wichtige Konnotationen: a) Herausforderung, z. B. GLABER III, 8, wo wir lesen, wie Robert II. der Fromme (†1031) dem deutschen Heinrich II. (†1024) beim Friedenstreffen viele Geschenke anbot, von denen der Deutsche aber nur ein Buch annahm, da er die verborgene Herausforderung verstand85, und b) Unterwerfung, wenn man durch Gaben die Überlegenheit eines anderen anerkennt. Es ist eine Vermeidungsform im Wettbewerb um die Ehre, mit der Konsequenz, dass die Ehre des Schenkenden vermindert wird (siehe WALTHARIUS, S. 27 oder MALDON 29-31). Für den Krieger hat der Besitz keinen Wert, solange dieser in einer Truhe versteckt bleibt. Das kriegerische Paradies Walhalla stellte man sich als eine Met-Halle vor, in der ein endloses Fest stattfindet, das von Zeit zu Zeit von „erholsamen“ Kämpfen unterbrochen wird.86 Die hohen Ausgaben der „ehrenhaften“ Schichten des Mittelalters für Prunk weisen darauf hin, dass die Verschwendung Ehre einbrachte. „Die Oberhäupter der Klöster und Kathedralen konnten sich keine bessere und angemessenere Verwendung ihres Reichtums vorstellen als die Verschönerung, Erneuerung und Ausschmückung der Gebetstätte [...] [eine] Verschwendung zum Ruhme Gottes. [...] Diese Haltung teilten auch die Mitglieder des zweiten Standes, die Kriegsspezialisten. Auch sie machten riesige Ausgaben, allerdings zu ihrem eigenen Ruhm“.87 Die Kathedralen aber waren auch Gebetsorte der Armen bzw. des einfachen Volkes, d. h., die Verschwendung hatte eine wichtige praktische soziale Funktion. Aber nicht nur durch die Ausgaben der Geist84 „Ehre, Ruhm und Rang in der feudalen Ordnung hingen entscheidend von der jeweiligen Fähigkeit zur Verschwendung, zum Geschenkemachen ab“ (F. Guttandin 1993, S. 18). Über die Bedeutungen und die Logik des Schenkens im Mittelalter empfehle ich den Aufsatz von Jürgen Hannig (siehe J. Hannig 1988), in dem der Autor über eine wahre Kunst des Schenkens (ars donandi) spricht (siehe auch G. Althoff 1995, S. 65f). Das Schenken war eine wichtige diplomatische Methode, die bei der Erziehung eines Herrschers auf jeden Fall berücksichtigt werden sollte. Hannig übersieht allerdings eine wichtige Nuance: Das Geschenk wird meistens von dem Schwächeren gemacht; es ist also eine Bestätigung seiner Unterlegenheit. Durch Geschenke erreicht der Schwächere, was er durch Gewaltanwendung nicht erlangen kann. 85 Das Motiv des Treffens zweier Könige befindet sich in der Überlieferung eines mittelalterlichen Poems, Ruodlieb (11. Jh.). In ihm trifft sich der siegreiche rex maior mit dem besiegten rex minor. Letzterer macht dem anderen reiche Geschenke, aber rex maior nimmt pro donis votum an, d. h., er wollte sich nicht verpflichten lassen, und die Unterwerfung regis minoris „ohne Pfand“ annehmen. Sehr wichtig ist auch, dass der rex maior dem anderen König jegliche Geschenke an seine eigenen Untertanen verbietet („nec volo praesulibus ducibus quid praesidibus des“), d. h., er wollte nicht zulassen, dass der andere die entscheidenden Personen seines Königreichs in irgendeiner Weise beeinflusst und kontrolliert (vgl. RUODLIEB, V, 202-9). 86 Vgl. H. F. Werner 2000, S. 134. 87 G. Duby 1977, S. 170.

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lichen, sondern auch durch den kriegerischen Prunk und durch die großen Feste sowie durch tägliche oder wöchentliche Spenden konnten die Krieger viele Arme und Habenichtse versorgen. Die Verschwendung brachte so den Herren Ruhm, während sie zugleich das Überleben der anderen sicherte.88 Die Ausgaben der Krieger waren eigentlich mehrfache symbolische Investitionen, denn Waffen, Rüstungen und Pferde von guter Qualität zu haben89 verhalf jemandem zu Glanz (= Ruhm und Ehre), aber auch – durch bessere Ausrüstung – zu einer technischen Überlegenheit auf dem Schlachtfeld, durch die er größere Chancen auf den Sieg (= auch Ruhm und Ehre) hatte. Der Krieg selbst, wie ihn die Krieger praktizierten, war eine verschwenderische Angelegenheit, wobei man auf „ethische“ Aspekte dieser meistens unmenschlichen Verschwendung keine Rücksicht nahm. Wir wissen bereits aus dem ersten Teil, dass bei den Indoeuropäern die Ehre des Kriegers aus seiner grenzenlosen Zerstörungslust bestand, und dieser „Wert“ gilt auch in Kriegen des Mittelalters. Wichtig für die Ehre eines Kriegers ist es, die Mannhaftigkeit zu bewahren, d. h., gnadenlos zu sein, da die Zärtlichkeit eine weibliche Eigenschaft ist. Für den Feldzug Karls des Großen in Spanien hat der anonyme Dichter des Rolandsliedes nur Worte des Lobes: „N’i ad castel ki devant lui remaigne. / Mur ne citet n’i est remés a fraindre […].“ (Keine Festung konnte ihm widerstehen. / Keine Mauer, keine Burg blieb übrig, um abgerissen zu werden).90

Das Ethos der Rache ist ebenso eine Form der Verschwendung. Es beinhaltet ein fundamental verschwenderisches und agonales Risiko: Für jeden Krieger ist die Rache zugleich Gesetz und Zwang.91 Aber das bedeutet die Verschwendung des eigenen Lebens, falls der Feind, an dem der Krieger Rache nehmen muss, stärker ist; Tricks und der „intelligente“ Kampf waren vom kriegerischen Wertungssystem nicht erlaubt, also haben wir es mit einem Teufelskreis zu tun, wobei der Schwächere sterben muss. Es ist ehrenhaft für einen Krieger, nicht an Vermeidung des Kampfes92, Schonung93 und 88 Vgl. G. Duby 1977, S. 55. Ich habe dieses Problem der praktischen Finalität der Verschwendung schon im ersten Kapitel dieses zweiten Teiles betrachtet. Wir wissen, dass die soziale Funktion der Verschwendung den Adligen nicht bewusst war. Das Motiv für ihre Großzügigkeit war bloße Verschwendungslust. 89 Vgl. G. Duby 1977, S. 171. 90 ROLAND I, 4-5. Wir erinnern uns an den indoeuropäischen Indra, „den Festungszerstörer“. 91 Vgl. F. Guttandin 1988, S. 25. 92 „Sein Rasen wird ihm mit Sicherheit zur Verhängnis werden, / Weil er sein Leben jeden Tag riskiert“, sagt Ganelon über Roland (ROLAND, S. 27). 93 „Graf Roland kümmert sich gar nicht um seine eigene Sicherheit!“ (ROLAND, S. 83).

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Ruhe zu denken. Empfohlen wird der kriegerische furor, die animalische Wut des Blutes.94 Die mittelalterlichen Quellen nennen sie auch saevitia.95 Das Rolandlied beinhaltet viele Informationen über das archaische Ehrsystem der kriegerischen Schicht. Im ersten Teil der Arbeit sprach ich darüber, dass sich jeder Krieger Sorge machte, was mit seinem Leib nach dem Tode auf dem Schlachtfeld geschehe, da auch im Tode so wie im Leben die Ehre bewahrt werden muss. Der Erzbischof Turpin beruhigt Roland, der Angst um seinen Leib nach dem Tode hat: „Entfuerunt en aitres de musters, / N’en mangerunt ne lu ne porc ne chen.“ (Sie werden uns im geweihtem Grund begraben, zwischen Kirchenmauern, / Weder Wölfe oder Schweine, noch Hunde werden uns fressen.)96

„Die Helden in den Sagen ziehen meist nicht als heroische Einzelne in den Kampf, sondern in einem und für ein Kollektiv“.97 Ich halte diese Aussage teilweise für falsch. In einer Welt, in der die Ehre des Kampfes und die Dramatik großer Taten wichtig waren, versuchte man zu vermeiden, dass die eigenen Taten in dem Durcheinander der Schlacht übersehen werden könnten. Die Helden des Rolandsliedes, des Táin Bo Cúalnge, der Ilias oder anderer Sagas kämpfen stets in Einzelkämpfen. Der Kampf war eine wichtige Gelegenheit für den Kriegsspezialisten, als Einzelkämpfer (!) die Treue zu seinem Herrn, aber auch seine eigene Kühnheit zu beweisen98, und die Ehre der Ehrgemeinschaft, der er angehörte, zu vermehren. Zudem war es auch für die Chronisten oder für die Dichter, die solche Ereignisse zur ewigen Erinnerung niederschrieben, viel leichter, einen Einzelkampf als ein chaotisches Gemetzel zu beschreiben. In „Kriegen der Krieger“99 wurden kaum strategische Tricks angewendet, d. h., die Größe des feindlichen Heeres war irrelevant und Fallen galten als Kennzeichen ehrloser bäuerlicher Kriegsführung. Es war eigentlich erwünscht, auf einen zahlreicheren 94

In der Schlacht wird Roland „fiercer than a lion or a leopard“ (ROLAND, S. 71). Viele Forscher haben die Tendenz, den furor als rein sozial-ethisches Phänomen zu betrachten, indem sie ihn mit dem Begriff fortitudo verbinden (vgl. U. Friedrich 1999, S. 165), wie es auch manche Quellen tun. Ich finde aber eine solche Bestimmung der Semantik des Wortes unzureichend und einseitig. Furor deutet nicht auf Tapferkeit hin, sondern eher auf die Freiheit von jeder Moral und auf einen göttlichen ekstatischen kriegerischen Wahn. 95 Vgl. z. B. Gesta Gvillelmi, II, 23, S. 136/ 137. 96 ROLAND CXXXII, 1750-1. 97 P. Dinzelbacher 1993, S. 35. A. Borst meint auch, dass es die Einzelgefechte erst am Ende einer Schlacht gab, wenn sich die Schlachtreihen auflösten (vgl. A. Borst 1979, S. 426). Vgl. dagegen J.-P. Bodmer 1957, S. 130. 98 Vgl. U. Friedrich 1999, S. 165 und M. Chibnall 1987, S. 137f. 99 Ich meine damit die Kriegshandwerker, die zweite Funktion. Kriege wurden auch von Bauern oder Bürgern geführt, aber unter anderen Leitwerten.

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Gegner zu treffen, da dies die Möglichkeit bot, die eigene Tapferkeit und Selbstlosigkeit100 ehrenvoll unter Beweis zu stellen. Ein ehrenhafter Kämpfer machte sich nie die geografischen Gegebenheiten des Schlachtfeldes zunutze. In der Beschreibung der Schlacht von Maldon erfahren wir, dass Lord Byrhtnoth, obwohl er weniger und unerfahrene Soldaten hatte, nicht vom Vorteil profitieren wollte, den ihm das Gelände bot, weshalb er der gegnerischen Armee erlaubte, auf das offene Feld zu ziehen, was den Angelsachsen zum Verhängnis wurde: Sie verloren den Kampf, der Earl und seine Vasallen blieben tot auf dem Schlachtfeld zurück. Für die Ehre hat Byrhtnoth sein eigenes Leben und dasjenige seiner Gefolgsleute geopfert (d. h. verschwendet).101 Die Vasallen selbst nahmen aber dies nicht so wahr. Sie konnten sich nicht anderes vorstellen; ihren Herrn zu überleben, wäre für sie die größte Unehre, die einem Gefolgsmann auf dem Schlachtfeld widerfahren konnte. „Thanes will not be able to taunt me in that nation / That I meant to desert this militia, / To seek my homeland, now that my leader lies dead.“102

Das symbolische Zeichen der Kriegs- und Ehrgemeinschaft war die gegenseitige Treue. Der Herr sollte seinen Mannen Schutz bieten, sie gegebenenfalls rächen, und die Vasallen sollten ihrem Herrn als Gegenleistung bedingungslos Rat und Hilfe – insbesondere militärische Hilfe103 – gewähren. „Der Verstoß gegen diese Tugend durch Untreue führte zum Ehrverlust. Dem mittelhochdeutschen triuwe kommt mindestens eine zweifache Bedeutung zu. Im Althochdeutschen hatte triuwa die rechtliche Akzeptanz eines Vertrages, aber die tiefe Bedeutung war eine symbolisch-ethische.104 Die Ausübung der Treue bringt Ehre, äußeres Ansehen ein und wird darüber hinaus auch als Hinweis auf eine innere Ehrenhaftigkeit gewertet“.105 Treue bedeutet vor allem Hingabe und in einem mystischen Sinne Verschmelzung. Die Ehrgenossen sind ein einziger Körper und haben eine einzige Ehre zu verteidigen. Treue schafft auch Verwandtschaft.106 Treue heißt in den meisten Fällen im Mittelalter Selbstlosigkeit und Aufopferung des Vasallen. Das Waltharius-Lied zeigt in der Kampfszene zwischen Waltharius und König Gunther, was es heißt, ein treuer Gefolgsmann zu sein. Dem König wird von Waltharius ein Bein abgeschnitten; er fällt auf den Boden und wartet auf den Todeshieb: 100

Vgl. U. Friedrich 1999, S. 165. Der Autor der Dichtung betrachtet die Tat Byrhtnoths als ofermod (= lat. superbia, dt. Übermut) (vgl. H. Gneuss 1976, S. 13). 102 MALDON 216-22, Scragg Übersetzung S. 27. 103 Vgl. U. Frevert 1991, S. 20. 104 Vgl. D. H. Green 1965, S. 117f. 105 F. Guttandin 1993, S. 77. Vgl. J. Fleckenstein 2000, S. 125. 106 Der Vasall Hagen nennt seinen Herrn pater (WALTHARIUS, S. 61.) 101

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„Da erbleichte der Vasall vor Schreck, als sein Herr niedersank. Alphers Sohn [Waltharius] hob aufs Neue das blutige Schwert, und brannte darauf, dem Gestürzten den Todesstreich zu versetzen. Doch Hagen, der Recke, nicht achtend des eigenen Schmerzes, streckte das erzgeschiente Haupt vor und hielt es dem Schlage entgegen.“ 107

Solche insignia (im Kampf für den Herrn zugefügte Wunden) brachten einem Vasallen unsterbliche Ehre und Ansehen. Die Treue ist die erste der Tugenden. Die biologische Familie bedeutet nichts im Vergleich zu der Familie der Ehre, deren Repräsentant der dominus ist. Hildebrand verlässt seine junge Frau und sein neugeborenes Kind Hadubrand, nur weil er seinen Herrn ins Exil begleiten wollte/musste: „Einstens er ostwärts ritt, floh er Otachers Hass, / dahin mit Dietrich und seiner Degen vielen. / Da ließ er Gattin im Lande zurück, / die Kleine im Hause, das Kind unerwachsen, / des Erbes beraubt.“ 108

Die harten und gewaltsamen Elemente des kriegerischen Ehrenethos’ beeinflussen nicht nur die mittelalterliche Gesellschaftsstruktur, wie ich in den ersten zwei Kapiteln dieses Teiles zeigte, sondern auch die Theologie der Zeit. Gott kann in einer feudalen Ordnung niemand anderer sein als ein feudaler, um seine eigene Ehre besorgter Herr.

„Nihil ergo servat Deus justius quam suae dignitatis honorem“: Die feudale Persönlichkeit Gottes In diesem Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, wie sich alle oben dargestellten sozialen Realitäten des Feudalismus im religiösen Bereich widerspiegeln. Zu diesem Zweck benutze ich zwei hochmittelalterliche Quellen: die altsächsische Übersetzung der Bibel aus dem 9. Jahrhundert und das theologische Werk „Cur Deus Homo“ von Anselm von Canterbury (11. Jahrhundert).109 Es stellte sich immer wieder die Frage, ob eine Friedensreligion wie das Christentum auf einem Kontinent der kriegerischen heidnischen Kulturen unberührt hätte bleiben können. Es ist hier ein interessanter kultureller 107

Palluit exsanguis domino recidente satelles. / Alpharides spatam tollens iterato cruentam / Ardebat lapso postremum infligere vulnus. / Immemor at proprii Hagano vir forte doloris / Aeratum caput inclinans obiecit ad ictum (WALTHARIUS, S. 110). 108 HILDEBRANDLIED 18-22, S. 37. 109 Das Thema der Gottesehre und der Verletzung dieser Ehre durch den Menschen ist in der scholastischen Theologie ziemlich verbreitet, allerdings mehr als kirchenrechtliches Thema (vgl. G. Schwerhoff 1995). Für das Hochmittelalter aber habe ich nur die zwei hier genannten Quellen, die mir relevant erscheinen. Der Heliand wird von der Forschung eigentlich gar nicht zur Ehre Gottes in Beziehung gesetzt.

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Prozess zu beobachten. Das Christentum, obwohl es bereits angenommen und zur offiziellen Religion geworden war, wurde ständig „angegriffen“ und von Mentalitäten und heterogenen Wertungen verändert, welche ihm ursprünglich eigentlich fremd waren. Die enge Verbindung und gegenseitige Beeinflussung zwischen dem Christentum und den meistens noch heidnischen Volkskulturen Europas zeigen aber, dass diese Religion beliebt war, da sie nicht fremd blieb, sondern ständig von den Gläubigen an ihre Weltanschauungen angepasst, „abgemildert“ und neu interpretiert wurde. Erst seit dem Hochmittelalter kann man behaupten, dass das Christentum eine europäische Religion wurde, die den europäischen Menschen, ihren Idealen und Hoffnungen entsprach. Denn viele christliche Wertungen waren und blieben für einen Menschen, der sein Leben ständig in Kämpfen aufs Spiel setzen musste, der aus seinem Heimatort von anderen Neuankömmlingen verjagt und dazu gezwungen wurde, selbst zu einem Umherziehenden und Plünderer zu werden, fremd und unverständlich. Der Krieg war Teil des Lebens, von der klassischen Ruhe, Schönheit, dem geistigen Müßiggang des Mittelmeerraums war nichts zu spüren. Das Christentum wurde gewissermaßen gezwungen, sich der „neuen Welt“ in überraschender Weise anzupassen. Aufgrund dieser Fremdheit blieben viele Völker Europas bis in das Hochmittelalter hinein heidnisch. Sie konnten eine Religion ohne eine durch dramatische Kriegstaten gesicherte Unsterblichkeit nicht begreifen. Wie ist es möglich, dass eine Welt, in der man täglich kämpfen muss, ohne Krieg weiter besteht und zugleich ihre Ordnung behält? So mussten auch diejenigen Sachsen denken, für die im 9. Jahrhundert die Bibel übersetzt wurde. Es ist verwunderlich, dass man in dem Werk aus der Feder des Übersetzers eine ganz neue Gestalt Christi entdeckt. Er ist ein europäischer Mensch, ein thane, ein Genosse derjenigen, die seine „Saga“ (Der Heliand110 genannt) in den dunklen und ruhmreichen Met-Hallen hörten.111 Die Saga beginnt mit einer klassischen germanischen Formel: Der Dichter will den Gästen „the Word of God, the famous feats (altsächs. marithagifrumida) that the powerful Christ (altsächs.: riceo Christ112) accomplished

110 Obwohl ich kein Kenner des Altsächsischen bin, habe ich unter anderem die Auflage von Eduard Sievers (Halle 1878) für die wichtigsten Begriffe herangezogen. Als Grundlage habe ich die englische Übersetzung benutzt, da sie sorgfältiger den sozialen feudalen Kontext des 9. Jh. berücksichtigt. 111 „[A] unique cultural synthesis between Christianity and Germanic warrior-society, a synthesis that would ultimately lead to the culture of knighthood and become the foundation of medieval Europe“ (G. R. Murphy, S. J., „Introduction to the Translation“, in: HELIAND, S. xiii). 112 maritha-gifrumida= berühmte, bekannte, ruhmreiche Taten; das Adjektiv riceo bzw. rikeo bedeutet „gewaltig“, „mächtig“.

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in words and in deeds among human beings“113 bringen. Christus wird als ein Mächtiger dieser Welt beschrieben, der mehrere Proben bestanden hat. Somit hat er von Anfang an die Eigenschaften eines germanischen Helden angenommen. Christus wird in einer Welt geboren, in der die leitenden Wertungen Ehre, Waffenbruderschaft114 und Treue sind. Schon bei der Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers im Tempel (Lk 1, 5-20) sagt der Engel Gottes zum Priester Zacharia: „God said that I should say to you that your child will be a warrior-companion (altsächs. gisith115) of the King of Heaven (altsächs. heban-kuning)“. Durch diese Ehre erkennt Gott die Treue seines Vasallen Zacharia und dessen Familie an, da „they honoured (altsächs. diuridon) our Chieftain (altsächs. drohtin); they never desired to be cause of anything bad or treacherous, illegal or sinful, among mankind (altsächs. ni weldun derbeas with under mancunie)“.116 Der Tempel Gottes an sich ist nichts anderes als die Wohnung eines mittelalterlichen germanischen Herrschers, er ist ein uuinseli (= Wein-Saal).117 Wie ich oben gezeigt habe, die Met-Halle war ein wichtiger Bestandteil der feudalen Autorität und Ehre. In ihr versammelten sich der Herr und seine Ehrgenossen, also die Gefolgsleute, um das Getränk der Krieger118, den Met (oder Wein), zu trinken, Kriegstaten zu erzählen und Rachepläne zu schmieden. Walhalla ist ebenso als Met-Halle imaginiert worden. Das Christentum ist folglich eine Religion der kriegerischen Ordnung, die Darstellung einer idealen Gefolgschaftsbeziehung in einer sagenhaften vergangenen Welt der Ehre und Treue. Daher ist die Sünde der ersten 113

HELIAND, S. 4. Hinsichtlich der „Germanisierung des Christentums“ gibt es zwei gegensätzliche Positionen: 1. Manche Forscher meinen, dass der Heliand eine Transponierung des neutestamentlichen Berichtes in altgermanische Formen bzw. Institutionen sei (siehe die rezente englische Übersetzung von G. R. Murphy), und 2. andere Forscher meinen, dass der Heliand in einer Zeit geschrieben wurde, als die altgermanischen Institutionen nicht mehr existierten und ihre Namen derart generalisiert wurden, dass ihr Spezifikum verloren ging, z. B. das Appellativum für Christus truhtin bzw. drohtin (= Herr, Lord), obwohl es ursprünglich eine exklusiv militärische Bedeutung hatte (Kriegsherr bzw. Gefolgschaftsherr) (vgl. D. H. Green 1965, S. 270ff). In der Zeit des Heliandes sei dies nur die allgemeine Benennung für Gott gewesen, ohne jene feudal-kriegerischen Nuancen (vgl. D. H. Green 1965, S. 60f, 308ff und W. Baetke 1944, S. 100ff). Die Theorie dieser letzten Schule kann aber meiner Meinung nach nicht verneinen, was im Text evident ist, deswegen habe ich die englische Übersetzung übernommen. 115 HELIAND, S. 7. Der altsächsische Begriff ist gisith, der von den deutschen Übersetzern als „Gesinde“, „Gefährte“ (so K. Simrod) oder als „Gefolge“, „Dienstmann“ (so O. Behaghel) übertragen wurde. 116 HELIAND, S. 6. 117 HELIAND, S. 11. 118 Vgl. J. de Vries 1943, S. 170. 114

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Menschen im Heliand nichts anderes als untrewa (d. h. Untreue), die abscheulichste Sünde, die ein Mensch begehen kann.119 Josef, Marias Mann, war kein Tischler, sondern ein thegan (eng. Thane), d. h. ein Adliger120, aus dem ruhmreichen Clan Davids: „Joseph and Mary both belonged by birth to his household (altsächs. hiwiski121), they were of good family lineage (altsächs. kunni god), of David’s own clan (altsächs. knosal)“.122 Die Geburt Christi in Armut war für die Adressaten dieser Erzählung nicht akzeptabel. Der allmächtige König des Himmels konnte nicht in einem Dorf außerhalb der Burg geboren werden; die Geburt intra muros war kriegerisch-adliges Vorrecht.123 Sehr bedeutsam für den edlen Kontext der Saga wird das Gebet Simeons im Tempel (Lk 2, 25-32), als er das Christkind in die Hände gelegt bekommt: „’Now Lord’ he said, ‘will I gladly ask you, since I am now very old, that you let your devoted servant (altsächs. skalk) go away from here, to travel under your peaceful protection (fridhuwara124) to where125 my forefathers, brave warriors (dedun126), went when they left this world. My wish is fulfilled on this most precious day, now that I have seen my Chieftain, my gracious Lord, just as it was promised to me long ago. You are a powerful light to all foreign peoples who have yet not recognized the All Ruler’s might, and Your coming, my Lord chieftain, brings glory and honour (diurdhon) to the sons of Israel, your own clan, your own dear people’“ 127.

Der Ruhm und die Ehre des Herrn strahlen auf alle Angehörigen seines Clans aus, und wir finden in diesem Gebet Simeons eine deutliche Spur von der charismatischen Herrschaft der Germanen, bei denen eine ganze Sippe ihre Ehre aus den Taten ihres eigenen Helden ableiten konnte. Eine erstaunliche Parallele zum ersten Teil des Gebetes findet man in dem Bericht über die Schlacht von Maldon. Der auf dem Schlachtfeld sterbende Byrhtnoth richtet dieses Gebet an Gott: 119

Vgl. HELIAND, S. 37. HELIAND, S. 12. 121 O. Behaghel übersetzt hiwiski nur mit „Familie“; es ist aber die familia im mittelalterlichen feudalen Sinne gemeint: M. Hayne übersetzt das Wort mit „Familie“, „Geschlecht“, „Haushaltung“, „Genossenschaft“. 122 HELIAND, S. 15. 123 Vgl. G. R. Murphy, S. J., „Introduction“, S. xiv. 124 fridhuwara = „Friedensschutz“ (so O. Behaghel). 125 Es ist schade, dass der heutige Forscher nicht wissen kann, wie die Zuhörer der Saga sich das Paradies vorstellten. Anscheinend schweigt der Dichter taktvoll und vertieft dieses schwierige Problem nicht. Es ist aber nicht auszuschließen, dass sie an Walhalla dachten, solange der Übersetzer ihnen nicht sagte, dass das christliche Universum ein friedliches sei. 126 Dedun gehört zur Wortfamilie von dad = „Tat“ und bedeutet demnach „mit Taten“, also mit bekannten, berühmten Taten, d. h. Kriegstaten. 127 HELIAND, S. 19. 120

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„Now merciful God I have the greatest need / That you should grant grace to my spirit / So that my soul might journey to you, / Into your dominion, Lord of angels.“ 128

Die Pflicht des feudalen Herrn, seinen Anhängern Schutz zu bieten, wird in diesen zwei Quellen stark betont. Der Grund dafür, dass sich ein Krieger einer bestimmten Ehrgemeinschaft anschloss, war seine Überzeugung, dass dort seine Ehre am besten garantiert werden konnte. Christus fragt bitter am Kreuz: „Father almighty, why have You abandoned me like this, beloved Chieftain, holy King of Heaven? Why is your help and your support so far away (altsächs. endi thina helpa dedos, fullisti so ferr)? I am here among the enemy (altsächs. fiondon) being tortured terribly“.129 Was für eine Meinung müssen die harten Gefolgsmannen, die das zufällig hörten, von der Treue und Vertrauenswürdigkeit eines solchen Herrschers gehabt haben? Ich möchte nur anmerken, dass im Feudalismus die Verletzung der Schutzpflicht einer der wenigen Gründe war, die einen Vasallen von seinem Treueschwur entbanden. Dass Gott ein zum Schutz seiner Anhänger verpflichteter Herr war, zeigt uns ein Bericht des 11. Jahrhunderts: In einem Kampf in Rom wird die St. Petrus-Kirche angezündet, was eine große Empörung unter den Bewohnern provoziert. Die Masse wird nervös und rebellisch und schreit heraus, dass „si non peruigil propriae foret ad presens defensor ecclesiae, multos in orbe terrarum a suae fidei professione decidere“.130 Der Dichter des Heliand hat keine Angst, sensible theologische Probleme zu betrachten, solange sie nach dem kriegerischen Geschmack der Zuhörer ausgelegt werden konnten. Die Kenosis Christi, seine Demütigung, die der christlichen Soteriologie so wichtig ist, bekommt im Heliand interessante Konturen. In der „offiziellen“ Theologie betont man die völlig demütige Aufopferung Christi, der für unsere Erlösung und aus Menschenliebe bereit war, seine göttliche perfekte Natur mit der bescheidenen, von der Sünde verschmutzten menschlichen Natur zu vereinigen. Kenosis gibt es auch im Heliand. Es wird uns berichtet, dass Josef und Maria „[a]lways had the king of Heaven, the Son of the chieftain, the Protector of Multitudes as their companion“131. Es ist erstaunlich, wie es dem Dichter gelingt, den schwierigen theologischen Problemen eine feudale Konnotation zu geben, sodass er von den Zuhörern verstanden wird, ohne dass er die tatsächliche christliche Lehre zu grob verletzt und in Ketzerei verfällt. Christus verlässt nie

128

MALDON 175-9. HELIAND, S. 186. 130 GLABER II, vii, 13. 131 HELIAND, S. 21. 129

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seine ehrenhafte und ruhmvolle Aura. Bei seiner Verhaftung kämpfen132 er und seine Gefährten gegen „the hostile forces of the enemy“.133 Die Apostel bilden als Dienstmannen ein Karree um Christus und wollen tapfer kämpfen. Der Kommandant Petrus verfällt in den kriegerischen Wahnsinn, den berühmten furor teutonicus (oder „Beserker-Wut“). Er ist bereit, die Ehre des Herrn und seine eigene zu bewahren, und, falls nötig, sich für sie verschwenderisch in einem chancenlosen Kampf aufzuopfern.134 Schließlich möchte ich ein letztes archaisches Motiv mit indoeuropäischen Wurzeln nennen, das der Dichter mit dem Tod Christi am Kreuz verbindet. In der christlich-römischen Tradition gilt die Kreuzigung als ehrenloser Tod, der Dichter des Heliand kann aber nicht akzeptieren, dass dem Herrscher der Welt etwas Unehrenhaftes widerfährt. Deswegen gibt er der Kreuzigung eine ehrenhafte Nuance: Für das Verb „kreuzigen“ benutzt er den Ausdruck „auf das Holz hängen“135, der in dem germanischen Zuhörer Erinnerungen an das Opfer der ersten Funktion durch das Aufhängen weckt, das ich im ersten Teil dieser Arbeit analysiert habe. Man könnte einwenden, dass eine für ungebildete Leute gedachte barbarische Übersetzung der Bibel nicht relevant für die allgemeine christliche Theologie des abendländischen Mittelalters sei. Deswegen werde ich die feudale Persönlichkeit Gottes in der Satisfaktionstheorie des hochgebildeten Anselm von Canterbury untersuchen. Zuvor will ich klarstellen, dass das Ziel meiner Analyse nicht die Widerlegung dieser Theorie des mittelalterlichen Christentums ist. Ich bin mir bewusst, dass „Anselm’s feudal imagery is not likely at first sight to commend his thought to modern readers, and it has offered an easy target for indignation and ridicule“.136 Vielmehr hoffe ich darauf, durch meine Untersuchung die Existenz und Entfaltung einer bestimmten Mentalität hinsichtlich der Ehre im Mittelalter besser verstehen zu können. „Everything of importance in Anselm’s argument can survive the removal of every trace of feudal imagery and the supposed contamination by Elements of Germanic law“.137 Es ist mir klar, dass die feudalen Elemente der Genugtuungstheorie nur eine formale Schicht

132 Im Heliand wird Christus im Gesang 49 sigidrohtin genannt, wobei sigi das Stammwort für den kriegerischen Sieg auf dem Schlachtfeld ist. Die richtige Übersetzung des Wortes wäre also „Siegherr“ (vgl. auch die Anmerkung des Übersetzers in HELIAND, S. 134, Anm. 194). 133 HELIAND, S. 148. 134 Vgl. HELIAND, S. 150, Anm. 250. 135 Vgl. HELIAND, der 66. Gesang. Interessanterweise wird derselbe Ausdruck auch von der Hymnologie der Ostkirche mit Vorliebe benutzt. 136 R. W. Southern 1990, S. 221. 137 R. W. Southern, 1990, S. 221.

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einer jahrhundertelangen christlichen Tradition138 bilden, eine Anpassung an zeitgenössische Denksysteme. Die Formen aber sind genau das, was ein Mentalitätsforscher benötigt, um eine langfristige kulturelle Konstante zu verfolgen und sie zu verstehen. Während wir im Heliand den Diskurs über die Ehre Gottes erst mühsam aus dem Kontext erschließen mussten, beteiligt sich Anselm mit seinem Werk „Cur Deus Homo“ (ca. 1093-97 geschrieben) explizit an diesem Diskurs.139 Das Werk wurde in England begonnen und in Italien abgeschlossen. Es lässt sich in eine lange englische Tradition einordnen, nach der man sich Gott gemäß der germanischen (bzw. feudalen) Ehranschauungen als einen kriegerischen Herrn vorstellte.140 Der Kontinent bildete aber davon keine Ausnahme. Es sind uns jene Geistlichen gut bekannt, die sich in kriegerischen Auseinandersetzungen einmischten, kämpften und töteten, oftmals effizienter bzw. häufiger als ein Berufskrieger. Der Erzbischof Turpin ist ein Beispiel, das mir spontan in den Sinn kommt. „Ehre und Ruhm waren zentrale Bestandteile des ritterlichen Ethos [obwohl wir im 11. Jahrhundert noch nicht über einen Ritterstand sprechen] im Mittelalter, obgleich dies einer Reihe theologischer Erörterungen, die in jener Zeit angestellt wurden, widersprach. Von diesen wurden die Ruhm- und Ehrsucht als sündig und eitel verurteilt, da wahrer und echter Ruhm nur in Gott zu erfahren sei. Der Christ habe bei Gott und nicht bei den Menschen nach Ruhm zu suchen“.141 Das hinderte die Kleriker aber nicht daran, zu kämpfen und als Krieger Christen zu töten. Albert von Stade beschreibt den Erzbischof Christian von Mainz in einer Schlacht vor der Stadt Bologna (1172). Der Geistliche verheert mit seinen Mannen Regionen in Italien. Er reitet wie jeder Feldherr, trägt eine purpurne Jacke über seinem Panzer, hat einen goldenen Helm auf und kämpft mit einer Keule, mit der er neun Gegner erschlägt.142

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Vgl. B. Funke 1903, S. 10 ff. Bei mir mit CDH abgekürzt. Als nützliche allgemeine Einführung in das Werk Anselms siehe J. Hopkins 1972. 140 Siehe in demselben Kapitel die zwei Zitate auf der Seite 118. 141 F. Guttandin 1993, S. 111. 142 „Christianus Moguntinus arhiepiscopus, imperialis aulae cancelarius et sedis apostolicae legatus, cum brabantinis per Longobardiam et Tusciam omnia depopulans, bononienses invasit, et in equo residens, indutus thorace, et desuper tunica iacintina, habens in capite galeam deauratam, et in manibus clavam trinodem, ipse in eodem proelio dicitur stravisse novem homines propria manu“ (apud K. Görich 2001, S. 379). Es ist gut, dass uns gesagt wird, dass er ein Geistlicher war, sonst hätten wir ihn wegen seines martialischen Auftreten nicht von einem normalen Krieger unterscheiden können. Der Erzbischof trägt eine tunica iacintina (rot ist die Farbe des Kriegers) und tötet neun Menschen, obwohl das göttliche Gebot sagt: „Du sollst nicht töten“. 139

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

Tatsächlich fand man im Neuen Testament wichtige Argumente für das Verständnis der Christen als milites Gottes – so bei Paulus im Galaterbrief 6, 17: ego enim stigmata domini Jesu in corpore meo porto. Dies genügte den Christen des Römischen Reiches, um eine Analogie zu militärischen Zeichen zu sehen, die die römischen Legionäre auf der Hand eintätowiert hatten. Die Germanen, wie man sie aus der Geschichte kennt, sollen ebenfalls solche kriegerischen Begriffe (obwohl sie von Paulus in guter Absicht benutzt und von den Kirchenvätern metaphorisch ausgelegt worden sind143) ad literam verstanden haben. Der Christ ist also auch ein Soldat im Dienste Gottes, und das Kriegshandwerk ist nicht mehr mit dem christlichen Geist inkompatibel.144 Anselm sieht den Christen auch als einen miles Christi. Der Mensch wurde geschaffen, ut vinceret diabolum non consentiendo suadenti peccatum, ad excusationem et honorem Dei et ad confusionem diaboli.145 Der Mensch ist der Vasall, der für die Ehre seines Herrn kämpfen muss. Wenn wir zu der anselmschen Theorie der Genugtuung zurückkehren, bemerken wir von Anfang an ihren juristischen Charakter.146 Gott erbringt für uns nach dem Potlatsch-Prinzip durch das Werk Christi eine notwendige Leistung: „[E]r erlöste uns von den Sünden und von seinem Zorne und von der Hölle und von der Gewalt des Teufels, wegen dem er selbst kam, um ihn für uns zu bezwingen, da wir es nicht vermochten.“147

Doch Gott erwartet eine Gegenleistung; durch seine Erlösung stehen wir in seiner Schuld und sind folglich seine Vasallen, weil er uns durch seine Macht aus der potestas diaboli herausgeholt hat. Somit ist die Erlösung ein juridischer Akt: Wir sind gerettet, weil uns Christus sozusagen „freigekauft“ hat und so gehören wir jetzt, nachdem er uns aus der Gewalt des Teufels befreit hat, dem Hause Gottes an. Dieser hatte uns de facto unter seiner Autorität. Im kriegerischen Ethos war es lobenswert, wenn sich ein Sohn für die Ehre des Vaters opferte, d. h. für die Ehre des Clans. Der Gesprächspartner Anselms, Boso, fragt, warum Gott-Vater akzeptiert, dass sich der Sohn opfert. Anselm antwortet:

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Vgl. D. H. Green 1965, S. 323ff und 400ff. Vgl. S. Krüger 1984, S. 568 f. CDH XXII. 146 Die Forscher stimmen der Aussage zu, dass Anselm stark von dem feudalen Symbolismus beeinflusst wurde (vgl. J. McIntyre 1954, S. 77 und 82 ff und R. W. Southern 1990, S. 222). 147 „[R]edemit nos a peccatis et ab ira sua et de inferno et de potestate diaboli, quem, quia nos non poteramus, ipse pro nobis venit expugnare“ (CDH VI). 144 145

Verschwendungs- und Akkumulationsehre

161

„Im Gegenteil ist es höchste geziemend, dass ein solcher Vater einem solchen Sohne zustimmt, wenn er etwas Lobenswertes zur Ehre Gottes […] tun will.“148

Die Größe der Ehre steht in einem direkten Verhältnis zur Genugtuung. In dem feudalen Recht des Wergeldes „kostete“ das Töten (bzw. Beleidigen) eines Bauern weniger Geld als die Entehrung eines Adligen. Nach dieser Logik ist die Ehre Gottes nicht wiederherstellbar; der Mensch hat keine Möglichkeit, für die verletzte Ehre des Königs des Universums eine Entschädigung zu leisten: „Wer diese schuldige Ehre Gott nicht erweist, nimmt Gott, was ihm gebührt, und entehrt Gott; und das heißt ‚sündigen’. Solange er aber nicht einlöst, was er geraubt, bleibt er in Schuld. Und es genügt nicht, nur das zurückzugeben, was geraubt wurde, sondern wegen der zugefügten Entehrung muss er mehr erstatten, als er genommen hat.“ 149

Gott hat das Vergeltungsrecht für seine Ehre und ist somit ein Vorbild für die gerechtfertigte menschliche Gewalt: „Denn niemandem steht es zu, Vergeltung zu üben, als dem, der der Herr aller ist. Denn wenn die irdischen Gewalten das rechtmäßig tun, so tut er es, von dem sie dazu bestellt sind.“150

Solange er ein Teil dieser Welt (ordo rerum) ist, ist der Mensch Vasall bzw. Untertan des Herrschers dieser Welt. Ungehorsam und Untreue gelten wohl als direkter Angriff auf die Ehre des Schöpfers und als Missachtung seiner Autorität. Anselm benutzt für sein 13. Kapitel folgende Überschrift: Quod nihil minus sit tolerandum in rerum ordine, quam ut creatura creatori debitum honorem auferat et non solvat quod aufert. Der, der beleidigt hat, muss danach Genugtuung leisten. In dieser Intransigenz erkennen wir leicht das unflexible Denksystem des Mittelalters, v. a. des mittelalterlichen Kriegers, der keine Kompromisse einging, wenn seine Ehre auf dem Spiel stand.151 Die Heiligen sind genauso wie Gott sehr empfindlich in Ehren148

„Immo maxime decet talem patrem tali filio consentire, si quid vult laudabiliter ad honorem Dei“ (CDH X). 149 „Hunc honorem debitum qui Deo non reddit, aufert Deo quod suum est, et Deum exhonorat; et hoc est ‘peccare’. Quamdiu autem non solvit quod rapuit, manet in culpa. Nec sufficit solummodo reddere quod ablatum est, sed pro contumelia illata plus debet reddere quam abstulit“ (CDH XI). J. Hannig berichtet ebenfalls darüber, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft das Wergeld immer höher als der zugefügte Schaden war. Man bezahlte auf diese Weise auch die verletzte Ehre des Beschädigten (vgl. J. Hannig 1988, S. 19). 150 „Ad nullum enim pertinet vindictam facere, nisi ad illum qui dominus est

omnium. Nam cum terrenae potestates hoc recte faciunt, ipse facit, a quo ad hoc ipsum sunt ordinatae“ (CDH XII). 151

Vgl. L. Heinrichs 1909, S. 106, Anm. 2.

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

sachen. Die exempla und vitae des Mittelalters berichten, wie die Heiligen es verstanden, ihre Ehre zu behaupten.152 Es gibt also eine verbreitete Mentalität, dass die kriegerische Ehre bewahrt und gewaltsam eigenhändig verteidigt werden muss. Die Theorie Anselms rief und ruft noch immer scharfe Kritik in allen drei Konfessionen hervor.153 Die Ostkirche z. B. hat seine Theorie als zu äußerlich abgelehnt. Die Sünde, so Anselm, schaffe nur eine juristische Schuld, ist also keine ontologische Schwächung der menschlichen Natur. Doch eben diese Vorstellung von der ontologischen Schwächung wird von der Ostkirche vertreten, für sie habe das Tun Christi als Hauptziel eine Verbesserung der menschlichen Natur von innen, ist also nicht nur Rechtssache. Deswegen wird in der Ostkirche der soteriologische Begriff restauratio (Wiederherstellung) statt satisfactio (der nur einen juristischen äußerlichen Inhalt hat) bevorzugt.154 Die Auffassung, die uns Anselm überliefert, ist davon geprägt, dass in seiner Zeit die Ehrvorstellungen von wichtigen kriegerischen Wertungen bestimmt waren, nämlich von Treue, militärischer Gefolgschaft, Aufopferung und Ruhm. Diese Ehrvorstellungen sind wesentlich verschieden von denen des dritten Standes, der laboratores.

Arbeit und Arbeitende Für die Konturierung der Verschwendungs- und Akkumulationsehre ist es nötig, sich ein Bild über die Wahrnehmung der Arbeit im Bereich der unterschiedlichen Ausprägungen der Ehrsemantik zu machen.155 In den Gesellschaften der germanischen Vergangenheit und des Frühmittelalters genossen nur die kriegerischen Wertungen Ansehen und Ehrbarkeit. Wichtige Tätigkeiten wie die physische Arbeit der Ackerbauern, der Hirten usw., obgleich diese sehr nötig und in einer funktionalen Gesellschaft unersetzbar waren, standen doch am Rande des gesellschaftlichen Wertungssystems. Eine Ehre dieser Betätigungen – im Sinne eines Summenbegriffs der Wertungen und Handlungen einer sozialen Funktion – gab es nicht, außer wahrscheinlich in den Augen der Arbeitenden selbst. Die Quellen des 152

A. Gurjewitsch 1987, S. 80. Vgl. R. Guardini 1923, S. 77, Anm. 1. Auch die Katholiken haben ihn kritisiert, z. B. Dunn Scotus (vgl. B. Funke 1903, S. 102f). Die erste protestantische Kritik der feudalen Vorstellungen von der Ehre Gottes finden wir bei R. Höhne (siehe seine Dissertation „Anselmi Cantuariensis philosophia cum alliorum illius aetatis decretis comparatur eiusdemque de satisfactione doctrina dejudicatur“, Cygneae 1867). 154 Vgl. I. Todoran/I. Zagrean 1991, S. 248-9. 155 Siehe den Überblick über die Bewertung bäuerlicher Arbeit in den verschiedenen Epochen der europäischen Kultur bei A. Gurjewitsch 1997, S. 33ff. 153

Verschwendungs- und Akkumulationsehre

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Mittelalters sind „Siegergeschichten“156 und schweigen über jene Realitäten, die ihre Verfasser nicht interessierten.157 Vor der Gottesfriedensbewegung gibt es kaum direkte Informationen über den dritten Stand.158 Deswegen bleibt mir nur die Möglichkeit, meine Meinungen oftmals aufgrund der späteren Literatur (ab dem 12.-13. Jahrhundert) zu bilden. In den frühmittelalterlichen Quellen des 9. bis 11. Jahrhunderts tauchen die Bauern selten auf, und wenn doch, dann nur in einem negativen Sinne, d. h., sie dienen als Beispiele, um zu zeigen, wie man nicht sein sollte bzw. was unehrenhaft ist.159 Ich verweise hier auf die gute Quellen-Sammlung zum Bauernstand im Mittelalter von Günther Franz.160 Im Bereich der „Werte“ gaben es erstaunliche Paradoxa. Die Faulheit z. B. wurde sowohl in dem Wertungssystem der verschwenderischen Ehre als auch in dem der Akkumulationsehre abgewertet und abgelehnt. Tätig zu sein war161 für beide Wertungssysteme eine Tugend, aber für die Krieger bedeutete der Fleiß (Aktiv-Sein) ständiges Feiern, Kämpfen usw., währenddessen die Bauern in genau diesen Betätigungen Faulheit und unnötige Lebensverschwendung sahen.162 In einer von Kriegern und Aristokraten geregelten Ordnung waren die Bauern und die Arbeit ehrlos und missachtet. Es sind nicht nur vereinzelte Fälle, sondern es kommt zu einer Ideologie der Absonderung, der Unterdrückung und des Misstrauens.163 Ein bereits berühmt gewordenes Zitat von Hildegard von Bingen (12. Jahrhundert) begründet die soziale Ungleichheit, d. h. das geringere Ansehen mancher gesellschaftlicher Schichten. In ihrer Korrespondenz mit Tenxvind von Andernach (ca. 1150), die sie fragte, warum in ihrem consortium nur adlige und freie Frauen eintreten durften, antwortet die prophetissa teutonica mit 156 „Die mittelalterliche Literatur besteht vorwiegend in Lebensbeschreibungen von Heiligen oder in Heldenepen. Die wichtige handelnde Figur des hagiografischen Erzählens ist der Heilige, die der Epen der edle Krieger. Diese beide Figuren verkörpern die vorherrschenden gesellschaftlichen Ideale“ (A. Gurjewitsch 1997, S. 19). 157 Vgl. A. Borst 1979, S. 279. 158 Vgl. A. Gurjewitsch 1997, S. 18f. 159 Vgl. K. Bosl 1973, S. 6. 160 G. Franz 1974. 161 Diese Auffassung gehört aber noch nicht lange der Vergangenheit an. Im 20. Jahrhundert gab es noch Kulturen in Europa (z. B. balkanische Gesellschaften), die von der heroischen Lebensform (d. h. einer umfassenden kulturspezifischen Weltanschauung) geprägt waren, wobei die Faulheit eine wichtige Rolle in Verbindung mit der ostentativen Verachtung des Ackerbaus und anderer Tätigkeiten spielte (vgl. G. Gesemann 1943, S. 35 und 99ff). 162 Vgl. H. Bookmann 1994, S. 60. 163 Es gibt sogar Behauptungen der Forscher, dass in der merowingischen Zeit nur die Geistlichen und die Krieger als Menschen galten. Die erste Kanonisierung eines Heiligen mit bäuerlicher Abstammung findet erst im 13. Jahrhundert statt (vgl. J. Le Goff, „Labor...“, S. 92).

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

einer Metapher, dass kein Mensch in demselben Stall Ochsen, Esel, Schafe und Ziegen ungetrennt halte: „Welcher Mensch sammelt seine ganze Herde in einem einzigen Stall, Ochsen, Esel, Schafe, Böcke, ohne dass sie auseinanderlaufen?“ 164

Wie man aus der Frage Tenxvinds sieht, beruhte die Diskriminierung auf der „unterschiedlichen“ Ehrenhaftigkeit, d. h., für die Ehre – die im sozialen Bereich Freiheit und Reichtum schaffte – ist das Kriterium nicht der Reichtum, solange auch viele reiche ministeriales als Unfreie keinen Zugang zu dem oben genannten consortium hatten. Die hierarchisch strukturierten archaischen europäischen Gesellschaften legten besonders großen Wert auf den ordo: 1. Die Kirche als Gesetzgeber und als Garant der Einhaltung der Gesetze. 2. Die kriegerische Elite als von diesem ordo favorisierte Schicht. Diese beiden Eliten betonen extrem die Absonderung und Unvermischbarkeit der Klassen, sind intolerant und achten genau auf die Abstammung. 3. Der dritte Stand versteht ordo als Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichberechtigung.165 Die Missachtung dieser Ordnung wird als satanischer Akt aufgefasst166: „Die Untersuchung [hinsichtlich der sozialen Ungleichheit] steht bei Gott (Deus etiam habet scrutinium scrutationis in omni persona). Er hat acht, dass der geringere Stand (minor ordo) sich nicht über den höheren erhebe (ascendat), wie Satan und der erste Mensch getan (sicut et sathanas et primus homo fecerunt), da sie höher fliegen wollten (altius volare voluerunt), als sie gestellt waren (quam positi sunt).“ 167

Für einen Krieger oder für einen Geistlichen168 aus den Oberschichten galt Arbeit als unerträglich. Schon in der Etymologie des Wortes stecken 164 „Et quis homo congregat omnem gregem suum in unum stabulum scilicet boues, asinos, oues, hedos ita quod non discrepant se?“ (in Migne PL steht „dissipet se“); siehe die Übersetzung bei A. Führkötter 1965, S. 203. Ich habe die Zitate von A. Haverkamp 1984, S. 547 übernommen, da die Migne-Überlieferung der Korrespondenz weniger relevant ist (zum Vergleich siehe Migne PL 197, S. 338 D). Die Frage Tenxvinds war: „Außerdem – und das scheint uns nicht weniger merkwürdig – gewährt Ihr nur Frauen aus angesehenem Geschlecht den Eintritt in Eure Gemeinschaft. Nichtadligen und weniger Bemittelten hingegen verweigert Ihr fast durchweg die Aufnahme in eure Gemeinschaft“ („Pretera et quod his omnibus non minus mirandum nobis uidetur in consortium uestrum genere tantum spectabiles et ingenuas introducere, aliis uero ignobilibus et minus ditatis commansionem uestram poenitus abnuere“) (siehe A. Haverkamp 1984, S. 544 und Migne PL 197, S. 336 D; für die Übersetzung A. Führkötter 1965, S. 201). 165 Vgl. P. Dinzelbacher 1993, S. 19. 166 Vgl. A. Gurjewitsch 1991, S. 114. 167 Hildegard von Bingen in Migne PL 197, S. 338 A; Übersetzung A. Führkötter 1965, S. 203. 168 „In den Augen der Mönche verdiente die fleischliche Welt keine Aufmerksamkeit“ (G. Duby 1977, S. 162).

Verschwendungs- und Akkumulationsehre

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relevante Aspekte: Das französische travail hat seinen Ursprung in dem lateinischen tripalium, einem Folterinstrument. Die Arbeit ist also ein Folterinstrument in der Hand Gottes, durch das der Mensch für seinen Sündenfall bestraft wird.169 Man erklärt damit aber nicht, warum manche Schichten sich dieser Strafe entziehen konnten, und warum sich der Zorn Gottes nur gegen die Arbeitenden richtete.170 Arno Borst gibt ein wichtiges Zitat von Chorbischof Theganus von Trier (9. Jahrhundert) wieder: „Sie [die Kaiserratsmitglieder niedrigerer Herkunft] geben sich Mühe, ihre höchst schmutzige Verwandtschaft aus dem Joch verdienter Knechtschaft zu ziehen und ihr die Freiheit zu schenken“.171 Man bemerkt, dass die Verachtung und Ablehnung im Mittelalter üblich sind. Der Bischof zeigt sich davon überzeugt, dass die Knechtschaft, sprich die Unfreiheit und Ehrlosigkeit, eine verdiente Strafe sei. In einer Heldensaga, wie sie der Heliand war, konnte die Geburt Christi in einem Stall nicht begriffen werden. Für seine edlen, auf Ehrenhaftigkeit achtenden Zuhörer schreibt der Übersetzer die Geschichte um: Christus wird nicht in einem bäuerlichen Milieu geboren, von Haustieren umkreist, sondern er wurde nach seiner Geburt „wrapped in clothes and precious juweles“172. Diese entwickelte Absonderungstheologie des Mittelalters hat anscheinend wichtige historische Gründe. Die Bauern der Spätantike gehörten zu den letzten, die gemäß ihrem konservativen Traditionalismus das Christentum angenommen hatten.173 Die Kirche hatte an sie keine angenehmen Erinnerungen.174 Sie hat sich selbst in dem urbanen Milieu entwickelt und ihre Theologie und Begriffe sind dadurch geprägt.175 Der Name paganus (= Heide) leitet sich von dem lateinischen Begriff für Bauer ab. „Heide“ kommt von dem althochdeutschen heidan und beschreibt diejenigen, die auf dem Lande lebten (lat. rusticus), in großer Ignoranz, Rohheit und Feind169 Vgl. Gen 3, 17-19. Siehe B. Groethuysen 1978, S. 84ff und W. Kölmel 1980, S. 392. Schon die Antike verstand „Arbeit“ als Strapaze und Mühe: gr. ponos, (vgl. H. Kloft 1993, S. 326). Der lateinische Terminus labor ist umstritten: Manche Philologen meinen, dass dieser Begriff dieselbe negative Bedeutung wie ponos hat (vgl. H. Altevogt 1975, S. 7ff), während andere davon ausgehen, dass der Terminus in der römischen Kultur ethisch hoch bewertet werde (vgl. D. Lau 1975, S. 247ff) und keineswegs mit ponos verglichen werden könne (vgl. D. Lau 1975, S. 27ff). 170 Vgl. J. Le Goff 1993, S. 336. B. Groethuysen identifiziert zwei unterschiedliche Sichtweisen über die Arbeit: 1. die Perspektive der Kirche, aus der man die Arbeit als Mühe und Sorge ansah, und 2. die bürgerliche Wahrnehmung, wobei Arbeit Erfolg, Reichtum und Ansehen schuf (vgl. B. Groethuysen 1978, S. 88ff). 171 Bei A. Borst 1979, S. 269. 172 HELIAND, S. 16. 173 Vgl. J. Le Goff, „Clerical Culture and Folklore Traditions in Merovingian Civilization“, in: J. Le Goff 1980, S. 153-8, S. 154f und G. Duby 1977b, S. 217. 174 Vgl. A. Gurjewitsch 1997, S. 38ff. 175 Vgl. W. Boudriot 1928, S. 3 und 7.

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

schaft gegenüber „zivilisierten“ Wertungen176, z. B. dem Christentum.177 Für das Frühchristentum als eine im semitischen Raum entstandene Religion hat die Arbeit einen großen Wert. Paulus sagt deutlich, dass nur der, der arbeitet, essen soll (2. Thess 3, 10). Diese Auffassung aber ändert sich im Laufe der Zeit und im Verschwendungsdenken wird die Arbeit theologisch abgelehnt. Die alttestamentliche theologische Begründung der Absonderung stützt sich auf die Behauptung, dass die Bauern die Nachfolger Hams seien, des aufgrund eines sexuell geprägten Delikts (!) verfluchten Sohnes Noahs (1. Mose 9, 20-26), der stets der Untertan seiner Brüder sein musste.178 Ebenso wurde der Bauer zum servus anderer Schichten der tripartiten Gesellschaft.179 Das kontemplative Leben wird, nach dem Vorbild der zwei Schwestern Martha und Maria (Lk 10, 38-42), stets dem aktiven Leben vorgezogen. In den Evangelien wird nie erwähnt, dass Christus selbst arbeitet180, und er behauptet sogar, dass die Sorgen des Überlebens Gott überlassen werden sollten (Mt 6, 25-34; Lk 12, 27). Obwohl die Klosterregeln des Mittelalters die körperliche Arbeit stark betonen, folgte daraus nicht die Ehrbarkeit dieser Betätigung, sondern sie war Ausdruck einer poenitentia, eines Demütigungsakts durch das Vergessen irdischer superbia181 – unter der Voraussetzung ora et labora. Im Bezug auf Sexualität, Fruchtbarkeit und Erotik, die ich im ersten Teil der Arbeit analysiert habe, kann man anmerken, dass diese Werte mit der dritten Funktion in Verbindung standen. Caesarius von Arles (†543) meinte, dass die Lepra der Kinder ein Zeichen für die leidenschaftliche Lust der Eltern sei. 182 Sie verbreitet sich am meisten unter den Bauern, da diese sich stets mit Begierde fortpflanzten.183

176

Vgl. R. Wenskus 1975, S. 17. HELIAND, S. 106, Anm. 151. Vgl. auch mit J. Le Goff, „Labor...“, S. 93. Vom offiziellen Christentum unterscheidet sich die „Volksreligion“ durch zahlreiche, vom Heidentum übernommene Einflüsse. Obgleich die „Volksreligion“ weder auf die ländliche Bevölkerung noch auf eine bestimmte soziale Klasse beschränkt ist, lässt sich für das Mittelalter ein Übergewicht der „abergläubischen“ nicht-christlichen Erscheinungen öfter bei bäuerlichen illiterati als bei anderen Personengruppen feststellen (vgl. J. C. Schmitt 1981, S. 337 und 343). Dies sollte auf keinen Fall heißen, dass die Krieger oder sogar die Geistlichen vom Aberglauben nicht „geplagt“ gewesen wären. Es kam bei ihnen jedoch viel seltener vor. 178 Vgl. die althochdeutsche Genesis (um 1080) bei G. Franz 1974, Nr. 56, S. 144/145. 179 Vgl. P. Dinzelbacher 1993, S. 25. 180 Vgl. J. Le Goff 1993, S. 338. 181 Vgl. H. Hundsbichler 1986, S. 189. 182 Nach Augustinus sind Begierde, Lust und Leidenschaft in der Sexualität verwerflich, da sie als tierspezifisch gelten (vgl. P. Ketsch 1984, S. 43). 183 Vgl. J. Le Goff, „Peasants and the Rural World in the Literature of the Early Middle Ages (Fifth and Sixth Century)“, in: J. Le Goff 1980, S. 87-97, S. 93. 177

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Hinsichtlich der ehrenhaften und ehrlosen Tätigkeiten muss man bestimmte Differenzierungen vornehmen. In der germanischen Welt, in der die Schicht der Bauernkrieger so entwickelt und stark war, galten manche physischen Arbeiten als normal. Z. B. waren die Fischer frei und konnten sich einer Ehrgemeinschaft anschließen. Die Hirten dagegen waren auch für die Germanen gefährlich, ehrlos und unsozial, am Rande der Welt, d. h. in der Wildnis lebend, von dunklen Mächten der Außenseiter umgeben.184 In den romanisierten Gebieten galt hingegen alles, was mit physischer Anstrengung zu tun hatte (außer Kampf natürlich), als unehrenhaft: Hirten, Bauern und Fischer wurden verachtet. Im Waltharius-Lied muss der Flüchtling Waltharius in der Wildnis vom Angeln und Vögelfangen leben.185 Der Dichter will damit zeigen, wie schwer und unehrenhaft das unsoziale Leben des Outsiders ist.186 Waltharius wird durch die Untreue gegenüber seinem Herrn Attila zu einem solchen Leben gezwungen.187 Ruodlieb dagegen beschreibt das Angeln und die Jagd als adelsspezifische Tätigkeiten, als Unterhaltung und Ausdruck des freien Lebens. Wenn aber die Existenz von solchen Betätigungen abhängig war, wurden sie als Arbeit wahrgenommen, d. h. als Merkmal einer elenden Lage. Die Wergeld-Praxis ist für den Forscher ein wichtiger Hinweis, wie die Ehrenhaftigkeit verschiedener sozialer Gruppen wahrgenommen wurde: Die Lex Burgundia führt die Wergeldtarife für das Töten von Menschen aus verschiedenen sozialen Gruppen auf: Für Bauern (aratores, porcarii, birbicarii und alii servi) hatte man 30 Münzen zu zahlen. Im Vergleich zu ihnen waren Schmiede (fabri ferarii) wesentlich „teurer“, und für Goldschmiede (aurifices) musste man 150 Münzen als Wergeld zahlen. Die archaische indoeuropäische Tradition schätzte diese zwei Handwerker: Bei den Griechen z. B. wurden sie durch einen wichtigen Gott, Hephaistos, verkörpert, bei den Nordgermanen durch den Alben Wölund – beide hässliche und verkrümmte, aber technisch begabte Gestalten, deren Dienste von allen begehrt wurden. Solche Absonderungen unter den Angehörigen des dritten Standes resultieren aus den führenden verschwenderischen Wert184

Vgl. HELIAND, S. 42. Vgl. WALTHARIUS 418-24. 186 Das Motiv des flüchtigen Helden ist in der kriegerischen Heldendichtung oft anzutreffen. Er „muss“ in solchen Fällen – wohl als Strafe für seine feige Flucht – „unehrenhafte“ Tätigkeiten ausüben: Manchmal als Outsider, wie im Waltharilied, ein anderes Mal bäuerliche (!) ehrenlose Beschäftigungen, wie in der nordischen Helgi-Saga. Hier muss sich Helgi, der Bruder Sigurds, der sich von reinen Verfolgern feige versteckt, als Bauernweib verkleiden und unehrenhafte Tätigkeiten ausüben. Der Dichter der Saga zeigt Mitleid: „Nun hat der Held ein hartes Los bekommen, / denn ein Herrscher muss Gerste mahlen. / Dieser Hand ziemte viel mehr / der Schwertgriff als der Mühlsteinstock“ (Heldenlieder Edda, 3, S. 59). 187 Vgl. H. Kloft 1993, S. 328. 185

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

ungen der Gesellschaft. Der Schmied war für die Krieger als Hersteller ihrer Waffen wichtig, und der Goldschmied als Produzent ihrer Luxusgüter.188 Für die verschwenderische Ehre waren ihre Fertigkeiten unabdingbar.189 Unfrei zu sein war nicht immer ein Charakteristikum der Bauern. Die traditionellen germanischen Gesellschaften des Frühmittelalters kennen die Schicht der sogenannten Bauernkrieger, die frei waren und Waffenrecht hatten. Auf ihnen beruhte die gesamte militärische Kraft der barbarischen Königreiche.190 Das ständige Kämpfen forderte aber eine Trennung der Funktionen, denn diejenigen, die ständig kämpfen sollten, hatten folglich keine Zeit mehr für den Ackerbau.191 Diese bilden die zukünftige ehrenhafte Klasse der militärischen Elite.192 Mit der Beteiligung am Krieg gaben die Bauernkrieger ein wichtiges Merkmal der Freiheit auf: die Kriegsführung und das Waffentragen.193 Sie wurden zu den inermes pauperes.194 „In den 188

Vgl. G. Duby 1977, S. 79. Es ist bekannt, dass die Herrscher um gute Handwerker – Goldschmiede, Architekten – wetteiferten. Manchmal wurden solche Handwerker eingesperrt, damit niemand mehr außer dem König die begehrten Früchte ihrer Arbeit genießen konnte. So berichtet Eugipius im 6. Jh., wie der Rugierkönig Feva, von seiner Frau angespornt, zwei Goldschmiede gefangen hielt, um ihren Schmuck nur für sein Haus produzieren zu lassen (Vita St. Severini, c. 8, S. 47ff). Ebenso wurde der elbische Schmied Wieland (Wölund bei den Skandinaviern) von dem König Nidud der Schweden (ebenfalls durch die Intrigen der Königin) eingesperrt, verstümmelt und seiner handwerklichen Fertigkeiten „beraubt“ (vgl. Heldenlieder Edda, 13ff, S. 15ff). Dasselbe anthropologische Motiv ist in etlichen Balladen des Balkans zu finden, in denen diesmal ein Architekt der herrscherlichen Prestigegier zum Opfer fällt. 189 Vgl. J. Le Goff, „Labor...“, S. 81 und E. Ennen 1984, S. 39. 190 Vgl. G. Duby 1977, S. 37f. Die Existenz der Bauernkrieger steht nicht im Gegensatz zu der funktionalen Aufteilung der Gesellschaft, so wie ich sie in den indoeuropäisch sprechenden Kulturen analysiert habe. Ich habe nicht verneint, dass die Angehörigen der dritten Funktion Kriege führen (siehe die Sabiner oder die Vanen). Was aber für sie charakteristisch ist, sind die Ziele ihres Kampfes: das Rächen eines Raubes (d. h. Angriff auf Akkumulation und Besitz), die Verteidigung ihrer eigenen Akkumulation (vgl. R. Wenskus 1975, S. 21) oder die regelmäßigen Raubzüge zur eigenen Bereicherung, wie z. B. bei den Thüringern (vgl. G. Duby 1977, S. 79). 191 Siehe z. B. den Fall jener agrarii milites, die bereits unter Heinrich I. um 920 ihre Landhäuser verlassen mussten und in Burgen für den Krieg bereitstanden, während auf dem Lande eine Einheit von acht bäuerlichen Hufen für ihre Verpflegung sorgte: Diese Hufen brauchten daher im Kriegsfall keine Kämpfer mehr schicken (vgl. G. Franz 1974, Nr. 44, S. 114/ 115f). 192 Vgl. J. Le Goff, „Labor, Techniques and Craftsmen in the Value Systems of the Early Middle Ages“, in: J. Le Goff 1980, S. 71-86, S. 78f. 193 Vgl. O. Brunner 1956, S. 67. Zusammen mit dem Waffenrecht verliert der freie Bauernkrieger auch die Möglichkeit, sich und seine Ehre allein zu behaupten und zu verteidigen. Er wird zu einem Opfer der gewaltsamen Willkür der Kriegsspezialisten, und eine natürliche Folge ist seine zunehmende Friedensliebe. Nur nach ihrer Entwaffnung kann man die Bauern als „friedliche Bauern“ betrachten (R. Wenskus 1975, S. 20). 194 Vgl. W. Rösener 1984, S. 667.

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romanisierten Provinzen wurde die Freiheit der Bauern viel stärker vernachlässigt, sodass ihre Unterwerfung unter krasse Formen ökonomischer Ausbeutung nicht selten war“195. Diese Ausbeutung schadete auch ihrem Ansehen, denn die Krieger lediglich mit materiellen Produkten zu versorgen, bedeutete eine „marginale“ und unangesehene Beteiligung am gemeinsamen Leben der Gesellschaft.196 Es ist symptomatisch, dass die freien Bauern, die das Rückgrat der Armee Karls des Großen bildeten, im Chanson de Roland von dem hochmittelalterlichen Dichter nicht mehr erwähnt werden. Das zeigt, dass sie in der Epoche, in der das Werk verfasst wurde, ihren symbolischen und sozialen Status bereits verloren hatten.197 Natürlich ist das bäuerliche Fußvolk nicht plötzlich und auch nie vollkommen verschwunden: Bei Hastings (1066) verfügte Wilhelm der Eroberer über eine starke Truppe schwer bewaffneten Fußvolkes. Die Mitglieder dieser Truppe wurden jedoch in mehreren Provinzen gesammelt, man musste also ziemlich lange nach ihnen suchen.198 In diesem Paradox, dass sie im symbolischen Bereich der Ehre nicht anerkannt wurden, und trotzdem ihre Dienste als selbstverständlich erwartet wurden, liegt das ungerechte Schicksal der Bauern. Der Aufstieg der bäuerlichen Klasse beginnt erst in dem Moment, als sie ihr eigener Herr wurde und allein die Früchte ihrer Arbeit genießen konnte.199 Zudem bedeutete dies ein größeres Selbstbewusstsein auf der Ebene der eigenen Wertungen.200 Aus kriegerischer Perspektive war ein wichtiger Grund für die bäuerliche Ehrlosigkeit deren Feigheit auf dem Schlachtfeld.201 Die größte Erniedrigung eines Kriegers bestand darin, als Gefangener in die Hände der Bauern zu fallen. Für die große Untreue seines Verrats verdiente Ganelon eine schwere Strafe. Deswegen wurde er bis zu seinem unehrenhaften Tode 195

Vgl. G. Duby 1977, S. 38. Eine sehr harte Strafe an der Ehre wurde gegen einen freien Franken z. B. im Falle eines schweren Verbrechens verhängt: Dann verbot man ihm das Waffentragen und den Militärdienst. Seine Ehre hatte darunter zu leiden und es zeigt sich deutlich, dass die Ehre der Krieger in direkter Verbindung mit ihrem Waffenrecht stand. Wer keine Waffen führen dürfte, hatte folglich auch kein Ansehen (vgl. A. Angenendt 1973, S. 143). 197 Vgl. A. Borst 1979, S. 279f. Die Klasse der freien Bauernkrieger kann während des Hochmittelalters am besten auf Island beobachtet werden. Sie kolonisieren die Insel und gründen hier die erste Demokratie des Nordens. 198 G. Köhler bietet als Zeitpunkt für das Verschwinden des Fußvolkes das 9. Jahrhundert an. Isolierte Regionen kannten es noch im 11.-12. Jahrhundert, aber das war eine Ausnahme (vgl. G. Köhler 1886, S. 15f). 199 Interessanterweise hatten selbst die Bauern die Ausbeutung als gottgewollte Ordnung akzeptiert. Sie verstanden erst später die Ausbeutung als eine Ungerechtigkeit (vgl. K. Bosl 1991, S. 37). 200 Vgl. N. Elias 1979, S. 72. 201 Vgl. W. Rösener 1984, S. 678. 196

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als Gefangener den Knechten anvertraut, die ihn ständig prügelten.202 An dieser Episode sieht man, wie der dritte Stand von den Kriegern wahrgenommen wurde. Das Epos über die Schlacht von Maldon unterscheidet klar zwischen „echten“ Kriegern Byrhtnoths203 – seinen Gefolgsleuten, Kriegsspezialisten – und dem folc. „Dann begann Byrhtnoth / die Männer aufzustellen; / Er ritt und gab ihnen Anweisungen; / er überlegte sich, / Wie die Soldaten in der Kampfreihe stehen / und die Position verteidigen sollen; / Er forderte, dass sie ihre runden Schilder / richtig halten, / Mit festen Handgriffen, / und dass sie keineswegs Angst zu haben brauchen.“ 204

Es ist zu erkennen, dass die Bauern der Feigheit verdächtigt wurden, sonst hätte Byrhtnoth nicht so stark betonen müssen, dass sie keine Angst zu haben brauchen. Es existierten Klischees wie der Spruch: „Wenn die Schlacht verloren ist, fliehen die Bauern“.205 Die Bauern waren jedoch nicht zwangsläufig Feiglinge, sonst hätten sie von Anfang an nicht an der Schlacht teilgenommen. Solche Handlungen stehen m. E. in Verbindung mit der Hochschätzung des Kalküls und der Pragmatik im Akkumulationsethos. Es ist eine schonende Anti-Selbstlosigkeitsmentalität. Warum sollten sie umsonst weiterkämpfen? Die Bauern zogen aufgrund von materiellen akkumulativen Interessen in eine Schlacht: Beute machen, Dörfer verteidigen, Tote plündern usw. Die Krieger waren dort, um Ehre zu erwerben, und das konnte man auch in einem verlorenen Kampf, solange man das Schwert in der Hand halten konnte. Die den Bauern unverständliche Selbstlosigkeit war der Glaube daran, dass der Tod in einem chancenlosen Krieg eine Quelle ewigen Ruhmes ist. Man würde sich heute fragen: Wozu? „Aber die Frage, ob sich der Blutzoll gelohnt hatte, wäre bei den Zeitgenossen auf Unverständnis gestoßen. Wenn neben dem alten und lebenssatten Byrhtnoth die halbwüchsigen Jungen Wulfmaer und Aelfwin für ein Jahrtausend in Lied und Sage weiterleben, hat sich ihr Sterben gelohnt; denn genau dafür haben sie miteinander gelebt“.206 Genau in diesem Sinne hat sich auch für Roland sein Tod gelohnt! Die Wahrnehmung der Arbeit und ihres Wertungssystems erfuhr aber eine positive Entwicklung und nach der Gottesfriedensbewegung kann man

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Vgl. ROLAND CXXXVII, 1820-4. Im Werk als heorthwerod bezeichnet, d. h. als seine „Gefolgsmannen“. Auch im restlichen Europa sah man zwischen den berittenen Kriegsspezialisten und dem einfachen, schlecht organisierten Fußvolk einen qualitativen Unterschied. Die Ersteren werden als „menschlich wertvoller angesehen“ (J. Johrendt 1971, S. 24) als die Letzteren. 204 MALDON 17-22. 205 Vgl. A. Borst 1979, S. 427. 206 A. Borst 1979, S. 427. 203

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sogar von einer Emanzipation sprechen.207 Schon in der karolingischen Zeit kennt man eine neue Bewertung der Arbeit in ihren Grundaspekten: Die Arbeit ist eine akkumulative Handlung, notwendig für den Aufbau eines gesunden Staates, wie es Karl der Große wollte. „The semantic aspect of this ideological breakthrough brings a certain process to light: after the eight century, labor and its derivates and compounds (especially conlaboratus) developed a new meaning, centred on the idea of acquisition, profit and conquest [als wirtschaftliche Expansion und Gewinnung neuen Ackerlandes], primarily in a rural context, where the word was connected with pioneering“.208 Die Portale der gotischen Kathedralen zeigen auf derselben Höhe Szenen der vita activa und zugleich der vita contemplativa. Die Zahl der negativ qualifizierten Tätigkeiten sank. Eigentlich wurde die Arbeit bereits in den indoeuropäischen Kulturen als wichtige Funktion geschätzt.209 Es gibt z. B. bei den Römern einen Trend zur Hochschätzung der Arbeit und des Lebens auf dem Lande inmitten der Natur.210 Marcus Cato schreibt zu Beginn seiner Schrift über die Landwirtschaft von der Ehrenhaftigkeit des Bauers in den Augen der alten Römer: „Und wenn sie einen guten Mann lobten, lobten sie ihn folgendermaßen: als einen guten Landwirt und einen guten Bauer. Man glaubte, am meisten werde gelobt, wer so gelobt wurde [...]. Aber aus den Landwirten kommen die tapfersten Männer und die tüchtigsten Soldaten; und der Erwerb, der ihnen erwächst, ist der frömmste und sicherste, und wird am wenigsten missgönnt; und die Menschen sind am wenigsten bösartig, die in diesem Berufe beschäftigt sind.“ 211

Man muss aber anmerken, dass die wichtigsten Gründe der Ehrenhaftigkeit eines Bauers nicht seinem Ethos spezifisch sind: Er ist ehrenhaft, da er ein guter Kämpfer (miles strenuissimus) und ein frommer und religiöser Mann ist, denn seine Tätigkeit ist keineswegs bösartig. Auch „der Grundbesitzer Odysseus versteht sich sehr wohl auf handwerkliche Tätigkeiten und auf Pflügen, aber er besaß seinen gesellschaftlichen Status eben nicht aufgrund 207 Vgl. W. Rösener 1984, S. 667 und J. Le Goff, „Trades and Professions as Represented in Medieval Confessors’ Manuals“, in: J. Le Goff 1980, S. 107-21, S. 112. 208 J. Le Goff, „Labor...“, S. 86. 209 J. Le Goff 1993, S. 343f. 210 Obwohl diese Bewertung eher das Ergebnis einer literarischen Romantik als eine soziale Tatsache war. Was allerdings „am Bauernstand Anerkennung und dichterischen Lobpreis fand, war nicht die harte und mühsame Bearbeitung des Bodens, die Hände und Kleider schmutzig macht, sondern die verhältnismäßig große Freiheit, mit der der Grundbesitzer über seinem Gut und seinem Gesinde stand“ (H. Holzapfel 1941, S. 17). 211 „Et virum bonum quom laudabant, ita laudabant: bonum agricolam bonumque colonum. Amplissime laudare existimabatur, qui ita laudabatur. [...] at ex agricolis et viri fortissimi et milites strenuissimi gignuntur; maxime pius quaestus stabilissimusque consequitur minimeque invidiosus; minimeque male cogitantes sunt, qui in eo studio occupati sunt“ (CATO 2 und 4).

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von Arbeit [...], sondern aufgrund seiner adligen Abstammung und Lebensweise“212. Es mag sein, dass die körperliche Arbeit in der Dichtung gelobt wurde und dass vornehme Persönlichkeiten213 der Antike auch als Landarbeiter erscheinen, Tatsache ist jedoch, dass die Arbeit für die Ehrenhaftigkeit der Person keine Rolle spielt, d. h., man erwirbt bzw. verliert keine Ehre durch Ackerbau. Daher bringt die Landarbeit keine Ehre. Bei den Galliern hatten die Handwerker eine bedeutsame Stellung auf der sozialen Skala; dies ging soweit, dass der größte Gott ihres Pantheons, nämlich Lug, ein Gott „of techniques and craft“ war.214 Der Ackerbau aber fand bei ihnen nicht dieselbe Anerkennung, wie man bei Tacitus in einem Bericht über die Kelten (Germania, XIV-V) nachlesen kann.215 Mit der Zeit werden die Bauern sich ihrer Wichtigkeit immer stärker bewusst216, sodass sie im 15. Jahrhundert in einem Volkslied behaupten konnten: „Ich ner dich mit des Pfluges zügen [...] / Was hilft dein Stachen [Turnier] und dein Tanz? / Darin ich chain gut spür: / Mein herte Arbait die ist ganz/ Und tregt die Welt paß für.“217

Die Werte der Arbeit setzen sich durch, und damit nimmt das Bewusstsein einer eigenen Ehre zu, welche ihre Kontur nicht mehr durch die Übernahme anderer Kriterien gewinnt, sondern aufgrund bäuerlicher Wertungen entsteht.218 Zum Schluss möchte ich zur Verdeutlichung des akkumulativen Charakters des Bauerntums auf eine interessante Manifestation der Akkumulationsmentalität bei den Angehörigen des dritten Standes eingehen: die Reliquienverehrung des Volkes. Nach dem Tode des Heiligen Martin von Tours streiten die Bürger aus Poitiers mit den Bürgern aus Tours, wer die leiblichen Überreste des Heiligen bekommen soll. Die Argumente der Einwohner von Tours lauten: 212 H. Kloft 1993, S. 327. Auch der Heliand erzählt in seinem 29. Gesang von einem Earl, der selbst seinen Acker bestellte. Wenn ich eine funktionale Trennung der Tätigkeiten behaupte, meine ich damit nicht, dass z. B. ein Bauer nicht mit einem Schwert zu töten wusste, oder dass ein Adliger nicht wusste, wann die richtige Zeit für die Ernte ist (vgl. K. Ranke 1975, S. 208). 213 Der römische Diktator Cincinnatus (Diktator in den Jahren 458 und 439 v. Chr.) wurde in sein Amt berufen, als er sich, mit dem Pflügen beschäftigt, auf dem Acker befand (vgl. H. Holzapfel 1941, S. 17). 214 Vgl. J. Le Goff, „Labor...“, S. 76. 215 Die germanischen Krieger verachteten auch die bäuerliche Arbeit und hielten deshalb Distanz zu ihr (vgl. J. de Vries 1943, S. 12). 216 Vgl. K. Ranke 1975, S. 216. 217 Zitiert von H. Hundsbichler 1986, S. 191. Vgl. mit dem mittelalterlichen Spruch: „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“ (vgl. K. Ranke 1975, S. 216). 218 Wie in anderen Epochen konnten die Bauern nur als tüchtige Kämpfer ein gewisses Maß an Ehre erwerben.

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„Ihr behauptet da, wir hätten unsern Teil dahin an seinen Wundertaten, so wisst denn, er tat deren mehr bei euch, als unter uns. Denn vieler anderen Taten nicht zu gedenken, euch hat er zwei Tote erweckt und uns nur einen; und er pflegte ja selbst zu sagen, es habe ihm größere Wunderkraft beigewohnt, ehe er Bischof war, als nachher. So muss er als Toter erfüllen, was er für uns im Leben nicht geleistet hat.“219

Die Verhältnisse zwischen den Verehrern und ihrem Patron sind kaufmännischer Art, indem die Leistung des Heiligen als quantitative Schuld betrachtet wird. Obwohl die Reliquienfrömmigkeit allgemein verbreitet war, kann man dennoch behaupten, dass sie in der Volksfrömmigkeit am ausgeprägtesten und lebendigsten war. Sie ist nicht nur ein Merkmal des Dorfchristentums, aber unter Bauern, Bürgern und Frauen ist sie besonders stark verbreitet. In der mittelalterlichen Reliquienfrömmigkeit kann man zwei der Verschwendungs- und Akkumulationsmentalität entsprechende Mentalitätsmuster beobachten: 1. Das feudal-symbolische, wobei der Krieger seine Ehre als Vasall Gottes bzw. eines Heiligen durch militärische Leistungen gegen die Ungläubigen erwirbt. Im Bereich des Krieges sind die Reliquien wichtig, weil sie die kriegerische Tüchtigkeit im Dienste des christlichen Glaubens verstärken sollen. Man steckt sie in das Heft des Schwertes oder trägt sie am Hals. Es wird von ihnen Hilfe im Kampf erwartet, also eine wundersame Unterstützung zur Vermehrung der kriegerischen Ehre; 2. Das materiell-akkumulative Muster, wobei die Gunst des Heiligen durch materielle Gaben gewonnen wird (Wein, Brot, Produkte der bäuerlichen Arbeit usw.). Als Gegenleistung erwartete man praktische Hilfe, d. h. Totenerweckungen, Krankenheilungen, gute Ernten, Gesundheit für das Vieh usw. Die zwei Mentalitäten vermischten sich jedoch von Zeit zu Zeit: Die verwundeten Krieger freuten sich auf die Aussicht einer wunderbaren Heilung bzw. die Bauern kämpften mutig für die Ehre ihres Patrons.220 Bauer zu sein war im Mittelalter eine benachteiligte gesellschaftliche Stellung. Die Antike ist trotz einiger Werke, die poetisch die Arbeit und das Leben der rustici priesen, ebensowenig eine Epoche der Anerkennung der Bauern. Dieselben Probleme im Bereich des sozialen und symbolischen Ansehens hatten auch die Kaufleute des Hoch- und Spätmittelalters. Der Reichtum und die Akkumulation blieben lange verdächtig und unehrenhaft. 219

„Si virtutum nobis facta sufficere dicis, scitote, quia vobiscum positus amplius est quam hic operatus. Nam, ut praetermittamus plurimum, vobis suscitavit duos mortuos, nobis unum, et, ut ipse saepe dicebat, maior ei virtus ante episcopatum fuit, quam post episcopatum. Ergo necesse est, ut, quod nobiscum non implevit vivens, expleat vel defunctus“ (Gregor v. Tours I, 48). 220 Vgl. A. Angenendt 1994, S. 72.

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„What should wax of that wealth, if no waste were to come?” Die Schwierigkeiten des Kaufmannes in einer kriegerischen Welt Im ersten Kapitel dieses Teiles stellte ich die Akkumulationsmentalität in Verbindung mit der dritten Funktion dar. Genau genommen hat aber die Akkumulation wenig mit dem Ackerbau und mit einer Überlebenslandwirtschaft zu tun, die im Mittelalter der Regelfall war. Der Kaufmann ist repräsentativ für diesen mentalen Komplex des Handels, der Geldgeschäfte, also der Akkumulation. Der Bürger kommt aber ursprünglich aus dem bäuerlichen Milieu einer villa; er war am Anfang des Hochmittelalters ein Bauer, der sein mühsames Leben nicht länger hinnehmen wollte. Manchmal ist er der Nachfolger eines Handwerkers auf der feudalen Domäne, der seine Produkte mit Profit zu verkaufen lernte und nicht mehr seine gesamte Arbeitskraft ausschließlich zur Befriedigung der Bedürfnisse der Domäne verwenden wollte.221 Die Bourgeoisie „ging aus der familia hervor, aus jener Gruppe von Männern und Frauen, die unter dem Schutz des Herrn standen“.222 Natürlich ist das Handelsleben im mediterranen Raum nie ausgelöscht worden; lange Zeit beteiligt sich jedoch Mittel- und Nordeuropa nur wenig an diesem Handel. Die Entstehung der kaufmännischen Schichten in diesem Raum steht in Verbindung mit der Entwicklung der mittelalterlichen Städte, die sich um die ursprünglich feudalen Burgen bzw. villae oder um ein Kloster223 herum entwickeln. Der Forscher kann folglich die Bürger nicht grundsätzlich von den Bauern trennen. Im Laufe der Zeit gibt es durchaus selbstständige Entwicklungen dieser zwei Kategorien und ihrer Wertungssysteme, im Hochmittelalter ist allerdings diese Trennung nur vage und beginnt sich erst herauszubilden. Für meine Analyse der Akkumulationsmentalität sind die Kaufleute und Bankiers des Mittelalters „repräsentativerer“, da sie Träger eines bedeutsamen Wertes der dritten Funktion sind, des materiellen Reichtums.224 Die Analyse der Anschau221 Vgl. K. Bosl 1973, S. 25 und 37, auch B. Groethuysen 1978, S. 87f und K. Schulz 1992, S. 11. Dass die Bürger Wurzeln auf dem Lande hatten, kann auch der Brauch beweisen, dass viele von ihnen, nachdem sie reich geworden waren, ihre Geschäfte beendeten und das akkumulierte Kapital in Landbesitz investierten. Viele lebten am Ende ihres Lebens auf dem Lande. Es scheint wie ein return to the roots (vgl. A. Gurjewitsch 1999, S. 228; siehe auch G. Duby 1977, S. 241). Noch im 15. Jh. wurden die Eidgenossen (die Bürger) von Adligen in ihrem Kampf mit den Kommunen als Bauern beschimpft und abgewertet. Nach der Auffassung des Adels sind und bleiben sie Bauern (vgl. E. Wechsler 1991, S. 74). 222 G. Duby 1977, S. 247. 223 Die Klöster waren (unter gewissen Umständen) wichtige Wirtschaftszentren des Mittelalters (vgl. F. Schwind 1984, S. 101ff). 224 Damit ist in diesem Kapitel die Geldakkumulation durch Handel und Bankgeschäfte gemeint.

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ungen über den Reichtum bei den drei verschiedenen mittelalterlichen ordines soll uns einen Blick auf die Ehrvorstellungen des dritten Standes gewähren. Der aus der Akkumulation resultierende Zustand ist der Reichtum, das Subjekt der Akkumulation der mittelalterliche Kaufmann. Alles, was mit diesen zwei Realitäten in Verbindung steht, bezieht sich also schlechthin auf die Akkumulation und ihre Ehre. Die Problematik der Ehrenhaftigkeit des Handels und des Reichtums ist alt und umstritten. Die Antike stellt sich ernsthaft die Frage, welche Stellung diese Tätigkeit und ihre Werte im menschlichen Dasein haben. „Während für Aristoteles dieser Austausch im Rahmen der Haushaltskunst sehr wohl der Natur und den menschlichen Bedürfnissen entspricht, gilt ihm das überregionale Handels- und Geldgeschäft (techne chrematiske) als verwerflich, weil es grenzenlos, unnatürlich und dem Ideal eines guten Lebens entgegengesetzt ist“.225 Marcus Cato aber findet den Handel nicht ethisch verwerflich. Für ihn ist das nur eine risikoreiche Tätigkeit: „Es ist bisweilen besser, durch Handelsgeschäfte Besitz zu erwerben – wenn es nicht so gefährlich wäre – und ebenso Geld auf Zins auszuleihen – wenn es gleich ehrenhaft wäre. Unsere Vorfahren haben es so gehalten und so in den Gesetzen niedergelegt: den Dieb mit dem Doppelten bestrafen, den Geldverleiher mit dem Vierfachen. Hieraus kann man ersehen, für einen wie viel schlechteren Bürger sie einen Wucherer gehalten haben als einen Dieb […]. Der Kaufmann ist aber, meine ich, ein tüchtiger und auf Erwerb von Besitz bedachter Mann – aber, wie ich oben gesagt habe: es ist gefährlich und bringt Fehlschläge.“226

Sowohl bei Aristoteles als auch bei Cato wird die Akkumulation als negativ angesehen. Im Mittelalter ist die Akzeptanz des Kaufmannes aber bedeutend geringer. Da seine Leitwerte fundamental der Verschwendungsmentalität entgegengesetzt waren, wurde er im Früh- und Hochmittelalter zum Ziel einer Entehrungspropaganda der ersten und zweiten Funktion. Sein sozialer Status und seine Wertungen wurden so stark unterdrückt und bestritten, dass sogar der Akkumulationsmensch Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen bekam. Darum waren die Stiftungen und Geldspenden der Kaufleute für die Kirchen und Klöster viel größer und zahlreicher als die der An-

225

H. Kloft 1993, S. 328. „Est interdum praestare mercaturis rem quaerere – nisi tam periculosum sit – et item fenerari – si tam honestum sit. Maiores nostri sic habuerunt et ita in legibus posiverunt: furem dupli condemnari, feneratorem quadrupli. Quanto peiorem civem existimarint feneratorem quam furem, hinc licet existimare […]. Mercatorem autem strenuum studiosumque rei quaerendae existimo – verum, ut supra dixi: periculosum et calamitosum“ (CATO 1 und 3). 226

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gehörigen der beiden anderen Stände. Auf diese Weise versuchten sie, doch noch in das ihnen verwehrte Paradies zu gelangen.227 Der Akkumulationsmensch wurde von zwei Seiten bedrängt, von den Geistlichen mit ihrer Armuts- und Freigebigkeitstheologie und von den Kriegern. In der Welt des Mittelalters war zunächst die Auffassung verbreitet, das Reichtum zwangsläufig zur Verdammnis im Jenseits führt.228 Das Leitmotiv meiner Untersuchung über die Wahrnehmung der Akkumulationsehre im Mittelalter sollte die folgende Behauptung eines kirchlichen decretum sein: Homo mercator nunquam aut vix potest Deo placere.229 Sogar im Spätmittelalter, in der Zeit des städtischen Booms, nahmen die Chancen der Reichen (d. h. Kaufleute, Bankiers usw.) nicht zu, direkt nach dem partikularen Gericht erlöst zu werden. Es war schon ein teuer erkauftes Glück, einen Platz im Fegefeuer zu ergattern. 1179 wird der Wucher offiziell von der Kirche verboten: Kein Christ durfte sich einer so üblen Tätigkeit schuldig machen. Davon profitierten die Juden, aber sie bezahlten einen hohen Preis dafür: Sie zogen sich den Hass der Masse zu und lieferten der antijüdischen Propaganda einen unverhofften Ansatzpunkt.230 Im symbolischen Bereich gab es daher noch einen Grund für die Ehrlosigkeit der Geldgeschäfte: Sie galten als Tätigkeit der Ungläubigen. Die Kirche231 rechnete die Händler neben den Prostituierten, Fleischern, Ärzten, Advokaten usw. zu den unehrenhaften Berufen. Die kirchliche Ablehnung bestimmte das Urteil der gesamten Gesellschaft, deren Meinung unter der 227

Vgl. H. Hundsbichler 1986, S. 190. Die feindliche Einstellung der mittelalterlichen Kirche dem Reichtum gegenüber wird von manchen Forschern durch die Isolierung der Theologen in ihrem klösterlichen Elfenbeinturm erklärt, in dem sie nicht mehr Schritt mit den sozialen Realitäten halten konnten. „How can we expect the clerics who wrote such manuals [Bußbücher], outsiders to the world of active life, to have been trustworthy observers of the problems of that life?” (J. Le Goff, „Trades…“, S. 107). Ich muss aber anmerken, dass auch in der frühen Kirche, die in einer urbanen Umwelt entstand, der Reichtum ein schweres ethisches Problem darstellte. Die Verurteilung muss also auch eine wichtige uralte mentale Komponente beinhalten, und das ist der grundsätzliche Konflikt zwischen den Wertungssystemen der zweiten – verbunden mit der ersten – und der dritten Funktion. 229 Zitiert von F. Klose 1933, S. 68. 230 Vgl. A. Gurjewitsch 1999, S. 229. 231 „Nicht dass der Kaufmann Handel treibt, ist das Sündhafte, auch nicht dass er seine Handelsunternehmungen immer weiter ausdehnt, sondern dass er überhaupt den irdischen Interessen eine unverhältnismäßige Bedeutung gibt und nicht an den Tod denkt“. Dies ist, so B. Groethuysen, der Hauptgrund der kirchlichen Propaganda gegen die Kaufleute (vgl. B. Groethuysen 1978, S. 152). Ich meine dagegen, dass die Bürger und die Kaufleute eine ziemlich intensive Frömmigkeit praktizierten. Es kann ihnen auf keinen Fall eine Indifferenz gegenüber dem Schicksal ihrer Seele vorgeworfen werden: Sie waren fromme, an der Erlösung der Seele interresierte Menschen. Allerdings werden sie von Hugo von Trimberg (ca. 1300) auch abgewertet: Es wird den Kaufleuten vorgeworfen, dass sie stets an Betrügereien und Kriegen beteiligt sind (vgl. H. Stahleder 1972, S. 65). 228

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Kontrolle der kirchlichen Autorität stand. Der Kaufmann verdient Geld ohne Arbeit, wobei unter Arbeit nur Ackerbau und bäuerliche Mühe verstanden wurde. Dann verkauft er durch Zinsen Zeit, die allein Gottes Eigentum ist.232 Schließlich ist dem Kaufmann „nichts heilig“, d. h., er ist tolerant und mischt sich nicht in sensible und eventuell für die Geschäfte schädliche Angelegenheiten ein. Von den Kreuzzügen her kennt man zahlreiche Beispiele von Kaufleuten, die weiterhin die Kontakte mit den moslemischen Händlern pflegten oder Partei für die Ungläubigen ergriffen, solange es die Geschäfte erforderten.233 Ein englisches Poem des 14. Jahrhunderts heißt A Good Short Debate Between Winner and Waster und ist eine große Hilfe für die vergleichende Forschung im Bereich der Verschwendungs- und Akkumulationstheorie234, da es sich genau mit der argumentativen Polemik zwischen einem Akkumulations- und einem Verschwendungsmenschen beschäftigt. Der Waster greift die religiöse Ablehnung der akkumulativen Werte auf und verflucht den Winner: „Thou shalt be hanged in hell for what thou here sparest. / For such a sin thou hast sold thy soul into hell […]“. Oder: „The devil at thy death-day shall deal out thy goods […].“235 Der Akkumulationsmensch wird also vom kriegerischen Wertungssystem abgelehnt. Die Widerwärtigkeit des Königs Gunther im Waltharius-Lied wird von seinem Dichter durch die Schilderung einiger akkumulativer Handlungen konturiert, welche ihn in den Augen eines von Verschwendungswerten geleiteten Publikums erniedrigen sollten. So wird gezeigt, dass der König das Leben der Vasallen im Kampf mit Waltharius opferte (d. h. verschwendete), nur weil er seinen Schatz rauben wollte. Dadurch machte sich der König einer Sünde der dritten Funktion, der Habgier, schuldig, da die Verschwendung als symbolischer Akt nur den Erwerb von Ehre zum Ziel haben sollte.236 Man versteht demnach, dass sich die Krieger angesichts der Mentalität der Zeit um der Integrität ihrer Ehre willen weigerten, mit Kaufleuten oder allgemein mit Angehörigen des dritten Standes in Kontakt zu treten und sich mit ihnen zu vermischen. „Denn handwerkliche wie auch kaufmännische Betätigung galten als un232

Vgl. B. Groethuysen 1978, S. 104f. Vgl. J. Le Goff 1989, S. 69f. Sogar auf der klassischen feudalen Domäne galten die servi und ministeriales als liberal und als von den Traditionen und alten „Werten“ entfremdet (vgl. J. Fleckenstein 2000, S. 33). Ihr Liberalismus war für die kriegerische Aristokratie ein Beispiel ihrer Ehrlosigkeit, d. h., sie zerstörten den alten ordo und die Welt geriet dadurch aus den Fugen, da es keine Leitwerte mehr gab. 234 Obwohl es paradoxerweise den über dieses Thema Forschenden zu wenig bekannt ist. Nach meinen Kenntnissen zitiert nur A. Gurjewitsch dieses Gedicht eines englischen Anonymus. 235 The Debate 260-1 und 441. 236 Vgl. A. Borst 1979, S. 452ff. 233

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ehrenhaft und hätten zum Ausschluss des Ritters [bzw. des Kriegers] aus seinem Stand geführt. Versuchte ein verarmter Adeliger, auf irgendeine Weise an Kredit zu kommen, indem er seine Ehre verpfändete, so ging ihm, falls er die Schulden nicht zurückzahlte – ebenso wie bei Treuebruch –, seine adelige Standesehre verloren“.237 Ein Krieger konnte einerseits den Pazifismus und das ruhige Leben nicht begreifen, weil er die Faulheit hasste. Aktiv zu sein bedeutete für ihn zu kämpfen, zu feiern usw. Andererseits betrachtete er die Landarbeit als ehrverletzend.238 Aber auch der Akkumulationsmensch hatte seinerseits dem Krieger Folgendes vorzuwerfen: „With thy stir and thy strife thou destroyest my goods, / In wrestling and in waking in winter nights, / In excess, in unthirft, in arrogance of pride.“239

Die Verschwendung wird von den Kaufleuten als Angriff gegen ihre eigene Ehre aufgefasst, da dadurch ihre Werte angezweifelt und missbilligt wurden. Die Krieger behaupteten, dass sie als einzige würdig seien, Waffen zu tragen und Krieg zu führen. Als die Angehörigen des dritten Standes in den Krieg zogen, wurde das einerseits als Einmischung in ein ihnen verbotenes Wertungssystem angesehen, andererseits erregte das eine besondere Wut unter den Kriegern, die sich im Falle eines Sieges nicht mehr an die Regeln ihres Ehrenkodex hielten, sondern sich als von jeder Beschränkung befreit verstanden: Die Repressalien gegen Bürger und Bauer waren ebenso drastisch wie jene gegen Fremde oder Ungläubige. Dass die Liebe zum Frieden ein Wert der dritten Funktion war, kann man anhand der Entstehung des spätmittelalterlichen Ehrenkodex begreifen. Der Aufstieg der Werte der Bourgeoisie führte zur Befriedung des Kriegers. Die jetzt geforderte Selbstkontrolle240 der Ritter stand im Gegensatz zum mystischen kriegerischen furor. Zerstörung und Plünderung, welche zur Selbstständigkeit der kriegerischen Schicht gehörten, wurden jetzt entwertet und getadelt. Man spricht in diesem Kontext von einer Moralisierung und Erziehung des Kriegers nach bürgerlichem Standard. Genau genommen entspricht der Ritter im Spätmittelalter zu wenig den Werten der zweiten indoeuropäischen bzw. früh- und hochmittelalterlichen Funktion. Vor allem wurde

237

F. Guttandin 1993, S. 99. Vgl. G. Duby 1977, S. 171. Auch eine eventuelle kaufmännische Betätigung eines Adligen hätte ohne Zweifel zu seinem Ausschluss aus der kriegerischen Ehrgemeinschaft geführt (vgl. F. Guttandin 1988, S. 31). 239 The Debate 265-7. 240 Vgl. U. Frevert 1991, S. 21. 238

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seine Souveränität eingeschränkt, der Ritter ist eigentlich die Personifizierung eines bürgerlichen Ideals.241 Die Behauptung, dass die Bürger keine Form der kollektiven Ehre kannten, so wie dies in der feudalen familia der Fall war, in der eine gemeinsame Ehre in der Person des Lehnsherrn verteidigt wurde, muss sorgfältig nuanciert werden. Bereits im 12. Jahrhundert pflegten sich „alle Händler, die in ein und derselben Stadt ansässig waren, [...] zu einer Vereinigung zusammen zu schließen, die sich als Gruppe genauso fest verbunden fühlte wie früher die Krieger, die zur Plünderung benachbarter Stämme auszogen, oder zur damaligen Zeit noch die um die Kastelle versammelten Trupps berittener Vasallen. Für die Dauer der Expedition bildeten sie eine Bruderschaft, eine fraternicia“.242 Solche Assoziierungen243 waren in unsicheren Zeiten erforderlich, und bei Gefahr konnten feste Freundschaften entstehen. Die Intentionen solcher Bündnisse stehen aber in direktem Bezug zu den Wertungen derer, die sich ihnen angeschlossen hatten: Sie hatten die Verteidigung der eigenen körperlichen Integrität und der Waren zum Ziel. Natürlich war dies eine Verteidigung der Ehre schlechthin, solange für einen Kaufmann die Ehre mit seinem geschäftlichen Erfolg eng verbunden war. Eine feudale Ehrgemeinschaft war für die Ewigkeit geschlossen, wie wir oben gesehen haben, während die fraterniciae nur eine befristete Existenz hatten, solange die Geschäftsreisen dauerten. In den Städten gab es ebenfalls zahlreiche Assoziierungsformen der Handwerker und Kaufleute, dennoch war das Geld der Bindungsfaktor, denn alle waren Steuergemeinschaften.244 Friedhelm Guttandin meint, dass die Armut auch für die kriegerische Aristokratie ehrverletzend war und zum Verlust des Ansehens führen konnte.245 Tatsache ist aber, dass die Ehre eines verarmten Adeligen nur dann verletzt wurde, wenn er die Armut durch Tätigkeiten überwinden wollte, die dem dritten Stand typisch waren: Handel, Ackerbau usw. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Ehre ein über mehrere Generationen akkumuliertes Kapital war und auf Kriegstaten beruhte. Eine solche Ehre konnte nicht von einem einzelnen Wert der dritten Funktion abhängig sein wie z. B. vom Reichtum. Man kennt viele Ehen, in 241

Vgl. J. Johrendt 1971, S. 97 und K. Görich 2001, S. 3. Das kriegerische Ethos sollte dem Bürger unvernünftig erscheinen: „Späterem bürgerlichen Denken wird es mitunter absurd erscheinen, dass jemand sich beleidigen lassen muss und dafür auch noch sein Leben riskieren soll“ (F. Guttandin 1988, S. 25). 242 G. Duby 1977, S. 246 und K. Schulz 1992, S. 12. Bereits in der merowingischen Zeit gab es solche Assoziierungsformen der Reisenden, die geschäftlich unterwegs waren (vgl. J.-P. Bodmer 1957, S. 61). 243 Andere Formen der Assoziierungen in dem dritten Stand: coniuratio und die fränkischen bäuerlichen centenae (vgl. K. Bosl 1991, S. 167). 244 Vgl. H. Bookmann 1994, S. 71. 245 Vgl. F. Guttandin 1988, S. 32.

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denen ein Partner zwar materiell arm, aber aufgrund seiner Ehre oder der Berühmtheit seiner Sippe trotzdem angesehen war. Mit der Zeit wird sich der Kaufmann seiner Notwendigkeit, d. h. Ehrenhaftigkeit, bewusst. Nach der Gottesfriedensbewegung sind immer mehr Stimmen zu hören, die behaupten, dass die Gesellschaft ohne die Waren und ihre Zirkulation nicht überleben könnte. Es ist hier auf eine wichtige Parallele zwischen der Ehre der dritten indoeuropäischen Funktion und jener des dritten mittelalterlichen Standes hinzuweisen: Beide betonen, dass die Existenz der Gesellschaft von ihren Tätigkeiten abhängig ist.246 Der Winner sagt in dem englischen Poem über sich selbst: „’Certes’, said the one, ‘the sooth for to tell, / I high Winner, a wight who all the world helpeth, / For folk from me learn, through leading of wit; / Who with speeding will spare, who spend not too much, / Live upon little, I love them the better.’“247

Der Aufstieg der Bürger und ihre wachsende gesellschaftliche Bedeutung im Spätmittelalter spiegeln sich auch in der Lehre der Kirche wider. Eine ursprünglich getadelte Tätigkeit findet jetzt immer mehr Unterstützung und Verständnis bei den Predigern, insbesondere bei jenen aus den Bettelorden, deren Existenz eng mit dem städtischen Leben verbunden war248. Manche können sogar Christus mit einem Kaufmann vergleichen: Der Heiland steigt auf das Schiff des Kreuzes, sodass die Menschen die Möglichkeit erhalten, die weltlichen Güter gegen die ewigen einzutauschen.249 Die imago Dei erfährt wichtige Veränderungen. So wie man sich in kriegerischen Gesellschaften Gott als einen feudalen Herrn vorstellte, war er in der kapitalistischen Welt250 ein Geschäftspartner. Es gab in der Buchhaltung spezielle Spalten mit den Konten Gottes (conto di Messer Domeneddio). Gott bekam einen Anteil des Einkommens, er wurde am Erwerb und an der Akkumulation beteiligt.251 Die Kirche begriff, dass Geld- und Handelsgeschäfte zu einem Bestandteil des sozialen Lebens wurden, und deswegen konnte sie sich dem Fortschritt nicht mehr widersetzen. Zugleich wollte sie aber der Theologie der vorherigen Jahrhunderte nicht widersprechen, darum suchte sie eine theologische Rechtfertigung für die damals umstrittenen Tätigkeiten und tolerierte sie. Man betonte die Risiken des Lebens eines Kaufmannes: Unwetter, Räuber, Piraten usw. Im Gegensatz zu den damaligen Behauptungen wurden all diese Strapazen nun als Arbeit be246

Vgl. J. Le Goff 1989, S. 82. The Debate 221-25. 248 Vgl. A. Gurjewitsch 1991, S. 13. 249 Vgl. A. Gurjewitsch 1999, S. 243. 250 Es ist nur ein Verdeutlichungsbegriff. Im Spätmittelalter gab es noch keine kapitalistische Gesellschaft. 251 Vgl. A. Gurjewitsch 1999, S. 249. 247

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trachtet und das so erworbene Geld als ein justum stipendium laboris angesehen.252 Das zeigt, dass der dritte Stand sein Wertungssystem gefestigt hat und seine Vorstellung von der Ehre zunehmend vom gesamten Sozialorganismus übernommen wurde. Im Frühchristentum und -mittelalter betonte die asketische Theologie die Notwendigkeit, sich von den irdischen Gütern zu lösen253, die die Seele an ihrem Flug zur göttlichen Schau hindern würden. Obwohl auch im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit die Meinung weiterlebte, dass es für den Armen wesentlich leichter ist, einen Platz im Gottesreich zu erlangen, findet man jetzt verständnisvollere Theorien der Theologen über den Reichtum.254 Dennoch bleibt die virulente Kritik der Prediger an dem Kapital und an den Geldgeschäften bis in das 18. Jahrhundert präsent.255

Am Ende des Kapitels Die Spannungen zwischen den Verschwendungs- und Akkumulationswertungen, die sich im symbolischen Bereich manifestieren, sind also unübersehbar. Die Gesellschaft übernimmt sie und lässt sich von ihnen beeinflussen. Barometer solcher Veränderungen ist die Ehre als Summe der Wertungen. Die Ehrvorstellungen zeigen, dass die gesellschaftlichen Gruppen an ihren Lebensformen festhalten und in Konflikte zu deren Verteidigung verwickelt werden. Die soziale und politische Dimension der menschlichen Existenz ist von den symbolischen Werten und Bedeutungen abhängig. Beispielsweise provoziert das verschwenderische Lehnsystem durch eine übertriebene Belehnung, die zur Doppelvasallität führt, einen Bruch im symbolischen Bereich.256 Dadurch wird die Ehrgemeinschaft relativiert und ein wichtiger Bestandteil des kriegerischen Ehrenethos verschwindet. Die Belehnung verursacht im politischen Bereich eine Zersplitterung der Autorität257 des Staates. Da die Ehre der eigenen Sippe (familia) so wichtig war, haben die Kastellanen oder die Lehnsherrn die Tendenz, ihre Selbstständigkeitsbestrebungen als Verteidigung der Ehre zu

252

Vgl. J. Le Goff 1989, S. 77ff. Vgl. R. H. Tawney 1946, S. 30. 254 Die Güter sind ein Geschenk Gottes, welche im Dienste des Haushaltes stehen sollten. Die Habgier wird bis heute weiterhin getadelt (vgl. A. Gurjewitsch 1991, S. 115ff). 255 Vgl. B. Groethuysen 1978, S. 157f. 256 Vgl. J. Fleckenstein 2000, S. 127. Wenn ein Vasall von zwei verschiedenen Herren belehnt wird, ist er beiden zur Treue und militärischen Hilfe verpflichtet. Was macht er aber, wenn die zwei Herren gegeneinander kämpfen? 257 Vgl. K. Bosl 1991, S. 41 und 45. 253

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rechtfertigen.258 In dieser Welt voller Antagonismen, in der die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen von einer idealen Welt nach eigenen Maßstäben träumten, existierte ein Wesen, das von allen übersehen worden ist. Sowohl die Angehörigen der kriegerischen Schicht als auch die des dritten Standes mit ihrem Konflikt um Ehre und Prominenz in der Gesellschaft sind in gleicher Weise indifferent und ungerecht gegenüber der Frau.

258 Vgl. M. Waltz 1988, S. 12. O. Brunner nennt solche anarchischen Gewaltdimensionen Sphären des „besonderen Schutzes“ der Lehnsherren im Gegensatz zu der Tendenz der zentralisierenden Fürsten, das Gewaltmonopol (= allgemeinen Schutz) zu erlangen, also einen Staat zu errichten (vgl. O. Brunner 1956, S. 72). Die Privatrache als soziale Ausgleichshandlung und „uraltes Menschheitsgut“ wurde vom Staat als dem Inhaber des sogenannten „Strafmonopols“ zurückgedrängt (vgl. H. Trimborn 1950, S. 147).

Die Frau Motto: „Nimmst ein Weib, dann sorgt sie schon dafür, dass du nie ohne Kummer bist“ (Aus Heinrich Wittenwilers Ring). Die Frau im Mittelalter war ein deutlich benachteiligtes1, aber kein rechtloses Wesen. Der Mann war ihr Haupt, wie es die Bibel schon befahl; solange sie nichts gegen das Männliche tat, konnte sie nicht beleidigt, missbraucht, verstümmelt oder getötet werden. Obwohl in der letzten Zeit viel über die Frau in allen historischen Epochen geschrieben wurde, gibt es dennoch Stimmen, die die historische Frauenforschung aufgrund einer andauernden Diskriminierung für mangelhaft halten. Marieluise Jansen-Jurreit meint: „Auch die moderne Geschichtsschreibung entwickelt nichts anderes als die Perspektive eines Herrenabends. Die Geschichte der Frau wird ignoriert. Sie wird ausgeschaltet aus der geschichtlichen Überlieferung, indem man sie totschweigt, indem man sie im wahrsten Sinne des Wortes nicht vorkommen lässt. Dieses Mittel des Aussparens und der Auslassung des sozialen und politischen Schicksals der Hälfte der Menschheit ist die wirksamste Form der Herrschaft überhaupt“.2 Tatsache ist, dass der heutige Stand der Forschung nicht mehr so indifferent gegenüber den Frauen ist.3 Allerdings ist das Fehlen einer symbolischen Untersuchung im Bereich des normativen Verhaltens der Frau, also über die Ehre der Frau im Mittelalter und in anderen Epochen, zu bemerken.4 Dieses Kapitel kann solch eine 1 Die Frauen wurden überlastet und ausgebeutet. „Die Tatsache, dass nach den anthropologischen Befunden Frauen im Frühmittelalter durchschnittlich eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung hatten als Männer, obwohl sie biologisch für ein längeres Leben programmiert sind, lässt sich nicht hinreichend mit den Sterblichkeiten aufgrund von Geburten erklären“ (P. Dinzelbacher 1993, S. 24). Sie waren also einfach stärker belastet und wurden schlechter verpflegt (vgl. P. Ketsch 1983, S. 14 und S. 18f). Es ist aber klarzustellen, dass die Frauen des Hochadels keine Nahrungsprobleme kannten (vgl. E. Ennen 1984, S. 84f). 2 Zitiert von H.-W. Goetz 1995 als Motto seines Werkes. 3 Vgl. E. Ennen 1984, S. 29 und I. Bennewitz 1993, passim. Auch in dem oben zitierten Buch finden zwei ausreichende Bibliographien über die Frauenforschung der Antike („Die Frau in der alten Welt“ von Ute Frevert/Christian Demisch, S. 277-94) und des Mittelalters („Die Frau in Recht und Gesellschaft des Mittelalters“ von Heins Heinrich Kaminsky, S. 295-313). Das zeigt, dass über die Frau in solchen von Männern dominierten Gesellschaften viel und erfolgreich geforscht wurde. 4 Vgl. H.-W. Goetz 1995, S. 325.

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Lücke nicht ausfüllen, aber es versucht, ein paar Richtungen vorzuschlagen und auf diese Weise eine Auseinandersetzung zu eröffnen. Darum werde ich bei meinen Ausführungen überwiegend auf die bisher übersehenen Ansätze der Quellen eingehen. Das Ansehen der Frau sowie ihre Rechte beruhten auf ihrer Einschätzung durch das männliche Wertungssystem: Die Frau hatte keine eigene Existenz und keinen eigenen Status, sondern galt eher als soziale und ontologische Erweiterung des Mannes (ihres Sohnes, Vaters oder Ehemannes).5 Das wiederum bedeutete aber, dass sie auch einen großen Einfluss auf die Ehre des Mannes hatte.6 Anthropologisch wurde die Frau als Teil des Mannes und seiner Ehre verstanden. Im Mittelalter waren die Frauenkategorien streng hierarchisch abgestuft: die Jungfrauen7, die Witwen, die verheirateten Frauen und die schwangeren Frauen (aufsteigend gesehen).8 Die Strafen für die Zudringlichkeit der Männer gegenüber den Frauen entsprachen dieser Hierarchie, wobei die am schwersten bestrafte Zudringlichkeit diejenige gegenüber den Schwangeren war, und dann die gegenüber den verheirateten Frauen. Ich behaupte damit, dass man eine Beleidigung der Frau als Angriff auf die Ehre des Mannes und seines Nachfolgers verstand. Oftmals folgten z. B. auf Siege massenhafte Vergewaltigungen der Frauen der Besiegten.9 Wie ich schon im ersten Teil der Arbeit feststellte, stellte man sich oft Länder, Städte und Festungen als Frauen vor, oder umgekehrt. Dies war für das männliche Ehrenethos bedeutsam und rechtfertigte bzw. förderte sein Eroberungs- und Aggressivitätspotenzial.10 Der Wert der Frau beruht auf ihrer Funktion als biologisches Fortpflanzungsorgan11, deswegen braucht sie Schutz: Die Ehre des Mannes hängt von seiner Fähigkeit ab, seine Gruppe zu schützen, wobei die Gruppe als seine soziale Identität zu verstehen ist. Wenn man eine Gruppe schädigen will, fängt man mit der „Vernichtung“ der Frauen an, wobei diese nicht unbedingt biologisch, sondern vor allem sozial vernichtet wurden, nämlich durch Vergewaltigung, Entführung usw. Sie werden ihrer ursprünglichen Gruppe entzogen. In diesem Zusammenhang kann man behaupten, dass in den traditionellen Gesellschaften die Frau keine Ehre hat, sondern eher einen materiellen Wert. Sie hat einfach im männlichen Ehrwettbewerb

5

Vgl. P. Ketsch 1986, S. 12; C. N. L. Brooke 1978, S. 2f; S. F. Wemple 1981, S. 22 und M. Bal 1988, S. 94. 6 Dies lässt sich leicht aus der Forschung über den Ehebruch und die Sexualdelikte erkennen (vgl. S. Burghartz 1990, S. 181f). 7 Vgl. S. Barth 1994, S. 37. 8 Die Gebärfähigkeit war ebenso ein Kriterium (vgl. P. Ketsch 1984, S. 149). 9 Vgl. C. Schöning-Kalender 1994, S. 583-94. 10 Vgl. H. W. Goetz 1995, S. 309. 11 Vgl. P. Ketsch 1984, S. 42.

Die Frau

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die Bedeutung eines Instruments12. Durch ihre Schönheit konnte der Mann Ehre und Ruhm erwerben.13 Im Buch Ester wird erzählt, wie der assyrische König Ahasveros ein Fest in der Hauptstadt Susa organisiert. Er betrinkt sich und will in seinem Stolz all seinen Gästen die Schönheit der Königin Vasthi zeigen, sodass man sieht, wie glorios er ist, weil er eine so Wunderschöne „besitzt“. Die Königin weigert sich jedoch, sich vorführen zu lassen, wodurch sie den König beschämt und unwiderruflich seine Ehre verletzt. Als Strafe für die Ungehorsame schlägt der königliche Rat vor: „Die Königin Vasthi hat sich nicht allein an dem König verfehlt, sondern auch an allen Fürsten und an allen Völkern in allen Ländern des Königs Ahasveros. Denn es wird diese Tat der Königin allen Frauen bekannt werden, sodass sie ihre Männer verachten und sagen: Der König Ahasveros gebot der Königin Vasthi, vor ihn zu kommen, aber sie wollte nicht. Dann werden die Fürstinnen in Persien und Medien auch so sagen zu allen Fürsten des Königs, wenn sie von dieser Tat der Königin hören; und es wird Verachtung und Zorn genug geben. Gefällt es dem König, so lasse man ein königliches Gebot von ihm ausgehen und unter die Gesetze der Perser und Meder aufnehmen, sodass man es nicht aufheben darf, dass Vasthi nicht mehr vor den König Ahasveros kommen dürfe und der König ihre königliche Würde einer andern geben solle, die besser [gehorsamer] ist als sie“ (Ester 1, 10-22).

Der moderne Mensch hätte Verständnis dafür, dass es die Königin ablehnt, zum Objekt eines rücksichtslosen Mannes zu werden, indem sie sich vor den Augen einer betrunkenen, begierigen Horde „ausstellen“ lässt. Die traditionelle Mentalität hingegen beurteilte dies als Ungehorsam und Angriff auf die Ehre.14 Die ehrbaren Eigenschaften der Frau beziehen sich ausschließlich auf Ehe und Mutterschaft15, zwei Institutionen der Bindung, Unterdrückung und Kontrolle der Frau im Dienste einer diskriminierenden Gesellschaft. In diesem Sinne war die Ehre des Mannes und seiner Sippe von der Treue der Frau abhängig. Des Weiteren galt eine Frau, die keine Kinder gebären konnte, als Bedrohung für das Weiterbestehen der Familienehre, die ohne Nachfolger in der Vergessenheit verschwand. Auch eine Frau, welche nur Mädchen auf die Welt brachte, hatte ebenfalls keine große, sondern lediglich eine tolerierte „Nützlichkeit“. Ein für das Mittelalter charakteristisches Frauenbild findet man bei Venantius Fortunatus (Venantius Honorius Clementianus Fortunatus, presbyter Italicus), Bischof von Poitiers im 6. Jahrhundert. Er schreibt ein Trostgedicht16 für einen jungen Mann (Da12

Vgl. C. Schöning-Kalender, S. 289. Vgl. K. Thiele-Dohrmann 2004, S. 156f. 14 Es sollte nicht vergessen werden, dass die Assyrer indoeuropäisch geprägt waren. 15 Vgl. S. F. Wemple 1981, S. 29f. 16 FORTUNATUS. 13

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gaulf), dessen Frau (Wilithuta bzw. lat. Vilithuta) kurz nach der Hochzeit zusammen mit dem Neugeborenen gestorben ist. Die Frau wird im Gedicht nur ein einziges Mal mit ihrem Namen erwähnt (V. 7), sonst werden stets Paraphrasen wie „Gemahlin des Dagaulf“ (V. 7) oder allgemein die Bezeichnungen Mutter und Ehefrau verwendet. Sie bekam also ihre soziale Identität durch ihren Mann, und ihr Ansehen beruhte auf Mutterschaft, ohne die eine Frau keinen Sinn hatte. Durch übernatürliche (V. 15 – Vincere naturam gloria maior erat) Schönheit, durch Frömmigkeit (V. 24) und durch Wohltaten (V. 30 – benefacta) wurde einer Frau Ehre – eigentlich Ruhm – zuteil, durch die sie die Ehre ihres Mannes vermehrte.17 Die Frau konnte durch eigene Taten einen wichtigen Beitrag zur Vergrößerung der Ehre des Mannes leisten: „Traditur optato consociata viro, / Nobilitas in gente sua cui celsa refulsit, / Atque suis meritis additur alter honor“ (V. 368). Man forderte von der Frau die Geduld im Ertragen von Knechtschaft als größte Tugend.18 Ungehorsam konnte nur Böses erzeugen. Wenn der Mann schwach ist und sich von der Frau führen lässt, treten lediglich Probleme auf, von denen das größte der Verlust der Ehre ist. Brünhild lässt sich von Gefühlen beherrschen, nicht von Ehre, und alles, was sie gegen Siegfried unternimmt, ist nur die Erfüllung eines leidenschaftlichen Rachedurstes. Eben weil Kriemhild nicht gehorsam gegenüber ihrem Mann ist – sie verrät trotz des Gebotes den schwachen Punkt Siegfrieds –, provoziert sie den Tod des Helden und seine Entehrung (da er keines ruhmreichen Todes stirbt). Die Rache der Frauen ist völlig ehrlos und tollwütig: Kriemhild opfert in ihrem Kampf ohne Bedauern ihr eigenes mit Attila gezeugtes Kind (rücksichtslos gegenüber der Kontinuität der Sippe), danach lügt sie die Burgunder an, um sie dazu zu veranlassen, ihre Waffen abzulegen, und schlachtet sodann die unbewaffneten Männer ab. Die Frau beweise dadurch eine vollkommene Inkompatibilität mit dem Kriegsethos. Die Selbstständigkeit der Frau wurde als teuflische Gefahr betrachtet. Ratherius von Verona (9.-10. Jahrhundert) belehrte die Frauen: „Du bist eine Frau? Strebe danach, die Schwäche, die du schon im Namen erkennen lässt, zur Tugend des Gehorsams, nicht zum Laster der Auflösung (der Kräfte) werden zu lassen. „Männin“ (virago), das heißt starke Frau, wurdest du nämlich am Beginn genannt, damit du dich ganz und gar daran erinnerst, dass du stark gegenüber den Lastern, doch geschmeidig in der Unterwerfung unter Gottes Gebote zu sein hast. Der Mann richtet sich durch seinen Geist, die Frau durch ihr Fleisch auf; so bemühe auch du

17 18

Vgl. K. Thiele-Dohrmann 2004, S. 160. Vgl. N. Elias 1979, S. 105 und die Worte Mariens in HELIAND, S. 13.

Die Frau

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dich gegen den Geist, die ungesunden Anfechtungen der Laster und Vergnügungen mit starker Geisteskraft zu besiegen.“ 19

Die einzig angesehene und Ehre bringende Handlung einer Frau war folglich der Gehorsam. Der Ehemann galt als caput der Frau20, und je größer die von der Frau ertragenen Beleidigungen und Schikanen waren, desto größer war ihre Ehre als unterworfene (d. h. ideale) Gefährtin. Im Bericht Gregors von Tours (6. Jahrhundert) über den Merowinger Klothar (Clothacharius rex) (†561) wird dieses Elend ihrer Stellung deutlich: „Als er [der König] Ingunde schon zur Ehe genommen hatte und sie mit ausschließlicher Liebe verehrte, da hörte er eine Bitte von ihr: ‚Mein Herr’ sagte sie, ‚hat mit seiner Magd getan, wie ihm beliebte und mich seinem Lager zugestellt. Nun höre mein Herr und König, um das Maß seiner Gunst voll zu machen, was seine Magd ihn bittet. Ich bitte Euch, bestellt gnädig meiner Schwester, die eure Sklavin ist, einen angesehenen und wohlhabenden Mann, damit ich durch sie nicht erniedrigt, sondern vielmehr erhöht werde und Euch um so ergebener diene’. Als er dies hörte, wurde er, da er allzu ausschweifend war, von Begier nach Aregunde befallen, nahm seinen Weg zu dem Hofe, wo sie wohnte, und vermählte sich mit ihr. Und als er sie zum Weibe genommen hatte, kehrte er zu Ingunde zurück und sagte: ‚Ich habe gesucht, dir die Gunst zu gewähren, um welche deine süße Liebe mich bat, und da ich einen reichen und weisen Mann suchte, welchem ich deine Schwester vermählen konnte, habe ich keinen besseren gefunden als mich selbst. So wisse denn, dass ich sie zum Weibe genommen habe, und dies wird dir, wie ich glaube, nicht missfallen’. Da sagt jene: ‚Was in den Augen meines Herrn gut scheint, das möge er tun; wenn nur deine Magd in der Gnade des Königs lebt’“.21

Der Zynismus des Königs ist erstaunlich, würde man heutzutage behaupten, aber sein Verhalten ist in der mittelalterlichen Zeit, wenn man an die Mechanismen der männlichen Ehre denkt, auch verständlich. Die Königin Ingunde begann aus Angst vor dem König mit einem langen demütigen Vorwort. Sie wollte nicht, dass er ihre Bitte als Unzufriedenheit auffasste, denn Unzufriedenheit einer Frau bedeutete Unehre für ihren Mann, der verpflichtet war, sich um sie zu kümmern.22 Noch stärker war sie sich 19 „Mulier es? Mollitiem, quam prefers nomine, ad obedientiae virtutem, non ad dissolutionis vitium, transferre stude. Virago enim, id est fortis mulier, vocata es in principio, ut et fortem te contra vitia et flexibilem in subiectionem Domini preceptorum esse debere memineris omnino. Vir itaque mente, mulier carne, insurgentes et tu adversus spiritum insanos vitiorum voluptatumque tumultus forti mentis vigore stude devincere“ (zitiert bei H.-W. Goetz 1995, S. 329). 20 Vgl. S. Shahar 1981, S. 91. 21 Gregor v. Tours IV, 2-17. 22 Sowohl bei den Römern als auch im Mittelalter stand die Ehre der Frau (je nachdem, wie viel sie hatte) im Zusammenhang mit der Verpflegung, die sie von ihrem Mann

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bewusst, dass ihre Bitte auch als Bedrohung der königlichen Ehre und seiner Einmaligkeit erscheinen konnte: In seinem Königreich gilt der König als der beste Mann von allen. Das wollte der König selbst zeigen, als er sich Aregunde als Konkubine nahm: Alles, was sich in seinem Königreich befindet, gehört ihm. Auch ist interessant zu erwähnen, wie die Ehre im Hause des Königs verstanden wurde und ebenso wahrscheinlich in jedem Haus: Ingunde will ihre eigene Ehre bewahren, indem ihre Schwester einen angesehenen Mann heiratet. Die Ehre des künftigen Ehemannes wird auf Aregunde übertragen, von ihr geht sie dann auf Ingunde über, die vornehmere Schwester, und schließlich vermehrt sie die Ehre des Königs, des Mannes Ingundes. In diesem Fall haben wir ein Beispiel für die feudale Ehre: Die Frau als soziale Verbreitung des Mannes23 schafft durch die Ehe Bündnisse zwischen den verschiedenen Ehrgemeinschaften. Wenn Aregunde geheiratet hätte, wäre ihr Mann zu einem Angehörigen der königlichen Ehrgemeinschaft geworden. Die Frau wurde in allen europäischen Traditionen mit Schwäche assoziiert, insbesondere mit seelischer Schwäche als unangenehmer Ergänzung der physischen Kraftlosigkeit (mollitia). Isidor von Sevilla äußert sich in seiner Enzyklopädie dazu: „Mulier vero a mollitie, tamquam mollier, detracta littera vel mutata, apellata est mulier.“24 Im Vergleich zu ihr ist der Mann der Tüchtige, da sein lateinischer Name, vir, a virtute25 kommt. Die Attribute der Frau wie Zärtlichkeit, Milde, Verletzlichkeit und Schönheit wurden von den Geistlichen und Kriegern als Gefahren für ihre persönliche Ehre wahrgenommen, da die Geistlichen Angst vor der Verführung der Frau hatten, in der sie einen Angriff auf ihre Ehre sahen, eine Ehre, die hauptsächlich aus der Keuschheit bestand.26 Für die Kleriker galt bekommen musste. „Die Frau wird durch die honores, die sie von dem Manne erhält, verpflichtet, ihm die Treue zu halten. Officium ist der Ausdruck, der die sittliche Verpflichtung, die der Gattin auferlegt ist, kennzeichnet“ (F. Klose 1933, S. 14). Alles, was im symbolischen Bereich honores heißt, bedeutet auf der praktischen Ebene Nahrung, Kleidung, das Halten von ancillae usw. 23 In „Cantar del mio Cid“ werden die beiden Töchter des Cid, Dona Elvira und Dona Sol, von ihren Männern geschlagen und entehrt, mit dem Ziel, dass ihr Vater selbst erniedrigt wird. Das zeigt uns, dass die Frau nur eine soziale Extension des Mannes (Vaters bzw. Ehemannes) war (vgl. A. Borst 1979, S. 6 ff). Im germanischen Frühmittelalter sind Frauen oftmals als Besitz der Männer betrachtet worden (vgl. P. Ketsch 1984, S. 14f). 24 ISIDOR XI, ii, 18-9. 25 ISIDOR X, 274. 26 Duby berichtet die Geschichte von dem Hl. Firmat (11. Jh.), der seinen Gegner, den Teufel, besiegte. Der Satan stellt dem heiligen Mann eine Falle: Er schickt ihm ein junges Mädchen in seine Asketenzelle, um ihn zu verführen. Firmat bekämpft das eigene Begehren durch Feuer: Er brennt sich mit einer glühenden Kohle aus dem Feuer selbst ins

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die Sexualität als größte Gefahr, weswegen die Ehe (obgleich ein Sakrament27) lediglich toleriert und in Verbindung mit der menschlichen Schwäche des Fleisches gebracht wurde. Allgemein wurde die Sexualität von den Geistlichen und Kriegern als Gefahr wahrgenommen, deswegen benötigte man eine strenge Kontrolle über dieses „Monster“. Zudem wurden die Frauen, die der Begierde der Männer widerstanden, der Ketzerei (sic!) verdächtigt: Sie seien „Reine“, d. h. Katharer, wenn sie sich dem Geschlechtsverkehr entziehen.28 Die Frau durfte ihre erotischen Waffen nur mit der Genehmigung des Mannes benutzen, weshalb es ihr normalerweise nicht erlaubt war, sich mit freien Haaren oder mit Schmuck in der Öffentlichkeit zu zeigen, es sei denn, ihr Mann ließ es zu. Hildegard von Bingen meint: „Unde Paulus apostolus, qui in summa volavit et in terra tacuit, ita quod non relevavit, quod absconditum fuit: Mulier, que subiacet virili potestati mariti sui, illi coniuncta in prima costa haec magnam verecundiam habere debet, sic quod non debet dare aut relevare preconium proprii vasculi viri sub alienum locum, qui ad illam non pertinet.“29

Für die Geistlichen konnte eine Frau nur Anerkennung erhalten, wenn sie Nonne, Märtyrerin oder Jungfrau war, wenn sie also außerhalb der menschlichen Physiologie stand30 und schon einem Engel gleich war. Dies ist in den subtilen Ablehnungstendenzen gegenüber der Ehe, die sich in der kirchlichen Tradition artikulieren, zu bemerken: Die Kirche hat immer ein Wort des Lobes für diejenigen Märtyrerinnen, die getötet wurden, da sie eine Eheschließung mit heidnischen Männern ablehnten. Auch die Frauen, die allgemein der Ehe entflohen, um sich einem geistlichen Leben im Kloster zu widmen, wurden von der Kirche gepriesen31. Hinter der Diskriminierung der Frau stand eine komplexe Theologie, die im Sündenfall ihre wichtigste Grundlage hat.32 Die Frau ist nicht nur die Verbündete des Teufels, sondern – noch schlimmer! – ein Symbol von ihm. Aus diesem Grund wird z. B. im

Fleisch (siehe bei G. Duby 1998, S. 11 und vgl. S. 44). Das bedeutet für die erste Funktion Ehre. 27 In einer langen Tradition, die bereits mit Paulus beginnt (1. Ko 7, 5), steht z. B. Anselm von Canterbury, der meint, dass „virginitas melior sit coniugio“ (CDH XVIII). Siehe auch E. Uitz 2003, S. 162. 28 Siehe die absurde Geschichte einer solchen Frau, die unschuldig als Häretikerin verbrannt wurde, nur weil sie einem fremden Mann Widerstand leistete, bei G. Duby 1998, S. 81. 29 PL 197, S. 337. 30 Vgl. P. Ketsch 1984, S. 49. „Wenn ihre Glut erloschen ist“ sagt Duby (G. Duby 1998, S. 46). 31 Vgl. H.-W. Goetz 1986, S. 43. 32 Vgl. H. W. Goetz 1986, S. 51 und A. Angenendt 1994, S. 88ff.

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

Codex Vindobonensis (1198) in der Szene des Sündenfalles33 die Schlange mit dem Kopf einer Frau dargestellt. Die in den mittelalterlichen Predigten angeprangerten Sünden der Frauen können nach drei Motiven strukturiert werden: 1. Sie benutzen Kosmetika, was eine teuflische List gegen die natürliche Schönheit oder die gottgewollte Hässlichkeit und damit gegen den Körper als Gottes Schöpfung ist; 2. Die Empfängnisverhütung und die Abtreibung, also eine Sünde gegen die Mutterschaft; 3. Durch Hexerei und Gift töten sie ihre Männer, die ihnen Herren sein sollten, was als Ungehorsam gilt. Die geschätzten Qualitäten einer Frau sind demnach die natürliche Schönheit, die fruchtbare Mutterschaft und der Gehorsam.34 Die Tatsache, dass das Christentum von archaischen vorchristlichen Mentalitäten stark beeinflusst, manchmal sogar verändert wurde, zeigt sich auch an der Entwicklung der christlichen Anschauungen über die Frau. Das Frühchristentum war frauenfreundlich.35 So werden in der Umgebung Christi oft Frauen erwähnt, die eine wichtige Rolle in der Erlösungsgeschichte spielten.36 Manche Frauen haben als Prophetinnen37 oder einfach als vorbildliche Christinnen in der Frühkirche eine herausgehobene Stellung besessen. Mit dem Untergang der kriegerischen rücksichtslosen Ehranschauung des Mittelalters, die lange Zeit dominant war und die nach der Gottesfriedensbewegung „sozialisiert“ wird, kommt es in der Theologie zu einer „Renaissance“ der Frau. Bei Petrus Lombardus hat Gott die Frau nicht aus dem Kopf Adams geschaffen, da nicht sie, sondern der Mann Herr sein sollte. Die Frau ist aber ebensowenig aus dem Fuß Adams geschaffen worden, da sie keine Sklavin sein sollte. Vielmehr wurde sie aus der Seite ihres Mannes geschaffen, denn sie sollte seine Gefährtin und seine Freundin sein.38

33

Gezeigt als Abbildung in E. Uitz 2003, S. 159. Vgl. G. Duby 1998, S. 14f. Die Frau gilt als Meisterin der List überhaupt. In der ars mentiendi übertrifft sie sogar den Satan (vgl. P. G. Schmidt 2004, S. 37f). Wenn eine Frau ihre physische Schwäche verständlicherweise durch eine sich in Listen äußernde Klugheit zu kompensieren versuchte, wurde dies in einer Männerwelt als Teufelswerk betrachtet, zumal die Täuschung, vor allem im Krieg, als ehrlos galt. 35 Bereits in den Deuteropaulinen findet sich eine moderate Abwertung der Frau gegenüber dem Mann (Eph 5, 23-33); solche Tendenzen werden bei Ambrosius und Augustinus weitergeführt und radikalisiert (vgl. S. Barth 1994, S. 23ff). 36 Vgl. P. Ketsch 1984, S. 29f. 37 Vgl. S. F. Wemple 1981, S. 19ff. 38 Vgl. E. Uitz 2003, S. 160. Dasselbe Argument findet sich nach G. Jaritz bei einem „Schwarzwälder Prediger“ des 13. Jahrhunderts, der zu der Schlussfolgerung kommt, dass Mann und Frau „rechte sin ain lip und zwo sele“ (vgl. G. Jaritz 1986, S. 188). 34

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Die Krieger sahen ihrerseits in der Milde der Frau die Gefahr einer Schwächung ihrer kriegerischen Wut und ihrer kriegerischen Tüchtigkeit.39 Titus Livius berichtet, wie nach dem Kampf der Horatii mit den Curiatii einer der siegreichen Horatii seine Schwester tötet, da sie als Verlobte eines der verstorbenen Curiatii weint und den Sieg nicht feiert. „An der Spitze der Römer ging Horatius prunkend mit der dreifachen Kampfbeute. Vor dem Capenischem Tore (porta Capena) kam ihm seine unverheiratete Schwester (cui soror virgo) entgegen, die mit einem der Curiater verlobt war (quae desponsa uni ex Curiatiis fuerat); und wie sie auf ihres Bruders Schulter den Waffenrock (palludamentum) ihres Bräutigams, den sie selbst verfertigt hatte, erblickte, zerriss sie ihr Haar und rief mit Tränen ihren toten Bräutigam beim Namen (solvit crines et flebiliter nomine sponsum mortuum appellat). Dies Gewinsel seiner Schwester bei seinem Siege, bei der so lauten allgemeinen Freude, erregte den Zorn des hochsinnigen Jünglings. Er zog sein Schwert und durchstieß sie (movet feroci iuveni animum conploratio sororis in victoria sua tantoquo gaudio publico stricto itaque gladio transfigit puellam).“ 40

Die Frau ist a priori böse und gefährlich, all ihre Fehler und Bösartigkeiten anzusprechen, ist fast unmöglich. Das behauptet auch ein anonymer Dichter aus dem 13. oder 14. Jahrhundert in seinem Gedicht Proverbia que dicuntur super natura feminarum.41 Das Poem wurde in einer aus provenzalischen, italienischen und französischen Elementen bestehenden Sprache geschrieben. Der Zweck der Dichtung besteht darin, von der Schlechtigkeit der Frau zu sprechen, „damit vor ihrer Falschheit die Männer auf der Hut seien“ (V. 291). Eine Frau zu lieben ist eine Narrheit, und derjenige, der von einer Frau verletzt wird, darf sich nicht beschweren. Die Liebe ist eine Lüge, da die Frau in Wirklichkeit widerlich ist: „Alles bösen Truges ist das Herz des Weibes voll; wie kann sie lieben, wer sie kennt?“ und weiter: „Wer Weiber liebt, macht sich zum Ziel ihrer Bosheit, er webt ohne Zettel, und ergeht es ihm übel, so hat er kein Recht zu klagen“ (V. 292). Die Verweichlichung des Mannes, die von der weiblichen Schönheit provoziert werden könnte, wird am stärksten gefürchtet: „Der Basilisk tötet mit seinem giftigen Blicke; das geile Auge des Weibes macht den Mann zu Schanden und dörrt ihn wie Heu“ (V. 294). Die Angst vor der Frau und ihren bösartigen Kräften enthüllt sich in den Gesetzen und im Alltag des Mittelalters. Wenn ein Mann auf verdächtige Art und Weise zu Tode kam, musste die Gattin das Gottesurteil bestehen,

39 Die Frau ist stets ein Preis, bei kriegerischen Angelegenheiten ist sie allerdings unerwünscht (vgl. A. Nitschke 1976, S. 167). Die Krieger vermeiden oftmals den Kontakt mit einer Frau oder ihre unmittelbare Nähe (vgl. G. Althoff 2003b, S. 8). 40 LIVIUS I, 26. 41 Siehe Natura feminarum.

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nicht die anderen Angehörigen der familia. Die Lex Thuringia42 (LII) fordert, dass eine Frau, wenn sie verdächtigt wird, in die Tötung ihres Gatten verwickelt zu sein, ihre Unschuld im ordalischen Zweikampf durch einen Vorkämpfer beweisen soll, und dass sie, falls sie keinen hat, das Gottesurteil der glühenden Pflugschar bestehen muss: „Si mulier maritum venificio dicatur occidisse vel dolo malo ad occidentum prodidisse, proximus mulieris campo eam innocentem efficiat aut, si campionem non habuerit, ipsa ad VIII vomeres ignitos examinanda mitatur.“

In dem Kriegsethos hat die Frau ihren Sinn nur als Beute oder als Preisgeld für den Kämpfer. Obwohl im Nibelungenlied König Gunther Brünhild nicht kannte, will er sie trotzdem in einem Kampf für sich gewinnen – damit er seine eigene Ehre mit den Verdiensten der berühmten Königin vermehrt. Dass alles eine Ehrensache ist, geht aus den Worten des Königs hervor, der entschlossen sagt, dass er die Frau gewinnen oder sein Leben verlieren will: [I]ch will durch ir minne wagen minen lip, / den will ich verliesen, sine werde min wip (6. Aventiure, 329).43 Kriemhild selbst wird Siegfried als Preis und Belohnung für die militärische Hilfe anvertraut.44 Diesen psychischen Komplex des Mannes, das Andere45 der Frau misstrauisch zu betrachten, könnte man auch psychologisch und anthropologisch begründen. Manche Anthropologen meinen, dass die traditionellen Gesellschaften, welche die Mutter zur Erzieherin der Kinder bestimmten, die kulturelle Basis für einen Geschlechterkonflikt schufen, indem die Existenz des Jungen bis zur Pubertät von der Mutter geprägt wird. Sie denkt für ihn, erzieht ihn, schützt ihn und wird so zu seinem Habitus. Der jugendliche Mann strebt danach, diese matriarchale Herrschaft zu durchbrechen, und tut das durch Aggressivität, Wettstreit und Rebellion als Formen des Selbstbeweises.46 All dies hat seinen Grund in dem allgemeinen Autonomiebedürfnis des menschlichen Wesens, wobei Autonomie „derjenige Zustand der Integration [ist], in dem ein Mensch in voller Übereinstimmung mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen ist, d. h. die Fähigkeit ein Selbst zu haben. Der Bruch zwischen Mann und Frau finge, nach den meisten Soziologen, in der Kindheit an, wenn die weiblichen Gefühle und Seiten des Jungen – die er als psychisch androgyne Natur besitzt – durch Erziehung, also Kultur, unterdrückt und ausgelöscht werden. Man sagt ihm, dass ein Mann hart und kämpferisch sein soll, Sachen, die manchmal ein Über42

Siehe Lex Saxonum et Lex Thuringorum. NIBELUNGENLIED. 44 Siehe auch P. Dinzelbacher 1993, S. 23. 45 Maßgebend ist wohl die nicht hinterfragte heterosexuelle Männlichkeit als „apriorische Gegebenheit“ (vgl. I. Rogoff 1989, S. 21). 46 Vgl. A. Dundes 1994, S. 169. 43

Die Frau

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forderungsgefühl bzw. eine Frustrierung provozieren, was sich durch einen Komplex der Hilflosigkeit zusammenfassen lasse. Der Hass auf die Frau kommt von der Angst, dass sie ihn durch Schönheit, Zärtlichkeit usw. – also alles, was dem Knaben durch Erziehung abgewöhnt wurde – hilflos machen kann, also unfähig, seine soziale Bestimmung zu erfüllen, seine Ehrenhaftigkeit (= gesellschaftliche Geltung) zu demonstrieren“.47 Diese Mentalität der die Ehre bedrohenden Frau lässt sich auch im Waltharius-Lied finden. Attila, der Hunnenkönig, schlägt seinem Gefolgsmann Waltharius vor, dass er diesem eine Ehefrau sucht. Dadurch wollte der König Waltharius enger an seine Herrschaft binden. Der Held bemerkt aber den Trick und sagt: „Wenn ich nach dem Befehle meines Herrn ein Weib heim führe, werde ich in erster Linie von der Fürsorge und Liebe für die Maid in Anspruch genommen und vielfach vom Königsdienst abgelenkt, bin gezwungen, Häuser zu bauen und Ackerbau zu treiben, und das hält mich ab, vor den Augen meines Herrn zu erscheinen.“48

Ein „Weib“ konnte katastrophale Einflüsse auf die Ehre des Helden haben: 1. Sie könnte ihn zum Treuenbruch veranlassen; 2. ihretwegen könnte sich der Held möglicherweise ehrlosen Tätigkeiten, d. h. solchen, die für die dritte Funktion spezifisch sind, widmen. Nebenbei angemerkt ordnete die mittelalterliche Mentalität meiner Meinung nach die Frau in das Wertungssystem der dritten Funktion ein, wo sie aufgrund ihrer eigenen „Qualitäten“ (Mutterschaft, Fruchtbarkeit, physische Schönheit) angesehener war. Tatsächlich ist der dritte Stand von einer anderen Anschauung der Frau geprägt. Sie hat dort gewissermaßen eine bessere Stellung.49 Im Jahre 1393 schrieb ein bürgerlicher Anonymus aus Paris ein Haushaltsbuch für seine junge, unerfahrene Frau.50 Hier wird die Frau als eine Göttin des Hauses, als ein Symbol des männlichen Wohlstandes dargestellt. Die Beschreibung der Aufgaben der Gattin beginnt er mit einem alten bäuerlichen51 Spruch: Es gibt drei Dinge, die den Hausherrn von daheim verjagen, nämlich ein schadhaftes Dach, ein qualmender Kamin und ein zankendes Weib.52 Der Pariser Bürger sagt weiter:

47

Vgl. L. Böhnisch/R. Winter 1993, S. 22-37. „Si nuptam accipiam domini praecepta secundum, / Vinciar imprimis curis et amor puellae / Atque a servitio regis plerumque retardor, / Aedificare domos cultumque intendere ruris / Cogor, et hoc oculis senoris adesse moratur“ (WALTHARIUS 150-4). 49 Vgl. H.-W. Goetz 1986, S. 50. 50 Siehe Le Ménagier. 51 Ein weiteres Argument dafür, dass die Bourgeoisie eine enge Verbindung mit dem Bauerntum hat und dass beide ursprünglich dasselbe Wertungssystem teilten. 52 Le Ménagier, I, art. 7, S. 114; übersetzt v. A. Borst 1979, S. 66. 48

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

„Und alles macht ihm nichts aus [dass er den ganzen Tag draußen im Wind, Regen, Schnee, Hagel arbeitet], denn ihn tröstet die Hoffnung auf die Fürsorge seiner Frau, wenn er zurückkommt, und auf die Gemütlichkeit, die Freuden und Vergnügen, die sie ihm bereitet [...]: die Schuhe beim warmen Feuer ausziehen, die Füße waschen lassen, frische Schuhe und Strümpfe anziehen, gutes Essen und Trinken vorgesetzt bekommen, schön bedient und versorgt werden, fein gebettet sein in weißen Betttüchern und weißen Schlafmützen, anständig zugedeckt mit guten Pelzen, verwöhnt durch andere Freuden und Unterhaltungen, Vertraulichkeiten, Liebesdienste und Heimlichkeiten.“53

Es liegt hier ein komplettes Bild der Wertungen der dritten Funktion vor, aus dem man entnehmen kann, welche Stellung die Frau hat. Sie muss als gute Haushälterin die Ehre des Bürgers erhalten, sodass er für sein gemütliches (!) Leben von anderen Leuten beneidet werden kann. Es ist ihm wichtig, gut zu essen, gesund zu sein, ein warmes Haus zu haben und die körperliche Liebe zu genießen. Deswegen hat die Frau stets vorbereitet zu sein, alle diese Wünsche zu erfüllen54, und dies macht aus ihr schließlich eine ehrbare Gattin.55 In der bürgerlichen Welt ist die Hausherrin ein Symbol der partikulären Sphäre: Sie darf sich nicht in das Männerhandeln einmischen56 und ist zur Isolierung verurteilt. Bei den Bauern aber hat sie eine bessere Position, da sie nicht nur für die Fortpflanzung und die Führung des Haushaltes wichtig war. Sie war aktiv an der bäuerlichen Arbeit beiteiligt.57 „Sie war in die alltägliche Plage des Lebensunterhaltes gnadenlos mit eingespannt und kein Luxusweibchen. Auch im Dorf hörte man von der Frau wenig [...]. Dennoch konnte sie matriarchalisch wirken [...]. Im bäuerlichen Kreis zählte die Frau offenbar weit mehr als in höher spezialisierten Gemeinschaften“.58 In diesem Sinne ist der Mut von Johanna D’Arc, unter den Herrschaften des Hofes von Chinon ohne (große) Ein53

Le Ménagier, I, art. 7, S. 113; übersetzt v. A. Borst 1979, S. 66. In der bürgerlichen Gesellschaft verbreitet sich die Annahme, dass der wichtigste Sinn der weiblichen Existenz im Zusammenhang mit dem Haushalt und mit dem männlichen Wohlstand stehe (vgl. H.-W. Goetz 1986, S. 52). 55 Bei den Kriegern galt es als ehrenhaft, während eines Krieges die Müßigkeit und Verwöhnung abzulehnen. Es war rühmlich, schlecht zu essen, trotzdem gut zu kämpfen, eine bescheidene Unterkunft zu haben und sich den sexuellen Beziehungen zu entziehen. In vielen Fällen sind Verbote bekannt, Frauen auf Feldzüge mitzunehmen. Die Frau des Kriegers muss Wunden verbinden können, Durst stillen und gehorsam sein. Waltharius befiehlt seiner Frau nach einem schweren Kampf: „’Ocius huc potum ferto, quia fessus anhelo’./ Illa mero tallum complevit mox pretiosum“ (WALTHARIUS, S. 36). Das wäre in der heutigen Kultur ein unvorstellbares Verhalten eines Mannes und ich glaube, dass eine Frau heute den Befehl gewiss nicht „mox“ erfüllen würde. 56 Vgl. P. Ketsch 1984, S. 15 und S. 147. 57 Vgl. P. Ketsch 1983, S. 80. 58 A. Borst 1979, S. 71. 54

Die Frau

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schüchterung zu sprechen und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, verständlich. Sie kam aus einer bäuerlichen Familie, wo anscheinend die Frauen ihre Meinungen äußern durften.59 Aber diese Freiheit ist relativ. Im Bauerntum, jedoch am häufigsten in der Bourgeoisie – ebenso im ersten und zweiten Stand – wurde eine von der Gattin geleitete Ehe als eine verkehrte Ordnung betrachtet. Es gibt viele satirische Bilder dieser Realität mit dem Motiv des „unterjochten Ehemannes“.60 Dort wird gezeigt, wie es nicht sein darf: Ein solcher Mann hat unwiderruflich seine Ehre verloren. Die Ehre der Frau ist also von Stand zu Stand unterschiedlich. Die Art, wie sie gesehen wurde, steht in direkter Verbindung mit den eigenen Ehrund Wertvorstellungen jeder Funktion. Sie selbst aber bleibt benachteiligt und den Wünschen und Interessen des Mannes unterworfen. Obwohl das Bürgertum viel milder und sich der Bedeutung und Intelligenz der Frau bewusst war, wurde sie dort nicht wesentlich weniger diskriminiert. Dem dritten Stand gebührt zwar das Verdienst, dass er endlich die geistigen Fähigkeiten der Frau geschätzt hat, doch tat er das nicht aus Großzügigkeit oder Gerechtigkeitsgefühl, sondern aus einem rein praktischen Interesse. Die Frau wurde an der Buchhaltung und an Geschäften beteiligt61, da sie meist besser gebildet war als der Mann. Auch bei den Kriegern gibt es durch die Minnekultur eine Periode der Aufwertung der Frau, aber ebenfalls aus praktisch-politischen Gründen. Aufgrund der Herrschaftszersplitterung und der Anarchie, die von der verschwenderisch-exzessiven Belehnung verursacht wurden62, gibt es bei den Fürsten und Königen des Spätmittelalters eine zentralisierende Gegenreaktion63, bei der die Frau als einen Zentralisierungsfaktor eingesetzt wurde. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass die Frau (die Dame) der höfischen Kultur nur ein Mittel der Fürsten war64, um ihre Vasallen und Gefolgsleute nicht mehr belehnen zu müssen und sie an den Hof zu locken, wo sie sie im Auge behalten konnten. Die Höflinge waren mit der großen Ehre, der Gunst der Herrin teilhaft zu 59

Vgl. S. F. Wemple 1981, S. 70. Vgl. G. Jaritz 1986, S. 186. 61 Vgl. P. Ketsch 1983, S. 226f und 230. 62 Vgl. F. Guttandin 1993, S. 80; J. Fleckenstein 2000, S. 101 und N. Elias 1979, S. 17ff. Die Termini für den Großgrundbesitz sind im Mittelalter fundus, praedium, villa. Interessant ist aber, dass die Quellen häufiger Diminutive (locellum, mansionile usw.) für den Grundbesitz benutzen, und das zeigt uns, dass die exzessive Belehnung eine Zersplitterung des Grundbesitzes, implizit der Herrschaft, verursachte (vgl. G. Duby 1977, S. 43). 63 „Der Höfling ist eine Erscheinung des Zerfalls des Lehnswesens und der Zentralisierung der Herrschaft an wenigen großen Adelshöfen, von denen aus nun mit Hilfe von besoldeten Beamten und Dienstmännern und nicht mehr über die Verteilung von Lehen an Vasallen die politische Herrschaft ausgeübt wird“ (F. Guttandin 1988, S. 27). 64 Vgl. F. Guttandin 1993, S. 86. 60

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Ehranschauungen im Kontext der mittelalterlichen Gesellschaft

werden, zufrieden.65 In diesem höfischen Ethos der Minne gab es keine strenge Einteilung in Vasallen und Herren mehr, sondern alle waren Rivalen in demselben Wettbewerb um die Liebe der Herrin. So entsteht ein objektiver Ehrenkodex und die Ehre wird zur Standesehre66, d. h., sie ist nicht mehr eine private subjektive Ehre der Großfamilien. Die Zentralisierung erfolgt u. a. auch durch eine Veränderung der Ehrsemantik, welche sich schon in der pax Dei ankündigte. Die politische Zentralisierung der Staaten ist u. a. das Ergebnis der Etablierung des Akkumulationsdenkens67 im Kampf gegen die Verschwendung.

65

Die Minne ist aber kein allgemeines Phänomen, d. h., es gibt weiterhin Kriegerkulturen, die traditionalistisch bleiben und die die höfische Liebe als erniedrigend und pervers empfinden, als eine Welt ohne Werte und Ehre (vgl. J. Le Goff, „The Symbolic Ritual...“, S. 263). 66 Vgl. F. Guttandin 1988, S. 30. 67 Vgl. N. Elias 1979, S. 88ff.

IV. Die Vertretungsehre. Über einen neuen Ehrbegriff in seiner sozial-historischen Wirksamkeit: Dem Gottesfrieden Das Jahr 1000 in der Gottesfriedensproblematik. Eine Klarstellung Motto: „Und er griff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre und warf ihn in den Abgrund und verschloss ihn und tat ein Siegel oben darauf, dass er nicht mehr verführen sollte die Völker, bis das vollendet würden die tausend Jahre. Danach muss er wieder los werden“ (Offenbarung 20, 2-3). Das Gottesfriedensphänomen fällt zufällig in die Zeitspanne zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert, also in die erste Jahrtausendwende. Deshalb versuchen manche Historiker, diese beiden Daten zu verknüpfen und sie in ein Abhängigkeitsverhältnis zu bringen: Der Gottesfrieden sei das Ergebnis der millennialen Wende, die angeblich tiefe Spuren in der mittelalterlichen Mentalität der Menschen hinterlassen und sie auf verschiedene Weisen psychotisch geprägt hat. Man habe damals das Millennium mit dem Armageddon assoziiert, daher haben die Menschen aus Angst ihr Verhalten revidiert und die Anarchie eingedämmt, mit anderen Worten sie haben sich nach dem Gleichnis der fünf klugen Jungfrauen (Mt 25) für die Parusie bereit gemacht. Diese Theorie beruht auf einem historischen Mythos.1 Das Ziel des folgenden Exkurses ist es, diese These kritisch zu betrachten: Es ist eben wesentlich für die Gottesfriedensproblematik, ob die Friedensbewegung einen psychotischen Auslöser brauchte, um sich zu entfalten, oder ob sie eine natürliche Entwicklung des mittelalterlichen Sozialorganismus darstellt. Als 1642 der Kardinal Caesar Baronius in seinen Annales Ecclesiastici über die Ereignisse des Jahres 1000 schrieb, ahnte er mit Sicherheit nicht, 1

Einen neutralen „parteilosen“ Überblick über den gesamten Disput findet man bei H.H. Kortüm 2000.

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Die Vertretungsehre

welche Polemik er auslösen sollte, die die gesamte historische Forschung über die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert spaltete.2 In dem 11. Band seines monumentalen Werkes behauptet er unter dem Titel Anno 1001: „Novum saeculum inchoatur. Incipit annus primus post millesimum, indictione decimaquatra notatus, idemque nonnullorum vana assertione praenuntiatus mundi postremus, vel ipsi propinquus; quo nimirum revelandus esset ille homo peccati, filius perditionis, dictus cognomine Antichristus. Fuerant ista in Galiis promulgata, ac primum praedicata Parisiis, iamque vulgata per orbem, credita a compluribus, accepta nimirum a simplicioribus cum timore, a doctioribus vero improbata.“3

Baronius zufolge sei praktisch um das Jahr 1000 eine chiliastische4 Psychose ausgebrochen, indem man dachte, dass das Ende der Welt bevorstehe. Diese Meinung war anfangs durchaus verbreitet, ist aber heute stark umstritten. Tatsächlich stößt jede historische und kulturelle Untersuchung, die die Zeitspanne zwischen 950 und 1050 im Blick hat, auf die Fragestellung des Jahres 1000: Man fragt sich, ob alle gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Prozesse von einer psychotischen Angst geprägt wurden oder nicht. Die Forschung über die Gottesfriedensbewegung kann gleichfalls diesen Diskurs nicht unbeachtet lassen. Es ist wesentlich zu wissen, ob die Gesellschaft des beginnenden 11. Jahrhunderts aus sich heraus dynamisch genug war, um sich selbst zu regulieren, oder ob sie den Zufall des „apokalyptischen“ Millenniums brauchte, um sich aus jahrhundertelanger Passivität zu befreien und das Leben des Kontinents neu zu gestalten. Falls sich die Theorie des Schreckens des Jahres 1000 als unwahrscheinlich erweisen lässt, können die Ereignisse zu Beginn des zweiten Jahrtausends nur als Geschehen innerhalb eines vitalen Sozialkorpus gedeutet werden, das von alleine und nach archaischen Mechanismen die inneren Störungen und Probleme behebt, wobei nicht effiziente soziale Strukturen ausgelöscht bzw. umgestaltet werden. Solche Prozesse beginnen aber notwendigerweise im psychologisch-mentalen Bereich: Bestimmte Vorgänge und Wertungen werden bewusst oder unbewusst in Frage gestellt, neue Normen entstehen und neue Regeln treten in den Vordergrund. Die Gesellschaft erwartet von ihren Mitgliedern etwas anderes als früher und beurteilt sie nach neuen Kriterien. Dieser ganze dynamische Wertewandel spiegelt sich vor allem in 2

Vgl. J. Fried 2002, S. 281. C. Baronius 1642, S. 1, I. Wobei „chiliastisch“ in diesem Kontext die Verknüpfung des tausendjährigen Reichs Christi und der damit verbundenen eschatologischen „Naherwartung“ mit dem chronologischen Jahr 1000 n. Chr. bedeuten soll (vgl. B. Barbatti 1953, S. 129). Auch Formulierungen wie „millennial“, „millennaristisch“, „apokalyptisch“ oder „eschatologisch“ sollen hier im Hinblick auf die Fragestellung des Jahres 1000 verstanden werden. 3 4

Das Jahr 1000 in der Gottesfriedensproblematik

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der Ehrsemantik wider. In dieser Hinsicht ist die Assertion, dass der enorme Aufschwung der städtischen Kultur ab dem 11. Jahrhundert mit der angeblichen Naherwartung des Jahres 1000 in Verbindung stehe5, riskant: Das 11. Jahrhundert ist nur der Beginn eines langen Entstehungsprozesses der mittelalterlichen Stadt, die ihren großen Glanz erst im Spätmittelalter entfalten wird. Für mich hängt die Entwicklung der Stadt mit der Emanzipation des dritten Standes (Bauern und Bürger) zusammen und mit einer neuen Anerkennung durch die anderen zwei Stände. Manche Forscher gehen davon aus, dass die Gottesfriedensbewegung eine Folge der millennaristischen Hoffnungen auf eine bessere und sicherere Welt sei.6 Die Menschen um das Jahr 1000 hätten gehofft, dass das tausendjährige Reich Christi endlich gekommen sei, deswegen bereiteten sie dessen Beginn durch große populäre Friedensbewegungen vor.7 Dass solche Hoffnungen mit einem konkreten Zeitpunkt verknüpft werden, scheint mir – aus theologischer Perspektive betrachtet – spekulativ und unwahrscheinlich: Für die eschatologische Erwartung im christlichen Sinne ist der Anfangspunkt wichtig, nicht die vergangene Zeit, d. h., das Reich Christi kommt für eintausend Jahre und ist nicht erst nach eintausend Jahren zu erwarten8. Auf der anderen Seite muss klargestellt werden, dass eine freudige Hoffnung auf keinen Fall die Gottesfriedensbewegung gerechtfertigt hätte: Die Apokalypse bedeutet ja das Ende der historischen Zeit, und man hat keine Möglichkeit mehr, die Welt zu verbessern. Wer den sofortigen Einbruch des Armageddons erwartet, kann nur beten und auf Gnade beim Jüngsten Gericht hoffen: Man ist besorgt; die Menschheit des anbrechenden 11. Jahrhunderts zeigt aber keine besondere Aufregung. Die Gottesfriedensbewegung muss daher eine andere Ursache gehabt haben. Für eine adäquate Analyse des Gottesfriedens in dem sozialen und mentalen Kontext des 10.-11. Jahrhunderts halte ich es für nötig, die Problematik der Jahrtausendwende, die von manchen Historikern als Zeit akuter Ängste vor dem nahen Weltende dargestellt wurde, kurz zu untersuchen. Mit Kardinal Baronius beginnt also eine lang andauernde Kontroverse über die kulturelle Bedeutung des Jahres 1000 als Grenze zwischen der 5 Vgl. das Vorwort im Buch „The Apocalyptic Year 1000. Religious Expectation and Social Change 950-1050“, R. Landes, A. Gow, und D. C. Van Meter (Ed.), Oxford 2003, S. ix. 6 Vgl. R. Landes 2003b, S. 245. 7 J. Fried meint, dass diese sozialen Phänomene einer religiös-eschatologischen Besinnung entsprechen, da man das Chaos der feudalen Anarchie des 10.-11. Jahrhunderts als satanisch auffasst, also als inkompatibel mit dem baldigen Kommen Christi. Deswegen versuchen die Menschen in diesem letzten Augenblick, Gott angemessen zu empfangen (vgl. J. Fried 1989, S. 446). 8 Vgl. die Analyse von D. Barthelemy 2002, S. 159-160.

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alten und neuen Ordnung. Der Übergang vollzog sich einigen Historikern zufolge als ein von Angst und Besorgnis geprägter Prozess. Es gibt zwei Schulen, die sich mit dem Jahr 1000 auseinandersetzen und es unterschiedlich deuten. Ich werde sie die „millenniale“ bzw. die „antimillenniale“ Schule nennen. Die millenniale Theorie erweckte deshalb so viel Misstrauen bei den Wissenschaftlern, weil sie am Anfang mit einer romantischen Aura dargestellt wurde, die mehr an Ritterromane als an einen konkreten historischen Moment erinnerte. Der französische Geschichtsschreiber Jules Michelet verfasste 1833 einen berühmten Paragrafen über den sogenannten „Terror des Jahres 1000“: „Malheur sur malheur, ruine sur ruine. Il fallait bien qu’il vint autre chose, et l’on attendait. Le captif attendait dans le noir donjon, dans le sépulcral in pace; le serf attendait sur son sillon, a l’ombre de l’odieuse tour; le moine attendait dans les abstinences du cloître, dans les tumultes solitaires du cœur, au milieu de tentations et de chutes, des remords et des visions étranges, misérable jouet du diable qui folâtrait cruellement autour de lui, et qui le soir, tirant sa couverture, lui disait gaiement à l’oreille: ‘Tu es damné!’“.9 Solche Beschreibungen reizen die modernen Historiker zum Widerspruch. Obwohl Dominique Barthélemy das Werk Michelets prinzipiell schätzt, wirft er ihm eine defizitäre und tendenziöse Benutzung der Quellen vor sowie eine mythologisierende Vision, die den Kontakt zu der historischen Realität verliere.10 Michelet trifft jedoch keine Schuld. Er steht in der langen „Baronius-Tradition“, der zufolge das Jahr 1000 Schrecken hervorrief. Vor ihm behauptete 1770 Wilhelm Robertson: „Eine Meynung, die gegen das Ende des zehnten, und den Anfang des eilften (sic!) Jahrhunderts ganz Europa erstaunlich schnell durchlief und einen allgemeinen Glauben gewann, vermehrte die Zahl dieser leichtgläubigen Pilger, und verdoppelte den Eifer, womit sie diese unnütze Reise antraten, auf eine wundernswürdige Art. Man bildete sich ein, die tausend Jahre, deren der Heilige Johannes erwähnt, wären erfüllt, und das Ende der Welt sey nahe“.11 Michelet ist also nicht romantischer als andere, sondern die Meinung, deren Vertreter er ist12, hat an sich viel Schwärmerisches. Eine solche polemische Darstellung wie jene Robertsons wurde in den politischen Auseinandersetzungen der jungen französischen Nation auf9

J. Michelet 1981, S. 230. Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 10. 11 W. Robertson 1770, S. 29-30. 12 Barthélemy spricht in diesem Sinne von der „alten Schule des Jahres 1000“ (18301950) mit J. Michelet, E. Lavisse – dem Herausgeber einer umfangreichen Geschichte Frankreichs – und G. Duby als zentralen Figuren. Das Werk Dubys sei wie ein großer astreicher Baum, aus dem man sich um der Gesundheit des Ganzen willen gezwungen sieht, ein paar Äste zu entfernen: So ein Ast wäre demzufolge das Kapitel über das Jahr 1000 (siehe D. Barthélemy 2002, S. 39). 10

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gegriffen: Die Antiklerikalen des 19. Jahrhunderts warfen der Kirche vor, den Menschen im Mittelalter absichtlich Furcht eingeflößt zu haben, um sie leichter kontrollieren zu können und zu unterwerfen. Die Klerikalen erwiderten durch Ernest Sémichon (1857), dass die Kirche des 11. Jahrhunderts diejenige Institution sei, die sozialen Konsens schaffe und dem feudalen Chaos durch die Friedensbewegung ein Ende setze. Es handle sich also um eine Bewegung, in der der Diskurs über das Jahr 1000 nicht auftauche, da die Jahrtausendwende nicht besonders beachtet worden sei.13 Die Auseinandersetzung ist auch heute nicht beendet worden, denn immer wieder erheben sich neue Stimmen für das eine oder das andere der beiden Lager.14 Die Vertreter der millennialen Schule übersehen vor allem einen grundsätzlichen Aspekt der christlichen eschatologischen Tradition. Bereits seit Augustinus (†430) wurde der Chiliasmus als Häresie betrachtet und von der Kirche abgelehnt. Die spätere christliche Mission und die entsprechend ausgebildeten Priester, die demgemäß zum Volk predigten, distanzierten sich ausdrücklich von der temporalen Auslegung der Worte der johanneischen Offenbarung und von allen Versuchen, einen Zeitpunkt für das Ende der Welt zu bestimmen15. Die ketzerische Eschatologie, die verschiedene Termine für den Weltuntergang propagierte, war ein Problem von Anbeginn des Christentums. Der Streit spitzt sich 410 mit dem Fall Roms unter die Gothen zu, der von vielen als sicheres Zeichen für das Kommen des Antichrists, des Eschatons und des Jüngsten Gerichts angesehen wurde. Obwohl Christus selbst sagte: „Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern allein der Vater“ (Mt 24, 36), kam es im glühenden Glaubenseifer der ersten christlichen Jahrhunderte zu manchen extremen Abweichungen von der biblischen Überlieferung. Die erste große Widerlegung solcher Übertreibungen erfolgte durch den afrikanischen Donatisten Tyconius (Ende des 4. Jahrhunderts).16 Obwohl 13

Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 11. Siehe die ausführlichen Untersuchungen über die Entwicklung dieser Problematik bei: G. L. Burr 1963, S. 430ff; B. Barbatti 1953, S. 136f; V. Vasiliev 1942/43, S. 480ff. 15 „Furthermore, in the West at least, the antiapokalyptic theology advanced by Augustine and Tyconius emphasized a moral and internal reading of Antichrist symbolism at the same that is eschewed any attempt to investigate present events in order to determine the signs of the end“ (B. McGinn 1994, S. 79). Paula Fredriksen meint dagegen, dass nur die Nachfolger Augustins seine Meinung übernommen haben, während die „contemporaries were less convinced“; deswegen gibt es in der Spätantike weiterhin chiliastische Strömungen (vgl. P. Fredriksen 1992, S. 36): Die Menschen hätten stets Sehnsucht nach Konkretem und nach klarer mathematischer Evidenz gehabt (vgl. G. D. Caie 1976, S. 91). 16 Siehe P. Fredriksen 1992, S. 24ff. 14

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alle Handschriften seines Kommentars zur Apokalypse verloren gingen, konnte er aus einem mittelalterlichen Werk des spanischen Mönchs Beatus von Lièbana17 (8. Jahrhundert) teilweise rekonstruiert werden.18 Bei der Auslegung der Offenbarung des Johannes wendet dieser die allegorische Methode an: Der Antichrist sei folglich nicht als eine Person zu verstehen, sondern als Gesamtheit der falschen Christen, die durch ihre Taten zum Untergang der wahren Kirche Christi beitragen.19 Offensichtlich meinte er damit unter anderem auch die offizielle Kirche seiner Zeit, die die prophetischen Donatisten verfolgte. Er stellt die ofizielle, institutionalisierte Kirche der reinen prophetischen Gemeinschaft der Donatisten gegenüber. Diese Zweiteilung wird später Augustinus in seiner Lehre von den zwei civitates übernehmen.20 Die ethische Interpretation des Antichrists wird von Augustinus nuanciert, indem er die parteiische Sichtweise des Donatisten zu einer allgemeingültigen und offiziell-christlichen Auslegung der Apokalypse macht: Der Antichrist sind alle, die Böses tun.21 Ganz konkret bestreitet er die Auffassung, dass mit dem Fall Roms durch Alarich (410) das Ende käme. Für Augustinus ist das nichts anderes als ein Unfall, eventuell ein Zeichen dafür, dass auf Erden nichts ewig ist und dass die Menschen sich auf die civitas Dei perennis konzentrieren sollten.22 Auf den filius perditionis muss man nicht warten, da er schon unter uns in denjenigen Handlungen sichtbar ist, die dem Willen Christi widersprechen. Die eintausend Jahre, über die Johannes in seiner Offenbarung (20, 2-3) redet, sind demnach nur allegorisch zu verstehen.23 Die von Augustinus propagierte ethische Interpretation des Widersachers Christi wurde später von den frühmittelalterlichen Christen übernommen, während im Hoch- und Spätmittelalter der filius perditionis als Person dargestellt wurde.24 Wie gesagt, der „Streit“ über das Jahr 1000 wird auch in der heutigen Zeit fortgesetzt. Im 20. Jahrhundert gibt es insbesondere zwei Schulen, die sich gegenüberstehen. Die promillenniale Schule hat heute ihren un-

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Lièbana im Norden Spaniens. Zu Beatus und seinem Kommentar zur Apokalypse siehe J. Williams 1994. Es sollte hier gesagt werden, dass der Kommentar von Beatus nicht als Beleg für chiliastische Erwartungen in der karolingischen Zeit angeführt werden kann, da er eigentlich die tyconsche allegorische Interpretation übernimmt (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 164 und B. McGinn 1998, S. 77). 18 Vgl. H. D. Rauh 1973, S. 103 und allgemein über Tyconius S. 102ff. 19 Vgl. H. D. Rauh 1973, S. 106ff und B. McGinn 1980, S. 82. 20 Vgl. H. D. Rauh 1973, S. 119. 21 Vgl. P. Fredriksen 1992, S. 21 und H. D. Rauh 1973, S. 122. 22 Vgl. H. D. Rauh 1973, S. 125 und B. McGinn 1996, S. 5ff. 23 Vgl. R. E. Lerner 1999, S. 329 (oder R. E. Lerner 1992, S. 52) und E. Bernheim 1918, S. 67. 24 Vgl. H. D. Rauh 1973, S. 127.

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bestrittenen Sprecher in Richard Landes25, Geschichtsprofessor an der Universität Boston seit 1997 und Gründer des Zentrums für Millenniale Studien (Center for Millennial Studies) im Jahr 1996. Er hat um sich eine ganze Reihe von Wissenschaftlern versammelt und zahlreiche Publikationen herausgegeben26. Die gegenteilige Auffassung vertritt die sogenannte „neue französische Schule“ mit Dominique Barthélemy (von der Sorbonne), Sylvain Gouguenheim und Henri Focillon27 sowie den meisten anderen Historikern, die sich mit dieser Zeitspanne beschäftigen. Die Landes-Schule bemüht sich seit Jahren, in den Quellen Beweise für die These zu finden28, dass um die Jahrtausendwende die Bevölkerung, wenn sie auch keine panische Angst hatte29, doch den baldigen Weltuntergang erwartete. Die herangezogenen Hinweise stammen aus allen möglichen Bereichen: Kunst, Liturgie, Heiligenverehrung, Literatur usw. des Mittelalters. Die Barthélemy-Schule versucht dagegen, all diese Argumente punktuell zu entkräften, und dies ziemlich überzeugend, da die ganze Millenniums-Theorie – wie wir sehen werden – wegen der Uneinheitlichkeit der herangezogenen Quellen eine instabile Basis hat. Sylvain Gouguenheim z. B. meint, dass sich der Deutsche Johannes Fried – ein wichtiger Forscher über die chiliastischen Ängste des Jahres 1000 – auf eine künstliche Sammlung von zeitlich und geografisch zerstreuten Fakten stützt, Fakten, die ohne klare Verbindung nebeneinander stehen. Der Franzose betont, dass bei Fried die Quellen „excessivement interprétés dans un sens eschatologique“30 seien.31 Diese Diagnose beschreibt die Vorgehensweise 25

Sein „Erstlingswerk“ auf dem millennialen Weg ist 1995 veröffentlicht worden (siehe R. Landes 1995, Kap. 14 und 15). Er hatte allerdings zuvor bereits mehrere Artikel zu diesem Thema geschrieben. 26 Mehr darüber siehe auf der Web-Seite des oben genannten Zentrums: www.mille.org (Stand 06.09.2007). Das letzte Buch ist „The Apocalyptic Year 1000. Religious Expectation and Social Change. 950-1050“, herausgegeben v. R. Landes/A. Gow/D. C. Van Meter, Oxford 2003. 27 Siehe H. Focillon 1969. 28 Eine ausführliche Liste der „millennialen“ Quellen findet man bei D. C. Van Meter 2003. 29 Diese generelle Naherwartung wäre eigentlich eine christliche positive Aktivitäten auslösende Kraft, indem die Leute versuchten, die ihnen noch zur Verfügung stehende Zeit zur Buße und für fromme Taten zu nutzen (vgl. J. Fried 1989, S. 438). 30 S. Gouguenheim 1999, S. 55. 31 Vgl. auch R. K. Emmerson 1981, S. 53-54. Darauf reagierte Johannes Fried und schrieb im Jahre 2002 einen Aufsatz gegen den Positivismus Gouguenheims (J. Fried 2002). Der Autor wendet sich zurecht gegen die Auffassung, dass die mittelalterlichen Texte die gesamte geschichtliche Wahrheit wiedergäben (vgl. J. Fried 2002, S. 289 und S. 291f). Ihm zufolge beinhalten die Texte nur ein Teilchen von dem gesamten Wissen des Autors und oftmals nichts von den Zusammenhängen hinter der textuellen Verfassung (vgl. J. Fried 2002, S. 292). Damit fällt er in das andere Extrem und behauptet, dass „das Selbstverständliche [...] selten oder nie dem kostbaren, teuren Pergament“

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der Landes-Schule ziemlich zutreffend. Allein die Tatsache, dass R. Landes sehr oft Joules Michelet zitiert (in einer Zeit, in der dieser Historiker sehr stark kritisiert wird) und die großen Forscher des Gottesfriedens, Ludwig Huberti und Hartmut Hoffmann, übergeht, sagt vieles zumindest über die Methodik R. Landes’ aus. Für die Gottesfriedensforschung ist die Landessche Hypothese besonders ungeeignet. Denn dieser Hypothese zufolge brauchte die mittelalterliche Gesellschaft einen psychotischen Schock, um ihre Erstarrung zu überwinden. Das wiederum bedeutet vor allem, dass sie aus sich heraus keine Regulierungs- und Überlebensmechanismen erzeugen konnte, sie müsste also ein toter Organismus gewesen sein.32 Dies ist aber derart unwahrscheinlich, dass sogar manche Forscher, die an den millennialen Untersuchungen beteiligt sind, zugeben: „Based on the available historical documentation, it is extremely difficult to form a safe and correct opinion in the extensive field of collective psychology“33. Des Weiteren ignorieren die Verteidiger der millennaristischen Erwartungen einen anderen fundamentalen Aspekt des Christentums: Die christliche Religion ist grundsätzlich eschatologisch orientiert, sie erwartet die Parusie, die jeden Moment geschehen könnte. Man kann deshalb von einem konstanten, von ständiger

anvertraut wurde (J. Fried 2002, S. 292): Die Quellen berichten also nur das Sekundäre (?). Weiter spricht Fried über das Implizite hinter dem Text, das von dem heutigen Forscher identifiziert werden sollte, um an die wichtigen Informationen zu gelangen. Dies kann aber nicht ohne Quellen geschehen, die kaum Selbstverständliches enthalten. Der Forscher wird dann zum Jäger nach Fragmenten. Fried postuliert also eine äußerst problematische Puzzle-Methode. Eine solche Theorie läuft auf das wohl unwissenschaftliche und stark konstruktivistische Argument ex silentio hinaus (J. Fried 2002, S. 292). Was Fried nicht erklärt, ist, wie er von den den isolierten Erscheinungen – bei ihm Phänomene, als einzelne Erscheinungen (vgl. J. Fried 2002, S. 288) – apokalyptischer Ängste zu der These einer allgemeinen Massenpsychose gelangt (vgl. J. Fried 2002, S. 321). Denn seine Methode ist das Isolieren einzelner Motive aus dem grundsätzlich Nicht-Selbstverständlichen eines Textes, um sie erneut in einem „rekonstruierten“ Zusammenhang einzubauen, der als untextualisierter Hintergrund des Textes agiert (vgl. J. Fried 2002, S. 288f). Wie eine solche Methode in der Wissenschaft akzeptiert werden sollte, bleibt mir unklar: Die Erforschung des Mittelalters erfolgt nolens volens anhand von medialen textuellen (!) Überlieferungen, seien sie als Bilder, Chroniken, Epen usw. verstanden. Ob sie das Selbstverständliche oder das Sekundäre überliefern, bleibt zu fragen. 32 Es stimmt nicht, dass die Argumente Barthelémys, so Landes, keine anthropologischen Aspekte berücksichtigen (vgl. das Vorwort im oben genannten Buch Landes’, S. 13, Anm. 13). Barthélemy geht von der Anthropologie aus, wenn er behauptet, dass auch der mittelalterlichen Gesellschaft bis zu dem Gottesfrieden, wie jeder funktionalen Gesellschaft, selbstgeschaffene Vermeidungs-, Kontroll- und Lösungsmechanismen zur Verfügung standen (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 22). 33 D. Verhelst 2003, S. 81.

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Vorbereitung begleiteten Glauben an die Wiederkunft Christi34 sprechen, d. h., eine Zuspitzung dieser Erwartung um die Jahrtausendwende scheint schwer nachweisbar: Der Heilige Justin der Martyrer meinte bereits im 2. (!) Jahrhundert, dass die Parusie nahe bevorstünde.35 Wir haben es also mit einem andauernden eschatologischen Gefühl und nicht mit einer auf einen bestimmten Zeitpunkt bezogenen Furcht zu tun36. Deswegen lässt sich das Argument R. Landes’, dass die antimillennialen Forscher nur deshalb die apokalyptische Atmosphäre der Jahrtausendwende ablehnen, weil sie nicht mit religiös-theologischen Ideen vertraut seien37, gegen ihn selbst verwenden: Denn wer mit der christlichen Theologie vertraut ist, sollte sich dessen bewusst sein, dass das Christentum strukturell eine auf eschatologischer Erwartung beruhende Religion ist, und deshalb brauchten die Christen jener Zeit ihre Hoffnungen nicht auf das Jahr 1000 zu richten. Zusammenfassend muss gesagt werden, dass der Versuch Landes’, die Kirche des 10.-11. Jahrhunderts als einen Förderer der allgemeinen eschatologischen Hoffnung, die sich in der Gottesfriedensbewegung konkretisiert, zu betrachten und ihr damit eine positive Rolle in dem ganzen Geschehen zuzuschreiben, in einen Antiklerikalismus mündet. Denn man versteht nicht mehr, warum dieselbe Kirche ein allgemeines Schweigen durchsetzen sollte, um all diese Manifestationen der millennialen Begeisterung zu dämpfen. Dieselben Vorwürfe findet man auch im Diskurs des 19. Jahrhunderts in Frankreich und in der späteren kommunistischen Ideologie.

Die millenniale Schule beginnt ihre Argumentation mit der Beobachtung, dass man um die Jahrtausendwende eine zunehmende Verbreitung der schon existierenden Offenbarungskommentare bemerken kann, so wird z. B. das Buch von Beatus immer öfter abgeschrieben und fast überall im Abendland bekannt.38 Das sei ihr zufolge ein Grund zu der Annahme, dass sich bereits die Menschen des späteren 10. Jahrhunderts Gedanken über das baldige Kommen des Antichrists und des Endes machten: „Die Schriften der älteren Autoren werden für die Gegenwart aktualisiert, in mahnende Predigt, häufiger auch in Bilder und Gebete umgesetzt und in ein verändertes religiöses Leben einbezogen, wobei man sich wiederum an Überliefertem zu orientieren bemüht und nur in Ausnahmefällen Eigenes hinzu34 Vgl. R. K. Emmerson 1981, S. 50ff und G. L. Burr 1963, S. 435f. „En fait, ils vivaient déja hors du temps, dans l’antichambre du Jugement dernier, à l’écart de toute notion de durée. L’eschatologie leur était quotidienne, mais non imminente“ (S. Gouguenheim 1999, S. 56). 35 Vgl. B. E Daley 1999, S. 8. 36 Vgl. G. D. Caie 1976, S. 91. 37 Vgl. R. Landes 2003, S. 5. 38 Vgl. J. Fried 1989, S. 398ff.

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fügt. Das 10. Jahrhundert ist die Stunde nicht der gelehrten Exegeten, sondern der aufgeschreckten und besorgten Seelenhirten“39. Bei dem Versuch, in all diesen zerstreuten Hinweisen40 Indizien für eine allgemeine apokalyptische Massenpsychose zu sehen, stoßen sich die „Millennaristen“ an dem Argument, dass man einen kollektiven Erwartungs- und Schreckenszustand aufgrund unklarer und uneinheitlicher Fragmente nicht begründen kann. Dies ist auch R. Landes bewusst, weswegen er seine bekannte Theorie ex silentio formuliert hat.41 Er gibt zu, dass die meisten Dokumente des 10. und 11. Jahrhunderts hierüber „schweigen“42, doch sieht er darin das wichtigste Zeichen überhaupt, weil ihre Schweigsamkeit auf Angst und Besorgnis hinweise. Die religiösen und politischen (!) Häupter der Welt haben sich bemüht, eine allgemeine Panik zu vermeiden, indem sie alle Andeutungen eines nahen Endes aus den Schriften entfernten und auch kein Gerede darüber gestatteten. Landes begibt sich damit in eine hochspekulative Sphäre; wurden seinem Vorfahren Michelet romantische Ansichten vorgeworfen, muss er sich Andeutungen an Big-Brother-Sendungen gefallen lassen.43 Nach Landes und seinen Anhängern verliert diese streng zensierende Kontrolle in den peripheren Zonen Europas an Kraft, z. B. auf den britischen Inseln, wo es eine Blütezeit der apokalyptischen Literatur über die Ankunft des Antichrists im Jahr 1000 gegeben haben soll.44 Vor

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Vgl. J. Fried 1989, S. 412. 1. In der Kunst nehmen die malerischen Darstellungen von Apokalypse-Szenen wegen einer Zensur ab (vgl. Y. Christe 2003, S. 15 und 140ff und J. Fried 1989, S. 401f, der das Gegenteil behauptet); 2. Der zunehmende Kult des Erzengels Michael, des himmlischen Kriegers gegen den Antichrist und des Engels des Jüngsten Gerichtes (vgl. D. F. Callahan 2003, S. 182f und J. Fried, 1989, S. 466f); 3. Die Verfolgung der Juden, die noch vor der Parusie bekehrt werden mussten (Offenbarung 7) (vgl. D. F. Callahan 1995, S. 34 und R. Meyer Evitt 2003, S. 31ff). Diese drei Beobachtungen sollen Argumente für eine deutliche Angst vor dem Jahr 1000 sein. Eine punktuelle Gegenargumentation bietet S. Gouguenheim in seinem Buch „Les fausses terreurs...“, Paris 1999. 41 Vgl. R. Landes 1988, S. 181f und 185 oder R. Landes 1995, S. 287. 42 Guy Lobrichon ist noch extremer und spricht von „repression, rather censure“ (G. Lobrichon 2003, S. 74). Die meisten Forscher halten das Aufblühen der apokalyptischen Literatur nach 1050 für ein „post Antichrist modell“ (vgl. R. E. Lerner 1999, S. 327); R. Landes meint dazu, dass die Menschen des Jahres 1000 ihre Angst nicht schriftlich dokumentiert haben, da sie an keine Zukunft mehr glaubten. Nur ihre Nachfolger hätten erleichtert über die Unvernunft dieser Angst geschrieben (R. Landes 2003, S. 5). Warum haben sie dann z. B. die Gottesfriedensbewegung organisiert? 43 Vgl. S. Gouguenheim 1999, S. 58. Es macht keinen Sinn, hier die ganze Verschwörungstheorie R. Landes’ zu untersuchen, es sollte nur erwähnt werden, dass er auch an eine Angst im Jahre 2000 glaubt, wie man bei R. Landes 2003, passim sehen kann. 44 Vgl. M. Godden 2003. 40

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allem die Geistlichen Aelfric, Abt von Eynsham († ca. 1020)45, und Wulfstan († ca. 1020)46 werden dafür als Beispiele genannt.47 Die neueste Forschung zeigt aber, dass, wenn über einen eventuellen Millennarismus bei Aelfric und Wulfstan gesprochen wird, dies nur unter der Bedingung geschehen kann, dass beide von verschiedenen historischen Ereignissen her (z. B. der dänischen Invasion im 10. Jahrhundert48) auf den nahen Weltuntergang schlossen und ihn nicht mit der anno-DominiChronologie begründeten: D. h., sie befürchteten das nahende Ende, nicht weil das Jahr 1000 kam, sondern weil historische „Zeichen“ wie Kriege, Katastrophen usw. dafür sprachen.49 Deshalb glaubten sie auch lange nach der Jahrtausendwende weiterhin an die baldige Ankunft des filius Satanae; somit spielte die Chronologie an sich für sie keine entscheidende Rolle.50 Zudem war Aelfric völlig von der traditionell-augustinischen allegorischen Auslegung der Offenbarung beeinflusst51, sodass sich seine Ängste nicht allzu sehr von den allgemeinen Vorstellungen der Christen aller Zeiten unterschieden, die verschiedene Invasionen mit dem Weltuntergang assoziierten. Nur bei Wulfstan besteht ernsthaft der Verdacht auf echte chiliastische Ideen52: Das aber macht ihn zu einer isolierten Stimme. Wie gesagt, die meisten Forscher glauben nicht, dass das Jahr 1000 bei den Angelsachsen eine eschatologische Psychose auslöste. Andererseits führt Landes in seinen Artikeln stets „dozens of sources“53 und Beweise aus verschiedenen Bereichen an, so dass seine Kritiker sich zu Recht fragen, wie es ihm möglich sei, trotzdem eine verschwörerische Schweigsamkeit zu behaupten. Als Beispiel für sein ex silentio-Argument nennt er das Schweigen des „Millenniums-Papstes“ Silvester III. (†1003), der nach Landes kein Wort über dieses besonders wichtige Ereignis der Jahrtausendwende verlor: „For the millennial reading however, this silence might indicate the presence of apocalyptic time and derive from a wide 45

Siehe die Edition von J. C. Pope 1968, S. 585. Eine sehr gute elektronische Edition seiner eschatologischen Predigten (Original und englische Übersetzung), siehe im Internet www. webpages. ursinus. edu/ jlionarons/ wulfstan/wulfstan.html. (Stand 18.11.2004). Die klassische Edition ist D. Bethurum1957. 47 Es gibt auch ein komputistisches Lehrbuch über die sechs Zeitalter der Welt (1011), aber sein Verfasser Byrhtferth ist nicht sicher, ob das Ende der Welt im Jahre 1000 kommt, obgleich er manche Gerüchte gehört hat (vgl. S. J. Crawford 1966, S. 241). 48 Vgl. D. Bethurum 1957, S. 281. 49 Vgl. J. B. Trahern 1991, S. 167ff; M. McC. Gatch 1977, S. 79 und G. D. Caie 1976, S. 92. 50 Vgl. J. C. Pope 1968, S. 585. 51 Vgl. D. Bethurum 1957, S. 280. 52 Vgl. M. McC. Gatch 1977, S. 114. Wulfstan hat aber denselben apokalyptischen Ton nach dem Jahr 1000 wie davor, d. h., seine eschatologischen Erwartungen richteten sich nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt (vgl. G. D. Caie 1976, 92). 53 Vgl. R. Landes/A. Gow/D. C. Van Meter (Ed.), „The Apocalyptic Year 1000“, S. vi. 46

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consensus [!] among the leaders of Christendom that discussing apocalyptic beliefs at the approach of 1000 could only encourage dangerous ideas“54. Ich frage mich, wie ein Historiker an einen generellen Konsens in dem gespaltenen Abendland glauben kann, wenn wir wissen, dass genau solch ein Ereignis – wenn es wichtig gewesen wäre – eine ideale politische Waffe hätte werden können: Wenn manche darüber schweigen wollten, hätten sich ihre politischen Gegner durch offene Propaganda Vorteile zu verschaffen versucht. Ein wichtiger Aspekt der Landesschen Argumentation ist es, eine Parallele zwischen dem Jahr 1000 und 2000 zu ziehen: Landes spricht von verborgenen apokalyptischen Ängsten wegen des Y2K-Computerproblems im Jahr 2000, für dessen Lösung die Regierungen der Welt 300 Billionen Dollar ausgegeben haben sollen55, eine wichtige Information, die leider nicht belegt wird. Dagegen behaupten seine Kritiker, dass die Welt des Jahres 2000 keineswegs mit jener des Jahres 1000 verglichen werden kann, wenn man nur daran denkt, dass zur Zeit der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert die heutige Zeitrechnung Anno Domini – die von dem Skythen56 Dionysius Exiguus (6. Jahrhundert) stammt – nicht überall bekannt war oder benutzt wurde. Wie sollten die Menschen der Jahrtausendwende millennaristische Erwartungen gehabt haben, wenn viele von ihnen nicht einmal wussten, dass sie sich im Jahre 1000 n. Chr. befanden?57 In diesem Sinne wurde laut D. Barthélemy das eintausendste Jahr der christlichen Ära nicht als solches erlebt; es wurde ignoriert und nur in ganz wenigen Quellen58 erwähnt. Dass für die damaligen Menschen solche Datierungen nicht bedeutsam waren, zeigt auch ihr Desinteresse am eigenen Geburtsdatum.59 Das Datierungssystem dieser Zeitspanne war ziemlich uneinheit54

Vgl. R. Landes 2003, S. 7. Vgl. R. Landes 2003, S. 13, Anm. 15. 56 Und nicht Syrer, wie Arno Borst fälschlicherweise behauptet (vgl. A. Borst 1988, S. 10). 57 In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass die christliche Zeitrechnung, so wie sie von Dionysius Exiguus festgelegt wurde, im 10. Jahrhundert eine relativ geringe Akzeptanz hatte: Erstmals wurde sie unter Karloman (742 n. Chr.) verwendet, dann in manchen kaiserlichen Dokumenten ab 846. Der erste Papst, der sie gebraucht, ist Johannes XIII. (†972) und allgemein gültig wird diese Datierungsmethode erst im 15. Jh. mit Papst Eugenius IV. (1431) (vgl. A. Vasiliev 1942/43, S. 477). Sehr anregend ist die Beobachtung, dass die Zeitrechnung nach Dionysius seit ihrer Konzipierung um ca. 525 kein besonderes Interesse erregt hat und dann plötzlich um das Jahr 1000 zweimal reformiert und neu kalkuliert wurde (vgl. A. Borst 1988, S. 27ff und 29ff), wodurch die Beschäftigung mit dem Millennium bewiesen wäre (vgl. R. Landes 2003b, S. 249 und J. Fried 1989, S. 39f). 58 Die wichtigste Quelle über das Jahr 1000 ist Rodulfus Glaber (11. Jh.) und dessen fünf Geschichtsbücher (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 43). 59 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 162. 55

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lich und jeder benutzte die Anhaltspunkte, die er wollte60, am häufigsten waren dies die Regierungsjahre verschiedener Könige: „[T]here is a little evidence for the tenth century worship of ‘God of Terror’, and in any case not all Christians in the tenth century used the anno domini dating system, so that many would not have been aware of the end of the millennium“.61 Die Landessche Schule hält dagegen, dass es falsch sei zu behaupten, die anno-Domini-Ära wäre nicht bekannt gewesen. Sie verweisen auf die starke Entwicklung der komputistischen Wissenschaft62 im Abendland und besonders auf die Ostertabellen Beda Venerabilis’ (†735), welche fast in jedem Kloster und in jeder Domkirche zu finden waren63. Das ist zwar wahr, aber man sollte sich auch vergegenwärtigen, dass solche Zeitberechnungen (computus) nur zu liturgischen Zwecken genutzt wurden, damit die Priester und die Mönche wussten, wann verschiedene Feiertage stattfanden oder wann die Fastenzeit begann usw. Diese wichtigen christlichen Termine wurden danach dem Volk in den Predigten verkündigt. Doch die Existenz dieser Ostertabellen in fast jedem Kloster bedeutet noch lange nicht, dass sie der Masse zugänglich waren oder dass die einfachen Leute sie verstehen konnten. Sie gehörten einfach zum technischen Apparat des mittelalterlichen Liturgen. Im Zusammenhang mit der Zunahme der eschatologischen Erwartung um die Jahrtausendwende stehe, so Landes, die erhöhte Frömmigkeit, die sich in den Schenkungen an das Kloster Cluny widerspiegelt. Man könne ungefähr nach der Hälfte des 10. Jahrhunderts bis zum Jahr 1033 zahlreiche Schenkungen nachweisen, eine Tatsache, die zeige, dass die Menschen in den letzten Momenten ihres Lebens versuchten, sich auf das baldige Jüngste Gericht vorzubereiten64. Doch es stellt sich die Frage: „[I]st der große Aufschwung des Mönchtums in dieser Zeit [980-1039] [...] selbst ein Zeichen für die Nähe des Gerichts? Gedanken dieser Art sind offenbar in cluniazensischen Kreisen nicht ganz fremd“65. Auf diese Behauptungen antworten die Antimillennialen, dass die Schenkungen an die Mönche von Cluny nichts mit einer Naherwartung zu tun hätten, sondern erstens eine Konsequenz der zunehmenden Vertrauenswürdigkeit seien, die das neu reformierte Mönchtum genoss, und zweitens die Buchhaltung nun viel gründlicher sei.66 Außerdem seien so viele Schenkungen nur in Frankreich 60

Vgl. J. Favier 2000, S. 15; G. L. Burr 1963, S. 436f. R. K. Emmerson 1981, S. 54. Vgl. W. M. Stevens 1993, S. 41-43. 63 Vgl. S. E. v. Daum Tholl 2003, S. 232; R. Landes 2003b, S. 248 und A. Borst 1988, S. 18f. 64 Vgl. R. Landes 2003b, S. 244 und J. Fried 1989, S. 442. 65 J. Fried 1989, S. 415. 66 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 161f. 61 62

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Die Vertretungsehre

schriftlich überliefert67. In der Diskussion um die Schenkungen an Cluny sind die Karteisammlungen des Klosters eine besonders bedeutende Quelle68, die einen wichtigen Schatz an Informationen über das 10.-11. Jahrhundert bieten. Vor allem die Landes-Schule hebt diejenigen Schenkungsurkunden stark hervor, die mit einer konventionellen Formel beginnen: adpropiquante mundi termino bzw. mundo in finem currente.69 Sie sah darin ein weiteres Argument dafür, dass die Leute mit dem Kommen des Jahres 1000 vertraut waren und verängstigt die Parusie erwarteten. Doch schon bei oberflächlicher Untersuchung der Cluny-Karteien bemerkt man, dass die überwiegende Mehrheit der Urkunden die Regierungsjahre des Königs Hugo Capet (†996) bzw. seines Sohnes Robert II. (†1031) als Anhaltspunkt für die Datierung benutzen und weder auf das Millennium noch auf das Ende der Welt Bezug nehmen. Die 1732. und die 1752. Kartei (im Band III), welche um das Jahr 990 niedergeschrieben wurden, beinhalten z. B. keine apokalyptischen Andeutungen, obwohl sie die Schenkungen zweier Geistlicher registrieren: Raimertus sacerdos und Evardus presbiter. Eine von ihnen wird beispielsweise auf annus primus regnans rex Hugo datiert. Wie kann es sein, dass zwei Priester von einer eschatologischen Erwartung nichts wissen? Die einzigen cluniacensischen Karteien mit einer anno Domini-Datierung um das Jahr 1000, genauer gesagt von 999, stammen von Kaiser Otto III. (2483. Kartei, Band III) und von Hugo Episcopus Aurissiodorensis (2484. Kartei, Band III). Bei beiden kann man aber keine chiliastische Spannung aufspüren. Übrigens wird in der ottonischen Urkunde neben dem anno-Domini-Datum hinzugefügt: anno tercii Ottonis regis XV, imperatoris III. Das beweist mehr als deutlich, dass der annus Domini den Menschen nicht viel sagte, weswegen man die üblichen Datierungsformen ergänzend benutzte. Solche oben genannten Anfangsformeln, die auf das Weltende hinweisen, gehören zum mittelalterlichen Epistelstil70 und tauchen schon im 6. Jahrhundert in Briefen auf.71 Zudem sind sie in späteren Episteln zu finden, obwohl der „empfindliche“ Zeitpunkt bereits längst vorüber war.72

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Vgl. B. Barbatti 1953, S. 133. Herausgegeben im 19. Jahrhundert von A. Bernard und A. Bruel (siehe CARTULARIUM). 69 S. Gouguenheim gibt zu, dass manche Urkunden eine „tonalité vaguement eschatologique“ hätten, fragt sich aber, warum solche millennialen Spannungen auf keinem Konzil der Jahrtausenwende erwähnt wurden (Vgl. S. Gouguenheim 1999, S. 42 und P. Riché 1977, S. 12). 70 Vgl. G. L. Burr 1963, S. 433. 71 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 161ff. 72 So schrieb z. B. Papst Clemens II. 1047 einen Brief an die aquitanischen und burgundischen Bischöfe, der mit folgender Formulierung beginnt: „Scitis fratres 68

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Die Millennialen, die trotz der geringen Zahl an Urkunden chiliastische Andeutungen finden möchten, sagen – und damit widersprechen sie sich aber zugleich –, dass die Schenkungsbriefe keine eschatologischen Erwartungen beinhalten, da sie die Stimmung der Zeit nicht widerspiegeln: Sie seien bloß Verwaltungsakte.73 Wenn man aber die Karteien liest und bedenkt, dass die Leute für ihre Schenkungen Fürbitte74 von den Mönchen erwarteten, dann sieht man die ganze Problematik in einem neuen Licht. Guy Bois, ein Forscher, der sich intensiv mit dem cluniacensischen cartularium beschäftigt hat, zeigt drei wichtige Gründe auf, warum die Zahl der Schenkungen an Cluny wächst: 1. Die Frömmigkeit der Menschen und die „Verkirchlichung“ des Christentums; 2. Die Berühmtheit der Äbte; 3. Die Präsenz der Mönche, die „den Bauern als willkommenes Gegengewicht zum überhandnehmenden Druck ihrer mächtigen Nachbarn [d. h. der lokalen Kastellanen]“75 erscheint. Bois zeigt aufgrund der KarteienÜberlieferung, dass im 10. Jahrhundert die Schenkungen beinahe ausschließlich von Bauern stammten.76 Das hat einen wichtigen sozialen Grund: Die Abhängigkeit von Cluny garantierte ihnen Schutz und Ehrenhaftigkeit, da sie Anerkennung genossen, welche sich in umfangreichen Rechten widerspiegelte: Ein klösterlicher servus hatte z. B. das Recht auf privates Eigentum; ein solcher war vor allem ein servus Sancti Petri, d. h., er gehörte zum mächtigsten Haus, das man sich im Mittelalter vorstellen konnte: dem Hause Gottes.77 Die Hauptquellen, mit denen die Landes-Schule ihre Position untermauert, sind die Historien von Rodulfus Glaber († ca. 1050), das Buch „Apologeticus“ von Abbo von Fleury (†1004), ein Traktat über den Antichrist von Adso von Montier-en-Der († ca. 990) und ein anonymer Brief, der über die Invasion der Ungarn im 10. Jahrhundert berichtet.78

dilectissimi quia tempus est ut incipiat iudicium de domo Domini. Ergo si tempus iudicii adpropinquat“ (apud H. E. J. Cowdrey 1970, S. 270; siehe auch S. 46). 73 Vgl. J. Fried 1989, S. 442. 74 Vgl. W. Jorden 1930, S. 47. 75 G. Bois 1999, S. 173. 76 Vgl. W. Jorden 1930, S. 13f. 77 Vgl. W. Jorden 1930, S. 28ff. 78 Vgl. G. Lobrichon 2003. Von geringerer Bedeutung ist die deutsche Dichtung Muspilli des 9. Jhs., die nach dem germanischen Modell des Zweikampfes von dem Kampf zwischen Antichrist und Elias berichtet. Der Kampf wird entgegen der Aussage der Bibel (siehe Offenbarung 11, 7) von Elias gewonnen (vgl. H. Finger 1977, passim). Eine Einleitung in das Werk (S. 80) und eine Übersetzung (S. 80-81) des Poems siehe bei B. McGinn 1998. Es sind in diesem Epos aber keine millennialen Andeutungen zu finden.

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Die Vertretungsehre

Rodulfus Glaber war ein cluniacensischer Mönch, der in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts eine Chronik (in fünf Büchern) verfasste. Er und Ademar von Chabannes sind eigentlich die einzigen Chronisten der Zeitspanne um das Jahr 1000. Glaber ist für die Millennialen vor allem deshalb bedeutsam, weil er den annus Domini millesimus häufig erwähnt, verbunden mit ausführlichen Beschreibungen mehrerer signa, mit denen dieses Ereignis angeblich verbunden war: „Post multiplicia prodigiorum signa quae tam ante quam post, circa tamen annum Christi Domini millesimum in orbe terrarum contingere, plures fuisse constat sagaci mente viros industrios, qui non his minora propinquante eiusdem Dominicae Passionis anno millesimo fore praedixere; quod utique evidentissime contingit.“ 79 (Nach den vielen übernatürlichen Zeichen, die sowohl vor als auch nach [dem Jahre 1000], sowie um das Jahr 1000 über die Welt kamen, gab es viele beharrliche Männer scharfen Verstandes, die anderen, nicht weniger erhabenen [Männern] [diese Zeichen] des sich annähernden tausendsten Jahres seit der Passion Christi vorhersagten, was allerdings [tatsächlich] sehr deutlich geschah.)

Die Antimillennialen zeigen zu Recht, dass dieser Satz nicht-chiliastisch interpretiert werden kann: Die Zeichen wurden von Gott geschickt, nicht um manche zukünftigen Ereignisse vorauszusagen, sondern zur Markierung eines vergangenen Geschehens, der Passion Christi.80 Glaber ist der eigentliche Erfinder des Jahr-1000-Komplexes81, d. h., nur bei ihm findet sich ausdrücklich diese Bedeutung des Millenniums als wichtige zeitliche Zäsur.82 Deswegen hat seine Meinung keine generell-autoritative Relevanz. Er lässt sich in keine apokalyptische Tradition einordnen. Vor allem wird ihm vorgeworfen, dass er sich von fantastischen Erzählungen und mönchischem Aberglauben beeinflussen ließ.83 Alle Zeichen in der Natur, die von ihm beschrieben werden, sind tatsächlich katastrophisch, aber sie werden nicht eschatologisch interpretiert.84 Er sagt nicht viel über das Weltende aus.85 79

GLABER IV,1. Vgl. S. Gouguenheim 1999, S. 171. 81 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 166. 82 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 7. 83 Vgl. A. Vasiliev 1943, S. 478f. 84 Vgl. S. Gouguenheim 1999, S. 171. 85 Außer des Absatzes in GLABER IV, 21, in dem er den Aufschwung der Pilgerfahrten nach Jerusalem in Verbindung mit manchen Aussagen (a quibusdam satis caute) über die Ankunft des Antichrists stellte. Der Ausdruck meint nur unbedeutende Leute, die ihre Meinungen nicht einmal offenkundig äußerten: Es ist also eindeutig, dass sie isolierte und scharf kritisierte Meinungen vertraten (vgl. auch D. Barthélemy 2002, S. 169f). 80

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In derselben Periode wie Glaber schreibt ein anderer Mönch seine Chronik: Ademar von Chabannes († ca. 1034). Auch er erwähnt um das Jahr 1000 viele signa, wie Himmelszeichen, Dürre, Überschwemmungen, Hungersnöte und etliche astronomische „Störungen“. Das kann für die Landes-Schule kein Zufall sein, und sie sieht darin den Beweis für die Existenz einer kollektiven Besorgnis, dass der Weltuntergang bevorstehe. Bei Ademar heißt es: „His temporibus signa in astris, siccitates noxiae, nimiae pluviae, nimiae pestes, et gravissime fames, defectiones multe solis et lunae apparue86 runt“.

Ihm selbst sei ein Zeichen erschienen: Mit eigenen Augen habe er in altitudine celi magnum crucifixum87 gesehen. Solche Visionen werden von den Millennialen als Beweis für die allgemeine Psychose aufgefasst und sie dienen ihnen als Beleg für den verbreiteten Glauben an das nahe Ende. Allerdings macht Ademar selbst keine chiliastischen Andeutungen. Eigentlich ist die Erscheinung des Kruzifixes am Himmel kein passendes Zeichen für das Weltgericht, bei dem doch Christus als von Engeln und Aposteln umgebener Richter hätte eintreffen sollen. All diese Zeichen Ademars wollten letztlich nur auf den Zorn Gottes hinweisen88, da in dem Jahre 1000 (allerdings falsche Angabe bei Ademar89) die Kirche des Heiligen Grabes in Jerusalem „von Juden und Arabern“ beschädigt wurde: “Ipso anno sepulchrum Domini Hierosolimis confractum est a judeis et sa90 racenis, III kalendas octobris millesimo X anno ab incarnatione eius.“

Die eigentliche Botschaft all dieser Berichte beruht auf der Vorstellung von „alltäglichen“ Heilsgeschichte: Gott schickt verschiedene Strafen und Zeichen in die Welt, um die Menschen zu Reue und Buße zu bewegen. Diese sind keine Ankündigung des Eschatons, sondern Mittel einer ständigen göttlichen Pädagogik. Es handelt sich wohl um dieselbe Auffassung, welche in einem Paragrafen der Miracula Sancti Agili zu finden ist, wo um das Jahr 1000 große signa erwähnt werden. Das geschah nicht, um das Volk auf das nahe Ende vorzubereiten, sondern um es zur Buße zu veranlassen, so wie es Ragenardus abbas, vir prudentissimus, behauptet: Die, die die Zeichen verstehen und sich vor dem Zorn Gottes fürchten und Buße tun (humiliari sub potenti manu Dei hortatur), werden den von Gott ge-

86

CHRONICON III, 46. CHRONICON III, 46. 88 Vgl. S. Gouguenheim 1999, S. 186. 89 Das Heilige Grab wurde von den Arabern im Jahre 1009 zerstört (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 29). 90 CHRONICON III, 47. 87

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schickten Katastrophen entkommen (quae timebant evaderent pericula).91 Derselbe Abt beschließt einen Fastentag (jejunii diem): Wenn man das Weltende erwartet hätte, sollte man auch gewusst haben, dass es weder mit Fasten noch mit Buße hätte verhindert werden können. Es geht hier um Frömmigkeit und um eine bessere zukünftige christliche Existenz, nicht aber um eine akute Naherwartung. Adso und die ottonische Reichsideologie. Adso von Montier-en-Der92 schreibt sein Traktat De ortu et tempore Antichristi etwa in der Mitte des 10. Jahrhunderts. Er hatte von der Königin Gerberga (der Frau von Ludwig IV., †954) den Auftrag bekommen, über den Antichrist, seine Geburt, seine Taten und über die Zeichen seiner Ankunft zu schreiben. Die MillenniumsForscher sehen in diesem Auftrag den Ausdruck einer Nervosität der Königin wegen des sich nähernden Jahres 1000, das von der Herrscherin angeblich als das Jahr des Antichrists gedeutet wird93. Der wahre Grund dieser Schrift ist aber die politische Unsicherheit unter einem schwachen Monarchen, die Gerberga erlebte.94 Adso weiß das und so schreibt er im Prolog: „[W]enn ich für Euch das ganze Königreich hätte erwerben können, hätte 95 ich es sehr gerne getan.“

Nach einer ausführlichen Darstellung des zu seiner Zeit bekannten Wissens über den Antichrist96 geht Adso zu einer politischen Thematik über, indem er die Dauerhaftigkeit der Welt mit dem politischen Überleben des römischen Staates in Verbindung bringt.97 Für ihn sind die Nachfolger der römischen Kaiser die reges Francorum, mit anderen Worten: Solange fränkische Könige auf dem Thron sitzen (quamdiu reges Francorum duraverint), besteht keine Gefahr, dass der Weltuntergang kommt, da die römische Würde nicht aussterben, sondern in den Königen des Imperiums 91

Siehe zu allem „Miracula Sancti Agili Abbatis“ in: Acta Sanctorum, Band VI, August 1743, S. 588. 92 Mehr über ihn siehe bei R. K. Emmerson 1981, S. 76-77 und R. Konrad 1964. 93 Vgl. D. Verhelst 2003, S. 83 und A. Vasiliev 1943, S. 480. 94 Vgl. B. McGinn 1980, S. 287, Anm. 1. Zu den Kriterien einer „akzeptablen“ Herrschaft im Mittelalter siehe K. van Eickels 2004, S. 20f. 95 „[Q]ui si potuissem vobis totum regnum aquirere, libertissime fecissem“ (ADSO, S. 105). 96 Siehe: 1. die Bedeutung des Antichrists (ADSO, S. 105), 2. die Geburt (ADSO, S. 106), 3. die Tätigkeit (ADSO, S. 107). In guter mittelalterlicher Tradition ist Adso nicht originell, sondern verfasst seine Schrift als eine Kompilation von früheren Traditionen (vgl. H. D. Rauh 1973, S. 153 und B. McGinn 1998, S. 82ff): „Non autem quod dico ex proprio sensu excogito vel fingo, in libris diligenter relegendo haec omnia scripta invenio“ (ADSO, S. 106). 97 Vgl. B. McGinn 1980, S. 84.

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weiterleben wird: romani regni dignitas ex toto non peribit, quia in regibus suis stabit.98 Obwohl die Besorgnis der Königin, die das fast komplett zerstörte Reich vor Augen hatte (ex maxima parte destructum), groß ist, hat sie nach Adsos Meinung nichts zu befürchten, da die Idee des Imperiums in den fränkischen Königen weiterlebt. Solche Feststellungen übernehmen im Grunde ein altes Motiv der politischen Theologie des Frühchristentums. Obwohl man nach der augustinischen Tradition keinen Zeitpunkt festlegen durfte, verbreitet sich unter den Christen eine heterodoxe Meinung, nach der der Antichrist kommen wird, wenn das Römische Reich nicht mehr existiert.99 In diesem Sinne äußern sich alle Apokalypsekommentare der Spätantike und des Frühmittelalters, wie z. B. die unter der Bezeichnung „Pseudo-Methodius“ bekannte apokryphe Schrift100, die im 7. Jahrhundert im syrischen Milieu entstand101, oder die sibyllinische Literatur, aus der die Tiburtinische Sybille102 am meisten gelesen und übersetzt wurde. Diesen Werken ist das Motiv des letzten römischen Kaisers gemeinsam: Sein Tod und das Zerbrechen des Staates sollen das Zeichen des Antichrists sein.103 Die millennialen Historiker verbinden diese alte politische Tradition mit den konkreten Handlungen des Kaisers Otto III. (†1002). Da man im Jahr 1000 das Weltende erwartete, habe Otto III. unter dem starken Einfluss des Werkes Adsos durch aggressive Propaganda zeigen wollen, dass die römische Kaiserwürde im Okzident noch nicht ausgestorben war, sondern am Hof des „Millenniumskaisers“ fortlebte.104 Das Ende konnte also nicht kommen, solange es noch römische Kaiser gab. Deshalb seien die angeblichen römischen Wurzeln des deutschen Kaisertums hervorgehoben worden. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Übernahme verschiedener byzantinischer Reichssymbole.105 Die Vertreter dieser Argumentation verstricken sich aber in Widersprüchen: Wenn die Menschen davon überzeugt waren, dass im Jahr 1000 tatsächlich die Endzeit anbreche, weshalb hätten 98

ADSO, S. 110. Vgl. H. D. Rauh 1973, S. 150. Augustinus bekämpft diejenigen, die den Untergang Roms mit dem Ende der Welt assoziieren (vgl. F. G. Meier 1955, S. 62ff). 100 Vgl. G. J. Reinink 1988, S. 82-83. 101 Siehe über Pseudo-Methodius und über das Motiv des „letzten Kaisers“ B. McGinn 1980, S. 85f. und R. K. Emmerson 1981, S. 47ff. 102 Lateinische Prosa (ca. 4. Jh.), die im Mittelalter oft abgeschrieben wurde: „[I]n ihrer mittelalterlichen Version ist die Tiburtina eine seltsame Mischung aus aktuellem Reichsbewusstsein (dem die Königssiegel für die Kontinuität des Imperiums stehen) und chiliastischer Sehnsucht“ (H. D. Rauh 1973, S. 140). Der zentrale Leitgedanke ist das Motiv des „letzten römischen Kaisers“ (vgl. H. D. Rauh 1973, S. 141). 103 Vgl. B. McGinn 1996, S. 10f. 104 Vgl. S. E. v. Daum Tholl 2003, S. 231f; R. Landes 2003b, S. 247 und J. Fried 1989, S. 428f. 105 Vgl. S. E. v. Daum Tholl 2003, S. 235. 99

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sie sich dann mit solchen Tricks selbst belügen sollen? Und wenn Otto III. glaubte, in der Nachfolge der römischen Kaiser zu stehen, und die Leute davon überzeugte, warum sollten diese sich noch Sorgen und Gedanken machen? Dies bedeutet, die Leute hätten entweder das Eschaton durch verschiedene Strategien zu verschieben versucht oder sie hätten sich selbst belügen wollen: Beides sind absurde Voraussetzungen. Außerdem frage ich mich: Wenn Otto III. wegen des nahen Endes besorgt war, warum schmiedete er dann ausgerechnet im Jahre 1000 Hochzeitspläne?106 Folglich muss die gesamte Theorie falsch sein. Die zunehmende imperiale Propaganda unter Otto III. hat eigentlich keinen chiliastischen Charakter, sondern ist ein ideologischer Kampf mit dem oströmischen Kaisertum, das seit Karl dem Großen alle abendländischen Kaiser als Usurpatoren der imperialen Würde ansah107, da nur die Herrscher von Konstantinopel direkte Nachfolger der römischen Augusti seien.108 So ist die gesamte byzantinische Symbolik römischen Ursprungs, die bei Otto III. auftaucht, folgendermaßen zu erklären: Er wollte damit zeigen, dass ihm die byzantinischen Autokraten keineswegs überlegen seien. Es geht also um die Durchsetzung einer politischen Vision, nicht um die Beschwichtigung von Ängsten vor dem baldigen Weltuntergang. Adso fügt solche Motive in sein Werk ein, weil er auf diese Weise seinem politischen Plädoyer zugunsten der französischen Regalität – in ihrem Kampf mit dem deutschen Kaisertum109 – die autoritative Aura der kirchlichen Tradition verleihen konnte. Hinsichtlich des Millennarismus ist Adso allerdings „ein eschatologisches Gefühl [...] fremd; von einer Naherwartung etwa im Hinblick auf das Jahr 1000 kann keine Rede sein“.110 Die Schrift Adsos bietet einen hoffnungsvollen Ausblick auf die renovatio Imperii – wobei unter Imperium die gesamte christliche Welt verstanden wird – unter Ludwig IV. bzw. den Ottonen111; sie ist in der Hoffnung auf eine sichere Zukunft in einem stärkeren Staat verfasst worden und nicht in der Erwartung des Weltendes.112 Abbo von Fleury. Ein wichtiger Hinweis für die Diskussion um das Jahr 1000 stammt von dem Abt Abbo aus dem Kloster Fleury (bei Orleans): 106

Vgl. B. Schneidmüller 2000, S. 33. Besonders unter der Makedonier- (867-1056) und Komnendynastie (1081-1185) (siehe darüber C. Diehl 1945, S. 86 und 126). 108 Vgl. A. Vasiliev 1942/43, S. 464f. 109 Vgl. D. Barthelemy 2002, S. 163 oder H. D. Rauh 1973, S. 97. 110 H. D. Rauh 1973, S. 164. 111 Manche Forscher meinen, dass die oben zitierte Formel reges francorum sowohl das deutsche als auch das französische Königtum bezeichnet (vgl. B. Schneidmüller 1977/78, S. 191). 112 Vgl. B. McGinn 1980, S. 83-84 und P. Riché 1977, S. 13. 107

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„Über das Ende der Welt habe ich als kleiner Knabe (adolescentulus) eine Predigt in aller Öffentlichkeit in einer Pariser Kirche gehört, dass der Antichrist in dem eintausendsten Jahr kommen werde und nicht lange danach das Jüngste Gericht unmittelbar folgen werde: Dieser Predigt habe ich mich, soweit ich es vermochte, widersetzt, gestützt auf die Evangelien, die Apokalypse und auf das Buch Daniel.“113

Dem Zitat aus Abbos Buch Apologeticus folgt die Information, dass manche Lothringer gemeint hätten, dass das Ende kommen werde, wenn der Karfreitag und die Verkündigung des Herrn auf ein und denselben Tag fallen. Tatsächlich geschah dies um das Jahr 1000. Diese Indizien genügen R. Landes und seiner Schule114, um zu behaupten, dass sie ein generelles Phänomen widerspiegeln. Während die antimillenniale Forschung betont, dass der Pariser Prediger in der Kirche eine einsame Stimme war115, ohne große Bedeutung, sodass sogar ein adolescentulus seine Behauptung widerlegen konnte, meint Landes, dass dieser Priester nicht ohne Weiteres von den zensierenden Bischöfen ignoriert werden konnte.116 Landes übersieht dabei einerseits, dass zu dieser Zeit Paris nicht einmal die Hauptstadt des Staates war und damit keinerlei Bedeutung besaß, und andererseits, dass den Menschen bewusst war, dass der Karfreitag und die Verkündigung des Herrn ungefähr alle dreißig Jahre zusammenfallen (Abbo erwähnt eben, dass es bei manchen die Meinung gab, das Weltende komme wenn der Karfreitag und die Verkündigung des Herrn zusammenfallen).117 Eine aufmerksame Lektüre des Textes macht die gesamte Landessche Argumentation zunichte: Die beiden „apokalyptischen“ Abschnitte umfassen nur einige wenige Zeilen am Schluss118 der langen Schrift Apologeticus als exotische – vielleicht nostalgische (siehe das Wort adolescentulus) – Jugenderinnerung; das Ziel des Werkes ist ein ganz anderes, nämlich die

113 „De fine quoque mundi coram populo sermonem in ecclesia Parisiorum adolescentulus audivi, quo statim finito mille annorum numero Antichristus adveniret, et non longo post tempore universale judicium suscederet: cui praedicationi ex Evangeliis ac Apocalypsi et libro Danielis, qua potui virtute resisti“ (PL 139, 471-472 A). Obgleich der letzte Satz auch so verstanden werden könnte, dass in der Predigt selbst die Evangelien, die Apokalypse und das Buch Daniel ausgelegt worden seien, neige ich zu der anderen Übersetzung, die mehr dem Sinn der Aussage entspricht. Das lateinische Original hatte nach „Danielis“ kein Komma, was das Verständnis des Textes erschwert. Es ist anzunehmen, dass der Junge diese Predigt – die wohl auf Zitaten aus dem Evangelium, der Offenbarung und dem Buch Daniel beruhte – mit Zitaten und Argumenten aus denselben Büchern widerlegte. 114 Vgl. J. Fried 1989, S. 422f. 115 Vgl. S. Gouguenheim 1999, S. 132 und 199. 116 Vgl. R. Landes 1995, S. 294. 117 Vgl. D. Barthelemy 2002, S. 164 und P. Riché 1977, S. 13. 118 Vgl. M. Mostert 1987, S. 51.

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Fürsprache für manche von ihrem Bischof verfolgten Mönche; daher der Titel „Apologeticus“.119 Der Brief über die Ungarn. Die Offenbarung überliefert, dass das Kommen des Antichrists mit der Invasion zweier mythologischer Völker verbunden sein wird: Gog und Magog (Offenbarung 20, 8). Diese Aussage hat natürlich in der Geschichte des Christentums120 zu zahlreiche Spekulationen im politischen Bereich geführt. Unterschiedliche „feindliche“ Völker wurden unter der „Gog-und-Magog“-Bezeichnung verteufelt. Die oben erwähnte tiburtinische Sybille erzählt, dass die Zeit des Antichrists von der Invasion derjenigen Völker (spurcissimae gentes quas Alexander inclusit) angekündigt werden wird121, die nördlich der Donau leben. Hieronymus z. B. sah in den Skythen und Hunnen Gog und Magog122, während PseudoMethodius die Araber mit ihnen identifizierte. Im 10. Jahrhundert versucht ein anonymer Brief123 an ierarchus sanctae ecclesiae Virdunensis zu erklären, dass die Vermutung mancher Leute, die plündernden Horden der Ungarn seien die prophezeiten Gog und Magog, völlig unbegründet ist. Natürlich findet die Landes-Schule in diesem Brief ein neues Argument für die Theorie einer allgemeinen Endzeiterwartung im Jahre 1000. In dem Brief heißt es: „Zuerst muss gesagt werden, dass die Meinung, die viele sowohl in eurem Gebiet als auch in meinem überzeugt, sinnlos ist und nichts Wahres beinhaltet. In dieser Theorie wird behauptet, dass das von Gott gehasste Volk der Ungarn Gog und Magog sei.“124

Der Verfasser weist ferner darauf hin, dass gemäß der Bibel Gog und Magog von vielen anderen Völkern begleitet sein sollen (Offenbarung 20, 8), während die Ungarn doch allein erschienen: si ergo Hungri sunt Gog et Magog, ubi sunt gentes istae quae cum eis venire dicuntur?125 Wie man dem Brief entnehmen kann, ist der Autor zudem der Meinung, dass die zwei 119

Vgl. S. Gouguenheim 1999, S. 132. Augustinus wendet sich gegen alle Versuche, die verschiedenen barbarischen Invasionen seiner Zeit mit dem Aufbruch Gogs und Magogs in Verbindung zu bringen (vgl. H. D. Rauh 1973, S. 125, Anm.19). 121 Vgl. H. D. Rauh 1973, S. 142 und den Originaltext bei E. Sackur (siehe ADSO), S. 186: „ex exurgent ab aquilone spurcissimae gentes, quas Alexander inclusit, Gog et Magog. Haec sunt XXII“. 122 Vgl. H. D. Rauh 1973, S. 131. 123 Der Editor R. B. C. Huygens schreibt diesen Brief Remi d’Auxerre (vgl. R. B. C. Huygens 1856, S. 237) zu. 124 Bei R. B. C. Huygens 1956, S. 231, Z. 96-99: „Ac primum dicendum opinionem quae innumeros tam in vestra quam in nostra regione persuasit frivolam esse et nihil veri in se habere, qua putatur Deo odibilis gens Hungarorum esse Gog et Magog.“ 125 Bei R. B. C. Huygens 1956, S. 232, Z. 111-112. 120

Das Jahr 1000 in der Gottesfriedensproblematik

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apokalyptischen Völker allegorisch zu interpretieren sind, da his nominibus inmanissima persecutio hereticorum designatur126 (mit diesen [allegorischen] Namen wird die grausamste Verfolgung seitens der Ketzer bezeichnet). Es lässt sich also lediglich feststellen, dass verschiedene Invasionen im Christentum schon immer mit dem Eschaton in Verbindung gebracht wurden und dass wahrscheinlich im Jahre 1000 auch die Ungarn mit Gog und Magog gleichgesetzt werden konnten, so wie damals etliche andere Völker; wir dürfen aber nicht glauben, dass dies eine Ausnahme sei, die das Jahr 1000 zu einem mit besonderen apokalyptischen Erwartungen verbundenen Jahr mache: Dass an der Jahrtausendwende ein solcher Glauben fortlebte, ist das sicherste Zeichen dafür, dass es sich um eine Epoche wie alle anderen in der Geschichte der Christenheit handelt. Die Auseinandersetzung um die These, es habe vor der ersten Jahrtausendwende eine kollektive Psychose gegeben wird wahrscheinlich nicht enden, solange es Forscher gibt, die nicht davon zu überzeugen sind, dass das erste Millennium nicht ruhiger oder hektischer als das zweite verlaufen ist. Wenige waren sich zu jener Zeit bewusst, dass sie sich im eintausendsten Jahr seit Christi Geburt befanden. Die Argumente der beiden Schulen sind vielfältig und zahlreich; es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, die gesamte Argumentation zu durchleuchten und zu wiederholen. Die Wahrheit liegt wie immer irgendwo in der Mitte. Es muss manche gegeben haben, die sich irgendwie vorstellten, dass die Ankunft des Antichrists und das Ende der Welt mit dem Millennium verbunden seien, doch bei diesen Leuten handelt es sich um einzelne, die von den Zeitgenossen verpönt und der Ketzerei verdächtigt wurden.127 Mit dem Jahr 1000 kommen bessere Zeiten für Europa. Die Menschen verbessern mit dem Beginn der Gottesfriedensbewegung langsam ihre Lage. Dies hat mit der chiliastischen Angst nichts zu tun, welche manche mythologisierende Forscher von heute begeistert. Es war eine natürliche Entwicklung des mittelalterlichen Sozialorganismus, der mithilfe der Gottesfriedensbewegung, innere Spannungen und Anachronismen teilweise beseitigen konnte. Die Diskussion über das „Schrecken“, das das Jahr 1000 auslöste, dient mir hier nur dazu, den Gottesfrieden in seinem ursprüng126

Bei R. B. C. Huygens 1956, S. 232, Z. 141-143. Vgl. J. Favier 2000, S. 15; U. Eco 2003, S. 122-123; E. Sackur 1889, S. 400. Es ist darauf hinzuweisen, dass die eigentliche apokalyptische Literatur, in der sich wahrhaftig starke Tendenzen zur chronologischen Berechnung der Zeit des Antichrists manifestieren, sich in der Legende der fünfzehn signa der Apokalypse widerspiegelt. Diese Literatur entsteht aber lange nach dem Jahr 1000, mit Petrus Damiani (†1072) (vgl. H. E. Sandison 1910, S. 72). Mehr über diese Literatur siehe bei H. Eggers, E. Sommer 1843 und C. Michaëlis 1870. 127

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lichen Sinn zu verstehen. Die mentale Revolution, die an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert beginnt, steht mit neuen sozialen Entwicklungen in Verbindung. Die alten Verhältnisse verlieren ihre Bedeutung und die Mentalität der Menschen schafft neue Kriterien, nach denen ein paar Jahrhunderte später die neue Ordnung errichtet wird: Funktionalisierung128, Produktion, Kapital, Stadtkultur, Kolonialisierung usw. Letztendlich ging es um Geltungsansprüche mancher Schichten, die von der kriegerischen Kaste nicht anerkannt wurden, eine Tatsache, die nicht mehr den neuen Produktions- und Gesellschaftsverhältnissen entsprach. Der Ehrbegriff ist der Indikator in dieser neuen Dynamik der Anerkennung und des Wertewandels, die in dem Gottesfrieden Kontur bekommt und in die alle sozialen Kategorien verwickelt wurden.129 Im Bezug auf diese Epoche denke ich an eine „Erfüllung der Zeit“ im paulinischen Sinne von Galater 4, 4. Es war nur ein Zufall, dass sich dies ungefähr eintausend Jahre nach der Geburt Christi ereignet hat.

128 129

Vgl. G. Bois 1999, S. 166. Vgl. F. Winkelmann 1994, S. 37.

Ein Zeitalter der Kirche. Die Vertretungsehre Motto: „Quoniam vos estis, ut ait Dominus, lux mundi et sal terrae, quibus commisit Dominus Jesus Christus Ecclesiam suam regendam, quam acquisivit sanguine suo“ (Papst Johannes XIII.) Die Zeitspanne zwischen 900 und 1050 ist in der Geschichte der europäisch-abendländischen Kirche eine Zeit der Erneuerung: Man spricht von einer Verkirchlichung der westlichen Welt, von einer neuen christlichen und kirchlich-institutionalisierten Besinnung. Die Kirche erlangte in dieser Zeit in dem gesamten Sozialkorpus dadurch einen privilegierten Status, dass sie nah an die Menschen herankam und aufgrund der starken Glaubwürdigkeit, die sie in der Gesellschaft genoss, sehr einflussreich wurde. Der Zeitraum vom 10. bis zum 13. Jahrhundert kann wohl als Epoche der Kirche bezeichnet werden: Die Gesellschaft erfuhr nun durch die intensive Aktivität der Kirche eine umfassende Transformation zu einer kirchlich zentrierten Gemeinschaft der Gläubigen; die Kirche löste sich von den vielfältigen Abhängigkeiten, in die sie bis dahin geraten war: 1. von heidnischen Einflüssen, 2. von der königlichen Vormundschaft und 3. von der Einmischung der feudalen Herren in ihre Angelegenheiten. Somit wurden die kirchlichen Würdenträger zu einer eigenen sozialen Klasse ersten Ranges, zu einer „new spiritual aristocracy“.1 In dieser Hinsicht spreche ich von einer neuen Identität, von einem gestärkten Selbstbewusstsein, von typischen Handlungen und einem eigenen Wertungssystem. Während der kirchliche Organismus bis dahin keine deutlich erkennbare Rolle in dem westlichen Dasein spielte und im Schatten anderer Mächte agieren musste, erwacht er nun zu einer eigenständigen Präsenz auf der politischen, sozialen und alltäglichen Ebene. Dieser Renaissance-Prozess (Regenerierung nach G. Tellenbach2) kann an verschiedenen Fakten beobachtet werden, wobei der Gottesfrieden – der das Fallbeispiel meiner Untersuchung bildet – ein Teil einer komplexen Entwicklung und Umformung der kirchlichen Institution ist. Dazu muss auch die monastische Reform, die das ganze Zeitalter zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert prägte, bzw. der Investiturstreit als Höhepunkt der kirchlichen Selbstbehauptung gerechnet werden. Diese gesamte Entwicklung geht, wie schon gesagt, Hand in Hand mit dem Aufbau eines neuen spezi1 2

R. Morghen 1971, S. 15. Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 127.

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fischen Ethos, das die Kirche zu einer eigenen Klasse bzw. Kaste (im Sinne einer strikt geschlossenen sozialen Schicht) im mittelalterlichen Abendland machte. Ein Elitenbildungs- und Absonderungsprozess fand nun statt, in dem sich die Kirche als maßgebender Stand der Gesellschaft durchsetzte. Eine neue Entität auf der sozialen Bühne bilden die Geistlichen, die einem relativ geschlossenen und einheitlichen Corpus angehören, welches seine Interessen vertritt und seine Machtstellung verteidigt. Die angesprochene Herausbildung eines neuen Ethos und die Konsolidierung der Kirche als eigener Stand möchte ich mit dem Begriff einer Kastenbildung – der Geburt einer Kaste – beschreiben. Wie jede menschliche Assoziierungsform wird eine Kaste von dem eigenen Verständnis der Lebensverhältnisse geprägt. Dieses äußert sich in einem neuen Ehrbegriff, der als Indikator gemeinsamer Haltungen und Werte der erneuerten Kirche fungiert: der Vertretungsehre.

Die Ehre, ein Vertreter Gottes zu sein. Zur Konturierung eines neuen Begriffs Die Vertretungsehre bezieht sich unmittelbar auf Gott. Für die Religion an sich ist eine enge Beziehung des Menschen zum Heil grundlegend. Die Gottheiten vertrauen ihre Interessen auf der Erde auserwählten Menschen an. Daher beruht jedes Priestertum ontologisch auf einem Vertretungsverhältnis, wobei der Mensch zu einem Manifestationsorgan unterschiedlicher göttlicher Charaktere wird. Die römisch-abendländische Kirche in der mich beschäftigenden Periode, welche sich stets auf die Petrus-Sukzession berief („Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen“ – Mt 16, 18), bietet uns einen klassischen Fall von Vertretungsehre. Der christliche Monotheismus erlaubt die Entwicklung eines starken Vertretungsethos, da sich in der neuen Religion niemand mehr – wie oftmals in der heidnischen Antike – selbst als Gottheit darstellen konnte.3 Folglich vermochte man in einer christlichen Gesellschaft Ansehen, Ehre und Macht durch eine enge Verbindung zu diesem allein herrschenden Gott zu erlangen, indem man als sein Vertreter – Vertreter seines Willens, seiner Ansprüche usw. – auf der Erde auftrat. Die authentische Haltung eines Vertreters Gottes zeigt sich in dem Wissen, dass 3 In den antiken Formen des Summodeismus werden auch bestimmte Gottheiten als „höchste Götter“ verehrt, die über den Kosmos herrschen und auf der Erde ihre Statthalter in der Person des Königs haben. Der irdische Herrscher ist der Sohn des „Hauptgottes“, des Herrschers des Himmels, und deshalb kann er die weltlichen Angelegenheiten verwalten (vgl. A. Angenendt 2001, S. 80).

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er an sich völlig bedeutungslos ist. Das zeigt auch Abt Odo von Cluny (†942) in einem seiner Werke, in dem er mit Bescheidenheit schrieb: „Tu, o homo, qui licet aliis praelatus sis, aequalis tamen natura tibi cum iliis.“4 (O, du Mensch, dem es erlaubt ist, anderen Prälat zu sein, du bist ihnen dennoch von Natur aus gleich).

Es obliegt ausschließlich dem Willen Gottes, manche Menschen zur Ehre seiner Vertretung zu erheben; der Vertreter hingegen soll sich stets der Kontingenz seiner Würde bewusst sein. Denn er gehört nicht mehr sich selbst, sondern zur familia Gottes. In der Spätantike und im Frühmittelalter hatten diese privilegierte Stellung des Vertreters Gottes die byzantinischen Kaiser bzw. die fränkischen Könige inne, eindeutig im Rückbezug auf die antike Auffassung, nach der der Herrscher selbst eine Gottheit war. Noch im Mittelalter und in der Neuzeit konnte man das Fortleben dieser Mentalität bemerken5, wobei sich die Herrscher lange Zeit als Repräsentanten Gottes auf der Erde verstanden6 und die kirchlichen Probleme als Teil ihres ministerium betrachteten.7 Diese Behauptung wird ab dem 11. Jahrhundert vom Papsttum angefochten: Nur die Kirche und ihr Haupt sind die wahren Vertreter Gottes und schulden niemandem Rechenschaft. In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, wie die Vertretungsehre verstanden wurde, und an konkreten historischen Beispielen verdeutlichen, wie sie sich von den Ehrvorstellungen der beiden anderen Funktionen abhebt. Ich bin mir der Schwierigkeiten bewusst, die auftreten können, wenn ein neuer Begriff in die Forschung eingeführt wird; deswegen neige ich zu der pragmatischen Methode der Untersuchung fassbarer Fälle. Die Kastenbildung der Kirche bedeutet vor allem die Herausbildung neuer Werte und Handlungen, die dem neuen Bewusstsein Rechnung tragen, dass die Geistlichen unter der autokratischen Führung des vicarus Sancti Petri Verwalter der göttlichen Angelegenheiten in der Welt sind. Diese Ansprüche klerikaler Vormacht basieren auf folgenden Worten Jesu: Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat (Lk 10, 16). Niemand hat so treffend die Grundlage der Vertretungsehre zusammengefasst wie – wer auch sonst? – Papst Gregor VII. in einem seiner Briefe: „Wir nehmen auf dessen [des Heiligen Petrus] Stuhl und in dessen Apostelamt – Sünder, die wir nun einmal sind, und unwürdig – nach dem 4

Zitiert von C. Voormann 1951, Anm. 37, S. 19. Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 177. 6 Vgl. B. Szabó-Bechstein 1985, S. 71ff. 7 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 45. 5

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Willen Gottes die Vertretung [Gen. vicis, Akk. vicem, Abl. vice, ohne Pluralformen und ohne Nominativ] seiner Gewalt wahr.“8

Damit erhalten wir auch den mittelalterlichen Begriff der Vertretung, der interessanterweise im Lateinischen keine Nominativform aufweist und damit die Vertretungslogik beibehält: Die Vertretung hat keine eigenständige Bedeutung, sondern steht stets im Bezug auf etwas. Infolgedessen identifiziert sich der Vertreter nie mit Gott und lebt immer in dem Bewusstsein „seines Abstandes von dem himmlischen Lenker der Kirche“.9 Die Kastenbildung beginnt durch eine Machtkumulierung seitens der römischen Kurie, die durch Zentralisierungsbestrebungen im 10. und 11. Jahrhundert versucht, das feudale Monopol des Eigenkirchensystems zu brechen: Immer stärker wird das Bestreben, neue und alte Klöster durch spezielle Privilegien der Sphäre des königlichen und feudalen Einflusses zu entziehen und sie direkt unter die Vormundschaft Roms zu stellen.10 Die Identitätsbildung der Kirche und ihr Aufstieg zu einer eigenen gesellschaftlichen Elite beginnen mit ihrer Unabhängigkeit – durch die bekannte libertas romana – von jeder Form von laikaler Einmischung, sei es von einfachen milites oder von Aristokraten bzw. Königen.11 Mit dieser, auf der Freiheitsidee beruhenden Klosterreform beginnt der Prozess, der seinen Höhepunkt im Investiturstreit erreicht; die sakrale Dimension des Königtums wird bestritten und verneint und damit gleichzeitig dessen Herrschaftsansprüche. Die „Eroberung“ der gesellschaftlichen Vormachtstellung erfolgte mittels des Gottesfriedens, wobei die inmitten der Menschen wirkende Diözesanbischöfe den Prozess dieser Standesbildung der Geistlichkeit auf die konkrete soziale Ebene übertragen. Das Friedensphänomen entfaltet sich bis in das 15. Jahrhundert. Die Klosterreform mit ihrer Forderung nach Freiheit entspricht dem monastischen Verständnis des Vertretungsethos. Im Investiturstreit wird diese Freiheitsidee übernommen und zu einem universellen Prinzip der gesamten Kirche erhoben. Durch die Bischöfe bringt der Gottesfrieden alle inneren Entwicklungen an die Öffentlichkeit und trägt zu wesentlichen Umbrüchen der europäischen Gesellschaft bei. Dass in diesem Prozess die Kirche in einen gewissen Konflikt mit den gerade erwähnten Mächten gerät, heißt nicht, dass das neue Verständnis der 8

„In cuius sede et apostolica administratione dum nos qualescunque peccatores et indigni divina dispositione vicem suae potestatis gerimus“ (F.-J. Schmale 1978, S. 200201). 9 G. Tellenbach 1936, S. 160. 10 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 28. 11 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 3.

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Ehre, deren Botschafter die Ecclesia Christi ist, ein progressives Element in der traditionellen Gesellschaft des Mittelalters darstelle. Die Vertretungsehre weist, wie wir sehen werden, klare Strukturen einer patriarchalischen12 Verfassung auf: Diese Form der Ehre wird ebenfalls unabhängig von eigenen Taten geerbt bzw. übertragen (durch die priesterliche Ordination) und schafft enge Beziehungen, die manchmal fester als die durch Verwandtschaftsverhältnisse begründeten sind. Am Beispiel der Klosterreform des 10. Jahrhunderts konnte die Forschung z. B. in Cluny die Entstehung ganzer Abtdynastien feststellen, die aufgrund der Treue funktionierten13, wobei das Vater-Sohn- bzw. Herr-Vasall-Verhältnis durch die Beziehung Mentor-Lehrling ersetzt wurde.14 Das Überleben der frühund hochmittelalterlichen Klöster hing stark von Immobilien und großem Grundbesitz ab, da es keinen Geldverkehr gab. Allerdings befand sich der Landbesitz anfangs noch in den Händen des Königs und wurde von ihm durch Belehnung an die Grafen oder Bischöfe und durch Schenkungen an die Klöster verteilt. Mit der Zeit jedoch kommt es zu einem Verfall der zentralen Autorität: Die comites beanspruchen und erwerben eine große Selbstständigkeit, und genauso tendieren die Klöster immer stärker zur Autonomie. Sie werden zu „kollektiven Herren“.15 So kann man viele Parallelen zwischen der kriegerisch-feudalen Ehre und der Vertretungsehre feststellen. Dies sollte aber keineswegs andeuten, dass sich das neue Ethos der Vertretungsehre auf die Nachahmung allogener Handlungen einlässt. Wie jede andere Form der Ehre schafft die Vertretungsehre vor allem eine eigene Identität: Es sollte kein Zufall sein, dass in diesem Zeitraum die römische Kurie ihre eigene Fahne mit eigenem Wappen zu verwenden beginnt.16 Alles, was für die anderen Stände spezifisch ist, wird in der „neuen Kirche“ unterbunden: Die Bischöfe sollten nicht mehr in den Krieg ziehen17; den Priestern wurde das Zölibat abverlangt. Die Bekämpfung der Simonie, des käuflichen Erwerbs der priesterlichen Würde, hat in dieser Zeit eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung der Vertretungsehre, die u. a. auf einer starken Disziplin des Klerus beruht. In diesem Zusammenhang wird all das, was nicht der Kirche eigen ist, als „laikal“, also als „nicht-kirchlich“, definiert. Diese Polarität spielt in dem ganzen Diskurs der 12

Vgl. W. Jorden 1930, S. 17f. Vgl. R. Morghen 1971, S. 15 und D. W. Poeck 1998, S. 213. 14 Vgl. W. Schultze 1883, S. 14f und A. Angenendt 1973, S. 165. 15 Vgl. R. Morghen 1971, S. 16f. 16 Vgl. C. Erdmann 1930/31, S. 228. Ich habe im ersten Teil die Bedeutung der Fahne in der allgemeinen Ehrenanthropologie aufgezeigt. 17 Berthold von Reichenau (†1079) war der Meinung, dass eben dieses Verbot, Kriege zu führen, während des Investiturstreites viele Bischöfe dazu veranlasste, in das königliche Lager zu wechseln (vgl. T. Struve 2002, S. 208 und die Anm. 7, S. 208). 13

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Absonderung der geistlichen Kaste eine wesentliche Rolle.18 Diese Kastenbildung verstehe ich als ein Ethisierungsphänomen, wobei damit keine objektiven moralischen Normierungen behauptet werden sollen, sondern das subjektive „richtig-falsch“-Verhältnis aufgrund eines kollektiven Bekenntnisses zu bestimmten Wertungen und Handlungen. Das Auftreten verschiedener Formen des Gottesurteils der Kleriker lässt erkennen, dass es um eine eigene Ehrsemantik, um ein spezifisches GutBöse-System geht. Bei einer Synode im Jahre 1056, die in Gallien (partibus Galliae) stattgefunden hat und an der auch der Erzdiakon Hildebrand19 teilnahm, wurde einem Bischof vorgeworfen, dass er sein Amt durch Geldzahlungen erworben habe. Seine rhetorische Kunst machte aber jedes Argument zunichte, und den Richtern gelang es nicht, seine Schuld zu beweisen. In diesem peinlichen Moment steht Hildebrand auf und fordert von dem Angeklagten, die sakramentale Formel Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto auszusprechen. Dem Verbrecher gelingt es jedoch nicht, die Worte Spiritui Sancto zu sagen – ein Zeichen für seine Schuld.20 Die gloria des Heiligen Geistes (durch dessen Gnade die Kirche und die apostolische Sukzession entstehen) kann offensichtlich nicht von einem sogenannten „Kaufmann des Heiles“ vertreten werden. In diesem Kampf um den Vorrang in der Welt perfektioniert die Kirche alte Waffen, von denen die Exkommunikation am stärksten gefürchtet wurde. Die Vertreter Gottes hatten die Macht zu bestimmen, wer zum Haus (Ökumene) Christi gehört oder nicht. In den Schriften des 10.-11. Jahrhunderts werden diejenigen heftig angegriffen, die sich dieser kirchlichen Maßnahme gegenüber respektlos verhalten: Es gab eben Menschen, die sich trotz ihrer Exkommunikation nicht im Geringsten Sorgen machten. Der Bann der Kirche war objektiv gültig, d. h., es zählte nicht, ob er zu Recht oder zu Unrecht ausgesprochen wurde, er galt in jedem Fall.21 Anhand des Beispiels der Klosterreform wird deutlich, wie neue Handlungen zu einem neuen Ethos beitragen und in welchem Verhältnis sie zu den Ehranschauungen der anderen Stände stehen.22 Das reformierte Mönchtum legte beispielsweise ausgesprochen großen Wert auf das silentium, auf die beschauliche Stille – eine Haltung, die zum allgemeinen Kriterium eines „echten“ monastischen Lebens wurde. Der Stille zuliebe war man bereit, gegen die allgemeinen Sitten der sozialen Gemeinschaft zu verstoßen: So zieht es der große Abt Odo von Cluny vor, einen Dieb entfliehen zu lassen, 18

Vgl. N. Hunt 1971, S. 8. Der spätere Papst Gregor VII. (1073-1085). 20 Vgl. DICTA ANSELMI, S. 8 (die 4. Anekdote) und A. Stacpoole 1967, S. 356f. 21 Vgl. C. Voormann 1951, S. 30. 22 Vgl. L. M. Smith 1920, S. 57. 19

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statt sein silentium zu unterbrechen.23 Der Gehorsam gegenüber dem Abt war eine andere conditio sine qua non des mönchischen Alltags, ein Gehorsam, der der Vasallentreue im Feudalismus sehr ähnlich war, sodass man von einer Parallele zwischen Verschwendungs- und Vertretungsehre sprechen kann: Beide entstanden in geschlossenen Gemeinschaften, beide waren durch eine kollektive Ehrvorstellung geprägt. Der Abt hatte im Kloster die Stellung, die ein Feudalherr in seiner familia hatte24: Er war der dominus. Doch bestand ein Unterschied in der Tatsache, dass es in der religiösen Gemeinschaft der Geistlichen überhaupt keine individuelle Ehre geben sollte25, sondern alle Handlungen ausschließlich die gloria Dei bezweckten, weshalb sie in dem gemeinsamen Schatz der Kirche gesammelt wurden. Hier liegen vermutlich die Wurzeln der späteren Merita-Theologie. Dabei konnten die Übeltaten eines Klerikers keineswegs einen Schatten auf das Image der gesamten Kirche werfen, da es kein Mensch vermochte, die Ehre Christi und seiner ecclesia zu beflecken. Es handelt sich hier um eine extreme Objektivierung. So konnte behauptet werden, dass z. B. die Sakramente eines sündigen Klerikers trotz allem gültig bleiben, da Gott der eigentliche Spender eines jeden Sakramentes ist und seine Gnade objektiv wirkt.26 Neben dem silentium und dem Gehorsam spielten auch das Fasten27 bzw. die Enthaltsamkeit eine wichtige Rolle in diesem Absonderungsprozess der Kirche von den anderen gesellschaftlichen Kategorien. Man suchte eine neue Identität, die durch typische Handlungen artikuliert werden sollte: Zu einem reformierten Geistlichen gehörten folglich Disziplin, Gehorsam und Frömmigkeit. Den beliebten Begriff der militia Christi – als Metapher des ersten Standes – sollte man allerdings mit Vorsicht gebrauchen: Das Vertretungsethos ist keine kriegerische Haltung an sich, und die Aussage, die neue Kirche sei als „militia Christi im liturgischen Kriegs-

23

Vgl. W. Schultze 1883, S. 63. Vgl. W. Schultze 1883, S. 64. 25 Ich habe in dem zweiten Teil gezeigt, dass in den feudalen Ehrgemeinschaften die individuelle Ehre nicht aufgelöst, sondern in ein kollektives System integriert wurde. Die familia war eine Gemeinschaft, welche die individuelle Ehre vor Verletzungen schützte und behauptete oder sie kollektiv vermehrte. Ein Vasall konnte ebenfalls eine familia verlassen, wenn seine eigene Ehre zu leiden hatte. Ebenso konnten die individuellen negativen Handlungen eines Mitglieds der Ehrgemeinschaft die Ehre aller anderen verletzen. Ich nenne damit zwei wesentliche Unterschiede zwischen der Verschwendungsund der Vertretungsehre. 26 Diese Theorie ist schon bei Augustinus zu finden, aber ihre klare Kontur bekommt sie erst im 11. Jh. bei Petrus Damiani (†1072) in dessen Schrift Liber Gratissimus (1052). Dort wird gezeigt, dass die Ordination der simonistischen und zügellosen Kleriker gültig bleibt, d. h., die Gültigkeit ihrer Sakramente wird nicht im Geringsten gemindert, solange das Ritual – die Form also – korrekt ausgeführt wurde (vgl. G. Ladner 1968, S. 53ff) 27 Vgl. W. Schultze 1883, S. 71. 24

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dienst für den himmlischen Kriegsherrn“28 (!) zu betrachten, ist zu differenzieren.29 Zwar beansprucht das Vertretungsethos, sich des Krieges nach Belieben zu bedienen und beispielsweise Gewaltsamkeit im Namen des Friedens anzuwenden, doch fehlen dem geistlichen Kampf wichtige Merkmale, die eine Gleichsetzung mit dem kriegerischen Ethos rechtfertigen würden: die Waffengewalt und die körperliche Gewalt sowie das Töten. Zur Verdeutlichung mancher Nuancen des kriegerischen und klerikalen Ehrenethos möchte ich eine Anekdote aus den Dicta Anselmi30 anführen, einer Sammlung von sechs Anekdoten aus dem 12. Jahrhundert über die Wundertaten des Papstes Gregor VII. Hildebrand. In der ersten Anekdote31 wird erzählt, wie der Mönch Hildebrand (noch nicht Papst) als Legat zusammen mit dem Abt Hugo von Cluny unterwegs war. Auf ihrem Weg treffen sie eine große Schar von Adligen (viri nobiles atque magnifici), die Hildebrand respektvoll umkreisen, ihn grüßen und ihm ihre Dienstbarkeit und Unterwürfigkeit erweisen (suae servitutis famulatum offerentes). In diesem Durcheinander – da alle möglichst dicht an den römischen Legaten herantreten wollen – wird Abt Hugo zur Seite geschoben und isoliert (remotusque est ab eo – von Hildebrand – non modico spatio). Das wunderte ihn, und der heilige Mann wurde ein wenig neidisch. Er verstand nicht, wie einem Mann niederer Herkunft32 so große Aufmerksamkeit und so großer Respekt von Adligen zuteilwerden konnte. Er fragte sich innerlich: „[A]us welchem Urteil Gottes wurde dieser Kerl – niederer Herkunft und schwacher Verfassung – umgeben von einem solchen Gefolge vor-

28

F. Heer 1949, S. 392. Man erkennt im cluniacensischen Gottesdienst eine Form des Kampfes und der Freisetzung der angeborenen menschlichen Aggression (vgl. B. H. Rosenwein 1971, S. 154), da die „intercession was a weapon with wich to fight the devil“ und folglich die ganze cluniacensische Liturgie „a field of battle“ war; „the Cluniacs fought the devil for God“ (vgl. B. H. Rosenwein 1971, S. 145). Solche interessanten Anmerkungen sollen uns aber nicht dazu veranlassen, zwei wichtige Institutionen zu verwechseln und misszuverstehen: militia Christi im Sinne der Kreuzzüge und der mönchische geistliche Kampf um das Himmelreich. 30 Der Autor der Sammlung war Alexander, ein Mönch aus der Gefolgschaft Anselms, des Bischofs von Canterbury, der am Anfang des 12. Jahrhunderts Cluny besuchte. Die Anekdoten zirkulierten aber seit dem 11. Jahrhundert durch Europa, deshalb gibt es mehrere Varianten. Mich interessiert in diesem Falle die Version von William von Malmesbury (†1143). Siehe die Ausgabe der Alexander-Variante bei F. S. Schmitt 1956. Mehr darüber auch bei A. Stacpoole 1967, S. 341ff. 31 Siehe F. S. Schmitt 1956, S. 9-10. 32 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 126 und U.-R. Blumenthal 2001, S. 20f. 29

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nehmer Männer?“33. Auf wundersame Weise hört Hildebrand, obwohl er weit entfernt war (siehe oben: non modico spatio), die Gedanken des Cluniacensers und eilt zu ihm. Er sagt, die Adligen würden nicht ihm persönlich die Ehre erweisen, sondern Gott und dem Seligen Petrus, die von ihm nur vertreten werden (Nam honor iste meus non est, quia non pro me, sed pro Deo et beato Petro apostolo, cuius legatione fungor, exibetur). Hugo war dagegen von adliger Geburt und denkt nach den Kriterien der kriegerischen Ehre: Ein Mann von Ansehen muss adlig und physisch stark sein. Die Antwort Hildebrands zeigt die Auffassung der Vertretungsehre: Man brauche nur Gott zu dienen, um an dem größten Ruhm teilzuhaben. Die vornehme Geburt ist in dem Vertretungsethos letztendlich irrelevant.34 Dies zeigt das Ritual der prostratio bei der Weihe der Priester und Bischöfe im Mittelalter. Dadurch entziehen sich die Kandidaten – eines jeden Standes! – demütig jeder Form der weltlichen Abhängigkeit und Ehrbarkeit und folgen Christus in seiner Demut und Dienstbarkeit.35 Durch dieses Beispiel haben wir uns der konkreten Problematik angenähert, die ich zur Definition des vorgeschlagenen Ehrbegriffs heranziehen möchte. Ich werde daher das generelle Phänomen der Klosterreform am Beispiel Cluny aus der Perspektive des neuen Ehrenethos betrachten. Anschließend werde ich den Investiturstreit als Zuspitzung der kirchlichen Freiheit und ihrer weltlichen Herrschaftsansprüche im Rahmen eines theokratischen Diskurses analysieren.

„[R]es juris mei sanctis apostolis Petro videlicet et Paulo, de propria trado dominatione, Clugniacum scilicet villam“: Cluny, eine Burg der Apostel Die europäische abendländische Geschichte des 10. bis 12. Jahrhunderts wird unmittelbar von dem neuen christlichen Geist der kirchlichen bzw. mönchischen Reform beeinflusst. Der außergewöhnliche Erfolg des cluniacensischen Konvents in Burgund und in ganz Europa ist nur ein Beispiel für eine Entwicklung, in deren Zentrum die römische Kirche des Mittelalters steht. Der Prozess der Reform des monastischen Lebens im Hochmittelalter beschränkt sich nicht nur auf die Cluniacenser, doch ist Cluny vor allem wegen der großen Freiheit beispielgebend, die die Mönche dieser Abtei 33

Das ist nur bei William von Malmesbury zu finden (übernommen und übersetzt von A. Stacpoole 1967, S. 351). In der Alexander-Variante lautet die Frage, die sich Hugo in seinem Inneren stellt, anders (siehe F. S. Schmitt 1956, S. 10). 34 Wie Gregor VII. in einem Brief an König Alfons VI. von Spanien 1081 meint (vgl. REGISTER, IX 2, S. 571, 16-23). 35 Vgl. S. Weinfurter 2005, S. 45f.

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genossen. Diese Selbstständigkeit wurde zum Leitmotiv der gesamten kirchlichen Emanzipation im Hochmittelalter, in den Quellen oft als exemtio (Exemtion)36 oder libertas romana bezeichnet. Darin besteht der erste Schritt auf dem harten Weg der kirchlichen Identitätsbildung und ihrer Befreiung von der Vormundschaft des Laientums und der Diözesanbischöfe.37 Deshalb war die Exemtion vor allem ein politischer Akt.38 Man unterscheidet eine exemtio dativa (durch eine Papsturkunde verliehen) von der seltenen exemtio praescriptiva (wenn ein Bischof seine Rechte an einem Kloster verliert, sofern er sie eine bestimmte Zeit nicht in Anspruch nimmt39). Im Falle der Schutzherrschaft des Papstes über ein monasterium oder coenobium wurde die Exemtion fast immer von der direkten päpstlichen Garantie begleitet.40 Es wurde auch ein symbolischer Tribut entrichtet, um das ius sanctae Romanae Ecclesiae zu bestätigen. Eine Untersuchung über die Vertretungsehre, so wie sie die römische Kirche entwickelte, wäre daher ohne einen Blick auf die Freiheitsidee unvollkommen, die die Grundlage des neuen kirchlichen Bewusstseins bildet. Daher müssen wir, sofern wir über die Freiheit der Geistlichen von den weltlichen Mächten sprechen, mit Cluny41 beginnen. Im Vergleich zu anderen berühmten Abteien des Hochmittelalters hatte Cluny eine kürzere Geschichte. Sie wurde am 11. September 91042 in einem abgelegenen Dorf in Burgund, nicht weit von Mâcon, von dem alten Herzog Wilhelm von Aquitanien43 (†918) gegründet. Die Grundlagen für die bis zur 36

Vom Partizip exemtum (Ind. Präs. eximo) = herausgenommen, befreit. Lange Zeit waren die Bischöfe mit ihren zentrifugalen Tendenzen ein Hindernis für die Zentralisierungspolitik der Päpste (vgl. L. M. Smith 1920, S. 155). 38 Vgl. H. Goetting 1935, S. 184 und O. Lerche 1911, S. 150. 39 Vgl. O. Lerche 1911, S. 151. 40 O. Lerche schlägt eine Standardformel für solche Schutzurkunden des Papstes vor: „monasterium [...] sub beati Petri et nostra protectione suscipimus et praesentis scripti privilegio communimus“ (O. Lerche 1911, S. 159). 41 Die cluniacensische Abtei hat ihre „heroic period“ in dem 10. bis 12. Jahrhundert. Diese Zeit endet mit dem Tod Petrus Venerabilis’ (1156). Danach spielt Cluny keine historisch bedeutsame Rolle mehr. 1790 wurde das Kloster von den französischen Revolutionären abgerissen (vgl. N. Hunt 1971, S. 1). Eine gute Monographie, die auch den Nicht-Spezialisten behilflich sein kann, ist J. Evans 1968 (ihre Begeisterung für Cluny wird allerdings von der wissenschaftlichen Welt kritisiert, siehe dazu K. Hallinger 1957, S. 10). Zur „technischen“ Geschichte Clunys: Größe, Brüderzahl, Architektur, Dependancen usw. siehe J. Hourlier 1971. 42 Andere Forscher nennen als Gründungsdatum des Klosters das Jahr 909 (vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 4). In der Urkunde, die das Ereignis überliefert, heißt es, das Datum der Schrift ist „anno undecimo regnante Karolo rege“ (siehe CARTULARIUM, I, 112, S. 128). In der Ausgabe der Cluny-Urkunden von Bruel wird jedoch als Datum der Schrift 11. September 910 genannt. Einen Überblick über die Erforschung der Cluniacenser bietet G. Tellenbach 1959, S. 5ff. 43 Zu ihm siehe W. Jorden 1930, S. 3ff. 37

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Gründung von Cluny beispiellosen44 Freiheit des Klosters, die zum Leitbild wurde und am Ende des 11. Jahrhunderts zu erbitterten politischen Auseinandersetzungen zwischen regnum und sacerdotium führen sollte, werden bereits in der Entstehungsurkunde des Konvents45 gelegt. Der Gründer beschenkt das monasterium reich mit Ländereien, einer Kirche sowie anderen Besitztümern und trifft Anordnungen, die ein ruhiges, beschauliches und von materieller Besorgnis ungestörtes Leben der Brüder ermöglichen sollten. Die Mönche haben sich an die Regel des Heiligen Benedikts zu halten (monachi juxta regulam beati Benedicti viventes46), ansonsten sollen sie völlig frei von jeder Form der Abhängigkeit sein. Die gesamte Gemeinschaft wird dem berühmten Reformabt Berno47 anvertraut (sub potestate et dominatione Bernonis abbatis, qui, quandiu vixerit, secundum suum scire et posse ei regulariter presideat48). Nach dem Tode Bernos wird die Wahl eines neuen Abtes den Brüdern überlassen; diese sollte nach einem „demokratischen“ Verfahren erfolgen, indem die Brüder nach dem Gefallen Gottes einen Mönch ihres Ordens gemäß der benediktinischen Regel wählen dürfen. Der Gewählte soll ihnen Rektor und Abt sein, und keine andere Macht sollte das Recht haben in dieses Verfahren einzugreifen (Post dicessum vero eius, habeant idem monachi potestatem et licentiam quemcumque sui ordinis, secundum placitum Dei adque regulam Sancti Benedicti promulgatam, eligere maluerint abbatem adque rectorem, ita ut nec nostra nec alicuius potestatis contradictione contra religiosam duntaxat electionem impediantur49). Der Gründer grenzt sich also eindeutig von dem verbreiteten Eigenkirchenmodell50 ab, das verschiedene feudale Herren veranlasste, sich und ihren Häusern private Kirchen bzw. Klöster zu bauen, die ihnen und ihren Nachfolgern unterworfen waren und zur freien Verfügung standen: Sie durften demzufolge Äbte ernennen oder absetzen.

44 Es stimmt wohl, dass die Gründungsurkunde keine völlige Neuheit darstellte, wie es ihr von manchen Cluny-Forschern zugetraut wurde. Wir müssen dabei nur an das Kloster von Vézelay denken, das von seinem Gründer – dem Grafen Gerard von Rousillon († ca. 877) – auch zahlreiche Privilegien erhielt. Die Originalität Clunys besteht darin, dass es alle Arten von Privilegien (Exemtion, Schutz, Eigentumsrecht), die individuell schon eine lange Tradition hatten, kumulierte (vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 8ff und N. Hunt 1971, S. 5). 45 Siehe die lateinische Ausgabe in CARTULARIUM, I, 112, S. 128-128 oder bei J. Wollasch 1967. Eine englische Übersetzung ist bei E. F. Henderson 1968, S. 329-333 und bei J. Evans 1968, S. 4-6 zu finden. Eine knappe, aber gute Analyse bietet W. Goez 2000, S. 17f (vgl. auch L. M. Smith 1920, S. 13f). 46 CARTULARIUM, I, 112, S. 125. 47 Vgl. W. Jorden 1930, S. 4f und L. M. Smith 1920, S. 10f. 48 CARTULARIUM, I, 112, S. 126. 49 CARTULARIUM, I, 112, S. 126. 50 Vgl. W. Jorden, 1930, S. 30ff.

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Die libertas des neuen Konvents wurde durch eine spezielle Anmerkung des Gründers vervollständigt: „Man beschloss sogar, in dieses Testament einzufügen, dass die dort [in Cluny] versammelten Mönche ab heute unter kein Joch gestellt werden sollen, weder von uns, von unseren Verwandten, von der königlichen Macht noch von irgendeiner anderen weltlichen Gewalt; und ich beschwöre bei Gott und bei seinen Heiligen und beim Tag des schrecklichen Gerichtes, dass keiner von den säkularen Fürsten, kein Graf oder Bischof, nicht einmal der Besitzer des oben genannten Römischen Stuhls, die Privateigentümer dieser Diener Gottes anrühre.“51

Der römische Pontifex selbst hatte keine Jurisdiktionsgewalt52 in Cluny, aber dafür die geistliche Oberhoheit. Man erkannte ihm das Recht zu, von Cluny Tribut zu erhalten, der allerdings die symbolische Summe von zehn solidi betrug, die für Beleuchtungszwecke einmal im Jahr an die römische Kurie entrichtet werden sollten.53 Auf diese Weise wird die Vertretungsmentalität betont, indem man sich bewusst ist, dass die römische Kurie über ihre Funktion als Vikar Christi hinaus keine Bedeutung in der Welt hatte. Der Papst konnte kein Recht auf dominatio über Dinge, die ihm nicht gehörten, beanspruchen. Die einzige Rolle, die ihm von der Gründungsurkunde zugeschrieben wurde, war die eines tutor und defensor (siehe das folgende Zitat). Das neu gegründete Kloster war als direktes Eigentum der beiden Heiligen Apostel Petrus und Paulus gedacht, die der mittelalterlichen Mentalität zufolge um ihres eigenen Ruhms willen zum Schutz des Konventes verpflichtet waren: „Ich beschwöre Euch bei Allem, o Ihr Heilige Apostel und ruhmreiche Fürsten der Welt, Peter und Paul, und dich auch, o Pontifex aller Priester, auf dem apostolischen Stuhl [...], dass Ihr Betreuer und Beschützer des

51 „Placuit etiam huic testamento inseri ut ab hac die nec nostro, nec parentum nostrorum, nec fastibus regie magnitudinis, nec cuiuslibet terrenae potestatis jugo, subiciantur idem monachi ibi congregati; neque aliquis principum secularium, non comes quisquam, nec episcopus quilibet, non pontifex supradicte sedis Romanae, per Deum et in Deum omnibusque sanctis eius, et tremendi judicii diem contestor, deprecor invadat res ipsorum servorum Dei“ (CARTULARIUM, I, 112, S. 126). 52 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, Anm. 1, S. 5; E. Sackur 1965, Bd. 1, Anm. 2, S. 41 (zitiert: „apostolicae sedi ad tuendum, non ad dominandum subiegit“) und W. Goez 2000, S. 18. Unter dieser Jurisdiktionsgewalt sollte das Recht verstanden werden, Äbte ein- bzw. abzusetzen, sowie das klösterliche Eigentum zu verwalten. Es soll nicht vergessen werden, dass in der symbolischen Sprache der mittelalterlichen Gesellschaft das materielle Eigentum ein Symbol der Freiheit, der sozialen Präeminenz und folglich der Ehre war! 53 Vgl. CARTULARIUM, I, 112, S. 126.

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bereits erwähnten Ortes von Cluny und der dort miteinander verbleibenden Diener Gottes seid.“54

Das Kloster sollte also ab sofort dem mächtigsten Hause des Mittelalters55, dem Hause Gottes, angehören, der durch seine Vertreter, den Papst, die Bischöfe und die Mönche, die Welt regierte. Die feudalen Mentalitätsstrukturen in der Vertretungsehre werden dadurch deutlich, dass man für solche Schenkungen den Begriff dominium Sancti Petri verwendete. Man konnte sich im Mittelalter kein Überleben vorstellen, ohne einem Hause bzw. einer Ehrgemeinschaft anzugehören. Sofort setzte das Papsttum all seine Kräfte zur Verteidigung dieser Rechte ein, in dem Wissen, dass dadurch der ganzen Kirche ein Beispiel der Befreiung von dem Säkularen gegeben wird. Cluny wird – seinerseits unbewusst – ein Symbol für den gesamten Kampf des Römischen Stuhls, der dieses Kloster zum Modell erhob: Die Bedeutung von Cluny wurde im Lauf seiner Geschichte durch unzählige päpstliche Urkunden bestätigt.56 Theoretisch hatte Cluny als Garanten seiner Freiheit den westfränkischen König und den Papst. „An sich gehörte es [Cluny] zwar nach wie vor zum Westfränkischen Reich, aber seit der Mitte des 10. Jahrhunderts hatte der König in jener südöstlichen Grenzlandschaft des regnum Francorum überhaupt nichts mehr zu sagen, und so sollte es über zwei Jahrhunderte bleiben“57. Ebenso war auch die reale päpstliche Autorität nicht wesentlich größer, zum einen aufgrund der großen Entfernung und zum zweiten, weil das Papsttum noch nicht die Macht besaß, die es ein paar Jahrzehnte später erwerben sollte.58 Es war selbst unter dem Joch des deutschen Kaisertums, was einer der Gründe sein sollte, warum das Kloster seine Privilegien behalten und vermehren konnte. Bekannt ist allerdings, dass Cluny nicht der erste Exemtionsfall im abendländischen Mönchswesen war; z. B. bekam auch das Kloster Fulda 751 ein Freiheitsprivileg von Papst Zacharias (†752), welches den Konvent direkt Rom unterstellte und jede bischöfliche Jurisdiktion ausschloss. Fulda konnte aber diese Privilegien nicht bewahren und geriet bald unter den königlichen „Schutz“.59 Eine andere Ursache des cluniacensischen Aufstiegs ist natürlich die Kontinuität60 der „Politik“ seiner Äbte. Für die uns interessierende Periode sind so lange Amtszeiten 54

„Et obsecro vos, o sancti apostoli et gloriosi principes terrae, Petre et Paule, et te, pontifex pontificum apostolice sedis […], sitisque tutores ac defensores iam dicti loci Clugnaci et servorum Dei ibi commanencium (sic!)“ (CARTULARIUM, I, 112, S. 127). 55 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 5. 56 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 16. 57 H. Hoffmann 1963, S. 170. 58 Vgl. H. Hoffmann 1963, S. 170f. 59 Vgl. H. Goetting 1935, S. 108ff und 125. 60 Vgl. F. Heer 1949, S. 391.

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wie die der cluniacensischen Äbte wohl ungewöhnlich. In einer Zeitspanne von 200 Jahren, wie die cluniacensische Blütezeit dauerte, folgen auf dem Abtstuhl nur 6 (!) Äbte: 1. Berno (910-27), 2. Odo (927-42), 3. Aymard (942-54), 4. Majolus (954-94), 5. Odilo (994-1048) und 6. Hugo (10491109). Die klösterliche libertas hat in der Geschichte des frühmittelalterlichen Christentums eine lange Tradition. Bereits in der spätantiken Zeit gab es Konvente, die nicht den Bischöfen unterstanden, obwohl das im Rahmen der Orthodoxie normalerweise als Abweichung gegolten hätte. Das vierte Ökumenische Konzil von Calcedon (451) ordnet in seinem vierten Kanon die Klöster in den Diözesanverband ein61, indem die Lehr- und Weihegewalt dem Bischof übertragen wird: „Monachos vel, qui sunt per singulas civitates, et provincias, subiectus esse Episcopo, et quietem diligere, et operam dare jejunio, et orationi, in quibus loci anunciaverus observantes [...].” 62

Zugleich werden andere abendländische Konzile versuchen, diesen bischöflichen Vorrang zu brechen, indem jede Verwaltungsangelegenheit des Klosters außerhalb der Entscheidungsmacht des Bischofs bleibt. In zwei Konzilen von Karthago (525 bzw. 536) wird den Klöstern ausdrücklich eine libertas plurissima zugesprochen.63 Die Ordinationsgewalt des Bischofs besteht aber weiterhin. Das Verhältnis zu den Bischöfen ist in dem Fall der libertas ein entscheidender Punkt. Die Forschung unterscheidet im abendländischen Frühmittelalter zwischen zwei „Traditionen“ der Exemtion: zwischen einem Merowinger-Typ64 – wobei die Klöster ein Ausdruck der bischöflichen Selbstständigkeit waren – und einem Karolinger-Typ65 – bei dem der König die Klöster unter seine unmittelbare Herrschaft bringt. In dem ersten Fall versuchten die Bischöfe, die Klöster der päpstlichen und königlichen Einflusssphäre zu entziehen, indem sie Privilegien ausstellten66, während bei dem zweiten Typ der König selbst die Klöster in seinen Schutz (defensio) 61

Vgl. E. Ewig 1968, S. 52f und B. Szabó-Bechstein 1985, S. 29. MANSI, VI, S. 1226 C. 63 Vgl. E. Ewig 1968, S. 53f und B. Szabó-Bechstein 1985, S. 30. 64 Vgl. B. Szabó-Bechstein 1985, S. 32ff. 65 Vgl. B. Szabó-Bechstein 1985, S. 39ff. 66 Vgl. E. Ewig 1968, S. 55ff. So wird das Kloster unter die mundeburdio und defensio der Diözesankirche gestellt und, während die Abtwahl die Sache der Brüder bleibt, wird ihre Entscheidung von der bischöflichen Zustimmung abhängig gemacht. In diesen von Bischöfen ausgestellten Privilegien ist die Weihegewalt des episcopus eine Selbstverständlichkeit, deshalb wird sie nicht weiter erwähnt. Diese Privilegien haben die starke Bindung der Mönche an die Regel zum Ziel, und das Urteil darüber wird mit der Lehrgewalt des Bischofs in Zusammenhang gebracht, womit er sich ein nennenswertes Kontrollinstrument verschafft (vgl. E. Ewig 1965, S. 65). 62

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nimmt: Er garantiert ihnen die Integrität ihres Eigentums und ihre Ruhe vor fremder Einmischung. Schutz heißt im Mittelalter aber, wie wir schon bei der kriegerischen Mentalität gesehen haben, Herrschaft und Entscheidungsmacht.67 Unter den Karolingern entstehen die ersten Wurzeln des späteren Reichskirchensystems68 im Deutschen Reich.69 Das fränkische Königtum unter Karl dem Großen beabsichtigte durch die Eingliederung der Klöster in die vorstaatlichen Strukturen keine Verbesserung des asketischen Daseins, sondern verfolgte rein politische und wirtschaftliche Zwecke, da die Klöster als Bildungs- und Wirtschaftszentren fungieren sollten. Demnach wurde ihr eigentlicher Sinn verfälscht. Unter Kaiser Ludwig dem Frommen (†840) kommt es zum ersten Reformversuch, als der Mönch Benedikt von Aniane (†821) die Aufmerksamkeit stärker auf die Einhaltung der benediktinischen Regel in den Klöstern lenkte, indem er die asketischbeschauliche Seite des Mönchtums hervorhob. Benedikt von Aniane versuchte aber niemals, die kaiserliche Herrschaft über die Klöster zu erschüttern, sondern freute sich sogar über diese „Sicherung“ seiner Bemühungen.70 Mit dem Einfluss der Gedanken von Benedikt von Aniane hat man auch die cluniacensische Freiheit zu erklären versucht, indem man ein direktes Abhängigkeitsverhältnis postulierte: Das Kloster Cluny sei nichts anderes als eine Fortsetzung der Ideale Benedikts von Aniane.71 Zwischen dem cluniacensischen und dem anianschen Mönchswesen ist aber klar zu unterscheiden: Wie schon am Anfang dieses Kapitels gezeigt wurde, stand Cluny unter keiner Herrschaft, nicht einmal der eines Bischofs. Die mittelalterliche Exemtion bedeutet sinngemäß die Herauslösung eines Klosters aus der Bischofsgewalt und seine direkte Unterstellung unter die päpstliche Autorität.72 Nichts davon ist aber bei Benedikt von Aniane zu finden. Wenn es ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Reformzentren gegeben haben sollte, erstreckte er sich nur allgemein auf die Reformidee an sich: Sowohl Cluny als auch Benedikt von Aniane erstrebten eine qualitative Verbesserung des abendländischen Mönchtums, das sich auf Gebet und Meditation konzentrieren sollte.73 Cluny hatte ein tieferes Verständnis der Reform, da man begriff, dass keine ernsthafte mönchische Existenz ohne 67

Vgl. B. Szabó-Bechstein 1985, S. 42. Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 45. 69 Vgl. T. Mayer 1950, S. 25ff. 70 Vgl. B. Szabó-Bechstein 1985, S. 43. 71 Vgl. A. Brackmann 1928/29, S. 37 und W. Goez 2000, S. 18. 72 Vgl. H. Goetting 1935, S. 105. 73 Der erste Abt Clunys, Berno, bemüht sich um die „Reinheit der Sitten“ und eine authentische monastische Existenz. Von einem direkten historischen Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Reformzentren kann aber nicht die Rede sein (vgl. H. Goetting 1935, S. 13). 68

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die Freiheit vom Weltlichen möglich ist. Ein wichtiger Punkt des cluniacensischen Freiheitsprogramms – wie auch in dem allgemeinen Prozess der klösterlichen Exemtion in Europa – war das Verfahren bei der Abtwahl. Obwohl in der Gründungsurkunde Clunys festgesetzt wurde, dass der Abt von den Brüdern „demokratisch“ gewählt werden solle, bleibt das nur Theorie. Faktisch zeigt sich die Autorität des Abtes darin, dass er seinen Nachfolger auswählt und ihn durchsetzt. Jeder der ersten fünf Äbte wurde von seinem Vorgänger zur Führung der Abtei bestimmt, sodass von dem ursprünglichen Recht der Brüder auf freie Wahl nur ein Akklamationsrecht blieb74, indem man mittels Beifall der Entscheidung des alten Abtes zustimmte. Die vergrößerte Macht des Abtes sollte die Gewalt des Bischofs ersetzen. Durch die Exemtion war der cluniacensische Konvent – wie gesagt – jeder Form der diözesanen Verfügbarkeit entzogen. Der Bischof verlor sämtliche Rechte, die eigentlich seit der Frühkirche an sein Amt gebunden waren: Er durfte nur auf Einladung des Abtes die Priester des Klosters ordinieren oder die Messe zelebrieren.75 In der klassischen Ekklesiologie der ökumenischen Konzile ist der Bischof derjenige, der die Jurisdiktion über alle Kirchen, Klöster und Kapellen innerhalb seiner Diözese hatte, und die geweihten Priester sollten lediglich Vertreter des Bischofs sein. In Cluny verhielt es sich ganz anders. Bereits 998 stellte Papst Gregor V. (†999) eine Urkunde aus, die die bischöflichen Rechte im Kloster und dessen Dependancen aufhob; 26 Jahre später schrieb Papst Johannes XIX. (†1032), dass kein Geistlicher auf das Kloster Cluny und seine Mönche jeden Ranges mit einem Bann belegen kann: „[N]eque ipsius loci fratres ubicunque positi, cuiuscunque episcopi maledictionis vel excommunicationis vinculo teneantur astricti.“76

Es ist eindeutig, dass der Papst mit der Verleihung dieser außerordentlichen Privilegien nichts anderes beabsichtigte, als die Autonomie-Bestrebungen der Bischöfe zu unterbinden77. Die mittelalterliche Diözese war mehr als erlaubt in die weltlichen Machtspiele verwickelt und in verschiedene, miteinander kämpfende Lager gespalten. Nach der Auffassung der römischen Kurie sollte die allgemeine kirchliche Emanzipation von den säkularen Einflüssen mit einer starken Zentralisierung verbunden sein. Eine eigene 74

Vgl. W. Schultze 1883, S. 67. Beispiel: „Nullus ibidem [von den Bischöfen] contra voluntatem monachorum prelatum eis post tuum dicessum ordinare presumat, sed habeant liberam facultatem, sine cuiuslibet principis consultu quemcunque secundum regulam sancti Benedicti voluerint, sibi ordinare“; das schreibt Papst Johannes XI. (†935) im März 931 dem Abt Odo von Cluny (siehe H. Zimmermann 1984, 64, S. 107). 76 Zitiert von H. E. J. Cowdrey 1970, S. 34. 77 Vgl. K. Hallinger 1971, S. 54 und H. E. J. Cowdrey 1970, S. 18f. 75

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Ehre, die sich auf die Qualität, ein Vertreter Gottes zu sein, stützte, konnte keine „fremden“ Handlungen dulden, wie z. B. das kriegerische Verhalten der Bischöfe. Die Bischöfe ihrerseits verstanden, was der Römische Stuhl beabsichtigte, und versuchten ihre Freiheit und Jurisdiktion zu verteidigen, indem sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Exemtion missachteten und „ihre“ Klöster wieder in ihre Gewalt brachten. So geschah dies auch bei Cluny, als Bischof Drogo von Mâcon (†1072) einmal die Abwesenheit des Abtes Hugo ausnutzte und ein Konzil intra muros des Klosters organisieren wollte. Die Mönche konnten sich jedoch der bewaffneten Gefolgschaft des Bischofs erfolgreich widersetzen.78 Trotz dieser inneren Spannungen zwischen den Diözesanbischöfen, dem Papsttum und dem Mönchtum blieb die kirchliche Einheit insoweit gewahrt, als diese Widerstände der Bischöfe nicht dauerhaft waren und die Konflikte mit Cluny friedlich und in Freundschaft endeten. Es gab keine schismatischen Ereignisse.79 Nachdem wir die äußeren Bedingungen der cluniacensischen Klosterreform betrachtet haben, ist es nun Zeit, uns der Bedeutung dieser Reform an sich80 zuzuwenden und zu verdeutlichen, warum sie so großen Erfolg hatte. Es lag mit Sicherheit nicht daran, dass Cluny ein reiches Kloster war – es gab in Europa zu dieser Zeit zahlreiche wohlhabende Klostergemeinschaften –, und ebenso wenig an der Exemtion – auch andere Klöster standen unter der direkten Beschirmung des Papstes. Es muss wohl an dem „neuen“ christlichen Leben gelegen haben, das vorgeschlagen wurde, an der vertieften Spiritualität und ebenso an dem ermutigten Glauben81: „Therefore, the origins of the vigorous impulse which marked the first diffusion of Cluniac monasticism must lie in a new spirit, capable of infusing fresh vitality into the tradition. Such was the spirit which Berno and his successors were able to bring to monastic life, interpreting in the light of their tradition the signs and spiritual needs of contemporary society“82. Die Reformideale waren ehrlich und authentisch.83 Bei den einfachen Menschen musste Cluny eine neue Hoffnung geweckt haben und das Kloster bekam, weil das Denken der Menschen sozial geprägt und strukturiert war, die Aura großer sozialer Gerechtigkeit: Viele Menschen siedelten nun auf cluniacensischen Domänen, denn ihre Rechte und ihr Ansehen waren als servi Sancti Petri größer als

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Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 47. Vgl. H. Diener 1959, S. 326ff. 80 K. Hallinger weist zu Recht auf die Komplexität des Reformprozesses hin, indem er mehrere „Komponenten“ der Reform identifiziert: 1. Askese, 2. Verbindung mit der Tradition, 3. Verfassungskampf und schließlich 4. die sozial-ökonomische Komponente (vgl. K. Hallinger 1957, S. 12f). 81 Vgl. K. Hallinger 1971, S. 33. 82 R. Morghen 1971, S. 14. 83 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 102ff. 79

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unter den laikalen Herren; sie konnten nun stärker auf Ordnung und Sicherheit hoffen. Der Geist Clunys aber war den weltlichen Problemen nicht in dem Maße zugewandt84, wie man ihm angesichts des Vorwurfs der exzessiven „Weltoffenheit“85 zutrauen möchte. Die soziale oder politische Haltung Clunys ist neutral, sonst wären nicht unter demselben Dach so viele gegensätzliche Handlungen zu beobachten: In Cluny betete man für alle Toten, unabhängig von der sozialen Herkunft; nur mäßig setzten sich die Cluniacenser für den Gottesfrieden ein86; man pflegte gute Beziehungen zum benachbarten kriegerischen Adel: Es gibt nicht wenige Beispiele dafür, dass Cluny verschiedene milites belehnte und sich einen Kreis von Vasallen schuf. Eben wegen dieser starken Weltabgewandtheit und -indifferenz Clunys kam es später zu einer gewissen Auseinandersetzung mit dem Papst Gregor VII. Hildebrand, der, obwohl er selbst ein sehr treuer Freund des Konvents war, nicht verstehen konnte, warum die Cluniacenser ihren beträchtlichen Einfluss nicht für den Kampf der Kirche in (!) der Welt einsetzten.87 Cluny überzeugte die Mächtigen der Welt, ihre Aufmerksamkeit auf die ewigen Dinge zu konzentrieren, die Welt zu verlassen und in das Kloster einzutreten, was Hildebrands Plänen widersprach.88 Gregor VII. erstrebte die politische Herrschaft über die Fürsten der Christenheit und brauchte folglich keine in cellula eingesperrten und passiven Menschen, sondern Leute, die in der Öffentlichkeit für die Reform kämpften.

84 „Alles in allem hätte das burgundische Mönchtum überhaupt kein universelles Programm vertreten. Cluny bedeute vielmehr letzten Endes nur eine lokale Angelegenheit, eine innerlich gerichtete, religiös-asketische Strömung mit irenischen und sozialen Neigungen – und allerdings weltweiten Verbindungen“ (K. Hallinger 1950, I, S. 2). 85 Vgl. H. Hoffmann 1963, S. 170. 86 Vgl. O. Ringholz 1885, S. 88. In ihren Schriften setzen sich die Äbte von Cluny zwar stark für den Frieden ein, sie sind aber nicht oft bei den Friedenskonzilen anzutreffen, die eigentlich eine bischöfliche Angelegenheit waren (vgl. B. Töpfer 1957, S. 12; J. Fechter 1966, S. 94ff). Hiermit soll die Theorie dementiert werden, nach der der Gottesfrieden selbst seinen „exklusiven“ Urheber (vgl. H. Prutz 1915, S. 7, der ohne Bedenken den Gottesfrieden als „cluniazensischen Gottesfrieden“ bezeichnet) in Cluny und in der Klosterreform gehabt habe (vgl. L. Huberti 1892, S. 51; J. Gernhuber 1952, S. 24 und G. Duby 1977b, S. 123). Dass die angeblichen Pax-Konzile von Anse 994 und 1025, auf denen auch Abt Odo von Cluny anwesend war, als Beleg für den großen Anteil Clunys an der Gottesfriedensbewegung angeführt werden, ist die Folge eines Missverständnisses: Die zwei Konzile sind keine Friedenssynoden, sondern Konzile, auf denen die Privilegien des Klosters erneuert und bestätigt wurden (vgl. H. Hoffmann 1964, S. 46f; H.-W. Goetz 1983, S. 232 und D. Barthélemy 2002, S. 100). 87 Vgl. K. Hallinger 1954, S. 419 und 421. 88 Vgl. W. Goez 1978, S. 204 und U.-R. Blumenthal 2001, S. 285.

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Das Ziel Clunys war ein verbessertes geistliches Leben, zuerst der Mönche und dann möglichst aller Christen. Die benediktinische Regel, die von den Cluniacensern wiederbelebt wurde, bewies erneute Anziehungskraft, sodass andere Konvente oder ihre Stifter den Wunsch äußerten, ihre neu gegründeten Klöster Cluny zum Reformieren anzuvertrauen. Dies erregte jedoch Neid89 seitens des Episkopats: Das bekannte mittelalterliche Gedicht Carmen ad Robertum regem Francorum, in dem der Bischof Adalbero von Laon am Anfang des 11. Jahrhunderts die Macht der Cluniacenser kritisierte und Abt Odilo als „König der Mönche“ verunglimpfte90, ist dafür ein gutes Beispiel. Die Päpste mussten stets von Neuem diese reformbereiten Kreise unterstützen. Im März 931 schreibt Papst Johannes XI. dem Abt Odilo einen Brief, in dem es heißt: „In dem Fall aber, dass es einem anderen Kloster aus freiem Willen seiner Brüder richtig erscheint, sich auf die [Cluniacenser-] Regel zu beziehen, und Ihr [Abt Odilo] damit einverstanden sein werdet, es zur Verbesserung seiner Ordnung anzunehmen, habt Ihr dann ab jetzt unsere Bewilligung.“91

Bei ihrem Versuch der kirchlichen Zentralisierung tendierten die Päpste zu einem einheitlichen universellen System92, das als Rahmen eines neuen Ethos fungieren sollte: Darum unterstützten sie es gerne, wenn andere Klöster oder sogar Bistümer Bereitschaft zeigten, dem Vorbild der burgundischen Abtei zu folgen. Von der marxistischen Forschung93 wurde Cluny Falschheit vorgeworfen. Die gesamte Reformtätigkeit des Klosters sei nur Fassade gewesen, eine Täuschung im mittelalterlichen Klassenkampf. Nach dem marxistischen 89

Vgl. L. M. Smith 1920, S. 155ff. Vgl. L. M. Smith 1920, S. 168. 91 „Si autem coenobium aliquod ex voluntate illorum, ad quorum dispositionem pertinere videtur, in sua ditione ad meliorandum suscipere consenseritis, nostram licentiam ex hoc habeatis“ (H. Zimmermann 1984, 64, S. 108). 92 Vgl. W. Schultze 1883, S. 22. 93 Von dem DDR-Historiker Ernst Werner vertreten (siehe seine Dissertation: E. Werner 1953). Obwohl seine Monographie viele wichtige Ansätze in die Forschung über Cluny hinbringt, kann man ihr Einseitigkeit und eine gewisse Intoleranz gegenüber anderen Meinungen vorwerfen. K. Hallinger und alle Gegner Werners werden von ihm mit dem missbilligenden Ausdruck „bürgerliche Historiographie“ abgestempelt (S. 2 und S. 33) und ihren wissenschaftlichen Argumenten stellt er Zitate von Marx (S. 4 und S. 3334), Lenin (S. 4 und S. 34) und Stalin (S. 3 und S. 563) entgegen (vgl. auch K. Hallinger 1957, S. 31). Gemäß E. Werner stabilisieren Cluny und die Klosterreform mittelalterliche Produktionsverhältnisse im Dienste des Adels (S. 9 und S. 33). Er beruft sich bei seiner Analyse der cluniacensischen Reform lediglich auf die Herkunft der Äbte: Sie zeige „den Klassenstandpunkt dieser Reformer. So ist es nicht verwunderlich, dass das cluniacensische Mönchtum die Führung der konservativen Interessen im Klassenkampf [!] des 11. Jahrhunderts übernahm“ (S. 34). Eine stark kritische Haltung gegenüber den Theorien Werners siehe bei K. Hallinger 1957, S. 19ff. 90

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Klischee war die gesamte innige liturgische Frömmigkeit in Cluny (die Verehrung des Kreuzes, der Mutter Gottes bzw. das Totengedächtnis usw.) nur ein Mittel in der Hand der Feudalherren, um die untere Klasse zu kontrollieren und ihre Emanzipation zu verhindern.94 Die Frömmigkeit Clunys und das Gebet für die Verstorbenen hatte m. E. aber tiefere Wurzeln und ist nicht aus finanziellen Gründen heraus entstanden. Für das Ethos der Vertretungsehre spielt die große Glaubwürdigkeit der Totenmesse von Cluny eine entscheidende Rolle. Man begreift, dass die Menschen an die Kraft der Mönche glaubten, dass diese als Vertreter Christi – der den Tod besiegte – sie schützen können, und dies nicht nur in diesem Leben, sondern auch im Jenseits. Überraschenderweise waren die asketischen „Äußerlichkeiten“ in Cluny ziemlich mangelhaft. Das Fasten, das Wachen usw. waren nicht so streng wie in anderen Klöstern. Das empörte den Papstlegaten Petrus Damiani, der einmal zu Besuch in Cluny war und sah, was die Brüder dort verspeisten. Auf seinen Vorwurf, dass dieses Verhalten nur zur Völlerei führen kann, antwortete Abt Hugo: Wenn die Mönche nicht gut essen, können sie nicht gut beten, und wenn sie zu lang wachen, schlafen sie bei den Gottesdiensten ein. All dies und die herrliche Messe, die man in Cluny oft zu sehen bekam und welche dem Ruf der Cluniacenser im gesamten Abendland entsprach, überzeugte den päpstlichen Legaten, dass das richtige Preisen des Herrn wichtiger sei als Formalitäten.95 Tatsache ist, dass Cluny ohnehin der Ort der mönchischen Ruhe und Weltabgewandtheit war und man sich dort darum bemühte, den Mönchen optimale Bedingungen für ein verbessertes klösterliches Leben zu bieten. Cluny übernimmt und verinnerlicht das Verständnis des Mönchtums, das durch den von Gregor dem Großen stammenden Begriff extra mundum definiert wurde.96 Das viel erwähnte politische Engagement der Cluniacenser97 diente eigentlich Verteidigungszwecken, indem man auf verschiedene Weise versuchte, die Angriffe der feudalen Herren und der Bischöfe auf die Güter und die Ruhe der Mönche zu stoppen.98 Es entsteht eine paradoxe Situation wie im Falle des Römischen Reiches, das ausschließlich aufgrund der Verteidigungskriege der Römer entstand. Dagegen möchten manche Forscher unbedingt eine weltzugewandte Existenz der Cluniacenser nachweisen. Für sie waren die Äbte von Cluny tief in die politischen Spiele und Intrigen Europas verwickelt, mit dem offensicht94

Vgl. K. Hallinger 1971, S. 31 und J. Fechter 1966, S. 21. Vgl. W. Goez 2000, S. 24-25 und L. M. Smith 1920, S. 66. Vgl. K. Hallinger 1954, S. 423. 97 Vgl. K. Hallinger 1954, S. 419f. 98 „Es ist überhaupt nicht zu verkennen, dass die Mönche in der Regel geschickte Ökonomen waren und darin sowie in der Ausbreitung ihrer Reformideen und in der Bildung und Festigung ihrer klösterlichen Kongregationen viel Weltgewandtheit und Zielbewusstsein entwickelten“ (G. Tellenbach 1936, S. 102). 95 96

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lichen Ziel, Macht, Einfluss und Herrschaft zu akkumulieren. In diesem Sinne versucht man, eine Verbindung zwischen den politischen Aktivitäten Clunys und den späteren Ereignissen des Investiturstreites zu beweisen.99 Die gregorianische Reform hat aber nur indirekt mit den cluniacensischen Idealen zu tun, und ich habe bereits weiter oben gezeigt, dass die Weltabgewandtheit der Cluniacenser dem politisch aktiven Papst Gregor VII. sehr missfiel. Die Behauptung einer großen politischen Bedeutung Clunys wurde leider im nationalistischen Kampf zwischen Deutschland und Frankreich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts instrumentalisiert. Manche deutschen Forscher – wie z. B. Albert Brackmann oder Gerhard Kallen – machten Cluny zum Sündenbock für den Untergang des deutschen Kaisertums.100 Brackmann verliert sich in hochspekulativen Behauptungen und meint, dass sich die Äbte von Cluny an den Zielen der päpstlichen Politik orientierten und systematisch (!) mehrere Generationen lang intrigiert haben, um den Niedergang des Deutschen Reichs herbeizuführen: 1. Odo hielt sich lange Zeit auf dem kaiserlichen Hof auf, um Schenkungen im Reich zu bekommen.101 2. Odilo wandte sich gegen den Kaiser und benutzte diese Schenkungen zu subversiven Zwecken.102 3. Hugo agierte im Investiturstreit tückisch und hinterhältig unter dem Schleier einer Neutralitätspolitik: Obwohl Pate von Kaiser Heinrich IV., war er zudem enger Berater des Papstes Stephan IX. (†1058), des Bruders von Gottfried (dem Bärtigen) von Lothringen (†1069), dem Feind des Kaisers.103 Nach der Beschreibung Brackmanns reduziert sich die Bedeutung des cluniacensischen Verbandes darauf, dass er in Europa politisch destabilisierend wirkte, wobei sich die Äbte Clunys in einem ständigen Konflikt mit jedermann befanden: mit den französischen Bischöfen104, mit dem Kaisertum105, sogar mit dem Papsttum.106 Die nationalistischen Hintergründe der 99

Vgl. A. Brackmann 1928, S. 37. „[U]nter der Regierung Heinrichs IV. [drohte] dem deutschen Königtum eine neue Gefahr (!) von außen [...], mit der er bisher nicht hatte rechnen müssen. Sie erwuchs aus dem Bündnis der kirchlichen Reformbewegung mit dem politischen Papsttum. Und hier begegnet uns der eigentliche Gegner, der die Harmonie der sächsisch-salischen Epoche sprengte: Es ist der Aufstand der in Deutschland in der sächsisch-salischen Zeit überwundenen Romania [!] gegen die bis dahin siegreiche Germania [!]“ (G. Kallen 1937, S. 17). Es ist befremdlich, dass man ein mittelalterliches historisches Geschehen mithilfe von nationalistischen Polarisierungen beschreibt, die für das ausgehende 19. Jahrhundert typisch sind. 101 Vgl. A. Brackmann 1928/29, S. 38. 102 Vgl. A. Brackmann 1928/29, S. 39. 103 Vgl. A. Brackmann 1928/29, S. 41ff. 104 Vgl. A. Brackmann 1928/29, S. 39. 105 Vgl. A. Brackmann 1928/29, S. 41ff und passim. 106 Vgl. A. Brackmann 1928/29, S. 45. 100

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Philippika Brackmanns werden in dem pathetischen Schlussabschnitt seines Aufsatzes deutlich: „Darin liegt die große Tragik unserer Kaisergeschichte [!], dass Cluni nach der Überzeugung der tiefer religiös empfindlichen Menschen des 10. und 11. Jahrhunderts das höhere Recht auf seiner Seite hatte. In diesen Zusammenhängen [Clunys Tücke] und nicht in der Italienpolitik an sich liegt der tiefste Grund für den Untergang des deutschen Kaisertums und für den damit verbundenen Niedergang der europäischen Vormachtstellung Deutschlands [!] in der zweiten Hälfte des Mittelalters“107. Für die Bestimmung der Rolle Clunys bei der Konturierung des Vertretungsethos benötigt man einen tieferen Einblick in die Beziehungen des Klosters zu den anderen sozialen Kategorien des Hochmittelalters, dem kriegerischen Stand und dem einfachen Volk. Cluny bewahrte in seiner Verfassung wichtige feudale Strukturen, die eigentlich jedem traditionellen patriarchalischen Männerverband eigen sind. Cluny existierte in einer auf Ehre- und Treueverhältnissen beruhenden feudalen Welt und es war auch nicht seine Absicht, die weltliche Ordnung zu revolutionieren. Es fungierte wie ein feudales Haus und verfolgte kein „antifeudales“108 fortschrittliches Programm, da dies eben nicht dem Sinn des cluniacensischen Daseins entsprach. Im Kampf für Unabhängigkeit und Ruhe agierten Cluny und sein Klosterverband nach außen hin als eine hierarchisch strukturierte Einheit, mit dem allmächtigen Abt in ihrem Zentrum109. In einer Welt, in der nur die Mächtigen frei sein konnten und in der nur die Häupter verschiedener Ehrgemeinschaften mächtig waren, stellte sich Cluny nach außen als ein Ehrenkollektiv dar: In dem Autoritätsvakuum, das im westfränkischen Königreich des 10.-11. Jahrhunderts herrschte110, musste sich Cluny selbst schützen.111 Zudem war Cluny an der Verchristlichung der Adeligen beteiligt und sah sich deswegen gezwungen, Beziehungen zu ihnen zu pflegen112: In einer seiner Schriften äußerte sich z. B. Abt Odo nicht grund107

A. Brackmann 1928/29, S. 47. Die „antifeudale“ Haltung Clunys ist die Theorie Hallingers. Er meint, Cluny habe gegen die feudalen Strukturen seiner Zeit agiert (vgl. J. Fechter 1966, S. 20). Cluny agierte, wie schon so oft gesagt, im Interesse der eigenen Ruhe und konnte in einem feudalen Milieu nicht anders als mit feudalen Mitteln handeln: So war nun die Mentalität und man dachte in diesem Rahmen. Man kann von einer traditionellen Gesellschaft kein großes fortschrittliches Bewusstsein nach den heutigen Kriterien erwarten (vgl. J. Fechter 1966, S. 20 und T. Schieffer 1952, S. 36). Später mildert Hallinger seine Ansichten ab und spricht nicht mehr von dem angeblichen „Antifeudalismus“ Clunys (vgl. K. Hallinger 1957). 109 Vgl. E. Werner 1953, S. 13. 110 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 19f. 111 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 11. 112 Vgl. T. Schieffer 1952, S. 37. 108

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sätzlich gegen die Mächtigen, da Gott selbst ein Mächtiger ist.113 Cluny war also „ein Kind seiner Zeit“.114 In dieser Hinsicht kumulierte der cluniacensische Abt ein riesiges symbolisches Ehrkapital in seinen Händen: Er galt als Verwalter des Klosters beati Petri et Pauli und der ihm ad meliorandum anvertrauten Priorate115 mit der gesamten Gewalt über die Brüder; außerdem band er durch wiederholte Belehnungen eine große Schar Vasallen an den Konvent.116 Der Abt regierte über ein ganzes Netz von wirtschaftlichen, geistlichen und verwandtschaftlichen Verbindungen. Es ist kein Zufall, dass die Namen der Äbte in den zeitgenössischen Quellen oft von dem Titel dominus bzw. domnus begleitet wurden117; die Mönche wurden ebenfalls seniores genannt.118 Nach den Maßstäben der feudalen Ehre erfüllte die Stellung des cluniacensischen Abtes alle Kriterien einer hohen Ehrenhaftigkeit: 1. große Autorität als Vertreter der Apostel, 2. viele Vasallen bzw. servi und 3. viele Güter.119 Dass es sich um eine große familia nach traditioneller Auffassung handelt, erkennen wir an der Entstehung langer Abtdynastien zur Bewahrung dieses beachtlichen symbolischen Schatzes. Obwohl die Gründungsurkunde die demokratische Wahl des Abtes festlegte, wurden die Äbte in der Realität von ihren Vorgängern ernannt.120 Dafür möchte ich als Beispiel die Wahl des Abtes Odo heranziehen. 926 schreibt Abt Berno – der Vorgänger von Odo – sein Testament121, nachdem ihm klar wurde, dass der Tag seines Todes (†927) immer näher kommt (supremum diem jam vicinari agnoscens). Er schrieb: „Ich, Berno [...] habe mich im Voraus gekümmert und Wido [...], meinen Verwandten, sowie Odo, den ebenso hochgeschätzten – mit der Zustimmung der Brüder – ausgewählt, mir nachzufolgen und nach meinem Tode mit Gottes großzügiger Hilfe an meiner Stelle zu wirken.“122

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Vgl. C. Voormann 1951, S. 22. Vgl. H. Hoffmann 1963, S. 166. 115 Über die Verbreitung der cluniacensischen Reform in Europa siehe: H. E. J. Cowdrey 1970, S. 191; N. Hunt 1971, S. 2ff und K. Hallinger 1971, S. 29. 116 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 74. Dies war „eine willkommene Gelegenheit, den kriegerischen Adel an sich zu binden, seine Besitzlust wenigstens teilweise zu befriedigen, um dann mit der Zeit umso stärker auf ihn einwirken zu können“ (J. Fechter 1966, S. 25). 117 Vgl. K. Hallinger 1950, II, S. 228. 118 Vgl. J. Fechter 1966, S. 44 und S. 66. 119 Vgl. R. Morghen 1971, S. 15. 120 Vgl. K. Hallinger 1971, S. 50. 121 Ediert in PL 133, S. 853 C ff. 122 „[E]go Berno [...] Widonem meum [...] cosanguineum, atque Odonem adaeque dilectum, una cum fratrum consensu mihi succedere delegavi, ac post meum decessum, vice mea, Deo largiente, fungi praecepi“ (PL 133, S. 854 C). 114

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Von dem ursprünglich festgelegten demokratischen Verfahren blieb letzten Endes nichts mehr übrig.123 Schon früh lassen sich in Cluny „absolutistische“ Tendenzen beobachten.124 Extreme Fälle gibt es zu Beginn des 12. Jahrhunderts, als das Kloster tatsächlich seine ursprüngliche neutrale Haltung aufgab und sich zu einer elitären Anstalt wandelte; der Anteil adeliger Mönche war größer als der der Mönche bäuerlicher Herkunft und war daher privilegiert. Dadurch kam es im 12. Jahrhundert zu etlichen „Aufständen“ in den von Cluny abhängigen Prioraten, und es gab Stimmen125, die die unmäßige Macht und den Zentralismus Clunys kritisierten: Man konnte bei den neuen Äbten eine gewisse Megalomanie spüren, da ihnen der Titel dominus abbas nicht mehr genügte und sie sich nun mit der Benennung archiabbas126 schmückten. Zusammenfassend können wir feststellen, „dass Cluny keinen revolutionären Sprengkörper innerhalb der feudalen Gesellschaft bildete, sondern sich zumindest in seinen äußeren Formen ganz der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur anpasste und einfügte“127. Ein gewisser Absolutismus ist Cluny aber nicht abzusprechen; dieser steht paradoxerweise mit dem reformierten Mönchtum in Verbindung. Die Mönche suchten Ruhe, Meditation und Stille. Alltagsprobleme und materielle Sorgen würden hierbei stören. Der Abt übernimmt daher, um die Ruhe der Brüder zu gewährleisten, die Verwaltungsangelegenheiten des Klosters, sodass sich die Mönche ihrem eigentlichen Ziel widmen können. Dadurch war der Abt die Verbindung zur Außenwelt.128 Diese autoritative Regierungsweise der Äbte in Cluny und in dessen Prioraten darf aber nicht mit einem Eigenkirchensystem129 gleichgesetzt werden. Die Klosterreform an sich bedeutete vor allem Einheit und Freiheit, Ideale, die mit dem feudalen Eigenkirchenwesen unvereinbar waren. Dort gab es in den unter vielerlei Herrschaften zerstreuten Kirchen und Klöstern weder eine Freiheit vom laikalen Einfluss noch konnte von einer kirchlichen Einheit die Rede sein. Die Kirche an sich 123

Vgl. D. W. Poeck 1998, Anm. 989, S. 213 und H. Hoffmann 1963, S. 171. Siehe den angeblichen Streit zwischen dem reformatorischen Lager Odos (für das Reform, Disziplin, Ordnung und uneingeschränkte Autorität zum Amt des Abtes gehören) und der Partei Widos, die die Rechte der Brüder verteidigte (vgl. W. Schultze 1883, S. 62). 125 Z. B. der französische Eremit Bernhard von Tiron (†1117), der Gründer eines benediktinischen Klosters im Wald von Tiron bei Chartres. Hinsichtlich der an Cluny im 12.13. Jahrhundert geübten Kritik ist auch ein Gedicht zu erwähnen, das ein Streitgespräch zwischen einem Cluniacenser und einem Zisterzienser wiedergibt, wobei dieser dem Mönch aus Cluny Arroganz, aristokratischen Dünkel und Reichtum vorwarf (siehe dafür W. Williams 1930). 126 Vgl. zu allem K. Hallinger 1950, II, S. 235. 127 J. Fechter 1966, S. 44. 128 Vgl. E. Sackur 1965, S. 51ff. 129 Vgl. H.-E. Mager 1959, S. 214ff, insbesondere S. 215-216. 124

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hatte aber die Tendenz, zu einem Verband Christi zu werden, weshalb sie sich diesem und nicht den auf Erden Mächtigen unterordnen wollte. Die Äbte übten ihre Herrschaft in dem Wissen aus, dass sie im Namen Gottes agieren und dass die von ihnen verwalteten Konvente nicht ihr Eigentum sind. Eine andere Auffassung vertraten demgegenüber die Feudalherren im Eigenkirchensystem. Es besteht also kein Grund zu behaupten, dass Cluny „ein Erwecker und Träger der ersten europäischen Adelsbewegung“130 war. Wie Hartmut Hoffmann anmerkt, sind einige Tatsachen zu nennen, die dazu beitragen können, das Verhältnis Clunys zum Feudalsystem präziser zu bestimmen: 1. Solche Abteien seien nicht vom Vater an den Sohn weitervererbt worden, wie es im Feudalsystem üblich war; 2. Solche Abteien hatten keine Militärpflicht wie jeder Vasall; und 3. Die Novizen der Priorate wurden direkt vom cluniacensischen Abt in den Konvent aufgenommen und nicht von ihrem Prior. Ein solches Verhältnis sei im Feudalismus nicht zu finden, wo ein „Aftervasall“ stets einem Vasallen seinen Eid ablegte und nur indirekt an den Oberherrn gebunden war.131 In der mich beschäftigenden Periode (10.11. Jahrhundert132) lassen sich keine starken Diskrepanzen zwischen den adligen und nicht-adligen Konversen in Cluny feststellen. Angesichts der cluniacensischen „Demokratie“ ist es interessant zu wissen, dass die Konversen niederer Abstammung ohne Probleme Vollmönche werden konnten.133 Es ist wahr, dass keiner der ersten cluniacensischen Äbte bescheidener Herkunft war134, und das zeigt uns, dass die Offenheit Clunys ihre Grenzen hatte. Unabhängig davon, ob die Bauern Mönche waren oder nur auf den Ländereien des Klosters lebten135, besaßen sie viel mehr Rechte als sonst136, dazu auch ein höheres Ansehen. „Owing to the powerful influence of the monks all sorts of people from the lower classes – shepherds, deckhands and the likewere being, advanced to offices and honours […]. In its early years Cluny’s deep sympathy with the aristocratic mentality was not nearly as complete as is generally assumed“137. Die Verbindung der Brüder zum Volk zeigt sich auch in der Beteiligung der klösterlichen Dienerschaft an 130

F. Heer 1949, S. 391 und J. Fechter 1966, S. 19. Vgl. zu allem H. Hoffmann 1963, S. 167f. 132 Genauer betrachtet 927-1050 (vgl. J. Fechter 1966, S. 14). 133 Vgl. J. Fechter 1966, passim. 134 Berno stammte aus einem burgundischen Grafengeschlecht, Odo war mit dem Graf Fulko von Anjou verwandt, Majolus und Odilo stammten aus vornehmen Familien aus Avignon bzw. Auvergne und Hugo gehörte schließlich zu einer Herrenfamilie aus Semuren-Brionnais (ca. 100km von Mâcon) (vgl. T. Struve 2002, S. 1). 135 Vgl. R. Morghen 1971, S. 15. 136 Sie konnten als servi sogar eigene servi haben, was sonst nicht vorstellbar war (vgl. J. Fechter 1966, S. 49). 137 K. Hallinger 1971, S. 49. 131

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der Liturgie oder an den Prozessionen, bei denen sie Fahnen trugen. Die klösterliche Dienerschaft hatte in früheren Jahren sogar Zugang zum claustrum.138 Anfangs stammten die Mönche Clunys aus der Grafschaft von Mâcon. Im 10. Jahrhundert und am Anfang des 11. Jahrhunderts war dies ein Gebiet mit vielen freien Bauern; man kann also davon ausgehen, dass viele der Konversen dieser Schicht angehörten. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts verschwand aber diese soziale Schicht (wegen der neuen Sitte der Realteilung des Erbes, die zur Zersplitterung der Grundstücke der kleinen Bauern führte), eine Tatsache, die sich auch auf das Kloster Cluny auswirkte: Der Anteil der Adligen unter den Brüdern stieg rasch an.139 Das geschah aber nicht aufgrund irgendeiner Diskriminierung des dritten Standes, sondern aufgrund von sozialen Veränderungen. Eine zentrale Stellung in der cluniacensischen Spiritualität besaß die Armenpflege und die Almosen. Auch wenn die Zahl der Brüder bescheidener Abkunft zu sinken begann, blieb bei den Cluniacensern das Gefühl der Solidarität mit den Armen und Schutzlosen stark und allgegenwärtig: Der Abt Odilo machte die Verteilung von Almosen zu einem liturgischen Akt, und als solchen fügte er sie in die cluniacensische Messe ein.140 Die Fürsorge für den unterdrückten dritten Stand bildet einen wesentlichen Aspekt der Vertretungsehre, da sich die Mönche bzw. die Kirche im Allgemeinen als Vertreter Gottes für die ganze Schöpfung verantwortlich fühlen und es als ihre Pflicht betrachten, den Kosmos gut und harmonisch im Namen seines Schöpfers zu verwalten. In diesem Sinne entwickelt die Vertretungsehre der Geistlichen ein besonderes „Verantwortungsgefühl“141 gegenüber den minores, das sich in der mönchischen Sozialfürsorge zeigt. Dieser Überblick über die Stellung Clunys zu den anderen Ständen sollte demonstrieren, inwiefern die cluniacensische Bewegung zur Herausbildung der Vertretungsehre beiträgt und in welchem Verhältnis diese neue Ehrauffassung zu den anderen Ehranschauungen der mittelalterlichen Stände steht. Wir können bisher festhalten, dass die cluniacensische Bewegung unter den ersten sechs Äbten keine großen Ambitionen zum Handeln in der Welt hatte. Die verkündeten mönchischen Ideale eines wahren Glaubens und reinen Lebens in Enthaltsamkeit, Disziplin und Gebet waren der eigentliche Zweck der Cluniacenser. Dafür schufen sie all diejenigen Voraussetzungen, die im beginnenden Hochmittelalter für eine solche Existenz nötig waren: 138

Vgl. J. Fechter 1966, S. 17. Vgl. J. Fechter 1966, S. 4f und 14. 140 Vgl. J. Fechter 1966, S. 75ff. 141 J. Fechter 1966, S. 71. Ein bevorzugtes Thema der Schriften Odos von Cluny ist in diesem Zusammenhang die Kritik an Gewalttaten der potentiores gegenüber den Schwachen (vgl. D. W. Poeck 1998, S. 216). 139

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Freiheit von Einmischungen, materiellen Besitz für das Leben im Kloster, Ansehen und Respekt seitens der Nachbarn und der Mächte der Zeit. Das Beispiel Clunys wurde von der päpstlichen Propaganda in Beschlag genommen, indem man das Bild der Kirche und ihres Status eng mit der erstrangigen Stellung des Klosters verknüpfte. Bereits gut bekannt ist die Freundschaft des Reformpapstes Gregor VII. Hildebrand mit dem Abt Hugo von Cluny sowie seine besonders engen Beziehungen zu dem Kloster insbesondere in den Jahren vor seinem Pontifikat, als er Erzdiakon war.142 Durch seine besondere Sorge für die Integrität der Rechte Clunys und sein promptes Eingreifen143 bei den Vorstößen etlicher neidischer Gegner (feudaler Nachbarn, beleidigter Bischöfe144) konnte das Papsttum gleich zwei Ziele erreichen: Es konnte seine Fähigkeit zeigen, sowohl in gesamtkirchlichen als auch in lokalkirchlichen Angelegenheiten gleichermaßen autoritär regieren zu können.145 Der gute Ruf Clunys wurde eng mit dem Emanzipationskampf der Kirche verbunden. Cluny gewann dasselbe Ansehen wie der Römische Stuhl, da beide – und mit ihnen die gesamte Kirche – Vertreter des Heiligen Petrus bzw. Gottes waren. Es ist bekannt, dass im Mittelalter diejenigen Pilger, die ihre Fahrt nach Rom aus verschiedenen Gründen nicht unternehmen bzw. vollenden konnten, die Möglichkeit bekamen, eine kürzere Wallfahrt – mit derselben Wirkung – nach Cluny zu machen.146 In dem Vertretungsethos gibt es theoretisch keine Rivalität, sondern alle gehören zur selben Kategorie der servi Christi, die zum Ruhme der Kirche und ihres himmlischen Hauptes handeln. Wie ich bereits in den ersten beiden Teilen deutlich gemacht habe, ist hingegen für die kriegerische Ehre die Rivalität zwischen verschiedenen Ehrgemeinschaften charakteristisch. Cluny kann aber keinesfalls als Vorgänger der gregorianischen Reform betrachtet werden. Wie schon mehrfach angedeutet, bestand die raison d’être des Klosters nicht in weltlichem Engagement, weder in einem politischen noch einem sozialen. Natürlich ließen sich wegen der langen 142

Vgl. H. E. J. Cowdrey 1971, S. 148f. Ich möchte nur knapp auf die unfruchtbare Polemik eingehen, ob Hildebrand Bruder in Cluny war oder nicht. Manche Forscher bringen seine Reformideen und -bereitschaft als Papst mit einer angeblichen Zugehörigkeit zum cluniacensischen Konvent in Verbindung (vgl. W. Schultze 1883, S. 20). Das ist aber eine schwer zu beweisende Behauptung (vgl. H. E. J. Cowdrey 1971, S. 148, eine „langwierige Kontroverse“ – J. Wollasch 1968, S. 209), die auch nichts Neues beiträgt. Die häufigen Besuche dieses Papstes im Konvent sind bekannt, und auch sein Respekt gegenüber den cluniacensischen Äbten. Das ist in den Quellen gut nachweisbar und es genügt, manche von seinen späteren Handlungen aufzuklären. 143 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1971, S. 18ff. 144 Vgl. O. Ringholz 1885, S. 21ff. 145 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 75. 146 Vgl. N. Hunt 1971, S. 8.

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Existenz dieses coenobium und auch wegen seiner Stellung Kontakte mit dem Alltagsgeschehen der Zeit nicht vermeiden und die Sozialfürsorge war, wie gesagt, ein wichtiger Bestandteil der cluniacensischen Frömmigkeit. Das berechtigt aber nicht dazu, eine enge Verwicklung des Klosters in die politischen Auseinandersetzungen des beginnenden Hochmittelalters zu behaupten147; die gregorianische Reform und der damit verbundene Investiturstreit sind ein Beispiel dafür, Cluny jedoch nicht. Eine Mitwirkung Clunys in dem gesamten Prozess der kirchlichen Reform und der Herausbildung eines geistlichen Ethos ist uns bereits klar geworden. Verbindungslinien zwischen Cluny und dem Gregorianismus sind allerdings „keine Gleichheitszeichen“148. Dass Cluny selbst wie alle anderen reformerischen Elemente der Zeit an der Herausbildung eines gemeinsamen Ethos (implizit der Ehre) der Kirche beteiligt war, kann man daran erkennen, dass es dieselben Werte propagierte. Die kirchliche Kastenbildung legte großen Wert auf das priesterliche Zölibat, da das kirchliche Eigentum dann nicht an die Nachkommen der Priester und Bischöfe verteilt werden konnte.149 Folglich kämpften die Cluniacenser ebenso wie Papst Gregor VII. gegen diese Gewohnheit, obwohl die Priesterehe vom ersten Ökumenischen Konzil von Nizäa (325) erlaubt wurde.150 Wie das Ende des vorigen Subkapitels zeigt, setzt sich die reformierte Kirche, da sie sich als Verwalter der göttlichen Harmonie der Schöpfung versteht, für die benachteiligten Schichten ein: Abt Odo kritisiert die Unterdrückung der pauperes und weiß, dass ohne sie und ihren auf dem Acker vergossenen Schweiß kein Wohlstand für die Mächtigen möglich wäre (Nam ut hoc inferam, sudoribus pauperum praeparatur, unde potentiores saginantur151). Dazu kam ein starkes Bemühen um die Durchsetzung der Reform in den Reihen des niederen Priestertums, das schon „verweltlicht“152 war und dessen Zugehörigkeit zu dem geistlichen Stand nicht mehr erkennbar war. 147

Vgl. J. Wollasch 1968, S. 209 und S. 219ff und L. M. Smith 1920, S. v. K. Hallinger 1954, S. 443. 149 Vgl. E. Werner 1953, S. 20. 150 Die Heirat der Bischöfe wurde schon von der Frühkirche verboten. Priester und Diakone aber durften heiraten. Der 6. Kanono der apostolischen Dekrete verbot ihnen, ihre Frauen zu verlassen, was in Nizäa bestätigt wurde. Das Zölibat wurde im Abendland erstmals 306 auf einer Synode in Elvira (Spanien) eingeführt (vgl. I. Rămureanu 1992, S. 128). Dies wurde allerdings nicht akzeptiert. Erst im 11. Jahrhundert versuchte die Kirche, diese Regel durchzusetzen. 151 „Und um klar zu machen, aus dem Schweiß der Armen kommt das, wodurch die Mächtigen ernährt werden“ (das lateinische Zitat bei C. Voormann 1951, Anm. 22, S. 16). 152 E. Werner 1953, S. 17f. Sein Zitat aus PL 142 kann nicht als Beleg dafür dienen, dass die Gläubigen an den sündigen Klerus Anstoß nahmen, da es darin nicht um eine 148

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Die Kastenbildung der Kirche ging, wie bereits gesagt, Hand in Hand mit der begrifflichen Abtrennung des „Kirchlich-Geistlichen“ von dem „Laikalen“. Diese Begrifflichkeit bildet die Basis einer Veränderung des Verhältnisses zwischen dem geistlichen Stand und den anderen Ständen. Der Absonderungsprozess von den Laien zeigt sich z. B. in Cluny darin, dass am Ende des 11. Jahrhunderts die klösterlichen Diener – oder „weltlichen Diener“, wie sie von den Mönchen genannt wurden –, welche bestimmte Aufgaben in der inneren Verwaltung des Konvents erfüllten, langsam durch Konversen ersetzt wurden.153 Dies war keine Diskriminierung der niedrigen Schichten, sondern eine Folge der Verwandlung der Kirche in eine Kaste. Somit entwickelt sich ein verstärktes Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem geistlichen Stand, zu dem den Laien – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft – kein Zugang gewährt wurde. Ich möchte zum Schluss ein Beispiel anführen, das die Tatsache der kirchlichen Kastenbildung, die mit einer Abgrenzung von den anderen Ständen bzw. dem Adel verbunden war, beweisen soll. Auf der Synode von Anse (1025) trafen sich mehrere westfränkische Bischöfe, die – gegen die päpstliche Bestimmung – entschieden, dass die kirchliche Exemtion Clunys, obwohl von unzähligen Papstprivilegien bestätigt, unkanonisch sei. Der Abt Odilo, welcher zu dieser Zeit amtierte, stehe unter der direkten Jurisdiktion des Bischofs von Mâcon, und alle anderen Privilegien seien unkanonisch, da sie dem Konzil von Chalcedon widersprächen.154 Es handelt sich also um eine Auflehnung der Diözesanbischöfe gegen den Papst. Als es auf derselben Synode um die Angriffe der Feudalherren auf die Besitzungen Clunys ging, bestätigten und erneuerten dieselben Bischöfe die päpstlichen Urkunden, die die Laiengewalt ablehnten und anfochten. Dies macht deutlich, dass die Kirche des beginnenden 11. Jahrhunderts als Einheit agierte: Trotz der inneren Spannungen stellte sie sich in der Gesellschaft einheitlich dar und verfolgte dieselben Interessen.155 Das hoch spirituelle Leben in Cluny trug sehr viel zum Wachstum der Kirche und ihrer Glaubwürdigkeit in den Augen der Zeitgenossen bei. Die Menschen meinten, die Reinheit der cluniacensischen Sitten stehe im Zusammenhang mit der Qualität der Gottes-Vertretung. Und das war eine bedeutende Machtquelle! Als materielles Zeichen der Ehre der Vertretung besaß Cluny zahlreiche Reliquien, die die Heiligkeit des Ortes vermehrten und ihm ein großes Ansehen in den Augen der Menschen verliehen.156 Die allgemeine Meinung des Volkes geht, sondern um eine burgundische Häresie (vgl. PL 142, S. 819-820 C). 153 Vgl. J. Fechter 1966, S. 17. 154 Vgl. L. M. Smith 1920, S. 158f. 155 J. Fechter 1966, S. 96f. 156 Vgl. N. Hunt 1971, S. 6.

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Äbte selbst waren Wundertäter: Die von seinem Schüler Jotsald geschriebene Biografie des Abtes Odo ist nichts anderes als eine ausführliche Aufzählung und Beschreibung seiner miracula.157 Die Menschen vertrauten gerne ihr Leben und ihre Güter158, sowie ihre Ehre dem Kloster an159, in dem Wissen, dass alles bei den Mönchen gut „aufgehoben“ sein werde. Das machte die Abtei reich, wobei der Reichtum an sich nicht das Ziel, sondern ein Zeichen für die Interzessionskraft der Mönche war160, d. h., für ihre Ehre als Vermittler des Heiles. Im Früh- und Hochmittelalter galten arme Klöster als schlechte Klöster; solchen vertraute man ungern die eigene Erlösung an. Die Mächtigen der Welt wünschten in schweren Momenten ihres Lebens ebenfalls den geistlichen Beistand der cluniacensischen Äbte: Auf seinem Sterbebett wünschte sich Papst Stephan IX. unbedingt, dass Abt Hugo von Cluny – aufgrund seiner Kräfte im Kampf mit dem Versucher – in den letzten Stunden an seinem Bett bleibe.161 Ohne ein nennenswertes Kapital an Glaubwürdigkeit wäre derselbe Abt Hugo im Investiturstreit in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts nicht als Vermittler zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. gerufen worden.162 Die Äbte von Cluny setzten sich in ihren Schriften für den Vorrang der priesterlichen Klasse in der Welt und vor den Menschen ein. In den Collationes-Büchern 1 und 2163 des Abtes Odo tauchen zahlreiche Beispiele für den bedingungslosen Gehorsam auf, der von den Laien gegenüber den Vertretern Christi gefordert wurde. Da die Geistlichen die Bindegewalt besitzen, sind sie Richter der Welt und man muss sich ihren Entscheidungen unterwerfen, auch wenn diese nicht fehlerfrei sind: „Wenn also die Lebensweise dieser Richter zu Recht getadelt wird, müssen die Menschen sie gehorsam ertragen, auch wenn sie ihnen missfallen.“164 157 Es überrascht die Verfassungsmethode der Schrift: Sie ist statistisch aufgebaut und die in ihr berichteten Wundertaten Odos sind nach Kategorien eingeteilt: 1. Wunder um Natur und Gegenstände, 2. Visionen; 3. Wunder zur Wiedergutmachung eines Unglücks (vgl. J. Staub 1999, S. 20ff). 158 Vgl. W. Goez 2000, S. 21. 159 E. Werner zitiert (Anm. 105, S. 23) aus der 2685. Kartei (siehe auch CARTULARIUM, III): „[I]n tali conventu, ut quamdiu vixero habeant me monachi cum honore in suam tutelam, et provideant diligenter cuncta mihi necessaria in victu et vestitu“ (In dem so angesehenen Kloster, dass die Mönche mich, solange ich leben werde, mit Ehre in ihrer Obhut haben und mich sorgfältig mit allem versorgen, was ich an Nahrung und Kleidung benötige). 160 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 69f. 161 Vgl. J. Wollasch 1968, S. 212. 162 Vgl. J. Wollasch 1968, S. 209. 163 Vgl. dazu L. M. Smith 1920, S. 71ff. 164 „Si ergo magistrorum vita iure reprehenditur, oportet ut eos subditi sufferant, etiam cum displicent“ (Bibliotheca Cluniacensis, S. 173, XX).

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Den Priestern zu widerstehen gilt als Todsünde165, den Klerikern zu gehorchen bedeutet hingegen Gott zu gehorchen. Dazu meint Abt Odilo: „Wer also der Römischen Kirche widerspricht, was tut er anderes, als sich von ihren Gliedern abzutrennen, so dass er den Feinden Christi angehört?“166

In diesem Kapitel habe ich somit versucht, die ersten Etappen in der Gestaltung des Vertretungsethos im 10. und 11. Jahrhundert darzustellen, ein Prozess, der eng mit der Idee der kirchlichen Freiheit verbunden ist. Cluny an sich ist nicht das einzige Beispiel einer monastischen Reform167; die lothringische Gorze-Reform sollte nicht vergessen werden, doch sie hat ein anderes Profil.168 Was diese Reformrichtungen unterscheidet, ist ihr Exemtions-Status. Cluny genießt ein zu seiner Zeit ungewohntes Maß an libertas, während Gorze nur ein Teil des deutschen Reichskirchensystems war169 und unter der Herrschaft des Kaisers stand. Gorze bietet dem Papsttum nicht den benötigten Präzedenzfall kirchlicher Freiheit170, auf den es sich später in seinem Kampf gegen säkulare Einmischung berufen konnte. Cluny verfolgte seinerseits keine weltlichen Ambitionen, sondern war stets mit der Verteidigung seiner Ruhe und Weltabgewandtheit beschäftigt. Dieser Kampf hat natürlich soziale und politische Folgen, indem sich die Äbte für Frieden, Gerechtigkeit und den Vorrang der Kirche einsetzen. All das ist aber lediglich ein Nebenaspekt. Die direkte soziale und politische Wirksamkeit Clunys ist daher zu relativieren und realistisch zu betrachten.171 Es sollte Papst Gregor VII. Hildebrand gelingen, das spezielle monastische Freiheitsbeispiel Clunys zu einem generellen Prinzip172 der Befreiung der Kirche vom Weltlichen zu erheben und im Namen der Vertretungsehre die Weltherrschaft zu beanspruchen. Der Papst unterminierte das privilegierte Verhältnis des deutschen Kaisers zu den Reichsklöstern durch die Billigung derjenigen Klöster, welche die absolute Freiheit – nach dem Beispiel Clunys – beanspruchten, wie etwa das Kloster Hirsau. Absolute Freiheit aber bedeutete das Ende der kaiserlichen Herr-

165

Vgl. J. Fechter 1966, S. 52ff. „Qui ergo romanae ecclesiae contradicit, quid alliud quam se a membris eius subtrahit, ut fiat portio adversariorum Christi?“ (zitiert bei A. Brackmann 1928/29, S. 39). 167 Vgl. K. Hallinger 1950, I, S. 34; 597ff und passim bzw. E. Werner 1953, S. 1. 168 Vgl. N. Hunt 1971, S. 4f. 169 Vgl. B. Szabó-Bechstein 1985, S. 94; H. Goetting 1935, S. 138 und W. Goez 2000, S. 29. 170 Vgl. G. Ladner 1968, S. 61 und W. Schwarz 1923, S. 257f. 171 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 1. 172 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 189f. 166

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schaft über die Reichsklöster (oder zumindest ihre Infragestellung), also die Zerstörung der Machtbasis des deutschen Kaisertums.173

Der Mann auf dem Stuhle Petri Das Ziel des Papstes Gregor VII. Hildebrand war der politische Vorrang der Kirche im Hochmittelalter. Der Investiturstreit war faktisch nur die Zuspitzung eines kirchlichen Individualisierungs- und Kastenbildungsprozesses. Andererseits gibt es dennoch keinen Grund, das Problem der Investitur in der Geschichte der Kirche zu relativieren174 und seine eigenen Konturen bei der Einordnung in die allgemeine Kastenbildung der Kirche zu verwischen: Der Investiturstreit ist ein Phänomen an sich, das zwar als Beispiel für die gesamte Entwicklung dienen kann, aber auch seine geschichtliche „Persönlichkeit“ bewahrt, indem es spezifische Nuancen und Widersprüche aufweist. Seine Eigenart gegenüber den anderen kirchlichen Ereignissen des 11. Jahrhunderts, wie z. B. Cluny, kann bereits mit einem begrifflichen Vergleich verdeutlicht werden. Die cluniacensische Erneuerungsbewegung stand unter dem Motto ad meliorandum, während man bei Gregor eine vielfältige Palette von Termini nachweisen kann: renovare, innovare, reparare, restaurare, reformare, reficere, restituere, corrigere usw.175 Die Begrifflichkeit Gregors ist weit umfangreicher und präziser. Dabei fällt auf, dass die Mehrheit der Termini mit dem Präfix re- gebildet ist, das zugleich die Bedeutung der deutschen Präfixe wieder- und um- hat. Gregor VII. bemühte sich folglich darum, seine Anliegen mit der „wahren Tradition“176 der Kirchenväter zu begründen und die zeitgenössische Kirche nach dem Vorbild der Alten Kirche von schlechten Gewohnheiten zu reinigen.177 Während im alten Christentum die Reform auf die Erneuerung des menschlichen Individuums zentriert war und entsprechend verstanden wurde, wurde sie im 11. Jahrhundert als eine kollektive Reform der ge-

173

Vgl. H. Mitteis 1968, S. 199. Vgl. W. Schwarz 1923, S. 256f. 175 Vgl. dazu B. Ladner 1956, Anm. 2, S. 221. 176 Gregor entwickelte seine Theorien aufgrund seiner tiefen Religiosität, deshalb erhebt er – nach guter mittelalterlicher Manier – keinen Anspruch auf Originalität, sondern betont den Einklang des Eigenen mit der „wahren Tradition“ der Väter. In diesem Zusammenhang spricht man von einer „typischen Handlungsweise“ Gregors, die darin besteht, dass er seine eigenen religiösen Erfahrungen mit der Tradition der Kirche zu verknüpfen sucht (vgl. A. Nitschke 1956, S. 215). Man kann aber auch nicht übersehen, dass der Mensch (!) Gregor entschied, welche die „wahre Tradition“ ist. 177 Vgl. G. Ladner 1956, S. 235. 174

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samten kirchlichen Institution, des ekklesialen Körpers des Heilands, aufgefasst.178 Zur Zeit Gregors war die Vormundschaft der weltlichen Macht – des Königs bzw. Kaisers179 – über die kirchlichen Angelegenheiten längst vorbei; diese begann bereits mit Konstantin dem Großen und blieb dann im gesamten Frühmittelalter bestehen, wobei die Kirche von dem Kaiser geleitet wurde und der Papst nur einen formellen Ehrenplatz als oberster Reichsbischof180 erhielt, ohne Anspruch auf große politische Bedeutung. Jene Form der auf den König zentrierten Theokratie, welche vorchristlichen Ursprungs war, fasste in dem christlichen Ethos Fuß, indem der König durch die aus der israelitischen Tradition übernommene Salbung konsekriert wurde. So wollte der Herrscher zeigen, dass in seiner Person die beiden Qualitäten des rex und des sacerdos kumuliert sind.181 Die sich emanzipierende Kirche des 11. Jahrhunderts erwies sich als immer weniger bereit, durch solche Theorien begründete Einmischungen zu tolerieren. Sogar die „untypischen“ Handlungen – z. B. das Führen von Kriegen – ihrer verweltlichten Bischöfe wurden drastisch unterbunden.182 Vor allem störte die Einordnung der Bischöfe in die Reihen der kaiserlichen Vasallen; obwohl die Gleichsetzung der Investitur durch Ring und Stab mit der Vasallenhuldigung vermieden wurde, ist trotzdem eindeutig, dass die Stellung eines Reichsbischofs mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede zum Status eines Vasallen des deutschen Herrschers aufwies: Er musste Treue

178

Vgl. G. Tellenbach 1985, S. 100. Ich möchte hier schon deutlich machen, dass am deutschen Hof ein wichtiger Unterschied zwischen König und Kaiser bestand. Nicht jeder deutsche König war unbedingt auch Kaiser (vgl. H.-G. Krause 1960, S. 86f). Heinrich IV. z. B. war lange Zeit nur König, obgleich sein Vater, Heinrich III., Kaiser war. In dieser Zeit wurde der Kaisertitel nicht vererbt. Ich werde aber abwechselnd die Bezeichnung „königlich“ bzw. „kaiserlich“ verwenden, wenn es allgemein um die weltliche Herrschaft geht. In den konkreten historischen Fällen werde ich die Unterscheidung konsequent berücksichtigen. Die abendländischen Imperien Karls des Großen und Ottos I. sind allerdings „feudale Königreiche“ (D. Barthélemy 2002, S. 508), die außer den propagandistischen Ansprüchen nur geringe Ähnlichkeiten mit dem strukturellen Aufbau des römischen bzw. des byzantinischen Imperiums aufweisen (vgl. D. Barthelemy 2002, S. 508f). 180 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 185. 181 Vgl. J. Funkenstein 1968, S. 12f. 182 Es mag sein, dass ursprünglich das kriegerische Verhalten der Bischöfe, die auch als lokale Herren agierten, von der Völkerwanderung und der Notwendigkeit der Verteidigung verursacht wurde (vgl. H. Mitteis 1968, S. 186). Das ist aber eine Entdeckung der heutigen wissenschaftlichen Historiographie. Im 11. Jahrhundert fand man für solche Handlungen keine Rechtfertigung mehr und hielt sie für mit der priesterlichen Würde unvereinbar. 179

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bzw. Gefolgschaft schwören und sein Amt galt als Lehen, d. h., er war zu dona annualia und zum servitium regis verpflichtet.183 Das Bewusstsein, dass die Kirche eine überweltliche Institution ist und damit unter keiner Herrschaft außer unter jener Christi steht, hatten sich die Geistlichen schon immer bewahrt, genauso wie es unter ihnen stets Tendenzen gab, die weltliche Vormundschaft der Könige in Frage zu stellen und zu relativieren. Bereits Felix II. (†492)184 war der Meinung, dass der Kaiser ein Sohn der Kirche sei und nicht einer ihrer Bischöfe, so wie es Konstantin der Große behauptete.185 Papst Gelasius schrieb am Ende des 5. Jahrhunderts dem Kaiser Anastasius, dass die geistliche Gewalt (auctoritas sacrata pontificum) der weltlichen (regalis potestas) übergeordnet sei und sie zur Rechenschaft ziehen könne.186 In demselben Geist schrieb auch Papst Nikolaus I. (†867) dem Basileus Michael I. von Byzanz, dass die säkulare Macht ausschließlich Christus gehöre und nur durch seine Gunst den Kaisern zuteilwerde: Deshalb sollten sie ihren Missbrauch vermeiden.187 Texte, die den Primat der Kirche bzw. des römischen Bischofs belegen sollten, wurden in den pseudo-isidorischen Fälschungen gesammelt, die neben den authentischen Kanones auch viele eigene Erfindungen zugunsten des Papsttums enthielten.188 Zum Prozess der päpstlichen Emanzipation von der weltlichen Herrschaft haben auch die Reformbestrebungen der folgenden Päpste beigetragen: 1. Leo IX. (†1054), der den berühmten Reformaktivisten Humbert von Moyenmoutier (†1061) – den späteren Humbert von Silva Candida189 – nach Rom brachte und für das Prinzip der electio canonica190 kämpfte; 2. Stephan IX. († 1058), der eine Gruppe von Reformern um sich versammelte und welcher der erste ohne kaiserliche Zustimmung – Heinrich IV. war minderjährig – gewählte Papst war191; 3. Papst Nikolaus II. (†1061) mit seinem sogenannten Papstwahl183 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 47. Es kam nicht selten vor, dass die Reichsbischöfe in den königlichen Kriegen wie jeder andere Vasall zu den Waffen griffen (siehe dazu L. Auer, 1971, S. 406f und passim). 184 Es amtierte zwischen 355-358 noch ein Felix II., aber dieser war ein Gegenpapst, weswegen ihn die meisten Papstlisten als unrechtmäßig einstufen. 185 Vgl. J. Funkenstein 1968, S. 11f. 186 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 185; U.-R. Blumenthal 1982, S. 99f und H. Fuhrmann 1985, S. 100f. Funkenstein zeigt, dass diese beiden Begriffe auctoritas und potestas aus dem römischen Recht stammen, wo die auctoritas dem Senat zugeordnet und die potestas den Magistraten (vgl. J. Funkenstein 1968, S. 14). 187 Vgl. C. Voormann 1951, S. 21 und H. Mitteis 1968, S. 185. 188 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 166. 189 Als Monographie über sein Leben sowie über seine „Libri tres adversus simoniacos“ siehe H. Halfmann 1882. 190 Ein Bischof darf gemäß der Kanones nur von dem Klerus und dem Volke der jeweiligen Diözese gewählt werden (vgl. J. Laudage 1993, S. 8 und 21ff). 191 Vgl. J. Laudage 1993, S. 23.

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dekret192 aus dem Jahre 1059, das dem deutschen Kaiser die Entscheidung bei der Papstwahl entzog.193 Bei meinem Versuch, die Entstehung eines eigenen Ehrenethos der mittelalterlichen Kirche zu analysieren, möchte ich den Kampf von regnum und sacerdotium nicht vollständig untersuchen, sondern bei den Ereignissen des Pontifikats Gregors VII. verweilen. Dazu bewegen mich folgende Gründe: Einerseits ist es leichter, die Charakteristika eines Phänomens zu erkennen, wenn es offen zu Tage tritt, beispielsweise im Rahmen eines Konflikts. Daher ist in unserem Kontext das Deutsche Reich als Träger des mittelalterlichen abendländischen Imperiums zur Zeit Gregor Hildebrands und Heinrichs IV. ein wichtiger Brennpunkt. Streit um die Investitur – d. h. per anulum et baculum194 – gab es auch in England oder Frankreich, „aber in viel schwächerer Form und ohne Erschütterung des ganzen Staatsgefüges“195. Andererseits meine ich, dass für meinen Diskurs über die Vertretungsehre nur die durch „spontanes“ Handeln geprägte Zeitspanne bis Canossa relevant ist, da danach beide Lager politisch routiniert agieren. Nur in den Jahren der Regierung Gregors VII. wird das Investiturproblem von einer verborgenen Unzufriedenheit zu einer „virulenten Streitfrage“196. Es ist mir zugleich bewusst, dass etliche Forscher entweder die Bezeichnung „Investiturstreit“ für die Ereignisse vor 1078 ablehnen oder die kirchengeschichtliche Relevanz der Investiturfrage in se (als Wendepunkt) anzweifeln. Es wurde zu Recht gesagt, dass das Investiturverbot zum ersten Mal in den Quellen des Jahres 1078 auftauche und die ganze Investiturproblematik nur ein Nebenaspekt eines tief greifenden Prozesses sei.197 Damit riskiert man jedoch, die spezifischen Geschehnisse während des Pontifikats Gregors VII. aus den Augen zu verlieren. Die königliche In192

Diesem äußerst umstrittenen Dokument werde ich mich noch ausführlicher zuwenden. 193 Vgl. W. Hartmann 1993, S. 11 und 17f. 194 Im ausgehenden 9. Jahrhundert wird der Brauch erwähnt, dass der König einem neuen Bischof den Hirtenstab überreicht. Im Deutschen Reich wurde diese Zeremonie seit Otto I. praktiziert und auch als Investitur (mhdt. gewere) bezeichnet. Zur Überreichung des Stabes kam zur Zeit Heinrichs III. die Übergabe eines Ringes hinzu (vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 47 und G. Althoff 2003, S. 90). Der Stab ist ein Herrschaftssymbol von derselben Art wie der Speer. 195 H. Mitteis 1968, S. 190. 196 J. Laudage 1993, S. 34. 197 Vgl. C. Erdmann 1936, S. 491. Diese radikalen Ansichten werden von der neueren Forschung nuanciert und relativiert, indem man zeigt, dass einerseits das erste ausdrückliche Investiturverbot im Jahre 1077 auftaucht und dass andererseits das gesamte Pontifikat Gregors VII. von prinzipiellem Bedenken gegen die laikale Einmischung in kirchliche Angelegenheiten geprägt war (vgl. J. Englberger 1996, S. 252). Damit kommt man zu Recht zu der Interpretation, dass die späte offizielle Erwähnung des Investiturverbots nur formell ist, nicht Essenz der Sache.

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vestitur als Problem der kirchlichen Emanzipation wird zudem durch die Aussage relativiert, dass die Vergabe von Bischofsstühlen durch Heinrich IV. Papst Gregor nicht unbedingt störte. Nicht einverstanden sei er mit dem Eingreifen des Königs in die Italienpolitik gewesen, das die päpstlichen Pläne durchkreuzte.198 Dadurch siedelt man die gesamte Problematik des Investiturstreites auf einer strikt politischen Ebene an, und entfernt sich von der prinzipiellen Auseinandersetzung, die – wie wir sehen werden – den eigentlichen Keim des Konfliktes bildete. Die Theorie kann ebenfalls nicht überzeugend zeigen, dass Gregor nur an der italienischen Halbinsel interessiert war. Hätte er im Falle eines Erfolges seine Anstrengungen nur auf die italienischen Bistümer beschränkt oder hätte er auch über die Alpen hinaus geblickt? Bevor ich mich den Problemen der kirchlichen Emanzipation und Reform zuwende, also der Investiturfrage, der Simonie und Priesterehe, möchte ich kurz die für meine Untersuchung hilfreichsten Quellen über den ungewöhnlichen Pontifikat Gregor VII. vorstellen. Die wichtigste ist zweifellos das Register Gregors VII.199, jene Sammlung seiner Briefe, die glücklicherweise im vatikanischen Archiv gefunden werden konnte und in der alle mein Thema betreffenden epistulae bewahrt wurden. Diese Sammlung ist eine unersetzbare Quelle, die dem Forscher den Zugang nicht nur zu den politischen Ereignissen der Zeit Gregors ermöglicht, sondern auch das Verständnis der Mentalitäten des 11. Jahrhunderts sowie der erstaunlichen Kämpfernatur Gregors fördert. Die Wichtigkeit dieser Briefsammlung ergibt sich auch aus ihrer Einmaligkeit: Obwohl dies untypisch für eine so große Persönlichkeit war, wurde in der Zeit Gregors oder kurz danach keine Vita geschrieben. Die älteste seiner Vitae wurde circa fünfzig Jahre nach seinem Tod verfasst.200 Das Register beinhaltet ungefähr 400 Briefe, von denen ca. 54 anscheinend persönlich diktiert, manchmal auch selbst geschrieben wurden. 201 In diesem Register ist für mich der sogenannte Dictatus Papae (DP)202 aus dem Jahre 1075 von größtem Interesse, dasjenige kurze Protokoll, das so viele Auseinandersetzungen in der Forschung verursacht hat, dass es von jemandem als „Sphinx“ bezeichnet wurde. Man konnte sich bis heute nicht darüber einigen, ob wir es mit einem Brief, der nie abgeschickt wurde, oder mit einem Index einer verschwundenen Kanonessammlung oder mit einer capitulatio ebenfalls einer Kanonessammlung, die geschrieben werden 198

Vgl. H. Beumann 1973, S. 59. Siehe die Ausgabe von E. Caspar 1920-1923. 200 Vgl. W. Goez 1978, S. 194. 201 Siehe die statistischen Daten bei W. Goez 1978, S. 198ff. 202 Ich habe die Ausgabe und die Übersetzung von F.-J. Schmale 1978, S. 148-151 benutzt. Siehe eine Analyse bei J. Laudage 1993, S. 96ff. 199

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sollte, oder schließlich mit einer Liste von Unionsbedingungen für die Ostkirche203 zu tun haben.204 Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um ein Gedankenprotokoll handelt.205 Die Schrift ist tatsächlich unsystematisch und wahrscheinlich auch in Eile geschrieben worden, da z. B. der Punkt III fast wörtlich im Punkt XXV wiederholt wird.206 Dies spricht aber für die Akuität des Problems. Gregor beschäftigte sich offensichtlich mit diesen Dingen schon in den ersten Jahren seines Pontifikats. Dagegen weist nichts darauf hin, dass der DP nur „eine langfristige und prinzipiell gedachte Richtschnur“207 war: 1. Alle quod, durch welche die Punkte eingeleitet werden, beweisen, dass der DP ein Programm enthält. Die Punkte sind nichts anderes als Erweiterungen und Radikalisierungen208 der schon vor Gregor existierenden Ideen – nicht Kanones! (!) –, die auf ihre praktische Umsetzung warteten. Man vermutet sogar, dass der DP als Allokution für die Fastensynode von 1075 vorgesehen war.209 2. Der Kampf zwischen dem Wormser Reichstag und Canossa spricht dafür, dass Gregor sein Programm nicht für eine lange Zeit konzipiert hatte, sondern eine schnelle, kompromisslose Lösung anstrebte. 3. Wenn man aus den Briefen seine aktive und pflichtbewusste Natur kennt, versteht man nicht, weshalb er eine derart wichtige Aufgabe – die Befreiung der Kirche von weltlichem Einfluss – langfristig hätte aufschieben wollen, und zudem weiß man, dass er eine schwache physische Konstitution hatte und sich keine Hoffnungen auf ein langes Pontifikat machte.210 Der DP enthält zum ersten Mal ausdrücklich den Anspruch Gregors, dass die römische Kurie das Recht habe, die Welt zu 203

Vgl. R. Koebner 1933, S. 89f. Vgl. H. Fuhrmann 1977, S. 263f. Siehe einen Überblick über alle Theorien über den DP bei K. Hoffmann 1947, S. 530ff. Um den Index einer verlorenen Kanonessammlung handelt es sich mit Sicherheit nicht. Eine Kompilation mit dem Papstprimat im Zentrum gab es zur Zeit Gregors noch nicht, sonst hätte er Petrus Damiani nicht gebeten, eine solche zu erstellen (vgl. K. Hoffmann 1947, S. 534). 205 Vgl. W. Hartmann 1993, S. 23. 206 „III. Quod ille solus possit deponere episcopos vel reconciliare“ (Dass allein er Bischöfe absetzen und wieder einsetzen kann – F.-J. Schmale 1978, S. 148/149) und „XXV. Quod absque synodali conventu possit episcopos deponere et reconciliare“ (Dass er ohne Synode Bischöfe absetzen und wieder einsetzen kann – F.-J. Schmale 1978, S. 150/151). Aus dieser Wiederholung kann man folgende Konsequenzen ziehen: 1. Entweder hat er vergessen, dass es schon einmal gesagt wurde oder 2. Gregor hat verstanden, dass der Punkt III die mit dem päpstlichen Primat verbundenen Rechte nicht klar genug zum Ausdruck bringt, und hat versucht, dies zu verdeutlichen. Auf jeden Fall steht fest, dass alles spontan geschrieben wurde, sonst hätte Gregor die Idee von Anfang an in einem einzigen Punkt deutlich formulieren können. 207 R. Schieffer 1981, S. 131. 208 Vgl. E. Caspar 1924, S. 22. 209 Vgl. R. Koebner 1933, S. 68f und 89. 210 Siehe dafür W. Goez 1978. 204

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regieren211; diese Aussage findet sich im ersten Artikel: Quod Romana ecclesia a solo Domino sit fundata (Dass die römische Kirche vom Herrn allein gegründet worden ist).212 Nur der Bischof Roms kann also beanspruchen, in der direkten Sukzession Christi zu stehen, und alle anderen Menschen haben in seiner Person Christus zu respektieren. Bei der Untersuchung der gregorianischen Reform darf man keineswegs die literarische und reformerische Tätigkeit des oben genannten Kardinals Humbert von Silva Candida, des für Gregors Ideen vielleicht einflussreichsten Autors, übersehen.213 Humbert wurde wegen seines Elans als „Sturmvogel der Reform“ bezeichnet.214 Sein „Bestseller“ waren die Libri tres adversus simoniacos (1058). Wie der Name schon verrät, handelt es sich um eine Stellungnahme zu einem höchst akuten Problem der Zeit, dem Kampf gegen die Simonie. In den ersten beiden Büchern geht es um klerikale Simonisten, und es wird die These vertreten, dass – da diese als Häretiker außerhalb der Kirche stehen – ihre Ordinationen und Sakramente unwirksam sind. Das dritte Buch enthält den originellen Ansatz Humberts: Hier werden die theoretischen Prämissen angeboten, die später Gregor zur Betonung der privilegierten, ja einmaligen Stellung der Kirche in der Gesellschaft veranlassen, und damit die Grundlage für den Primat des sacerdotium über das regnum bilden. Im dritten Buch Humberts heißt es, dass die Simonie keine Sünde der Geistlichen sei, sondern der Laien, die sich in kirchliche Angelegenheiten einmischen.215 Damit schafft er eine Grundlage für die spätere Satanisierung bzw. Desakralisierung des Königtums und der königlichen Gewalt.216 Die Theorie weist aber auch Schwächen hinsichtlich der Vertretungsehre auf. Nach Humberts Hypothese ist Simonie gleich Häresie, d. h., die simonistischen Kleriker sind Ketzer und haben demnach keine Befugnis zum Vollzug der heiligen Sakramente. Daraus ergeben sich folgende Schwierigkeiten: 1. Die Mehrheit der Geistlichen seiner Zeit verdankte ihr Amt in irgendeiner Art und Weise einem Laien. 2. Das bedeutet aber, dass diese Kleriker ungültige Sakramente spendeten oder solche, deren Gültigkeit zweifelhaft war. Dadurch wurde die 211

Vgl. H. Mitteis 1968, S. 191. F.-J. Schmale 1978, S. 148/149. 213 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 131ff, besonders S. 133. Humbert hat viel verfasst und viele Werke, die ursprünglich als anonym galten, werden heute ihm zugeschrieben. Nur durch „mühsame Sprachvergleichung kann [man] den dichten Schleier lüften, der seit neun Jahrhunderten über dieser großen Gestalt lag, die im Verborgenen für vier Päpste (Leo IX., Viktor II., Stephan IX. und Nikolaus II.) in den wichtigen Angelegenheiten die Feder führte“ (A. Michel 1947, S. 65). 214 Vgl. A. Michel 1947, S. 91. 215 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 101ff. 216 Für Humbert galt der König schlechthin als Laie (vgl. G. Tellenbach 1936, S. 130 und H. Mitteis 1968, S. 194). 212

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Macht der Sakramente gefährlich relativiert und das Fundament der Vertretungsehre erschüttert: Die Geistlichen konnten einen Vorrang in der Gesellschaft beanspruchen, solange sie die einzigen217 (!) Vertreter Gottes und „Verwalter“ seiner Gnade waren, und das sichtbare Zeichen dieser Stellvertretung waren eben die Sakramente, die der klerikalen Lösegewalt entsprachen. Viele von Humberts Ideen finden sich ebenfalls in einer früheren Quelle, einem anonymen Traktat namens De ordinando pontifice (ca. Dezember 1047)218, der einem französischen Kanoniker zugeschrieben wurde, weswegen sein Verfasser herkömmlich als Auctor Gallicus bezeichnet wird. Das Werk ist fragmentarisch erhalten, sodass die Ausführungen des Verfassers über die Eigenschaften einer für das Papstamt geeignete Person verloren gingen.219 Der Autor dieser Schrift wendet sich sehr heftig – und möglicherweise gibt er deswegen seinen Namen nicht an – gegen die Beteiligung des Kaisers Heinrich III. bei der Papstwahl. Er nennt den Kaiser imperator nequissimus.220 Die wichtigsten Ansätze der Schrift aber beziehen sich auf die Simonie, und Auctor Gallicus trägt entscheidend zur Konturierung jener mystischen Ekklesiologie bei, in der die Kirche als Braut Christi bezeichnet wird. Diese Ideen werde ich heranziehen, wenn ich die Simonie-Problematik und ihre Relevanz für die Vertretungsehre im Investiturstreit untersuche. Man behauptet, dass das wichtigste Dokument, auf das Gregor seine Ansprüche stützt, das Papstwahldekret von 1059 sei221, bei dessen Erstellung auch der radikale Humbert mitgewirkt haben soll.222 Unter Papst Nikolaus II. gelang es zum ersten Mal wirklich, sich gegen die laikalen 217 Der König behauptete ja auch, dass er Stellvertreter Gottes sei, und dass seine Person die beiden Qualitäten eines rex und sacerdos in sich vereinigt. 218 Vgl. I. Schmale-Ott 1984, S. 47. 219 Deswegen wird die Edition des Traktates von H. Anton 1982 heftig kritisiert (siehe die Rezension von W. Hartmann in HJb. 105/1985). Der Herausgeber ist sich wenig bewusst, dass er es eigentlich mit einem verstümmelten Text zu tun hat, weshalb seine Argumentation und seine kritischen Ansätze auf der falschen Prämisse einer Text-Einheit beruhen. 220 I. Schmale-Ott 1984, S. 60/61. Die Herausgeberin übersetzt es mit „Erzschurke von Kaiser“, es bedeutet aber eher „nichts bedeutender Kaiser“ und ist darum eine umso größere Beleidigung. 221 Dieses Dokument blieb in seiner Zeit fast unbekannt, enthielt aber ein riesiges Potential. Obwohl die Rolle des Königs bei der Papstwahl durch vage Aussagen relativiert wurde, ermöglichte genau diese Vagheit paradoxerweise eine exzessive Interpretation: Das Dokument wurde also in dem Investiturstreit zu einer wichtigen Waffe der königlichen Partei gegen Gregor. Man wollte damit beweisen, dass seine Wahl unkanonisch sei, da sie nicht von dem König bestätigt wurde (vgl. R. Schieffer 1981, S. 53). 222 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 194.

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Einmischungen des römischen Adels durchzusetzen. Aufgrund der kanonischen Vorschrift, dass an der Wahl eines Bischofs nur der Klerus und das Volk beteiligt sein durften, hatten sich die großen römischen Adelsfamilien selbst zu Repräsentanten des Volkes ernannt und sich so die Gelegenheit verschafft, nach ihren eigenen Interessen den Papst bestimmen zu dürfen.223 Sogar Gregor VII. musste einige Jahrzehnte später erneut gegen diese Familien auftreten.224 Durch das Papstwahldekret konnte die Rolle des Königs bei der Ernennung des Papstes marginalisiert oder zumindest durch die vagen Äußerungen relativiert werden. Das Dokument gestand ausdrücklich nur den Kardinalbischöfen, dem römischen Klerus und dem Volke das Recht zu, den Inhaber des römischen Stuhls zu wählen. Diese Formel der electio canonica blieb bis heute gültig, wobei das Konklave den Papst wählt und die Rolle des einfachen Klerus und des Volkes darauf reduziert wurde, formell Beifall zu spenden. Der König wird lediglich am Ende des Dokuments vage erwähnt225 und verliert sein Recht auf die direkte nominatio des Kandidaten.226 Die Bedeutung des Papstwahldekrets (als Emanzipationsakt) wird mit der Behauptung bestritten, dass es eigentlich das Recht227 (!) des Königs und seine Einflussnahme bei der Papstwahl bestätige228: „So wird man das PwD [Papstwahldekret] nicht mehr als den ‚entscheidenden Schritt zur Lösung des Papsttums von weltlichen Bindungen’, nicht mehr als ‚Stufe des Aufstiegs’ des Papsttums, nicht mehr als die erste Etappe auf dem Wege zur libertas ecclesiae bezeichnen dürfen“229. Man kann aber nicht leugnen, dass sich die Kirche in dieser Periode in einem Emanzipationsprozess befand, zu dem vor allem die Abschirmung der Geistlichkeit vor laikalen Einflüssen gehörte: Solche Tendenzen gab es schon immer, sie intensivierten sich mit der Gründung Clunys und erreichten unter Gregor ihren Höhepunkt – im direkten Kampf mit dem Königtum. Nach Gregor bis zum Wormser Konkordat ist die Situation dann von rein politischer und diplomatischer Routine geprägt. Das Problem der Investitur der Bischöfe durch den König bzw. andere weltliche Herren war jedoch nicht der einzige Streitpunkt in dem Erneuerungsprogramm der römischen Kurie bei ihrem Streben nach Eigenständigkeit und gesellschaftlichem Vorrang. Die Kurie kämpfte auch heftig gegen die simonistischen Handlungen mancher Kleriker sowie gegen verheiratete Geistliche. 223

Vgl. K. Jordan 1932, S. 44f. Vgl. H. Meier-Welcker 1952-1953, S. 196. Vgl. A. Michel 1947, S. 86f. 226 Vgl. mit dem Originaltext bei H.-G. Krause 1960, S. 271-273 und D. Hägermann 1970, S. 174 und 176f. 227 Vgl. H.-G. Krause 1960, S. 86ff. 228 Vgl. H.-G. Krause 1960, S. 98ff. 229 H.-G. Krause 1960, S. 256. 224 225

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Gregors Regierungszeit begann mit entschlossenen Maßnahmen gegen die Simonisten230, die als Werkzeuge des Laikats, letztlich des Teufels, im Schoße der Heiligen Mutter Kirche betrachtet wurden. Die Simonie galt als ketzerisch, da die Simonisten meinten, den Heiligen Geist und seine Gaben „wie einen käuflichen Sklaven“ beherrschen zu können231, so wie es sich Simon Magus gedacht hatte (Apg 8, 9-24, besonders 18-20). In diesem Sinne ist man ein Simonist, wenn man Spiritus Sancti dona pecuniae comparat.232 Folglich sind beide, Käufer und Verkäufer, der Simonie schuldig – in unserem Falle sowohl der Bischof als auch der König bzw. der Laie233, der ihm diese Stelle verkauft. Als weiterer Beleg für das Verbot der Simonie, wurde die Episode, in der Christus die Händler und Wucherer aus dem Tempel vertreibt (Mt 21, 12-14; Mk 11, 15-17; Lk 19, 45-46; Joh 2, 14-16), herangezogen.234 Es entwickelte sich zur Zeit Gregors eine komplexe Systematik zur Kategorisierung simonistischer Vorgänge. Es gab mehrere Arten von Simonie235, wobei die „klassische Form“ des Kaufens von kirchlichen Ämtern simonia a manu bezeichnet wurde. Es folgten simonia a lingua (wenn jemand durch Schmeichelei ein kirchliches Amt erhielt) und endlich simonia a obsequio (die Erlangung geistlicher Würden durch willfährige Taten).236 All diese Formen waren gleichermaßen gravierend, da sie die ekklesiologische Basis des Christentums erschütterten. Die Kirche galt als Braut Christi und des Corpus’ der Bischöfe als Vertreter des Herrn, weshalb ihm diese Braut anvertraut wurde. Durch Simonie aber gerät diese in die Hände eines Unbefugten, verliert somit die Qualität einer Braut des Herrn und wird zur Dirne.237 Auctor Gallicus erläutert: “[Ae]cclesia sponsa Christi est, episcopi loco Christi funguntur. Igitur et ipsi eiusdem aecclesia non sponsi, sed sponsus sunt [...]. Sit autem unum 230

Vgl. W. Schwarz 1923, S. 256 und H. Mitteis 1968, S. 195. Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 153. Siehe bei I. Schmale-Ott 1984, S. 48/49. 233 Die Reformer des 11. Jahrhunderts rechneten den König zu den Laien und lehnten seinen sakralen Charakter ab (vgl. J. Laudage 1993, S. 24). 234 Diese Belegstelle war so verbreitet – sie ist bereits bei Gregor dem Großen (6.Jh.) zu finden –, dass man oftmals die Verbindung der Simonie mit Simon dem Magier herzustellen vergaß und sich nur an diese Szene hielt (H.-M. Welcker 1952-1953, S. 65). 235 Es ist falsch zu glauben, dass diese neuen Simonieformen in der Zeit Gregors Hildebrand erfunden worden seien. Gregor der Große sprach über sie in einer seiner Homilien zu den Evangelien: „Quia aliud est munus a obsequio, aliud munus a manu, aliud munus a lingua. Munus quippe ab obsequio est subjectio indebite impensa, munus a manu pecunia est, munus a lingua favor“ (PL 76, 1092 A). Vgl. auch H.-M. Welcker 1952-1953, Anm. 24, S. 66). 236 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 153f; H. Mitteis 1968, S. 195f und J. Laudage 1993, S. 60. 237 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 157. 231 232

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sunt, et sponsus sunt. Qui vero ab unitate deficit, nec sponsus est, nec amicus sponsi. Quodsi non amicus, certe nec filius.“ ([S]o ist die Kirche die Braut Christi und walten die Bischöfe an Christi statt. Deswegen sind sie selbst nicht Bräutigame eben dieser Kirche, sondern der eine Bräutigam [...]. Wenn sie aber eins sind, sind sie auch der Bräutigam. Wer aber von der Einheit abfällt, ist weder Bräutigam noch der Freund des Bräutigams. Wenn aber nicht Freund, dann gewiss auch kein Sohn).238

Die Ehre Christi ist in einem solchen Fall unwiderruflich gekränkt. Hier gleicht die Simonie einem Frauenraub, und ich habe bereits gezeigt, welche Implikationen ein solches Verbrechen in der traditionellen Gesellschaft des Mittelalters für die Ehre des Gatten hatte. So machte sich z. B. der Kaiser des Frauenraubes schuldig: Durch seine Eingriffe in die Kirche stiehlt er die Frau eines anderen.239 Auch ein Papst, der unkanonisch gewählt wurde, d. h. durch die Einmischung der säkularen Gewalt, verlor seine Autorität und raison d’être. Deswegen heißt es bei Gregor: Quod pontifex, si canonice fuerit ordinatus, meritis Beati Petri indubitanter efficitur sanctus (Dass der Papst, falls er kanonisch eingesetzt ist, durch die Verdienste des Heiligen Petrus unzweifelhaft heilig gemacht wird).240 Da es eben so viele und leicht umzuinterpretierende Simonieformen gab, versteht man, warum letzten Endes beinahe alle Kleriker der einen oder anderen Form beschuldigt werden konnten. Das christliche Simonieverbot passte eigentlich nicht in die europäische, von germanischen Weltanschauungen geprägte Mentalitätslandschaft. Zwar sagte sogar Paulus, dass derjenige, der dem Altare dient, vom Altare leben soll (1. Ko 9, 13), d. h., es wurden Gebühren für verschiedene geistliche Leistungen erlaubt241, aber man konnte sich nicht einigen, wo die Grenzen dieser bezahlten Handlungen lagen und wo die Simonie begann.242 Nach dem germanischen Ethos galt jedoch auch im europäischen Christentum das Prinzip „LeistungGegenleistung“. Man stellte sich alles als vergeltungspflichtig vor, sei es zum Guten oder zum Bösen, und in dieser Interaktion spielte das Wergeld eine entscheidende Rolle. Darum empfand man nicht als verwerflich, wenn kirchliche Leistungen mit Zahlungen verbunden waren.243 Wie ich schon im zweiten Teil gezeigt habe, bestand in der traditionellen Gesellschaft des 238

I. Schmale-Ott 1984, S. 50/51. Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 158. F.-J. Schmale 1978, 47, XXIII, S. 150/151. 241 Vgl. H.-M. Welcker 1952-1953, S. 66ff. 242 Vgl. H.-M. Welcker 1952-1953, S. 79 und G. Tellenbach 1985, S. 100. 243 „Dem germanischen Recht lag geradezu die Auffassung zu Grunde, dass die priesterliche Handlung ihren vollen Wert erst durch eine Widergift, eine Opfergabe an den Priester erhalte“ (H.-M. Welcker 1952-1953, S. 91). Vgl. auch S. 74. 239 240

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Mittelalters eine komplexe und enge Verbindung zwischen sozialem Ansehen, Ehre, Besitz und Gabe bzw. Geschenken. Soziale und symbolische Mechanismen wurden durch materielle Gesten in Bewegung gesetzt.244 Die Simonie zu bekämpfen bedeutete in diesem Falle die Trennung zwischen dem Materiellen und dem Symbolischen bzw. Geistlichen. Es bestand – anders als im früheren Mittelalter – keine einheit mehr zwischen Weihe, Amt und Kirchengut, sondern sie wurden voneinander getrennt: Priesterweihe und Amt bezogen sich auf das sacerdotium, während das Kirchengut als Äußerlichkeit bzw. temporalia eingestuft wurde.245 Zudem setzte man sich mit dem Problem auseinander, ob die Sakramente der simonistischen Priester gültig blieben. Reformer wie Humbert von Silva Candida und der ihn beeinflussende Auctor Gallicus verneinten dies. Letzterer meinte in seinem Traktat De ordinando pontifice, in Übernahme eines Gedankens von Augustinus246, dass ein simonistischer Bischof – da dieser böse sei – nicht einmal existiere (!): [Q]uod perversus est episcopus esse desinit247, und daher seine Sakramente ebenso wenig existieren. Obwohl es die Unterbindung der Simonie erschwerte, blieb man aber in der Zeit Gregors VII. allgemein der Ansicht, dass die Sakramente ihre Quelle in der objektiven Kraft Gottes haben, die nicht durch menschliche Handlungen beeinträchtigt werden kann.248 Ohne diese Annahme riskierte man, die kirchlichen Ansprüche auf der Ebene der Vertretungsehre zu sabotieren. Das Beste, was Gregor VII. in dieser schwierigen Angelegenheit einfiel, war die Forderung eines Messeboykottes: „[S]tatuimus etiam ut si ipsi contemptores fuerint nostrarum immo sanctorum patrum constitutionum, populus nullo modo eorum officia recipiat, ut qui pro amore Dei et officii dignitate non corriguntur verecundia saeculi et obiurgatione populi resipiscant.“ (Wir ordnen auch an, dass, falls sie unsere oder vielmehr die Dekrete der Heiligen Väter verachten, das Volk ihre Amtshandlung in keiner Weise akzeptieren soll, damit, wer sich nicht aus Liebe zu Gott und wegen der

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Vgl. H.-M. Welcker 1952-1953, S. 79ff. Vgl. H.-M. Welcker 1952-1953, S. 85f. 246 In Confessiones VII, 12 heißt es: „Ergo quaecumque sunt, bona sunt, malumque illud, quod quaerebam unde esset, non est substantia, quia, si substantia esset, bonum esset“ (Also ist alles, was da seiend ist, gut, und jenes Böse, dessen Ursprung ich suchte, nicht Wesenheit; denn wäre es Wesenheit, so wäre es gut). Die Übersetzung habe ich aus Augustinus, Bekentnisse, übersetzt von Josef Bernhart, Frankfurt/M. 1955 übernommen. 247 I. Schmale-Ott 1984, S. 48/49. 248 Petrus Damiani (†1072) meinte, dass auch die Sakramente eines von einem simonistischen Bischof geweihten Klerikers vollkommen gültig bleiben, da die Weihegewalt der Bischöfe nicht von eigenen Verdiensten herrühre, sondern von dem Heiligen Geiste ausgehe (vgl. J. Laudage 1993, S. 65). 245

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Würde des Amtes bessert, aus Scham vor der Welt und wegen der Vorwürfe des Volkes Buße tut).249

Man bemerkt, dass die Gültigkeit der Sakramente simonistischer Kleriker nicht in Frage gestellt wird, sonst würde kein Boykott ausgesprochen und auch nicht so stark die Möglichkeit der Buße betont werden. Falls man der Ansicht gewesen wäre, dass bei den Simonisten die Sakramente ihre Wirksamkeit verlieren, hätte man für die Bekehrten eine neue Priesterweihe für nötig gehalten, aber so etwas wird in keiner Quelle erwähnt. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Indem die objektive Wirksamkeit der göttlichen Gnade durch die kirchlichen Sakramente behauptet wird, wahrt die „neue Kirche“ ihre Ansprüche auf die höchste Stellung in der Gesellschaft, nämlich als Vertreter und Verwalter des Heils. Soweit die Sache prinzipiell geklärt war, blieb der römischen Kurie nur noch, die gegen die electio canonica vorstoßenden Prälaten ihres Amtes zu entheben oder sie zur Buße zu zwingen. Zur Herausbildung eines eigenen Ethos und zur Absonderung von dem Laikat durch eine eigene spezifische Lebensweise kritisierte die Kirche vehement die Gewohnheit vieler Geistlicher, zu heiraten oder eine Frau zu unterhalten.250 Dies wird in der kirchengeschichtlichen Forschung als Nikolaitismus251 oder Klerogamie252 bezeichnet. Der Begriff Nikolaitismus kommt von dem Namen des in der Apostelgeschichte (2, 6) genannten Diakons Nikolaus, der mit der in der Offenbarung (2, 6 und 2, 14-15) erwähnten Ketzerei der in Unzucht (fornicatio253) lebenden Nikolaiten in Verbindung gebracht wurde.254 Im Fall der Bischöfe wurde die Klerogamie noch schärfer verurteilt, da sie – wie oben schon gezeigt – nach der mittelalterlichen Ekklesiologie als Vertreter Christi selbst Bräutigame der Kirche waren. Es kam demnach einem Ehebruch und einer Besudelung der Jungfräulichkeit der Kirche gleich, wenn Geistliche, die mit dem eucharistischen Leibe Christi in Kontakt kamen, sich zuvor mit Frauen „abgegeben“ hatten.255 Vermutlich war der Kampf um die Durchsetzung des priesterlichen Zölibats noch erbitterter als jener gegen die Simonie, da es in der Zeit der päpstlichen Reform sehr viele „nikolaitische“ Geistliche gab, insbesondere auf dem Lande. In Deutschland z. B. beschwerten sich – nicht zu Unrecht – die verheirateten Priester, dass das Papsttum die freien Kleriker 249

Zitiert und übersetzt von U.-R. Blumenthal 2001, Anm. 108, S. 168. Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 84. Vgl. G. Tellenbach 1985, S. 105. 252 Vgl. A. Michel 1947, S. 91. 253 Vgl. A. L. Barstow 1982, S. 5. 254 Wie die Nikolaiten „seien auch sämtliche im Konkubinat lebende Geistliche zweifellos der Sünde der Unzucht (fornicatio) verfallen“ (J. Laudage 1993, S. 67). 255 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 155ff, besonders S. 158. 250 251

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zu Mönchen machen will, ohne ihnen aber die Vorteile eines klösterlichen Lebens ohne Kummer anzubieten. Das Papsttum gab jedoch nicht nach, und die Predigten der von Rom gesandten Mönche fanden beim einfachen Volk Gehör.256 Ohne näher auf die Frage der Priesterehe eingehen zu wollen, möchte ich erwähnen, dass das erste Ökumenische Konzil von Nizäa (325) diese Frage geregelt hat, indem den einfachen Priestern eine einzige (!) Ehe zugestanden wurde, im Bewusstsein der menschlichen Schwäche gegenüber den Versuchungen und auch, um schlimmere Sünden zu verhindern.257 Diese Anschauung hat bis heute in der Ostkirche überlebt. Hingegen hat im Abendland das priesterliche Zölibat eine lange Tradition.258 Bereits seit der Synode von Elvira (306) wurde den Diakonen, Priestern und Bischöfen die Ehe untersagt.259 Für meine Problematik ist dieses Verbot umso relevanter, als dadurch verdeutlicht wird, wie groß das Streben der römischen Kurie nach Absonderung und einer Elitestellung war. Die Vertretungsehre forderte von den berufenen Menschen Handlungen, die ihrem übermenschlichen Status als Stellvertreter Christi entsprechen sollten: Christus hatte kein Sexualleben, warum sollen folglich seine Diener eines haben? Obwohl diese Probleme in der Kirche nicht neu waren, lebte man mit ihnen in einem modus vivendi, der im 11. Jahrhundert nicht mehr befriedigend sein konnte. In einer Gesellschaft, die von Krieg und kriegerischer Gesinnung, von Gewalt und Willkür beherrscht wurde, erinnerte man sich immer häufiger an die Botschaft Christi, die Liebe, Frieden und Gemeinschaft forderte. Die Kirche selbst und ihre Bischöfe waren jedoch weit von diesen Idealen entfernt. Längst bestand die Notwendigkeit einer Reform, nur musste zunächst erst einmal der Weg bereitet werden. Das gelang jenem charismatischen Papst, der von einigen als der größte Papst der Kirchengeschichte betrachtet wird und welcher unter dem Namen Gregor VII. Hildebrand berühmt wurde. Im Zentrum seines Kampfes mit dem deutschen König Heinrich IV. stand das Problem der Investitur. Im Folgenden werde ich die beiden Hauptprotagonisten in ihrem politischen und mentalen Milieu vorstellen. Gregor VII. Hildebrand hatte bereits von seiner Kindheit an im Kloster gelebt. Er hatte keine andere Lebensform außer der mönchischen erlebt. Ich habe in dem Kapitel über Cluny gezeigt, dass man zwar nicht sehr viel über seine Herkunft weiß, man aber dennoch davon ausgehen kann, dass er aus einer angesehenen Familie stammte: Wahrscheinlich handelte es sich um 256 Vgl. G. Tellenbach 1985, S. 151ff. Zum Zölibatdiskurs in der Zeit Gregors und zu seiner Rezeption siehe A. L. Barstow 1982. 257 Vgl. A. L. Barstow 1982, S. 24 und I. Rămureanu 1992, S. 127f. 258 Vgl. J. Laudage 1993, S. 59f. 259 Vgl. A. L. Barstow 1982, S. 23f.

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eine großbürgerliche römische Familie oder sogar eine von niederem Adel.260 Sein soziales Denken und Handeln war immer von seinem mönchischen Dasein her geprägt. Aufgrund seiner tiefen Religiosität stellte sich Gregor – wie die Menschen seiner Zeit – die Welt als eine Ebene der Interaktion zwischen Gott, den Menschen und dem Teufel vor.261 In seinen Augen spielte die Geburt für die Ehrenhaftigkeit eines würdigen Vertreters Gottes keine Rolle, entscheidend seien vielmehr seine Handlungen, in denen sich Gott selbst offenbare. Sein Selbstbewusstsein beruhte auf der persönlichen Beziehung zu dem Apostel Petrus und zu Gott. Er war der festen Überzeugung, dass der Papst ein Vertreter Petri ist, und zwar in einer so engen Verbundenheit, die bis zu der Entpersonalisierung des Papstes und dessen Verwandlung in ein bloßes Werkzeug des Willens des Apostels ging. In einem Brief vom Sommer 1076 an den Bischof Hermann von Metz schrieb Gregor: „De aliis autem rebus, super quibus me interrogasti, utinam beatus Petrus per me respondeat, qui saepe in me qualicunque suo famulo honoratur vel iniuriam patitur.“262 (Über die anderen Sachen aber, die du mich fragtest, möge der Selige Petrus durch mich antworten; er wurde oft in mir, seinem Knechte, auf verschiedene Weise geehrt, aber auch beleidigt).

Gregor stellte sich die Vertretungsehre folgendermaßen vor: Gott und seine Heiligen handeln und sprechen durch ihre Vertreter auf der Erde263 und die Ehre Gottes liegt in der Hand der Kirche, deren Kurator der Papst ist. Er selbst bedeutet nichts als Mensch, da er jedoch der einzige Vertreter Gottes bzw. Petri264 auf Erden ist, kann er Petrus gleichgestellt werden.265 „Der entscheidende Grund für die Ablehnung der laikalen/ königlichen Befug260

Vgl. W. Goez 1978, S. 199f. A. Nitschke schlägt daher zu Recht als einzig effiziente Methode zur Annäherung an die Persönlichkeit Gregors und an seine Haltung eine Art von religiöser Anthropologie vor, die von der Prämisse ausgeht, dass der Mensch des 11. Jahrhunderts die Welt in religiösen Kategorien begriff und verinnerlichte (vgl. A. Nitschke 1956, S. 132). 262 REGISTER, IV 2, S. 293, 25-27. 263 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 129. 264 Man spricht oft von einer Petrus-Mystik Gregors (U.-R. Blumenthal 1982, S. 129), da er sich ständig auf die Verbindung mit Petrus beruft. Ich finde dies leicht übertrieben, da Petrus selbst seine Bedeutung nur als Jünger des Herrn – also als Stellvertreter Christi – erhält. Petrus diente mehr zum Vergleich, die Verbindung mit ihm war nicht das eigentliche Ziel Gregors. Dieser war ebenso ein Vertreter Christi, deswegen haben beide gewissermaßen die gleiche Stellung. Diese Tatsache ist evident, weswegen W. Goez zugibt – obwohl auch er die starke Petrus-Mystik Gregors hervorhebt (vgl. W. Goez 1978, S. 211f) –, dass die Frömmigkeit des Papstes letzten Endes christozentrisch sei und sich relativ wenig auf die Heiligen Apostel berufe, sondern mehr auf die Mutter Gottes und besonders stark auf Christus (vgl. W. Goez 1978, S. 208). 265 Vgl. A. Nitschke 1956, S. 156f. 261

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nisse ergab sich vielmehr aus Gregors Überzeugung von der einzigartigen Stellung des Stellvertreters Petri in der Welt. Durch die starke Position der weltlichen Machthaber bei der Besetzung von Kirchen wurde seiner Ansicht nach nämlich die Autorität des Apostolischen Stuhls untergraben“266. Dieses Vertretungsbewusstsein bei Gregor entwickelte sich zusammen mit einem starken Verantwortungsgefühl für die Welt, die ihm zur „guten“ Herrschaft anvertraut worden war. Jene Gedanken stammten anscheinend von Kardinal Humbert, der die Ansicht vertrat, die Welt sei vom Papst abhängig, da er sie zu Christus emporheben oder ins Verderben stürzen kann.267 Gregor war von einem außergewöhnlichen Pflichtbewusstsein geprägt. Er kannte bei der Verteidigung der kirchlichen Interessen keine Kompromisse, er war offensichtlich kein Diplomat, sondern eine stürmische Natur. Sogar seinen Freunden drohte er, wenn sie in irgendeiner Weise von der päpstlichen Politik abwichen.268 Der Prozess einer kirchlichen Elitenbildung erforderte nach Gregors Ansicht Strenge, daher waren jegliche Verstöße rasch zu unterbinden. Gregor wusste wohl, mit welchen Schwierigkeiten ein „wahrer“ Papst zu kämpfen hatte269, deswegen lehnte er anfangs (1073) seine Wahl zum Pontifex ab.270 Wie sein großes Vorbild Gregor der Große, nach dem er seinen Papstnamen wählte, versuchte Hildebrand, der großen Bürde des Papstamtes zu entkommen271; man musste ihn fast gewaltsam zwingen (rapere272) – wie er selber zugestand –, die Ernennung anzunehmen. Seine Berufung zu einer prophetischen273 und heiligen Mission sah er als das wunderbare Wirken Gottes. Deshalb stützten sich seine Ansprüche weniger auf kanonisches Wissen274 als auf charismatisches Handeln. Mit seinem Ablehnungsversuch reihte sich Gregor in eine lange Tradition der kirch-

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J. Englberger 1996, S. 252. Vgl. A. Hofmeister 1915, S. 239ff. Gemäß diesem Gedanken gibt es keine authentische Macht ohne das entsprechende Verantwortungsgefühl für die Untertanen (vgl. A. Michel 1947, S. 69f). 268 Vgl. A. Nitschke 1956, S. 117. So wird König Alfons VI. von Spanien mit Krieg bedroht – obwohl er ein Freund des Papstes war –, weil er in seinem Lande einige Abweichungen von der römischen Liturgie erlaubte (vgl. A. Nitschke 1956, Anm. 11, S. 18). 269 Vgl. E. Caspar 1924, S. 5f. 270 In seinen Briefen wiederholt er, dass sein Aufstieg auf den Stuhl Petri gegen seinen Willen geschah (vgl. W. Goez 1978, S. 201). 271 Vgl. E. Caspar 1924, S. 8. 272 Vgl. C. Schneider 1972, S. 29. 273 Gregor glaubte an seine prophetische Berufung (vgl. C. Schneider 1972, S. 26f). 274 Gregor war kein großer Kanonist (vgl. K. Hofmann 1947, S. 534). Sein juristisches Wissen war aber auch nicht so schlecht, dass man es als „primitiv“ charakterisieren könnte (wie es E. Caspar 1924, S. 23, tut). 267

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lichen Hirten275 ein, die sich der Priesterweihe entziehen wollten, nicht aus Verachtung, sondern aufgrund eines genauen Verständnisses der menschlichen Unwürdigkeit für diesen so hohen Status, Christi Bürde auf Erden zu tragen. Desto mehr nimmt man die Aufopferungsbereitschaft Gregors zur Kenntnis, für den die größte Tugend die oboedientia276 war. Keine Anstrengung war ihm zu groß im Kampf für Gott und seine heilige Kirche. Wegen seines kompromisslosen Verhaltens war er einem confessor ähnlicher als einem Politiker. Sein Gegner, der deutsche König Heinrich IV., war seinerseits kein besonders begabter Staatsmann; vor allem die politisch problematische Lage bereitete ihm Schwierigkeiten: Die Beziehungen des königlichen Hofes zum Hochadel und sogar zu den Reichsbischöfen, welche starke Autonomietendenzen hatten, waren schlecht.277 Während seiner Minderjährigkeit wurde das Reich von unterschiedlichen Regenten (seiner Mutter Agnes, dem Bischof Anno von Köln – †1075) regiert278; doch diese verfolgten nur eigensüchtige Ziele.279 Die Fürsten lehnten sich gegen diese Situation auf, die Sachsen griffen zu den Waffen und die Reichsbischöfe wurden von Heinrich IV. enttäuscht: Der König ernannte keine moralisch untadeligen Kandidaten zu Bischöfen, sondern solche, die durch ihr Verhalten Unruhe in ihren Diözesen stifteten.280 Von diesem Zustand profitierte das Papsttum unter Nikolaus II.: Es wurde das Papstwahldekret erlassen, durch das die königliche Gewalt über die römische Kurie relativiert wurde. Während das „nationalgesinnte“281 Reichsepiskopat lange Zeit als Verbündeter des Königtums gegen die zentralistische, am Primat orientierte Politik mancher Päpste agierte282, vollzog sich nun langsam ein Bruch, der von manchen Forschern sogar als Ursache der königlichen Niederlage von Canossa angesehen wurde.283 Für mich, der ich die Vertretungsehre erforsche, ist dieses Ereig275

Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomos u. a. Vgl. W. Goez 1978, S. 201f. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit die Bedeutung der Reichsabteien zunimmt, die als königliche Stützpunkte einen Gegenpol zu den immer unzuverlässigeren Bischöfen bildeten (vgl. R. Holtzmann 1941, S. 183). 278 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 119ff. Heinrich III. hatte durch sein aggressives Vorgehen seinen Beitrag zu den schlechten Beziehungen zu den Fürsten geleistet (vgl. W. Hartmann 1993, S. 8). 279 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 193f. 280 Vgl. J. Fleckenstein 1968, S. 229. 281 H. Mitteis 1968, S. 192. 282 Zu Beginn des Pontifikats von Gregor VII. wurden die Bischöfe von seiner autoritären und beinahe tyrannischen Art befremdet. So kann man ihre zahlreiche Beteiligung an dem Wormser Reichstag von Januar 1076 deuten, als sie dem Papst ihren Gehorsam aufkündigten (vgl. H. Mitteis 1968, S. 196 und U.-R. Blumenthal 1982, S. 130). 283 Vgl. J. Fleckenstein 1968, S. 221 und 229ff. 276 277

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nis ein Zeichen des Bewusstseins der Zugehörigkeit zu einer besonderen, mächtigen Schicht. Heinrich war also kein herausragender Politiker und konnte die komplizierte Lage, die er vorfand, nicht zu seinen Gunsten verändern. Er wird von der Forschung als unüberlegt handelnd, naiv und als schlechter General beschrieben.284 Er setzte Papst Gregor ab, doch ohne jede Aussicht auf Erfolg, da der Pontifex gut abgesichert und populär in dem von Worms entfernten Rom saß; damit eilte der Kaiser unüberlegt seiner Niederlage entgegen, von allen seinen Verbündeten verlassen.285 Ein gewisses politisches Geschick kann ihm aber keineswegs grundsätzlich abgesprochen werden. Trotz großer Gefahren konnte er zeitlebens seine Krone behalten und am Anfang seiner Regierungszeit gelang es ihm, den unflexiblen Papst Gregor 1073 auszutricksen: Um die für die zu führenden Sachsenkriege notwendige Ruhe vor dem Papst und den mit ihm verbündeten Fürsten zu haben, täuschte er Demut vor und versprach glaubwürdig Wohlverhalten.286 Sobald Heinrich IV. das sächsische Problem für erledigt hielt, widmete er sich der italienischen Halbinsel. Da er in keiner Weise auf sein königliches Recht, Bischöfe einzusetzen, verzichten wollte und einige Bischöfe in Italien ohne päpstliche Zustimmung einsetzte, geriet er in offenen Konflikt mit Gregor VII. Interessanterweise zeigte Gregor zu Beginn seines Pontifikats Bereitschaft zur friedlichen Zusammenarbeit mit dem Kaiser und vermied öffentliche Vorwürfe.287 „Er erklärte, dass er Heinrich nicht übel wolle, sondern sich ihm im Gegenteil verpflichtet fühle und zwar aus dreierlei Gründen: Erstens, weil er dabei war, als Heinrich zum König gewählt wurde; zweitens, weil er, Gregor, von Kaiser Heinrich an dessen Hof mehr als andere Italiener geehrt worden sei; und drittens, weil der alte Kaiser sterbend seinen Sohn Papst Viktor II. [†1057] anvertraut habe.“288 Zudem 284

Vgl. B. Schmeidler 1927, S. 372ff. Vgl. H. Vollrath 1974, S. 43. 286 Vgl. C. Schneider 1972, S. 65ff und W. Goez 1978, S. 195f. 287 Vgl. W. Hartmann 1993, S. 22. Diese versöhnliche Haltung sollte aber nicht zu Missverständnissen Anlass geben, wie z. B. zu dem Irrtum, dass Papst Gregor Hildebrand sich nicht gegen die Investiturzeremonie wandte, sondern nur gegen die damit verbundenen simonistischen Handlungen (vgl. R. Schieffer 1981, S. 109, 113 und 209). Man muss zuerst klar unterscheiden können, was bei der Investitur simonistisch ist und was nicht, um so etwas behaupten zu dürfen. Wie ich aber bereits zeigte, waren die Grenzen des simonistischen Verhaltens zur Zeit Gregors sehr unklar; die Einmischung eines Laien – und Heinrich wurde von Reformern seit Humbert als Laie betrachtet – galt als verwerflich und wurde der Simonie gleichgestellt. Die versöhnliche Haltung Gregors bedeutete auf keinen Fall Kompromissbereitschaft. 288 U.-R. Blumenthal 1982. Sie meint, dass die Bischöfe den naiven Heinrich ausnutzten und ihn in einen von ihm eigentlich unerwünschten Konflikt verwickelten (S. 285

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war Gregor bereit, Heinrich eventuell zum Kaiser zu salben, allerdings unter der Voraussetzung, dass sich der junge König auch wie ein Kaiser verhält, d. h. Bereitschaft zur Reform zeigt und den Vorrang der römischen Kurie akzeptiert.289 Der offene Streit konnte jedoch nicht verhindert werden.290 Heinrich fühlte sich einem solchen Kampf – keiner der Forscher versteht weshalb – gewachsen und antwortete auf die Vorwürfe des Papstes mit dessen Absetzung auf dem von ihm in Worms organisierten Reichstag (am 24. Januar 1076).291 Dabei hatte der König die Unterstützung der Mehrheit der deutschen Bischöfe, die sich damit der zentralistischen und autoritativen Politik Gregors entgegenstellen wollten.292 Die Absetzungsentscheidung wurde durch einen kurzen Brief Heinrichs und durch einen längeren Brief der Bischöfe an die Römer kundgetan. Zwischen beiden Schreiben besteht ein wesentlicher Unterschied: Während Heinrich aufgrund seines Titels des römischen Patricius die Absetzung Gregors wagte, kündigten die Bischöfe – unter ihnen auch viele reformgesinnte – dem Papst nur den Gehorsam auf.293 Sie waren anscheinend selbst nicht von der Rechtmäßigkeit des königlichen Anspruchs überzeugt, einen Papst absetzen zu dürfen.294 Für die propagandistische Untermauerung295 seines Aktes schrieb Heinrich nach ein paar Wochen eine längere Fassung seines Briefes und gab ihm dabei einen viel dramatischeren Ton. Theatralisch beendet er den Brief: Ego Henricus Dei gratia rex cum omnibus episcopis nostris tibi dicimus: descende, descende! (Ich, Heinrich, durch die Gnade Gottes König, sage dir zusammen mit allen meinen Bischöfen: Steige herab, steige herab!296).

132). So naiv war aber Heinrich nicht; er wusste genau, was er tat, als er Bischöfe in Italien einsetzte, und wie Papst Gregor dazu stand. 289 Vgl. C. Schneider 1972, S. 43f und 215. 290 Eine knappe, aber systematische und auch für Nicht-Spezialisten geeignete Monographie ist das Büchlein von W. v. Den Steinen 1969. 291 Vgl. W. Hartmann 1993, S. 24. 292 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 132. 293 Vgl. W. Goez 1978, S. 195. Der Text des bischöflichen Briefs ist von C. Erdmann 1937, S. 65-68, herausgegeben worden (eine Übersetzung siehe bei K. Langosch 1954, S. 100-104). 294 Vgl. H. Zimmermann 1975, S. 26. 295 Der König hatte endlich verstanden, dass die Absetzung leichtsinnig vollzogen wurde und keine Unterstützung fand und dass in der ersten, in Eile geschriebenen epistula ebenfalls keine glaubwürdige Rechtfertigung angeboten wurde. Er musste gehört haben, dass das römische Volk die Absetzung gar nicht begrüßte (vgl. C. Erdmann 1936, S. 491ff). 296 F.-J. Schmale/I. Schmale-Ott 1974, S. 68/69. Die kurze Variante ist auf S. 62-65 im Original zu lesen. Sie enthält nicht den bombastischen Schluss.

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Gregor lässt sich nicht einschüchtern. Sein prompter Gegenangriff ist viel wirkungsvoller. Er exkommuniziert zuerst297 die Bischöfe, die an dem Reichstag von Worms teilgenommen hatten, und löst sodann in einem ebenso theatralischen und propagandistisch konzipierten Gebet an den Fürsten der Apostel die königlichen Untertanen von ihrem vor Heinrich geleisteten Treueid, setzt den König ab und belegt ihn schließlich mit dem Anathem.298 Damit setzte er Heinrich stark unter Druck, weil die öffentliche Meinung diesem Bann gar nicht gleichgültig gegenüberstand: Zum ersten Mal in der Geschichte der Christenheit wurde ein König gebannt.299 Das Gebet lautete wie folgt: „Beate Petre, apostolorum princeps, inclina, quaesumus, pias aures tuas nobis et audi me, servum tuum, quem ab infantia nutristi et usque ad hanc diem de manu iniquorum liberasti, qui me pro tua fidelitate oderunt et odiunt. […] Et ideo […], ut populus christianus tibi specialiter commissus mihi oboediat specialiter pro vice tua mihi commissa, et mihi tua gratia est potestas a Deo data ligandi et solvendi in coelo et in terra. Hac itaque fiducia fretus, pro ecclesiae tuae honore et defensione, ex parte omnipotentis Dei Patris et Filii et Spiritus sancti, per tuam potestatem et auctoritatem Heinrico regi, filio Heinrici imperatoris, qui contra tuam ecclesiam inaudita superbia insurrexit, totius regni Teutonicorum et Italiae gubernacula contradico et omnes christianos a vinculo iuramenti, quod sibi fecerunt vel facient, absolvo et, ut nullus ei sicut regi serviat, interdico. Dignum est enim, ut, qui studet honorem ecclesiae tuae imminuere, ipse honorem amittat, quem videtur habere. Et quia sicut christianus contempsit oboediere nec ad Deum rediit, quem dimisit, participando excommunicatis et multas iniquitates faciendo meaque monita, quae pro sua salute sibi misi, te teste spernendo seque ab ecclesia tua, temptans eam scindere, separando, vinculo eum anathematis vice tua alligo, et sic eum ex fiducia tua alligo, ut sciant gentes et comprobent, quia tu es Petrus, et super tuam petram filius Dei vivi aedificavit ecclesiam suam, et portae inferi non praevalebunt adversus eam.“ (Heiliger Petrus, Fürst der Apostel, neige, wir bitten dich, gnädig dein Ohr und erhöre mich, deinen Knecht, den du von Kindheit an genährt und bis auf den heutigen Tag aus der Hand der Sünder gerettet hast, die mich um deiner Treue willen hassten und noch hassen. [...] Und daher glaube ich [...], dass das christliche Volk, das dir ganz besonders anvertraut ist, mir gehorcht, weil es mir als deinem Stellvertreter ebenfalls ausdrücklich an297 Diejenigen, die freiwillig unterschrieben hatten, wurden direkt exkommuniziert. Diejenigen, die unter Zwang und aus Angst vor dem König unterzeichneten, bekamen eine Frist, bis zum 1. August 1076 abzuschwören und sich mit Gregor zu versöhnen (vgl. F.-J. Schmale 1978, S. 206/207 und U.-R. Blumenthal 2001, S. 179). Man erkennt das politische Geschick Gregors: Er gibt den Bischöfen die Möglichkeit, sich vom König zu distanzieren und ins päpstliche Lager zu wechseln. 298 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 179 und U.-R. Blumenthal 1982, S. 133. 299 Vgl. U.-R. Blumenthal 2001, S. 180 und 290; W. Hartmann 1993, S. 25.

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vertraut ist, und dass mir um deinetwillen von Gott Gewalt gegeben ist zu binden und zu lösen, im Himmel und auf Erden. In dieser festen Zuversicht also, zur Ehre und zum Schutz deiner Kirche, im Namen des allmächtigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, kraft deiner Gewalt und Vollmacht spreche ich König Heinrich, des Kaisers Heinrich Sohn, der sich gegen deine Kirche mit unerhörtem Hochmut erhoben hat, die Herrschaft über Deutschland und Italien ab, und ich löse alle Christen von dem Eid, den sie ihm geleistet haben oder noch leisten werden, und untersage, ihm fortan als König zu dienen. Denn es gebührt sich, dass derjenige, der die Ehre deiner Kirche zu verringern trachtet, selber die Ehre verliert, die er zu besitzen scheint. Und weil er es verschmäht hat, wie ein Christ zu gehorchen, und nicht zu Gott, den er verlassen hat, zurückgekehrt ist, sondern mit Gebannten Gemeinschaft hält, vielerlei Unrecht tut, meine Ermahnungen, die ich um seines Heiles willen an ihn gerichtet habe, verachtet – du bist mein Zeuge –, sich von deiner Kirche trennt und sie zu spalten sucht, darum binde ich als dein Stellvertreter ihn mit der Fessel des Fluchs und binde ihn im Vertrauen auf dich derart, dass alle Völker es wissen und erkennen, dass du Petrus bist und auf deinen Felsen der Sohn des lebendigen Gottes seine Kirche gebaut hat und die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden).300

Die Reaktion des Papstes und ihre Heftigkeit haben eindeutig alle – sowohl die Bischöfe als auch den König – überrascht und bei den episcopi lassen sich erste Zeichen eines Umdenkens beobachten: Sie verlassen den König und suchen den Frieden mit dem Papst.301 Es handelt sich hier keineswegs um einen Verrat, sondern vielleicht um die reformerische Überzeugung, dass der Papst nicht vom König ein- oder abgesetzt werden darf. Nach dem neuen kirchlichen Ethos – wobei die electio canonica (nur der Klerus und das Volk einer Diözese können den Bischof beurteilen) bereits eine normative Voraussetzung war –, war der in kirchliche Belange eingreifende König im Unrecht.302 Offensichtlich hatte Heinrich vergessen, dass viele seiner Bischöfe selbst Reformer waren; er verlor daher ihre Unterstützung. Für die römische Kurie erzielten die Maßnahmen Gregors einen „Volltreffer“.303 In der Lösung der königlichen Untergebenen vom Treueid zeigte sich überhaupt die Stellung der Vertretungsehre gegenüber der feudallaikalen Ehre. Die Treue – Treue-Schwören und Treue-Bewahren – war die Grundlage der sozialen, politischen und symbolischen Integration der frühund hochmittelalterlichen Menschen. Durch die Treueidlösung sprengte Gregor die Fundamente der königlichen Ehrgemeinschaft und machte Heinrich zu einem König ohne Untertanen, sodass er letztlich kein König 300

F.-J. Schmale/I. Schmale-Ott 1974, S. 288/289. Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 134. 302 Vgl. H. Vollrath 1974, S. 11f. 303 Vgl. U.-R. Blumenthal 2001, S. 180. 301

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mehr war. Die Ehre spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: Obwohl die Fürsten des Reiches bereits mit Heinrich unzufrieden waren, zettelten sie nach dem Wormser Reichstag keinen Aufstand wegen der unvernünftigen Absetzung des Papstes an, obgleich es ein guter Vorwand gewesen wäre, den König anzugreifen. Die Ehre erlaubte ihnen nicht, etwas gegen den eigenen Herrn zu unternehmen, solange sie noch an ihren Treueid gebunden waren.304 Sobald sie aber von ihm gelöst wurden und damit die Bestätigung erfolgte, dass der Herrscher unwürdig ist, reagierten sie rasch und stellten den König vor die Entscheidung: Entweder bekommt er vom Papst binnen eines Jahres die Absolution erteilt, oder sie sehen sich gezwungen, einen neuen Souverän zu wählen. Mit diesen, auf der Ehrsemantik beruhenden Folgen hatte Gregor wahrscheinlich gerechnet, denn er berief sich auf seine eigene „Vasallität“ im Verhältnis zu Gott, die von keinem seiner Gegner und überhaupt von niemand auf der Erde gelöst werden konnte. Andererseits wusste er sich den Fürsten anzunähern, indem er ihre Ansprüche, Reichs- und Rechtsgaranten zu sein, anerkannte.305 Die Tatsache, dass der König bzw. Kaiser von den Fürsten (d. h. von irdischen Mächten) abhängig war, bewies seinen Laienstatus; der Papst dagegen konnte von niemandem zur Rechenschaft gezogen werden, daher seine Überlegenheit.306 Die weitere Strategie des Papstes bestand darin, die ungeduldig gewordenen Fürsten im Jahr 1077 bei der Wahl eines Gegenkönigs, Rudolfs von Schwaben, zu unterstützen307. Wir haben es in diesem Zusammenhang mit einer dreifachen Relativierung der Königsidee zu tun: 1. Durch die Treueidlösung hat Heinrich keine Untertanen mehr. 2. Durch die fürstliche Reaktion wird die Abhängigkeit des Königtums von weltlichen Mächten und somit seine Unvollkommenheit zur Schau gestellt. 3. Die Unterstützung eines Gegenkönigs zeigt, dass das Amt des Königs von der päpstlichen Anerkennung abhängig ist. Aus dem Gebet an Petrus wird deutlich, dass sich der Papst aufgrund seines ihm nicht entziehbaren und übernatürlichen Vertretungsamtes – alles auf Erden lösen bzw. binden zu dürfen – als eigentlichen Herrscher der Christen betrachtet.308 Der Anspruch, einen Treueid lösen zu können, basiert aber nicht auf einem spontanen Einfall Gregors, sondern geht auf ein programmatisches Desiderat zurück: Bereits 1075 schrieb Gregor in seinem Dictatus Papae im 304

Vgl. H. Beumann 1973, S. 58. Vgl. F. Kern 1954, S. 158. 306 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 196. 307 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 197. Bereits das altgermanische Recht sah vor, dass die Untertanen in manchen Fällen den König absetzen konnten, meistens eben durch die Wahl eines Gegenkönigs (vgl. F. Kern 1954, S. 147f). 308 Vgl. U.-R. Blumenthal 2001, S. 180. 305

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27. Paragrafen: Quod a fidelitate iniquorum subiectos potest absolvere (Dass er Untergebene von dem Treueid gegenüber Sündern lösen kann).309 Die Vertretungsehre legte auf oboedientia (bedingungslosen Gehorsam) Wert, die Verschwendungsehre in ihrer feudalen Form auf Treue, die die Bedeutung eines Ehrevertrags mit gegenseitiger Verpflichtung hatte.310 Ethisch gesehen handelt es sich bei dem feudalen Treue-Verhältnis um eine lockere Struktur, wobei eine Seite der Willkür der anderen untergeordnet wird und der Vasall dann selbst entscheiden kann, ob ihm die Treueverpflichtung recht oder nicht mehr recht ist. In diesem Kontext ist die päpstliche Entscheidung klug und effizient gewesen.311 Durch seine Vertretungsansprüche wurde Papst Gregor zu einer verfassungsrechtlichen Instanz, denn nur er konnte beurteilen, wann die Könige rechtmäßig oder rechtswidrig handeln.312 Damit kommen wir zu der Bedeutung des Gangs nach Canossa in dem Kampf um die Entfaltung des kirchlichen Vertretungsethos. Die komplizierte politische Lage zwang Heinrich IV., auf den Wunsch der Fürsten zu hören und zu versuchen, die Absolution des Papstes zu erlangen. Noch einmal rief er zu einem Reichstag in Oppenheim auf, war aber nun von allen verlassen: Niemand kam. An dem anderen Ufer des Rheins, in Tribur, waren hingegen sämtliche Fürsten und viele Bischöfe eingetroffen, die ihn unter Druck setzten. Darum sah er sich in dem harten Winter von 1076/77 gezwungen, im Januar zusammen mit seiner Frau und seinem kleinen Kind unter dramatischen Anstrengungen die Alpen zu überqueren313, um den Papst zu treffen. Der Pontifex war bereits zu dem Fürstentag nach Deutschland unterwegs, um dort zusammen mit den anderen einen Gegenkönig zu wählen. Als der Kaiser nach der schweren Reise heil in Norditalien ankam, wurde er von den norditalienischen Herren und Bischöfen begrüßt, die ihm eine Armee gegen den Papst – der in Norditalien nicht beliebt war – zur Verfügung stellten. Der Papst wurde über alles unterrichtet; aus Vorsicht 309

F.-J. Schmale 1978, S. 150/151. Einer der kirchlichen Reformer, Bischof Wazo von Lüttich (†1048) (vgl. zu ihm G. Tellenbach 1936, S. 124), schrieb: „summo pontifici oboedientiam, vobis [dem König] autem debemus fidelitatem“ (zitiert von F. Kern 1954, Anm. 336, S. 157). Bei ihm ist auch das berühmte Argument zu finden, dass die königliche Salbung zum Tode, die bischöfliche aber zum Leben ist, wovon auch die Überlegenheit des sacerdotium über das regnum abzuleiten ist (vgl. H. Hoffmann 1963, S. 183f und U.-R. Blumenthal 1982, S. 99). 311 Vgl. R. Wahl 1977, S. 212ff und T. Struve 1989, S. 109. 312 Vgl. Kern 1954, S. 197. 313 Die moderne Forschung ist allerdings überzeugt, dass die Dramatik dieser Reise in den Berichten (eine Übersetzung dieser Berichte bei K. Langosch 1954, S. 113-129; siehe eine kurze Statistik bei H. Zimmermann 1975, S. 152ff) absichtlich und aus literarischen Gründen übertrieben dargstellt worden ist (vgl. H. Zimmermann 1975, S. 29). 310

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und weil die fürstliche Gefolgschaft, die ihn über die Alpenpässe nach Deutschland begleiten sollte, nicht mehr eintraf, begab er sich zu seiner Sicherheit in die uneinnehmbare Festung Canossa.314 Die Burg gehörte seiner guten Freundin, Mathilde von Tuszien. Allerdings hatte der König keineswegs vor, den Papst anzugreifen und dadurch seine Lage in der aufständischen Heimat noch mehr zu verschlechtern. Heinrich kam daher friedlich und demütig nach Canossa, um Buße zu leisten und die heiß ersehnte Absolution zu bekommen. Sobald er vor der Stadt ankam, sandte Heinrich IV. zuerst seine Boten, um über die Absolution zu verhandeln. Der Papst aber zögerte und ließ sich nicht überreden. In dieser Situation setzte Heinrich den Papst unter Druck, indem der Souverän, ohne dass die Verhandlungen zu einem Resultat gekommen waren, spontan mit der Buße begann315: Im Schnee, barfuß und nur mit einem einfachen Wollgewand bekleidet bat er drei Tage lang (von 25. bis 28. Januar 1077) um die Lossprechung vom Bann. Die Getreuen des Papstes – Mathilde von Tuszien und Abt Hugo von Cluny, der Pate des Königs, der sich ebenfalls zum Glück Heinrichs in Canossa befand – waren beeindruckt und baten den Papst, der wahren Reue des Königs Gehör zu schenken und ihm die Absolution zu erteilen.316 Nach einem inneren Kampf zwischen dem gewissenhaften Priester und dem Politiker317 gewann die geistliche Seite des päpstlichen Charakters und Heinrich wurde endlich vom Anathem losgesprochen. Über die historische und symbolische Bedeutung dieser königlichen Niederlage kam esin der Forschung zu heftigen Auseinandersetzungen. H. Mitteis z. B. meinte, Heinrich „überraschte den Papst auf der Burg Canossa der Markgräfin Mathilde von Tuszien; er besiegte den Politiker, indem er den Priester zwang, seine Buße anzunehmen und ihn loszusprechen. Die Szene von Canossa hat modernen Forschern mehr Eindruck gemacht als den Zeitgenossen, die in der Leistung einer Kirchenbuße nichts Demütigendes 314

Die Burg wurde ungefähr in der Mitte des 10. Jahrhunderts gebaut. Die Geschichte der Burg Canossa ist bei W. v. Den Steinen 1969, S. 70f und H. Zimmermann 1975, S. 31ff nachzulesen. 315 Vgl. W. v. Den Steinen 1969, S. 72. Der Benediktiner Berthold von Reichenau (†1088) berichtet: „Hos confestim es vestigio rex subsecutus, ad usque portam castelli praeceps et adhuc inopinatus [!], et absque responso apostolico eiusque verbo invitatorio, praecipitanter cum suis excommunicatis luctuosus accessit, et pulsando satis, ut ingredi permitteretur, obnixe rogitat“ (zitiert bei H. Zimmermann 1975, Anm. 281, S. 149); dt.: Der König folgte ihnen [seinen Boten] sofort aus dem Ort, wo er sich befand, eilends und noch unvermutet bis zum Tor der Burg und ohne Antwort vom Papst oder ohne jegliche Einladung näherte er sich überstürzt in Trauer zusammen mit seinen Mitexkommunizierten, und durch heftiges Klopfen bat er inständig, dass ihm der Zutritt gestattet werde. 316 Vgl. H. Zimmermann 1975, S. 39. 317 Vgl. R. Wahl 1877, S. 230f.

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sahen“318. Die zahlreichen zeitgenössischen Berichte der Szene widersprechen dieser Aussage: Die Zeugen waren erstaunt von dem Anblick eines barfuß um Vergebung bettelnden Königs. Man geht sogar manchmal so weit, den Canossagang als einen Sieg der politischen Geschicklichkeit des Königs darzustellen.319 Doch besteht der einzige Sieg Heinrichs in diesem Falle darin, dass er nun mit einigen Erfolgsaussichten um den Erhalt seiner gefährdeten Krone kämpfen durfte (!)320, wenn dies überhaupt als „Sieg“ bezeichnet werden darf. Der Triumph indes gehörte dem Papst321: „Er räumte sich damit das Recht ein, sich zum Richter weltlicher Fürsten und weltlicher Belange zu machen“322. Zudem liegt Mitteis völlig falsch mit seiner Behauptung, dass der Papst von der königlichen Buße überrascht worden sei: Gregor hatte ja die ganze Zeit über in seiner Korrespondenz versucht, diese Buße zu erzwingen, und der König seinerseits hatte bereits versprochen, dies zu tun.323 Im Juli 1076 schrieb Gregor z. B. den deutschen Getreuen: „[A]uctoritate beati Petri apostolorum principis monemus vos et ut carissimos fratres rogamus, omnimodo studete illum de manu diaboli eruere et ad veram poenitentiam provocare, ut eum possimus Deo favente ad sinum communis matris nostrae, quam conatus est scindere, fraterna ducti caritate revocare.“324 ([M]it der Ermächtigung des Seligen Petrus, des Fürsten der Apostel, fordern wir Euch auf und bitten Euch, viel geliebte Brüder: Bemüht Euch mit allen Mitteln, diesen [Heinrich IV.] aus der Hand des Teufels zu befreien und ihn zur wahren Buße zu bewegen, so dass wir ihn – mit Gottes Gnade und aus brüderlicher Nächstenliebe – in den Schoß unserer gemeinsamen Mutter bringen können, welche er zu spalten versuchte).

Der Tag, an dem die Buße begann (25. Januar), scheint nicht zufällig gewesen zu sein: Erstens lag der Wormser Reichstag, an dem Heinrich den Papst absetzte, exakt ein Jahr zurück und zweitens hielt die Tradition der Kirche diesen Tag für das Datum der Bekehrung Sauls auf dem Weg nach Damaskus.325 Mit diesem Symbol der deditio will der König seine Bereitschaft zeigen, ein neuer Mensch im Dienste Christi zu werden. Überhaupt ist der gesamte Canossagang ein Bußritual, denn mit Sicherheit stand der König nicht drei Tage ununterbrochen, ohne Essen und Trinken, im Schnee mit einem härenen Bußgewand vor den Toren Canossas: Er hätte es nicht 318

H. Mitteis 1968, S. 197. Vgl. W. Goez 1978, S. 215. Vgl. W. Hartmann 1993, S. 26. 321 Vgl. B. Schmeidler 1927, S. 377. 322 U.-R. Blumenthal 1982, S. 135. 323 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 135. 324 REGISTER IV 1, S. 290, 26-291, 4. 325 Vgl. H. Zimmermann 1975, S. 161ff und G. Althoff 2003, S. 111ff. 319 320

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überleben können. Es handelt sich um eine Reihe von symbolischen Unterwerfungs- und Bußgesten: 1. Die drei Fastentage erinnern an das dreitägige Fasten des Paulus in Damaskus nach seiner Bekehrung (Apg 9, 9). 2. Der Canossagang lässt sich in eine lange Tradition des Büßens von Königen einordnen, wobei die Barfüßigkeit ein zentrales Motiv zur Symbolisierung der Demut ist.326 Dieser Vorgang führte zu einem mentalen Umbruch; das Demutsritual der Barfüßigkeit verlor in diesem Moment seine Funktion als Legitimierung der Herrschaft. Bislang hatte ein Herrscher durch seine ausschließlich Gott erwiesene Demut (humilitas) gezeigt, dass er seinen Status der Gnade Gottes verdankt.327 Damit wurde der gottgewollte Charakter der Herrschaft betont. Nach Canossa war diese Auffassung nicht mehr möglich, denn das Ritual verliert nun seine herrschaftslegitimierenden Eigenschaften; ab jetzt wird es als Anerkennung der Unterlegenheit der königlichen gegenüber der päpstlichen Gewalt angesehen, der Unterlegenheit eines Menschen gegenüber dem anderen – auch wenn er der Stellvertreter Gottes ist.328 Auffälligerweise rühmt sich der Papst nach den Ereignissen von Canossa nicht, König Heinrich erniedrigt zu haben.329 Doch heißt das keineswegs, dass er sich seines Sieges nicht bewusst war; ebenso wusste der König um seine Niederlage.330 Hier ging es um die Ehre der beiden, um die des Vertreters Gottes und die des weltlichen Herrschers. Der Papst stellte Heinrich schwere Rekonziliationsbedingungen331: Der König sollte ihm z. B. Huldigung leisten. Dies hätte aber den Verlust der königlichen Ehre bedeutet. Ehrsemantisch betrachtet macht diese Übertreibung des Papstes Sinn: Er will zeigen, wie groß die Macht des siegreichen Vertreters Gottes ist und wie gering im Vergleich dazu die des anderen. Dieser Handlung liegt die Auffassung zugrunde, dass dem Vertreter Gottes fast alles erlaubt ist – auch zu übertreiben, wenn es ihm beliebt –, da ihn sowieso kein Mensch beurteilen darf. Damit werden die Exzesse der römischen Kurie im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit ideologisch gerechtfertigt. 326

Vgl. H. Zimmermann 1975, S. 163ff. Als alternatives Ritual zur deditio nenne ich hier die prostratio, ebenfalls eine Form der symbolisch-herrschaftlichen Selbstdemütigung (vgl. S. Weinfurter 2005, S. 45). 328 Vgl. G. Althoff 2003, S. 113 und S. 118. 329 Es ist nicht auszuschließen, dass dieses Verhalten des Papstes das Ergebnis der Verhandlungen mit dem König gewesen sein könnte. Es sei hier folgendes Beispiel hinzugefügt: Als Herzog Heinrich von Kärnten (1090-1122) ebenfalls ein Bußritual barfuß und im härenen Gewand vor dem Sieger, dem Bischof Konrad I. von Salzburg (†1147) vollführt, fordert der Herzog, dass die Ritter des Bischofs bei dem Ritual still bleiben, d. h., auf das Siegesgebrüll verzichten, um damit die absolute Erniedrigung des Besiegten zu kaschieren (vgl. S. Weinfurter 2005b, S. 67 und 70). Es scheint mir, dass auch die taktvolle Zurückhaltung Gregors als ein Ritual des Siegers in solchen Auseinandersetzungen zu verstehen ist. 330 Vgl. H. Zimmermann 1975, S. 172f. 331 Vgl. H. Zimmermann 1975, S. 179ff. 327

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Alle Ereignisse von dem Wormser Reichstag bis zu Canossa wurden zum Gegenstand eines heftigen publizistischen Kampfes zwischen Gregorianern und Heinrizianern bzw. „Regalisten“.332 Man stellte sich hauptsächlich die Frage, ob der Papst einen König absetzen und seine Untertanen vom Treueid lösen darf. Die Regalisten verwiesen auf das 13. Kapitel des paulinischen Römerbriefs und behaupteten, dass der Souverän die Gottnatur Christi verkörpere, während die Priester nur die Menschennatur des Heilands symbolisieren. Die Kirche sei Braut des Gott-Christus, nicht des Menschen-Christus.333 Daher sei der König christus Domini (Gesalbter des Herrn) und die Königssalbung ein Sakrament.334 In der Argumentation der Gregorianer spielte die Voraussetzung eine zentrale Rolle, dass die einem weltlichen Herrn geschworene Treue nicht der Treue zu Gott widersprechen darf. Mit eiserner Logik schlugen sie die Antigregorianer: Ein Treueid muss der lex catholica entsprechen. Aber die lex catholica besteht aus den leges ecclesiasticae. Folglich verstößt ein Treueid, der die leges ecclesiasticae verletzt, gegen die lex catholica.335 Aber: catholicus non habeatur, qui non concordat Romanae Ecclesiae336 (Jener ist nicht katholisch, der mit der römischen Kirche nicht übereinstimmt). Urteilsinstanz hinsichtlich der leges ecclsiasticae ist der Papst337, folglich entscheidet er, was katholisch ist und was nicht. Ergo: Solange der König als katholisch gilt, steht er unter dem Urteil des Papstes, und der Papst kann einen Treueid auflösen, wenn er den kirchlichen Gesetzen widerspricht. Auf der päpstlichen Seite zeichneten sich in dieser publizistischen Auseinandersetzung z. B. Manegold von Lautenbach († ca. 1104)338 oder der Salzburger Bischof Gebhard (†1088) aus, während sich für das Recht des Königs u. a. der italienische Jurist Petrus Crassus einsetzte.

332 Man konnte 65 Schriften der Gregorianer und 50 der Antigregorianer identifizieren (vgl. C. Mirbt 1894, S. 93f). Die meisten davon sind anonym, d. h., die Menschen hatten Angst, sich offen zu äußern (vgl. C. Mirbt 1894, S. 88f). Die Forschung zeigt, dass der publizistische Elan der Gregorianer dem der Regalisten weit überlegen war (vgl. C. Erdmann 1936, S. 512). 333 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 177. 334 Vgl. T. Struve 1989, S. 110f. 335 Vgl. C. Mirbt 1894, S. 230 und K. Langosch 1954, S. 22f und 60f. 336 Behauptete Gregor VII. in seinem Dictatus Papae (F.-J. Schmale 1978, S. 150/151). 337 Vgl. F. Kern 1954, S. 197. 338 Vgl. T. Struve 1989, S. 122ff.

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Manegold zeigte nach germanischem Recht339, dass das Amt und die Person des Königs zwei verschiedene Dinge sind.340 Man schulde dem Amt, nicht einer Person Treue. Nach ihm ist der Treueid ein Versprechen zum Schutz der Regierung, des Rechtes und des Friedens. Er ist nur soweit gültig, wie der Empfänger des Eides rechtmäßig im Besitz der Regierungsgewalt ist. Aber rechtmäßig ist, was sich nach der lex catholica richtet. Der Papst hatte folglich entschieden, dass Heinrich (durch den Bann) kein Katholik mehr ist, also nicht rechtmäßig regiert.341 Daher ist auch die Absetzung und die Lösung seiner Untertanen vom Treueid rechtmäßig. Der in Ravenna lebende Jurist Petrus Crassus führte gegen all diese Behauptungen der Gregorianer eine Fülle von klassischen Argumenten des ius romanum an. Er verfasste ein systematisches Werk namens Defensio Heinrici IV. regis (ca. 1080).342 Mit Hilfe des römischen Rechts versucht er zu beweisen, dass die Absetzung Heinrichs unrechtmäßig sei und der Papst nicht die Befugnis dazu habe. Crassus kann wahrlich als fortschrittlich gelten: Er gehörte zu den ersten, die die königliche Gewalt aus der religiösen Sphäre auszugliedern und die öffentliche Gewalt des Staates von kirchlichen Bestimmungen zu befreien versuchten.343 Dieser Gedanke konnte erst viel später in der Aufklärung durchgesetzt werden, weswegen Crassus in seiner Zeit unverstanden und sein Werk unbekannt blieb. Im Investiturstreit vermochte er trotz seiner guten Absichten nicht, seinem König Hilfe zu leisten, sondern er bereitete ihm nur Schwierigkeiten: Er hatte nicht verstanden, dass es sich in der Auseinandersetzung um eine theokratische Souveränitätsform ging, die entweder vom Papst oder vom König ausgeübt werden sollte. Deshalb war Heinrich nicht daran interessiert, dass das Königtum von der sakralen Sphäre unabhängig wird, da genau dies seine theokratischen Ansprüche zunichte machte, die Christenheit und die Kirche in (!) der Kirche im Namen Gottes und aus der gratia Dei zu regieren. Der grundsätzliche Fehler Petrus Crassus’ ist, dass er – unter dem Einfluss des römischen Rechtes – beide, Papst und König, unter das Gesetz stellte. Der König ist der Wächter des Gesetzes: Sic quoque sine legibus apte regna gubernari nullatenus posse (Dass ohne Gesetze Reiche überhaupt nicht regiert werden können); und: Et quia leges, 339 Vgl. F. Kern 1954, S. 241. Nach der „Vertragstheorie“ beruhen Treue und Gefolgschaft auf einem Vertrag nach dem Prinzip Leistung-Gegenleistung. Eine der königlichen Leistungen ist die Friedenswahrung. Heinrich gelang dies jedoch nicht und seine falsche Politik führte zur Spaltung des Reiches. Er hatte versagt und die Untergebenen schuldeten ihm keine Treue und Gefolgschaft mehr. Das ist das Argument Manegolds (vgl. T. Struve 1989, S. 126). 340 Vgl. C. Mirbt 1894, S. 227. 341 Vgl. C. Mirbt 1894, S. 230f. 342 Vgl. I. Schmale-Ott 1984, S. 20f. 343 Vgl. I. Schmale-Ott 1984, S. 24.

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per quas imperatores et reges iniquitatem malorum hominum compescere debent (Aber weil die Gesetze, durch die Kaiser und Könige die Bosheit schlechter Menschen in Schranken halten müssen).344 In dieser Liebe zur Allmächtigkeit des Gesetzes verrät Crassus denjenigen Legalismus, auf den die dritte Funktion so viel Wert legte.345 Diesbezüglich vertraten die anderen Funktionen einen abweichenden Standpunkt: Die Krieger erkannten kein öffentliches Gesetz an, sondern proklamierten die „absolute“ verschwenderische Freiheit, während die Vertreter Gottes die Gesetze schufen. Deswegen konnte Crassus Heinrich nicht helfen: Solange der König selbst unter dem Gesetz steht, hat er keine Macht, denn die Macht ist in dem Gesetz. Gregor verstand diese Tatsache, weswegen er in einem Punkt (VII) des Dictatus Papae behauptete: Quod illi soli licet pro temporis necessitate novas leges condere (Dass es allein ihm [dem römischen Bischof] erlaubt ist, entsprechend den Erfordernissen der Zeit neue Gesetze aufzustellen).346 Macht hat derjenige, der Gesetze gibt, nicht jener, der sie erfüllt. Schließlich hatte die Glaubwürdigkeit von Crassus unter seinem Merkantilismus zu leiden. In einer Zeit, in der die Hilfe für den König mit Ehre belohnt wurde, stellt er am Schluss seiner Schrift finanzielle Forderungen: „Vivat et regnet populos regnumque gubernet! / Spes nostrae vitae, nos vestra donamina ditent!“ (Er lebe und herrsche über die Völker und lenke das Reich! / Hoffnung unseres Lebens, Eure Gaben mögen uns bereichern).

Oder: „Mementote servitii, / sed Petri fidelissimi, / ut loco summis divitis / Crassum ponatis perpetim.“ (Gedenkt des Dienstes / des allergetreuesten Petrus, / um an die Stelle des Allerreichsten / unaufhörlich Crassus zu setzen).347

Eine wichtige Strategie des Papsttums in dem Kampf um die Überlegenheit seiner Ehre als Vertreter Gottes ist die Desakralisierung des Königtums in ihrer extremen Form – der Satanisierung.348 In der Korrespondenz von Papst Gregor VII. wird gezeigt, dass die weltlichen Herrscher, die ihre eigene Ehre zum Ziel haben – eine Verschwendungsehre (!) – nichts anderes als membra Antichristi seien. Denn die Form der Ehre, die in den Augen des Papstes Gültigkeit besitzt, ist nicht die kriegerische, sondern die theozentrische Ehre, die sich auf Gott stützt und ihn zum Ziel hat. Solange der Papst der Vertreter Gottes ist, können alle, die ihm widerstehen, nur 344

Beide bei I. Schmale-Ott 1984, S. 188/189. Siehe oben S. 90 und S. 119. 346 F.-J. Schmale 1978, S. 148/149. 347 Beides bei I. Schmale-Ott 1984, S. 238/239. 348 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 130. 345

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satanas sein, wie es auch der etymologischen Bedeutung des Wortes entspricht.349 Nur der Papst allein (manchmal auch die Bischöfe unter seiner Führung) kann mit Gottes wunderbarer Kraft, die ihm innewohnt, wissen, wo der Widersacher erscheint. In den Dicta Anselmi wird folgende Anekdote350 erzählt: Die Familien zweier befreundeter französischer Adliger (proceres regni Francorum), Walters und Rogers, zerstreiten sich (cum suis familiis militiam ludendo exercerent), da Roger bei einem Unfall Walters Sohn tötet (Rogerius filium Walteri casu interficeret). Roger bereut dies (vero penitens sui facti) und versucht sich zu versöhnen (satisfactionem offerebat), aber der wütende (furibundus) Vater lehnt es ab. Walter reist als Pilger nach Rom und kurze Zeit darauf folgt ihm Roger nach. Mit dem schlechten Gewissen, das er wegen seiner Tat hat, geht Roger zu einer Audienz bei dem Papst Gregor Hildebrand und erzählt ihm das ganze Geschehen. Gregor versucht, zwischen den beiden zu vermitteln, Walter jedoch widerspricht sogar dem Papst (Vae mihi, vae mihi misero – klagt er – de morte filii mei me precantur, de morte filii mei me precantur) und fordert stur seine Rache. Diese Hartnäckigkeit aber überrascht den Vertreter Gottes nicht, da er auf wunderbare Weise gesehen hatte, wie sich ein Dämon auf Walters Kopf und Nacken zusammenrollte (Daemonium amplexus caput eius et collum, divaricatis cruribus sibi super scapulas sedebat) und die Gedanken des armen Menschen beherrschte. Erst in dem Moment, als Walter davon unterrichtet wird, dass der Papst auf seinen Schultern Satan geblickt habe, sieht er seine Gottlosigkeit und seine Fehler ein und lässt sich mit Roger versöhnen.351 Die Moral der Geschichte ist klar: Wir haben es mit einem Mechanismus der Satanisierung zu tun, indem alle, die in irgendeiner Form gegen den Papst agieren, als Werkzeuge des Teufels dargestellt werden. Durch solche miracula erweist der Papst seine Fähigkeit, physisch Satan zu sehen, und ist so der einzige Mensch (neben manchen Heiligen und Märtyrern), der genau weiß, was gut ist und welcher Mensch Christus oder Satan gehorcht. Damit besitzt der Papst eine äußerst wirksame propagandistische Waffe. In unserem Fall stellt die kriegerische Ehre, die Rache fordert, keine Lösung mehr dar; allein jene Handlungen, die von dem Vertreter Gottes als gut verkündet werden, bilden die anerkannte Ehreform. Im Hinblick auf das Königtum entfaltet sich der Satanisierungsdiskurs in zwei Etappen: Zuerst wird die Person des Königs entsakralisiert und damit laisiert.352 Dann wird er als membrum satanae stigmatisiert353, welches nur 349

Vgl. T. Struve 2002, S. 215ff. Siehe in der Edition von F. S. Schmitt 1956, S. 14-15. 351 Vgl. auch A. Stacpoole 1967, S. 359f. 352 Im Frühmittelalter galt die Person des fränkischen Königs als heilig. 353 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 192. 350

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das Werk seines „Herrn“ vollbringt. „Man vergleicht die geistliche und weltliche Gewalt mit Seele und Leib, Himmel und Erde, Gold und Blei, Sonne und Mond; man weist dadurch die inhaltliche Geringwertigkeit [!] des Königsamtes nach. Aber man begnügt sich nicht damit und greift den sakralen Charakter des Königtums, der doch immer das Fundament seiner Welt- und Kirchenherrschaft gebildet hatte, mit radikaler Entschiedenheit an“354. „Reges quidem et principes huius seculi, qui honorem suum et lucra temporalia iustitiae Dei preponunt eiusque honorem neglegendo proprium querunt, cuius sint membra cuive adhereant, vestra non ignorat caritas. Nam sicut illi, qui omni suae voluntati Deum preponunt eiusque precepto plus quam hominibus oboediunt, membra sunt Christi, ita et illi, de quibus supra diximus membra sunt antichristi.“355 (Denn, wie Eure Barmherzigkeit wohl weiß, die Könige und die Fürsten dieser Welt, die ihre eigene Ehre und ihren vergänglichen Reichtum der Gerechtigkeit Gottes vorziehen und seine Ehre missachten, während sie um ihre eigene eifern, sind dessen Glieder, an dem sie hängen. Denn so wie jene, die Gott ihrem ganzen Willen vorziehen und seinem Gebot mehr als den Menschen gehorchen, Glieder Christi sind, so sind diejenigen, über die wir vorhin gesprochen haben, Glieder Antichristi).

Das schrieb Papst Gregor VII. 1076 in dem bereits zitierten Brief an Hermann von Metz. Auch die Regalisten waren sich wohl dessen bewusst, dass die Satanisierung des Gegners eine effiziente strategie ist. Petrus Crassus sagte über den Papst: hic [Gregor] qui est de synagoga Sathanae monachus (Mönch der Synagoge Satans).356 Der Satanisierungsdiskurs der Heinrizianer bleibt aber in der religiös geprägten Gesellschaft jener Zeiten ohne Überzeugungskraft. Um die Überlegenheit der Vertreter Gottes aufzuzeigen, zieht Gregor einen Exorzisten zum Vergleich heran: Der Exorzist befindet sich auf einer niederen Stufe der kirchlichen Hierarchie, aber durch die von Gott verliehene Macht kann er die Dämonen bezwingen und vertreiben. Da die weltlichen Könige dagegen als membra daemonum gelten, steht der Exorzist daher über ihnen; umso mehr der Papst und die anderen Geistlichen.357 Die Voraussetzungen eines authentischen Christseins sind für Gregor: 1. Die wahre Liebe zur Gott (dilectio), welche sich auch in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung äußert. 2. Die wahre Freiheit 354

G. Tellenbach 1936, S. 175-176. REGISTER IV 2, S. 295, 10-17. Eigene Übersetzung, vgl. auch die Übersetzung von F.-J. Schmale 1978, S. 226/227. 356 I. Schmale-Ott 1984, c.1, S. 174/175. 357 „Porro autem exorcistae, ut diximus, super demones a Deo imperium habent; quanto igitur magis super eos, qui demonibus subiecti et membra sunt demonum. Si ergo his tantum preminent exorciste, quantius amplius sacerdotes“ (REGISTER VIII 21, S. 556, 5-9). Vgl. auch E. Caspar 1924, S. 18. 355

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(libertas), die durch die wahre ewige Liebe entsteht. Wahre Freiheit bedeutet, sich den vergänglichen irdischen Dingen durch Askese zu entziehen. 3. Die Gerechtigkeit (iustitia), welche die Krönung der Liebe und der Freiheit vom Säkularen ist. Wo eine dieser drei Tugenden fehlt, da ist der Teufel. Ergo: 1. Alle Könige und Laien, welche ihre Seelen an vergänglichen Ruhm und kriegerische Ehre binden und deshalb nicht in wahrer Liebe und Freiheit leben358, sind satanisch. 2. Auch die simonistischen und klerogamen Geistlichen, die das Geld, die leibliche Liebe (crimen fornicationis) usw. vorziehen, sind des Teufels.359 Hier werden die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale der Vertretungsehre – der Ehre der Geistlichkeit – gegenüber den zwei anderen gesellschaftlichen Kategorien des Mittelalters deutlich. Aus dieser Ehrsemantik, Stellvertreter Gottes auf der Erde zu sein, entwickelte360 sich in der „neuen“ Kirche ein doppelter Primat, ein interner und ein externer. Die gesamte Konstruktion des Kirchencorpus stellte sich als pyramidale Einheit mit dem Papst an der Spitze der Welt vor, dieser hatte also Gewalt sowohl in geistlichen als auch in weltlich-politischen Angelegenheiten. Der innere Primat war mit dem Anspruch verbunden, dass der römische Bischof über allen Bischöfen der abendländischen Kirche361, über allen Ostkirchen362 und auch über der Macht der Konzilien und Kanones steht.363 Über die katholischen Bischöfe heißt es in dem Dictatus Papae (IV): Quod legatus eius omnibus episcopis presit in concilio etiam inferioris gradus et adversus eos sententiam depositionis possit dare (Dass sein Legat den Vorrang auf einem Konzil vor allen Bischöfen hat, auch wenn er einen niedrigeren Weihegrad hat, und dass er gegen sie ein Absetzungsurteil fällen kann).364 Schon in der Kirche des 4. Jahrhunderts zog man den Vers (ganz zu schweigen von dem klassischen Mt 16, 19) 1. Korinther 2, 15 heran: Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird 358 Vgl. F.-J. Schmale 1978, S. 203-205: „[P]aterna te caritate monemus, ut Christi supra te imperium recognoscens honorem tuum eius honore preponere quam sit periculosum“ ([E]rmahnen wir Dich in väterlicher Liebe, die Herrschaft Christi über Dich anzuerkennen und zu bedenken, wie gefährlich es ist, Deine Ehre seiner Ehre voranzustellen) – aus einem Brief Gregors VII. an König Heinrich IV. 359 Alles ist hervorragend beschrieben bei A. Nietschke 1956, S. 140ff, S. 217 und passim. 360 Die Geschichte des Primats beginnt bereits in der Frühkirche. Eine Darstellung dieser Entwicklung findet sich bei J. Laudage 1993, S. 76ff. Die Primatslehre hat ihre Wurzel in dem Werk Tertullians, aber die Bezeichnung primatus sedis apostolicae taucht erst viel später (5. Jh.) in Dokumenten auf (vgl. E. Caspar 1927, S. 72f). 361 Vgl. U.-R. Blumenthal 2001, S. 220ff. 362 Vgl. U.-R. Blumenthal 2001, S. 225ff. 363 Die Kanones erhalten ihren normativen Wert nur in Verbindung mit der päpstlichen Autorität (vgl. Dictatus Papae, passim und J. Laudage 1993, S. 97). 364 F.-J. Schmale 1978, S. 148/149.

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doch selber von niemandem beurteilt. Obwohl der Text einen epistemologischen Sinn hat, wurde er als biblischer Beleg für die Primatslehre verwendet.365 Der äußere Primat beanspruchte für den vicarius Sancti Petri im Kampf mit dem regnum die Weltherrschaft.366 Bereits in der karolingischen Zeit behauptete man, dass die geistliche Würde größer als die königliche sei, da der Papst den König salbt, der König den Papst hingegen nicht.367 Daher ist jener größer, der salbt, als der, der die Salbung empfängt. Bischof Hinkmar von Reims (†882) meinte in dieser Hinsicht: „Et tanto est dignitas pontificum major quam regum, quia reges in culmen regium sacrantur a pontificibus, pontifices autem a regibus consecrari non possunt.“368

Es wäre falsch zu behaupten, dass die Primatslehre den weltlichen Fürsten jede raison d’être abspreche. Für Gregor VII. brauchten sich z. B. Fürsten und Priester gegenseitig, denn die Fürsten wurden zur Verteidigung der christlichen Herde benötigt. Deswegen wurden sie von dem Reformpapst mit Schäferhunden verglichen, welche die Aufgabe haben, die Schafe zu schützen. Sie selbst aber standen natürlich unter der Autorität des Hirten.369 Obwohl zum Vertretungsethos der Kirche im 11. Jahrhundert eine Elitenbildung und Absonderung von den üblichen sozialen, kulturellen und symbolischen Strukturen des vom verschwenderischen Kriegsethos geprägten Mittelalters gehörte, soll das nicht so verstanden werden, dass die Kirche zu einer metakulturellen Einrichtung würde. Nein, die Kirche wollte sich nicht abtrennen, sondern wollte die Welt in (!) der Welt für die Menschen im Namen Christi regieren. Da sie den Anspruch auf politische Herrschaft erhob und da zu jener Zeit politische Macht ausschließlich auf Feudalstrukturen beruhte, bildete selbst der kirchliche Organismus keine Ausnahme von dieser Gegebenheit. Sogar Papst Gregor VII., der von der Schlechtigkeit der weltlichen Herrschaft derart überzeugt war, dass er die weltlichen Machthaber mit Satan assoziierte, konnte die Machtbasis für seine Primatsansprüche nur durch ein Netz von Lehnsbeziehungen aufbauen.370 Der Unterschied zu den normalen politischen und sozialen Strukturen seiner Zeit aber war – und das zeigt, welch große Bedeutung die Vertretungssemantik für ihn hatte –, dass er nicht sich selbst als Lehnsherrn 365 Vgl. A. M. Koeniger 1922, S. 279f. Es gibt seit dem 6. Jahrhundert einen Kanon, der behauptet, dass der Papst niemandem Rechenschaft schuldig sei (vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 100). 366 „Eine zentralistische Monarchie des Papsttums“ (W. Schwarz 1923, S. 256). 367 Vgl. J. Funkenstein 1968, S. 13. 368 PL 125, S. 1071C. 369 Vgl. A. Nitschke 1956, S. 192. 370 Vgl. G. Tellenbach 1936, S. 186 und H. Mitteis 1968, S. 191.

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vorschlug, sondern den Fürsten der Apostel371, implizit Christus. Er wollte auf diese Weise eine weltliche Monarchie Gottes errichten, die von Christi Stellvertreter in seinem Namen verwaltet werden sollte. Dafür fand das Papsttum wichtige militärische Unterstützung bei den Normannen, die in Süditalien siedelten. Papst Nikolaus II. schloss bereits 1059 in Melfi einen Friedensvertrag mit ihnen, wobei die Normannen theoretisch den Heiligen Petrus als Lehnsherrn anerkannten, praktisch allerdings unter dem Befehl des Papstes standen.372 Dieselbe Anschauung wird auch unter Gregor VII. fortleben, der sich mit dem Normannen Robert Guiscard (†1085) nach einem Streit versöhnt und einen Friedensvertrag mit ihm schließt (1080), in welchem Guiscard Petrus als Lehnsherrn anerkennt373 und sich ad tenendum adquirendum et defendendum Regalia sancti Petri [...] contra omnes homines374 verpflichtet. Mehr noch, in vielen Briefen rät Gregor, dass alle christlichen Fürsten Petrus Treue schwören sollten.375 Wie man weiß, fand der zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. entbrannte Konflikt zeit ihres Lebens kein Ende. Er verlor immer mehr an Aktualität und wurde zu einer politischen Routine, wobei die Verhandlungen und die Kompromisse der Parteien eine immer wichtigere Rolle spielten. Die „postgregorianischen“ Päpste, die an der Auseinandersetzung zwischen regnum und sacerdotium beteiligt waren und welche den Investiturstreit fortführten, sind: 1. Viktor III. (†1087), der keine wichtige Gestalt im Investiturstreit war und ein einziges Jahr regierte. 2. Urban II. (†1099), ein ehemaliger Prior von Cluny, der ein geschickter Politiker und Führer war. In der Frage der Investitur lehnte er prinzipiell die Einmischung der Laien in die Belange der Kirche ab; er wich aber auch von der unflexiblen Linie seines Vorgängers ab und ging Kompromisse ein.376 3. Paschalis II. (†1118), unter dem die ersten Ergebnisse auf dem Weg zu einer Lösung des Investiturstreits sichtbar wurden.377 4. Calixtus II. (†1124), unter dem das Wormser Konkordat mit dem von den Fürsten bedrängten378 371 A. Michel meint, diese Idee stamme von Humbert von Silva Candida (vgl. A. Michel 1947, S. 73). 372 Vgl. W. Hartmann 1993, S. 18. 373 Vgl. K. Jordan 1932, S. 72. 374 REGISTER, VIII 1a, S. 515, 1-2 (siehe auch VIII 1b und VIII 1c). 375 Vgl. R. Wahl 1977, S. 146. 376 Vgl. J. Laudage 1993, S. 45f. 377 Vgl. die Konkordate mit den Königen von Frankreich bzw. von England, welche auf die Investitur der Bischöfe mit Ring und Stab verzichteten, aber für die Nutzungsrechte der kirchlichen temporalia einen Treueid bekamen (vgl. A. Hofmeister 1915, Anm. 1, S. 82 und J. Laudage 1993, S. 50). Damit werden die spiritualia von den temporalia endgültig getrennt, und die königliche Herrschaft wird unwiderruflich laisiert (vgl. A. Hofmeister 1915, S. 86 und H. Mitteis 1968, S. 200). 378 Vgl. A. Hofmeister 1915, S. 86.

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Heinrich V. (†1125) endlich geschlossen und somit dem Investiturstreit ein Ende gesetzt wurde.379 Dabei wurde dem deutschen König nicht länger das Recht zuerkannt, Bischöfe zu ernennen und sie auch mit Ring und Stab zu investieren. Der König reichte dem neu gewählten Bischof lediglich ein Zepter als Symbol der temporalia.380 Die wichtigste Konsequenz des Investiturstreites ist nicht die Theorie, dass das Weltliche dem Geistlichen unterstehe, sondern dass jene Theorie in die Praxis umgesetzt wurde.381 Damit konkretisiert sich der ganze Prozess der kirchlichen Emanzipation und Kastenbildung: Die Kirche bekommt außergewöhnliche Macht, da sie der Vertreter Gottes ist. Dies wird durch spezifische Handlungen ausgedrückt, die zu einer Absonderung von den anderen sozialen Schichten führen: Freiheit von jedem weltlichen Eingriff (Cluny, Investitur), Kampf gegen Simonie (kaufmännische Mentalität in dem übermateriellen Ethos der Kirche bzw. Verletzung der Ehre Gottes durch die Besudelung seiner jungfräulichen Braut, der Kirche) und Klerogamie (Verletzung der Ehre Gottes durch die unreinen Hände und Seelen der mit gemeinen Frauen vermählten Priester). Im mittelalterlichen Abendland sollten diese aggressiven Zentralisierungsbestrebungen des Reformpapsttums einige Besorgnis bei den säkularen Herrschern erwecken, die die Nationalidee auch als Gegenpol zu den universalistischen Herrschaftsansprüchen der Kirche hervorbrachten.382 Es ist ebenso bemerkenswert, dass sich die Mentalitäten im Investiturstreit in dem von mir im ersten Teil skizzierten Rahmen der indoeuropäischen Anschauungen bewegen. Das Investiturproblem ergibt sich, weil der König im früheren Mittelalter in seiner Person beide Aspekte der Herrschaft kumulierte383 (siehe oben 1.3.5 „Die funktionale Ehre“), den mitraischen (Ordnung, Gesetzgebung, Religion) und den varunaischen (Ordnung-Bewahren, dunkle, gewaltsame magische Seite der Herrschaft). Diese Tatsache wurde von der Kirche in ein christliches Gewand gehüllt: Solus enim Dominus noster Jesus Christus vere fieri potuit rex et sacerdos (Denn unser Herr Jesus Christus allein konnte wahrhaft sowohl rex als auch 379 Man zweifelt daran, ob das Wormser Konkordat wirklich ein allgemein gültiger Vertrag war oder ob es sich nur direkt auf Papst Calixt II. und Heinrich V. bezog (vgl. A. Hofmeister 1915, S. 116). Man vermutet, dass es sich um eine provisorische Lösung handelte (vgl. J. Laudage 1993, S. 58). 380 Das Konkordat besteht aus zwei Teilen: einem vom Papst unterschriebenen Teil – dem Calixtinum – und einem zweiten Teil der königlichen Seite – dem Heinricianum. Der Sieg der Kirche ist nur partiell, da der Kaiser als Repräsentant der weltlichen Ordnung der Wahl eines Bischofs weiterhin beiwohnen durfte und so durch seine einfache Anwesenheit Druck auf die Wähler ausübte (vgl. A. Hofmeister 1915, S. 88). 381 Vgl. H. Hoffmann 1963, S. 199. 382 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 192. 383 Vgl. U.-R. Blumenthal 1982, S. 48.

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sacerdos sein).384 Mit anderen Worten sollte bei den Menschen die Herrschaft durch zwei Instanzen mit komplementären Funktionen ausgeübt werden: Die Kirche sollte sich durch ihr priesterliches officium um die Harmonie der Gesellschaft, um die Entstehung/Erhaltung der Ordnung und um die Umgestaltung dieser Welt in das irdische Gottesreich kümmern. Der König sollte die andere Herrschaftsfunktion erfüllen, die der Sicherheit und der Verteidigung der Gesellschaft und des Reiches Gottes.385 Karl der Große meinte 796 in einem Brief an Papst Leo III. (†816): „Nostrum est: [...] sanctam undique Christi ecclesiam ab incursu paganorum et ab infidelium devastatione armis defendere foris, et intus catholicae fidei agnitione munire.“386 (Unsere Aufgabe ist: [...] die heilige Kirche Christi von allen Seiten gegen den Ansturm der Heiden und vor der Verwüstung der Ungläubigen durch Waffen nach außen zu verteidigen und im Inneren durch die Erkenntnis des katholischen Glaubens zu sichern).

Von diesem Komplementärmodell weicht aber auch das Reformpapsttum ab, das wie das damalige Königtum sowohl die religiöse als auch die irdische Gewalt allein auszuüben beanspruchte: Quod solus possit uti imperialibus insigniis (Dass er allein die kaiserlichen Herrschaftszeichen verwenden kann)387, behauptete Gregor VII. in seinem Dictatus Papae. Doch das hat anscheinend nicht funktioniert. Die zwei Aspekte gehörten zusammen, aber nicht in einer einzigen Person. Für die Zeitgenossen des Streites war diese Spaltung zwischen regnum und sacerdotium Furcht erregend, und nicht wenige dachten an den Zusammenbruch der Welt.388 Damit wird deutlich, wie stark die Europäer unter dem Einfluss uralter Herrschaftsvorstellungen standen, sodass deren Störung Angst, manchmal sogar Panik, hervorrief. Daher es ist kein Zufall, dass der Konflikt im Wormser Konkordat mittels der Zwei-Schwerter-Lehre gelöst wurde. Diese Lehre interpretiert die Verse von Lukas 22, 38 im Sinne der beiden Gewalten, der königlichen und der spirituellen, die die Welt, sich gegenseitig helfend, beherrschen sollten. Diese politische Theologie erreicht ihren Höhepunkt in der Schule von Chartres, die den beiden Protagonisten des

384

Bei Hincmar von Reims, PL 125, S. 1071 B. Bei den Gothen, welche wichtige indoeuropäische Anschauungen bewahrten, galt es z. B. bis in das 7. Jh. als „Unding“, die Funktion des Königs und des Priesters in einer Gestalt zu vereinigen (vgl. F. Kern 1915, S. 2). 385 Vgl. PL 125, S. 1071B. 386 Zitiert bei B. Szabó-Bechstein 1985, Anm. 171, S. 59. Vgl. A. Brackmann 1928/1929, S. 35f und A. Angenendt 1973, S. 158. 387 F.-J. Schmale 1978, S. 148/149. 388 Vgl. T. Struve 2002, S. 207.

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Wormser Konkordats durch ihre Gelehrten Ratschläge erteilte.389 Allerdings ist es falsch zu glauben, dass dies eine „Erfindung“ des Mittelalters sei.390 Es handelt sich um die Manifestationen uralter Mentalitäten, und es ist bedauerlich, dass sich die Mediävistik dieser Tatsache gar nicht bewusst ist und die Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten der Herrschaft als im Mittelalter entstandene Theorie darstellt. Hauptergebnis dieses Kapitels ist, dass der Investiturstreit einen wesentlichen Beitrag zum allgemeinen Prozess der Bildung eines Vertretungsethos leistete. Wir haben gesehen, wie der libertas-Vorgang des einzigartigen Falls Cluny zu einem allgemeinen Prinzip der kirchlichen Freiheit von jeder laikalen Einmischung erhoben wurde. Dafür brauchte man aber eine Persönlichkeit von der Kraft Gregors VII.391 Ohne ihn hätte sich die kirchliche Reform weiterhin in Mittelmäßigkeit dahingeschleppt und nie das Stadium isolierter Prozesse überschritten.392 Nach Gregor ist die Kirche selbstbewusster – ja arroganter – und an der politischen Macht beteiligt. Den Höhepunkt ihrer Präeminenz konnte sie unter Papst Innozenz III. (†1216) erreichen393, der sich als vicarius Dei bezeichnete394 und sich die Tiara als Symbol seiner Macht auf den Kopf setzte.395 Auf der anderen Seite habe ich ebenfalls gezeigt, wie das Vertretungsethos wichtige Merkmale des Verschwendungsethos übernimmt, indem es seine Macht auf ein Netz von 389 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 200. Ivo von Chartres (†1116) z. B. lehnt in seiner ZweiSchwerter-Theorie die Investitur durch den König nicht prinzipiell ab. Er geht von der einfachen Voraussetzung aus, dass der König überhaupt keine geistliche Gewalt habe, daher auch nichts Geistliches übergeben kann. Deshalb sollte die Investitur keinen Konflikt auslösen: Die Investiturzeremonie ist nichts anderes als eine concessio der irdischen temporalia (Kirchenbesitz) ohne „jede sakramentale Bedeutung“ (J. Laudage 1993, S. 49). Diese Anschauung ebnete den Weg zu dem Kompromiss des Wormser Konkordats. 390 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 190. 391 Vgl. E. Caspar 1924, S. 28. 392 Vgl. R. Schieffer 1978, S. 106. 393 Seine Primatstheorie fußte auf der enigmatischen Person des biblischen Melchisedech. Der Papst ist wie Christus rex et sacerdos, aber Christus selbst hatte als Vorgänger den biblischen Priester-König Melchisedech (Gen 14, 15-24). Die Überlegenheit Melchisedech über Abraham entspreche der des Papstes über den König: „Dignior autem est qui decimas recipit quam qui decimas tribuit, et minor qui benedicitur qua mille qui benedicit“ (Würdiger ist aber jener, der den Zehnten bekommt, als derjenige, der den Zehnten zahlt, und kleiner ist jener, der gesegnet wird, als derjenige, der segnet) (PL 216, S. 1012C). Der Segen des Papstes bzw. die Taufe galt beispielsweise im Frühmittelalter als höchste Legitimierung für die halbheidnischen Herrscher (vgl. A. Angenendt 1973, S. 148). Zu anderen Ansätze alttestamentlicher Typologie in der Publizistik des Investiturstreits siehe J. Funkenstein 1938. 394 Vor ihm verwendeten die Päpste nur die Benennung vicarius beati Petri (vgl. K. Jordan 1932, S. 91). 395 Vgl. H. Fuhrmann 1985, S. 108f.

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Lehnsbeziehungen gründet, und wie es sich zu feudalen Strukturen verhält, was zur Nuancierung des Phänomens und zur Bewahrung seiner eigenen Individualität in dem allgemeinen geschichtlichen Geschehen des 10. bis 11. Jahrhunderts führen sollte. Häufig habe ich bereits angemerkt, dass Cluny und der Investiturstreit Folgen für die inneren Strukturen der Kirche und auch für ihre Stellung auf der gesellschaftlichen Bühne haben. Welche sozialen Konsequenzen die kirchliche Emanzipation hat, wobei die alten Verhältnisse umgestaltet werden und bislang unterdrückte Kategorien ihre Präsenz, Bedeutung und schließlich ihr Streben nach Ehre immer deutlicher machen, zeigt sich in der Gottesfriedensbewegung. Auf Basis desselben Vertretungsdiskurses begründen die Bischöfe ihre Vorrangansprüche durch die biblische Tugend der Verantwortung für die Schwachen, die ihre Ehre – d. h. ihr Eigentum, ihre körperliche Integrität und ihre Familie – nicht selbst schützen können. Zum ersten Mal spielten im Deutschen Reich die einfachen Menschen während des Investiturstreits eine gewisse Rolle in der Geschichte, wie es die Publizistik dieser Zeit beweist. Beide Parteien gedachten ihren Erfolg durch die Gunst der öffentlichen Meinung zu erreichen.396 Der Gottesfrieden im Westfrankenreich ist ein weiteres und deutlicheres Beispiel für die Bildung einer öffentlichen Meinung, durch die sich das Volk Gehör bei den optimates verschaffte.

396

Vgl. C. Erdmann 1936, S. 491.

Ehrkonstrukte im Gottesfrieden Motto: „[C]or populi valde expavit, et omnes clamaverunt dicentes: Sic extinguat Deus laetitiam eorum, qui pacem et justitiam suscipere nolunt“ (aus einem Protokoll des Konzils Limoges II – um 1031) „Eine Botschaft von Ba’alu, dem Mächtigen, / Ein Wort der Erhabensten unter den Helden: / Lehne ab den Krieg auf der Erde, / lege Liebe in die Erde, / gieße Frieden in das Innere der Erde, / Liebe in das Innere der Felder.“1

Ba’alu war der Hauptgott der Handelsstadt Ugarit (ca. 1300 v. Chr., heute in Syrien). Seine vorrangige Stellung im ugaritischen Pantheon hatte er durch den Sieg gegen den Gott Yammu (= Meer) erlangt.2 Die Attribute des Ba’alu gehen aus obigem Zitat hervor: Friede, Liebe, Fruchtbarkeit und Sexualität. Ihm gegenüber steht Yammu, für den u. a. die soziale Instabilität sowie die gesellschaftliche Ungerechtigkeit als Zeichen des Chaos charakteristisch sind.3 Die Existenz und Gestalt des Ba’alu weist auf die indoeuropäische dritte Funktion und ihre Wertungen hin, die in den heiligen Dichtungen symbolisch als Überfluss an Öl, Honig4, Friede usw. erscheinen. Die Mythologie der Handelsstadt Ugarit bietet keine Informationen über Eroberung und kriegerische Expansion, Handlungen also, die offensichtlich mit der Aufgeschlossenheit, Toleranz und dem Friedensbedürfnis eines Handelszentrums5 inkompatibel sind. Solch eine Auffassung über Leben, Existenz und Gesellschaft ist für eine Kultur typisch, die in den Mythen des Entstehungskriegs bei den Indoeuropäern als Vana-Gesellschaft „definiert“ und mythologisch beschrieben wurde. Ein solches Denken steht auffälligerweise im Gegensatz zu den bereits von Indoeuropäern (durch die Indoarier) beeinflussten Assyrer6, deren Hauptgottheit, Assur, als Kriegsgott dargestellt wurde. Seine Epitheta in den heiligen Texten erinnern an die Beschreibungen des indischen Indra: Herr der Länder, Hirte der schwarzköpfigen Menschheit, ein Herr, der seine Kriegsschar leitet und Aufstände

1

Zitiert aus den keilalphabetischen Texten von Ugarit bei E. Otto 1999, S. 13. Vgl. E. Otto 1999, S. 14. 3 Vgl. E. Otto 1999, S. 15 und 17. 4 Vgl. E. Otto 1999, S. 22. 5 Vgl. E. Otto 1999, S. 27. 6 Lange Zeit waren die Assyrer unter der Mitanniherrschaft (ca. 15. Jh. v. Chr.), einer indoeuropäischen Kultur. 2

Ehrkonstrukte im Gottesfrieden

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beruhigt.7 Damit erhalten wir ausdrücklich Attribute der Kriegsfunktion: Eroberung, Grunderwerb, Disziplinbewahrung, Herrschaftssicherung und Gewaltmonopol. Interessanterweise hört man nichts über innere Kämpfe oder Unruhestiftungen, wir haben es also in diesem Fall mit einer gesellschaftlichen Funktion zu tun; der Krieger stellt demnach seine „Haupttätigkeit“ in den Dienst der Allgemeinheit. Ich habe folglich zwei typische Gesellschaften herangezogen, deren Gottheiten dem sozialen Aufbau entsprechen. Die irdischen Realitäten werden im Pantheon widergespiegelt, typologisiert und mythologisiert. Dieser Exkurs sollte uns veranlassen zu verstehen, inwiefern Strukturen von Gesellschaften, die in ihrer Tätigkeit verschieden sind, in ebenfalls unterschiedlichen Semantikebenen und Mythologien Ausdruck und Geltung finden. Dort, wo solche Mythologien „verschwunden“ sind, leben ihre Semantiken in der symbolischen Sprache der sozialen Schichten fort8, die sich nach ihren Funktionen (bzw. Tätigkeiten) trennen und diese Trennung als Spannungsfeld differenzierter Ehranschauungen bzw. Gültigkeitskonstrukte erscheinen lassen. Solche semantischen Systeme – des Friedens und des Krieges – überleben im europäischen Mittelalter (ca. 2500 Jahre nach Assyrien und Ugarit) und weisen erstaunliche Parallelen zu dem Funktionen-Diskurs auf, der im Gottesfrieden entsteht. Wie beispielsweise in den „klassischen“ funktional strukturierten Gesellschaften ist der Frieden ein von der dritten Funktion stark begehrter Zustand; diese bekommt ihn aber von den souveränen Göttern erster Funktion geschenkt. Allerdings sind diese Götter keine Friedensgestalten: Ihre Herrschaft hat dunkle Seiten – sie schaffen Frieden durch Krieg und Tötung. Sie stehen über dem Frieden und haben die Macht, ihn herzustellen. So behält sich in der mittelalterlichen pax-Phänomenologie9 die Kirche das souveräne Recht vor, zum „gerechten“ Krieg (bellum justum) aufzufordern, vor. Sei es eine pax-Miliz oder ein Kreuzzug, das Ziel ist die Bewahrung des inneren Friedens bzw. die „Befriedung“ heiliger Stätten der Christenheit.

7

Vgl. E. Otto 1999, S. 39f. Wir erinnern uns, dass in der Mythologie des Entstehungskriegs (in indoeuropäischen Kulturen) Arbeiter- und Handelsgesellschaften (Vana-Gesellschaften) von AsaGesellschaften (Krieger und Magier bzw. Priester) erobert und in der neu entstandenen sozialen Einheit zu einer dritten Funktion bestimmt werden: Sie müssen durch ihre Arbeit und ihren materiellen Wohlstand die anderen zwei Funktionen unterhalten. 9 Ab jetzt werde ich mit dem Begriff pax alle Ereignisse benennen, die im Bezug auf die Gottesfriedensproblematik zu sehen sind, abgesehen von anderen pax-Phänomenen des Mittelalters, wie beispielsweise der Friedensschließung zwischen Herrschern. 8

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Annäherung Meiner Meinung nach sind die Friedensprojekte zu Beginn des Gottesfriedens (ca. 990 bis ca. 1040) im allgemeinen Kontext der kirchlichen Kastenbildung10 und der Entstehung des Vertretungsdiskurses als Basis kirchlicher Vormachtansprüche zu verorten.11 Die Friedensbestrebungen des Mittelalters sind „eigentlich alle darauf berechnet gewesen, ihren Trägern freie Hand zu verschaffen zur Verfolgung ihnen besonders am Herzen liegender Ziele, um die ihnen dabei möglicherweise hinderlich zu werden befähigten und gewillten Instanzen zu entwaffnen und ihrem Willen ohne Gewalt zu beugen“.12 Im Grunde handelt es sich um die Versuche der französischen Diözesanbischöfe, eine neue privilegierte Stellung in dem schwach regierten Frankreich des 10. bis 11. Jahrhunderts13 zu erreichen und sie vor lokalen Seigneurs und milites zu bewahren. Die pax ist keine Ursache, sondern geht auf die Umbildung und Ethisierung der Kirche sowie auf die dieser Situation entsprechenden Herrschaftsbestrebungen zurück.14 Historisch handelt es sich bei dem Gottesfrieden um mehrere Konzilien der pax bzw. treuga Dei, wobei mehrere Bischöfe Friedensverträge mit ihren Diözesanen (mit den Mächtigen – milites, potentiores, optimates, magnates!) zugunsten waffenloser und daher schutzloser Kategorien (Kleriker, Pilger, Bauern, Frauen, Kaufleute) schlossen, deren Güter, Tiere und Gebäude (Häuser, Kirchen und Klöster)15 miteinbezogen waren. Die Bewegung erscheint als erstes in Süd-Frankreich (in der Provinz Aquitanien im Kloster Charroux 989, sowie in der Auvergne in der Stadt Le Puy um ca. 99016) im 10. Jahrhundert, verbreitet sich nach Norden bis Flandern, bekommt ab Mitte des 11. Jahrhunderts eine neue Form – der Treuga – und taucht dann auch in Italien, Spanien, England und Deutschland auf.

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Vgl. A. Vauchez 1993, S. 39. Es geht um eine Infragestellung der Macht der Laien (der Herrn mit ihren Gefolgsleuten) und um deren Bestreitung seitens der Kirche. „The Peace of God [is] an agent of the renewal of ideas about laity” (vgl. G. Duby 1977b, S. 124). 12 H. Prutz 1915, S. 10. 13 Zahlreiche Urkunden der Zeit beinhalten die Formel Deo regnante, rege exspectante oder absente rege terreno (vgl. A. Kluckhohn 1857, S. 5 und L. Huberti 1892, S. 44). 14 Vgl. O. G. Oexle 1993, S. 91. 15 Vgl. z. B. D. Barthélemy 2002, S. 301. Die historische Definition ist mittlerweile weitgehend festgelegt und unumstritten. 16 Hiermit möchte ich auf die völlig falsche Datierung H. Mitteis’ aufmerksam machen, der als erstes das Friedenskonzil Narbonne I (990) bezeichnet (vgl. H. Mitteis 1968, S.188). 11

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Man sollte sich daher von den idealisierenden, der alten Schule des Gottesfriedens zuzurechnenden Betrachtungen in Acht nehmen: „[D]ie Kirche hat die wilden Ausbrüche ihrer [der germanischen Völkern] Leidenschaften gezähmt und gezügelt, ihre Sitten gemildert, ihre geistigen Fähigkeiten ausgebildet, mit einem Worte, sie aus Barbaren in civilisierte (sic!) christliche Völker umgewandelt, aber dabei auch angestammte Tugenden mit Macht gehegt und gepflegt“.17 Das kriegerische Ethos, also Kampf, Gewalt, Tötung usw., wurde schon immer von der Kirche abgelehnt, obwohl die Kriegsmetaphorik ein Bestandteil der Allegorie des geistlichen Kampfes gegen Satan ist (Eph 6, 10-17).18 Es müssen jedoch Grenzen zwischen sinnwörtlicher und symbolischer Sprache gesetzt werden19: Wo es sich bei Paulus und in der Frühkirche um symbolische Sprache handelt, bleibt in der Praxis das Töten im Krieg bis ins 12. Jahrhundert ohne Rechtfertigung. Trotz eines stark moralistischen Diskurses der pax-Konzile steckt hinter der Gottesfriedensphänomenologie mehr als eine ethische Verchristlichung der barbarischen Gesellschaft des Hochmittelalters: Es handelt sich dabei selbst um eine soziale Dynamik aufgrund neuer Relevanzen20, eine Dynamik, die sich jedoch schwer in dieser Zeit anhand sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Umwandlungen einfangen lässt21, sondern sich eher in Ehrdiskursen und der Interaktion der Wertungssysteme, die ich typologisch in den ersten beiden Teilen dieser Arbeit zu beschreiben versuchte, artikuliert. So kann sich die Analyse der Gottesfriedensbewegung nicht in rechtsgeschichtlichen Analysen erschöpfen, und auch die Bewegung selbst kann nicht als eine Etappe einer längeren Paxbewegung seit dem Früh17

J. Fehr 1861, S. 1. Ich möchte hier auf die Vita Sancti Samsoni Dolensis aus dem 9. Jh. hinweisen, wo der Heilige Samson sich in seinem Kampf gegen einen Drachen (serpens), der wohl in guter christlicher Tradition den Teufel symbolisiert, mit dem Schilde des Glaubens (scutum fidei), dem Schwert des Heiligen Geistes (gladium Spiritus Sancti) und der Brünne der Hoffnung (lorica spei) ausrüstet (vgl. Vita St. Samsonis Dolensis, II, c. 22, S. 145; auch bei A. Orchard 2004, S. 150). Die Kategorien der paulinischen symbolischen Sprache des Kampfes gegen das Böse sind hier offensichtlich. 19 Wie es G. Baudler nicht tut: Er mischt willkürlich die symbolische mit der sinnwörtlichen Sprache des Christentums und stellt eine frühe Gewaltrechtfertigung in der christlichen Theologie heraus (vgl. G. Baudler 1994, passim). 20 Die Eroberung des gesellschaftlichen Vordergrunds seitens des zweiten Standes entspricht nicht mehr der neuen Macht- und Gesellschaftsverhältnisse: Die Kirche ist nun immer stärker und elitär, und die ständigen Waffenstreitigkeiten der Adligen und milites stören die friedliche Bevölkerung sowie das gesamte soziale Leben (vgl. H. Hoffmann 1964, S. 12); man sucht sie zu unterbinden oder nützlich zu machen in Form polizeilicher Tätigkeiten oder des Kreuzzugs. 21 H.-W. Goetz meint auch, dass im 11. Jahrhundert ein „sozioökonomischer“ Wandel schwer zu belegen ist, vielleicht hat es ihn gar nicht gegeben (vgl. H.-W. Goetz 2004, S. 45). 18

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mittelalter aufgefasst werden. Die frühere pax (10. bis 11. Jahrhundert) bildet eher einen Aspekt einer umfangreichen Phänomenologie, die sich zeitlich an folgenden Ereignissen des 10. bis 11. Jahrhunderts beobachten lässt: Klosterreform, Gottesfrieden und Investiturstreit. Solche Ereignisse stehen in keiner direkten historischen Filiation, sondern in einer mentalen, und können der neuen kirchlichen Ethosbildung des Hochmittelalters zugerechnet werden. Dass die pax auch auf das Rechtswesen Einfluss hat, liegt auf der Hand; sie lässt sich aber nicht nur darin deuten22, zumal die frühere Gottesfriedensbewegung eine z. B. ziemlich rudimentäre Gesetzlichkeit aufweist. Sie ist reicher an religiösen Ritualen, symbolischen Handlungen und sozialen Manifestierungen. Auf der anderen Seite möchte ich hier noch einmal die bereits angesprochene Theorie dementieren, in der man aufgrund der zufälligen Gleichzeitigkeit des Gottesfriedens mit der ersten millennialen Wende versucht23, das Phänomen als ein psychotisches Ergebnis eschatologischer Ängste bzw. Ideale im Kontext einer angeblich verbreiteten Endzeiterwartung um das Jahr 1000 darzustellen. Der Gottesfrieden ist das Resultat innerer sozialer Entwicklungen, die sich anhand der symbolischen Ehrkategorien beschreiben lassen. Ich werde mich aus zwei Gründen hauptsächlich mit dem westfränkischen Gottesfrieden zwischen 989 (dem Konzil von Charroux) und den ersten Treugae (in den 20er Jahren des 11. Jahrhunderts) beschäftigen: Hier sind die „klassischen“ Elemente zu finden, die ein Konzil zu einem Pax-Konzil machen (sanctified peace24) und die ich in einem speziellen Kapitel untersuchen werde. Im früheren Frieden ist die Spontaneität und Begeisterung der beteiligten sozialen Kategorien größer, was uns einen leichteren Zugang zu den dahinter liegenden Mentalitäten, Hoffnungen und religiösen Gedanken verschafft; mit dem Auftreten von treuga Dei wohnen wir einer Institutionalisierung des Friedens (durch verstärkte rechtliche Ansätze25) sowie einer Entfernung von den ursprünglichen Idealen und der 22

Wie die ersten Forschungen über den Gottesfrieden im 19., aber auch im späten 20. Jahrhundert es taten. Dazu siehe einen Überblick bei E. Wadle 1996. 23 Vgl. R. Landes 1992, S. 200ff. 24 Wobei die Pax-Konzile anfangs „incidents rather institutes“ waren (vgl. Th. N. Bisson 1977, S. 293). 25 In einem seiner Briefe schrieb Ivo von Chartres (†1116): „Quia trevia dei non est communi lege sancita, pro communi tamen utilitate hominum ex placito et pacto civitatis ac patriae, episcoporum et ecclesiarum, ut nostis, est auctoritate confirmata. Unde iudicia pacis violatae modificari oportet, secundum pacta et diffinitiones, quas unaquaeque ecclesia consensu parochianorum instituit, et per scripturam vel bonorum hominum testimonium memoriae commendavit“ (Treuga Dei ist nicht durch ein allgemeines Gesetz sanktioniert, aber für das allgemeine Wohl der Menschen bestimmt, und nach besonderer Vereinbarung der Polis und der Herrschaftsgewalten durch die Autorität der Bischöfe und

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Begeisterung durch einen Kompromiss bei, was die Treuga eigentlich darstellt.26 Über die Gottesfriedensbewegung wurde nicht wenig geschrieben, die Forschung ist allerdings uneinig und noch bestehen viele Lücken. Die systematische Forschung über die pax Dei beginnt mit den Pionier-Werken des Deutschen August Kluckhohn und des Franzosen Ernest Semichon, beide 1857 geschrieben, die – das kann man wohl sagen – eine ganze geschichtswissenschaftliche Tradition, eine Schule, begründen, die sich mit der Gottesfriedensbewegung beschäftigt. Die meisten modernen Forscher teilen diese Schule in eine Alte und eine Neue Schule ein und betrachten die beiden als gegensätzliche und im Widerspruch stehende Richtungen: Einerseits erklärt die „Alte“ Schule die raison d’être des Gottesfriedens durch die Notwendigkeit, das Vakuum der königlichen Autorität in dem nachkarolingischen Frankreich – im Kontext einer starken politischen Zersplitterung des westfränkischen Herrschaftsverbandes – erneut zu füllen27, den übertriebenen und häufig „anarchischen“28 Fehdebrauch der lokalen Herren zu unterbinden und damit einem Unsicherheits-, Angst- und Gewaltzustand in der Gesellschaft ein Ende zu machen.29 Andererseits meint man der Kirche bestätigt. Daher müssen die richterlichen Erkenntnisse wegen Friedensbruchs nach der besonderen Übereinkunft und gemäß den Bestimmungen, welche in einer Diözese mit Einwilligung der Eingesessenen fest gesetzt, und durch die Schrift oder durch das Zeugnis glaubwürdiger Männer erhalten sind, modifiziert werden) (zitiert bei L. Huberti 1892, S. 270, wobei ich auch seine Übersetzung übernommen habe, mit der Ausnahme der Übertragung von patria in „staatliche Gewalten“; es scheint mir anachronistisch am Anfang des 12. Jahrhunderts von einem Staat zu reden, eher sollte man von einem Herrschaftsverband sprechen, daher mein Ausdruck „Herrschaftsgewalten“). Wir haben es folglich mit einer instituted peace (Th. N. Bisson 1977, S. 293) zu tun, in der ein starker Trend zur rechtlichen Objektivierung auszumachen ist: Die pax wird zur Verhandlungssache, während sie ursprünglich ein kirchliches Gebot war, und benötigt die Zustimmung aller Beteiligten. Treuga weist somit klare Strukturen eines Gewohnheitsrechts auf. 26 Vgl. E. Wohlhaupter 1933, S. 15f. 27 Vgl. L. Huberti 1892, S. 7. 28 Das Zeitalter der sogenannten „feudalen Anarchie“ (ca. 9.-11. Jahrhundert) war ein Leitmotiv der Historiographie des 19. Jahrhunderts: „Nous croyons avoir montré l’influence de l’Eglise et la main du clergé dans les institutions qui, au Moyen-Âge, ont créé un certain ordre au sein de l’anarchie féodale et fondé les libertés provinciales et locales, unique et nécessaire préparation aux libertés modernes et au règne du droit commun“ (E. Semichon 1857, S. 318). Mittlerweile ist der Begriff der „feudalen Anarchie“ in der neueren Forschung stark unter Beschuss geraten: Es gab keine Anarchie, die Fehde selbst war eine Rechtsform und die Kontrolle der Grafen war weiterhin stark genug, um die lokalen Burgherren kontrollieren zu können. Dieser Diskussion werde ich mich im nächsten Kapitel zuwenden. 29 Man redete in diesem Zusammenhang über ein „verwildertes Fehdewesen“ (E. Wohlhaupter 1933, S. 17). Formen solch abweichenden Fehdewesens seien Plünderungen, Räuberungen und Verwüstungen (vgl. H. Asmus 1951, S. 72ff).

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in der modernen Forschung, es gäbe eigentlich keinen Zerfall der Königsherrschaft und auch nicht der Grafenautorität. Die pax habe folglich keine Relevanz in der allgemeinen Geschichte Frankreichs und nichts mit der französischen Staatsbildung zu tun. Sie sei nur ein relativ sekundäres Spiel der lokalen Mächte sowie des Strebens der Bischöfe, die Gewalt der Grafen zu übernehmen und sich als unangefochtene Führer ihrer Regionen durchzusetzen.30 Wir wohnen also einer Minimalisierungstendenz bei.31 Dabei haben beide Lager Recht und bei einer aufmerksameren Betrachtung verliert der angebliche Widerspruch seine Substanz: Zusammen mit dem Ausgang der karolingischen Dynastie zerfiel auch die zentralistische Herrschaft, anfangs lässt sich eine Regionalisierung der Macht, danach sogar eine Lokalisierung feststellen. In Frankreich geht dieser Prozess mit dem Verschwinden der Grafeninstitution in ihrer karolingischen Form einher. Es entsteht folglich ein Mangel an zentralistischer Herrschaft (königlicher oder gräflicher Natur) zugunsten der lokalen Seigneurs, die die neue Freiheit willkürlich in Fehden, Streitigkeiten und Plünderungen missbrauchen. Die Tendenz einer Wiederherstellung der „großen“ Herrschaft (comites und duces) fand bereits im früheren Gottesfrieden statt: Obgleich diese ursprünglich rein kirchlicher Natur war, benutzten die Herzöge – z. B. Wilhelm V. von Aquitanien (†1030) – die bischöflichen Pax-Bestrebungen im eigenen politischen Interesse, um die Zersplitterung ihrer Territorien abzuwehren; damit trugen sie zu den ersten Schritten im Aufbau protostaatlicher Entitäten32 bei. Der Gottesfrieden erhält demgemäß überregionale Valenzen: Es geht um einen regionalen, von der Kirche initiierten Prozess, der sich langsam zu einer panfranzösischen und sogar europäischen Bewegung entfaltet und stufenweise von den politischen laikalen Instanzen (Königen bzw. Herzögen) übernommen wird. Ohne die Absicht, eine neue kommentierte Bibliografie des Themas „Gottesfrieden“ zu schreiben oder in einem detaillierten Forschungsüberblick bereits gesagte Dinge zu wiederholen33, werde ich zunächst die 30

Vgl. P. Schwellenbach 2005, S. 3, S. 26-27, S. 43, S. 107, S. 122. Schwellenbach analysiert eigentlich den Gottesfrieden in Deutschland, schafft aber auch Verknüpfungen mit dem französischen Gottesfrieden. In seiner Arbeit erkennt man beträchtliche Einflüsse des Franzosen D. Barthélemy (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 414), er vergisst aber klarzustellen, ob seine Anmerkungen allgemein sind (wobei sie zum französischen Gottesfrieden nicht ganz passen, denn in Süd-Frankreich gab es keine tatsächliche Grafengerichtsbarkeit mehr) oder nur hinsichtlich des deutschen Gottesfriedens gültig sind (wo die Grafeninstitution eine relativ stabilere Autorität besaß). 31 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 302. 32 Vgl. H.-W. Goez 1983, S. 206. 33 Siehe umfangreiche Berichte über die Gottesfriedensuntersuchungen bei: K. Kennelly 1963, S. 36ff; H. Hoffmann 1964, S. 7ff; F. S. Paxton 1992, S. 22ff; P. Schwellenbach 2005, 6ff.

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wichtigsten Richtungen der bisherigen Werke über die pax vorstellen, soweit sie sich in sachlich-relevante Verbindung mit meiner späteren Problematik bringen lassen. Die ersten Werke über den Gottesfrieden sind rechtsgeschichtliche Ansätze und verstehen in dieser Bewegung die ersten Schritte einer staatlichen Verfassung (nach Weberscher Auffassung) durch Monopolisierung der Gewalt und „Umbildung des Rechts“34 (von der Selbsthilfeform der Fehde zur öffentlichen Gerichtsbarkeit): In diesem Sinne schreiben August Kluckhohn (1857), Ernest Semichon (1857) und der mittlerweile klassisch gewordene Ludwig Huberti (1892).35 Ihre Forschung wird von Joachim Gernhuber (1952), Hartmut Hoffmann (1964) und Thomas Gergen (2004) u. a. weitergeführt und vertieft. Eine andere Richtung der Forschung greift die am Anfang vergessenen sozialen Aspekte des Gottesfriedens auf und stellt die Zeit der Paxbewegung als ein Zeitalter des sozialen Umbruchs von einer „feudalen Revolution“ zu einer ersten Volksbewegung des Mittelalters dar. Dies wird von Carl Erdmann (1935), Loren McKinney (1930), Bernhard Töpfer (1957), Georges Duby (1967) und Thomas Bisson (1994) vertreten. Gegen die Behauptungen Töpfers, dass in dem Gottesfrieden eine erste europäische Volksbewegung nach dem Muster eines Klassenkampfes 34 Der mit Vorliebe verwendete Ausdruck L. Hubertis. Er sagt: „Man kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass die ganze Bewegung nur ein ‚Kampf ums Recht’ ist. Von hier aus erscheint als Zweck der Bewegung ‚die rechtliche Umbildung der Selbsthilfe’. Und zwar handelt es sich zunächst um Umbildung des Fehdezustandes in einen Friedenszustand, dann um Umbildung des Friedenszustandes in einen Rechtszustand“ (L. Huberti 1892, S. 33; siehe auch S. 50). Gegen die unnuancierte Auffassung, dass die pax eigentlich nichts anderes als eine Etappe in der Staatsbildung ist, frage ich, wo die Könige bei den meisten pax-Konzilen bleiben. Statistisch gesehen genießen nur wenige Friedenssynoden die Anwesenheit des Souveräns bzw. eines dux. 35 Seiner monumentalen (vgl. E. Wadle 1996, S. 64) und unvollendeten Arbeit „Studien zur Rechtsgeschichte der Gottesfrieden und Landfrieden“ (1892) wurde jedenfalls ein viel zu ungerechtes Schicksal beschieden: Sie wurde von Beginn an heftig unter Kritik gestellt (siehe L. Weiland 1893), aufgrund einer angeblichen „wirren und unmethodischen Verfahrensweise“ (H. Hoffmann 1964, S. 7). B. Töpfer weist auf die falschen Datierungen Hubertis hin („eine Anzahl an Irrtümer und Ungenauigkeiten, z. B. in der Datierung der Friedenssynoden“ – B. Töpfer 1957, S. 59; siehe auch K. Kennelly 1963, Anm. 1, S. 35), scheut aber nicht zurück, reichlich Huberti zu zitieren, sogar für viele Datierungen: Von 12 Konzilen bietet Töpfer z. B. nur für drei ein völlig neues Datum (siehe B. Töpfer 1957, S. 54-78). Man übersieht dabei, dass das Werk Hubertis immer noch die einzige Sammlung ausgewählter Quellen des Gottesfriedens ist (vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, Anm. 1, S. 42 und F. S. Paxton 1992, S. 23), die offenkundig oder nicht von allen Forschern des Phänomens verwendet wird. Es gibt jedoch Historiker, die seiner Arbeit die verdiente Anerkennung schenken (Huberti sei „the best authority on the general subjekt“ – L. C. MacKinney 1930, Anm. 1, S. 181), allerdings meistens in der anglo-amerikanischen oder französischen Forschung. Ich will hier nicht die völlig übertriebene Polemik von L. Weiland (vorhin genannt) analysieren.

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aufzuspüren sei36, oder gegen Duby, der behauptete, dass die pax aus einem Unsicherheitsgrund entstand, der von einer angeblichen „feudalen Revolution“ verursacht wurde, stellen sich Forscher wie Hartmut Hoffmann bzw. Hans-Werner Goez oder Dominique Barthélemy37, und neuestens auch Paul Schwellenbach in seiner Erlanger Magisterarbeit.38 Sie begreifen den Gottesfrieden als einen bloßen Versuch der Kirche, ihre Vormacht gegen die Feudalherren zu behaupten, was letzten Endes wahr ist. Sie verlieren dabei aber das Volk aus den Augen, das – ohne die überzogene Rolle gespielt zu haben, die ihm von Töpfer zugesprochen wurde – immerhin eine Stellung in dem gesamten Geschehen besitzt: Jeglicher Machtdiskurs braucht Untertanen; damit erhält der Gottesfrieden soziale Inhalte bezüglich der Gerechtigkeit bzw. der religiösen und symbolischen Rechtfertigung. So wird die passive Masse im Gottesfrieden39 zu einem unübersehbaren Faktor als Ziel und Gegenstand der von der Kirche eingesetzten Machtpropaganda gegen die weltlichen Machthaber. Zusammen mit dem Volk – und seiner Stellung in diesem „Kampf der Großen“ – werden von einem großen Segment der Forschung wichtige anthropologische, religionswissenschaftliche und frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte vernachlässigt, die in der Klassendynamik der pax einen bedeutenden Beitrag haben; sie lassen sich in unterschiedlichen Ehrkomplexen beschreiben und als solche zur historischen Beobachtung hinzufügen. In den kommenden Kapiteln werde ich die Untersuchung der pax Dei durch eine Definition und Erklärung des Begriffs sowie mit einer „technischen“ Erörterung des Phänomens einleiten, d. h., ich werde klären, wann man über eine Gottesfriedenssynode reden kann und wann nicht. Sodann 36 Über die marxistisch geprägten Ansätze Töpfers (vgl. die Rezension von H. Hoffmann 1958, S. 153f) wird noch die Rede sein. 37 Der Franzose ist ein Fan von H. Hoffmann (er nennt sein Buch ein „großes Buch“ – vgl. D. Barthélemy 2002, S. 492), den er seinem Landmann G. Duby vorzieht. D. Barthélemy bekämpft allerdings seinen Lehrer, Duby, mit Hilfe einer ziemlich chaotischen Argumentation. Einerseits meint er im Bezug auf die feudale Revolution, dass die milites eigentlich versöhnlich, freundlich und zur Verhandlung bereit seien, also keinen destabilisierenden Faktor (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 97 und 107) darstellen, andererseits sind sie auf der S. 110 (D. Barthélemy 2002) doch gewaltsam und brutal. Sein „Glauben an Variationen“ (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 304) wird zu einem irritierenden Hin und Her an der Grenze des Selbstwiderspruchs. 38 Vgl. P. Schwellenbach 2005, S. 45 und 67. Die Arbeit bietet allerdings einen sehr guten Forschungsüberblick und repräsentiert meinem Wissen nach den neuesten Beitrag in dem Bereich der pax Dei. 39 Das Volk ist bei den meisten Pax-Konzilen anwesend und verschafft sich durch lauten Beifall Gehör. Eine Einschätzung, wie schwer dieser Beifall wog und was er für einen psychologischen Druck auszuüben vermochte, ist wohl nicht einfach. Die Tatsache an sich aber bleibt nicht zu übersehen und bildet immerhin ein Beispiel für die passive Volksbeteiligung an dem Gottesfrieden.

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stelle ich die chronologischen, historischen und geografischen Entwicklungen des Gottesfriedens vor. Anschließend folgt ein Blick auf das Verhältnis der Pax-Bewegung zu der jeweiligen Ehrsemantik der drei sozialen Kategorien: nämlich die der Geistlichen, Kriegsspezialisten und Arbeiter. Schließlich werden die langfristigen Wirkungen des Phänomens in Betracht gezogen.

„[A]nte omnia pacem et iustitiam observari monebant“: Zur Phänomenologie der Bewegung Die mittelalterlichen Quellen der früheren pax verwenden nicht den Begriff pax Dei, sondern pactum pacis, observare pacem et justitiam, pax reformanda usw., was nicht verwundert, denn eine begriffliche und theoretische Klarheit war für das Mittelalter normalerweise nicht üblich. So musste zuerst der Begriff treuga weiten Gebrauch finden und später (in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts) in dem Terminus treuga Dei verdeutlicht werden, um der pax-Terminologie ihre endgültige Form als Pax Dei zu geben.40 Wenn also die ausdrückliche Assoziierung der Pax-Bestrebungen mit Gott auch nur eine spätere Erscheinung ist, bilden der religiöse Inhalt und die enge Verbindung mit dem Heile im Gottesfrieden den wesentlichen Teil sowie den innewohnenden Sinn der Bewegung von ihrem Ursprung an: Bereits in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts wird der Gottesfrieden als ein Sakrament (sacramentum pacis)41 bezeichnet. Etymologisch bedeutet das Wort „Frieden“ bzw. „Friede“ einen „Zustand der Ruhe“, hergeleitet aus der Sanskrit-Wurzel pri (= Lust, Freude, froh). „Friede“ ist auch das Gegenteil von „Krieg“ und „Krieg-Führen“ und damit betritt das Wort die semantische Ebene des lateinischen „pax“, das bezüglich der Polarität Krieg-Frieden seinen Sinn erhält. Davon leitet sich eine ganze Reihe von lateinischen und germanischen Termini ab, die semantisch in einem Zusammenhang stehen: pacare, pacificare, vridebruoch, vridelos, vride swern usw.42 Die etymologischen germanischen Formen des Wortes „Frieden“ sind: goth. frithu; ahdt. fridu (m) bzw. frida (f); asächs. frithu; afries. frethu; skand. fridhr; agls. fridh, fredhe, fredho.43 Alle wurzeln in dem indg. fri- (= lieben), was die Bedeutung Freundschaft und Schonung

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Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 3f. Wie der Bischof Warin von Beauvais es in einem Entwurf eines Friedensschwur um 1023 tut (vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 47) oder es in den Gesta Gvillelmi, I, 48, S. 80/81 bezeichnet wird. 42 Vgl. L. Huberti 1892, S. 5 und 11. 43 Vgl. E. G. Graff 1837, S. 788. 41

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hat.44 Diese sind germanische Übertragungen der lateinischen Begriffe pax, otium, tranquilitas, tutela.45 Das Mittelalter des 10. bis 11. Jahrhunderts verwendet nur Ausdrücke wie pax, justitia oder pactum (bzw. juramentum) pacis, welche die vertragsmäßige Dimension des Friedens hervorheben, indem der Zustand der Ruhe vom Krieg durch einen durch Schwur bekräftigten Vertrag gegen faida46 (bzw. faidosi) befestigt und geheiligt wird.47 Das Gottesfriedensphänomen ist aber keineswegs nur rechtlich einzubetten, wie viele Forscher es tun, indem sie die Pax-Bestrebungen als bloßes Verfahren gegen das rechtliche Mittel der Fehde als Selbsthilfe betrachten und als Übergang vom individuellen zum öffentlichen jus deuten.48 Demzufolge sei der Gottesfrieden eine Einschränkung und ein Abschaffungsversuch der Friedensstörungen durch das Fehdewesen.49 Damit übersieht man meiner Meinung nach die viel wichtigere soziale und mentalitätsgeschichtliche Dimension der Gottesfriedensbewegung, die mit der Zähmung oder Disziplinierung der Krieger in die Richtung einer gesellschaftlichen Regulierung der symbolischen Verhältnisse zwischen den Ständen geht. Es sollte klar sein, dass die Kriegsspezialisten nicht nur in der Fehdeführung50 (als Form „rechtlicher“ Selbsthilfe51), sondern auch in willkürlichen Plünderungen, Bezollungen und Raubzügen Gewalt ausübten52, Unruhe verbreiteten und damit die gesamte soziale Einheit verunsicherten, ja sogar gefährdeten. Ihre Streitigkeiten, die sich in diesen Plünderungen äußerten, geben mir Grund genug zu glauben, dass es sich um Ehrestreitigkeiten handelte. Durch Verwüstung des feindlichen Landes konnte man die Ehre des Rivalen an44

Vgl. F. Kluge 1963, S. 218f. Vgl. J. Grimm 1878, S. 181. 46 Die Lateinisierung von den ahdt. fèhida und gifèhida; fries. faithe oder feithe; agls. foehd; mhdt. veide, veyde, fede, vete; alle haben die Wurzel im Wort fehan (= hassen) (vgl. L. Huberti 1892, S. 14). 47 In welchem Sinne auch das ahdt. fridu verwendet wurde: als Personenverband, zweiseitige Rechtsverhältnisse, Friedensvertrag usw. (vgl. R. Grosse 2002, S. 77f). 48 Vgl. L. Huberti 1892, S. 12f und 15. 49 Vgl. L. Huberti 1892, S. 11f. 50 Vgl. L. Huberti 1892, S. 13. 51 In dieser Hinsicht ist Fehde das „Recht des Verletzten und seiner Sippe, die Genugtuung im Wege der Selbsthilfe zu suchen“ (L. Huberti 1892, S. 15). 52 Es ist in diesem Zusammenhang gut zu wissen, dass in dieser Zeit die Straßenräuber meistens vornehmer Herkunft waren (Adliger oder milites) (vgl. T. Reuter 1996, S. 187). Es wurde von mir bereits gezeigt, dass Plündern und Rauben im Ethos der zweiten Funktion als ehrenhaft und als Zeichen der kriegerischen Tüchtigkeit galten. Obgleich die Unsicherheit der Straßen in dieser Zeit (10.-11. Jahrhundert) nicht so groß war, wie es sich ein Segment der Forschung vorstellte (vgl. T. Reuter 1996, S. 200f), war sie dennoch groß genug, um die Kirche immer wieder zu neuen Erlässen hinsichtlich der Beschirmung der Pilger, Reisenden und Kaufmänner zu zwingen. 45

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greifen, indem bewiesen wurde, dass dieser eben unfähig ist, durch seine kriegerische Tüchtigkeit seine Ehre (honor) zu beschützen. Wilhelm der Eroberer demonstriert dies, als er zeigte, dass er die Ländereien seines Rivalen Gottfried Martel von Anjou plündern und ihm damit ewige Schande zufügen könnte (En duci Normanico liber progressus patet ad devastandam hostis opulentiam, ad delendum aemuli nomen ignominia sempiterna53). Offensichtlich ist eine solche Unehre vererblich und wird bis in die Ewigkeit durch die Nachfolger als ein Schandfleck getragen. So versteht man die pax besser in ihrer sozialen Relevanz, welche die rechtliche weit überschreitet, und damit wird ein Beispiel angeboten, das später zur Unterscheidung des „klassischen“ religiös- bzw. symbolisch beladenen Gottesfriedens von der juristisch strukturierten Treuga behilflich sein wird.54 Damit kommen wir zu den historischen Grundlagen, die dazu beitrugen, dass das alte und bislang „unproblematische“ Fehderecht eskalierte und eine Gegenreaktion in der Art des Gottesfriedens hervorrief. Die Mehrheit der Forschung ist sich weitgehend einig, dass das Westfrankenreich des 10. bis 11. Jahrhunderts nach dem Ende der karolingischen Dynastie eine Zersplitterung der königlichen Herrschaft erlebte und dass die ersten Kapetinger ihrer königlichen Mission nicht wirklich gewachsen waren.55 Das Westfrankenreich erlebte, wenn nicht „seine traurigste Geschichte“56, so zumindest eine Umbruchsperiode. Die postkarolingische Zeit bot ein „triste tableau de la France“, das von „brigandage“, „guerre“ und „pillage“ heimgesucht war57. Die Urkunden jener Zeit beinhalten oft Formeln wie Absente rege terreno, Deo regnante-rege exspectante58 oder rege terreno deficiente et Christo regnante59 und beklagen damit die Unfähigkeit des Königs, seine sakrale Aufgabe als Garant von Recht und Justiz zu erfüllen.60 In der Vita Sancti Bercharii (ca. 11. Jahrhundert) wird berichtet, wie die Reliquien von Sankt Bercharius, einem Märtyrer aus dem 7. Jahrhundert (†685)61 auf die Pax-Synode von Héry (1024), an der auch der König Robert II. der Fromme teilnahm, von den Mönchen seines Klosters 53

Vgl. Gesta Gvillelmi, I, 19, S. 26/27. Ein Beispiel in diesem Sinne, das auf der Hand liegt, ist die Abwesenheit der peinlichen Strafen in der früheren Pax-Bewegung, welche in der späteren Treuga oder im deutschen Gottes- und Landfrieden zahlreich auftauchen. 55 Vgl. B. Meyer 1935, S. 4; H. Conrad 1971, S. 9ff und A. G. Finckenstein 1985, S. 38. 56 A. Kluckhohn 1957, S. 1. 57 Vgl. E. Semichon 1957, S. 319. 58 Wie oben bereits erwähnt (vgl. L. Huberti 1892, S. 44). 59 Zitiert bei B. Töpfer 1961, Anm. 3, S. 877, aus einer französischen Urkunde von ca. 987. 60 Vgl. J. Fehr 1861, S. 13. 61 Vgl. H. Hattenhauer 1998, S. 8ff. 54

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gebracht wurden. Auf dem Rückweg wurden die Träger des Heiligtums vom Grafen Landri von Nevers (†1028)62 mit der Absicht verfolgt, die heiligen Reliquien zu stehlen. Der Verfasser der Vita klagt über den Hochmut des Grafen, der sich nicht einmal vor dem sich in der Nähe befindenden König scheute: „Non ergo regis potentiam veritus, quoniam ipse rex mitissimus prae cunctis existebat, et magis mansuetudine quam feritate suos vincere cernebat.“ (Der Graf scheute sich nicht vor der Macht des Königs, der alle anderen an Güte übertraf und seine Untertanen eher mit Sanftmut als mit Gewalt regieren wollte).63

Trotz des Kosmetisierungsversuchs wird die Frustration des Autors aufgrund der mangelnden königlichen Durchsetzungskraft deutlich. So suchen die Menschen die letzte Hoffnung bei Gott und bei seinen Vertretern in der Welt. Auf der Synode von Héry nördlich von Auxerre hören wir: Wenn die Freveltäter sich dem von einem weltlichen Fürsten durchgesetzten Frieden widersetzen, werden sie zumindest Gott und seine Heiligen fürchten, die auf dem Konzil in den Reliquien und in der Heiligkeit der Bischöfe anwesend waren.64 Dies bildete die innere Logik der PaxBewegung; die Kirche fungiert im Sinne ihrer religiösen Souveränität und übernimmt somit auch Aspekte der weltlichen Herrschergewalt.65 Eigentlich entsteht die Schwäche des französischen Königtums auch aufgrund einer mangelhaften allgemeinen Institutionalisierung der mittelalterlichen gesellschaftlichen Mechanismen: In diesem Zusammenhang profitiert die Kirche von ihren gewissermaßen stabileren Strukturen und greift als einzig sichere Institution durch die pax-Bewegung in die Politik ein.66 Dies knüpft an jene Auffassung der Souveränität in indoeuropäisch sprechenden Kulturen, in der ein Aspekt der Herrschaft den anderen in Notsituationen ersetzen kann, in unserem Fall die Kirche als mitraische Seite der Herrschaft, die vorübergehend die schwache varunaische Dimension ergänzt.67 Darin sollte man nicht einen Versuch seitens der Kirche verstehen, die Königsinstitution wiederherzustellen und im Namen des Königs die Untertanen hin zu besseren Zeiten zu leiten68; es handelt sich eher um einen Vor62

Vgl. H. Hattenhauer 1998, S. 16. H. Hattenhauer 1998, S. 4. 64 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 497 (mit Beleg). 65 Vgl. H. Prutz 1915, S. 11. 66 Vgl. O. Engels 2001, S. 82. 67 Vgl. G. Duby 1977b, S. 126. 68 Vgl. O. Engels 2001, S. 80. So sei der Gottesfrieden „die Macht, die den etablierten Institutionen eines Ancien régime entglitten ist, [und welche] von einer bizarren, aber eine gewisse Zeitlang gut funktionierenden Allianz von Kirche und gemeinem Volk 63

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machtanspruch aufgrund des neuen Bewusstseins der Bischöfe. Relevant dafür ist, dass die Friedensbeschlüsse meistens in Konzilen von mehreren Bischöfen angekündigt wurden, was ihren Drang nach kirchlicher Präeminenz, allerdings in ihrer konziliaren Form, äußerte. Wie wir noch sehen werden, bleibt Papst Gregor VII. in Bezug auf die Gottesfriedensbewegung zurückhaltend und misstrauisch. Hauptsächlich verliert auch die Grafschaft wegen der Schwäche der Königsinstitution ihren ursprünglichen Sinn: So wird der Weg zur (am Anfang) regionalen und (letztlich) lokalen Selbstständigkeit geebnet.69 In dem gesamten occitanischen Raum (der Gottesfrieden erscheint zum ersten Mal in Aquitanien) sowie in Katalonien werden im 10. bis 11. Jahrhundert die Grafen von Vertretern des Königs zu eigenständigen Herren – wobei sich die Grafschaft von einer verliehenen Würde zum Privateigentum einer Familie wandelt70 –, was ihre raison d’être relativiert. Als einfache Seigneurs verlieren die Grafen die gräfliche Gerichtsbarkeit und dadurch ihren Vorrang gegenüber anderen Herren ihres Gebietes.71 Vor dem Hintergrund der normannischen Raubzüge, aber meistens wegen des Wachstums der Macht lokaler Herren72, wohnt man zwischen Ende des 10. und Beginn des 11. Jahrhunderts einer Vermehrung der Anzahl der befestigten Burgen unter der Kontrolle lokaler Seigneurs73 und ihrer milites bei, ein Prozess, der in der Forschung als “l’enchâtellement“ bekannt ist.74 Z. B. in der Region Charente (südlich von Poitiers und westlich des Limousin) steigt in den Jahren von 1000 und 1050 die Anzahl befestigter Burgen um das Siebenfache.75 In der Grafschaft Velay (comitatus Vellavensis) kennt man aus dem 10. Jahrhundert nur zwei Kastelle: Usson-en-Forez und Le Mézenc. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts erscheinen plötzlich zehn

benutzt wird, um eine neue Welt zu gestalten, bis dann wieder eine staatsragende Macht entsteht“ (R. I. Moore 2001, S. 27). Dieses Zusammenfügen von Kirche und Volk ist allerdings – wie wir sehen werden – alles andere als eine Allianz. 69 Vgl. A. Kluckhohn 1957, S. 6. 70 Vgl. Th. N. Bisson 1994, S. 41. Die gesamte Gerichtsbarkeit des Grafen nimmt ab, er wird zu einem Schiedsrichter zwischen zwei kämpfenden Parteien, d. h., er konnte einen Friedensvertrag herbeiführen, war aber keineswegs mehr fähig, seine Durchführung garantieren zu können (vgl. O. Engels 1978, S. 73). 71 Vgl. O. Engels 2001, S. 79f und R. Grosse 2002, S. 83. 72 A. Debord zeigt, dass in Aquitanien z. B. nur zwei Befestigungen von vielen in den Quellen ausdrücklich als „gegen die Heiden“ (= Normannen) bezeichnet wurden: Marcillac (nördlich von Bordeaux) und Matha (nord-westlich von Angoulême) (vgl. A. Debord 1992, S. 144). 73 Vgl. H. Hattenhauer 1998, S. 18. 74 Vgl. J. Johrendt 1971, S. 82f. 75 Vgl. die Statistik von A. Debord 1992, S. 143.

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neue.76 Außerdem wurde die öffentliche Festung Polignac privatisiert!77 Von diesen Festungen aus übten die Seigneurs eine strenge Aufsicht über die Umgebung. Die Konflikte mit den ebenso verselbstständigten Nachbarn waren unvermeidlich, ebenso die willkürliche „Bezollung“ aller Passanten, die ihr „Territorium“ durchquerten, und welche schwer von einem Raub zu unterscheiden war.78 Nicht zu Unrecht fügt man das Argument hinzu, es sei eindeutig, dass der Gottesfrieden aufgrund der Schwäche der königlichen Gewalt in Frankreich entsteht, weil im karolingischen Reich79 oder später im benachbarten Deutschen Reich, wo der Souverän sein Reich überzeugender im Griff hatte, keine klassische Form des Gottesfriedens, sondern lediglich die juristischen Formen der Treuga oder des Landfriedens, erscheint.80 Diese gesamte Entwicklung bedeutete im Westfrankenreich kein Verschwinden des Gesetzes, aber seine starke Privatisierung: Jedes Haus bestand auf seine Rechte (Ehre, Eigentum usw.) und war ihr eigener Garant. Man beschreibt diese Situation im Sinne von „a kind of wild justice“.81 So kommt G. Duby dazu, über eine révolution féodale zu sprechen, wodurch er (wie wir sehen werden) eine erbitterte Auseinandersetzung unter den Historikern auslöste. Die Auffassung, die Zeitspanne zwischen 950 und 1050 sei ein Zeitalter der Anarchie und der unkontrollierten Banden von Raubrittern, ist ein locus

76 Chomelix, Chalencon, St. Didier, Saussac, Lardeyrol, Vertamise, Chapteuil, Ceyssac, Solignac, Faÿ (siehe die Karte bei Ch. Lauranson-Rosaz 1988, S. 25). 77 Vgl. Ch. Lauranson-Rosaz 1988, S. 21. 78 Zu diesem willkürlichem Verhalten gehören wohl ebenso Requisitionen auf eigenem oder fremdem Grund (vgl. G. Koziol 1992, S. 130). 79 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 11 und 21. So lehnte der deutsche Bischof Gerhard I. von Cambrai (†1051) – der kirchenrechtlich Suffragan des westfränkischen Bischofs von Reims war – die Einführung des Gottesfriedens in seine Diözese ab, denn dies bringe seiner Ansicht nach ein Durcheinander der Schöpfungsordnung: Frieden stiften ist ja die göttliche Aufgabe des Königs und es ist nicht den Bischöfen befugt, sich anstelle des Königs zu setzen (vgl. das Zitat bei J. Fehr 1861, S. 12: „Denn den Priestern kommt es zu, zu beten, den Fürsten zu kämpfen; Pflicht der Könige ist es, mittels ihrer Gewalt die Unruhen zu dämpfen, den Kriegen ein Ende zu machen, und die Wohltaten des Friedens zu verbreiten; den Bischöfen dagegen obliegt es, den Königen ihre Pflichten ins Gedächtnis zurückzurufen [...] und zu beten, dass diesen der Sieg zu Teil werde“). Diese Theorien gehören aber zu einem in dem deutschen Reichskirchensystem eingebundenen Bischof, der keine Probleme mit ungezügelten Nachbarn und Diözesanen hatte. Die königliche Verwaltung übte in Deutschland im Vergleich zu Frankreich eine bessere Kontrolle über die Untertanen aus (vgl. H. Hoffmann 1964, S. 58). Dahingehend „musste die französische Kirche, auf sich allein gestellt, um ihre Existenz [eher um ihre Ruhe und Macht] ringen“ (B. Töpfer 1957, S. 13). 80 Vgl. G. Duby 1996, S. 174. 81 H. E. J. Cowdrey 1970, S. 47.

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communis der Historiografie (nicht nur82) des 19. Jahrhunderts, welche – aus rechtlicher Perspektive schreibend – die feudale Zersplitterung fälschlicherweise mit Gesetzlosigkeit assoziierte. Sobald der Schwerpunkt der Gottesfriedensforschung von dem rechtlichen auf den sozialen Aspekt wechselt, hört man auf, über Anarchie zu sprechen und nimmt neue Begriffe auf: die oben genannte „feudale Revolution“ (révolution féodale) bzw. „feudale Mutation“ (mutation féodale83) (von jenen gebraucht, denen „Revolution“ zu stark und anachronistisch erschien). Diese bestehe, so heißt es, in der „Ausbildung des Lehnswesens“ und im damit verbundenen „Rückgang der Staatsgewalt“; durch die Pax-Bewegung übernehme die Kirche „einen Teil der staatlichen Funktionen“84, wobei es im Blick auf diese Zeit falsch ist, von einer Staatsgewalt sowie von staatlichen Funktionen zu sprechen: Es waren mehr die Gewalt des Königs (und seines consensus fidelium) und die damit verbundenen Funktionen, aufgrund derer die Friedensbewahrung eine zentrale Stellung besaß.85 Die „feudale Revolution“ hatte, manchen Forschern zufolge, vor allem dann soziale Relevanz, solange sie zur Änderung des sozialen Spektrums des Mittelalters beitrug. Auf diese Weise verschwand – oder minderte sich zumindest durch die Vermehrung der lokalen Herrschaften – die gesellschaftliche Schicht der freien Bauern, die unter den Karolingern ein Gegengewicht zu dem „relativ schwachen Adel“ gebildet haben soll, so B. Töpfer. Der König selbst verlor damit seine Machtbasis und erlitt eine erhebliche Schwächung seiner Gewalt.86 Nebenbei sollte angemerkt werden, dass die Stärke der freien Bauern unter Karl dem Großen tatsächlich ihren Höhepunkt erlangte, dass aber das politische Wesen der ersten barbarischen Königreiche und sogar des karolingischen Reichs dennoch auf der Militäraristokratie – mit der Grafeninstitution und der konsensualen Herrschaft87 – aufgebaut war. Die ersten Eroberungen sind von Kleinkönigen mit ihren Gefolgschaften gemacht

82 S. Sargent redet selbst von einer „anarchy and social disorder“ (S. Sargent 1985, S. 219). 83 Vgl. J.-P. Polly/E. Bournazel 199. 84 Vgl. C. Erdmann 1955, S. 51. 85 Damit nähert sich meine Anschauung jener von H. Hoffmann an, indem man nicht über einen Zerfall der Staatsgewalt reden kann, solange es noch keinen Staat gab. Hoffmann zufolge existiert in der Zeit des früheren Gottesfriedens ein institutioneller Mischmasch, was die Kirche dazu veranlasst, manche Aufgaben der weltlichen Machtsphäre zu übernehmen, solange die Bereiche an sich nicht deutlich getrennt waren. In diesem Sinne redet Hoffmann über eine kirchliche „Staatstätigkeit“ (H. Hoffmann 1964, S. 1f), was mir – nebenbei bemerkt – mit seiner oberen Assertion in einem gewissen Widerspruch zu stehen scheint. 86 Vgl. B. Töpfer 1957, S. 7. 87 Vgl. K. van Eickels 2004, S. 22f.

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worden, wobei das rein bäuerliche Element keine nennenswerte Rolle spielte. „La révolution féodale“. Die Theorie einer feudalen Revolution88 zwischen 950 und 1050 stieß in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder auf starken Widerstand. Dominique Barthélemy, ein Schüler Dubys, obgleich er nicht grundsätzlich gegen eine Vergrößerung der Anzahl der Kastellane und eine daran gebundene königliche Herrschaftsschwankung ist (also nicht gegen eine feudale Revolution), situiert diesen Umbruch entweder im 8. oder erst viel später im 12. Jahrhundert.89 Dies gründet sich auf der Tatsache, dass die Beweise auf der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ebene, die eine Revolution zwischen 950-1050 unterstützen könnten, nicht ausreichend sind. Barthélemy versucht zu zeigen, dass in der Zeit der Gottesfriedensbewegung die Herrschaft und die Justiz nicht so schwach seien; damit wird die Theorie angefochten, dass die Pax-Bewegung aufgrund der Anarchie und lokalen Zersplitterung entstünde. Dort, wo es keinen König gab, ruhte, so Barthélemy90 fälschlicherweise, die Herrschaft in der Hand der Grafen bzw. Herzöge91, die in ihren Gerichtshöfen die Situation unter Kontrolle hielten. Dabei beruft er sich meistens auf Beispiele aus Nord-Frankreich, wo es einen König gab und wo die klaren Verhältnisse unter den feudalen Herren zu einer relativen Stabilität Galliens beitrugen. Über eine starke Autorität spricht er auch im Falle Wilhelms V. von Aquitanien (†1030), seinem beliebten Beispiel, um zu zeigen, dass es nämlich auch im „Vaterland“ des Gottesfriedens keine feudale Zersplitterung gab; er ignoriert jedoch, dass die südlichen Territorien (Aquitanien und Auvergne) eine reale territoriale und hierarchische Zersplitterung erlebten – die Grafen und Herzöge (sogar der „mächtige“ Wilhelm V. von Aquitanien92) kämpften gegeneinander und warben um die Unterstützung kleiner milites, die von ihrer Wichtigkeit profitierten und 88

„Die Ausübung der Banngewalt geriet etwa in die Hand von Burgherren, deren Herrschaft nicht mehr als delegierte aufgefasst wurde“ (G. Althoff 1981, S. 322). 89 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 96 und 323. Damit ist er nicht gegen die „feudale Revolution“, sondern gegen ihre Datierung. 90 Neue (vgl. O. Engels 2001) aber auch ältere Forschungen zeigen überzeugend genug, dass eben in Süd-Frankreich die Gerichtsbarkeit der Grafen schrumpft (vgl. B. Töpfer 1957, S. 8). 91 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 308f. 92 Der Herzog von Aquitanien war von der Gunst und Treue der lokalen Herren abhängig und musste ständig seine Stellung behaupten: „the Duke of Aquitaine had no institutional authority outside the Poitou, no chacellery of his own“ (A. Debord 1992, S. 138), d. h., er verfügte über keine Verwaltung. Seine Beziehung zu den Vasallen funktionierte nicht aufgrund der Treue – wie im klassischen Lehnswesen –, sondern durch convenientia, einen Vertrag zwischen zwei Gleichen, in dem die Vasallität eine bloße Formalität bedeutete (vgl. A. Debord 1992, S. 138f).

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durch ein gemeines Spiel der doppelten Vasallität ihre eigene Selbstständigkeit erwarben.93 Die unsichere Lage, die von manchen „feudale Revolution“, von anderen „feudale Mutation“ genannt wird, entstand sowohl aufgrund der Zersplitterung zentralistischer Formen der Gewalt durch viele kleine Herrschaften als auch aufgrund der Unklarheit der Verhältnisse zwischen diesen kleinen Seigneurs. In diesem Sinne meinte A. Kluckhohn bereits 1857 mit treffender Intuition: „Später freilich, als sich aus den verworrenen Zuständen dieser Zeit eine gewisse Ordnung des Lebens bildete und die Elemente, die wir noch im 10. und 11. Jahrhundert in wilder Gärung erblicken, sich allmählich zu einem buntgegliederten Systeme feudaler Hierarchie gestalteten, da erschienen jene zahlreiche Gewalthaber vom Herzog, Grafen und größerem Seigneur bis zum Chatelain und niedrigstem Vavasseur durch ein gemeinsames Lehnsbund, das vom König als Oberlehnherrn ausgeht, verknüpft und die rohe Willkür und Selbstsucht ist durch die Macht der Sitte und die Geltung des feudalen Rechts gemildert und gezügelt. Aber aus dem Zustande, der uns im 13. Jahrhundert entgegentritt, dürfen wir nicht auf gleiche Verhältnisse in der Zeit der ersten Kapetinger, wo alles im Umbildungsprozess begriffen war, schließen“.94 Die bereits empfindliche Auseinandersetzung über die sogenannte „feudale Revolution“ ist durch einen Artikel Thomas Bissons95 in den 90ern Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt worden. Hier versuchte der Amerikaner, die alte Polemik um eine neue Ansicht zu erweitern.96 Dabei geht er von zwei Beobachtungen aus: 1. In dieser Zeitspanne (von ca. 950 bis ca. 1050) fehlte die öffentliche Ordnung nicht vollständig.97 2. Die lokalen Kriege gab es seit dem früheren Mittelalter.98 Aufgrund dieser Bemerkungen schlägt er eine neue Auslegung des Begriffs „feudale Revolution“ vor – des Terminus, den er eigentlich mit einer gewissen Vorsicht der „mutation féodale“ vorzieht99: Die feudale Revolution sei kein sozialer Prozess (wie bei Duby), sondern einer, bei dem es sich um eine Macht- bzw. Gewaltverteilung im Sinne einer „Entpolitisierung der Gewalt“100 handele; d. h., die Regierungsmacht der zentralistischen Instanzen

93 Wie paradoxerweise von denjenigen Quellen bewiesen wird, welche von Barthélemy herangezogen werden, um das Gegenteil – relative Ruhe und politische Ordnung in Frankreich – zu beweisen (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 96). 94 A. Kluckhohn 1857, S. 8. 95 Vgl. Th. N. Bisson 1994. 96 Vgl. H.-W. Goetz 2004, S. 40. 97 Vgl. Th. N. Bisson 1994, S. 10ff. 98 Vgl. Th. N. Bisson 1994, S. 12f. 99 Vgl. Th. N. Bisson 1994, S. 9. 100 Th. N. Bisson 1994, S. 14f.

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(des Königs) kollabiert („what collapsed was government“101) und die Gewalt wird von einem Vorrecht des Souveräns zu einem Privileg der lokalen Kastellanen und somit von einem Ordnungs- zu einem Willkürfaktor: „Beyond reasonable doubt is that over several decades around the year 1000 the implantation of new lordships typically fortified and violent broke through an old barrier of regalian control“.102 Dementgegen antwortete D. Barthélemy: „The castellan lords possessed an authority of royal or comital type; they maintained order, after a fashion, within a district“.103 Gegenüber der gewöhnlichen Schärfe der Argumente D. Barthélemys ist diese Kategorie „Herrschaftstrend” ziemlich plump, da der Franzose nicht bemerkt, dass es sich jenseits der theoretisch abstrakten Annahmen in der Praxis sowieso um eine Zersplitterung handelte, sei es regional oder lokal. Die königliche Gewalt ist keine königliche mehr, wenn der König selbst fehlt, sondern sie unterliegt einer Distorsion. Freilich übt jeder Seigneur auf seiner Domäne Herrschaft aus, aber nicht eine Herrschaft gräflicher Natur, sondern im Namen einer eigenen selbstbestimmten Ordnung. Außerdem lässt sich Barthélemy in seinem Buch über den Gottesfrieden von einer Predigt Ademars von Chabannes (in PL 141, S. 117C) täuschen, wo der Geistliche sagt, dass optimates und Aquitaniae duces die Pax in regnum Aquitanicum einführen. Daraus zieht Barthélemy die Konklusion, dass Aquitanien so ein starkes Herzogtum war, dass es einem Königreich glich.104 Der Ausdruck von Ademar, zusammen mit der Erwähnung mehrerer (!) duces zeigt, dass die Situation nicht so rosig aussah: In einem so stark zentralisierten und gut kontrollierten Herzogtum ist es verwunderlich, über mehrere Herzöge zu sprechen. Ferner hob die Bezeichnung Aquitaniens als ein eigenes Königreich seine Selbständigkeit gegenüber dem westfränkischen Reich hervor und machte es selbst zu einem Zersplitterungselement in der politischen Geschichte des 11. Jahrhunderts. Das Missverständnis bezüglich der Theorie Bissons, der meiner Meinung nach grundsätzlich Recht hat, ergibt sich daraus, dass seine Kritiker keine Polarität „privat-öffentlich“ in den Realitäten des 10. bis 11. Jahrhunderts annehmen105 und folglich nicht an eine Privatisierung der Macht aufgrund der Verselbstständigung der kriegerischen Schicht glauben. In dieser Debatte schlägt Chris Wickham (Universität von Birmingham) den versöhnlichen und produktiven mittleren Weg ein und zeigt, dass die gesamte Polemik nur aufgrund einer Generalisierungstendenz beider Seiten entstehen kann: Forscher einer Region, in der eine unleugbare feudale 101

Th. N. Bisson 1994, S. 4. Th. N. Bisson 1994, S. 40. 103 D. Barthélemy 1996, S. 201. 104 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 309. 105 Vgl. S. D. White 1996, S. 222. 102

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Revolution stattfand (z. B. Th. Bisson für Süd-Frankreich und Duby für Mâconnais106), verallgemeinern das Phänomen für etliche Regionen, wo dieser Prozess fehlt oder sich langsamer entfaltet (in Nord-Frankreich). Somit provozieren sie die Reaktion der Spezialisten dieser zuletzt genannten Fälle (Barthélemy), die ebenfalls generalisieren und behaupten, dass es eine feudale Revolution gar nicht gegeben haben soll. Daher ist die nuancierte und an Ereignisse angepasste Forschung zu empfehlen: „Revolution, this major shift could be fast or slow, (relatively) peaceful or sharply violent, and the variations themselves shed light on the structural differences between one region and another“.107 Als Zusammenfassung des bisher Geschriebenen sollte gesagt werden, dass die Problemstellung dieser Arbeit davon ausgeht, dass in der Zeit der früheren Gottesfriedensbewegung (989-1038) Frankreich aufgrund einer schwachen königlichen Autorität und einer territorialen Zersplitterung tatsächlich mit einer instabilen Lage konfrontiert wurde, die zur Entstehung kleiner lokaler und schwer beherrschbarer Herrschaften führt. Solche Seigneurs und Kastellanen mit ihren Kriegergefolgschaften (in den Quellen caballarii oder milites) geraten wegen unklarer Nachbarschafts-, Grundstücks- und Hierarchieverhältnisse häufig in militärische Auseinandersetzungen, die den Kriegsspezialisten Ruhm, Reichtum und Satisfaktionen bringen mögen, den anderen sozialen Kategorien, den Klerikern (v. a. Mönchen) und Bauern hingegen bloß Schaden und Gefahren. Eine solche „Autonomie“ ist im mentalen Bereich mit einem erhöhten Selbstbewusstsein verbunden, das sich in Missachtung der Wertungen anderer sozialer Klassen äußert. Dieser Höhepunkt des Aufstiegs der kriegerischen Kaste ist allerdings eine Zuspitzung günstiger Umstände, die langfristig (seit dem Frühmittelalter) angelegt waren und auf der Notwendigkeit, Krieg zu führen, fußten: dem Einbruch der Barbaren in die Gebiete innerhalb der römischen Grenzen, der Entstehung und Behauptung der jungen Königreiche, dem karolingischen Imperiumsaufbau und dem Widerstand gegen spätere Invasoren wie den Ungarn und Normannen. Es handelt sich also um eine Störung der gesellschaftlichen Harmonie der drei Stände108, die sich 106

Hierbei sei hinzugefügt das Beispiel von einem Schüler G. Dubys, Guy Bois, der ebenfalls seine Dissertation (vgl. G. Bois 1999) über die sozialen Transformationen in Mâconnais am Beispiel des Dorfes Lourand schrieb. Seine Konklusionen sind extrem und mit Vorsicht zu genießen: „In Mâconnais nahmen die sozialen Spannungen im 10. Jahrhundert offenbar so zu, dass deren Entladung das gesamte soziale Gefüge sprengte“ (S. 163) oder „Die feudale Revolution war eine europäische Angelegenheit [...]. Sie erschütterte das gesamte karolingische Abendland“ (S. 164) usw. 107 C. Wickham 1997, S. 208. 108 Die kleinen Burgherren, die sich sowohl der Herrschaft der Kirche, als auch jener des Großadels entzogen, wurden ständig als Usurpatoren der Macht hingestellt, als manche, die ihre Stellung nicht legitim, sondern durch Raptus erlangt hatten (vgl. G.

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semantisch in der Bewertung kriegerischer Vorgänge sowie in der Reaktion der Kirche durch die Bildung eines Vertretungsethos übersetzen lassen. Der dritte Stand bleibt dieser Dynamik selber nicht fremd, und Werte wie Arbeit, Frieden, Sicherheit des materiellen Eigentums, Recht auf Schutz und somit auf anerkannte Gültigkeit finden in den Diskurs der Pax-Dekretalen Eingang. Pax und Treuga. Eine Definition der Gottesfriedensbewegung fordert einen Vergleich mit der anderen Pax-Form: der treuga Dei. Dies ist übrigens einer der wenigen Bereiche in der Forschung der mittelalterlichen pax, der unumstritten bleibt, obwohl die mittelalterlichen Quellen keine scharfe Trennung der beiden Begriffe nachweisen. Termini wie pax, pactum und treuga werden oft vermischt verwendet, und auch semantisch unterscheiden sie sich nicht immer.109 Technisch sind die zwei Erscheinungen der pax aber differenzierbar.110 Ganz einfach lässt sich die Treuga als eine später (Ende der 20er Jahre des 11. Jahrhunderts111) erschienene Variante des Gottesfriedens definieren, die einerseits eine Kompromisslösung112 zur Erfolglosigkeit der früheren Gottesfriedensbewegung darstellte – der es ja nicht gelungen war, die Waffengewalt für immer zu unterbinden, weswegen man nun versuchte, zumindest manche Zeiträume unter Waffen- und Fehdeverbot zu stellen – und andererseits eine Verdeutlichung und Detaillierung der Pax-Beschlüsse lieferte, sodass die Friedensbrecher keine Entschuldigungen mehr aufgrund unklarer und knapper Formulierungen113 – wie im Anfangsgottesfrieden – finden konnten. Der auffälligste Unterschied zwischen Treuga und Gottesfrieden ist, dass die letztere Form der pax nur Personen (Kleriker, Frauen, Bauern, Kaufleute)114, Güter (Kirchen, Klosterdependenzen, Grundstücke, Ernten usw.) und Tiere (Ochsen, Kühe, Esel usw.) in Schutz nahm und allgemeinen Charakter besaß, während die Treuga bestimmte Zeiten zu verschiedenen Anlässen festlegte, zu denen man keine Fehde oder keinen Koziol 1992, S. 129ff). Daher ist es verständlich, warum die Fürsten den Gottesfrieden förderten. 109 Vgl. L. Huberti 1892, S. 257 und 267. 110 Vgl. H.-W. Goetz 1983, S. 202. 111 Vgl. B. Töpfer 1961, S. 877. 112 Vgl. E. Wohlhaupter 1993, S. 15f. B. Meyer meinte hingegen, dass die Treuga kein Kompromiss war, sondern eben das wirksamste Mittel in der Bekämpfung des Fehdebrauchs (vgl. B. Meyer 1935, S. 7). Damit übersieht er, dass der Treuga im 11. Jahrhundert, genau wie dem Gottesfrieden, die völlige Abschaffung der Fehde nicht gelungen ist. 113 Die Friedenskanones waren relativ flexibel und jedes Verbot war durch ein nisi relativiert und außer Kraft gesetzt (vgl. D. Barthélemy 2002, Anm. 2, S. 580). 114 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 188 und H. Conrad 1971, S. 13.

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Feldzug führen durfte, z. B. die Spanne zwischen Donnerstag und Sonntag (zum Gedächtnis an die Auferstehung Christi)115, in der Quadragesima oder während einer Synode. Die Treuga ist ein Waffenstillstand oder ein „zeitlicher Friedenszustand“116 oder auch – wie sie mit britischem Humor genannt wurde – „the first week-end“.117 Wurde im Gottesfrieden der Frieden durch einen Schwur garantiert und der Friedensbruch mittels kirchlicher Strafen (Exkommunikation und Anathem) sanktioniert, so führte die Treuga die ersten Mittel der säkularen Gerichtsbarkeit ein: die Kaltwasserprobe, die Geldstrafen usw.118 Es macht sich ein Wechsel von einer sakralen, ja sogar magischen Dimension der Friedensstiftung zu einem laikal-rechtlichen Verfahren bemerkbar. Zur Etymologie des Wortes sollte vor allem gesagt werden, dass der Begriff „treuga“ in allen abendländischen Sprachen zu finden ist, ursprünglich aber stammt er aus der germanischen Sprachfamilie: ahdt. trew, trewe, truewe, triuwa, longobardisch triuva, fr. trêve, it. tregua. Seine erste Verwendung findet sich in der Ulfila-Übersetzung der Bibel (4. Jahrhundert), wo das Wort als Übertragung des griechischen διαθήκη (goth. triggwa, lat. testamentum) diente. Die passendere lateinische Übertragung von treuga ist eigentlich fidelitas.119 Die Hauptbedeutung des Wortes ist eine rechtliche, im Sinne einer Vermittlung zwischen zwei sich im Konflikt befindenden Lagern sowie im Sinne des Waffenstillstandes, der durch diese Vermittlung entsteht.120 Zum ersten Male wurde der Terminus in Verbindung mit Gott, treuga Dei, in Frankreich verwendet121, als technischer Name des PaxVerfahrens, welches das „klassische“ pactum pacis ersetzte. Treuga ist kein Begriff des ungebildeten Volkes, wie manche gelehrten Eliten des Hochmittelalters meinten. Im 19. Jahrhundert gab Friedrich Wasserschleben drei Dokumente mit Mitteilungen über den Gottesfrieden bzw. Treuga Dei heraus122, die er im Codex Gudianus der Wolfsburger Bibliothek fand und aus der Diözese Reims (Anfang des 12. Jahrhunderts) stammen.123 In einem von ihnen finden sich Exzerpte der Dekretalen des Papstes Paschalis II. (†1118). Dort heißt es: 115

Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 70. Vgl. L. Huberti 1892, S. 256f und C. Erdmann 1955, S. 54. „Pax ist der allgemeine, der dauernde Frieden, treuga bezeichnet den besonderen, den zeitlichen Frieden“ (L. Huberti 1892, S. 266, siehe auch B. Töpfer 1961, S. 876f). 117 L. M. Smith 1920, S. 170. 118 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 590. 119 Vgl. J.-P. Polly/ E. Bournazel 1991, S. 155. 120 Vgl. L. Huberti 1892, S. 252f. 121 Vgl. Du Cange 1954, S. 170. 122 Auch im elektronischen Format im Internet zu finden unter: http://dlibzs.mpier.mpg.de ( Stand 28.10.2005). 123 Vgl. Wasserschleben 1891, S. 112. 116

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„Fratres in Domino carissimi. In pace, quae vulgo treuia Dei dicitur et quae a die Mercurii sole occidente incipit et in die Lunae sole nascente finit.”124 (Liebe Brüder im Herrn, im Frieden, der von dem einfachen Volk als treuga bezeichnet wird und mittwochs beim Untergang der Sonne beginnt und mit dem Aufgang der Sonne montags endet.)

Solche Behauptungen sollten den Forscher nicht täuschen, dass der Begriff der Treuga eine vulgäre Form der Pax gewesen sei, sondern er ist an sich der Name einer anderen Pax-Form, der im gesamten 11. Jahrhundert von den kirchlichen Eliten in den treuga-Dei-Synoden als solcher verwendet wurde. Die Treuga ist aber nicht das Ziel dieser Unternehmung, sie erscheint spät und behält relativ wenige Elemente des früheren Gottesfriedens. An den Treuga-Beschlüssen beteiligt sich das Volk nicht einmal mehr passiv – etwa durch seinen begeisterten Beifall –, sie scheinen eher das Resultat harter politischer Verhandlungen der Bischöfe mit den Magnaten ihrer Diözese zu sein. Man glaubte, die mittelalterliche pax in mehrere Formen, so O. G. Oexle125, einteilen zu können, in pax ordinata – dem gebotenen, herrschaftlich angeordneten Frieden (worunter auch der durch Bischöfe bestimmte Gottesfrieden des 10. bis 11. Jahrhunderts, einschließlich des Konzils von Clermont 1095, zu ordnen wäre) – und in pax iurata – jene Form, die auf Übereinkunft und Konsens beruht (womit der von Kommunen oder Gilden beschworene Frieden gemeint ist).126 Über einen „herrschaftlich durchgesetzten Frieden“ ist im Falle der früheren Pax, die zeitlich übrigens viel zu lange, inklusiv der Synode von Clermont, von Oexle ausgedehnt wird, nur in problematischer Weise zu sprechen. Die Mehrheit der Forscher des Gottesfriedens zeigt, dass dieser eben aufgrund mangelnder Herrschaft entstand und ständig durch Mahnungen, Konzile und Pax-Milizen verteidigt werden musste. Die Quellen des 11. Jahrhunderts geben uns auch keine Auskunft über den Erfolg der Pax-Satzungen; daher bin ich vorsichtig, von einer herrschaftlich gebotenen Pax zu reden. In Bezug auf die zweite Form, der pax iurata, frage ich mich, in welche Kategorie ein Pax-Abkommen wie 124

Wasserschleben 1891, I, S. 112. Vgl. O. G. Oexle 1993, S. 88ff. Eine Einteilung, die offensichtlich von Roger Bonnaud-Delamare stammt, der selbst den Frieden in zwei Typen erörterte: 1. Die auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhende Konvention (vgl. R. Bonnaud-Delamare 1951, S. 20) bzw. Friedensvereinbarung und 2. Das unauflösbare decretum commune (vgl. R. Bonnaud-Delamare 1951, S. 22), das für alle verbindlich ist und auf bischöfliches Gebot entsteht (siehe die Bekämpfung der Theorie bei B. Töpfer 1961, S. 888). 125 126

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das in Le-Puy 975, als die Pax unter der Bedrohung einer Armee von allen, milites wie rustici, beschworen wurde, eingestuft werden soll. Damit landen wir bei der Besprechung der Elemente127, die für die klassische Pax typisch sind und die den Anfangsgottesfrieden von der Treuga bzw. andere Formen des Friedens (wie dem deutschen Gottes- und Landfrieden) unterscheiden. Der erste Gottesfrieden stützte sich auf das innewohnende Prinzip der sakralen Souveränität, d. h. auf die göttliche Autorität, die in den Vertretern Gottes auf der Erde ruhte und von ihnen verwaltet und ausgeübt wurde. So wird erstens der Gottesfrieden immer auf einem Konzil beschlossen, an welchem einer, aber meistens mehrere Bischöfe zusammen mit laikalen Magnaten, Äbten und Mönchen teilnahmen, die die Reliquien ihrer Klöster herbeibrachten128, und das Volk, das draußen die Ankündigung der Satzungen empfing, begeistert zustimmte und seine Bestätigung durch Wunder seitens der Heiligen beobachtete. Die Synode kündigte zweitens einen Friedensbeschluss an, der gegen die kriegerische Schicht und ihre Waffenstreitigkeiten gerichtet war und der friedliche Kategorien (Kleriker, Schwache, Bauern usw.) oder Gebäude (Kirchen) in Schutz nahm. Die Durchführung des beschlossenen Friedens wurde durch einen, von allen anwesenden milites geleisteten Eid gesichert. Es ist unwahrscheinlich, dass es zum Gottesfrieden auch einen rituellen Friedenskuss gab129: Die Quellen erwähnen ihn nicht und ebenso ist es unwahrscheinlich, dass die milites und pauperes Friedensküsse tauschten. Garanten des Friedens waren Gott und seine Heiligen, entweder direkt durch miracula oder indirekt durch eine militia pacis, die das Ziel hatte, das Friedens- und Liebesgebot Gottes in der Welt zu bewahren. Sie wurde in den Quellen mit dem auserwählten Volk Israel130 gleichgesetzt.131 Der Chronist des Gottesfriedens, Rodulfus Glaber, zeigt in seinem Werk, dass die Freveltäter gegen die Kirche direkt von Gott bestraft werden: “Si qui nempe de primatibus patriae huius loci rerum invasores seu diremptores increverunt, Deus exinde ultor ipsorum genus cum suis rebus in obprobrium et pene ad nichilum redigere consuevit.“132

127

Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 20ff. Vgl. S. Sargent 1985, S. 228. 129 Wie es von K. Schreiner 1996, S. 57 spekulativ angedeutet wird. 130 Wie z. B. die Pax-Miliz von Bourges (1038). 131 „Typically, Peace Councils were held in a large open terrain where saints’ relics head been ceremonially paraded. In the presence of the large crowds of commoners attracted by these processions, the elders of the council (high nobility, bishops, abbots) would proclaim Peace legislation designed to protect civilians […] and control the behaviour of the warriors. This proclamation was often accompanied by an oath to observe the Peace […]” (R. Landes/F. S. Paxton 1986, S. 168). 132 GLABER, V, i, 8. Die Malediktionen des 10. bis 11. Jahrhunderts beinhalten „avec une régularité tenace“ (L. K. Little 1975, S. 384) die Erwähnung, dass der durch Waffen 128

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(Denn es ist bekannt, wenn sich irgendeiner der Mächtigen dieses Gebietes [Auxerre] in ihre Ländereien [der Heiligen Germanus und anderer] einzubrechen oder zu plündern vermessen hat, hat der Rache nehmende Gott sein Geschlecht mit all seinem Gut in Ehrlosigkeit gestürzt und fast vollkommen vernichtet.)

Die Strafe gegen die Krieger richtet sich offensichtlich auf ihre Ehre und ihre Güter als materielles Zeichen dieser durch ihr getadeltes Ethos (Gewaltsamkeit, Willkür, Aggressivität) erworbenen Ehre. Die Maßnahmen gegen den Friedensbruch waren am Anfang exklusiv kirchlicher Natur133 – die Exkommunikation und das Anathem –, später134 wurden mit der Treuga auch peinliche Strafen bzw. Verbannung oder Geldstrafen eingeführt. Der nachfolgende deutsche Gottes- und Landfrieden beinhaltet Beschlüsse, die den tatsächlichen physischen Tod des Friedensbrechers verhängen. Sei es symbolisch oder tatsächlich, die Strafen für das Verbrechen gegen den beschlossenen Frieden sind also Todesstrafen. So kam in dem stark sozialisierten Mittelalter eine Exkommunikation dem sozialen und schließlich dem physischen Tode gleich, während das Anathem den geistlichen Tod der ewigen Verdammnis bedeutete. Eine Exkommunikationsformel sah folgendermaßen aus: „Et ut noveritis omnes, quale peccatum sit, iungi excommunicatis: nullus christianus debet manducare cum eis vel bibere, neque osculum eis porrigere, neque cum eis loqui, nisi de satisfactione; neque si excommunicati defuncti fuerint, debentur ad ecclesiam sepeliri; neque aliquis clericus vel fidelis debet pro eis orare.“135 (Und dass ihr alle wisst, es ist Sünde, mit Exkommunizierten Kontakt zu haben: Kein Christ darf mit ihnen essen oder trinken oder sie küssen, ebenso nicht mit ihnen reden, außer über eine [eventuelle] Genugtuung; wenn sie verstorben sein sollten, dürfen sie nicht bei der Kirche bestattet werden; und kein Kleriker bzw. Gläubiger darf für sie beten).

Wie wir sehen, wird durch die Exkommunikation die gesamte soziale Umgebung des Betroffenen gegen ihn mobilisiert. Nebenbei soll bemerkt werden, dass die Exkommunikationsbeschlüsse nie unwiderruflich sind, denn es bleibt immer die Möglichkeit eines nisi, das am häufigsten mit einer und zum Schaden der Kirche oder der Bauern erlangte Ruhm der milites in saecula exstingatur sein werde (vgl. L. K. Little 1975, c. 61, S. 387). Solcher Ruhm wurde in Fehden, bei der Behauptung der Familienehre durch Waffengewalt, erlangt. Die Kirche zeigt die Abwertung dieses Ethos, indem ganz gezielt die Basis der kriegerischen Ehre – die Hoffnung auf Nachruhm – durch Anathemata angegriffen wird. 133 Vgl. L. Huberti 1892, S. 36. 134 H. Hoffmann behauptet, dass auch in früheren Formen des Gottesfriedens peinliche Strafen verhängt wurden (vgl. H. Hoffmann 1964, S. 5), er erklärt aber nicht, was bei ihm „frühere Formen“ zu bedeuten haben, und belegt seine Aussage nicht. 135 Zitiert von L. Huberti 1892, S. 241.

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eventuellen Buße in Verbindung steht, die den Sünder mit der Mutterkirche versöhnen kann. Aber es gibt auch Exkommunizierte, die nicht bereuen, und in diesem Fall haben diese keine Chance auf Vergebung. Bei dem zweiten Konzil von Limoges (1031) erzählte der Bischof von Cahors136, wie ein exkommunizierter Widersacher des Friedens in einer Fehde ermordet und von seinen Vasallen ohne bischöfliche Absolution auf dem Friedhof einer Kirche namens Sankt Petrus bestattet wurde. Am nächsten Tag wurde er ausgegraben außerhalb des Friedhofes auf dem Boden gefunden.137 Auf solche Weise erhielten die Bischöfe des Gottesfriedens die Bestätigung, dass ihre Pax-Bestrebungen gottgewollt sind. Die Exkommunikation als kirchliches Zwangsmittel und Strafe gegen die Feinde der Kirche ist sehr alt. Bereits im 6. Jahrhundert gab es Kanones, die gegen Plünderungen und Raub der kirchlichen Güter erlassen wurden138, der Brauch ist folglich kein neuer. In außergewöhnlichen Fällen konnte die Kirche zur Friedenswahrung sogar eine excommunicatio publica aussprechen. Auf demselben Konzil Limoges II (18. November 1031), unter der Führung des Bischofs Jordan von Limoges, wurde ein allgemeines Interdikt139 von abbas Odolricus vorgeschlagen, da die milites der Diözese gar kein Zeichen der Reue aufwiesen: „Nisi de pace aquieverint, ligate omnem terram Lemovicensem publica excommunicatione: eo videlicet modo, ut nemo, nisi clericus, aut pauper mendicans, aut peregrinus adveniens, aut infans a bimatu, et infra, in toto Lemovicino sepeliatur, nec in alium episcopatum ad sepeliendum portetur. Divinum officium per omnes ecclesias latenter agatur et baptismus petentibus tribuatur.”140 (Wenn sie [die Einwohner Limoges] sich nicht dem Frieden verpflichten, fesselt Ihr die gesamte Limoges-Gegend durch eine öffentliche Exkommunikation: so dass niemand – außer der Kleriker, Bettler, auswärtige 136

Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 442. „Tunc episcopus Cadurcensis coepit enarrare, dicens: Nuperrime post concilium Bituricense, quidam de excommunicatis eques in nostra dioecesi interfectus est, quem ego rogantibus amicis et propinquis ejus nullatenus solvere volui, ut ceteri metum haberent: gravem enim culpam praedantis habuerat. Itaque sine sacerdotis obsequio a militibus apud quamdam ecclesiam Sancti Petri, non me jubente, sepultus est. Manem autem facto, corpus ejus longe extra cemeterium projectum est et nudum super faciem terrae“ (Mansi 19, S. 541, B-C). 138 Auf der Synode von Orleans 538 der merowingischen Zeit verkündete der 25. Kanon, dass jeder, der kirchliche Güter geraubt oder in Beschlag genommen hatte und sie nicht zurückgab, keine Entschuldigung habe: „Si quis res ecclesiae debetas vel proprias sacerdotes orrendae copiditatis instinctu occupaverit, retenuerit aut a potestate ex conpeticione perceperit, se, ut eas non restituat, nullis rebus excusit“. Er wird „a communione ecclesiastica suspendatur“ (Concilium Aurelianense, c. 25, S. 80-81). 139 Vgl. B. Töpfer 1957, S. 71. 140 Mansi 19, S. 541 E. 137

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Pilger oder Kinder unter zwei Jahren – im gesamten Limousin bestattet werden kann, und nicht einmal in ein anderes Bistum zur Bestattung gebracht werden [darf]. Der Gottesdienst soll in allen Kirchen heimlich gehalten werden, nur die Taufe soll jenen, die darum bitten, gewährleistet werden.)

Obgleich das nur ein Vorschlag war, der nie in die Praxis umgesetzt wurde141, ist es interessant zu beobachten, welche Waffen die Kirche bereit war einzusetzen, um im Namen einer immer größer werdenden Macht und Autorität ganze Diözesen exkommunizieren zu können. Obwohl die soteriologischen Implikationen des Anathems von den Menschen sehr wenig gefürchtet wurden, scheint es, dass die konkreten Ergebnisse eines Exkommunikationszustandes – wie z. B. das Verbot, „anständig“ bestattet zu werden – ziemlich unangenehm und beeindruckend waren. War die Anwendung des kirchlichen Banns am Anfang des Gottesfriedens eine einschüchternde Waffe, so wurde er ungefähr ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts abusiv und inflationär verhängt, was zu seiner Missachtung seitens der Betroffenen führte.142 Die Malediktions-Formeln werden zu detailbesessenen Diatriben. Das besagt eine italienische Quelle am Ende des 11. Jahrhunderts143: „Sit maledictus et anathematizatus et excommunicatus, detestabilis et abominatus modo in perpetuum; sit condampnatus et absorbeat eum mater terra cum Dathan et Abiron, sit demersus in profundum inferni cum Nerone et Herode et Iuda traditore. Et quandiu vixerit in isto seculo, sit maledictus et anathematizatus, ambulando, stando, sedendo, iacendo, dormiendo, vigilando, manducando, bibendo, loquendo, tacendo. Sit maledictus in omni opere suo.”144 (Er soll verflucht und verdammt und exkommuniziert, verabscheungswert und verwünscht sein, jetzt und immerdar, er soll verurteilt werden und die Mutter Erde soll ihn – mit Dathan und Abiron – verschlingen, er soll – mit Nero und Herodes und Judas, dem Verräter – in den Abgrund der Hölle versinken. Und, solange er in dieser Welt leben wird, soll er verflucht und verdammt sein, wenn er geht, wenn er steht, wenn er sitzt, wenn er ruht, 141 Huberti meint dagegen, dass diese Bedrohung mit dem Interdikt tatsächlich angewandt wurde (vgl. L. Huberti 1892, S. 214). 142 „L’influence sociale des excommunications, qui fut la source de tous les progrès du XIe siècle, a disparu“ (E. Semichon 1857, Anm. 1, S. 322). So berichtet Orderic Vitalis, dass der Graf Rotrou von Mortagne (Rotrone Mauritaniensi), ein Verbündeter Wilhelms des Eroberer, trotz zahlreicher Mahnungen, (incorrigibilis perseverans) weiterhin ohne Rücksicht Ländereien der Kirche von Chartres plünderte (terras Carnotensis ecclesiae plerumque praedaretur), was ihm schließlich eine Exkommunikation einbrachte (ab episcopo cum clero excommunicaretur). Dies kümmerte ihn jedoch nicht im Geringsten – er stirbt exkommuniziert – und auch seinen Freund Wilhelm nicht. 143 Vgl. R. E. Reynolds 1984, S. 453 und 460. 144 R. E. Reynolds 1984, S. 462. Siehe auch die Malediktion von Mansi, 19, S. 594.

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wenn er schläft, wenn er wacht, wenn er ißt, wenn er trinkt, wenn er redet, wenn er schweigt. Er soll verflucht sein bei allem, was er unternimmt.)

All das klingt sehr bedrohlich und es werden konkrete „Fälle“genannt, wie jenen der biblischen Dathan und Abiron (Num 16, 1-33), die noch lebend in die Hölle versanken, weil sie gegen die von Mose geschaffene Ordnung rebellierten. Obwohl auf den ersten Pax-Konzilen (wie Charroux I 989) die Exkommunikation ohne jegliche Einzelheiten ausgesprochen wurde, bilden solche detaillierten Formeln eine „longue histoire de la malédiction“.145 Das Beispiel von Dathan und Abiron ist gewiss nicht zufällig von den Bischöfen gewählt worden, denn die Hierarchen wollten damit die ebenso rebellischen milites erinnern, dass ihnen dasselbe Schicksal beschieden sein wird, wenn sie die gleiche Sünde begehen: die Störung der Schöpfungsordnung und des auserwählten Volkes – in unserem Falle der Christenheit. Die übertriebene Anwendung der Exkommunikation und des Anathems hatte also zur Folge, dass beide im 12. Jahrhundert146 ihre Überzeugungskraft einbüßten147, was auch den erhöhten Einsatz der Friedensmilizen mit der Zeit forderte.148 In den Kanones und Dekretalen erscheinen neue Satzungen, die auf einen relativ verbreiteten Brauch hinweisen, dem gemäß Exkommunizierte trotz des Banns aus unterschiedlichen Gründen zum Gottesdienst zugelassen wurden. In einem Erlass des Papstes Paschalis II. hieß es, dass diejenigen Kleriker, die aus Angst oder aus Liebe (Treue) zu ihrem Herrn, oder, weil sie bestochen wurden, Exkommunizierte zum Gottesdienst annehmen, selbst aus ihrem priesterlichen Amt abgesetzt werden: „Statuimus quoque, ut sacerdotes vel monachi qui timoris causa vel amoris dominorum suorum vel causa pecuniae excommunicatos ad divinum officium receperint, a propriis ordinibus degradentur.“149

Das zeigt einerseits, dass dieser Brauch nicht selten war, was für die Missbilligung des kirchlichen Banns seitens der Gläubigen spricht; andererseits bemerkt man eine Stellungnahme der Kirche gegenüber jenen, die ohne Rücksicht auf ihre Qualität, Vertreter Gottes zu sein und der kirchlichen familia anzugehören, ihren weltlichen Lehnsherrn treuer sind und somit ihre Vorliebe zum kriegerischen Gefolgschaftsethos und nicht zur Liebe Christi beweisen. Gegen diese Übertreibung hinsichtlich der Verhängung kirch145

Die bis in das 9. Jahrhundert zurückreicht (vgl. L. K. Little 1975, S. 377ff). Vgl. R. E. Reynolds 1984, S. 460. 147 „Quia ista frequentius fiunt, in cordibus reproborum viluerunt“ (Weil diese [das Anathem und die Exkommunikation] häufig erlassen werden, sind sie in den Herzen der Widerspenstigen verachtet worden) (De statu ecclesiae, S. 83), wird in einem Dialog (Dialogus de statu sanctae ecclesiae) an der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert gemahnt. 148 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 22. 149 Wasserschleben 1891, II, c. 10, S. 114. 146

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licher Strafen erheben sich sogar wichtige Namen der Kirche, wie Petrus Damiani150, der in einem Brief an Papst Alexander II. (†1073) diesen unvernünftigen Gebrauch des Banns bekämpfte.151 Die kirchlichen Strafen wurden in der späteren deutschen Form des Gottesfriedens durch peinliche Strafen ersetzt: Verbannung, Vermögensverlust und im Falle der servi Verstümmelung.152 Es handelt sich in dem früheren deutschen Gottesfrieden um eindeutige Diskriminierungen aufgrund ständischer Angehörigkeit. So setzt die Lütticher pax von 1082 fest: Wenn der gegen den Frieden Verstoßende ein freier Mann sein sollte (homo liber), soll er seine Erbschaft verlieren (hereditatem perdat), seines Lehens entledigt werden (beneficium privetur) und verbannt werden (expellatur). Im Falle eines servus oder ecclesiasticus ist die Strafe der Verlust seiner Habe und seiner rechten Hand (servus autem sive ecclesiasticus amittat omne quod habet et dexteram perdat).153 Später konnte sich jemand, der des Friedensbruchs beschuldigt wurde, allerdings nur, wenn es sich um einen Unfreien handelte, durch die Kaltwasserprobe entlasten.154 Zu Beginn aber suchten sich die Verdächtigten „Spezialisten“, die die Kaltwasserprobe an ihrer Stelle bestehen sollten. Gegen solche Bräuche befahl der sächsische Gottesfrieden von 1084, dass der beschuldigte Knecht oder Ministeriale die Kaltwasserprobe persönlich bestehen soll.155 Ein wichtiges Element des klassischen Gottesfriedens ist die Anwesenheit zahlreicher Reliquien auf den Friedenssynoden. Im Vergleich zu den Pax-Formen nach der Mitte des 11. Jahrhunderts weist die frühere pax auf eine erhöhte dramatische Inszenierung der Friedensbeschlüsse hin. In dieser stark ritualisierten und religiös-symbolischen Gestaltung der Friedensstiftung spielen die Reliquien der Heiligen eine wesentliche Rolle. Durch Wunder zeigen sie ihre Sorge für die Schöpfung (d. h. für die pauperes); es wird damit also auf den Vertretungscharakter der Kirche im Gottesfrieden hingewiesen: Sie setzt sich auch – mit bescheideneren Mitteln als ihre 150

Vgl. L. K. Little 1975, S. 384f. Vgl. PL 144, S. 214D-215A. 152 Vgl. J. Gernhuber 1952, S. 57. 153 Vgl. Pax Leodiensis Anm. 1, S. 603. An dieser Verurteilung der klerikalen Friedensbrecher sieht man das starke Streben der ekklesiastischen Hoheiten, ein eigenes Ethos und ein eigenes Wertungssystem zu bilden und es zu beschützen. So werden Kleriker, die sich kriegerischen Taten und Handlungen hingeben, als „Verräter“ jener Ideale aufgefasst, die die Kirche ihnen zuschrieb: Die Strafe war ebenfalls viel strenger als im Falle von milites. 154 In der Kaltwasserprobe „wird der rituell gefesselte Proband – an einer Leine gehalten – ins Wasser geworfen. Geht er hinunter, so gilt er als unschuldig und wird mit der Hilfe der Leine wieder an Land gezogen“ (Artikel: Gottesurteil, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4). 155 „[S]i servus, tam lito quam ministerialis, iudicio aquae frigidae, ita scilicet ut ipsemet in aquam mittatur“ (Der Sächsische Gottesfriede, 5, S. 148/149). 151

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himmlischen Vorbilder – für die pauperes ein. So kann der heutige Forscher zwischen einem, von Begeisterung und gewissem Idealismus geprägten, frühen Gottesfrieden und den späteren Treugae unterscheiden, die nichts anderes als pax-Kompromisse mit den lokalen oder regionalen Mächtigen waren und bei denen Reliquien und Volk ausblieben. Bei den deutschen Gottesfriedenskonzilen in den 80er Jahren des 11. Jahrhunderts fehlen ebenfalls die Reliquien, was die gesamte Angelegenheit zu einer juristischen Routine der Großen verkommen lässt. Vox populi vox Dei, sagt ein lateinischer Spruch. Wenn das Volk seinem lauten Beifall und seiner Zustimmung kein Gehör mehr verschafft und die pax zu einem politischrechtlichen Abkommen der kirchlichen und laikalen Eliten wird, verliert der Gottesfrieden seine Substanz: Es handelt sich wohl nicht mehr um einen Gottes-Frieden, sondern um einen Menschen-Frieden. So sind die späten pax-Unternehmungen arm an Mirakel und Reliquien. Die kirchliche Vertretung wird objektiviert: Der zu Vertretende rückt in den Hintergrund und überlässt seine Angelegenheiten völlig den irdischen Vertretern. Sie brauchen in ihrer neuen Machtstellung aber keine Zeichen des göttlichen Beistandes (Wundertaten oder eben Reliquien) mehr, ihre bloße Anwesenheit ist nun Zeichen genug des Gottgewollten. Im zweiten Teil dieser Arbeit habe ich aufgezeigt, welche wichtige Stellung die Reliquien in der Volksfrömmigkeit besaßen: Daher lässt sich leicht nachvollziehen, welche Geltung sich die Kirche bei den ersten Friedenssynoden vor dem Volk verschaffte, indem sie zahlreiche Reliquien herbeibrachte. Die kirchlichen Gelehrten und die laikalen Magnaten behielten eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der starken – und lauten – Verbundenheit des Volkes und des Klerus mit den Reliquien.156 Es ist aber schwer, über einen Patron-Heiligen des Gottesfriedens im Allgemeinen zu reden; so wurde z. B. versucht, den Heiligen Leonard von Noblat (einen Schüler des Remigius von Reims im 5. Jahrhundert) als Heiligen der pax Dei vorzuschlagen.157 Das ist allerdings spekulativ: Die Quellen erwähnen zumeist nur, dass sich viele Reliquien auf Pax-Synoden befanden. Manchmal werden auch Namen angegeben, doch nichts begünstigt die Annahme, dass der Heilige Leonard eine privilegierte Stellung in der Spiritualität des Gottesfriedens spielte. In den von Wundern begleiteten Pax-Konzilen erhob die Masse zu stark ihre Stimme, was oft Bedenken bei den potentiores verursachte. Der Kleriker Bernard d’Angers († nach 1020) schrieb anfangs des 11. Jahrhunderts158 den Liber Miraculorum Sancti Fidis. Als gebildeter Theologe bekundete er eine verborgene, nicht offenkundige Kritik an einer solchen 156

Vgl. S. Sargent 1985, S. 227. Vgl. S. Sargent 1985, S. 228 und 238f. 158 Vgl. die Einleitung in Miraculorum Fidis, S. 58ff und 65. 157

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einfachen Volksfrömmigkeit, die in der Reliquienverehrung (eher in der Statuenverehrung) einer Götzenanbetung glich und damit das zweite Gebot (siehe Ex 20, 4) brach. Er erlaubte sich Scherze auf Kosten des Heiligen Geraldus, allerdings nicht laut: „Quod cum sapientibus videatur haud iniuria esse superstitiosum, videtur enim quasi prisce culture deorum vel potius demoniorum servari ritus, mihi quoque stulto nihilominus res perversa legique christiane contraria visa nimis fuit, cum primitus Sancti Geraldi statuam super altare positam perspexerim, auro purissimo ac lapidibus pretiossimis insignem et ita ad humane figure vultum expresse effigiatam, ut plerisque rusticis videntes se perspicaci intuitu videatur videre [...] Moxque Bernerio meo mea culpa subridens latino sermone in hanc sententiam erumpo: ‘Quid tibi, frater, de ydolo? An Iuppiter sive Mars tali statua se indignos estimassent?’”.159 (Dies [die Reliquienverehrung] wurde unter Gelehrten ohne beleidigende Absicht betrachtet, als wäre es abergläubisch; fast wie im damaligen Kult der Götter – oder eher der Dämonen – wurde das Erhalten solcher Bräuche bemerkt. Und mir, dem Narren, erschien es nicht destoweniger widersinnig und dem christlichen Glauben allzu widersprüchlich, was ich gesehen hatte, als ich zum ersten Male die auf dem Altar stehende Statue des Heiligen Geraldus gesehen habe, mit reinstem Gold und mit Edelsteinen geschmückt und deutlich das Bild eines Menschen nachahmend, sodass sich zahlreiche Bauern, die sie anschauten, einbildeten, die Statue könne sehen [...]. Dann brach ich schnell – zu meiner Schuld – in Lachen aus und sagte meinem Kumpanen Bernerius auf Latein: „Was hältst du davon, Bruder? Würde sich Jupiter oder Mars einer solchen Statue als unwürdig betrachten?“)

Bernard d’Angers hat erheblichen Zweifel an dem Recht der Statuenverehrung, er sagt es aber nicht laut und versucht – durch Entschuldigungen und Übernahme zahlreicher ikonophiler Argumente – seinen eigenen schwankenden Glauben an Reliquien zu zementieren. Er wirkt jedoch unglaubwürdig. Was uns aber interessiert ist, dass er Angst hatte, seine Bemerkungen in der Öffentlichkeit zu machen; seine Meinung ist also eine Ausnahme160 und würde auf heftigen Tadel stoßen, der ihm sogar den Tod

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Miracula Fidis, I, c. 13, S. 112f. Die einfachen Dorfpriester des Mittelalters standen auf demselben Bildungsniveau wie ihre Dorfbewohner, daher ist ihr Glaube heterodox (vgl. L. A. Veit 1936, S. 9): So glaubten sie fast idololatrisch an die Kraft der Reliquien. Andererseits aber war die offizielle, durch die Bischöfe bewachte Lehre der Kirche ebenfalls reliquienfreundlich (in guter Tradition des siebten ökumenischen Konzils (787)). Bernard steht mit seiner elitären Auffassung isoliert da und findet weder beim Volk noch beim hohen Klerus Gehör. Seine Angst ist wohl verständlich. 160

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bringen könnte, wie er später in seinem Buch befürchtet.161 Bernard d’Angers gehört keineswegs der kirchlichen Führungselite an, sondern nur der gelehrten Schicht in der Kirche. Dies hat aber weiter keine Aussagekraft in Bezug auf das gesamte kirchliche Corpus – nicht einmal hinsichtlich aller Gelehrten der Kirche, denn sein sapientes ist ein sehr unklarer und zu relativierender Begriff. Er fürchtete offensichtlich die Sanktionen, die seine verborgenen Gedanken hervorrufen könnten, daher dementierte er seine eigenen Anschauungen. Eventuell ist er ein Feigling, mit Sicherheit aber eine einsame Stimme. Die Antwort des Kumpanen Bernards kennen wir nicht, daher kann man nur spekulieren, dass er zustimmte. Doch diese Vermutung lässt ebenfalls keine Verallgemeinerung zu. Im Gottesfrieden lässt sich die Volks- und Kirchenfrömmigkeit nicht von solchen in lateinischer Sprache gesagten Scherzen stören. Die Reliquien sind in den Friedenskonzilen aus zwei Gründen ein Muss: 1. Man leistet den Friedensschwur auf diese Reliquien.162 2. Die Heiligen – und mit ihnen Gott selbst – sind die Garanten des frisch geschlossenen Friedens.163 Die Masse findet in der Anwesenheit der Reliquien Trost, Ermunterung und Bestätigung. In dem Bericht über die Präsenz des Leibes von Sankt Bercharius auf der Synode von Héry (1024) wird überliefert, dass er sich dort ad cumulandam devotionem populi164, zur Stärkung der Glaubensandacht, befindet. Das Volk ist begeistert und fühlt sich bei den Wundertaten der Heiligen Fides (einer Märtyrerin aus dem 4. Jahrhundert, deren Reliquien sich seit 855 in Conques, südöstlich von Limoges, befanden) sicher; es betrachtet diese Mirakel als „Spiele“ (joca)165 im positiven Sinne, obwohl der Ausdruck ursprünglich von einer Gräfin ironisch erläutert wurde.166 Die 161 Miracula Fidis, I, c. 13, S. 113: „Que abusio in predictis locis adeo prevalet, ut si quid tunc in sancti Geraldi imaginem aperte sonuissem, fortasse magni criminis penas dedissem“. 162 Vgl. H. Hattenhauer 1998, S. 27. 163 „…les reliques, qui servaient de légitimation juridique pour la mise en vigueur des canons de la paix“ (Th. Gergen 2004, S. 125). 164 H. Hattenhauer 1998, S. 3. 165 Vgl. B. Töpfer 1956, S. 434. 166 Nachdem die Heilige noch ein Mirakel auf einer Synode in Rodez vortrug (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 132) – als sie ein blindes, lahmes, taubes und stummes Kind heilte (puer a nativitate cecus et claudus, surdus et mutus) – freut sich das anwesende Volk mit lautem Beifall: „Cumque strepitus vulgi super tali resonaret prodigio, seniores concilii, qui considebant paulo remotiores, coeperunt inter se conquirere, dicentes: ‚Quid sibi vult ista popularis conclamatio?’. Quibus Bertildis comitissa respondens: ‚Quid – inquit – aliud hoc esset, nisi quia Sancta Fides iocatur, ut solet?’” (Und als sich das Geschrei der Masse aufgrund dieses Wunders erhob, begannen die Konzilsväter, die ein bisschen weiter entfernt zusammensaßen, sich einander zu fragen: „Was soll dieses Geschrei der Menge?“. Ihnen antwortete die Gräfin Bertilde: „Was – sage ich – sollte sonst sein, als dass Sancta Fides wie immer spielt?“) (Miracula Fidis, c. 28, S. 133).

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Menschen freuten sich, wenn ihre Rechte in wundersamer Weise von einem Heiligen geschützt wurden, da sie selbst keine Chance hatten, allein gegen die milites ihre Gerechtigkeit durchzusetzen: Das Volk war in diesem Sinne auf die Heiligen angewiesen. Daher ist es kein Zufall, dass die Mirakelliteratur anfangs des 11. Jahrhunderts blüht: Die Masse fand in diesen Mirakeln ein Gegengewicht zur Willkür, Gewaltsamkeit und Unterdrückung der Herren.167 Daher ist es eine kleinliche Auslegung der Fakten, wenn man behauptet, dass die Reliquien nur Manipulierungsinstrumente in den Händen der Kirche gewesen seien, um die einfachen Menschen unter Kontrolle zu halten und sie ihres letzten Pfennigs zu berauben.168 Eigentlich verlieh der Besitz wichtiger Reliquien verschiedenen Klöstern oder Kirchen ein bedeutendes Ansehen und Sicherheit (durch das Bewusstsein, dass der Heilige die Kirche, in der sein Leib ruht, in Schutz nimmt). Ferner gilt ein gut mit Reliquien „gerüstetes“ Kloster oder ein „gerüsteter“ Dom als Vertreter Gottes mit „stärkeren“ Trümpfen als andere. Freilich ist eine der Konsequenzen eines solchen Prestiges das Steigen des materiellen Einkommens; wirtschaftlich-zynische Berechnungen können aber nicht vor den wahren Glauben (an die Heiligkeit der Reliquien) gestellt werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele dieser Gelder für Bücher, andere Reliquien oder geschmückte Reliquientruhen (also für weitere „Prestige-Objekte“) oder zur Fürsorge der Armen ausgegeben wurden. Das Geld an sich nimmt in dieser Angelegenheit die religiöse Bedeutung einer Opfergabe an; es als bloßes wirtschaftliches Verfahren anzusehen, wäre unangebracht. Es handelt sich um den Glauben und die Überzeugung, dass die Kirche die Stellvertreterin der Heiligen auf der Erde und Verwalterin der Schöpfung sei.

167

Vgl. P. Bernards 1941, S. 50. Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 19. Er lässt sich offensichtlich von Töpfer beeinflussen: Die Kirche habe „diese Frömmigkeitsformen oft bewusst und entschieden gefördert [...], um diese Massen an sich zu fesseln“ (B. Töpfer 1957, S. 36). Ein Beweis für die „demagogische“ Nutzung der Reliquien seitens der Kirche sei, dass „die führenden Vertreter der kirchlichen Hierarchie oft mit äußerster Zurückhaltung oder gar Missbilligung auf solche Äußerungen der Volksreligiösität herabsahen“ (B. Töpfer 1957, S. 38). Man habe gewusst „angesichts der damaligen Popularität des Reliquienkults [...], dass man damit eine große Menschenmenge anlocken würde“ (B. Töpfer 1961, S. 878). Den bekanntermaßen marxistischen und nicht ausreichend belegten Ansichten Töpfers (siehe ebenfalls B. Töpfer 1956, S. 422, 428 und 437) lässt sich nur antworten, dass die gesamte Reliquienfrömmigkeit des Mittelalters ihre Wurzel in dem christlichen Ethos überhaupt hat und sie zur religiösen Manifestierung jeder Spiritualität gehört, sei es vor oder nach Christus. Dass dem Reliquienkult Parallelismen in heidnischen Traditionen nachgewiesen werden können, liegt auf der Hand. Die Reliquienverehrung ist ein Zusammentreffen der kirchlichen Mission und der Heilssucht des einfachen Volkes: Die Kirche verehrt in den Reliquien der Heiligen Vorbilder und das Volk Väter und Beschützer. 168

Ehrkonstrukte im Gottesfrieden

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„[C]onvenimus aulam quae olim Korrof vocitatur“: Zur Geographie und Chronologie Nach den ersten Schritten bezüglich der phänomenologischen Untersuchung der früheren Paxbewegung, ist es nun Zeit, dass ich mich ihrer Chronologie und Geographie zuwende. Von Beginn an möchte ich klarstellen, dass aufgrund der knappen Dokumentation und der lückenhaften Quellen eine genaue Datierung der Pax-Konzile unmöglich ist. Das Ziel dieser Unternehmung ist demnach nicht, eine neue Datierung vorzuschlagen, denn dazu haben Huberti, Hoffmann und Barthélemy alles Mögliche gesagt. Ihre Datierungen unterscheiden sich manchmal um ein paar Jahre, dies ist aber zur Analyse des mentalitätsgeschichtlichen Hintergrunds unwesentlich. Die Forschung identifiziert ca. 26 Friedenskonzile in der Zeitspanne zwischen 989 (Charroux I) bis 1038 (Bourges II), die meisten davon in Poitou, Limousin und Berry.169 Ich folge Hans-Werner Goetz und teile sie in zwei Wellen ein: Die erste Welle ab den 90er Jahren des 10. Jahrhunderts verbreitet sich in Poitou, Limousin, Perigord, Angoulême und Bordeaux, die zweite ab den 20er Jahren des 11. Jahrhunderts geht nach Burgund und Gallien bis Flandern170. Allgemein ist im Süden des Westfrankenreichs eine größere Anzahl an Friedenssynoden als im Norden zu bemerken, was wohl mit dem stabileren Feudalsystem des Nordens in Verbindung zu bringen ist171: Hier, wo es klare Verhältnisse gab, waren auch die friedlichen Schichten (wie Bauern) besser von ihren Herren beschirmt.172 Das Gewaltverbot an sich ist kein Novum in der mittelalterlichen Geschichte.173 Die meisten anzutreffenden Erlasse sind aber von den Souveränen gegeben, was einen wesentlichen Unterschied zum Gottesfrieden bildet, der eben aufgrund mangelnder königlicher Herrschaft entstand. Sie sind auch nicht so sozial ausgerichtet wie die Pax-Beschlüsse. Überhaupt ist ihre Zahl nicht allzu groß, denn es gab bis Charroux 989 keine Synode, die exklusiv auf Frieden eingestellt gewesen wäre und deren Kanones alle Pax-Inhalte aufwiesen. Die Präzedenzfälle bieten keine 169

Vgl. R. I. Moore 2001, S. 28. Vgl. H.-W. Goetz 1983, S. 197f. Siehe auch H. Conrad 1971, S. 14 und R. Landes/F. S. Paxton 1986, S. 168. 171 Vgl. G. Koziol 192, S. 244f. 172 Vgl. R. Schieffer 1992, S. 48. In Nordfrankreich und Flandern gewähren die Grafen „eine ungewöhnlich starke Stellung [...]. Hier machte sich die Pax-Bewegung erst bemerkbar, wenn eine Herrschaftskrise einzutreten drohte“ (K. Schreiner 1996, S. 84). 173 D. Barthélemy benennt als Vorgänger der Pax-Beschlüsse die Konzilen von Soissons (853) und Trosly (909) (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 330ff). Er sieht in der Kultur und der Gesellschaft des 10. Jahrhunderts karolingische Wurzeln ebenso, wie im Gottesfrieden (vgl. H. Thieme 1945, S. 10f). Die Spuren sind aber in der karolingischen Zeit ziemlich spärlich. 170

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Tradition, sondern Begrifflichkeit und Formulierungen, meistens hinsichtlich der Anathemformeln. Huberti führt das erste Beispiel von PaxSatzungen in der Zeit Klothars II. (†630) im Jahre 614174 an. Solche Statuten haben aber selten die pauperes im Blick, sondern sind besonders auf den Schutz der kirchlichen Güter ausgerichtet175: Die Kirche genoss im Frühmittelalter Beschirmung seitens der Könige, im Gottesfrieden dagegen war sie selbst der friedensstiftende Faktor aufgrund ihres neuen Selbstbewusstseins. Ein Beispiel eines Schutzvorgangs für kirchlichen Besitz vor willkürlichen Plünderungen ist der 25. Kanon des Konzils von Orleans 538 in der merowingischen Zeit. Jeder, der aus Habgier Kirchenländereien und güter besetzt, in Beschlag nimmt oder sich aufgrund seiner mit Waffengewalt erworbenen Stärke zu eigen macht, hat keine Entschuldigung und soll von der Kirche ausgeschlossen werden, falls er keine Bereitschaft zeigt, sie zurückzugeben: „Si quis res ecclesiae debetas vel proprias sacerdotes orrendae copiditatis instinctu occupaverit, retenuerit aut a potestate ex conpeticione perceperit, se, ut eas non restituat, nullis rebus excusit und a communione ecclesiastica suspendatur“.176

Wo tauchen aber die ersten Erscheinungen des Gottesfriedens auf? Der Chronist des Gottesfriedens, Rodulfus Glaber, meint in seinem Bericht: „Tunc ergo primitus cepere in Aquitanie partibus ab episcopis et abbatibus ceterisque viris sacre religionis devotis ex universa plebe coadunari conciliorum conventus, ad quos etiam multa delata sunt corpora sanctorum atque innumerabiles sanctarum apoforete reliquiarum. Dehinc per Arelatensem provintiam ac Lugdunensem, sicut per universam Burgundiam usque in ultimas Franciae partes per universos episcopatus indictum est qualiter certis in locis a presulibus magnatisque totius patrie de reformanda pace et sacre fidei institutione celebrarentur concilia.”177 (Dann also wurde zum ersten Male in Aquitanien von den Bischöfen, Äbten und anderen frommen Männern des Heiligen Glaubens vereinbart, das ganze Volk in Konzilen zu versammeln, wo auch viele Heiligenleiber hingebracht wurden, sowie unzählige Kästchen mit heiligen Reliquien. Von hier aus, über Arles und Lyon, und so über das gesamte Burgund bis zu den äußersten Gebieten des Frankenreiches, wurde von Bischöfen angekündigt, dass in bestimmten Orten von den Herren und Magnaten des ganzen Landes Konzile zur Wiederherstellung des Friedens und zur Befestigung des Heiligen Glaubens abgehalten werden sollen).

174

Vgl. L. Huberti 1892, S. 45. Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 21. 176 Consilium Aurelianense, c. 25, S. 80-81. 177 GLABER, IV, 5, 14. 175

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Die meisten Forscher geben ebenfalls Aquitanien als „Vaterland“ des Gottesfriedens178 an, wo 989 im Kloster Charroux eine Synode stattfand. In der rechtsgeschichtlich geprägten Forschung der Pax-Bewegung erklärte man diese Tatsache aufgrund einer stärkeren Kontinuität Süd-Frankreichs zu den römischen kulturellen Quellen und Überbleibseln179, wobei der rechtliche Anteil eine gewichtige Rolle spielte. Außerdem soll das Stadtwesen in Aquitanien entweder wegen dieser juridischen Überlegenheit oder aufgrund des wirtschaftlichen Wohlstands viel entwickelter als im Rest Frankreichs gewesen sein. So fordern „entwickelte Verhältnisse ein entwickeltes Recht“180, und damit wird der juristische Ansatz des Gottesfriedens zur rechtlichen Basis der ersten Entwicklungsstufen der späteren Stadt. Allerdings ist die Tatsache, dass der Gottesfrieden im Süden erscheint, durch die Labilität der feudalen Verhältnisse zu erklären: „In the south however, if seigneurial justice struck people as unacceptably violent and abnormal, it was because it had fewer roots than in the north. The powerful men who wished to carve out a seigneury in the northern fashion lacked ‘banal’ roots and had to act with all the more violence. They met dual resistance: on the one hand, from mountain folk, half Roman, half pagan; on the other, from members of their own class, stuck in a kind of sympathetic conservatorism”.181 Im Gegensatz zu der älteren Forschung des Gottesfriedens, die den Geburtsort der pax in Aquitanien identifizierte, vermutet Dominique Barthélemy – und mit ihm eine ganze Reihe neuerer Forscher182 – den Ursprung der Bewegung in der Auvergne (958) und in der Gegend von Brioude (vor 990).183 Er nennt als erstes Pax-Konzil jene diözesane Versammlung, die ca. 975 von Bischof Wido von Anjou auf der Ebene von Saint-Germain-Laprade (ein paar Kilometer östlich von Le-Puy) ausgerufen wurde184. Was bei Huberti als eine einzige Pax-Synode in Le-Puy (990) galt185, wird nun anhand neuerer Untersuchungen der Dokumentation in zwei Ereignisse aufgeteilt: in eine diözesane Versammlung, die in den ersten Amtsjahren des Bischofs Wido (des Bruders des Grafen Gottfried

178

Vgl. L. Huberti 1892, S. 53f; C. Erdmann 1955, S. 53 und J. Fehr 1861, S. 5. Vgl. B. Töpfer 1957, S. 9. 180 L. Huberti 1892, S. 54. 181 Ch. Lauranson-Rosaz 1992, S. 132. 182 Vgl. H. Hoffman 1964, S. 16f. 183 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 335. 184 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 356f und S. Sargent 1985, S. 221. Alle lateinischen Zitate über Bischof Wido und die Versammlung von Le-Puy 975 aus der Chronik S. Peter in Le Puy, S. 15. 185 Vgl. L. Huberti 1892, S. 121. 179

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Die Vertretungsehre

Graumantel186) stattfand, und eine tatsächliche Pax-Synode ca. 20 Jahre später (ungefähr 990)187 unter demselben Bischof. Die erste Versammlung von 975 kann nicht als Pax-Konzil bezeichnet werden – wie es Barthélemy treffend betont.188 Es fehlen zu viele Elemente eines klassischen PaxKonzils189: Wir haben es mit einer diözesanen Versammlung zu tun (omnibus de pontificatu suo coadunatis in unum in prata Sancti Germani), aber um eine Synode (als Bischof anwesend ist nur Wido) handelt es sich kaum. Dann liegt uns ein Friedensschwur (constringere ut pacem jurarent) vor, aber kirchliche Strafen sind nicht vorhanden. Auch eine Pax-Miliz ist dabei (jussit exercitum suum a Brivate tota nocte venire mane volens eos constringere ut pacem jurarent), jedoch keine einzige Reliquie.190 Bei dieser ersten Versammlung versucht Bischof Wido seine Diözese zur Ruhe zu bringen (cogitans assidue de tenenda pace), die Pax-Bestrebung hat also angesichts der Grafschaft Velay eher eine lokale Relevanz. Der Bischof profitiert von der Tatsache, dass er dort wichtige Verwandte hatte: seine Schwester, die Gräfin Adelaide mit ihren beiden Söhnen Pons und Bertrand191, ebenfalls Grafen von Forez bzw. Gevaudan. So versucht er, sein Bistum zu befrieden und damit seine Stellung als eigentliches Haupt (im Namen Gottes) der Region zu festigen. Die Friedensstiftung ist eine der Aufgaben jeder Gewalt, so beginnt jeder Anspruch auf Macht mit Befriedungsaktionen. So geschieht es auch im Falle Widos, der erst seit Kurzem sein Amt bekleidete und sich nun in seiner neuen Heimat durchsetzen musste. Es ist schwer zu beweisen, dass Wido im Namen einer großen Politik gehandelt habe, indem er vom König Lothar (954-986) beauftragt gewesen sei, die zersplitterte Herrschaft der Karolinger wieder aufzubauen. Die Behauptung, dass Wido als Graf und nicht als Bischof agiert habe192, lässt sich historisch auf keinen Fall belegen. So versucht man die Überlieferung jener Quellen, die erzählen, wie Wido seine diözesanen 186 „[C]ui erat frater germanus nobilissimus comes Gaufridus cognomento Grisagonella“ (Chronik S. Peter in Le Puy, S. 15). 187 Töpfer trennt auch diese zwei Ereignisse, datiert sie aber fehlerhaft zwischen 987 und 993 (vgl. B. Töpfer 1957, S. 61). 188 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 355f. 189 Daher ist eine solche Aussage teilweise falsch: „Nous réaffirmons notre conviction, contrairement aux thèses officielles, que le mouvement n’est pas parti de Charroux, mais de nos régions, à l’initiative de l’évêque Guy d’Anjou, et que les motivations en furent politiques, soutenue par un élan populaire que traduisent processions et translations de reliques“ (P. Vial 1988, S. 23). 190 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 17f. „Es handelt sich um eine Einzelmaßnahme des Bischofs und kein Konzil, wie das von Le Puy 994 und Charroux 989“ (Th. Gergen 2003, S. 85). 191 „Pontius et Bertrandus ejus nepotes, Aquitaniae clarissimi consules, cum matre eorum Adelaide sorore ipsius“ (Chronik S. Peter in Le Puy, S. 15). 192 Vgl. B. S. Bachrach 1987, S. 408f.

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milites et rustici zusammengerufen hatte (jussit ut omnes milites ac rustici de episcopatu suo convenirent in unum), derart umzubiegen, dass sie als Beweis eines angeblich gräflichen Gerichtshofs fungieren. Es wird betont, dass die erwähnten rustici keine Bauern gewesen seien, sondern waffentragende freie Bauern (also kriegsberechtigt und -fähig) und die ganze Versammlung nichts anderes als ein germanisches thing auf einem MarsFeld193 gewesen sei. Für die Feststellung der Identität dieser rustici bringt man sie in Verbindung mit jenen, die später in der Pax-Miliz von Bourges (1038), südöstlich von Orlèans, gekämpft haben und das Argument wird folgendermaßen untermauert: Solange sie kämpften, handele es sich nicht um schutzlose Bauern, sondern um kämpferische Freie. Dies alles ist aber Spekulation: In dem Falle der Miliz von Bourges hören wir von Siegen, die aber keineswegs der Verdienst der beteiligten rustici waren, sondern des Überraschungseffekts und der Anwesenheit etlicher Kriegsspezialisten aus der Gefolgschaft des Bischofs von Bourges. Die rustici der Pax-Quellen sind einfache, friedliche Bauern, die unter der Kriegsführung der Seigneurs zu leiden hatten und die Früchte der Pax-Satzungen genossen. So war es eben auch in Le Puy, und nur weil sie zusammen mit den milites gerufen worden waren, heißt dies nicht, dass sie auch Fehde führten und Unruhe stifteten. Man zeigte damit, dass die Beschlüsse dieses placitum publicum194 eine generelle Relevanz für das Bistum hatten. Summa, in Le Puy fand 975 nur eine diözesane Versammlung statt; es war keine Friedenssynode an sich, jedoch ein wichtiger Pax-Vorgang, der sogar einige Elemente eines klassischen Gottesfriedens aufwies; von einem Gerichtshof gräflicher Art kann keine Rede sein. Das erste „echte“ Pax-Konzil fand wohl 989 im Kloster Charroux (südlich von Poitiers) statt (Charroux I). Zu diesem Anlass kammen aus allen Teilen des Königreichs zahlreiche Reliquien, unter ihnen auch die des Heiligen Julien, wie wir es aus einer narrativen Quelle erfahren.195 Die Kanones von Charroux I bilden das Schema, nach dem alle nachfolgenden Pax-Synoden ihre Bestimmungen gestalten werden196: „Praedecessorum nostrorum autoritatibus synodalicis roborati, in nomine Domini, et salvatoris nostri Jesu Christi, Kalendis Junii: ego Gunbaldus archiepiscopus secundae Aquitaniae, cum omnibus episcopis conprovincialibus, convenimus aulam quae olim Korrof vocitatur, tam episcopi, 193 Es ist ärgerlich zu sehen, wie manche Forscher versuchen (allerdings ohne Beleg), die Idee durchzusetzen, dass viele der Pax-Konzile auf alten vorchristlichen ThingFeldern stattfanden, auf denen damals religiöse heidnische Veranstaltungen organisiert wurden (vgl. Ch. Lauranson-Rosaz 1992, S. 121 oder H. Hattenhauer 1998, S. 13). 194 Vgl. Ch. Lauranson-Rosaz 1992, S. 119 und Th. Gergen 2003, S. 86. 195 Vgl. S. Sargent 1985, S. 221 (mit Beleg). D. Barthélemy bezweifelt, dass Charroux das erste Beispiel eines Gottesfriedens sei (vgl. D. Barthélemy 2002, S. 326f). 196 Vgl. L. Huberti 1892, S. 35.

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quam et religiosi clerici, necnon etiam et omnis uterque sexus, auxilium divinae pietatis implorantes: ut qui quaedam in nostris domiciliis, moribus pestiferis, per longam tarditatem concilii diu pullulare cognovimus, respectu caelestis gratiae, et eradicentur noxia, et plantetur utilia. Nos ergo in Dei nomine specialiter congregati decrevimus, sicut in sequentibus manifestata clarescunt, ita. Anathema infractoribus ecclesiarum. Si quis ecclesiam sanctam infregerit, aut aliquid exinde per vim abstraxerit, nisi ad satis confugerit factum, anathema sit. Anathema res pauperum diripientibus. Si quis agricolarum, caeterorumve pauperum, praedaverit ovem, aut bovem, aut asinum, aut vaccam, aut capram, aut hircum, aut porcos, nisi per propriam culpam, si emendare per omnia neglexerit, anathema sit. Anathema clericorum persecussoribus. Si quis sacerdotem, aut diaconum, vel ullum quemlibere ex clero, arma non ferentem, quod est scutum, gladium, loricam, galeam, sed simpliciter ambulantem, aut in domo manentem, invaserit, vel ceperit, vel percusserit, nisi post examinationem proprii episcopi sui, si in aliquo delicto lapsus fuerit, sacrilegus ille, si ad satisfactionem non venerit, a liminibus sanctae Dei ecclesiae habeatur extraneus.”197 (Gestützt auf die synodalen Autoritäten unserer Vorgänger, haben wir – ich, Gunbaldus, Erzbischof von Aquitanien Secunda, mit meinen Mitbischöfen der Provinz – uns im Namen unseres Herrn und Heilands Jesus Christus, in dem Kloster, das längst als Charroux bekannt ist, versammelt; alle von uns – Bischöfe, gottesfürchtige Kleriker198 und Volk beider Geschlechter – bitten um die Hilfe göttlicher Barmherzigkeit: Denn wir haben bemerkt, wie es in unseren Häusern von schlechten Bräuchen wimmelte, weil seit langem keine Synode mehr stattfand; daher soll mit dem Beistand himmlischer Gnade das Übel mit der Wurzel ausgerissen und das Nützliche gesät werden. Also beschließen wir, die im Namen Gottes hier zusammensitzen, wie es im Folgenden deutlich hervorkommt, das: Anathem den Kirchenschändern. Wenn jemand in eine heilige Kirche eingebrochen oder etwas daraus gewaltsam weggeschleppt hat, sei er verflucht, falls er keine Entschädigung dafür bezahlt haben sollte.

197

Labbe/Cossart, 9, S. 733. Ich habe hier „religiosi clerici“ mit „gottesfürchtige Kleriker“ übersetzt. Im Falle des Substantivs „religiosus“ handelt es sich meistens um Menschen, die ihr Leben Christus widmen, im Sinne einer asketischen Lebensweise: Im Mittelalter benennt das Wort häufig die Mönche oder die Nonnen in einem Kloster, aber nicht notwendigerweise nur sie (vgl. Edikt Clothar II., c. 18, S. 23). Als Adjektiv aber bleibt das Wort eine qualitative Beschreibung: „fromm“, „gläubig“, „gottesfürchtig“ usw. 198

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Anathem denen, die die Güter der Schwachen rauben. Wenn jemand ein Schaf, einen Ochsen, einen Esel, eine Kuh, eine Ziege, einen Bock oder die Schweine der Bauern oder der anderen Schwachen entrissen haben sollte, sei er verflucht – außer, dass jener Bauer eine Schuld hatte und sie auszugleichen vernachlässigt haben sollte. Anathem denen, die Kleriker schlagen. Wenn jemand einen Priester, Diakon oder irgendeinen Kleriker, der keine Waffe – d. h. Schild, Schwert, Panzer oder Helm – trägt, sondern sich einfach unterwegs oder in einem Hause befindet, angegriffen, gefesselt, geschlagen hat, jener Gottlose – falls er keine Genugtuung bereits geleistet hat –, darf keine heilige Kirche Gottes mehr betreten, ausgenommen derjenige Kleriker, der gemäß der Ermittlung seines Bischofs irgendein Verbrechen begangen haben sollte).199

So sieht – mit kleinen Variationen – ein Pax-Konzil aus. Obwohl die Reliquien nicht ausdrücklich erwähnt werden, wissen wir, dass jede Kirche kanonisch mit Reliquien ausgestattet sein muss: Reliquien sind folglich anwesend. Außerdem hören wir über ihre Präsenz auch bei Rodulfus Glaber. Die einzige Strafe ist das Anathem, eine kirchliche Strafe sowie der Ausschluss von der kirchlichen Gemeinschaft. Im Frühmittelalter war die Strafe der Kirchenschänder der Tod.200 Die Beschlüsse von Charroux I stellen jedoch keineswegs eine Milderung dar: Das Anathem bedeutet seelischen Tod, die „Garantie“ der Hölle, während die Exkommunikation dem sozialen Tode gleich kommt. Es bleibt jedoch immer die Möglichkeit der Besserung und Reue dadurch, dass die Pax-Beschlüsse oft ihre eigenen Aussagen durch die bereits berühmt gewordenen nisi, die den Verbrechern eine gewisse freie Bahn erlauben, relativieren. Was uns interessiert, ist die Strukturierung der Kanones nach dem dreigeteilten Schema: Jede soziale Funktion wird hier angesprochen, ihre Wertungen werden kritisiert bzw. bestätigt. Auf diese Weise werden die friedlichen Schichten und ihre Arbeit, die sozialen Nutzen erweisen können, beschützt. Dagegen sind die Kleriker, die sich auf ein fremdartiges Ethos einlassen und den kriegerischen Sitten nachgehen, von dem Schutz ausgeschlossen. Charroux I wird in den kommenden Jahren von einer Reihe von PaxKonzilen fortgesetzt. Ich werde die wichtigsten Stationen betrachten, die eine Bedeutung für die generelle Entfaltung der Bewegung haben. Der Gottesfrieden verbreitet sich schnell und die Menschen legen Wert auf diese Form sozialer Regulierung. So fanden im Jahre 990 Synoden in Narbonne

199

Zum Vergleich siehe die freiere Übersetzung von Th. Gergen (Th. Gergen 2004, S.

259). 200

Vgl. L. Huberti 1892, S. 47.

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Die Vertretungsehre

(Narbonne I, nördlich von Perpignan am Mittelmeer) und Le Puy201 sowie ca. 994 die Synoden Limoges I und Anse I (nördlich von Lyon)202 statt. Über Narbonne I wissen wir aus einem Bericht von Mansi, den er selbst von Labbe übernahm.203 Die Synode Le Puy I (ca. 990) bringt nichts Neues im Vergleich zu Charroux I, nur die Einzelbestimmungen werden detailliert: In den c. 2 und 4 werden die Bauern (hier villanus et villana genannt) ausführlicher geschützt und in c. 6 werden die negotiatores zum ersten Male als beschirmte Kategorie erwähnt. Wiederholt wird eine starke Betonung auf das Ethos der Vertretungsehre gelegt: Die Kleriker dürfen, so c. 3, keine weltlichen Waffen tragen (clerici non portant secularia arma) und keine Simonie, so c. 7, praktizieren (nullus presbyterorum pretium de baptisterio accipiat).204 Über Limoges I (ca. 994205) wird überliefert, dass das Konzil von Abt Josfridus von Saint-Martial-de-Limoges sowie von Bischof Alduin und dem dux Wilhelm IV. Eisenarm von Aquitanien (†995) gegen Adlige gehalten wurde, die in die kirchlichen Besitztümer einbrachen und sie verwüsteten (adversus nobiles viros, qui non tantum ecclesiasticorum bona omnia invadebant, sed in eos etiam saeviebant).206 Von dieser Synode sind uns keine Kanones erhalten, sondern nur Berichte von Ademar von Chabannes in seinem Chronikon und in den Sermones. Folgendermaßen erzählt der Mönch in seiner Chronik: „His temporibus pestilentia ignis super Lemovicinos exarsit. Corpora enim virorum et mulierum supra numerum invisibili igne dipascebantur, et ubique planctus terram replebat. Josfridus ergo abbas Sancti Marcialis, qui successerat Wigoni, et Alduinus episcopus, habito consilio cum duce Willelmo, triduanum jejunium Lemovicino indicunt. Tunc omnes Aquitaniae episcopi in unum Lemovice congregati sunt, corpora quoque et reliquiae sanctorum undecumque sollempniter advectae sunt ibi, et corpus Sancti Marcialis, patroni Galliae, de sepulchro sublatum est, unde leticia immen-

201

Andere Forscher geben als Jahr dieses Konzils 994 an. Obwohl viele Historiker Anse I auch zu den Gottesfriedenssynoden zählen, ist dies falsch. Anse wird nur durch eine Mitteilung im Cartularium von Cluny bezeugt (vgl. L. Huberti 1892, S. 38f). Die Synode ist keine Pax-Synode, sondern eine, bei der die Privilegien des Klosters Cluny bestätigt wurden (vgl. B. Töpfer 1957, S. 16f). 203 Vgl. L. Huberti 1892, S. 37. 204 Siehe die Kanones von Le Puy I wiedergegeben bei L. Huberti 1892, S. 123f. 205 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 337. Huberti datiert es hingegen auf das Jahr 997 oder 998 (vgl. L. Huberti 1892, S. 133). Es ist nicht einsichtig, warum L. McKinney diese Synode als „undoubtly the most notable peace council of the tenth century” betrachtet (L. McKinney 1930, S. 185). 206 Siehe Zitat bei L. Huberti 1892, S. 37. In dem Bericht wird die Anwesenheit des Volkes nicht erwähnt; da aber die Information aus einer indirekten Quelle stammt, zähle ich Narbonne I ebenso zu den Pax-Konzilen. 202

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sa omnes repleti sunt et omnis infirmitas ubique cessavit, pactumque pacis et justicia a duce et principibus vicissim foederata est.“207 (In dieser Zeit kam über die Einwohner von Limoges eine Feuerplage. Denn die Körper der Männer und Frauen wurden bei vielen von einem unsichtbaren Feuer ergriffen und überall füllte ein lautes Wehklagen das Land. Folglich hielten Josfried, der Abt von Sankt Martial, der Nachfolger von Wigo, und Bischof Alduin ein Konzil zusammen mit dem Herzog Wilhelm ab; sie bestimmten ein dreitägiges Fasten. Dann versammelten sich alle Bischöfe Aquitaniens in Limoges, und auch Leiber und Reliquien der Heiligen wurden dorthin von überall herbeigeschafft; auch der Leib von Sankt Martial, dem Schutzheiligen Galliens, wurde aus seinem Grab herausgeholt. Daher wurden alle von einer Riesenfreude ergriffen und jede Krankheit wich überall; und von dem Herzog und den Magnaten wurde ein Vertrag über Frieden und Gerechtigkeit vereinbart).208

Im Gegensatz zu Charroux I steht Limoges I im engen Zusammenhang mit Mirakeln. Nachdem die Menschen beider Geschlechter von einem inneren Feuer verzehrt und gequält wurden, greifen die regionalen kirchlichen und laikalen Gewalten ein: Eine dreitägige Fastenzeit wird befohlen. Bemerkenswert ist, dass die Lösung religiöser Art ist. Bei dem darauf folgenden Konzil versammeln sich mehrere Bischöfe, Reliquien werden herbeigebracht und Wunderheilungen finden statt. Alles endet mit einem Friedensvertrag, der vom Herzog mit den Magnaten geschlossen wird und der den ständigen Streitereien zwischen ihnen ein Ende bereiten soll. So offenbart sich, dass die pax die Initiative der Geistlichen zur Befriedung der Region war; der Herzog erlebte ein Schwinden seiner Autorität, deswegen freute er sich, die Chance der Synode zu einer Vereinbarung mit seinen rebellierenden principes nutzen zu können. Der Friede war die Abschaffung der Willkür und der Selbsthilfe, angestrebt werden soziale Harmonie und Gerechtigkeit.

207

CHRONICON, III, 35. Ademar ist ein begeisterter Befürworter des Gottesfriedens in Limoges. Er berichtet über dieses Konzil, Limoges I, auch in seinen sermones, um die spirituelle und soziale Nützlichkeit eines solchen Unternehmens zu zeigen. Z. B. der Bericht in PL, S. 117C: „Hi septem Ecclesiarum principes una cum primate Lemovicensi, populorum optimatibus et Aquitaniae ducibus summopore in eodem concilio Domini legem observari ab omnibus sanciebant [...] Ante omnia pacem et iustitiam observari monebant, ut [...] oppresionibus pauperum et violentiis rapacitatis procul exclusis, pax et amica quies in regno Aquitanico deinceps permaneret“ (Diese sieben Kirchenfürsten, zusammen mit dem Vorsitzenden der Diözese Limoges, den Optimaten und Herzögen Aquitaniens bestimmten in diesem Konzil des Herrn, dass das Gesetz von allen überaus beachtet werden soll [...]. Vor allem forderten sie zur Beachtung des Friedens und der Gerechtigkeit auf [...], um die Unterdrückung der Schwachen und die gierbedingte Gewaltsamkeit fernzuhalten; so würde Frieden und freundliche Ruhe im Königreich Aquitaniens fortdauern). 208

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Die Vertretungsehre

Über die ersten Pax-Konzile lässt sich zusammenfassen, dass sie allgemein nach den Bestimmungen von Charroux I gebildet wurden und in erster Linie die Güter der Kirche, aber auch wehrlose Schichten (villani, villanae und negotiatores) in Schutz nahmen.209 Man merkt bei den ersten Pax-Konzilen einen ziemlich erbitterten Ehrgeiz, den Frieden durchzusetzen. Ihr Erfolg ist beschränkt210, denn die lokalen Seigneurs geben ihre schwer erkämpften Privilegien nur ungern auf. Die ersten Pax-Konzilen sprechen aber viel über die neue Tendenz der Kirche, sich an der Spitze der sozialen Skala zu etablieren. Ebenfalls zum ersten Male werden Erlasse zugunsten der friedlichen Kategorien und ihrer Tätigkeiten bekannt, was auf eine neue Wahrnehmung hinsichtlich dieser Lebensformen wie Arbeit, materielle Habe, Schutz durch Recht usw. in der Gesellschaft hinweist. 1010 folgt unter der Führung von Herzog Wilhelm V. von Aquitanien211 (†1030) mit fünf Bischöfen (von Bordeaux, Poitiers, Limoges, Angoulême und Saintonge) ein neues Pax-Konzil in Poitiers (Poitiers I). Das Interessante daran ist, dass hier zwei Kanones auf die Pax-Bestimmungen folgen, die an sich keinen direkten Bezug zum Gottesfrieden haben, sondern die Simonie (c. II) und Klerogamie (c. III) verbieten.212 Das stützt meine These, dass der Gottesfrieden einen Aspekt der gesamten Entwicklung einer neuen Ethisierung der Kirche darstellte, indem diese eine neue PräeminenzStellung in der Gesellschaft aufgrund ihrer Qualität der Vertretung Gottes anstrebte: Diese Qualität sollte moralisch durch eine unanfechtbare Reinheit und sozial durch spezifische Handlungen (z. B. Zölibat) bestätigt werden, welche die Absonderung des kirchlichen Standes betonen sollten. Dazu gehörte die Friedensstiftung als Sorge und Vormund für die Schöpfung. Das Konzil Poitiers I macht einen Schritt weiter in die Richtung der Verfestigung der gräflichen Gerichtsbarkeit, da es als Vermittler der konfliktualen Auseinandersetzungen die rechtlichen Instanzen eines princeps oder judex indiziert.213 Die Selbsthilfe-Praxis wird unterbunden und zum ersten Mal tauchen die Geiseln als Kontrollmittel auf: „Firmaverunt per 209

Vgl. L. Huberti 1892, S. 42. Vgl. J. Fehr 1861, S. 5ff passim. 211 Die Akten der Synode nennen ihn „Wilhelm, Graf von Poitiers“; dies war einer der kleineren Titel der Herzöge von Aquitanien. Herzog Wilhelm V. war der dritte Graf von Poitiers. 212 Vgl. Mansi 19, S. 268. 213 „[U]nde altercatio in ipsis pagis habetur, quorum ibi erant principes, si ex contendentibus de ipsis rebus unus alium interpelaverit, veniant ante principem ipsius regionis, vel ante aliquem ipsius pagi judicem, et stent in iustitia pro ipsis rebus” (Mansi, 19, S. 267). Dass die regionale Gerichtsbarkeit vorgeschlagen wird, ist der beste Beweis, um zu zeigen, dass die Menschen sie oftmals nicht beachteten und ihre Probleme in privaten Kämpfen lösten. 210

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obsides et excommunicationem dux et reliqui principes, huiusmodi pacis et justitiae restaurationem.“214 Anderseits erwähnte das Konzil von Poitiers I erstmals eine militia pacis (abgesehen von der in Le Puy 975215). Diese hatte die Aufgabe, alle, die dem Frieden und der rechtlichen Verfahrensweise widerstehen und die Satzungen des Konzils nicht aufnehmen wollen, durch Waffenzwang zum Gehorsam zu bringen. Eine solche Miliz soll vom princeps in Übereinstimmung mit den Bischöfen berufen und als polizeiliche Methode zur Durchsetzung des Rechtes eingeführt werden.216 Neue Fortschritte auf dem Weg der Rechtsbildung im Vergleich zu den ersten Konzilen sind zu bemerken. Nun sind nicht mehr die Geistlichen alleinige Urheber solcher Unternehmungen. Die Fürsten profitieren von der Chance, ihre Autorität in Form der Friedensstiftung wieder aufzubauen.217 Eine neue Entwicklungsstufe in der Entfaltung der pax ist die „geschworene Pax“. Man fand einige Handschriften, die in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts zu datieren sind und aus Burgund stammen. Sie beinhalten Schwurformulare, welche bei der Leistung des Pax-Eides angewandt wurden. Vermutlich waren sie von den Bischöfen verfasst worden, und diese „Schwurformulare“ mussten anschließend die milites ihrer Diözesen schwören.218 Sie sind nach der Struktur der Kanones von Charroux gestaltet, aber mit einer größeren Vorliebe zum Detail. Uns sind die Schwurformeln des Konzils von Verdun-sur-le-Doubs (ca. 1020)219 – nordöstlich von Chalonsur-Saône – und des Bischofs Warin von Beauvais (1023)220 – nördlich von Paris – erhalten, sowie ein Schwur, der 1902 auf einem Blatt in einer alten Bibel entdeckt wurde221 und allem Anschein nach aus dem Bistum Vienne222 – südlich von Lyon – stammt. Dieser Schwur von Vienne ist von manchen Forschern fälschlicherweise mit der Synode von Anse 1025, als Beschluss

214

Mansi, 19, S. 267. C. Erdmann betrachtet diese Miliz als die erste überhaupt, aber er datiert sie auf das Jahr 990, da er die Volksversammlung von Le Puy 975 nicht von der Friedenssynode Le Puy 990 unterscheidet (vgl. C. Erdmann 1955, S. 56). 216 „[Q]ui sub districtione justitiae stare noluerit, princeps vel judex, ipsius rei aut iustitiam faciat, aut obsides perdat; et si justitiam facere non potuerit, convocet principes et episcopos qui concilium instituerunt, et omnes unanimiter in destructionem et confusionem ipsius pergant“ (Mansi, 19, S. 267f). 217 Vgl. L. Huberti 1892, S. 138. 218 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 47ff. 219 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 51f. 220 Siehe eine englische Übersetzung: http://www.st-andrews.ac.uk / ~jfec/ cal / papacy/ document / doc_1093.htm (Stand 22.11.2005). 221 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 483. 222 Dieser ist L. Huberti nicht bekannt. 215

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dieses Konzils, verknüpft worden.223 Die neuere Forschung dagegen betrachtet das Konzil von Anse 1025 nicht einmal als ein Friedenskonzil.224 Der Trend der synodalen Friedensdurchsetzung verbreitet sich also von Aquitanien und der Auvergne aus nach Burgund, Narbonne225 und schließlich nach Gallien226 (Synode von Héry 1024), wo König Robert II. selbst ein Förderer der Pax-Konzile war, die eine willkommene Hilfe beim Aufbau seiner Herrschaft darstellten. Andere Synoden sind: Charroux II (1027 oder 1028) (concilium Karrofense secundum, a Willermo IV Aquitaniae duce congregatum anno 1028 de fide catholica deque pace firmanda227) und Poitiers II (ca.1026), dann Limoges II (18. November 1031), von dem uns die bereits angesprochene excommunicatio publica erhalten ist228, Bourges I (1031), Poitiers III (1036) und Bourges II (1038). Über Charroux II berichtete u. a. auch Ademar von Chabannes.229 Ein Versuch, die pax in den deutschen Raum zu übertragen, stieß auf Ablehnung. So stellte sich der Bischof Gerhard von Cambrai am Anfang gegen die Versuche seiner französischen Mitbischöfe (er war Suffragan der Diözese Reims, aber politisch gehörte sein Bistum zum deutschen Reichskirchensystem), einen Gottesfrieden im Bistum Cambrai einzuführen.230 Nur nach großem Flehen gab er nach und kündigte eine pax Dei231 an. Die erste gut beschriebene militia pacis ist diejenige, die bei dem Konzil Bourges II (1038) zustande kam. In dieser von dem Bischof Aimo von Bourges organisierten Truppe bildeten die Bauern einen erheblichen Anteil. Der Bischof befahl, dass sich alle, die älter als 15 Jahre waren, verpflichten sollen, sich gegen die Friedensstörer zu verbünden und im Notfall sogar zu kämpfen. Zudem sollten sie diesen Kampf auch materiell durch einen Beitrag unterstützen. Dies kann als erste Friedenssteuer in der Geschichte der Pax-Bewegung gelten. An der Spitze dieser Miliz, heißt es, sollen die Priester kirchliche Fahnen tragen und die Menschen in die Schlacht führen. Es handelt sich eindeutig um Zeichen einer Kastenbildung seitens der Kirche, die im Namen ihrer Machtansprüche eine Armee errichtet, sie durch

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Der Herausgeber dieses Schwurs, G. de Manteyer, setzt ihn ebenso in Verbindung mit der Synode von Anse 1025. Vgl. auch B. Töpfer 1957, S. 67. 224 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 47f und D. Barthélemy 2002, S. 483. 225 Über die Fortbewegung des Gottesfriedens siehe K. Kennelly 1963, S. 35. 226 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 56. 227 Zitiert von L. Huberti 1892, S. 183f. 228 Vgl. A. Kluckhohn 1857, S. 20. 229 CHRONICON, III, 69: „His diebus concilium adgregavit episcoporum et abbatum dux Willelmus apud Sanctum Carrofum“. 230 Vgl. B. Töpfer 1957, S. 66 und J.-P. Polly/E. Bournazel 1991, S. 154. 231 Vgl. S. Herzberg-Fränkel 1883, S. 131.

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eine Steuer finanziert und im Krieg anführt.232 Wir finden hier die ersten Grundlagen der späteren Ideologie des gerechten Kriegs zugunsten des sozialen Friedens und Wohlstands. Dass die gesamte Unternehmung vor allem ein privater Versuch des Bischofs Aimo ist, seine Vormacht in der Diözese zu festigen und ein paar persönliche Angelegenheiten zu erledigen, liegt auf der Hand. Das Interessante dabei ist jedoch, wie die Machtbildung mit der Übernahme des Gewaltmonopols bzw. mit der „Befriedung“ der Gegner einhergeht. Das neu gebildete Heer ist aufgrund seines großen Anteils an Bauern wohl ein undisziplinierter und kriegsunerfahrener „Haufen“.233 Es handelt sich nicht um eine Volksbewegung im Sinne Bernhard Töpfers, sondern um eine Heranziehung der Masse (mittels des Friedensideals234) zum Einsatz für die eigene Machterweiterung. Was meine These betrifft, wird einerseits deutlich, wie das Volk als Propagandaelement immer öfter eingeschaltet wird (und es spricht vieles für seine langsame, aber sichere Emanzipation), andererseits zeigt sich, dass man im Namen der Vertretungsqualität der kirchlichen Obrigkeiten über Krieg und Frieden verfügen und sie nach „Belieben“ – allerdings mit rechtlicher bzw. religiöser Rechtfertigung – anwenden kann. Die Begeisterung und die Überrumpelung der Gegner bringt den neuen milites pacis ein paar Siege über die rebellischen Seigneurs ein; dazu trägt freilich die Erfahrung der echten milites der bischöflichen Gefolgschaft wesentlich bei, die ebenfalls Mitglieder der Miliz waren. Der Berichterstatter über die Miliz von Bourges, Andreas von Fleury235, ist sich bewusst, dass diese Erfolge Glückssache waren. Er sieht darin ein Zeichen der göttlichen Macht, die genau wie damals das Volk Israel zum Sieg gegen die gentes führte und nun dasselbe mit dem „neuen Israel“ macht (ac si alterum Israeliticum populum – beschreibt Andreas von Fleury236 die Miliz von Bourges II). Ziel der Miliz war die Durchsetzung des Friedens und der göttlichen Harmonie auf Erden. Die erste Form der pax, der Gottesfrieden, endet mit der Erscheinung der treuga Dei in den 20er Jahren des 11. Jahrhunderts.237 Es handelt sich um eine neue Stufe in der Entwicklung der pax-Phänomenologie des Mittelalters. Der von Mirakeln und Reliquien begleitete und großartig vor versammelten Menschenmengen inszenierte Gottesfrieden wird nun von den 232

Vgl. l. Huberti 1892, S. 271. Wie es hart, aber gerecht, von J. Fehr 1861, S. 17f genannt wird. 234 Vgl. Th. Gergen 2003, S. 88. 235 Siehe eine Analyse seiner stark ideologisierten Anschauungsweise bei Th. Head 1991. 236 In Miracula Benedicti, S. 193. 237 Isolierte Fälle, in denen bestimmte Zeiten (z. B. der Sonntag) (vgl. G. Duby 1977b, S. 131) Waffenstillstände genossen, sind bereits im 9. Jahrhundert in den karolingischen Kapitularen zu treffen (vgl. H. Hoffmann 1964, S. 70ff). 233

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kühlen Verhandlungen der Diözesanbischöfe mit den örtlichen Magnaten und Seigneurs ersetzt. Die Begeisterung schwand, große Konzile fanden nicht mehr statt, das Volk war nicht mehr anwesend und neben den kirchlichen Strafen, die von einem gewissen Idealismus geprägt waren, tauchen nun immer häufiger weltliche auf: Verbannung, Vermögensverlust, Gottesurteile und Verstümmelungen. Die Treuga ist – wie schon erwähnt – ein Kompromiss gegenüber dem Gottesfrieden, der eine generelle und vollständige Befriedung der mittelalterlichen Gesellschaft versuchte, was sich als unmöglich erwies. Die kriegerische Kaste war noch nicht soweit, ihre Vormacht aufzugeben und die Wertungen ihres Ethos – kriegerische Ehre und Selbstbehauptung – zu ersetzen oder umzugestalten. Wenn also ein allgemeiner Friede nicht möglich war, sollten zumindest bestimmte Zeiten kriegsfrei bleiben, wie z. B. die Sonntage, die Fastenzeiten oder die verschiedenen Feiertage.238 Die erste Treuga tritt ebenfalls im Süden Frankreichs auf, auf der Synode von Elne239 (südöstlich von Perpignan) unter dem Vorstand des Bischofs Oliba von Vich240 (†1046) im Jahre 1027: „[N]emo in supradicto comitatu [in comitatu Rossilionense, in prato Tulujes] vel episcopatu habitans, assalliret aliquem suum inimicum ab hora sabbati nona usque in die Lunis hora prima, ut omnis homo persolvat debitum honorem die Dominico.“241 ([K]ein Einwohner innerhalb dieser Grafschaft [Roussillon] oder dieses Bistums wird seinen Feind ab der neunten Stunde samstags bis zur ersten Stunde montags angreifen, so dass jeder die dem Tag des Herrn geschuldete Verehrung erweisen kann).

Später werden die befriedeten Zeiten erweitert242 und die Verehrung des Sonntags wird einen Waffenstillstand von mehreren Tagen, von Mittwoch bzw. Donnerstag bis Montag, manchmal Dienstag, erfordern. Derselbe Oliba von Vich organisierte z. B. 1033 in seiner eigenen Diözese eine Synode, die eine Treuga erließ243, in der sich die befriedeten Tage der Woche von Donnerstagabend bis zur ersten Stunde montags erstreckten.244 238

Vgl. B. Töpfer 1957, S. 79. Vgl. B. Töpfer 1957, S. 69; H. Hoffmann 1964, S. 74f und H.-W. Goetz 1983, S. 200. Wenn das Datum des Schwurs von Vienne nicht so schwer festzustellen wäre, könnte eben dies der erste Fall einer befriedeten Zeit sein. Dort steht: „A capite jejunii usque clusa pascha, caballarium non portantem arma secularia non asaliam“ (Schwur Viennois, S. 96). 240 In Katalonien. 241 Mansi, 19, S. 483. 242 Siehe die Treuga-Zeiten z. B. bei Paschalis II. (Wasserschleben 1891, I, c.8, S. 113). 243 Vgl. B. Töpfer 1961, S. 880. 244 Vgl. Treuga Vich, S. 308. 239

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Der Chronist des französischen Gottesfriedens bietet als Datum der Treuga das Jahr 1041 an (anno igitur millesimo quadragesimo primo incarnationis dominicae): „Contingit vero ipso in tempore, inspirante divina gratia primitus in partibus Aquitanicis, deinde paulatim per universum Galliarum territorium, firmari pactum propter timorem Dei pariter et amorem, taliter ut nemo mortalium a feriae quartae vespere usque ad secundam feriam incipiente luce ausu temerario presumeret quippiam alicui hominum per vim auferre, neque ultionis vindictam a quocumque inimico exigere, nec etiam a fideiussore vadimonium sumere. Quod si ab aliquo fieri contigisset contra hoc decretum publicum, aut de vita componeret, aut a Christianorum consortio expulsus patria pelleretur. Hoc insuper placuit universis, veluti vulgo dicitur, ut treuga Domini vocaretur.”245 (In dieser Zeit – mit göttlicher Eingebung – wurde ein Pakt erst in Aquitanien, dann immer weiter durch das gesamte Gallien festgelegt; demgemäß durfte man aus beiden Gründen – Angst vor Gott und Liebe zu ihm – von mittwochabends bis Montag früh nicht gewaltsam einem anderen etwas entreißen oder Rache an einem Feind üben und nicht einmal Pfand von einem Bürgen nehmen. Jeder, der gegen dieses öffentliche Dekret verstieß, sollte dafür entweder mit seinem Leben büßen oder aus der Gemeinschaft der Christen ausgeschlossen und aus der Heimat vertrieben werden. Es wurde ferner übereinstimmend beschlossen, dies als Treuga Gottes – wie es das Volk nennt – zu bezeichnen).

Die ersten peinlichen Strafen sind hier genannt: die Hinrichtung und die Verbannung. Später werden sie sehr oft in den deutschen paces auftauchen. Barthélemy nennt seinerseits als Einführung der Treuga das Jahr 1043 und den Ort Narbonne246, aber das Datum ist wohl zu spät festgesetzt. Die Informationen über eine Synode in Narbonne um 1043 sind spärlich. Wir erfahren, dass ihre Satzungen von einer späteren Synode in Narbonne 1054 bestätigt und erneuert wurden (confirmanda et custodienda treuga et pace). Diese zweite Synode weist derart entwickelte Erlasse auf, dass klar wird, dass die Treuga 1054 eine relativ lange Tradition hinter sich hatte. Zum Vergleich mit der Knappheit der Treuga von Elne (1027) sei dieses Fragment hinzugefügt, wo als Friedenszeiten auch die Zeiträume vom ersten Adventssonntag bis zum Epiphaniasoktav, vom ersten Sonntag der Quadragesima bis zum Osteroktav, von dem Sonntag vor Christi Himmelfahrt bis zum Pfingstoktav sowie bei den Feiertagen und Vigilien der Gottesmutter, bei den Feiertagen und Vigilien des Heiligen Johannes des Täufers, bei den Feiertagen und Vigilien der Heiligen Apostel und des Heiligen Petrus genannt werden: 245 246

GLABER, V, I, 15. Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 584.

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„Preacipimus etiam, ut a prima dominica adventus Domini, usque octavas transactas epiphaniae; sive a prima dominica quae est ante caput jejuniorum, usque transactas octavas paschae; sive a dominica ante ascensionem Domini, usque octavas pentecosten (sic!) [...] vel de festivitatibus sanctae Mariae et in vigiliis ejusdem et in vigilia sancti Joannis Baptistae, vel in festivitate ejusdem, atque in vigiliis Apostolorum et in festivitatibus eorumdem, et in vigilia vinculae sancti Petri, et in festivitate ejusdem etc.“247

Weiterhin werden noch die Vigilien und die Feiertage von vielen anderen Heiligen (Laurentius, Michael, Martinus usw.) aufgezählt. Die Treuga wurde sogar zum „Exportgegenstand“. Im Jahre 1041 schrieben mehrere westfränkische Bischöfe (von Arles, Avignon und Nizza)248 zusammen mit dem Abt Odilo von Cluny einen Brief an ihre italienischen Kollegen: Sie sollen dem Beispiel Frankreichs folgen und in ihren Diözesen ebenfalls Friedenszeiten einführen249: „Recipite ergo, et tenete pacem, et illam trevam Dei, quam et nos, divina inspirante misericordia de coelo nobis transmissam jam accepimus et firmiter tenemus, ita constitutam et dispositam, videlicet ut ab hora vesperina diei Mercurii inter omnes christianos amicos et inimicos, vicinos, et extraneos, sit firma pax et stabilis treuva usque in secundam feriam, id est, die lunae ad ortum solis, ut istis quatuor diebus ac noctibus omni hora securi sint.“250 (Empfangt und bewahrt also den Frieden Gottes, welchen, vom Himmel zu uns herabgesandt, auch wir auf Eingebung des barmherzigen Gottes bereits angenommen haben und unverbrüchlich halten, der darin besteht, dass von der Abendstunde des Mittwochs an unter allen Christen, Freunden und Feinden, Nachbarn und Fremden ein heiliger und unverletzlicher Friede herrscht bis zum zweiten Wochentage, d. h. bis zum Sonnenaufgang am Montag, sodass jedermann zu jeder Stunde an diesen vier Tagen und Nächten vollkommene Sicherheit genießt).

Im Vergleich zum Gottesfrieden wird die Treuga hinsichtlich der Buße des Friedensbrechers nachlässiger. Während in den paces des 11. Jahrhunderts nur die Verbrecher persönlich zur Buße und Genugtuung gerufen waren, lesen wir in den Pax-Dekretalen des Papstes Paschalis II., dass auch die Eltern eines inzwischen verstorbenen Friedensbrechers Genugtuung ablegen konnten. Ein solcher durfte nicht bestattet werden – nicht einmal von der Stelle bewegt –, bis die Eltern an seiner Stelle büßten:

247

Mansi, 19, S. 828. Vgl. auch die Zeiten bei Wasserschleben 1891, II, c.9, S. 114. Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 583. 249 Dieser Brief wird fälschlicherweise von der früheren Forschung (vgl. A. Kluckhohn 1857, S. 39 und J. Fehr 1861, S. 18f) als erstes Beispiel einer Treuga betrachtet. 250 Mansi, 19, S. 593f. Die Übersetzung habe ich von A. Kluckhohn 1857, S. 39f übernommen. 248

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„Si autem mortus fuerit priusquam satisfaciat et penitentiam sumat, non sepeliatur nec a loco quo obiit moveatur, nisi pro illo parentes satisfecerint ei cui iniuriam fecit“.251

Offensichtlich kannte man einige Fälle, dass jemand exkommuniziert starb, was auf eine geringe Wertschätzung des Anathems im 12. Jahrhundert hindeutet. Die französische pax in ihrer Treuga-Form252 gelangt in den 80er Jahren des 11. Jahrhunderts von Burgund253 in den Westen Deutschlands254, wo sie trotz ihrer Bezeichnung als Gottesfrieden, die Züge einer treuga Dei aufweist255; sie ist dem Landfrieden ähnlicher als ihrem französischen Vorgänger.256 Es sind uns drei Gottesfriedenskonzile bekannt, in Lüttich 1081, Köln 1083257 und Mainz258 1085. Der deutsche Gottesfrieden ist offenbar eine Hybrid-Form zwischen der Treuga Dei und dem Landfrieden, wie ich es versuchen werde zu zeigen; ihm fehlen die meisten Elemente259, die als Kennzeichen eines klassischen Gottesfriedens fungieren. Ebenfalls ist der deutsche Gottesfrieden, wie es scheint, eine Angelegenheit des deutschen Reichskirchensystems. Die Bischöfe versuchen, ihre Autorität als Vertreter des Königs gegenüber den lokalen Mächten durchzusetzen und in ihren Provinzen gräfliche Kompetenzen zu übernehmen. Obwohl es bestritten ist260, scheint es kein Zufall zu sein, dass der deutsche Gottesfrieden genau in der Zeit auftritt, als sich der deutsche König, Heinrich IV., mit einer Krise seiner Herrschaft nach dem Investiturstreit konfrontiert sah.261 Der 251

Wasserschleben 1891, I, c.5, S. 113. Vgl. S. Herzberg-Fränkel 1883, S. 133 und 137 und H.-W. Goetz 2002, S. 51. 253 Vgl. H. Prutz 1915, S. 6. Die geographische und kulturelle Nähe der zwei Gebiete spricht dafür. 254 Hiermit möchte ich noch einmal die aktuelle Untersuchung von P. Schwellenbach (2005) bezüglich des deutschen Gottesfriedens, insbesondere des Kölner Gottesfriedens, erwähnen. 255 Vgl. J. Fehr 1861, S. 45ff. 256 Vgl. H.-W. Goetz 1984, S. 75f. Daher ist trotz erheblicher Einwände die Hypothese schwerwiegend, dass der deutsche Gottesfrieden eine Übergangsform von der französischen Treuga zum Landfrieden des deutschen Raums sei (vgl. H. Mitteis 1968, S. 198). 257 Vgl. S. Herzberg-Fränkel 1883, S. 134 und E. Ennen 1971, S. 19f. 258 Es ist ein Missverständnis mancher Forscher, die Mainzer pax als Bamberger Gottesfrieden zu bezeichnen. In Bamberg wurde bloß der Brief, der über den Mainzer Frieden berichtet, gefunden (vgl. T. Körner 1977, S. 35). 259 Vgl. P. Schwellenbach 2005, S. 39. 260 Die neue Untersuchung von Schwellenbach stellt diese Theorie H.-W. Goetzs in Frage (P. Schwellenbach 2005, S. 42; siehe auch eine konziliante Stellung bei T. Wulf 2002, S. 20). Darüber lässt sich aber noch diskutieren; manche seiner Argumente wirken wenig plausibel. 261 Vgl. H.-W. Goetz 2002, S. 50f. 252

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Die Vertretungsehre

deutsche Gottesfrieden ist das Ergebnis der Politik jener Bischöfe, die ihm im Investiturstreit treu bleiben, und jeder Pax-Beschluß genießt die Anerkennung und Bestätigung des deutschen Souveräns. Diese paces gehören demnach zu der Stabilisierung seiner ins Schwanken geratenen Autorität.262 Relevant dafür ist, dass die königlichen Behörden, wie der Graf, der Herzog usw., dem Waffeninterdikt nicht unterlagen.263 Die deutsche pax scheint eher das Resultat der Verhandlungen der lokalen Mächtigen mit den bischöflichen Instanzen um die Klärung der Machtverhältnisse und Hierarchien zu sein. Es handelte sich um eine konsensuale (consensus fidelium) Herrschaftsausübung frühmittelalterlicher Art264, im Sinne eines Zusammenwirkens der Mächte einer Diözese, die durch Vereinbarungen ihre Bestimmungen trafen. Das Volk ist dabei abwesend. Diese lokale Machtverteilung dürfte aber auch für das gesamte Reich relevant gewesen sein und zur Unterbindung der Zersplitterung des königlichen Herrschaftsverbands beigetragen haben. Die deutsche pax tendiert zu einer immer stärker werdenden rechtlichen Institutionalisierung. Wie ich oben zeigte, schafften die peinlichen Strafen des beginnenden Gottesfriedens in Deutschland eine Unterscheidung zwischen den zu Beurteilenden, aufgrund ihres sozialen Status, wobei die Adligen milder behandelt wurden. Es ist nun festzustellen, dass man bereits 1084 in dem sogenannten „Sächsischen Gottesfrieden“ einer gesetzlichen Objektivierung beiwohnt: Gleich, welcher Schicht ein Friedensbrecher angehörte, er sollte der gleichen Strafe unterliegen: „Qui occiderit, capitalem subeat sententiam. Qui vulneraverit, manum perdat [...]. Qui presumpserit, cuiuscumque sit conditionis, capite plectatur.“

262 Vgl. K. W. Nitzsch 1881, S. 281f. Der Kaiser Heinrich IV. übernimmt langsam den Gottesfrieden – ursprünglich ein „außerstaatliches Aufgebot“ – und setzt ihn in den Fokus seiner Politik. So wird der Gottesfrieden zur Basis der späteren verfassungsrechtlichen Staatsentwicklung (vgl. H. Thieme 1945, S. 17f). 263 Vgl. R. Schieffer 1992, S. 19. 264 Vgl. H. Conrad 1971, S. 75 und 83ff. „Dass der Herrschende für seine politischen Handlungen Übereinstimmung mit den Willen der Beherrschten postuliert und propagiert, ist Strukturelement jeder politischen Herrschaft und wird auch auf jener Stufe frühmittelalterlicher Staatlichkeit praktiziert“ (J. Hannig 1982, S. 299). Der Konsensus wird im Laufe der Zeit „für den weltlichen und geistlichen Adel ein Instrument, seine Mitherrschafts- und Mitspracheansprüche durchzusetzen“. Er hat den Charakter einer „Politik der Freundschaftsbindungen“ (G. Althoff 1997, S. 54). Später „wird der Konsensusgedanke auch von den weltlichen Großen aufgegriffen, um die Gefährdung ihrer Stellung durch [...] Machtssteigerung des König/Kaisertums zu kompensieren und in der letzten Phase der Brüderkämpfe der Ludwigssöhne, die königliche Autorität im feudalrechtlichen Sinne von sich abhängig zu machen“ (J. Hannig 1982, S. 300f). Was den deutschen Gottesfrieden betrifft, ist es gut zu wissen, dass bereits in der merowingischen Zeit die Berufung auf das Recht konsensualer Herrschaft von den Bischöfen praktiziert wurde (vgl. J. Hennig 1982, S. 94ff).

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(Wer einen tötet, soll der Todesstrafe unterliegen. Wer einen verwundet, soll die Hand verlieren [...]. Wer sich das [den Friedensbruch] herausnimmt – ganz gleich, welchen Standes er ist –, der soll seinen Kopf verlieren).265

Während in der früheren französischen pax der Friedensschwur auf Reliquien geleistet wurde, war in Deutschland die Kaltwasserprobe die Prüfung und die Garantie dafür, dass ein Friedensvertrag nicht gebrochen wurde.266 Formen der vom Souverän beschlossenen pax gab es in Deutschland seit den Karolingern. Allerdings haben sie die Form eines Landesfriedens und wenig mit einem Gottesfrieden zu tun. Sie verhängen keine kirchlichen Strafen, sondern nur weltliche. So ist uns ein von Ludwig dem Frommen erlassener Landfrieden bekannt: „Mit râte alsô wîslîchem / rihte der chunic daz rîche. / er gebôt ainen gotes fride: / nâch dem scâchroube ertailte man die wide, / nâch dem morde daz rat – / hai welch fride dô wart! – / dem roubâren den galgen, / dem diebe an diu ougen / dem fridebræchel an die hant, / den hals umbe den brant. / Der fride wuohs dô in dem rîche, / der cunich rihte gewalteclîche, / alse der vater dâ vor.“ (Mit Rate also weislichem / richt’te der König da das Reich. / Er gebot einen Gottes Friede: / Nach dem Raube erteilte man die Wiede, / nach dem Morde das Rad, / hei welch Friede da ward! / dem Räuber den Galgen, / dem Diebe an die Augen, / dem Friedebrecher an die Hand, / den Hals um den Brand. / Der Friede wuchs da in dem Reiche. / Der König richt’te gewaltiglich / also der Vater davor).267

Obwohl der Verfasser hier über einen „gotes fride“ spricht, hat dies offensichtlich nichts mit einem Gottesfrieden in meinem Sinne zu tun. Es handelt sich eher um einen Landfrieden, aus der Autorität des Kaisers heraus erlassen und mit seiner Garantie268 durchgeführt. Die Strafen sind exklusiv peinlicher Art, die Kirche wird nicht erwähnt. Nebenbei sollte auch angemerkt werden, dass solche kaiserlichen bzw. königlichen Anordnungen eine gewisse Erfolglosigkeit nach sich zogen: Die Fehde und die Blutrache überleben im deutschen Raum bis in die Neuzeit269 hinein.

265

Der sächsische Gottesfrieden, 2-3, S. 148/149. Vgl. T. Körner 1977, S. 131. 267 Originaltext von Kaiserchronik, 15138-15150, S. 355 und Übersetzung von W. Bulst 1926, S. 31f. 268 Vgl. J. Gernhuber 1952, S. 41: „Ein Gottesfrieden liegt vor, wenn sich kirchliche Gewalten für das Gesetz verantwortlich zeichnen. Landfrieden sind dagegen alle Gesetze, die ihre Entstehung weltlicher Gewalten verdanken“. Siehe auch A. Kluckhohn 1857, S. 231. 269 Vgl. H. Thieme 1945, S. 13. 266

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Es gibt Forscher, die bereits bei Heinrich III. Vorgänge des Gottesfriedens aufspüren möchten, als er im Konstanzer Dom 1043 an der Seite eines Bischofs zum Frieden ermahnte270; das hat jedoch wenige Charakteristiken eines Gottesfriedens, nicht einmal deutscher Art. Es handelt sich eigentlich um kein pax-Verfahren, sondern mehr um einen Aufruf zum inneren Frieden angesichts der Außenkriege mit den Ungarn. Wie Joachim Gernhuber treffend bemerkte, wäre es unpassend, die Waffenstillstände und die Friedensverträge des 11. Jahrhunderts (bis zu den 80er Jahren) als Friedensverfahren (sowohl Gottes- als auch Landfrieden) zu betrachten: „’Landfrieden’ heißt aber nicht den inneren Frieden schützen auf irgendeine Art und Weise, sondern mit bestimmten Mitteln und mit bestimmten Endzielen. Landfrieden heißt vor allen Dingen Überführung der Sippengewalt in die Staatsgewalt, heißt Schaffung des modernen Staates. Und nun stelle man neben diese Sätze die Versuche des 11. Jahrhunderts vor dem Gottesfrieden! Der Unterschied wird sofort deutlich. Was der deutsche König leistete, war Flickarbeit, was die Stammesgewalten leisteten, war Augenblickspolitik, aber nicht Staatsgründung“.271 Die ersten Landfriedensatzungen, die eine verfassungsgeschichtliche Relevanz zur späteren Staatsbildung aufweisen, tauchen erst im Spätmittelalter auf. Im Vergleich zum Gottesfrieden stellen sie eine komplette „Säkularisation der Friedensgesetzgebung“272 dar. Man sollte die einfache Aufgabe des Souveräns, Frieden zu erhalten und Verbrechen zu bestrafen, nicht mit der Landfriedensidee verwechseln. So ist der französische Gottesfrieden ebenfalls kein einfaches Eingreifen zur Abschaffung kleiner Gaunereien, sondern ein Verfahren zur Durchsetzung der Kirche mit ihrem Vertretungsethos an der Spitze der Gesellschaft, in dessen Namen sie zur sozialen Reglementierung strebte. Die Kirche ist nicht gegen die Plünderungen der Schwachen, sondern gegen die Ungerechtigkeit (justitia) dieser Plünderungen – es wird in den Satzungen oft erwähnt, dass die Gewalttaten gerechtfertigt sind, wenn der Bauer gegen ein Recht eines Seigneurs verstoßen hatte. Die Kirche nahm für sich das Recht in Anspruch, entscheiden zu dürfen, wann Gewalt anzuwenden ist und wann nicht. Die Bischöfe tendierten zur Verwaltung der kosmischen Ordnung, deswegen haben in den Pax-Kanones die kirchlichen Strafen sowohl soziale als auch jenseitsbetreffende Aspekte.

270

Was als ein „formloser Gottesfrieden“ gelte (A. G. Finckenstein 1985, S. 38). Nach solchem Kriterium könnte die Treuga ebenfalls als ein formloser Gottesfrieden gelten. Das würde aber ein Durcheinander der Begrifflichkeit und der „technischen“ Einzelheiten provozieren. 271 J. Gernhuber 1952, S. 40. 272 S. Herzberg-Fränkel 1883, S. 161.

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Ich möchte die pax-Erscheinungen in anderen Gebieten Europas nicht übergehen, obwohl sie für meine Untersuchung eine relativ geringe Relevanz bieten. So breitet sich ab der Mitte des 11. Jahrhunderts die spätere Treuga von Frankreich vor allem nach Katalonien und Spanien aus273, dann nach Italien (besonders stark im Süden und in den normannischen Territorien274), wie ich bereits oben angedeutet habe. Über die Treuga in Italien erhalten wir Informationen von der oben genannten epistula der französischen Bischöfe an ihre italienischen Kollegen275 sowie von dem neu entdeckten Fragment eines Briefes, der anscheinend in den letzten Jahren des 11. Jahrhunderts verfasst wurde276 und der ebenso die italienischen Bischöfe zur Einführung der Treuga ermuntert. Die ersten Pax-Beschlüsse sind aber Ende der 80er Jahre in Norditalien zu datieren; die Normannen schwören einen Frieden 1091277 unter Roger Guiscard I. (†1101), der durch diesen Autoritätsakt seine frischen Eroberungen krönen wollte.278 Somit ist die normannische Pax in Italien eine Form des Landfriedens, da sie ja vom Herrscher ausgegangen und eher als pax ducis zu betrachten ist.279 Der PaxProzess in England besitzt eine unbedeutende Rolle in der Geschichte der britischen Inseln, sie sind eine Umpflanzung von Frankreich nach England, die nach der normannischen Eroberung geschah. Wilhelm der Eroberer wollte damit seiner neuen Herrschaft Festigkeit verleihen280; es bleibt jedoch ein überflüssiger und oberflächiger Versuch des neuen Souveräns, solange es noch keinen Gottesfrieden gab. Die Beziehung des Papsttums zum Gottesfrieden ist eine empfindliche Angelegenheit. Obwohl dieses nicht grundsätzlich dagegen war, sollte man nicht vergessen, dass der Gottesfrieden ein bischöfliches „Produkt“ zur Durchsetzung der kirchlichen Oberhoheit in ihrer konziliaren Form war, was natürlich die Primatsansprüche Roms störte.281 So sind die Päpste anfangs des 11. Jahrhunderts dem Gottesfrieden gegenüber zurückhaltend bzw. gleichgültig; wie wir uns leicht vorstellen können, hat Gregor VII. Hildebrand eine feindliche Haltung gegenüber der pax Dei: Er scheute nicht davor zurück, die Truppen der Normannen in der Quadragesima (also in 273

Vgl. A. Kluckhohn 1857, S. 89 und E. Wohlhaupter 1933, S. 60. Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 66 und R. E. Reynolds 1984, S. 460ff. Hoffmann ist überzeugt, dass die italienische Treuga einen französischen Einfluss darstellte (vgl. H. Hoffmann 1964, S. 81ff). 275 Vgl. l. McKinney 1930, S. 196. 276 Vgl. R. E. Reynolds 1984, S. 453. 277 Vgl. A. Kluckhohn 1857, S. 88. 278 Vgl. H. Niese 1910, S. 16f. 279 Vgl. L. Buisson 1960, S. 182ff. 280 Vgl. Gesta Gvillelmi, II, 33, S. 160/161. Vgl. A. Kluckhohn 1857, S. 91 und H. Niese 1910, S. 21. Daher ähnelt die englische pax eher einem Landfrieden. 281 Vgl. L. Huberti 1892, S. 29f. 274

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einer unter der Befriedung der Treuga stehenden Zeit) gegen den Gegenpapst aufzuhetzen.282 Die Beziehungen zwischen der römischen Kurie und dem Gottesfrieden mildern sich mit Papst Urban II. (†1099), dem einstigen Odo von Chatillon, Mönch in Cluny. Er brachte die Liebe zum Gottesfrieden aus seiner französischen Heimat nach Italien mit: Als Papst erlässt er Friedenssatzungen auf der italienischen Halbinsel auf den Synoden von Melfi (1089) und Troia (1093) und in Frankreich auf dem Konzil von Clermont (1095).283 Ich habe mich der Problematik der deutschen Gottes- und Landfrieden nur der Orientierung wegen gewidmet; sie weichen vom französischen Phänomen ab284, indem sie viel von den religiösen Zügen verlieren und der weltlichen Gesetzlichkeit folgen. Demnach ist der Landfrieden eine „weltliche Einrichtung deutschen Ursprungs, dem Gottesfrieden zeitlich nachfolgend, sowohl gegen die Fehde gerichtet, als besonders in seiner späteren Entwicklung zum Teil ein allgemeines Strafgesetz, teils indirekt die Fehde beschränkend durch Befriedung gewisser Personen und Gegenstände, selten durch Einführung bestimmter Friedetage, teils sie gänzlich verbietend, vorwiegend gesetzlicher Natur“.285 Mein Forschungsfeld endet mit der Erscheinung der Treuga im westfränkischen Raum, die ihre Relevanz für die Dynamik der drei Ausprägungen der Ehrsemantik verliert und in ein rein juristisches Verfahren gerät. Die Treuga ist ein Fortschreiten des Gottesfriedens zur Ausbildung des Protostaates, aber ebenfalls ein Abfallen von den ursprünglichen Idealen des Gottesfriedens, indem Kompromisslösungen und Verhandlungen auftreten, wo ursprünglich der Wille Gottes bedingungslosen Frieden forderte. Nach der Skizzierung des chronologischen und historischen Rahmens der Friedenskonzile wenden wir uns nun der Interpretation ihrer Satzungen im Lichte der Ehrsemantik zu.

„[C]lamorem facio de saecularibus potestatibus parochianis meis“: Beteiligte und Betroffene „Nam quicumque vobis subditos conturbant, vos conturbant: qui autem vos conturbant, Christum conturbant, cujus vice episcopi legatione funguntur. Ideoque divinae et apostolicae severitate districtionis digni sunt; et a nos282

Vgl. H. Hoffmann 1969, S. 231. Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 220ff. 284 Es gibt einige Forscher, die behaupten, dass zwischen dem Gottes- und Landfrieden keine „saubere Scheidung möglich ist“ (H. Hoffmann 1964, S. 4). Wenn man aber ihr Verfahren und ihre Sentenzen genauer betrachtet, bekommt man reichlich „technische“ Inhalte, die zu einer einigermaßen effizienten Unterscheidung beitragen können. 285 L. Huberti 1892, S. 20. 283

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tro concilio, justo anathemate plectendi, quousque fructuose poenitendo resipiscant.”286 (Denn jeder, der Eure Untergebenen nicht in Ruhe lässt, lässt Euch selbst nicht in Ruhe, d. h. aber, wer Euch keine Ruhe gibt, gibt Christus selbst keine Ruhe, mit dessen Verheißung die Bischöfe an seiner Stelle fungieren. So verdienen solche Menschen die Strafe der göttlichen und apostolischen Strenge; und von unserem Konzil sind sie mit Anathem zu belegen, wodurch sie wieder zu Vernunft und ergiebiger Buße kommen sollen).

Dies behaupteten – gemäß eines Protokolls der ersten Session – mit einer Stimme (uno ore dixerunt) die auf der Synode Limoges II (1031) versammelten Bischöfe, als sich ihr Mitbischof, Jordan von Limoges, beschwerte, dass die Mächtigen seiner Diözese (saeculares potestates parochiani mei) mit den Streitereien nicht aufhören wollen und seine Schwachen (pauperes mihi commissos287) und Kleriker prügeln (affligunt). Sie wollen nicht auf ihren geistlichen Hirten hören, wenn er ihnen vom Frieden predigt (et me, qui eorum pastor sum, de pace audire nolunt).288 Die Friedensstiftung ist Sache der Bischöfe als Vertreter Gottes, sie haben sich um die Schöpfung zu kümmern, und alle Widerspenstigen handeln nicht nur gegen die Bischöfe, sondern auch gegen jenen, auf dessen Verheißung hin sie in der Welt agieren (d. h. Christus). Solange die Schwachen Teil der Aufgaben der Vertretungsmission sind, sind sie Ziel der Friedensbestrebungen der Bischöfe: Sie gehören dem Bischof an, da sie ihm eben von Christus selbst commissos (anvertraut worden) sind. Zu dieser Mission gehört aber in erster Linie der Schutz der kirchlichen Güter und Gebäude als solche289, die de jure das Hab und Gut Gottes sind. Der Bischof ist traurig und verzweifelt, er beklagt sich ehrlich bei den anderen teilnehmenden

286

Vgl. Labbe/Crossart, 9, S. 870. Hiermit möchte ich die falsche Auslegung des Textes des rechtsgeschichtlich orientierten L. Huberti widerlegen, der meinte, dass das obere Zitat nur die servi der Kirche von Limoges betreffe (vgl. L. Huberti 1892, S. 212; siehe dieselbe Hypothese bei K. Kennelly 1963, S. 35). Ich bin hingegen der Überzeugung, dass das Fragment bedeutende ethisch-soziale und symbolisch-religiöse Aspekte aufweist und die Schicht der Schutzlosen prinzipiell im Blick hat. 288 Alles bei Labbe/Crossart, 9, S. 870. Die Protokolle und die Kanones von Limoges II wurden aus Mansi, 19, S. 509 von Labbe/ Crossart übernommen. 289 Vgl. A. Kluckhohn 1857, S. 15f. Das bedeutet aber nicht, dass ich mit jenen aufklärerischen Ansichten einverstanden sei, welche der Kirche als Grund des von ihr beförderten Gottesfriedens die exklusive berechnende Bewahrung materieller Reichtümer zutrauen. Das Mittelalter dachte in anderen Kategorien als der heutige Mensch und die Konsequenzen verschiedener Haltungen wurden symbolisch aufgefasst. Der Gottesfrieden schützt wohl die materiellen Interessen der Kirche, dies ist aber bloß unserer heutigen Denkweise klar. Das Mittelalter aber sah in den kirchlichen Gütern den Besitz Gottes. 287

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Bischöfen, sein Ton beeindruckt und es erscheint unwahrscheinlich, dass man ihm Heuchelei unterstellen kann: “Doloris cordis mei vobis patefacio, o venerabiles episcopi, et reliqui ministri Domini, et clamorem facio de saecularibus potestatibus parochianis meis, qui ecclesiam Dei quietam non sinunt, res sanctuarii pervadunt, pauperes mihi commissos et ecclesiae ministros affligunt, et me, qui eorum pastor sum, de pace audire nolunt.“ (O ehrwürdige Bischöfe und sonstige Diener Gottes, ich enthülle das Leid meines Herzens und beklage mich über die weltlichen Herren aus meinem Bistum, die die Kirche Gottes nicht in Ruhe lassen, an die Güter der Gotteshäuser langen, die mir anvertrauten Schwachen und die Kleriker schlagen und auf mich – ihren Hirten – nicht hören wollen, wenn ich über Frieden predige).

Jordan leidet darunter, dass seine Qualität als Vertreter Christi von den kriegerischen Elementen nicht beachtet wird, die ihre gewaltsamen Handlungen dem Gehorsam zu Gott vorziehen und den Zeichen der Vertretung Gottes keine Ehrfurcht bezeugen: Sie schlagen die Schwachen sowie die Kleriker und wollen dem Bischof kein Gehör schenken. Die vom Bischof verkündete Ordnung interessiert sie nicht, da diese eben ihre eigene Position in Frage stellt und den Bischof über sie hebt. Eine solche Situation fordert ein dringendes Eingreifen; die Bischöfe müssen etwas tun, um zu zeigen, dass ihr Status kein inhaltsleeres Gerede ist. Ich halte das oben zitierte Fragment für ein relevantes Beispiel der Ehrsemantiken, deren Verhältnisse sich in den Ereignissen des Gottesfriedens widerspiegeln. Dieser Prozess geht mit anderen einher – der Klosterreform und dem späteren Investiturstreit – und bezweckt vor allem, eine neue privilegierte Stellung der Kirche zu behaupten, die ihre innewohnende Logik auf die Qualität der Geistlichen, Vertreter Gottes zu sein, begründet. So wie die von mir im ersten Teile dieser Arbeit beschriebene erste Funktion der indoeuropäischen Urkulturen, sind auch die Geistlichen des Mittelalters „dépositaires de la vérité révélée et de la science profane“290. Die Welt gehört ihrem Schöpfer. Er agiert und übt dieses Recht in der Welt durch seine Diener aus. Diese sind folglich die Organe der einzig berechtigten Herrschaft; dazu gehört auch das Verfügen über jegliche Art von Gewalt.291 Es erscheint mir sehr wichtig, anzumerken, dass der Gottesfrieden keine Ursache, sondern eine Erscheinung der sich im Gang befindenden kirchlichen Ethisierung und Kastenbildung292 ist. Die ecclesia militans und die ecclesia triumphans bilden als Kirche eine Einheit, sie wirken und verwalten zusammen den Kosmos. Aus diesem Blickwinkel 290

R. Bonnaud-Delamare 1951, S. 21. Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 2. 292 Vgl. O. G. Oexle 1993, S. 91. 291

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wird der Gottesfrieden zu einem ekklesiologischen Akt der Bewahrung der Schöpfung. Damit werden die rein irdischen Bedeutungen der pax überschritten und nehmen ekklesiologische Züge an.293 In einem Brief wird Ende des 11. Jahrhunderts behauptet: „[P]ax [...] et treugua Dei […], non ex parte regis terreni, non ex parte marchionis, non ducis, non comitis, non alterius partis (sic!) persone, sed ex parte Dei et omnium sanctorum, angelorum, et archangelorum, et omnium celestium virtutum, et omnium sanctorum, patriarcharum, et prophetarum, apostolorum et martyrum, confessorum, atque virginum et omnium electorum sanctorum Dei.“294 ([D]er Frieden [...] und die Treuga Gottes [sind Euch überlassen], nicht von einem irdischen König, einem Markgrafen, einem Herzog, einem Grafen oder von einer anderen Person, sondern von Gott und allen Heiligen, Engeln und Erzengeln, sowie von allen himmlischen Mächten, von allen Patriarchen und Propheten, von den Aposteln und Märtyrern, von den Bekennern, ebenso von den Jungfrauen und von allen auserwählten Heiligen Gottes.)

Im Mittelalter bedeutete „Kirche“ die gesamte Gesellschaft, „die Kirche schützen“ hieß folglich „die Gesellschaft schützen“. Der Gottesfrieden ist kein „antifeudales“ Unternehmen, sondern ein Versuch der Regulierung sozialer Verhältnisse nach den Prinzipien der göttlichen Ordnung295; diese Ordnung ist aber im Mittelalter strukturell feudal. Ebenso ist die pax kein Kampf gegen die „Ausbeutung“296 der rustici, in einer Zeit, in der es überhaupt keinen Ausbeutungsbegriff und auch keinen Klassenkampf im Sinne einer sozialistischen oder eher marxistischen Ideologie gab. Der Gottesfrieden ist lediglich das Streben der Kirche, jeden sozialen Stand an seinen durch die Schöpfungsordnung zugewiesenen Ort zu stellen, freilich mit ihr selbst an der Spitze. Den Seigneurs wurde nicht die Gewaltsamkeit und „Ausbeutung“ auf ihren eigenen Domänen verboten, oftmals erwähnen die Pax-Satzungen ausdrücklich, dass der Herr auf seinem beneficium unantastbare Rechte und Gewalt habe. Es geht nur um die Regelung der Nachbarschaftskonflikte, wenn die Bauern als „collateral victims“ bei den Plünderungszügen fremder Seigneurs in die Hände fielen. Ebenso war der Burgbau nicht grundsätzlich verboten, sondern nur an den Grenzen der kirchlichen Ländereien, sodass man diese Burgen nicht als Stützpunkte der Kriegsführung in den Territorien der Kirche verwenden konnte.297

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Vgl. S. Sargent 1985, S. 220. R. E. Reynolds 1984, S. 461. 295 Vgl. H.-W. Goez 1983, S. 238. 296 Vgl. B. Töpfer 1957, S. 86. 297 Vgl. E. Magnou-Nortier 1992, S. 78f. 294

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Man soll jedoch nicht denken, dass der gesamte Vertretungsdiskurs ausschließlich im Hinblick auf das Ringen mit der kriegerischen Funktion seine Gestalt annimmt. Die Bauern (als eines der Ziele der Friedenserlässe) haben in der Propaganda keinen Wert in se.298 Sie waren ebenfalls bekämpft und erlitten Strafe, solange sie mit ihren spezifischen Handlungen die Vormacht des kirchlichen Ethos ablehnten und ignorierten. In dem vom Mönch Andreas von Fleury ca. 1038 verfassten fünften Buch der Miracula Sancti Benedicti wird erzählt, wie die Bauern ihren vom Heidentum übernommenen Aberglauben nicht aufgeben wollen299 und die Reinheit des Christentums mit derartigen Bräuchen beflecken: „Durum genus agrestium, uti semipaganum animum circa theoricae legis gerit cultum, ita vana et frivola socordi intentione ducit sancita et instituta sanctorum patrum; pro minimoque illis inest, si eorum quilibet alicujus justorum festum solemnizare recuset. Nec mirum si cujus expetant suffragium non vereatur et cultum. Quod non quidam illorum attendens, possessione Castellionis, celebri di postposito patris, plaustrum feno onustum propriam dum duceret domum, carrum coelesti igne absumitur, boves cum domino incedendi officio destituuntur.”300 (Der raue bäuerliche Stand, wie er seinen Kult nach seinem halbheidnischen Geist praktiziert, biegt die Gebote und die Heiligtümer der Heiligen Väter mit sinnloser und armseliger Bemühung nach seinem stumpfsinnigen Verstand um; und es bedeutet ihnen nichts, wenn einer von ihnen vergisst, das Fest eines Heiligen zu feiern. Es ist aber nicht verwunderlich, dass, wenn sie die Gunst eines Heiligen erstreben, sie sich nicht mehr scheuen und ihn verehren. So hatte einer auf der Domäne von Castillon den Feiertag des Heiligen Vaters (Benedictus) nicht beachtet und während er seinen mit Heu gefüllten Lastwagen nach Hause führte, wurde sein Karren von einem himmlischen Feuer verzehrt; Ochsen und ihr Herr wurden so wegen der begangenen Tat bestraft).

Für die Bauern gelten folglich keine Ausnahmen von den Regeln der Kirche, und der Gottesfrieden schützt sie nur, soweit sie der Kirche Ehrfurcht erweisen.301 Der Bauer des 11. Jahrhunderts hatte sowieso nicht viel 298 „Von seltenen Ausnahmen abgesehen tritt er in den Quellen nicht als Subjekt auf, das eigene Gedanken und Gefühle hat“ (A. Gurjewitsch 1997, S. 20). 299 Im Bauerntum bewahren sich erstaunlich lange – bis in die Frühneuzeit hinein (15.16. Jh.) – verschiedene Praktiken, die aus den vorchristlichen Glaubenssystemen stammen und von der Kirche heftig bekämpft wurden (siehe z. B. W. Boudriot 1928). Unter den Forschern gilt mittlerweile als unbestritten, dass die Bauern aller Zeiten eine konservative Natur aufweisen (vgl. L. A. Veit 1936, S. 8). Die Kirche hatte – was das obere Zitat angeht – erhebliche Schwierigkeiten die christlichen Feiertage, wie z. B. den Sonntag, auf dem Lande durchzusetzen (vgl. L. A. Veit 1936, S. 79). 300 Miracula Benedicti, V, 12. 301 Solche Geschichten sind kein Novum. Bereits im 6. Jahrhundert versuchte man durch solche exempla das bäuerliche Arbeitsethos dem kirchlichen Gebets- und Feier-

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zu sagen; er war ein unterdrücktes Wesen, das nicht an sich selbst glaubte und auch nicht gewohnt war, andere Rechte als das Lebensrecht zu haben. Der Pax-Diskurs appelliert an eine starke Symbolik und religiöse Propaganda, um die Vorrangansprüche des Klerus zu rechtfertigen. Anvisiert sind die beiden anderen Stände.302 Alles dreht sich um Gehorsam und Ehrfurcht. Nach den ersten Friedenskonzilen in Aquitanien verbreitet sich das Gerücht über die neue, von der Kirche den Menschen geschenkte pax. Die Massen strömen zusammen: „[P]arati cuncti obedire quicquid preceptum fuisset a pastoribus ecclesiae, non minus videlicet quam si vox emissa de coelo [...] loqueretur.“303 ([A]lle bereit, jedem Gebot der Hirten der Kirche zu gehorchen, offensichtlich nicht weniger, als wenn eine Stimme aus dem Himmel gesprochen hätte).

Mit den Pax-Bestimmungen werden aber Vorgänge geschaffen, die zur späteren Bildung eines neuen Selbstbewusstseins und Ehrgefühls beim dritten Stande beitragen werden. So wird eigentlich nicht sein Leben geschützt, denn das geschah bereits im frühmittelalterlichen Stammesrecht. Nun werden Tätigkeit (Landarbeit und Viehzucht), Gesundheit (dürfen nicht geschlagen oder gefesselt werden), Familie, Haus, Tiere und Ernte unter die Beschirmung genommen. Ebenso passiert es mit den Kaufleuten. Das bedeutet eine Bewertung und Rechtfertigung mancher bislang gering geschätzter bzw. ignorierter Lebensformen, deren Nützlichkeit ab jetzt anerkannt ist: Niemand schützt ja, was einem unwichtig ist. Die Urheber der pax, die Bischöfe, genossen in der uns zur Untersuchung relevanten Zeit einen relativ privilegierten Status. Die Kanones der PaxSynoden beinhalten keinen besonderen Schutz für Bischöfe, sondern nur für den niederen Klerus. Dies ändert sich am Ende des 11. und Anfang des 12. tagsethos zu unterwerfen. In der bereits im ersten Teil erwähnten Vita Sancti Severini wird erzählt, wie das Dorf, wo sich der Heilige gerade aufhielt, von HeuschreckenScharen befallen wird. Der Heilige untersagt den Bauern, auf eigene Faust zu versuchen, auf dem Felde die Insekten zu vertreiben, um den göttlichen Zorn nicht noch mehr zu erregen (ne divina amplis indignatio provocetur). Als Gegenmittel empfiehlt sich wohl Gebet, alle sollten sich daher in der Kirche versammeln. Nur ein einziger Bauer tut es nicht und geht auf seinen kleinen Acker, um etwas gegen die Heuschrecken zu unternehmen. Natürlich gelingt es ihm nicht, sie loszuwerden und sie fressen seinen Acker kahl (sed segetem eius exiguam locustarum densitas devoravit). Die anderen, mit dem Heiligen Severinus in der Kirche, bewirken aber durch das Gebet, dass die Insekten bereits in der darauf kommenden Nacht verschwinden, ohne die anderen Felder zu verwüsten, obwohl diese in unmittelbarer Nähe – sogar ringsum (multis vicinorum frugibus circumdata seges) – des Ackers unseres Bauers lagen (vgl. Vita St. Severini, c. 12, S. 61f). 302 Vgl. Th. Head 1992, S. 238. 303 GLABER, IV, 5, 14.

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Jahrhunderts, jedoch nicht wesentlich. Das Konzil von Clermont ermahnt im 32. Kanon, dass man keine Bischöfe gefangen nehmen und einsperren darf.304 Im Vergleich zu den Satzungen des beginnenden 11. Jahrhunderts, in denen es vollkommen fehlt, zeigt ein solches Verbot, dass sich solche Fälle vermehrten.305 Es bleibt aber immerhin eine Ausnahmesituation. Niemand bezweifelte die Vormacht der kirchlichen Fürsten. Die pax Dei ist, wie gesagt, eine exklusive Unternehmung der Kirche. Sie wird regelmäßig in der feierlichen Atmosphäre einer Synode erlassen, von Gottesdiensten begleitet und stark ritualisiert.306 Dadurch will der Klerus zeigen, dass er nichts mehr als ein Instrument des Willens Gottes ist. Das Ritual des Friedensschwurs erfüllt beispielsweise zwei Funktionen gleichzeitig: Auf der einen Seite ist er ein Zwangsmittel, auf der anderen das Zeichen einer Vertragsschließung unter dem Segen und der Beschirmung der himmlischen Mächte.307 Damit erinnert die Kirche an die zwei Aspekte der Herrschaft nach indoeuropäischer Auffassung, die Ziel meiner Untersuchung im ersten Teil dieser Arbeit waren. So treffen sich in dem Akt der Schwurleistung der mitraische Aspekt (Gesetzlichkeit, Recht, Vertrag) mit dem varunaischen (dunkel, magisch, gewaltsam). In diesem Sinne mahnt der Kölner Gottesfrieden (1083): „Ac per omnes fideles meminisse oportet, non homini sed soli Deo hanc pacem promissam fuisse et tanto tenacius firmiusque observandam esse. Quocirca universos obsecramus in Christo, ut ista pacis necessaria taxatio inviolabiliter custodiatur, ut si quis eam deinceps violare presumpserit, omnino a sanctae ecclesiae filiis sequestretur et banno excommunicationis inrecuperabilis et anathemate mansurae perditionis dampnetur.” (Und für alle getreuen Gläubigen ist es gut, dessen eingedenk zu sein, dass dieser Friede nicht einem Menschen, sondern Gott allein gelobt wurde und daher umso herrlicher und beständiger gehalten werden muss. Darum beschwören wir alle in Christus, diese so notwendige Friedenssatzung möge unverletzlich befolgt werden, auf dass, wenn sich künftig einer herausnimmt, sie zu verletzen, er gänzlich von den Söhnen der Heiligen Kirche getrennt und mit dem Banne unwiderruflicher Exkommunikation und dem Anathem dauernder Verworfenheit bestraft wird).308

Nachdem der Urheber des Kölner Gottesfriedens, Bischof Sigewin (†1089), am Anfang seines Berichts über den frisch beschlossenen Frieden äußerte, dass er selbst zur pax aufgerufen und sich entschlossen hatte, sie (die pax) 304 „Si quis episcopum ceperit et incarceraverit, perpetuae infamiae subiaceat “ (Derjenige, der einen Bischof gefangen genommen und eingesperrt hat, soll ewiger Schande unterliegen) (Mansi, 20, S. 819). 305 Vgl. Th. Gergen 2003, S. 95. 306 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 50. 307 Vgl. B. Meyer 1935, S. 6. 308 Pax Coloniensis, c. 15, S. 146/147.

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zu erretten309, sagt er nun, dass der Frieden ein Gotteswerk sei. Hier handelt es sich nicht um einen Widerspruch, sondern um eine Aussage in der Logik der Vertretungsehre. Ebenfalls treffen wir wieder auf die zwei Herrschaftsaspekte, diesmal am Beispiel der verhängten Strafen: 1. Die Exkommunikation bedeutet, „gänzlich von den Söhnen der Kirche getrennt“ zu werden, d. h. von der Gesellschaft selbst (als Gemeinschaft interhumaner Regeln und Verträge jeder Art), solange fast alle Menschen des Landes Christen waren. 2. Das Anathem signalisiert die magisch-religiöse Gefährdung der Seele im Jenseits. Der Friedensbruch gleicht nach dieser Auffassung einer Blasphemie und Majestätsverletzung, wie Ademar von Chabannes in einer seiner Predigten meinte.310 Die größten Probleme zur Durchführung des Gottesfriedens hatte die Kirche wohl mit dem kriegerischen Stand, den caballarii und milites, mit jenen Spezialisten des Waffenhandwerks.311 Zu dieser Kategorie gehörten auch die kleinen Inhaber etlicher Festungen, die sich – angesichts der großen Diskrepanz zwischen der Bautechnik (z. B. Steinbau) und den Belagerungsmethoden – relativ sicher intra muros befanden und davon ausgehend Plünderungszüge unternahmen bzw. durch willkürliche Bezollung die Reisenden belästigten. Es wäre eine fehlerhafte Auslegung der Friedenstexte, sie so zu verstehen, als ob die Pax-Satzungen nicht gegen die Kriegsspezialisten gerichtet worden wären, sondern gegen alle Waffentragenden – wobei auch Bauern oder Mönche mitgezählt werden dürften, solange sie als Waffe ihren Reisestab hatten.312 So sei der Gottesfrieden kein sozial ausgerichteter Einsatz gewesen.313 Nehmen wir deshalb denselben Text zur Widerlegung zur Hand (den oben zitierten Kölner Frieden), auf den sich solche Theorien berufen. Dort heißt es: „[N]emo fuste et gladio aut aliquo armorum gegere quemquam ledat, et ut nemo quamvis culpa faidosus [...] tollere presumat arma, scutum, gladium aut lanceam vel cuiuscumque prorsus armaturae sarcinam.“314

309

Vgl. Pax Coloniensis, S. 141. „qui vero pacem violarent, tanquam rei majestatis“ (diejenigen, die den Frieden brechen, begehen eine Majestätsverletzung [...]) (PL, 141, S. 116D). 311 Vgl. C. Erdmann 1955, S. 52 und G. Bois 1999, S. 164. Nicht aber im Sinne von Söldnern. 312 Die Volkswaffe war der schwere Holzstab (vgl. T. Reuter 1996, S. 195). 313 Vgl. P. Schwellenbach 2005, S. 50. 314 Eine identische Formulierung bietet der Mainzer Frieden (fälschlicherweise als Bamberger Frieden betitelt) 1085 an: „nemo fuste aut gladio aut aliquo armorum genere quemquam ledat, et nemo quamvis culpa faidosus [...] tollere arma presumat, scutum vel gladium vel lanceam vel cuiuscunque prorsus armaturae sarcinam“ (Pax Bambergensis, c.2, S. 606). 310

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Die Vertretungsehre

([N]iemand soll einen mit Stock, Schwert oder Waffen irgendwelcher Art verletzen; niemand soll es sich herausnehmen – auch wenn er wegen einer Schuld in Fehde steht – [...], zu den Waffen zu greifen, zu Schild, Schwert, Lanze oder überhaupt zu irgendeiner Waffenrüstung).315

Folgt man der Aussage des Zitats, dann stellt sich die Frage – obwohl ja einmal eine fustis erwähnt wird –, wer die Befugnis hatte, faidosus zu sein, außer ein dominus und seine milites? Außerdem, wer konnte darüber hinaus im Falle einer Fehde (wie es gesagt wird) zu Schild, Schwert oder Lanze greifen?316 Sicherlich keine Bauern! Und andererseits versteht man unter armaturae sarcina bestimmt keine Stöcke. Die Formulierung des Verbots weist auf eine gezielte Logik hin, man meinte jemand Bestimmten und meiner Meinung nach waren es nicht die Bauern oder Kaufleute. Nach späteren Konflikten (im Spätmittelalter oder in der Frühneuzeit) weiß man, dass die Bauern häufig ihre Arbeitswerkzeuge als Waffen einsetzten: Dreschflegel, Mistgabeln, Äxte, Sensen usw. Doch bei keinem der PaxKonzile stößt man auf eine Andeutung solcher Objekte. Das Ziel der Friedensbestimmungen waren also die unkontrollierten und ungezügelten Kriegführenden, die Kampfspezialisten, die milites bzw. caballarii.317 Das französische Konzil Limoges II ist noch deutlicher.318 Es wird mit einer rituellen Abwertung auf das Kriegsethos hingewiesen319: „Nos episcopi, in nomine Dei specialiter congregati [...] excommunicamus illos milites de isto episcopatu Lemovicensi, qui pacem et justitiam episcopo suo firmare, sicut ipse exigit, nolunt, aut noluerunt. Maledicti ipsi et adjutores eorum in malum: maledicta arma eorum, et caballi illorum [...]. Et sicut hae lucernae extinguuntur in oculis vestris, ita gaudium eorum extinguetur in conspectu sanctorum angelorum: nisi ante mortem ad satisfactionem atque emendationem, sive poenitentiam dignam, venerint in judicium episcopi sui. Omnes episcopi et presbyteri candelas ardentes in manibus tenentes, mox eas in terram projicientes extinxerunt. Ad quod verbum cor populi valde expavit, et omnes clamaverunt, dicentes: Sic extinguatur Deus laetitiam eorum, qui pacem et iustitiam suscipere nolunt”.320 (Wir, die im Namen Gottes speziell versammelten Bischöfe [...], exkommunizieren jene milites dieser Diözese von Limoges, die ihrem Bischof Frieden und Gerechtigkeit, wenn er es erfordert, nicht schwören 315

Pax Coloniensis, c. 2, S. 142/143. Diese sind wohl die Waffen einer bestimmten sozialen Kategorie (vgl. G. Halsall 2003, S. 164). In einem Inventar eines Bauernhofes im 9. Jh. wird z. B. nicht einmal ein einziges Schwert aufgezählt, obwohl es an Eisenobjekten und -werkzeugen nicht mangelte (vgl. G. Franz 1974, Nr. 27, S. 68/69). 317 Vgl. A. Borst 1979, S. 439 und G. Duby 1996, S. 175. 318 Vgl. S. Sargent 1985, S. 224. 319 Vgl. G. Duby 1977b, S. 127. 320 Labbe/Cossart , 9, S. 891. 316

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wollen. Verflucht sollen sie und ihre zum Bösen Helfenden sein; verflucht ihre Waffen und ihre Pferde [...]. Und wie diese Kerzen vor euch ausgelöscht werden, so wird ihr Schwert im Gesichtskreis der Heiligen Engel vernichtet werden: Es sei denn, sie werden noch vor dem Tode entweder zur Genugtuung und Besserung oder zur angemessenen Buße ins Gericht ihres Bischofs kommen. Alle Bischöfe und Priester, die Kerzen in den Händen hielten, warfen diese sofort zu Boden und löschten sie aus. Auf diese Worte hin erschrak das Gemüt des Volkes sehr und alle schrien: So soll Gott die Freude jener auslöschen, die Frieden und Gerechtigkeit nicht annehmen wollen).

Die gesamte Mentalität des Gottesfriedens wird hier wunderbar skizziert. Die Krieger waren diejenigen, die ihren Gebieten Probleme bereiteten. Nicht nur sie als Personen werden abgelehnt, sondern ihr ganzes Ethos und dessen Symbole, die Waffen bzw. das Schwert und die Pferde321, welche Kennzeichen der kriegerischen Lebensform waren. Es handelt sich um eine Verwerfung ethischer Natur: Ihre Freude – die sie eben beim Kriegführen empfinden – soll verflucht und ausgelöscht werden, so wie symbolisch (fast magisch!) die Kerzen. Zwar besteht die Möglichkeit der Vergebung, aber nur dann, wenn sie zu ihrem eigenen Ethos und zur kriegerischen Ehre „Nein“ sagen und bei der Verheißung der Bischöfe Dinge schwören, die ihrem Ehrenethos nicht entsprechen: Frieden und Gerechtigkeit statt gewaltsamen Wettbewerbs und verschwenderischen Verhaltens. Die Waffenbrüderschaften (adjutores eorum) werden ebenfalls bekämpft. Ergo, alle Elemente, die ich im zweiten Teil der Arbeit als Charakteristiken der kriegerischen, verschwenderischen Ehre beschrieben habe, werden hier zusammengefasst und rituell verflucht.322 Nicht allein, dass ihre Tätigkeit an sich brutal und gewaltsam ist, die milites konservieren und pflegen zudem – wie die Bauern allerdings auch – viele Riten und Aberglauben, die in der heidnischen, vorchristlichen Zeit wurzeln323; dies motiviert die Kirche noch 321

Im ersten Teil zeigte ich, dass das Pferd ein Symbol der zweiten Funktion sei. Dass es sich hier ebenfalls um Symbole und „Arbeitstiere“ der zweiten Funktion handelte, sollte an dem Beispiel gezeigt werden, indem die militia pacis von Bourges II (1038) die sich in ihren Reihen befindenden Bauern auf Eseln setzte und unter den milites zerstreute, so dass die Truppe zahlreicher erscheint. Die Bauern haben also keine Pferde. Sie sind ja auch zu teuer. Die Pax-Legislation nimmt folglich nicht die Bauern oder „andere Kategorien“ ins Visier, sondern die milites. 322 Ich erlaube mir noch einmal an jenes Beispiel zu erinnern, das ich im zweiten Teil dieser Arbeit heranzog: Bei Orderic Vitalis wird die familia Herlechini beschrieben, jene Armee der Verdammten, in der ein großer Teil eben von ungezähmten Kriegern gebildet wird, welche aufgrund ihrer Freveltaten exkommuniziert gestorben sind (vgl. J.-C. Schmitt 1998, S. 125). 323 Vor der Schlacht bei Hastings geschieht Wilhelm dem Eroberer ein kleines Missgeschick. Er zieht seinen Panzer verkehrt herum an: Terret alium loricae, dum vestiretur, sinistra conversio. Hanc conversionem risit ille ut casum, non ut mali prodigium expavit

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Die Vertretungsehre

mehr, im Dienste ihrer christlich gesinnten Mission, die Krieger als Repräsentanten einer „activité intrinsèquement viciée“324 anzusehen und sie „umzuethisieren“. Die Krieger dürfen nur auf Vergebung hoffen, wenn sie sich dem Urteil des geistlichen Standes unterwerfen und damit seinen Vorrang als Vertreter Gottes anerkennen. Anschließend haben wir am Ende des oberen Zitats ein Beispiel der passiven Beteiligung des Volkes durch Beifall vorliegen. Tatsache ist, dass nicht der Krieg als solcher abgelehnt wurde325, sondern seine (in den Augen der Kirche) willkürliche Praktizierung. So genießen die Pax-Milizen große Anerkennung und die kirchliche Propaganda vergleicht ihre edle Mission mit dem heiligen Volk Israel, das die Gebote Gottes in der Welt umsetzt und diejenigen, die Gott nicht fürchten, bestraft. Die auf die Berufung von Bischof Aimo (Aimo, Bituricensium archiepiscopum) hin entstandene Miliz von Bourges 1038326 wird von Andreas von Fleury mit dem auserwählten Volk gleichgestellt und ihre Siege gegen die – besser bewaffneten und kampferprobten – Feinde des Friedens durch ein Wunder der Kraft Gottes erklärt.327 Die ersten Grundlagen der späteren Ideologie des gerechten Krieges erscheinen. Das historische Geschehen zeigt uns, dass diese Metapher des Andreas von Fleury eine Verharmlosung jener Miliz ist, die aufgrund der Anwesenheit zahlreicher undisziplinierter, kriegsunerfahrener und schlecht bewaffneter Bauern (multitudo inermis vulgi)328 ebenfalls die Umgebung plünderte und verwüstete.329 Weil diese Freveltaten der milites pacis kein Ende mehr nahmen und sie ihre ursprünglich heilige Mission verrieten, erlitten sie – freilich als Strafe Gottes, so Andreas von Fleury – eine vernichtende Niederlage am Flusse Cher (Kari fluminis), wo ca. 700 Priester (septigenti clericorum) von ihren Gegnern hingemetzelt wurden. Der mentale Hintergrund der Geschichte ist, dass in der kirchlichen Propaganda solche Assoziierungen nur deshalb entstehen, um zu zeigen, dass die Pax-Bewegung ebenso bahnbrechend ist wie damals die Geschichte Israels. Die „Friedensmenschen“ gehen über zu einer neuen Existenz unter der direkten Betreuung Gottes. Der Frieden ist gottgewollt und seine Ur(Jemand anderes wäre erschrocken gewesen, den Panzer verkehrt herum anzuziehen. Aber er [Wilhelm] lachte bei diesem Missgeschick wie über einen Unfall und dachte nicht, es sei ein schlechtes Zeichen) (Gesta Gvillelmi, II, 15, S. 124/125). 324 P. Vial 1988, S. 64. 325 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 284. 326 „[O]mnes, a quinto decimo anno et supra, hac lege constringit, ut contra violatorem compacti foederis unanimi corde hostes existant” ([A]lle ab fünfzehn Jahren sind durch dieses Gebot verpflichtet, gegen den Brecher – den Grafen Odo von Déols – des beschlossenen Vertrags, als Gegner anzutreten) (Miracula Benedicti, V, 2, S. 193). 327 Vgl. C. Erdmann 1955, S. 57. 328 Miracula Benedicti, V, 2, S. 194. 329 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 108.

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heber sind göttliche Handlungsorgane. In dem Bericht des Wunders von Saint Florentin in der Vita von Sankt Bercharius330 wird erzählt, wie die Träger der Reliquien des Heiligen in einem Notfall einen Fluss durchqueren müssen – sie wurden von einem gottlosen Seigneur verfolgt, der die Reliquien rauben wollte. Ermutigt durch einen der ihnen, trauen sie sich ins Wasser, bei welchem Anlass der Verfasser des Berichtes wieder eine Analogie zur Geschichte Israels hinzufügt: die Episode vom Roten Meere (Ex 14): „[U]nus ex eis velut quondam Moyses eos adhortatus est dicens: Ela, carissimi commilitones et beatissimi huius domini nostri devotissimi, pedibus transeamus per aquam.“ ([E]iner von ihnen hat sie, wie damals Moses, mit den Worten aufgefordert: Auf, ihr treuen Mitstreiter und frommen Diener unseres hochgelobten Herrn, lasst uns das Wasser zu Fuß durchschreiten!).331

Hiermit möchte ich mich auch von der falschen Auffassung distanzieren, dass die militia pacis und die militia Christi (die Kreuzfahrer) ein und dieselbe seien.332 Der Kreuzzug ist ein heiliger Außenkrieg, seine Mitstreiter werden im Inneren der christlichen Gesellschaft als Pilger aufgefasst. Durch das Konzil von Clermont 1095 wird der Krieg in den allgemeinen Dienst der Gesellschaft aufgenommen: Von einem schädlichen Element, das das Innere des sozialen Organismus trübte, wird er zum Medium der Ehre Christi: [N]unc fiant Christi milites, qui dudum existerunt raptores; nunc iure contra barbaros pugnent, qui olim adversus fratres et consanguineos dimicabant333 ([S]eid nun Christi Soldaten, ihr, die ihr bislang Plünderer ward; nun kämpft gerecht gegen die Barbaren, ihr, die vorher mit euren eigenen Brüdern und Verwandten rangt). Durch die „Befreiung“ und „Befriedung“ der Heiligen Stätte vermehrt die Christenheit bei der Verheißung der Kirche die Ehre ihres Gottes. Die Kreuzfahrer sind daher zuhause geschützt und ihre Güter stehen, solange sie sich im Heiligen Lande befinden, unter der Obhut der Pax-Ordnungen334 (quicumque ibit per nomen poenitentiae, tam ipse quam res eius semper sint in treuga Domini335). In der Heimat schützen sie sich nicht selbst, sondern werden als Pilger ge330

Vgl. H. Hattenhauer 1998. H. Hattenhauer 1998, S. 5. 332 Vgl. O. G. Oexle 1993, S. 92f, der sich offensichtlich von Erdmann und Duby beeinflussen lässt. 333 Fulcher, III, 7, S. 136. 334 Vgl. C. Erdmann 1955, S. 311ff und H. Hoffmann 1964, S. 223. Deswegen sind alle am Kreuzzug Teilnehmenden integrativ als Christi milites bezeichnet; unabhängig von ihrem sozialen Status, sie können ja tam equites quam pedites, tam divites quam pauperes sein, sind sie in den Augen Gottes nur eines: Kämpfer gegen die Ungläubigen (vgl. Fulcher, III, 7, S. 136). 335 Zitiert bei H. Conrad 1971, S. 29. 331

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Die Vertretungsehre

schützt, inklusive von Pax-Milizen. Sie selbst sind aber keine Pax-Miliz, sondern eine für „äußere Angelegenheiten“ zustande gebrachte militia Christi.336 Wir haben es mit zwei Sphären zu tun, die sich ergänzen, aber nicht vermischen. Diese Tatsachen haben bei manchen Forschern des Gottesfriedens und des Kreuzzugs ein Missverständnis verursacht. So sei das Konzil von Clermont ein Pax-Konzil und die Kreuzfahrer gleich einer militia pacis337, was allerdings nicht mit der historischen Überlieferung übereinstimmt.338 Clermont ist kein Friedenskonzil, da von 32 Kanones nur ein einziges bezüglich der pax deutlich formuliert ist (c. 1). Es ist ebenfalls kein Konzil zum direkten Aufruf zum Kreuzzug: Nur ein einziger Kanon erwähnt vage die Kreuzfahrt (c. 2).339 Durch diesen zweiten Kanon werden die milites Christi in die Kategorie der Pilger eingeordnet; für die abendländische Gesellschaft gelten sie also als friedliche Kategorie und ihre Güter werden in der Heimat von den Bestimmungen der pax Dei geschützt: „Quicumque pro sola devotione, non pro honoris vel pecuniae adeptione, ad liberandam ecclesiam Dei Jerusalem profectus fuerit, iter illud pro omni poenitentia reputetur.”340

336 Vgl. den Diskurs vom Papst Urban II. bei dem Konzil von Clermont 1095, wiedergegeben von Fulcher, III, 7, S. 136. 337 Vgl. G. Duby 1977b, S. 132. 338 Solche Forscher lassen sich wohl von dem Bericht Fulchers von Chartres beeinflussen, der unter den Ursachen, die das Konzil von Clermont hervorriefen, die Besudelung der Heiligen Stätte (sprich „Kirchen“) (loca sancta violari), das Niederbrennen von Klöstern und Dörfern (monasteria villasque igni cremari) nannte (vgl. Fulcher, I, 2, S. 121). In dem von Fulcher wiedergegebenen Decretum Urbani papae in eodem concilio taucht am Ende des päpstlichen Diskurses – es handelt sich hier nicht um die berühmte Kreuzzugspredigt, die im dritten Kapitel wiedergegeben wird – die Andeutung der Notwendigkeit einer Treuga auf, um die außer Kontrolle geratene Situation wieder in den Griff zu bekommen (vgl. Fulcher, II, 11 und 14, S. 128 und 129f); in der ersten Hälfte des Diskurses beklagt sich der Papst über die unmoralischen Umstände in der Kirche, denen die Geistlichen verfallen sind (vgl. Fulcher, II, 3, S. 125). All dies heißt also, dass die Synode von Clermont keine Pax-Synode war: Auffällig ist die Unstimmigkeit zwischen dem Inhalt der Reden (!) Urbans II. und dem Niederschlag dieses Inhaltes in den Kanones, am Ende des Konzils. Die Kanones beschäftigen sich erstaunlich wenig mit dem Kreuzzug und dem Gottesfrieden; sie sind von der allgemeinen moralischen Lage der Kirche und ihrer Mitglieder bekümmert und in diesem Zusammenhang (!) herrscht eine viel sagende Einstimmigkeit zwischen der Rede des Papstes und dem Inhalt der Kanones. 339 Vgl. R. Hiestand 1985, S. 48. 340 Mansi, 20, S. 816. Die Ehre der milites Christi überragt, so Urban II., diese „irdische“ (sprich „kriegerische“) Auffassung der Ehre. So wird die „Bemühung“ (labor) der Krieger des Glaubens durch eine „zweifache Ehre“ (pro honore duplici – Fulcher, III, 7, S. 136) belohnt.

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(Wer allein aus Frömmigkeit – und nicht um Erlangung von Ehre und Reichtum – zur Befreiung der Kirche Gottes nach Jerusalem fährt, dessen Fahrt soll als vollständige Buße gelten).

Freilich ist die Gottesfriedensidee vom Kreuzzugsgedanken nicht absolut zu trennen. Die Eroberung der Heiligen Stätte wird als eine „Befriedung“ angesehen.341 Es ist aber ferner spekulativ, die Armee des Kreuzes einer PaxMiliz gleichzustellen. Offensichtlich sind sich die Kreuzfahrer bewusst, dass sie zum Kriege bestimmt sind und dass ihre Mission der Kampf um die „Pazifizierung“ des Heiligen Landes ist. Folglich handelt es sich in dieser Logik nicht um eine pax tenenda – was die Aufgabe einer Pax-Miliz ist342 –, sondern um eine „pacificatio“, im Sinne einer Eroberung als Zivilisierungsakt. So wird von der kirchlichen Propaganda der Krieg als ein Medium des Ehrerwerbs (nach dem kriegerischen Ethos) seiner kriegerischen Inhalte (militärische Ehre, Beute, Rücksichtslosigkeit) entkleidet und zur Vermehrung der Vertretungsehre in Beschlag genommen. Die Kreuzfahrer gehorchen der Kirche und üben die einzig gültige Gewaltform im Dienste der Vertreter Gottes aus, nicht um ihrer eigenen Ehre willen, sondern zur Ehre deren, die sie in den Krieg schickten.343 Dieses Prinzip der inneren Befriedung mit der Folge eines gerechten Krieges nach außen wurde nicht zum ersten Mal in Clermont verkündet. In dem Pax-Konzil von Narbonne II 1054 wird ebenfalls gesagt, dass ein Christ das Blut eines anderen Christen nicht vergießen darf: „[N]emo Christianorum quemlibet alium Christianum laedat, neque dehonestare aut depraedare de suis rebus praesumat.“344 Was ist aber mit jenen, die keine Christen sind? Sie stehen unter keinem Schutz, im Gegenteil, der streitsüchtige Drang des abendländischen Kriegertums345 wird auf sie gelenkt. Der Gottesfrieden hat jedoch auch einen langfristig positiven Einfluss; seine Plünderungs- und Verwüstungsverbote sind im ius belli aufzuspüren, wie es im 16. Jahrhundert von Francisco de Vitoria (†1546) und später von Hugo Grotius (†1645) entwickelt worden ist.346

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Vgl. R. Hiestand 1985, S. 50. Vgl. Chronicon Sancti Petri Aniciensis, S. 152. 343 Vgl. C. Erdmann 1955, S. 56. 344 Mansi, 19, S. 828. 345 Damit soll aber nicht behauptet werden, dass die Rechtfertigung des Krieges eine abendländische Erfindung sei. In Byzanz fand dies bereits ab dem 6. Jahrhundert statt: Der Krieg im Dienste des Imperiums wurde als kosmologischer Akt zur Erhaltung der Weltordnung aufgefasst (vgl. P. M. Strässle 2004, S. 128f). 346 Vgl. E. Wohlhaupter 1933, S. 62f. 342

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Die Vertretungsehre

Die pax Dei ist keine „antifeudale“ Volksbewegung.347 Zu den von der pax geschützten res ecclesiarum zählen unter anderem auch servi und ancillae348, d. h., man wohnt einer Bewahrung feudaler hierarchischer Strukturen bei. Da die Kirche eine der reichsten Institutionen des feudalen Mittelalters war, konnte man sich ihr Dasein nicht außerhalb des Feudalismus vorstellen. Meine These ist, dass der Diskurs der Schwachenfürsorge im Gottesfrieden von der Kirche aufgenommen wurde, da dieser die kirchlichen sozialen Vorrangansprüche aufgrund der Qualität der administratio creationis rechtfertigte.349 Es handelt sich nicht um wirtschaftliche Interessen.350 Alles bewegt sich im symbolischen Rahmen, und in dieser Zeit bereits über „Ausbeutungssystem“351 und „Volksbewegung“ im Sinne der späteren sozialrevolutionären Aufklärung zu sprechen352, wäre anachronistisch. Durch den Gottesfrieden beabsichtigt die Kirche keine Abschaffung des Feudalsystems, sondern eine Regulierung der gesellschaftlichen Verhältnisse; jeder sollte an seinen von Gott zugewiesenen Ort gestellt werden. Daher beinhalten die Pax-Satzungen ausdrücklich, dass sie keine Gültigkeit auf den rechtmäßigen Territorien eines Seigneurs haben und beanspruchen; so z. B. das Schwurformular in Viennois (in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts): „Sic adtendam contra omnes qui hec eadem iuraverint et adtenderint. Excepto in illis terris quae sunt de meo alodo aut de beneficio. sive de franchiziis. sive de comandis. et ea terra quae mihi per rectum evenire debet me sciente.“353 (Ich werde diesen Frieden gegenüber denen bewahren, die ihn ihrerseits schwören und bewahren. Ausgenommen auf meinen eigenen Ländereien, die meinem Allodium, meinem Lehen, oder meinen Privilegien bzw. meinen Protektoraten gehören, ausgenommen auch jeder Ort, der meinem Wissen nach mir dem Rechte gemäß gehört [...]).

Niemand hat ein Eingriffsrecht auf den Privatbesitz eines Seigneurs. Gleichzeitig gilt der Friedensvertrag nur, sofern die anderen sich ebenfalls daran halten. Wir haben es folglich mit einer sozialen Regulierung aufgrund vertragsmäßiger Gegenseitigkeit und nicht mit einer Revolution zu tun. Es 347

Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 91. S. Sargent: „the first popular religious movement“ (vgl. S. Sargent 1985, S. 225ff). Wenn Sargent „popular” im Sinne von „populär“ verwendet, liegt er damit richtig. Wenn das Wort aber eine „Volksbewegung“ bezeichnen soll, entfernt sich die Behauptung von der historischen Tatsache. Das Volk hatte keinen direkten Verdienst an der Urheberschaft des Gottesfriedens. 348 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 87ff. 349 Vgl. L. McKinney 1930, S. 182. 350 Wie B. Töpfer 1957, S. 68 meinte. 351 Vgl. B. Töpfer 1957, S. 111. 352 Vgl. B. Töpfer 1957, S. 27. 353 Schwur Viennois, S. 97.

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handelt sich um einen Pax-Verband ohne Anspruch auf die Privatsphäre, sondern nur mit Bezug auf die Öffentlichkeit. Die polizeilichen Maßnahmen sind willkommen. Die Willkür ist nicht abgeschafft – siehe den letzten Satz –, da sich jemand, sofern er glaubte, auf einem Territorium Recht zu haben, den Friedensfesseln entziehen und gewaltsam sein „Recht“ behaupten konnte. Das Lehnswesen und seine Strukturen haben also durch den Gottesfrieden nichts eingebüßt. Andererseits weiß man, was für eine wichtige Rolle die symbolische Bedeutung des materiellen Eigentums in dem kriegerischen Ehrenethos spielte; daher ist es leicht zu vermuten, dass die Bauern einer Domäne nicht von ihrem eigenen Herrn Schaden erlitten, sondern bei den Raubzügen von den Rivalen ihres dominus. Ein Baron hatte Interesse an der Integrität seiner Untertanen: 1. weil er ihre Arbeit brauchte und 2. weil sie, solange sie zu seinem Eigentum gehörten, ebenfalls zu seiner Ehre gehörten; ihre Verletzung durch die Rivalen glich der Verletzung seiner eigenen Ehre. In dieser Hinsicht, meine ich, strebte die pax nach der Regulierung öffentlicher Verhältnisse, also der Nachbarschaftsund Rivalitätskonflikte. Im Gottesfrieden werden Begünstigungen zugunsten der dritten Funktion eingesetzt, die – ohne Voraussicht seitens der Kirche – jene Vorgänge schaffen, die ab dem 12. bis 13. Jahrhundert die Grundlagen für die Emanzipation des dritten Standes bieten und sich im Laufe der Zeit mit einem Bumerang-Effekt sogar gegen die Kirche selbst umkehren werden: in der Reformation, der Aufklärung und der französischen Revolution.354 Es darf nicht vergessen werden, dass der Friede an sich eine Wertung des dritten Standes ist. Wie sich z. B. im deutschen Raum das Kaufmannsrecht und der Kaufmannsschutz von einem Privileg zum Gewohnheitsrecht entwickelten355, so veranlassen im Gottesfrieden die Pax-Bestimmungen, dass sich der neue Status des dritten Standes – geschützt und gewissermaßen befördert – von einer unsicheren Stellung in der sozialen Hierarchie zu einem selbstverständlichen Recht auf Sicherheit, Arbeit und Vermarktung dieser Arbeit wandelt. Es handelt sich um die Entstehung eines begünstigenden Mentalitätsrahmens. In der Pax-Bewegung sind zum ersten Male Hinweise auf eine positive Bewertung des Arbeiterethos anzutreffen356; die Arbeit (und alles, was zu ihr gehört) wird zu einem geschützten Bereich, was für eine Gültigkeitsanerkennung und für deren Ansehen spricht. In einem seiner Poeme bietet Fulbert von Chartres (†1028) dem Frieden eine Hymne dar: 354 „Die Bevölkerungsschicht, die in Scharen nach Charroux gepilgert war, wurde zu einem Faktor in der europäischen Politik der folgenden anderthalb Jahrhunderte, mit dem man rechnen musste“ (R. I. Moore 2001, S. 35). 355 Vgl. H. Planitz 1943, S. 90. 356 Vgl. A. Borst 1979, S. 437.

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Die Vertretungsehre

„Praedo manum cohibet, furcae memor, / Et latrone coram, / Inermis alter praecinit viator. / Dente saturnalia restringintur / Evagata vitis, / Cultuque tellus senta mansuescit. / Gaudet lancea falx, gaudet spatha / Devenire vomer357; / Pax ditat imos, pauperat superbos.“358 (Der Plünderer hält seine Hand zurück, mit dem Gedanken an die Mistgabel, / und vor dem Diebe / hebt [nun] der andere, der waffenlose Reisende, seine Stimme, / Mit dem Winzermesser wird / der sich ausbreitende Weinberg gezähmt / und durch Ackerbau wird der struppige Boden gepflegt. / Es jubelt die Lanze zur Sichel und das Schwert / zur Pflugschar zu werden. / Der Frieden bereichert die Kleinen und macht die Hochmütigen elend.)

Offensichtlich handelt es sich also um die Ersetzung kriegerischer Vorgänge durch jene der dritten Funktion. Der Schlussvers zeigt die Stellung des Friedens in dem Ethos des zweiten bzw. dritten Standes: Während für die Krieger Frieden „Arbeitslosigkeit“, Verarmung und Anonymität (ignominia als Gegenteil zum decus des kriegerischen Ruhms) bedeutet, begünstigen friedliche Zeiten die Arbeit und die materielle Akkumulation der arbeitenden Schichten. Die spezifischen Waffen werden zu spezifischen Arbeitswerkzeugen. Damit zeigt sich eine Änderung der sozialen Prioritäten vom Krieg zum materiellen Bedarf. Wertungen wie Recht, Strafe, Ordnung, Landarbeit, Fruchtbarkeit und Frieden treten in den Vordergrund.359 Wir haben es mit den ersten Schritten auf dem Wege einer eigenen Ethisierung der dritten Funktion und der Bildung eines Ehrenethos zu tun. In dieser Zeit wird man sich – sei es Kleriker oder Bauer – immer bewusster, dass das Verhalten der kriegerischen Schicht dem Arbeiterstand gegenüber unproduktiv ist. Seit Le Puy I 990 z. B. erwähnen die PaxKonzile immer häufiger die „neue“ Kategorie der negotiatores. Im 12. Jahrhundert sind sie bereits eine Konstante der Pax-Dekretalen.360 Man brauchte 357

Vgl. Vulgata: „[E]t iudicabit inter populos multos et corripiet gentes fortes usque in longinquum et concident gladios suos in vomeres et hastas suas in ligones non sumet gens adversus gentem gladium et non discent ultra belligerare“ (Micha 4, 3) (Dt. LutherÜbersetzung: Er wird unter großen Völkern richten und viele Heiden zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen). 358 PL. 141, S. 349C. 359 Ich lasse mich allerdings von dem Idealismus Fulberts nicht täuschen. Freilich sind die von ihm anfangs des 11. Jahrhunderts beschriebenen Realitäten immer noch ein poetisches Desiderat. Mentalitätsgeschichtlich finde ich das Zitat aber ausgesprochen schwerwiegend. 360 Siehe die Pax-Dekretalen von Paschalis II. Die negotiatores sind in I, c.7, S. 113; II, c. 3, S. 113 und III, c. 1, S. 115 (Wasserschleben 1891) erwähnt, d. h. zu jedem Anlass.

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in diesen Zeiten mehr die Wirtschaft als den Krieg. Dies spiegelt sich deutlich in der Entwicklung der Mentalitäten wider. Der Mainzer Gottesfrieden von 1085 bestimmte den Schutz der friedlichen Schichten und ihrer Arbeit: „Mercatores in itinere quo negotiantur, rustici dum rusticali operi arando, fodiendo, metendo et aliis huiusmodi operam dant, omni die pacem habeant.”361 (Händler auf der Reise, die Handel treiben, Bauern, wenn sie der Landarbeit nachgehend beim Pflügen, Graben, Mähen sind und sich bei anderen Tätigkeiten dieser Art anstrengen, sollen immer Ruhe haben.)

Ebenso in dem Schwurformular von Viennois (ca. 60 Jahre früher): „Ecclesiam ullo modo non infringam. Cellaria in circuitu ecclesiae causa salvamenti edificata non infringam. nisi propter illum malefactorem qui hanc pacem infregerit. aut propter homicidium. Clericum aut monachum non portantem arma secularia non asaliam nec aprehendam. neque ambulantes cum eis sine lancea et scuto. nec caballum eorum rapiam. Predam non faciam. de bove, de vaca, de porco. de vervece. de agno. de capra. de asino. de fasce quem portat. nec de equa desferata […]. nec de fascem carri quem boves ducunt. Villanum nec villam. vel servientes. aut mercatores non aprehendam. nec denarios eorum tollam [...] nec suum averum tollam ut perdant. neque aysos suos destruam.“ 362 (In keiner Weise werde ich in eine Kirche einbrechen. In die Keller innerhalb jener Kirche werde ich ebenso nicht einbrechen, welche für Asyl errichtet worden sind; es sei denn, ich verfolge einen Verbrecher, der diesen Frieden brach oder jemanden ermordete. Ich werde keinen Kleriker oder Mönch, der keine weltlichen Waffen trägt, angreifen und gefangen nehmen, und auch seine Begleiter nicht, solange sie weder Schild noch Lanze tragen. Ich werde ihre Pferde nicht wegnehmen. Ich werde keine Beute machen: keinen Ochsen, keine Kuh, kein Schwein, keinen Hammel, kein Lamm, keine Ziege, keinen Esel, der seine Last schleppt, keine unbehufte Stute [...]. Auch nicht von der Ladung des von Ochsen getragenen Lastwagens. Ich werde keinen Bauer und keine Bäuerin, auch keine Sklaven oder Kaufleute festnehmen. Ich werde ihr Geld nicht stehlen [...]. Ich werde nichts unternehmen, um zum Verlust ihrer Habe beizutragen. Ich werde auch ihre Häuser nicht zerstören)

Die Bestimmungen sind auf die Regulierung der gesellschaftlichen Harmonie der drei Stände ausgerichtet. Alle von ihnen werden geschützt, sogar die milites, die unbewaffnet unterwegs sind oder die in einer Miliz zur Durch361 362

Pax Bambergensis, c. 16, 41-43, S. 607. Schwur Viennois, S. 91-92.

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Die Vertretungsehre

setzung der pax tätig sind. Im Mittelalter gibt es überhaupt keinen „klassenlosen Friedensbegriff“.363 Wilhelm von Poitiers († ca. 1087) berichtet ebenfalls in seinen Gesta Gvillelmi ducis Normannorum, dass Wilhelm der Eroberer sich selbst unzufrieden darüber zeigte und der traurigen Klage der nicht-kriegerischen Schichten (miserandus planctus imbellis vulgi) Gehör schenkte, dass die unkontrollierten milites seines Landes zu Unrecht die durch Arbeit akkumulierten Güter der Friedlichen raubten (ecclesiarum bona, agrestium labores, negotiatorum lucra, militum praedam injuste fieri dolebat).364 Man merkt also, dass die Masse ihre Stimme erhebt und die Großen sie nicht überhören. Es ist nicht schwer, diese Tatsache in Bezug zu den vom früheren Gottesfrieden geschaffenen Vorgängen zu setzen, zumal in denselben Gesta Gvillelmi die Antwort des normannischen Herzogs bei solchen Klagen die Ein- und Durchführung einer Treuga Dei ist (sanctissime in Normannia observatur sacramentum pacis quam trevia vocant).365 Man verinnerlicht immer stärker, dass das Wirken der arbeitenden Schichten zum „Geschützt-Sein“ und nicht zum „Geplündert-Werden“ bestimmt ist. Das Volk ist jedoch kein Urheber der pax366; es drückt seine Zustimmung durch lauten Beifall aus. Dies bildet jedoch eine passive Form seiner Verwicklung in das Pax-Geschehen. Die Bischöfe setzten den Gottesfrieden durch – soweit es überhaupt möglich war. Das Volk bekommt den Frieden geschenkt, kann ihn aber noch nicht schaffen oder garantieren. Es ist zu schwach und sich seines Potenzials unbewusst. Es kann nur den beeindruckenden Ritualen der Friedenskonzile mit Erschütterung zuschauen (siehe dafür das obige Zitat von Limoges II) und ihnen zustimmen. So berichtet Rodulfus Glaber über die Reaktion der Masse gegenüber der pax. Als die Menschen die Mirakel auf den PaxKonzilen sahen, die über den Willen Gottes Zeugnis anboten, „universo tanto ardori accensi ut per manus episcoporum baculum ad coelum elevarent, ipsique palmis extensis ad Deum: Pax! Pax! Pax! unanimiter clamarent.“367

363

E. Engel 1989, S. 604. Gesta Gvillelmi, I, 25, S. 36/37. 365 Gesta Gvillelmi, I, 48, S. 80/81. 366 Obwohl B. Töpfer in seiner Dissertation dem Volk eine entscheidende Rolle in der Pax-Phänomenologie zuschrieb, revidiert er später grundsätzlich seine Theorie: „Es wäre sicher falsch, diesem Faktor [dem Volk] hierbei eine führende Rolle zuzuschreiben [...]. Der Organisator und Führer der Bewegung war vielmehr eindeutig die Kirche, die sich hier durchaus in der Lage erwies, die Volksmassen in ihrem Sinne zu lenken“ (B. Töpfer 1961, S. 878). 367 GLABER, IV, 5, 16. 364

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(wurden alle von so einer Begeisterung entzündet, dass alle, als die Bischöfe ihren Stab zum Himmel emporhoben, mit zu Gott erhobenen Armen im Chor riefen: Frieden! Frieden! Frieden!)

Es geht offensichtlich, genau wie im Falle von Limoges II, um ein Beifallsritual des Volkes bei der Anfeuerung der Diözesanbischöfe. Die dreifache invocatio spricht dafür. Solche symbolischen Handlungen entsprechen den historischen Realitäten der Friedensstiftung auf Pax-Synoden.368 Diese wird von Gott durch Überfluss belohnt, was ebenfalls für ein Wertungssystem des dritten Standes spricht, das aufgrund des Friedens entsteht und blüht. Glaber berichtet weiter über die kosmischen Folgen des Gottesfriedens. In jenem Jahre gab es solch eine Fülle des Überflusses (tanta copia habundentiae) an Korn (frumentum) und Wein (vinum) und anderen Nahrungsmitteln (ceteraeque fruges), wie man nicht einmal in fünf normalen Jahren zusammen zu ernten hoffen konnte (quanta in subsequente quinquennio contingisse sperari non potuit). Wieder haben wir hier Wertungen der dritten Funktion: Überfluss an Getreide und Wein aufgrund des Friedens. Man beachte den Parallelismus zu Fulbert von Chartres: Er spricht ebenfalls über Winzerarbeit und Ackerbau. In den Quellen finden sich spärliche Indizien für Fälle, in denen sich rustici gegen Soldaten erheben369 und selbst durch Waffengewalt ihre Rechte verteidigen. In der Auvergne, in der Umgebung eines Dörfchens der Heiligen Fides namens Molompize370 (sanctae martyris habetur viculus, Molendium Pisinum ab incolis vocitatur), wollte ein lokaler Seigneur, Robert, den Mönch, der den Ort verwaltete, töten (qui interveniente ira, in monachum predicti viculi custodem irruit, futurus, si facultas ei daretur, homicida). Robert wurde aber von den Bauern des Dorfes abgewehrt und weggejagt (sed rusticorum atque servientium oppugnatione victus).371 So etwas ist jedoch im 10. bis 11. Jahrhundert selten und nur ausnahmsweise zu finden. Es hat auf keinen Fall die Valenzen eines Massenphänomens. In dieser Zeit konnten sich die Bauern nur beklagen und darauf hoffen, dass sie bei den Großen damit etwas bewirken.372 Lieber noch suchten sie Zuflucht zu den Heiligen und baten, dass sie die Ungerechtigkeit der Seigneurs rächen, so wie wir es ebenfalls in dem Buch über die Mirakel der Sancta Fides erfahren. Ein miles mit zwei seiner Kumpanen plünderte ein Kloster 368

Es könnte natürlich sein, dass Glaber wegen seiner eigenen Begeisterung übertreibt, dem Volke kann jedoch eine große Freude nicht abgesprochen werden: Die Menschen fanden es bestimmt erfreulich zu sehen, wie die Potentaten in irgendeiner Art und Weise ihr Ohr der Volkstimme leihen (vgl. R. Landes/F. S. Paxton 1986, S. 171). 369 Vgl. B. Töpfer 1957, S. 26f. 370 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 156. 371 Vgl. Miracula Fidis, III, 10, S. 197. 372 Vgl. A. Borst 1979, S. 439. Die militärische Unterlegenheit der Bauern ließ ihnen nicht die geringste Chance gegen die milites (vgl. A. Vauchez 1993, S. 17f).

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Die Vertretungsehre

in dem Gebiet der Heiligen: Sie stahlen die Brot- und Weinvorräte (!)373 der Mönche (ecclesiaeque claustra invaderunt atque ex ipso monachorum penu panem ac vinum violenter abstulerunt). Danach schwor der miles, er werde zurückkehren und alle Herden und Güter der Bauern (omnia armenta atque suppellectilem rusticorum) ausrauben. Als die armen Menschen das hörten, vertrauten sie sich und ihre Güter der Sancta Fides an (continuo omnis rusticorum multitudo sancte Fidis acclamavit tutelam, in cujus protectione se ac sua devota commiserat). Das Wunder ließ nicht lange auf sich warten: Jener miles kehrte nie mehr zum Rauben zurück, da er inzwischen von einem anderen umgebracht wurde.374 Man kann folglich nicht über den Gottesfrieden im Sinne einer „Aktivierung der Masse“ reden375, solange wir die Opferhaltung des vulgus vor Augen haben. Es stimmt, dass in der PaxMiliz von Bourges II auch Bauern dabei sind, man sollte aber nicht übersehen, dass in derselben militia zahlreiche milites kämpfen; auf der anderen Seite ist die Pax-Miliz von Bourges die einzige in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts, über die wir mit Sicherheit wissen, dass sie Bauern „beschäftigte“. Die Pax-Miliz von Le Puy 975 z. B. bestand exklusiv aus den Gefolgschaften der Grafen Pons und Bertrand, der Neffen des Bischofs von Velay. Man sollte daher vorsichtig mit Formulierungen wie „bäuerliche Friedensmilizen“376 umgehen. Man kann dem Gottesfrieden jegliche soziale Wirkung nicht absprechen, sie ist allerdings indirekt.377 In dieser Periode ist der Einfluss der paxVorgänge eher mentaler Natur; sie brauchen Zeit zu gären, bis sie ihre konkreten sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Ergebnisse entfalten können. In jeder Hinsicht aber ist der Gottesfrieden gegen die kriegerische Schicht gerichtet – nicht aber zur vollkommenen Abschaffung des Krieges!378 –, die den Vordergrund des sozialen Lebens besetzte und den Verlauf des Alltags durch ihre Handlungen determinierte.379 Gleichgültig, ob es sich um Großadel oder um kleine lokale Freiherren handelt, die Kirche strebt durch den Gottesfrieden eine soziale Reglementierung an, aber im 373

Es scheint, dass diese zwei zu sprachlichen Symbolen der materiellen Habe im Kontext des Gottesfriedens werden. Sie sind von unterschiedlichen Autoren fast stereotypisch erwähnt, um vielleicht darauf hinzuweisen, dass die eucharistischen Leib und Blut Christi Früchte der bäuerlichen Arbeit sind. Dies ist also eine indirekte Bewertung des bäuerlichen Arbeitsethos. 374 Vgl. Miracula Fidis, III, 21, S. 212. 375 Vgl. J. Gernhuber 1952, S. 47. 376 Vgl. J. Gernhuber 1952, S. 47. 377 Vgl. D. Barthélemy 2002, S. 340. 378 „L’Église visait non pas à condamner ni à interdire le recours à la guerre, mais à en limiter les effets“ (Th. Gergen 2004, S. 125). 379 Vgl. H. Hoffmann 1964, S. 12. Man redet in diesem Zusammenhang sogar von einem „Zusammenbruch der sozialen Ordnung“ (R. I. Moore 2001, S. 29).

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Sinne der eigenen Vormachtstellung. Macht bedeutet vor allem Gesetzgebung, ihre Durchführung und Verwaltung. Deswegen ist der Gottesfrieden als eine Herrschaftsausübung anzusehen, wobei der Diskurs zugunsten der pauperes u. a. ein Mittel der Propaganda bildete. Wie ich gezeigt habe, war die Begünstigung der Bauern nicht vorbehaltlos, und in manchen Hinsichten wurde der dritte Stand ebenso wie der zweite bekämpft, solange sein Verhalten nicht den geistlichen Ehranschauungen entsprach: Z. B. bedeutete sonntags zu arbeiten keinen Fleiß mehr, sondern Blasphemie und Heidentum. Jedoch werden durch die pax die ersten Grundlagen einer gewissen Öffentlichkeit380, einer öffentlichen Meinung, so wie sie auch im Investiturstreit zu finden ist, Gestalt bekommen. Ein polizeiliches Verfahren im Dienste der Allgemeinheit ist nun ebenso vorhanden.381 Obgleich zu Beginn diese Dimension der Öffentlichkeit von der Kirche und vom Hochadel geprägt ist, wächst sie und kulminiert im spätmittelalterlichen Stadt- und Königtumswesen382. Die Gottesfriedensidee wurde mit Begeisterung von den laikalen Oberhoheiten (z. B. Wilhelm IV. von Aquitanien383 oder König Robert II.384) mit dem Ziel übernommen, sich durch die pax-Legislation ein Autoritätsmittel in ihrem Kampf mit der lokalen Zersplitterung ihrer Herrschaft zu verschaffen. Nur in diesem Zusammenhang kann man über einen indirekten Einfluss des Gottesfriedens auf die Bildung des späteren französischen Königreichs (und nicht nur dieses) sprechen. Der Gottesfrieden schafft die Voraussetzungen für eine soziale Harmonisierung der drei Funktionen und ihres Zusammenlebens.385 Ebenso wurde auf rechtlicher Ebene – wie manche Forscher belegen – durch die Ähnlichkeit der Pax-Beschlüsse (sie weisen auf dieselbe Form hin und fußen alle auf den Beschlüssen von Charroux I) eine Gleichverteilung und Harmonisierung des Rechtes geschaffen. Dies wird zur Basis der späteren diözesanen oder gräflichen Gerichtsbarkeit, die letzten Endes in der königlichen Herrschaftsverfassung kulminieren wird.386 Die Friedensstiftung und -bewahrung wurde später in den Aufgabenkatalog des Staates 380

Vgl. L. McKinney 1930, S. 205. Daher kann man hinsichtlich des Gottesfriedens von den ersten Grundlagen eines „Offizialverfahrens” sprechen (B. Meyer 1935, S. 13). 382 Vgl. H. E. J. Cowdrey 1970, S. 67. 383 Bei Limoges I (vgl. CHRONIKON, III, 35, 28 und 34-35). 384 Vgl. L. Huberti 1892, S. 180 und B. Töpfer 1961, S. 893. Als Beleg: Der Bericht von Saint Florentin (1024), herausgegeben von H. Hattenhauer 1998, S. 3. 385 Vgl. J.-P. Poly/E. Bournazel 1991, S. 162. 386 „Les normes de la paix de Dieu sont du droit valide qui se manifeste et se confirme par des conciles postérieurs, applicables dans plusieurs unités juridiques, à savoir les diocèses et les comtés. Il convient maintenant de passer à des cas juridiques pratiques qui démontrent l’influence de la paix et trêve en tant que source juridique“ (Th. Gergen 2004, S. 126f). Vgl. auch L. McKinney 1930, S. 197. 381

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Die Vertretungsehre

übernommen.387 In dieser Hinsicht finde ich die Begründung Odilo Engels sehr zutreffend: „Stellt man die Frage nach dem, was Staatlichkeit im modernen Sinne ist, dann sucht man eine Antwort mit Sicherheit auch im Anspruch, allein Gewalt ausüben zu dürfen und diese Gewalt zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung im Interesse derjenigen auszuüben, die zur Gewaltanwendung nicht befugt sind. Das Gegenteil dazu wäre die Fehde als Rechtsform der Selbsthilfe [...]. Bei dieser nur angedeuteten Gegenüberstellung sieht sich der Mediävist sofort auf die Gottesfriedensund Landfriedensbewegung verwiesen. Schon ihre Zielsetzung, die Eindämmung bzw. Abschaffung des Fehdewesens, deutet ja an, dass hier Vorstufen der Staatswerdung zu finden sind“.388 Hier möchte ich kurz das Problem der Verbindung zwischen dem Gottesfrieden und der späteren Entwicklung des Kommunenwesens ansprechen. Während manche Historiker an eine enge Verknüpfung der paxPhänomenologie und der Entwicklung der Stadt glauben, sind andere skeptisch. Vor allem soll hier zwischen den protostädtischen Strukturen des 10. bis 11. Jahrhunderts und den Kommunen, die ihren Anfang im 12. Jahrhundert haben389, unterschieden werden. Die späteren Kommunen seien – so etliche Forscher – ebenso wie die Pax-Verbände auf der Basis eines Schwurs entstanden (Eidgenossenschaften)390, in dessen Zentrum die Bewahrung und Verteidigung der kommunalen Pax stand. Die Städte blühen ebenso wie der Gottesfrieden in einer Periode des Rückgangs königlicher Macht.391 Eine andere Gemeinsamkeit sei die Finanzierung der Pax – in Bourges II 1038: [J]am venali mercimonio donum omnipotentis Dei statuario apponunt [...] pacis jura incesta pecunia veneunt392 – durch eine Steuer, ebenso wurde in der späteren Kommune die bürgerliche Ordnung steuerlich finanziert. Es wäre aber zu viel, zu behaupten, dass die Kommune direkt aus dem Gottesfrieden entsprungen sei. Zwischen beiden Ordnungen bestehen erhebliche Unterschiede: Einer von ihnen bezieht sich auf die gerade erwähnte Steuer. In der pax war dies eine nebensächliche Erscheinung (wird lediglich in Bourges II angeführt), die Stadt dagegen entsteht als bürgerliche Assoziationsform aufgrund der Steuerbeteiligung.393 Es sollte nicht vergessen werden, dass die Bischöfe – die Urheber des Gottesfriedens – mit den Kommunen heftige Konflikte wegen der Kontrolle der Städte hatten.394 Es stimmt allerdings, dass sich die späteren Städte als „be387

Vgl. H. Conrad 1971, S. 14. O. Engels 1978, S. 71. Vgl. H. Planitz 1943, S. 2 und 6. 390 Vgl. K. W. Nitzsch 1881, S. 279f und K. Fröhlich 1933, S. 231. 391 Vgl. C. Erdmann 1955, S. 59. 392 Miracula Benedicti, S. 195. 393 Vgl. K. Kennelly 1963, S. 52. 394 Vgl. K. Schultz1992, S. 13. 388 389

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friedete“ Orte verstanden. Die pax bezweckt ebenso die Pazifizierung der diözesanen Umgebung.395 Meine Theorie ist, dass der Pax die Schaffung von einigen Voraussetzungen einer territorialen Befriedung gelingt: Solche befriedeten Territorien bieten daher eine erhöhte Anziehungskraft für neue Ansiedlungen. Das aber bedeutet ein Aufkommen der Kommunikation, der Märkte und des Verkehrs.396 Die Kommunen selbst waren sich immer bewusst, dass ein wesentlicher Teil ihres Daseins auf Frieden beruht. Die Angehörigen der dritten Funktion genießen die Früchte des Friedens. So berichtet der Chronist über die Begeisterung, mit welcher der von Wilhelm dem Eroberer eingeführte Frieden in der Normandie empfangen wurde: „[E]xultabat negotiator, tuto, quo vellet, iturus; gratulabatur agricola quod securum erat novalia scindere, spem frugum spargere, nec latitare milite viso.”397 ([D]er Kaufmann jubelte, überallhin, wo er hinwollte, in Sicherheit gehen zu können; der Bauer war freudig dankbar, dass er in Sicherheit seine Acker pflügen und sein Brot säen könnte, statt sich beim Anblick eines Kriegers verstecken zu müssen).

Ohne Frieden gibt es keine Freiheit und Gerechtigkeit, keinen Wohlstand und keine wirtschaftliche Entwicklung. So ist die Stadt nicht als das direkte Ergebnis der Pax-Institute, sondern als Nachwirkung der Pax-Mentalität zu betrachten. Mit den ersten Schritten auf dem Weg zur Inschutznahme des dritten Standes und seines way of life werden notwendigerweise die ersten Grundlagen einer Standesbildung gelegt, in denen neue Werte enthalten sind: Arbeit, Frieden, Genießen der Früchte der Arbeit usw. Die Gesellschaft öffnete sich, und auf die dem kriegerischen Hoch- und Frühmittelalter spezifische Privatisierung des Lebens folgt eine Öffnung in allen Bereichen. So „trug die pax Dei dazu bei, das Vorgehen gegen den Friedensbrecher zu einer Angelegenheit des öffentlichen Interesses zu machen. Krieg und Frieden waren fortan nicht mehr auf das Verhältnis zweier Gruppen begrenzt“.398 Auf dieser Basis entfaltet sich eben im Spätmittelalter die städtische Kultur.

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Es ist interessant zu sehen, wie der sächsische Gottesfrieden zur Durchführung und Garantie des beschlossenen Friedens den Bürgermeister (magistrus) eines Dorfes bzw. die Nachbarschaft (vicini sui) mit einbezieht (vgl. Der sächsische Gottesfrieden, c. 8, S. 150/151). Zumindest in Deutschland haben der Gottes- und Landfrieden relativ starke kommunale Wirkungen (vgl. L. v. Winterfeld 1928, S. 49ff und E. Wadle 2001, S. 72ff). 396 Vgl. H. Mitteis 1968, S. 189. Im deutschen Raum sind die späteren PaxBestimmungen bürgerlich gesinnt, werden manchmal von den Kommunen übernommen, dauern jahrhundertelang und manche treugae werden von den religiösen Feiertagen auf Wochenmärkte übertragen (vgl. L. v. Winterfeld 1934, S. 239f). 397 Gesta Gvillelmi, I, 10, S. 12/13. 398 R. Grosse 2002, S. 90; siehe auch S. 80ff.

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Die Vertretungsehre

Die Pax geht mit einer Bildung der zum kriegerischen Ehrenethos parallelen Ehrsemantik einher: bei der Kirche (im 10. bis 11. Jahrhundert) und später beim arbeitenden Volk. Unmittelbare sichtbare Folgen des Gottesfriedens, außer eventuell des Kreuzzugs, sind nicht zu beobachten: Die ersten Kommunen erscheinen im 12. Jahrhundert, obwohl die Kaufleute bereits in den ersten Friedenskonzilen des 10. Jahrhunderts in Schutz genommen werden, und das Königtum zentralisiert seinen Herrschaftsverband im 15. Jahrhundert, obwohl das Fehdewesen und die von ihm verursachte territoriale Zersplitterung bereits im 11. Jahrhundert bekämpft werden. Diese Ungleichzeitigkeit der Grundlagen und der Ergebnisse lässt mich über eine vorwiegend mentale Umbildung399 im Gottesfrieden sprechen, die sich an der Entwicklung bzw. Umgestaltung der Ehrsemantik beobachten und benennen lässt. Der Aufschwung der sozialen Theorie der tres ordines ab dem 11. Jahrhundert ist gewiss kein Zufall. Was die dritte Funktion, die den Bewegungsfaktor des Spätmittelalters und der Frühneuzeit bildet, angeht, soll ihr ein spezielles Kapitel dieser Arbeit gewidmet werden. Ich habe bereits gezeigt, dass die villani, villanae, servientes, negotiatores und ihre Tätigkeiten oft dem Namen nach erwähnt wurden, aber noch häufiger sind sie der allgemeinen Kategorie der pauperes zugeordnet. Meiner Überzeugung nach bezeichnete dieser Terminus keine materiell Armen, sondern die friedliche Schicht, die eben aufgrund ihrer Friedlichkeit den gewaltsamen Zeiten und Situationen ausgeliefert waren. Sie waren eher „die Schwachen“, im Sinne jener, welche nur wenige Rechte hatten und diese nicht selbst behaupten konnten.400 Daher werden sie von der kriegerischen Schicht als ehrenlos betrachtet und als wertlos behandelt. Der Pax-Diskurs zugunsten der pauperes ist letzten Endes ein Einsatz der Kirche – aus welchen Gründen auch immer – zur Vertretung der Rechte dieser Schwachen. Immer öfter zeigt sich, dass diese ein Recht auf Eigentum, Arbeit und Akkumulation haben. Im pauperes-Diskurs des Gottesfriedens wohnt man dem Beginn einer „Renaissance“ der Ehre und Ehrsemantik des dritten Standes bei.

Zu pauper und paupertas. Eine Anmerkung Die von den Pax-Beschlüssen in Schutz genommenen pauperes waren wohl keine materiell Bedürftige401, sonst wären sie mit Almosen zufrieden gestellt worden und die milites hätten ihnen nichts Rauben können.402 399

Vgl. R. Landes/F. S. Paxton 1986, S. 171. Vgl. M. Mollat 1984, S. 39. 401 Es ist vor allem grundsätzlich „Eigentum“ von „Besitz“ zu unterscheiden. Die Bauern des Frühmittelalters hatten alle Besitz, manche sogar Eigentum (kleine Allodien) 400

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Die Problematik der paupertas im 10. bis 11. Jahrhundert spielt sich folglich in einem anderen Bereich als in dem der wirtschaftlichen Verhältnisse ab. Dies ist mittlerweile ein in der Forschung weitgehend unbestrittenes Faktum, daher bedarf es nur einer knappen Konturierung. Im Sinne der modernen Relationen, wobei ständische Grenzen leicht überbrückbar sind, sind die Reichtums- und Armutsdefinitionen von der wirtschaftlichen Lage her (Geld-Haben oder Nicht-Haben) zu betrachten. Wenn man arbeitslos ist oder einen schlecht bezahlten Job hat, rechnet man freilich auch mit Prestige-Minderung, Hilfs- und Machtlosigkeit, selten aber mit Rechtlosigkeit.403 In der heutigen Gesellschaft liegt es gewissermaßen am Individuum, sich einen erfolgreichen oder zumindest finanziell beruhigenden Weg zu bahnen, zumal der moderne europäische Staat auf die Chancengleichheit beharrt oder sie zumindest offiziell anstrebt. In der stark klassifizierten Gesellschaft des frühen Mittelalters waren die sozialen Grenzüberschreitungen problematisch.404 In dieser sozialen Stratifizierung spielte das Materielle eine wohl wichtige, aber nicht entscheidende Rolle: Die pauperes waren daher nicht unbedingt besitzlose Menschen. „Armut“ hieß soziale Armut, die von Geburt an gegeben war. Unabhängig von seinem Vermögen blieb ein Bauer immer ein Bauer405. Die Ursache der sozialen Armut war die ständische Unterlegenheit und Ehrlosigkeit, d. h. die Rechtlosigkeit und folglich das Ausgeliefertsein. (vgl. K. Bosl 1963, S. 66f). Manche von ihnen hatten – obwohl sie selbst Leibeigene waren – servi (vgl. S. H. MacGonagle 1936, S. 101). Sie waren jene Kategorie von – im Vergleich mit großen Produktionseinheiten wie z. B. den Klöstern – „producteurs marginaux“ (J. Devisse 1966, S. 282), die wirtschaftlich von den Launen des Wetters und des Klimas abhängig waren (vgl. F. Curschmann 1900, S. 18ff). Dies aber ist bloß ein Aspekt ihrer gesamten gesellschaftlichen und anthropologischen Kondition. 402 Vgl. B. Geremek 1988, S. 26. Erst im 14. Jh. greift die Kirche ein und teilt diese Kategorie aufgrund des immer häufigeren Missbrauchs des pauper-Status – nun wirtschaftlich geprägt – um der Klarheit willen in arbeitsfähige und tatsächlich almosenbedürftige pauperes ein (vgl. B. Geremek 1988, S. 27). Der gesunde Bettler wurde daher freilich mit Misstrauen und Feindseligkeit empfangen (vgl. W. Fischer 1982, S. 27ff). 403

Vgl. B. Dietz 1997, S. 14. Sarah MacGonagle meint dagegen, dass es in der Zeit der barbarischen Königreiche überhaupt nicht schwer war, den sozialen Stand zu wechseln, und gibt einige Beispiele von Königinnen an, die aus den niederen Schichten stammten (vgl. S. H. MacGonagle 1936, S. 43ff). Sie übersieht aber, dass diese Personen überwiegend als böse, listig und hinterhältig beschrieben werden, was die dahinter liegende Mentalität der Zeitgenossen offenbart: Der Statuswechsel ist verwerflich und kann nicht ohne eine „Vergewaltigung“ der Ordnung und der Gerechtigkeit stattfinden (vgl. G. Duby 1977, S. 265). Die Emporkömmlinge waren Zeichen der Unordnung, verstanden als satanischer Dimension der Existenz. 405 Nach einem Inventar eines Fronhofes aus dem Jahre 801 stellte sich heraus, dass die Bauern relativ wohlhabend waren (vgl. G. Franz 1974, Nr. 27, S. 66/ 67-68/ 69). 404

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Die Quellen der gerade genannten Zeitspanne meinen im Zusammenhang mit der Notwendigkeit des Friedens eine paupertas, die grundsätzlich in der Machtlosigkeit406 besteht, d. h. in der Unfähigkeit mancher Schichten, selbst ihre Rechte zu behaupten und zu verteidigen.407 Aus diesem Blickwinkel sind die „Armen“ der Friedensbewegung „nicht nur jene auf die Freigebigkeit und Barmherzigkeit der Reichen angewiesene Teile der Bevölkerung [...], sondern ganz allgemein die Gesamtheit der untersten Volksschichten“.408 Daher ist es unangebracht, wenn man in Forschungen über die Armut des gesamten (!) Mittelalters nicht zwischen der „Armut“ des Frühmittelalters und jener des späteren städtischen Milieus unterscheidet, was natürlich eine falsche Deutung der frühmittelalterlichen paupertas als rein wirtschaftliche Kategorie verursacht (die sozialen und symbolischanthropologischen Ansätze werden dabei völlig übersehen).409 Meistens differenzieren die Quellen die pauperes von den indigentes (von indigeo = nötig haben)410 und damit zeigen sie ein Bewusstsein für die Realität, dass paupertas keine materielle Not bedeutet. Die Formulierungen der PaxSynoden lassen erkennen, dass die geschützten pauperes nichts anderes als die arbeitende Schicht waren, zumal die Synodalerlässe eben die Kategorien der Arbeit (das Genießen der Früchte der Arbeit, die Ungestörtheit bei der Arbeit, die Unberührbarkeit der Haustiere usw.411) erwähnten. Es handelt sich offensichtlich um den dritten (noch) bäuerlichen Stand412, also um eine soziale Klasse. Niemand will hier bestreiten, dass die pauperes des Frühmittelalters auch materielle Bedürftigkeit kannten, der Akzent fällt jedoch auf ihren sozialen Status, der auch die Grundlage ihrer materiellen „Armut“ war, nicht umgekehrt. Es ist schwierig, diese Kategorie der materiellen Armut angemessen zu erforschen, und viele Forscher dieses mittelalterlichen Phänomens vergessen es manchmal. Die materielle Armut existiert gewissermaßen nur, solange der Betroffene selbst sie als Solches empfindet. Es gab im Frühmittelalter keine Armutskriterien, wie sie heutzutage von den Forschern in 406

Vgl. R. I. Moore 2001, S. 29. „Seit der Karolingerzeit sind die pauperes also die Unterschichten und der Begriff umschreibt in erster Linie den rechtlich-sozialen und erst in der zweiten Linie den wirtschaftlichen Rang von Individuen und Gruppen“ (F.-A. Lassotta 1993, S. 24). 408 J. Fechter 1966, S. 57. 409 Vgl. z. B. das Buch von W. Fischer 1982. 410 Vgl. M. Mollat 1984, S. 37. 411 Vgl. B. Töpfer 1957, S.86f. 412 Vgl. K. Bosl 1963, S. 65. Wenn es um rechtliche Trennungen geht, gibt es freilich auch unter den Bauern mehrfache Kategorien, die sich untereinander unterscheiden. Faktisch jedoch – und die Quellen belegen es – werden diese niederen Schichten der Landbevölkerung uneklektisch als „Bauern“ bezeichnet und damit alle zusammen demselben sozialen Stand zugeordnet (vgl. H. Hügli 1929, S. 16f). 407

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Betracht gezogen werden, welche oft die wesentliche Frage vergessen: Konnte ein Bauer, der mit seinen zwei Ochsen ein kleines Grundstück (oft allodialer Natur!) bebaute, eine Familie mit zwei bis drei Kindern unterhielt, ein paar Geflügel, oftmals auch eine Kuh und ein Schwein hatte, zufrieden war und sich sicher im Schutz (mundiburdus, mundiburdium) eines Klosters oder Burgherrn wähnte, noch als „arm“ gelten? Natürlich ist er im quantitativen Vergleich mit einem Herrn arm, aber jener Bauer selbst betrachtete wahrscheinlich sein Hab und Gut als genügend. Armut hängt meistens davon ab, ob man Sachen vermisst oder nicht. So ist ein miles arm, der bloß ein altes Pferd hat, obwohl sein Status und sein Wunsch fünf Rösser fordern. Der Bauer der mittelalterlichen Quellen, der sich und seine Familie einem Kloster oder einem Herrn mit der Bedingung übereignet, genug zu essen und zu anziehen zu bekommen413, entgeht den Armutskategorien, wie sie von der heutigen Forschung festgestellt werden. Was über den Status der pauperes Wesentliches aussagt, ist die Begrifflichkeit, welche die Pax-Quellen im Bezug auf diesen verwenden. So fällt die bipolare Semantik des Wortpaars pauper-potens auf, die offensichtlich nicht auf wirtschaftlichen Kriterien beruht, sondern auf Gewaltverhältnissen.414 In diesem Kontext ist pauper wohl als Zeichen eines mangelnden sozialen Ansehens und der nicht vorhandenen ständischen Gleichberechtigung anzusehen. Die potentes sind daher die Mächtigen, die aufgrund ihres Ansehens auch reich sind, während die pauperes oder minus potentes415 jene minderwertigen Kategorien darstellen, die der Willkür416 und Gewalt der potentes unterliegen.417 Im Frühmittelalter wiesen aber diese Eigenschaften die nicht-kriegerischen Schichten418 der bäuerlichen 413 Vgl. M. Mollat 1984, S. 35. „[U]t me in vestrum mundoburdum tradere vel commendare deberem; quod ita et feci; eo videlicet modo, ut me tam de victu quam et de vestimento, [...] adiuvare vel consolare debeas“ (Formulae Turonenses, Nr. 43, S. 158). 414 Dieses Wortpaar taucht in den Quellen bereits seit der Karolingerzeit auf, seine starke Typologisierung findet aber erst im 10. bis 11. Jh. statt. Die Bibel wendet den Terminus pauper allerdings mit folgenden beiden Bedeutungen an: „besitzlos“ und „schutzbedürftig“ (vgl. O. G. Oexle 1992, S. 138 und 148). 415 Vgl. die Capitularia missorum specialia (um 802), die unter Karl dem Großen erlassen wurden, und wo es sich im 18. Paragraph um „de banno domno imperatoris et regis [...] id est de mundoburde [mundeburde, mundoburdo] ecclesiarum, et viduarum, orfanorum, et de minus potentium (W. A. Eckhardt 1956, S. 503) handelt, wobei die hier erwähnten „minus potentes“ nicht durch „weniger potentes“ zu verstehen sind, sondern als die, „die (überhaupt) nicht potentes sind“, wie K. Bosl in einer seiner bahnbrechenden Studien über die mittelalterliche paupertas zeigte (vgl. K. Bosl 1963, S. 62). 416 Siehe Beispiele bei G. Franz 1974, Nr. 58 und 59, S. 146/147-150/151. 417 Vgl. A. J. Gurjewitsch 1997, S. 19. 418 Der Terminus „arm“ gehört der indoeuropäischen semantischen Familie des Wortes „Erbe“ an und bedeutet etwa „verwaist“, „enterbt“ (vgl. F.-A. Lassotta 1993, S. 21). Dies steht in offensichtlicher Verbindung mit der Ehre einer Person, d. h., ein „Armer“ ist ein

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Landbevölkerung und der servi auf, die von den Quellen integrativ unter Bezeichnungen wie rustici oder plebs419 abgewertet wurden420; wir wissen, dass die rusticatio oft mit rusticitas in Verbindung gebracht wurde, also mit Rohheit, Ungebildet-Sein und Plumpheit. Papst Urban II. verwendet den Ausdruck plebs idiota421, wohl in derselben Absicht: Um zu vermitteln, dass die niederen Schichten ungebildet und unkultiviert seien. In diesem Sprachkomplex, der sich um Macht- und Ansehensverhältnisse dreht, entstehen synonyme Wortpaare wie paupertas-potestas, maiores-minores oder potentiores-humiles422 bzw. pauperes. Sie wurden gemeinsam unter dem Begriff populus minor gefasst, dessen Angehörige die allgemeine Charakteristik hatten, dass sie eben impotentes waren.423 Diese Kategorie hatte unter der Zersplitterung der Herrschaftsbereiche, die ich in den vorigen Kapiteln ansprach, zu leiden, und zwar in dem Sinne, dass eine solche Atomisierung auch eine labile rechtliche Lage veranlasste, wobei die Rechtsbewahrung zur privaten Angelegenheit wurde, d. h., die Wehrhaftigkeit wurde zum entscheidenden Kriterium des sozialen „Überlebens“ bzw. der Ehrenhaftigkeit.424 Nach den herrschenden Wertungen sind die pauperes keine angesehenen Mitglieder der Gesellschaft425: Sie tragen kein Schwert, können nicht gescheit kämpfen, sind „feige“ und – noch schlimmer – sie müssen arbeiten, um leben zu können. Solche minores waren den Mächtigen und ihren milites ausgesetzt, die sie willkürlich besteuerten, beraubten oder töteten. Nach der kriegerischen Auffassung besteht die Ehre eines Kriegers eben in der Unabhängigkeit von jedem Gesetz und in der Freiheit, selbst das Gesetz nach den Interessen des Momentes zu schaffen Individuum, das vor allem schutzlos war, solange es durch die Mechanismen der Erbschaft nicht einer Gemeinschaft – im traditionellen Sinne einer Ehrgemeinschaft – angeschlossen war. 419 Seit Isidor von Sevilla unterschied die politisch-soziale Theorie des Mittelalters zwischen populus und plebs: „Populus est humanae multitudinis iuris consensu et concordi communione sociatus. Populus autem eo distet a plebibus, quod populus universi cives sunt, connumerati senioribus civitatis; plebs autem reliquum vulgus, sine senioribus civitatis [...]“ (Populus ist der Verband, der in der Einigkeit des menschlichen gemeinsamen Rechtes und in der übereinstimmenden Gemeinschaft besteht. Populus nämlich unterscheidet sich von dem Pöbel, indem populus aus allen Bürgern (Berechtigten) besteht, mitberechnet die Adligen des Landes; der Pöbel aber aus dem restlichen Volke, ohne eben die Adligen) (ISIDOR, IX, 4, 5). Es handelt sich also um jene, die keiner Berechtigungsgemeinschaft angehörten, willkürlich behandelt wurden und kein Recht auf Mitsprache hatten (vgl. K. Bosl 1965, S. 170f). 420 Vgl. A. J. Gurjewitsch 1997, S. 17f. 421 Fulcher, II, 5, S. 125. 422 Dieses Begriffpaar erscheint ab dem 9. Jh. (vgl. K. Bosl 1963, S. 65). 423 Vgl. M. Mollat 1984, S. 36f. 424 Vgl. G. Althoff 1981, S. 322. 425 Vgl. S. H. MacGonagle 1936, S. 11.

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bzw. abzuschaffen. Nach einer solchen Logik wird den anderen Ständen keine Rücksicht geschenkt.426 Diese rustici und inermes pauperes der Quellen des 10. bis 11. Jahrhunderts entstammen jenen Wehrpflichtigen der früheren barbarischen Königreiche427 in der Merowinger- und Karolingerzeit. Im Laufe der Zeit (bereits unter Karl dem Großen) gingen viele von ihnen nicht mehr persönlich zum Kriegsdienst und bezahlten dafür eine Kriegsersatzsteuer428; sie waren heribanni.429 Ursprünglich galten die pauperes im früheren Christentum der städtischen römischen Welt als eine angesehene Kategorie, zumal sie die erste gesellschaftliche Schicht gewesen sind, die das Christentum annahm und bekannte.430 Es ist andererseits jedoch zwischen dieser städtischen Schicht und den pauperes der Friedensbewegung klar zu differenzieren, denn die letzteren entspringen unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen und haben einen anderen Sozialstatus. Was diese inferiores im gesellschaftlichen Corpus des Mittelalters individualisiert, ist hauptsächlich – wie bereits gesagt –, dass sie wehrlos sind und die Mächtigen als Schützer brauchen.431 Dies ist auch der Grund der relativ häufigen Selbstschenkungen an die Klöster, was jedenfalls ausdrücklich in den Schenkungsurkunden steht. Aus dem Verlangen nach Sicherheit aufgrund ihrer Not vertrauen sich manche Bauern mächtigen Gemeinschaften – z. B. einem Kloster – an, die fähig waren, sie zu beschirmen und ihre körperliche und materielle Integrität zu garantieren432: „Si a pravitate secularium tyrannorum, quos nos maxime pauperes adversarios patimur, nemo homo propriis viribus tutari ac defendere possit, necesse est ut ad praesidia sanctorum quantocius confugiamus, ut ipsi sancti, suis intervenientibus meritis, ab eorum nos rabie temporaliter liberent atque muniant.“433 426 Ich erinnere hiermit an das Epitheton des „freien“ Indra, des Kriegsgottes, der als typologische Gestalt der kriegerischen Ehranschauungen von mir im ersten Teil dieser Arbeit analysiert wurde. Es seien hier jene Beispiele herangezogen, indem man Kirchen zur Kenntnis nimmt, die den privaten Kriegen zum Opfer fallen; obwohl sich die kleinen Könige der Merowingerzeit und später die lokalen streitsüchtigen Burgherren als christlich bekannten, war dies kein Hindernis – wenn es um die Ehre ging –, Kirchen in Brand zu setzen (vgl. S. H. MacGonagle 1936, S. 73). 427 Vgl. G. Duby 1977, S. 79. 428 „Dant inter duos in hoste bovem I, quando in hostem non pergunt“ (Je zwei geben einen Ochsen für das Heer, wenn sie nicht selbst ins Feld ziehen) (G. Franz, Nr. 27, S. 68/69). Siehe auch L. T. White 1968, S. 24 und 32f. 429 Wie ich bereits in dem Kapitel „Arbeit und Arbeiter“ gezeigt habe. Vgl. auch K. Bosl 1963, S. 69. 430 Vgl. S. H. MacGonagle 1936, S. 13ff, insbesondere S. 17. 431 Vgl. J. Fechter 1966, S. 57. 432 Vgl. J. Fechter 1966, S. 46f. 433 Cartularium Brioude, 163, S. 176.

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(Wenn sich vor der Schlechtigkeit weltlicher Machthaber, die gerade wir Armen als unsere Feinde empfinden, kein Mensch sich aus eigener Kraft schützen und verteidigen kann, dann ist es notwendig, dass wir uns um so eiliger in den Schutz der Heiligen flüchten, damit die Heiligen durch ihre Verdienste uns von deren Raserei in der Welt befreien und schützen).434

Die kirchliche Propaganda setzte sich mit Erfolg für die Armen ein: Die sogenannten oppressores pauperum wurden mit Kain verglichen, dem Brudermörder der Bibel. Sie missbrauchten ihre von Gott anvertraute Macht gegen die Schwachen.435 Im 11. Jahrhundert erwartete man von den Mächtigen, dass sie ihre potentia zur Beschirmung der „Armen“ einsetzen und damit wahren, christlich gesinnten spiritus pauper (Demut) beweisen.436 Unter diesen Umständen sieht man, wie die damaligen königsfreien, waffentragenden Bauern ab dem Ende der karolingischen Zeit immer weiter auf der sozialen Skala hinuntersteigen und nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu behaupten. Dies wird im 10. und 11. Jahrhundert eine Charakteristik der pauperes.437 Zu ihnen gehören auch kleine clerici, die zusammen unter dem durch judices ausgeübten königlichen Schutz stehen, wie es aus einem Edikt Klothars II. des Jahres 614 nachzuvollziehen ist: „Ecclesiarum res sacerdotum et pauperum qui se defensare non possunt, a iudicibus publicis usque audientiam per iustitiam defensentur.“438 (Die Güter der Kleriker und der pauperes, die sich nicht selbst verteidigen können, sollen von öffentlichen Richtern und durch die Aufmerksamkeit der Justiz geschützt werden).

Von den Capitularia missorum specialia Karls des Großen wissen wir aber, dass die kampffähigen, königsfreien Bauern, die ihre Wehrpflicht mit Hingabe erfüllten, Opfer der Bestechlichkeit der Richter waren und unterdrückt wurden.439 Oft bemächtigten sich bereits unter Karl dem Großen die 434

Übersetzung von B. Töpfer 1957, S. 134. „quo malorum auctor Cain primogenitus fuit“, wobei die mali „omnes potentes pauperum oppressores“ seien (Bibliotheca Cluniacensis, XXXV, S. 182). 436 Vgl. J. Fechter 1966, S. 56. 437 Vgl. J. Fleckenstein 2000, S. 59. Relevant für diese Ansicht ist, dass auch die schutzlosen Witwen oder Waisen des Frühmittelalters – egal welchen Standes – zu der Kategorie der pauperes gehörten (vgl. F.-A. Lassotta 1993, S. 21f). Es handelte sich also um Gewaltbereitschaft, Waffengewalt und Selbstbehauptung, die den Schwachen fehlte und sie zu Ehrlosen machte. Solche Schwachen im symbolisch-sozialen Sinne sind nicht mit den debiles gleichzusetzen, also mit jenen, die physisch schwach aufgrund von Krankheiten waren (Leprosen, Blinden, Behinderten usw.) (vgl. M. Mollat 1984, S. 32). 438 Edikt Clothar II., c. 14?, S. 22. 439 Vgl. W. A. Eckhardt 1956, c. 12, S. 502. Siehe auch K. Bosl 1963, S. 62 mit Belegen. Für das 6. bis 7. Jahrhundert wurde belegt, dass sogar Könige korrupt waren und aufgrund der ständischen Angehörigkeit Bauern benachteiligten: Für üppige Geschenke konnten die Adligen das Gesetz umgehen (vgl. S. H. MacGonagle 1936, S. 51). 435

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Potentaten einer Region (Bischöfe, Grafen) des Eigentums der Bauern, indem sie diese Wehrpflichtigen in den Krieg schickten und in deren Abwesenheit ihre Grundstücke an sich rissen. Deshalb begaben sich die Bauern unter die Herrschaft kleiner lokaler Herren, und traten damit aus der Gewalt der königlichen Grafen bzw. missi440 heraus; die königliche zentrale Herrschaft hatte darunter zu leiden. Was die Friedensbewegung unter der kirchlichen Führung und die Funktionalisierung der Gesellschaft im 11. Jahrhundert bringen, ist u. a. ein neuer Geist, nach dem die paupertas als christlicher Wert der aristokratischen verschwenderischen Lebensweise entgegengesetzt wird: „Vae qui opulenti estis optimates, capita populorum, ingredientes popatice, qui dormitis in lectis eburneis, et lascivitis in sratris vestris, bibentes vinum in phalis.“441 (Oh weh Euch, den wohlhabenden Optimaten, Häuptern der Völker, die Ihr prunkvoll auftretet; Euch, den in elfenbeinernen Betten Schlafenden, in Euern Polsterdecken Faulenzenden und den aus prächtigen Pokalen Trinkenden.)

So ermahnt der Abt Odo von Cluny die luxussüchtigen Potentaten seiner Zeit und gibt ihnen das vorbildliche Beispiel des Grafen Gerald von Aurillac, dessen Vita er verfasst. Gerald ist ein Adliger, der keine materiellen Reichtümer anstrebt.442 Unter den Impulsen der Kirchenreform443 ist auch ein Wandel in der Frage der paupertas zu beobachten. Nun erheben sich immer mehr Stimmen, die eine Ablehnung der irdischen Eigentümer fordern und ein Leben nach dem Muster der Armut Christi befürworten.444 Der Begriff des pauper Christi445 tritt immer stärker in den Vordergrund, desjenigen Menschen, der freiwillig die materielle (!) Armut wählt446, um Christus zu folgen. Damit findet eine „Entsozialisierung“ und „Indivi440

Vgl. G. Franz 1974, Nr. 29, S. 80/ 81. Bibliotheca Cluniacensis, XXVI, S. 237f. 442 Vgl. Bibliotheca Cluniacensis, XXXIV, S. 102. 443 Gregor VII. betrachtete sich selbst als ein pauper Christi, aber nicht im Sinne der Armutsbewegung, die ihren Beginn ebenfalls im 11. Jh. hat. Bei Gregor handelte es sich um eine paupertas als Gegenteil zur laikalen potestas, als Auszeichnung seines Kampfes gegen die säkularen Gewalten jener Zeit. Damit ordnete er sich in der Semantik von pauper-potens ein; er war seiner Auffassung nach ein pauper Christi bzw. Jesu im Sinne eines Dieners des im Glanz herrschenden Pantokrators (vgl. U.-R. Blumenthal 2001, S. 283f). So hat seine paupertas eine semantische Dimension der Vertretungsehre. 444 Vgl. W. Fischer 1982, S. 27. 445 Noch in der ersten Hälfte des 11. Jhs. hießen pauperes Christi jene Bettler, die Almosenempfänger waren (vgl. F. Graus 1961, S. 67, Anm. 28 und K. Bosl 1963, S. 74f). Im 6. Jahrhundert hießen die Almosenempfänger ebenfalls überwiegend pauperes (z. B. Vita St. Severini, c. 7, S. 75). 446 Vgl. L. K. Little 1975, S. 16. 441

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Die Vertretungsehre

dualisierung“ der Frömmigkeit statt, indem man nicht mehr die Interzession der Mönche447 als ausreichend für ein authentisches christliches Leben betrachtet und großen Akzent auf den persönlichen Lebensvollzug legt. Solchen Menschen ist die Meinung der äußeren Instanzen nicht mehr so wichtig, deshalb haben die pauperes Christi, obwohl sie beim einfachen Volk beliebt waren448, oft Probleme mit den kirchlichen Institutionen und werden als Häretiker abgestempelt.449 Angesichts ihrer relativ großen Popularität versucht die Kirche solche Wanderasketen und -prediger, solche pauperes Christi eben, unter Kontrolle zu halten, um von unerwünschten zentrifugalen Tendenzen nicht getroffen zu werden. In einem Exemplum aus dem 12. bis 13. Jahrhundert lesen wir über einen frommen Mann (bonus homo), welcher der Welt entfloh und als Klausner (in inclusorio) von den Almosen der Menschen lebte (homines ipsum pascebant). Obwohl hoch asketisch, ist seine Lebensweise trotzdem gotteswidrig, zumal eine himmlische Stimme (vox de coelo) ihm zurief: „Heil dir, du gemästetes Schwein!“ (Ave, pasce, porce saginate, du gemestis swyn!). Der Mann verließ darauf seine Klause und wanderte von Ort zu Ort, was aber den Himmel auch nicht zufrieden stellte. So rief die Stimme: „Heil dir, irrendes Vieh! In der Klause gefällst du Gott nicht, deine Wanderschaft ist ihm auch nicht willkommen!“ (Salve, pecus errans; in inclusorio Deo non places, peregrinacio tua Deo non est accepta). Letztlich versprach der Asket, dass er unter die Eremiten gehen will, die gehorsam leben und damit den Willen Gottes erfüllen (sub oboedientia viventes voluntatem Dei perficiunt), wobei „sub oboedientia vivere“ einem Abte Gehorsam zu leisten bedeutete. Diese endliche Entscheidung bescherte unserem Eremiten fröhliche Anerkennung und Zustimmung von der launischen Stimme aus dem Himmel: „Grüß dich, gehorsamer Sohn, der sich dem Willen Gottes beugt; er wird dich erretten“ (Salve, fili obediens, inplens Dei voluntatem, qui te salvabit).450 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass solche „irrenden Schafe“, die sich ihre eigene asketische Lebensform wählen, der Kirche wohl ein Dorn im Auge waren. Der Diskurs der pauperes Christi ist meistens gegen den Reichtum, Luxus und die verschwenderische Lebensweise der Bischöfe, Äbte und Mächtigen der Zeit gerichtet: Man soll diesseits alles aufgeben, um Schätze im Himmel sammeln zu können. Diese Individualisierung des Heiles weist auf Denkstrukturen der Akkumulationsmentalität hin: Wie z. B. ein Kaufmann oder Handwerker sein soziales Ansehen und seinen Aufstieg nicht einer edlen Geburt und einer Ehrgemeinschaft schuldet, sondern seinen eigenen geschäftlichen Fertigkeiten und Bemühungen, so ist im religiösen 447

Vgl. K. van Eickels 2004, S. 27. Vgl. E. Werner 1956, S. 199. 449 Vgl. L. K. Little 1975, S. 19. 450 Erzählungen, Nr. 31. 448

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Bereich die Erlösung nicht mehr der Interzession der Benediktiner anzuvertrauen, sondern in die eigenen Hände zu nehmen und selbst zu bewirken. Die Hagiografie spiegelt diese Tatsache wider. Während im 9.- 10. Jahrhundert die „wichtigen“ Heiligen vornehmer Herkunft sind451 und sich als Verwalter der Schöpfung Gottes, als Päpste, Bischöfe, Äbte, Missionare und Märtyrer auszeichneten452, beginnen ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts die pauperes Christi – oftmals einfache Bauern – in den Vordergrund zu treten und durch ihre strenge Askese berühmt zu werden.453 Der Weg zu Franziskus von Assisi war geöffnet. Dieser letzte Exkurs war notwendig, um durch einen Kontrast leichter zu zeigen, welche Wahrnehmung die paupertas vor der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts genoss, also in der Zeit der Gottesfriedensbewegung, als sie in den Quellen so häufig auftauchte. Die pauperes der Pax Dei sind keine almosenbedürftigen Bettler und auch keine asketischen Klausner oder Wanderprediger; sie sind die rustici, die villani und villanae, die agricolae, der bäuerliche Stand, der aufgrund seiner Waffenungewandtheit den gewaltsamen Zeiten ausgeliefert war. Solche Menschen hatten in Zeiten des Schwankens königlicher Gerichtsbarkeit454 – wie im 10. bis 11. Jahrhundert – de facto keine Rechte, solange sie sich nicht diese Rechte selbst – wie die Herren und ihre milites – schufen.455 In einer von kriegerischen Ansichten regierten Epoche hatten die friedlichen Bevölkerungsteile keine Chance auf soziales Prestige und Geltung: Sie hatten letztlich keine Ehre. So wird klar, warum die neue Befürwortung und Bewertung der landwirtschaftlichen Lebensweise, die im früheren Gottesfrieden stattfanden, auch eine Basis für eine neue Wahrnehmung dieser bis dahin marginalisierten sozialen Klasse darstellte. Wenn die Gottesfriedensbewegung einen Wandel bedeutet – und das tut sie wohl –, dann ist dieser Wandel in erster Linie eine Veränderung der Wertungen im Bereich der symbolischen Anthropologie: Zusammen mit der Anerkennung ihres Rechtes auf Arbeit, bekommen die Bauern eine Bewertung ihrer eigenen Wichtigkeit im gesellschaftlichen Ganzen. Damit 451

Vgl. L. Zoepf 1908, S. 35ff, insbesondere S. 41 und S. 53f. In einer von kriegerischen und aristokratischen Wertungen beherrschten Zeit vermieden die Hagiographen in den Viten, ihren Charakteren niedere Herkunft zuzuschreiben, um ihrer Popularität keinen Schaden zuzufügen. 452 Vgl. K. Bosl 1965, S. 167f und 181. 453 Vgl. H. Keller 1968, S. 313ff. Die Askese hat einen personengebundenen Wert, unabhängig von der Geburt, dem Stand und dem sozialen Urteil der Gemeinde –, da sie eben außerhalb der bewohnten „Welt“, in der Klause, betrieben wird (vgl. L. Zoepf 1908, S. 140). 454 Vgl. K. Bosl 1963, S. 63. 455 Es ist nicht zu übersehen, dass sich genau in der Zeit der Gottesfriedensbewegung die Kluft zwischen den inermes und miles drastisch vertiefte (vgl. M. Mollat 1984, S. 54f).

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gelangen sie zu einem neuen Bewusstsein, das ab dem 12. Jahrhundert durch die Predigt der Bettelorden, dass die Arbeitenden angesichts ihrer Wichtigkeit Ansprüche haben dürfen, verstärkt wurde. Im Spätmittelalter entbrannten dann immer öfter im gesamten Europa Bauernaufstände, die in der Frühneuzeit in den Bauernkriegen kulminieren werden.456 Der Wandel besteht vor allem darin, dass man nun ehrenhaft sein konnte, ohne ein Waffenheld zu sein; das symbolische Monopol der Kriegerkaste wurde durch den Gottesfrieden gebrochen, in Frage gestellt und zugunsten des gesellschaftlichen Wohls umgestaltet. Von nun an hing die Ehre des Kriegers von der Respektierung und Erfüllung einiger Regeln ab: Keine Gewalt gegen Frauen, Kinder und pauperes, keine Rücksichtslosigkeit, ebenso keine Gewalt gegen Kirchen und Geistliche, keine Rache, kein Widerstand gegen den König usw. Die bislang herrschende Waffengewaltsamkeit wurde langsam, aber sicher durch die vom Akkumulationsdenken geprägte Geld- und Geschäftsaggressivität457 ersetzt.

456 457

Vgl. L. A. Veit 1936, S. 8f. Vgl. L. K. Little 1983, S. 8 und B. Hamm 2006.

V. Schlussbetrachtung Die Frage der Ehre in der traditionellen und stratifizierten Gesellschaft des späten Frühmittelalters, wie sie in dieser Arbeit problematisiert wird, obgleich sie in jedem Zeitalter der menschlichen Geschichte von sozial akutem Interesse und mit prägnanten religiös-moralischen Konnotationen war, bildet hier keine militante Botschaft, die „ans Herz greift“.1 Die Arbeit stellt keine ideellen, moralischen Postulate auf, da ihr Ansatz kein moraltheologischer ist. Hier werden Daten und Fakten vorgestellt mit der Absicht, der Forschung eine konkrete Basis zur Untersuchung der bisher vernachlässigten Problematik der Ehrsemantik in den Sozialisationsvorgängen des Mittelalters zu bieten. Auch wenn das gesamte Verfahren methodologisch strukturell auf typologische Beschreibung hin orientiert ist, habe ich dennoch „hybride“ Kategorien der mittelalterlichen Gesellschaft ins Visier genommen, um einem „einspurigen Schematismus zu entgehen“ (R. Wenskus). So habe ich in dem Diskurs über die oratores, bellatores und laboratores2 auch gewissermaßen sich dazwischen befindende Kategorien, wie den Bauernkrieger des früheren oder den ritterlichen Kaufmann des späteren Mittelalters, analysiert und die von ihnen in das gesamte Schema eingefügten Nuancen hervorgehoben. Eine der Lücken, die diese Untersuchung zu schließen versucht, ist die Abwesenheit – zumeist in der deutschsprachigen Forschung zur mittelalterlichen Ständestruktur – fast jeglichen Hinweises auf die bahnbrechende und ohnehin anregende Theorie George Dumézils über die sozialen, mythologischen und politischen Denkkonstrukte der Dreiteilung in den indoeuropäisch geprägten Kulturen. Damit hinterlässt die Erforschung der mittelalterlichen drei Stände den Eindruck, dass dieses Denkmuster (Geistliche, Krieger und Arbeiter) eine Erfindung des Hoch- und Spätmittelalters sei, die die Theorie Platons hinsichtlich einer ideellen Staatsstruktur übernommen und neu bewertet haben.3 Doch dies ist eindeutig unzutreffend. 1

R. Egenter 1937, S. 121. Wobei ich die Termini aus den Quellen als gängige Ausdrücke übernommen habe, ohne mich in besonderer Weise mit ihnen begrifflich zu beschäftigen, da dies bereits von anderen ausreichend getan wurde (vgl. J.-P. Bodmer 1957, S. 9ff). 3 Vgl. E. G. Gudde 1934, S. 2 und K. Bosl 1963, S. 84. K. van Eickels 2004, S. 25 geht nicht einmal bis zu Platon zurück: Für ihn scheint der Urheber dieses Denkmodells Adalberon von Laon zu sein. 2

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Schlussbetrachtung

Solche Denkmodelle sind vor Platon und unabhängig von ihm nachweisbar: Sie tauchen nicht erst im Spätmittelalter wieder auf, sondern sind immer schon auf verschiedenen Mentalitätsstufen des europäischen Denkens anwesend. Hier bringt die Arbeitshypothese Dumézils – die wohl nicht unangreifbar ist4 – die nötigen Anregungen, um zu sehen, ob der mittelalterliche politische Diskurs der drei Funktionen ein Novum oder ein Perpetuum ist. In der Befürwortung des gerade erwähnten Perpetuums kann der Begriff der Ehre nur von Vorteil sein. Dies ist ein weiterer Neuansatz der vorliegenden Untersuchung. Da ich eben die Ehre als integratives Summenkonstrukt der sozialen Kategorien dargestellt habe, die dadurch ihre Identität und Geltungsansprüche anhand symbolischer Sprache, repräsentativer Handlungen und kodifizierter Motive bearbeiten, äußern und durchsetzen, versuche ich ein strukturelles Arbeitswerkzeug für „schwierige“ Situationen anzubieten. Ich meine damit jene Perioden der Geschichte wie die Zeitspanne z. B. des 9. bis 11. Jahrhunderts, in denen die Quellen mangelhaft, einseitig („Elitenliteratur“) und stark konstruktivistisch die Realitäten wiedergeben. In diesem delikaten Fall der ersten millennialen Wende versuchen die Forscher zu Recht einen ersten Wandel der europäischen Zivilisation zu erörtern, jedoch mangelt es ihnen an Dokumenten. Daher entzünden sich oft Polemiken, weil die konkreten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Großereignisse erst ab dem 12. Jahrhundert verfolgbar sind. Wenn sich die historische Forschung vielleicht öfter anthropologischer Ansätze, wie der indikatorischen Semantik der Ehre, bedienen würde, könnte sie solche leichter Auseinandersetzungen überwinden. Die Ehrkonstrukte sind der Spiegel langfristiger Mentalitäten, die sich in Form des Habitus – wie es von Bourdieu thematisiert wurde – auffangen lassen. Die Voraussetzung des Ehreforschers ist, dass die Mentalitäten, die den Handlungen zugrunde liegen, eine lange Zeit zur Entfaltung und Verfestigung benötigen.5 Daher lassen sich Ereignisse, die in einer Zeit urkundlich schlecht belegt sind, u. U. dennoch beschreiben, eben durch Ehrtypologien, d. h. durch Wertungs- und Handlungseinheiten, die sich aufgrund inter4

Vgl. K. Ranke 1975. Es ist daher im Falle eines großen Analytikers wie O. Hintze störend, dass er die Stände als solche erst ab der Frühneuzeit verfolgt (vgl. O. Hintze 1962, S. 47f oder 120ff), als sich das ständische Denken in Formen des Bürger- und Ständerechtes niederschlug. Andererseits ist er sich bewusst, dass „Recht und Verfassung ein Erzeugnis des Volksgeistes“ sei (O. Hintze 1962, S. 37), d. h., die Rechtsformen entstehen und entsprechen den im Hintergrund liegenden Mentalitäten und Wertungskategorien einer Gemeinschaft. Die Stände und das ständische Denkkonstrukt existieren ohnehin vor der verfassungsgeschichtlichen Formulierung und sind davon völlig unabhängig. Solche Anschauungsweisen verursachen bei den Forschern unvollständige Ansichten, die die Kultur- und Zivilisationsgeschichte ohne Grund von der Rechtsgeschichte abhängig machen (vgl. O. Hintze 1962, S. 37f). 5

Schlussbetrachtung

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disziplinärer Untersuchungen langer Zeiträume zusammenstellen lassen. Was in einem Zeitalter in einer Gesellschaft bzw. Menschengruppe „populär“ ist, d. h. generell anerkannt und geltend, kann zur Ursache gesellschaftlicher Konvulsionen werden. Das Populäre postuliert das Elitäre als definitorischen Gegensatz. Im Mittelalter entstehen z. B. Machtstrukturen eben um solche Wertungssysteme herum, die soziale, in Ehrkonstrukten zusammengefasste Identitäten herausbilden. Solche Identitäten versuchen sich durchzusetzen und „populär“, also generell zu werden; sie leben allerdings unter dem langfristigen Risiko eines Umsturzes seitens anderer sozialer Kategorien und ihrer Wertungssysteme. Das Populäre ist sehr labil, da es eben bei den Massen beliebt ist. „Beliebtsein“ bringt Einfluss und Macht, verwandelt also in Elite. Die Eliten aber sind meistens unpopulär, und durch diese Paradoxie findet der Prozess des sozialen Aufund Abstiegs unterschiedlicher Wertungssysteme statt. Wenn ich aber diese methodologischen bzw. theoretischen Überlegungen auf das konkrete sozial-politische Milieu des 12. bis 13. Jahrhunderts anwende, komme ich zu der Feststellung, dass der oben angesprochene erste europäische Wandel, der klar mit dem sozialen Aufstieg des dritten Standes (Bauern, Kaufleute, Handwerker6) einhergeht, kein Novum ist, sondern eine „Re-Naissance“ der dritten Funktion (als ein die Gesellschaft bestimmender Faktor) auf der Basis mancher, bislang von der Forschung ignorierter, jedoch nicht unbeweisbarer archaischer Mentalitäts- und Wertungsstrukturen. Diesen sozialen Wechsel habe ich durch die Vertretungs-, Verschwendungs- und Akkumulationstypologie als „charakteristische“ Denkmuster für den geistlich-kirchlichen, kriegerischen und arbeitenden Stand zu beschreiben versucht. Diese Interaktion der drei oben erwähnten Ehrkonstrukte und das Durchsetzen des akkumulativen ökonomisch geprägten Denkens des dritten Standes lassen sich an spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ereig6 Ich arbeite allerdings mit diesen drei großen Kategorien, weil dies eine Eigenschaft der traditionellen (archaischen) Gesellschaften ist: Das Mittelalter z. B. kennt (im Sinne von Anerkennen), wie andere Zeitalter wohl auch nicht, keine „kleinen Kategorien“ (so wie z. B. Homosexuelle oder „Häretiker“), da es keine Meinungsfreiheit gab, also keinen Dialog und keine Individualisierung wie heutzutage. Es gibt große Kasten, die sich auf einheitliche Wertungssysteme beziehen und keine Abweichungen (als Bedrohung ihres Sozialisationsvermögens und Überlebens angesehen) dulden. Das europäische Mittelalter wird von einer christlich patriarchalischen Tradition geprägt, die das dogmatische (!) Christentum mit einem Anteil an Glaubens- und Denkstrukturen aus den vorchristlichen europäischen Kulturen belädt, die um die bestimmende Männlichkeit herum konstruiert waren. Es gibt andererseits mehrere solche soziale Kasten und nicht nur eine monolithische, weil das Leben selbst es fordert: Der Mensch als soziales Wesen braucht Funktionen, um das Miteinander in Gang zu bringen. Daher hat es der Forscher der traditionellen archaischen Gesellschaften mit wenigen, aber großen Sozialkategorien zu tun.

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Schlussbetrachtung

nissen mannigfaltig beobachten. In der Gottesfriedensbewegung finden die ersten Vorgänge einer Emanzipation des dritten Standes statt, die anfangs im Mentalbereich, dann – ein paar Jahrhunderte später – auch auf empirischem Niveau belegbar sind. Durch die kirchliche Propaganda findet eine Funktionalisierung7 der kriegerischen Klasse statt, wobei versucht wird, das kriegssüchtige Drängen der milites auf eine für das gemeinsame Wohl nützliche Bahn zu lenken. In diesem Sinne trifft der Begriff der Funktionalisierung auf die Ereignisse des 11. und 12. Jahrhunderts besser zu als der gängige Terminus der Disziplinierung, den ich unter Umständen ebenfalls verwendet habe; jede Disziplinierungsform bildet die Vorstufe einer Funktionalisierung, in unserem Falle werden die milites gezähmt, um in kontrollierter Art und Weise zum allgemeinen Wohle genutzt zu werden. Das kriegerische Ethos wird durch den objektivierten Ehrenkodex des ritterlichen Ideals, des Schutzes von Gerechtigkeit und Frieden8, gezügelt. Die kriegerische Ehre als Absonderungs- und Elitenfaktor wird stark relativiert und „demokratisiert“, im Sinne eines Wandels zu der allgemeinen Menschen-Würde, die nicht mehr von äußerlichen Kategorien (z. B. Geburt), sondern von den inneren (eigenen Taten bzw. der Menschennatur) abhängig gemacht wird: „Wer zieret nu der eren sal? / Der jungen ritter zuht ist smal: / Sol pflegent die knechte gar unhövescher dinge, / Mit worten, und mit werken ouch.“9

Die höfische Kultur, mit der direkten Bindung an den fürstlichen Hof der bislang auf dem Lande zerstreuten Kleinherrschaften, entsteht wohl als Zentralisierungsvorgang des politischen Lebens, wo die Herrin und das in dem Ehrenkanon kodifizierte Ritterideal zwei Kontrollelemente der Zentrifugaltendenzen kleiner Seigneurs bzw. milites sind. Wenn jemand durch die Bildung der höfischen Kultur an Autonomie, Status und Ansehen einzubüßen hatte, war dies der Adel zweiten Ranges (milites, kleine Burgherren, kleine Landadlige), der durch die Etikette „zivilisiert“ (d. h. partiell urbani7 Im Sinne N. Luhmanns ist die Funktionalisierung eine neue direkte (nicht mehr durch Hierarchien geleitete) Beziehung der gesellschaftlichen „Teilsysteme“ (Funktionen) auf die Anfordernisse der Existenz (Stichwörter: „System/ Umwelt“ bzw. „Differenzen“). „Direkt“ heißt, dass jede Funktion ihr besonderes Handeln unmittelbar ausrichtet. So sind die Funktionen allesamt notwendig und nur manchmal und vorübergehend werden manche Funktionen privilegiert, d. h., nur solange ihr Wichtigkeitsgrad den der anderen überragt. Solche Prozesse der Funktionalisierung beginnen, so Luhmann, bloß in hybrider Form im Mittelalter und erreichen ihren Höhepunkt und ihre Irreversibilität im 18. Jh. (vgl. N. Luhmann 1980, S. 26ff). 8 Es ist ohnehin erstaunlich, am Ende des 12. Jahrhunderts bei einem adligen „Krieger“ wie Walther von der Vogelweide („fride unde reht sint sere wunt“) diese Kategorien der Pax-Beschlüsse des 11. Jahrhunderts zu finden (vgl. E. G. Gudde 1934, S. 13). 9 Zitiert von E. G. Gudde 1934, S. 14. Hier sind mit „Knechten“ nicht die servi des 9. bis 11. Jhs., sondern die Höflinge des 13. Jhs. gemeint.

Schlussbetrachtung

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siert10) wurde, keineswegs aber der Großadel (Fürsten, Herzöge und manche Grafen). Diese Auffassung von einem „zivilisierten“ Menschen, dessen Eigenschaften die Vermeidungsfähigkeit, die Rücksicht auf die Rechte der anderen, Kompromissbereitschaft usw. sind, welcher die höfische Kultur pflegte, ist wohl in Verbindung zu den bürgerlichen Wertungen des dritten Standes zu bringen. Das Wort „zivilisiert“ kommt vom lateinischen „civis“ und weist auf eine semantische Ebene hin, die stark an die Wertungen urbaner (bürgerlicher) Kultur gebunden ist.11 Ab dem Ende des 11. Jahrhunderts ist ein Wandel von den Formen der kriegerischen Verschwendungsehre zu denen der Akkumulationsehre zu verzeichnen. Vor allem durch etliche Werke kirchlicher Autoren wie Odo von Cluny (mit seiner Vita Sancti Geraldi) oder Bernhard von Clairvaux (mit seiner De laude novae militiae12) werden die Kriegswertungen aus der privaten Sphäre des Feudallebens13 herausgezogen und in den Dienst des gesamten gesellschaftlichen Organismus gestellt: Angesichts dessen bekommt sogar der bis dahin von der christlichen Theologie misstrauisch betrachtete Krieg seine Rechtfertigung als nötiger gerechter Krieg (bellum justum).14 Man lehnte nicht die Brutalität oder Gewaltsamkeit eines Kriegers ab15, z. B. als die Krieger als Kreuzfahrer gegen die Feinde Gottes antraten.16 Menschliches Blut durfte vergossen werden, solange es von einem Heiden stammte, während dasselbe einem Christen gegenüber seit dem Konzil von Narbonne im Jahre 105417 streng verboten war. Die Kriegs10

Vgl. R. G. Asch 2005, S. 140f. Vgl. R. G. Asch 2005, S. 120ff, insbes. S. 123 und 125. 12 Siehe De laude militiae. 13 Vgl. De laude militiae, II, 18-23, S. 274. 14 Wobei anzumerken ist, dass bereits bei Beda Venerabilis Ansätze zu finden sind, die bewaffnete Gewaltsamkeit für „gute“ Zwecke zu rechtfertigen (vgl. H.-J. Diesner 1980, S. 10 und 21). 15 Vgl. J. Wertheimer 1986, S. 125. 16 „At vero Christi milites securi praeliantur praelia Domini sui nequaquam metuentes aut de hostium caede peccatum, aut de sua nece periculum, quandoquidem mors pro Christo vel ferenda, vel inferenda, et nihil habeat criminis, et plurimum gloriae mereatur“ (Die Ritter Christi aber kämpfen mit gutem Gewissen die Kämpfe des Herrn und fürchten niemals weder eine Sünde, weil sie Feinde erschlagen, noch die eigene Todesgefahr. Denn der Tod, den man für Christus erleidet oder verursacht, trägt keine Schuld an sich und verdient größten Ruhm) (De laude militiae, III, 2-5, S. 276). 17 Dieser ganze Wandel der Wertungssysteme – der stark in der Botschaft mancher christlicher Autoren in Erscheinung tritt – wurde als eine Bewegung angesehen, „die darauf abzielte, die rücksichtslose Selbstbehauptung des europäischen Feudaladels zu bändigen, seine Freizügigkeit in Benehmen und Moral in die Schranken zu weisen [...] und die ‚Kriegerkaste’ von einer archaischen Stufe gesellschaftlich-zivilisatorischen Daseins auf eine höhere zu heben. Dabei wurde sie mit den Idealen der Bescheidenheit, Humanität, Eleganz und Selbstbeherrschung, der Mäßigung, Freundlichkeit, Achtung und Rücksichtsnahme ausgestattet“ (C. S. Jaeger 2001, S. 25; vgl. auch K. van Eickels 2004, 11

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taten zum Ruhme Christi sind sogar erwünscht: Christus ist für die Kreuzfahrer bzw. für die Templer (an welche die Schrift Bernhards adressiert war) die causa militandi und damit die Rechtfertigung ihres Daseins.18 So behauptet Bernhard von Clairvaux in einem seiner Briefe: „Weil nun euer Land fruchtbar ist an Helden und dafür bekannt, dass es von kräftiger Jugend strotzt – wie euer Lob ja kund in aller Welt ist und der Ruhm eurer Mannhaftigkeit den gesamten Erdkreis erfüllt –, so umgürtet auch ihr euch mannhaft und greift im Eifer um den Namen Christi zu den glückhaften Waffen. Möge ein Ende nehmen dieses bisherige Nicht-Kriegertum oder, wahrhaftig und wirklich, eher Verbrechertum, in welchem ihr euch gegenseitig niederzuschlagen und gegenseitig zu verderben pflegt, womit ihr euch gegenseitig aufreibt. Was ist das für eine grausame Lust, die euch, unselige Leute, antreibt, das Schwert durch den Leib des Nächsten zu stoßen, dessen Seele dabei vielleicht obendrein noch umkäme? [...] Doch jetzt hast du, tapferer Krieger, jetzt hast du, kampfesfreudiger Mann, die Gelegenheit, ohne Seelengefährdung zu streiten, wobei sowohl das Siegen Ruhm ist als auch das Sterben Gewinn.“19

S. 27). Dabei rate ich zur Vorsicht: Im Zusammenhang der Unterstellung des kriegerischen Ethos unter den Wertungen eines „höheren gesellschaftlichzivilisatorischen Daseins“, was ja durch die gesamte kirchliche Kastisierung und Propaganda geschah, handelt es sich wohl um keinen objektiven, sondern um einen stark konstruktivistischen Wert, solange dieses „höhere Dasein“ eben aufgrund subjektiver Kategorien als „hoch“ aufgefasst wird. Es ist höher, weil es einem heutzutage herrschenden Wertungskonstrukt entspricht. Das hat aber nichts über die objektive Qualität des Kriegsethos an sich zu sagen, sondern nur über seine Wahrnehmung in den Augen der Kirche und des Bürgertums. Ich habe mich in der ganzen Arbeit bemüht, solche radikalen Aussagen im Bezug auf den empfindlichen Bereich der Ehrsemantik und Geltungskontexte zu vermeiden und zu relativieren. Ein Ethos ist nicht schlecht oder gut, es ist, wie es ist, und nur weil es von anderen gesellschaftlichen Schichten als untauglich eingestuft wird (durch Relations- und Vergleichsvorgänge), hat dies immer noch nichts für seine objektive Stellung zu bedeuten. Andererseits wurden diese edlen Ideale von Barmherzigkeit, Mäßigung, Milde usw. nur kontextbezogen befürwortet – angesichts der inneren sozialen Verhältnisse. In den Außenkriegen – und dies sieht man bei Bernhard von Clairvaux und viel später bei Martin Luther – brauchte man Strenge und Brutalität. 18 Vgl. J. Fleckenstein 1980, S. 14f. 19 „Quia ergo fecunda est virorum fortium terra vestra, et robusta noscitur juventute referta, sicut laus est vestra in universo mundo, et virtutis vestrae fama replevit universum orbem; accingemini et vos viriliter, et felicia arma accipite Christiani nomine zelo. Cessat pristina illa non militia, sed plane malitia (vgl. “Quis igitur finis […] saecularis huius, non dico, militiae, sed malitiae…” – De laude militiae, II, 2-3, S. 274; das Wortspiel ist auch in der Rede des Papstes Urban II. bei Clermont 1095 zu finden, vgl. De laude militiae, Anm. 39, S. 324), qua soletis invicem sternere, invicem perdere, ut ab invicem consumamini. Quae miseros tam dira libido excitat, quod proximi corpus gladio, cuius fortassis et anima perit, transverberent? [...] Habes nunc, fortis miles, habes, vir bellicose, ubi dimices absque periculo; ubi et vincere gloria, et mori lucrum.“ (O. v. Taube 1948, c.5, S. 15f).

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In dieser „funktionalisierenden“ Propaganda kann man transdifferente20 Vorgänge identifizieren, die eben die Grenzen zwischen ausdifferenzierten Wertungssystemen nicht aufheben und doch diese Grenzen überschreiten. Durch die Funktionalisierung bekommt also jede gesellschaftliche Schicht nur als funktionaler Teil des sozialen Zusammenwirkens ihre Raison d’être. Nehmen wir z. B. die imago der Gottesgerechtigkeit: In der von feudalkriegerischen Wertungen beherrschten Zeit (bei Anselm von Canterbury) ist Gott hinsichtlich seiner Ehre äußerst empfindlich. Die Dimension des Heiles ist wie die menschliche Sphäre in Ehrgemeinschaften atomisiert: Gott bzw. seine Heiligen sind nur zu ihren Angehörigen gerecht und barmherzig, d. h. zu jenen Klöstern, Dörfern, Menschen, die sich in irgendeiner Art und Weise der Patronage der heiligen Figur anvertraut haben. In diesem Sinne sind bereits die häufigen Kriege zwischen benachbarten Gebieten oder Städten bekannt, die im Namen der jeweiligen Heiligenpatrone ausgefochten wurden. Dörfer und ganze Territorien stehen unter der „seniorialen“ Vormundschaft Gottes, Marias oder der Heiligen, was nichts anderes bedeutet als eine Privatisierung des Heiles.21 Im Gegensatz zu diesen feudalen Anschauungen findet im Hoch- und Spätmittelalter eine Umbildung statt: Jene politische Theologie bekommt eine immer deutlichere Kontur, nach der die drei Stände in einer ideellen – d. h. disziplinierten, befriedeten und monarchisch zentralisierten – Gesellschaft harmonieren und zusammenleben. Der König ist der christus Domini, er ist vor allem barmherzig und gerecht zu all seinen Untergebenen und schenkt mehr als er bekommt. So ist auch Gott: Er ist autoritär und gerecht und erlaubt nicht, dass die Ungerechtigkeit die soziale Symbiose stört; aber er ist gleichzeitig auch mild und barmherzig und weiß, dass die Menschen seine Kinder sind und nicht perfekt sein können; daher stellt man die Gerechtigkeit unter die Barmherzigkeit und Milde Gottes (er lässt dem Sünder immer die Möglichkeit zur Reue und Buße und bestraft nicht so streng, wie es die Gerechtigkeit fordere). Andererseits haben die Menschen im hohen und späten Mittelalter immer weniger die Interzession der Mönche nötig; oftmals nehmen sie selbst das Schicksal ihrer Erlösung in die eigene Hand – so erscheinen Tendenzen der Individualisierung und Personalisierung des Glaubens, die später in der absoluten Ablehnung der Rolle der hierarchisierten Kirche als Vermittlerin des Heiles und Stellvertreterin Gottes kulminieren werden.22

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Auf diesen analytischen Arbeitsbegriff der Transdifferenz bin ich in dem Graduiertenkolleg „Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz“ der Erlanger Universität gestoßen. Literatur: H. Breinig 2002. 21 Diese Anschauung der Beziehung zu den Heiligenpatronen lebt bis in die Frühneuzeit fort und wird erbittert von den Reformatoren angefochten. 22 Vgl. L. K. Little 1975, S. 17.

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Schlussbetrachtung

Stichworte wie Reformation, Aufklärung, Französische Revolution bzw. Antiklerikalismus mögen hier genügen.23 Eine der ersten Folgen des Gottesfriedens ist wohl der Kreuzzug24, der jedoch nicht als einheitliches Phänomen zu betrachten ist, da sich der erste Kreuzzug wesentlich in seinen Strukturen, Zielen und seiner Logistik von den späteren unterscheidet. Der erste Kreuzzug ist das Zeichen einer brennenden Frömmigkeit, wobei die Spontaneität und die Begeisterung eine bedeutende Rolle spielen. Dies lässt sich vor allem an der mangelhaften Organisation dieses Unternehmens beobachten: Der erste Kreuzzug scheitert, weil eben die Ausrüstung und die Verpflegung der Kreuzfahrer so dürftig waren.25 Die späteren Kreuzzüge erscheinen im Gegenteil dazu eher als wirtschaftliche Angelegenheiten: Sie sind drei bis vier Jahre lang vorbereitet worden, man unterzeichnete Transport- und Verpflegungsverträge, was zu dem Aufblühen des ökonomischen Lebens führte. Die späteren Kreuzzüge – z. B. der vierte (1204) – agierten als der bewaffnete Arm der wirtschaftlichen Mächte (Venedig), die dadurch neue Handelswege und neue Märkte eroberten. Obgleich sie keine Wirtschaftskriege (!) waren, können die Kreuzzüge als Zeichen proto-kolonialer Formen betrachtet werden. Gleichwohl wohnt man nach dem Gottesfrieden und nach der später erfolgten Befriedung der europäischen Gesellschaften einem langsamen Ersetzen der bewaffneten Gewaltsamkeit durch eine ökonomische Aggressivität („peculiarly unrestrained aggressiveness“26) bei. Die Schicht der städtischen Armen bezeugt es: Das wirtschaftliche Denken teilt nun die Gesellschaft der Städte in Gewinner und Verlierer des geschäftlichen Wettbewerbs ein. Der Gottesfrieden provoziert am Anfang einen Außenkrieg im Namen der Ehre Gottes, der sich später in Wirtschaftskriege und -wettbewerbe zuspitzt. Wo in den Pax-Bestimmungen die mercatores geschützt und als Opfer der milites dargestellt werden, wirft ihnen Hugo von Trimberg (†1313) um 1300 vor, dass sie nicht mehr aufhören, Kriege zur eigenen Bereicherung zu führen.27 Die europäischen Mächte der Neuzeit entstehen vorwiegend als ökonomische Mächte und der Wettbewerb der geografischen Entdeckungen und des folgenden Kolonialismus bezeugt es. Amerika und Afrika werden auf der Suche nach neuen Handelswegen entdeckt, welche das Osmanenreich umgehen sollten. Dieser Rausch des Auffindens neuer 23

Vgl. E. G. Gudde 1934, S. 8ff. Es ist wohl kein Zufall, dass die Führer des ersten Kreuzzugs aus Südfrankreich stammten, demselben Gebiet, in dem die Pax-Bewegung entstand (vgl. G. Althoff 1981, S. 317). 25 Vgl. L. K. Little 1975, S. 15. 26 Vgl. L. K. Little 1983, S. 8. 27 Vgl. H. Stahleder 1972, S. 65. 24

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Wege und Märkte führt zu einer Entwicklung der Navigations- und Seekriegstechnologie, die ihre Basis daher in den entwickelten handwerklichen Fertigkeiten hat. Aus den geografischen Entdeckungen entspringen, wie bereits angedeutet, die europäischen See-Imperien, die ihr Dasein der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit schulden.28 Es wurde gesagt, dass keine direkte Filiation zwischen der Gesetzgebung der Pax-Bewegung und dem Aufbau der zentralisierten Staaten29 des hohen Mittelalters festgestellt werden kann, genauso wenig wie zwischen den PaxKanones und den Städteverfassungen. Als mentaler Vorgang kann jedoch die pax Dei als Vorläufer der späteren Emanzipation des dritten Standes und des damit verbundenen Aufstiegs des wirtschaftlichen akkumulativen Denkens betrachtet werden, das sowohl die Gesellschaft als auch das Leben der politischen Eliten beeinflusste. Jeder Staat benötigt eine materielle wirtschaftliche Basis, und diese konnte wohl im Spätmittelalter nicht mehr wie im 6. Jahrhundert mit Raubzügen gesichert werden. So kommt man dazu, eine günstige Arbeitsatmosphäre (raubfreie Räume, Steuereinheiten, Gerechtigkeit, Gewinnsicherheit usw.) zu schaffen.30 Es ist wohl nicht zu übersehen, dass die Fürsten und Könige die Pax-Bewegung aufnahmen und weiterführten, und dies zeigt, dass sie ein Instrument in ihren Händen war, um ihre 28 Vgl. H. Münkler 2005, S. 24. Nach der wirtschaftlichen Logik kann man die imperiale Ordnung in zwei Kategorien aufteilen: in Imperien des Verschwendungsdenkens (Perser, Römer, Karolinger, Napoleonisches Reich) und in Imperien des Akkumulationsdenkens, die von ihrer starken Wirtschaft geprägt worden sind (das Mongolenreich, das British Empire). In der ersten Kategorie entsteht so ein Imperium aufgrund charismatischer Führer bzw. Reformatoren. Es stützt seine Macht auf die militärische Kraft und auf die große Anzahl an Truppen, die überwiegend symbolisch wichtige Punkte erobern und keine Handelsknoten (obwohl natürlich oftmals die beiden Merkmale in einer einzigen Stadt anzutreffen sind). Solche „Verschwendungsimperien“ sind eigentlich viel kleiner als jene der anderen Kategorie und brechen wegen der Ausdehnung und des Mangels an Truppen zusammen. Auf der anderen Seite sind „Wirtschaftsimperien“ wie die Mongolen (Tributwirtschaft) und die Engländer (Commonwealth) viel größer und entstehen als Handelsgemeinschaften bzw. Tributherrschaften. Sie sterben zusammen mit dem Verlust der wichtigen ökonomischen Zentren oder in dem Fall, wenn die Kosten des Unterhaltens einer Kolonie nicht mehr mit deren Ausbeutung ausgeglichen werden können, was eigentlich einem wirtschaftlichen Bankrott gleicht (vgl. H. Münkler 2005, S. 36ff). 29 In den Staatsstrukturen sind viele Züge eines Akkumulationsdenkens zu bemerken. Es erscheint ein bezahltes Beamtentum – meistens unadliger Herkunft – und somit werden von den Fürsten die ersten Schritte zur Ausbildung eines Kompetenzethos der persönlichen Verdienste gemacht: Es werden gute Buchhalter und Juristen befördert als Säulen eines effizienten Staatsapparates (vgl. G. Duby 1977, S. 265). Der Staat der Neuzeit beruht auf der Schließung von freien Vertragsverhältnissen im Vergleich zu dem feudalen Herrschaftsverband, der auf Status- und Charismaverhältnissen entstand (O. Hintze zitiert bei G. Oestreich 1969, S. 162). 30 Vgl. G. Duby 1977, S. 80.

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Schlussbetrachtung

Gewaltbereiche zu befestigen.31 Der politische Zentralisierungsdiskurs fußt zu Beginn auf der politischen Theologie der drei Stände, wie sie bereits bei Alfred dem Großen (†899) in England, Rather von Verona (10. Jahrhundert) und Adalberon von Laon in Frankreich († um 1030) anzutreffen ist, ihre Blütezeit sollte jedoch im Hoch- und Spätmittelalter stattfinden.32 Im Kriegswesen sind ebenso Änderungen zu beobachten. Der Krieg der Verschwendungsehre plündert und verwüstet ganze Regionen ohne Rücksicht auf die „Unwichtigen“ (d. h. Bauern).33 In der vom Akkumulationsdenken geprägten Neuzeit entwickelt sich ein Kriegsrecht (jus belli), in dem die Beute und der Status der civilians stark berücksichtigt und geregelt werden. Im Feudalkrieg wird der adlige Gegner geschont und nach einem Treueschwur oder Unterwerfungsritual befreit; dasselbe passiert auch im Spätmittelalter nach einem Freikauf. Doch werden im feudalen Krieg die Ländereien und Güter des Gegners als verschwenderische Herausforderung geplündert, im Akkumulationskrieg hingegen werden sie mit der Absicht einer kalkulierten Ausbeutung und ökonomischen Verwertung besetzt. Die Feudalherren tendieren dazu, Festungen als Machtsymbole zu erobern, in den Kriegen der Frühneuzeit hingegen hat man ein besonderes Interesse an Handelszentren. Der Verschwendungskrieg wertet die taktisch-strategischen Methoden ab, während im Akkumulationskrieg genau das Gegensätzliche geschieht. Die Militärstrukturen der miles-Zeit entstehen aufgrund der kollektiven gemeinsamen Ehre, im Spätmittelalter ist der Krieg immer häufiger ein reiner Beruf: Nun tauchen Söldnerarmeen auf, die sich an einer „Kriegsbörse“ orientieren.34 Im Feudalkrieg kämpft man oft selbstverschwenderisch bis zum bitteren Ende, in der anderen Kriegsform legt man großen Wert auf strategische Rückzüge. Die Krieger mögen den Nahkampf und den direkten Zweikampf, in den Schlachten der Neuzeit setzt man Feuerwaffen ein und tötet ohne Rücksicht auf die Ehre aus der Ferne; es ist immer wichtiger zu gewinnen als die Frage, wie und gegen wen dies passiert.35 Daher sprechen die Kriegsforscher über eine „Entpersonalisierung“ und 31

Vgl. G. Althoff 1981, S. 320. Vgl. K. Bosl 1963, S. 83ff, mit Belegen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass der dritte Stand der laboratores selten noch zusätzlich in mercatores und laboratores geteilt wird (vgl. K. Bosl 1963, Anm. 97, S. 83). Dies zeigt, dass das indoeuropäische dreigeteilte Konstrukt relativ unversehrt überlebt, indem man die Bauern und die Kaufleute zusammen als einen einzigen Arbeiterstand ansah (vgl. H. Stahleder 1972, S. 107). Im deutschen Raum taucht die Dreiteilung relativ spät auf, nach 1200 (vgl. E. G. Gudde 1934, S. 2). 33 Vgl. S. H. MacGonagle 1936, S. 55ff, insbesondere S. 60. 34 Vgl. G. Oestreich 1969, S. 161. 35 Dabei will ich nicht unbemerkt lassen, dass der immer häufigere Einsatz von walisischen Bogenschützen (England) und Armbrustschützen und später von schottischen Speerwerfern oder von Feuerwaffen einen technologischen Wettbewerb verursachen 32

Schlussbetrachtung

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„Mechanisierung“ des Krieges durch Anwendung von Feuerwaffen.36 Weitere vergleichende Beispiele dieser Art könnten weiter genannt werden. Es gibt wohl auch Gemeinsamkeiten der beiden Kriegswesen – und niemand will sie verneinen –, die sich aus der Natur des Krieges an sich ergeben; dort jedoch, wo der menschlich-soziale Faktor Einfluss hat, kann man solche Unterschiede aufspüren. Die systematischen Ergebnisse dieser Arbeit sind: 1. Die interdisziplinäre Verortung des dreigeteilten Denkmusters, das in mehreren europäischen Gesellschaften vor und nach Christus aufzufinden ist. 2. Der Vorschlag des Indikators der Ehre als Arbeitswerkzeug für die Erforschung der Mentalitäten sowie ihrer gesellschaftlich-integrativen Kraft, die sich in sozialer Dynamik äußert. 3. Der Versuch, den Gottesfrieden als einen tatsächlichen Wandel in der europäischen Geschichte aufzudecken, einen Wandel, der aber vor allem im Bereich der Wertungssysteme zu sehen ist. Wenn der Gottesfrieden als ein Aspekt der gesamten kirchlichen Kastenbildung aufgrund des Vertretungsethos neben der monastischen Reform und dem Kampf zwischen Regnum und Sacerdotium betrachtet wird, und wenn man in demselben Gottesfrieden den ersten begünstigenden Vorgang einer neuen Wahrnehmung des dritten Standes – eine Wahrnehmung, die sich aber im empirischen (sozialen, politischen und ökonomischen) Bereich erst viel später niederschlägt – sieht, bietet man sicherlich eine Arbeitsperspektive an, welche in einer wissenschaftlichen Welt, die sich von scheinbar unüberbrückbaren Auseinandersetzungen hinsichtlich der Zeitspanne zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert spalten lässt, zu effektiven Fortschritten führen könnte.

wird, der die bislang zu bemerkende „Erstarrung“ der Kriegstechnologien bricht. So werden am Anfang stärkere Panzer und Helme produziert, die den Pfeilen und Kugeln standhalten konnten, was eben die Waffenproduzenten determiniert, Gewehre mit stärkerer Feuerkraft herzustellen. Alles kulminiert wohl mit der Erfindung des Panzers im ersten Weltkrieg (vgl. M. Vale 1981, S. 105f). 36 Vgl. M. Vale 1981, S. 129.

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Personenregister Abkürzungen: Bf.: Bischof, Fs.: Fürst/-in, G.: Gott/-in/Götter, Gf.: Graf/Gräfin, H.: Held/in, Hl.: Heiliger/Heilige, Hzg.: Herzog/Herzogin, Kard.: Kardinal, Kg.: König/-in, Ks.: Kaiser/-in, P.: Papst. Abbo v. Fleury: 211, 216f. Achilles (H.): 34, 51, 74, 78, 88, 90, 94, 125, (-Typ) 147. Adalberon v. Laon (Bf.): 239, 388. Adam Bremensis: 14, 72, 76. Ademar von Chabannes: 15, 212f, 308, 334. Adso v. Montier-en-Der: 211, 214f. Aelfric: 207. Aethelred II. (Kg.): 146. Agamemnon (H., Kg.): 132. Ahasveros (Kg.): 185. Aimo v. Bourges (Bf.): 334, 354. Alexander II. (P.): 318. Althoff, Gerd: 9. Anastasius I. (Ks.): 254. Andreas v. Fleury: 335, 348, 354. Anselm v. Canterbury (Bf.): 153, 158ff, 385. Aristoteles: 41f, 175. Asen (G.): 71, 106f. Asklepios: 78. Asvins (G.): 20, 62, 66ff, 106, 109. Attila (Kg.): 136, 139, 167, 193. Auctor Gallicus: 259, 263. Augustin/Augustinus (Bf.): 18, 201f. Baronius, Caesar (Kard.): 197f. Barthélemy, Dominique: 200, 203, 208, 298, 306, 308, 323, 325f, 337. Bataille, Georges: 113ff, 122. Beatus v. Lièbana: 202, 205. Beda Venerabilis: 209. Benedict v. Aniane: 235.

Beowulf: 94. Bercharius (Hl.): 301, 321. Bernard d’Angers: 319f. Bernhard v. Clairvaux: 383f. Berno v. Cluny: 231, 234, 243. Bisson, Thomas: 297, 307. Bloch, Marc: 119, 136. Blumenberg, Hans: 57. Bois, Guy: 211. Borst, Arno: 165. Bosl, Karl: 113. Bourdieu, Pierre: 16, 20, 27, 46, 47, 119. Brackmann, Albert: 241. Brünhild (H., Kg.): 77, 148, 186, 192. Brunner, Otto: 22. Byrhnoth (Gf.): 141, 146, 151f, 156, 170. Caesar: 66, 70. Caesarius v. Arles: 166. Calvin, Jean: 121. Cassirer, Ernst: 24. Cato, Marcus: 171, 175. Christian v. Mainz (Bf.): 159. Closs, Alois: 59, 64. Crassus, Petrus: 279f. Cú Chulainn (H.): 85, 87, 91f, 95f. Curiatii (H.): 69, 80, 190f. Dathan u. Abiron: 317. David (H., Kg.): 38, 93, 156. Dionysius Exiguus: 208. Drogo v. Macôn (Bf.): 237.

Personenregister

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Duby, Georges: 21, 65, 120, 127, 297, 304. Dumézil, Georges: 21, 56ff, 60ff, 70, 81f, 98f, 102, 107, 379f. Durkheim, Emile: 23, 58, 61f.

Gunther (im Walt.-Lied) (H., Kg.): 139, 152, 177. Günther, Franz: 163. Guthlac (Hl.): 144f. Guttandin, Friedhelm: 13, 15, 115.

Egil (Kg.): 100. Einhard: 138, 140. Eleanor v. Aquitanien: 47. Eliade, Mircea: 64. Engels, Odilo: 365. Erdmann, Karl: 297.

Hamm, Berndt: 129. Hannibal: 94. Harald d. Gestrenge (Kg.): 94. Haudry, Jean: 54, 64, 87. Heinrich II. (Kg., Ks.): 149. Heinrich III. (Kg., Ks.): 341. Heinrich IV. (Kg., Ks.): 137, 254ff, 265, ab 268, 339. Heinrich V. (Kg., Ks.): 285. Heinrich v. Kärnten (Hzg.): Anm. 106/51. Hektor (H.): 90. Hephaistos (G.): 74, 167. Herakles (H.): 41, 64, 71, 79, 93. Hermann von Metz (Bf.): 266, 282. Herodot: 66. Herostratos (H.): 41, Hildebrand (H.): 153. Hildebrand: siehe Gregor VII. Hildegard v. Bingen: 163, 188. Hinkmar v. Reims (Bf.): 284. Höffler, Otto: 59, 64, 107. Hoffmann, Hartmut: 204, 245, 297f, 323. Homer: 14, 88. Horatius/Horatii (H.): 69, 80, 190f. Huberti, Ludwig: 204, 297, 323f. Hugo Capet: 210. Hugo v. Cluny: 228f, 234, 237, 240f, 247, 250, 275. Humbert v. Silva Candida (Kard.): 254, 258f, 263, 267. Humbert von Moyenmoutier: siehe Humbert v. Silva Candida.

Felix II. (P.): 254. Fides (Hl.): 321, 363. Focillon, Henri: 203. François I. la Sarra (Gf.): 49. Frey/Fricco (G.): 62, 70f, 76, 105. Freya (G.): 62, 70f. Fried, Johannes: 203. Froissart, Jean: 135. Fulbert v. Chartres: 359, 363. Ganelon (H.): 140, 143, 169. Gebhard v. Salzburg (Bf.): 278. Gelasius (P.): 254. Geraldus (Hl.): 320. Gerberga (Kg.): 214. Gergen, Thomas: 297. Gerhard v. Cambrai (Bf.): 334. Gernhuber, Joachim: 297, 342. Ghilgamesch (H.): 51. Gimbutas, Marija: 54. Goez, Hans-W.: 298, 323. Gog u. Magog: 218f. Goliath (H.): 38, 93. Görich, Knut: 15. Gouguenheim, Sylvain: 203. Gregor d. Gr. (P.): 240, 267. Gregor V. (P.): 236. Gregor VII. (P.): 226, 228f, 238, 241, 247f, 250f, ab 252, 303, 347. Gregor v. Tours: 187. Grotius, Hugo: 357. Gunther (Nibelungenl.) (H., Kg.): 77, 148, 192.

Ind(a)ra (G.): 20, 62, 64, 66f, 69, 73, 79f, 86, 98f, 102f, 104, 106, 117, 146. Innozenz III. (P.): 288. Isidor v. Sevilla (Bf.): 188. Isokrates: 35.

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Personenregister

Jansen-Jurreit, Marieluise: 183. Johanna D’Arc: 194. Johannes XI. (P.): 239. Johannes XIX (P.): 236. Jordan v. Limoges (Bf.): 315, 345. Jupiter/Zeus: 69, 101, (Stator) 108f. Justin d. Märtyrer (Hl.): 205. Karl d. Gr. (kg., Ks.): 41, 70, 92, 138, 140, 150, 169, 171, 287, 305, 373f. Kattenbusch, Ferdinand: 30, 33. Klothar (Kg.): 187f. Klothar II. (Kg.): 324. Kluckhohn, August: 295, 297, 307. Konstantin d. Gr. (Ks.): 253. Korff, Wilhelm: 15. Kriemhild (H., Kg.): 186, 192. Landes, Richard: 203ff, 217. Lang, Andrew: 59. Landry v. Nevers (Gf.): 302. Le Goff, Jacques: 65. Leo III. (P.): 287 Leo IX. (P.): 254. Leonard v. Noblat (Hl.): 319. Lévi-Strauss, Claude: 10, 12, 63, 81. Livius, Titus: 14, 80, 86, 94, 108, 190. Ludwig d. Fromme (Ks.): 235. Ludwig IV. (Kg.): 214, 216. Louis (Ludwig) VII. (Kg.): 47. Lug (G.): 172. Luperci: 103. Majolus v. Cluny: 234. Manegold v. Lautenbach (Bf.): 278. Manuel I. Komnenos (Ks.): 254. Mars (G.): 62, 69, 71. Marsil (H., Kg.): 138, 140. Martin v. Tours (Hl.): 172. Marx, Karl: 27. Mathilde v. Tuszien (Gf.): 275. Mauss, Marcel: 114. Merkur (G.): 71. Michelet, Jules: 200, 204, 206. Mitra (G.): 62, 66f, 98, 101, 103.

Müller, Achatz v.: 15, Müller, Max: 58f, 63. Nasatya (G.): siehe ‚Asvins’. Nerthus (G.): 77. Nikolaus I. (P.): 254. Nikolaus II. (P.): 254, 259, 268, 285. Njord (G.): 70f, 105. Noah: 166. Numa Pompilius (Kg.): 69f. Odilo v. Cluny: 234, 239, 241, 246, 249, 251, 338. Odin/Wodan (G.): 41, 62, 70ff, 76f, 89, 106f. Odo v. Cluny: 223, 226, 234, 241ff, 248, 250, 375, 383. Odysseus (H.): 34, (-Typ) 147, 171. Oexle, Otto G.: 65, 312. Oliba v. Vich (Bf.): 336. Olivier (H.): 51, 143, 147. Ordericus Vitalis: 79. Otto III. (Kg., Ks.): 210, 215f. Pandava (H.): 69. Paschalis II. (P.): 311, 317, 338. Patroklos (H.): 51. Petrus (Hl.): 222ff, 232, 262, 266, 271, 285. Petrus Damiani: 240, Anm. 248/263, 318. Petrus Lombardus: 190. Philippson, Ernst A.: 64, 107. Platon: 73, 379. Puhvel, Jaan: 64. Quirin(i)us (G.): 62, 69. Rather(ius) v. Verona: 186, 388. Richard II. (Kg.): 135. Robert Guiscard: 100, 285. Robert II. d. Fromme (Kg.): 149, 210, 334, 365. Robertson, Wilhelm: 200. Rodulfus Glaber: 15, 149, 211f, 313, 324, 329, 362. Roger Guiscard: 343.

Personenregister

Roland (H.): 41, 51, 80, 125, (Hruolandus Britannicus) 138, 143, 146ff, 151. Romulus (Kg.): 69f, 92, 103, 108f. Rudolf v. Schwaben (K.): 273. Salin, Bernhard: 107. Saxo Grammaticus: 14, 72, 77f, 87, 93. Sayers, William: 75. Schilling, Diebold: 116. Sémichon, Ernest: 201, 295, 297. Severin/Severinus (Hl.): 44. Siegfried (H.): 94, 96, 148, 186, 192. Sigewin v. Köln (Bf.): 350. Silvester III. (P.): 207. Simon Magus: 261. Snorri Sturluson: 14, 71, 90, 107. Stafford, Ralph (Gf.): 135. Starcatherus (H.): 78f, 89. Stephan IX (P.): 241, 250, 254. Tacitus: 70, 77, 172. Taylor, Charles: 26. Tecuciztecatl (G.): 66. Tellenbach, Gerd: 221. Tenxvind v. Andernach: 163. Theganus v. Trier (Bf.): 165. Thor (G.): 62, 64f, 69, 70, 76f. Thutmosis IV. (Kg.): 81. Titus Tatius (Kg.): 108f. Töpfer, Bernhard: 297, 305, 335. Tull(i)us Hostilius (Kg.): 69f, 97. Turpin (Bf.): 151. Tyconius: 201.

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Tyr (G.): 62, 101f. Urban II. (P.): 285, 343, 372. Vanen (G.): 71, 106f. Varuna/Uruvana (G.): 62, 66f, 98, 101f, 103. Vashti (Kg.): 185. Venantius Fortunatus (Bf.): 185. Viktor II. (P.): 269. Vogt, Ludgera: 16. Vries, Jan de: 64, 93, 107. Waltharius (H.): 136, 139, 147, 152, 167, 177, 193. Warin v. Beauvais (Bf.): 333. Wasserschleben, Friedrich: 311. Weber, Max: 16, 23f, Wells, Otto: 43. Wickham, Chris: 308. Wido v. Le-Puy (Bf.): 326f. Wikarus (Kg.): 77f. Wilhelm d. Eroberer (Kg.): 137, 169, 343, 361, 367. Wilhelm I. v. Aquitanien (Hzg.): 230. Wilhelm IV. v. Aquitanien (Hzg.): 330, 334, 365. Wilhelm V. v. Aquitanien (Hzg.): 296, 306, 332. Wilhelm v. Poitiers: 361. Wölund (H.): 167. Wulfstan: 207. Yoshida, Atsuhiko: 64, 81.