Kleists »Über das Marionettentheater«: Welt- und Selbstbezüge: Zur Philosophie der drei Stadien [1. Aufl.] 9783839422298

In seinem berühmten Essay »Über das Marionettentheater« entwirft Heinrich von Kleist eine Theorie der drei Stadien unser

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German Pages 284 Year 2014

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Kleists »Über das Marionettentheater«: Welt- und Selbstbezüge: Zur Philosophie der drei Stadien [1. Aufl.]
 9783839422298

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Michael Nerurkar (Hg.) Kleists »Über das Marionettentheater«

Edition panta rei |

Editorial In Umbruchzeiten und Zeiten beschleunigten Wandels ist die Philosophie in besonderer Weise herausgefordert, Veränderungen unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge zu artikulieren. Denn Begriffe, Kategorien und Topoi, unter denen Weltbezüge stehen und unter denen wir unser Denken und Handeln ausrichten, erweisen sich im Zuge jener Dynamik regelmäßig als einseitig, kontingent, dogmatisch oder leer. Dialektisches Denken richtet sich von alters her auf diejenige Gegensätzlichkeit, die die Beschränktheiten des Denkens und Handelns aus sich heraus hervorbringt, und zwar mit Blick auf die Einlösbarkeit seiner Ansprüche angesichts des Andersseins, Anderssein-Könnens oder Anderssein-Sollens der je verhandelten Sache. Dialektik versteht sich als Reflexion der Reflexionstätigkeit und folgt somit den Entwicklungen des jeweils gegenwärtigen Denkens in kritischer Absicht. Geweckt wird sie nicht aus der Denktätigkeit selbst, sondern durch das Widerfahrnis des Scheiterns derjenigen Vollzüge, die sich unter jenem Denken zu begreifen suchen. Ihr Fundament ist mithin dasjenige an der Praxis, was sich als Scheitern darstellt. Dieses ist allererst gedanklich neu zu begreifen in Ansehung der Beschränktheit seiner bisherigen begrifflichen Erfassung. Vor diesem Hintergrund ist für dialektisches Denken der Dialog mit anderen philosophischen Strömungen unverzichtbar. Denn Beschränkungen werden erst im Aufweis von Verschiedenheit als Unterschiede bestimmbar und als Widersprüche reflektierbar. Und ferner wird ein Anderssein-Können niemals aus der Warte einer selbstermächtigten Reflexion, sondern nur im partiellen Vorführen ersichtlich, über dessen Signifikanz nicht die dialektische Theorie bestimmt, sondern die Auseinandersetzung der Subjekte. Wissenschaftlicher Beirat: Christoph Halbig, Christoph Hubig, Angelica Nuzzo, Volker Schürmann, Pirmin Stekeler-Weithofer, Michael Weingarten und Jörg Zimmer.

Michael Nerurkar (Hg.)

Kleists »Über das Marionettentheater« Welt- und Selbstbezüge: Zur Philosophie der drei Stadien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2229-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einführung: Kleists „Über das Marionettentheater“ in moderner und postmoderner Sicht

Christoph Hubig | 9 Der Mensch als „das noch nicht festgestellte Tier“? Plessner und Kleists Über das Marionettentheater

Francesca Michelini | 31 Erste und zweite Unmittelbarkeit oder: Wie viel Reflexion verträgt die Tugend?

Christoph Halbig | 47 2

Transit durch die Unendlichkeit oder (Sündenfall) ? Kleist im Spiegel der philosophischen Frühromantik

Sarah Schmidt | 73 Drei Varianten des letzten Kapitels der Geschichte . Vollendete Moderne bei Rousseau, Schiller und Husserl

Andreas Kaminski | 109 Lebendigkeit oder Leben? Kleists „Marionettentheater“ und die Physiologie

Petra Gehring | 135 Gut gemeinte Erziehungsmaßnahmen. Kleists Gespräch über das Marionettentheater zwischen aristokratischer Verstellungskunst und bürgerlicher Bloßstellungskunst

Andreas Gelhard | 157

„vielleicht tun wir am Ende recht“. Über ein rechtsphilosophisches Leitmotiv Heinrich von Kleists

Jan Müller | 177 Rhythmus und Schwere. Existenz- und musikphilosophische Überlegungen zu Kleists Über das Marionettentheater

Andreas Luckner | 207 Kleists „Hermannsschlacht“ mikropolitisch gelesen

Marc Rölli | 225 Das Wissen der Darstellung . Über Versuche, ins Offene zu gelangen – H. v. Kleist und G. W. F. Hegel

Gerhard Gamm | 249 Die Autoren | 279

Vorwort

Heinrich von Kleists kurze Schrift Über das Marionettentheater (1810) war in vielfältigster Weise traditionsbildend und provozierend. Seitens der Philosophie, der Literaturwissenschaft, wie auch überhaupt der Geistes- und Kulturwissenschaften, wurden die unterschiedlichsten Interpretationen vorgelegt. Die Überlegungen Kleists hinterließen ihre Spuren in vielen Bereichen, von der Geschichts- und Technikphilosophie bis hin zu konkreten Kunstwerken. Kleist schildert den Gedankenaustausch zweier Personen über die menschliche Entwicklung in drei Stadien: von der ersten Stufe einer unbewussten Natürlichkeit als Grazie und Harmonie, wie sie sich in den Gliederpuppen und Erscheinungen der Tierwelt ausdrücke, über das zweite Stadium einer mühsam zu erarbeitenden Selbst- und Naturbeherrschung, hin zum Ideal des dritten Stadiums, einer absoluten Meisterschaft, deren Vollkommenheit diejenige der Natur einhole. Wohl kaum dürfte dabei überraschen, dass Kleist ein solches Modell zivilisatorischen Fortschritts nicht naiv präsentiert, sondern mit zahlreichen ironischen Brechungen durchsetzt und uns auf diese Weise zum Nachdenken bringt. Der vorliegende Band versammelt Beiträge zur Ringvorlesung „Kleist: Über das Marionettentheater. Zur Philosophie der drei Stadien“, die im Wintersemester 2011/2012 vom Institut für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt veranstaltet wurde. Die Aufsätze sind hier in derjenigen Reihenfolge wiedergegeben, in der die entsprechenden Vorträge in der Ringvorlesung gehalten wurden Allen beteiligten Autoren und Referenten sei herzlich gedankt! Christoph Hubig Michael Nerurkar

Einführung: Kleists „Über das Marionettentheater“ in moderner und postmoderner Sicht C HRISTOPH H UBIG Norbert Miller, dem hochgeschätzten Lehrer und verlässlichen Freund in schwierigen Zeiten, zum 75. Geburtstag

Selten wohl dürfte ein derart kurzes Prosastück wie Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ (1810) eine solch intensive, divergierende und die unterschiedlichsten Textsorten übergreifende Rezeption erfahren haben. Sie hebt unmittelbar nach Erscheinen der Schrift an (u. a. bei E. T. A. Hoffmann 1967, 81) und hält sich durch bis in jüngste Verästelungen der Medien- und Machttheorien (z. B. Bernhard Dotzler 1999); sie umfasst philosophische Abhandlungen in ideengeschichtlicher Absicht (im Ausgang von der sich schon im Titel andeutenden Polarität zwischen dieser Schrift und Friedrich Schillers Abhandlung „Über Anmut und Würde“) bis hin zu Auslegungen in systematischem Interesse, wie sie etwa in der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners vorfindlich sind, wo die Idee des „Durchbruchs“ aus dem „Marionettentheater“ für seine Philosophie der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen fruchtbar wird (Plessner 2000, 160, 323, s. den Beitrag von Francesca Michelini in diesem Band). Neben Lesarten, die jene Schrift als originär philosophischen Text in literarischem Gewande zu verstehen suchen (z. B. Hugo von Hofmannsthal,

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1955, 138), finden sich solche, die ihn als literarische Illustration einer klassisch-romantischen „Philosophie der drei Stadien“, wie sie etwa bei Schlegel, Schelling oder Hegel vorfindlich sei, begreifen wollen: den Prozess – so die fast schon fahrlässig idealtypisierende Vereinfachung – von der bewusstlosen Tätigkeit über die Bewusstwerdung des Ich in ihren Reflexionsstufen hin zur Idee eines absoluten Ich in seiner Freiheit als wiederzuerlangender Einheit von Subjektivität und Objektivität, wobei der Status dieser Idee als utopisches Ideal oder Vorstellung eines vergeblichen Wunsches seinerseits strittig ist. Die sogenannte Drei-Stadien-Lehre in ihrer affirmativ-idealistischen oder ihrer ironisch-kritischen Version (exemplarisch in Kierkegaards „Entweder-Oder“) findet jedoch auch und gerade über die philosophische Rezeption i. e. S. hinaus ihr Echo in mannigfachen literarischen Zeugnissen unterschiedlichster Gattungen, von der Lyrik wie Rainer Maria Rilkes Vierter Duineser Elegie bis zu Romanen wie Robert Walsers „Geschwister Tanner“ oder Jim Craces „Arcadia“. Jenseits der Auseinandersetzungen darüber, ob es sich um einen eher philosophischen oder literarischen Text handele, um einen eher philosophischen in literarischem Gewande oder eine Dichtung, die in literarischer Inszenierung Optionen einer Bezugnahme auf bestimmte Philosopheme (performativ) vorführt, finden sich Unternehmungen, die diese Schrift in unterschiedlicher Absicht zum Paradigma eines fundamentalen Weltbezugs stilisieren: Entweder als zum äußersten entwickelte Reflexionsform einer immer unvollendeten Moderne mit ihrem Glauben an Fortschritt und Emanzipation auf der Basis kontinuierlicher Selbstvergewisserung über die – hegelsch gesprochen – Schranken des bisherigen Tuns, welche sich dann als aufhebbare, überwindbare Grenzen erweisen (Jürgen Habermas’ Simplifikation eines Projekts der Moderne folgend, wie sie u. a. von Paolo Portoghesi (1981) kritisiert wurde). Oder als Schlüsseltext einer sich ankündigenden „Postmoderne“, die in diesem Text eine paradigmatische Allegorie dafür findet, wie wir als Leser einer zeichenhaft verrätselten Welt dazu verurteilt sind, von einer perspektivenbedingt-vorläufigen Einsicht zur nächsten zu stolpern, abgewiesen und zurückgeworfen angesichts mannigfacher performativer Widersprüche, die sich nicht nur aufdringlich vorführen, sondern auch immer unserer Position eigentümlich bleiben, wenn wir versuchen, uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Nach einer einführenden Darstellung des Textes möchte ich erstere Haltung mit Blick auf Thomas Manns „Doktor Faustus“ diskutieren; für die

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letztere Position steht Paul de Mans berühmter Essay „Ästhetische Formalisierung: Kleists ‚Über das Marionettentheater‘“ (de Man 1988), der Kleists Schrift und unser Verhältnis hierzu gleichermaßen als „Allegorie des Lesens“ (der zeichenhaft verfassten Welt) freizulegen sucht. Angesichts der aufgewiesenen Polarität wird dann abschließend zu fragen sein, inwieweit sowohl ein moderner, kritischer Abweis der Utopie von Vollkommenheit als auch die postmoderne, ironische Emanzipation von Fortschrittserzählungen überhaupt uns zum Quietismus verurteilen: Eine Allegorie, die die beiden Optionen einer Allegorisierung moderner oder postmoderner Lesart von Kleists Schrift ihrerseits als reflektierbar ausweist, meine ich in Jean Pauls „Titan“ finden zu können.

1. Der Titel der Kleistschen Schrift lässt eine Abhandlung erwarten. Er erinnert an den 17 Jahre vorher erschienenen weit bekannten Traktat „Über Anmut und Würde“ von Friedrich Schiller, der Anmut und Grazie von der bloß „architektonischen Schönheit“ (1962, 255) eines zweckmäßig eingerichteten Körperbaus unterscheidet. Einer solchen Darstellung „technischer Vollkommenheit“ (256) stellt Schiller die Anmut als eine „Schönheit der Bewegung“ (253) gegenüber, sofern der „Natureffekt“ von der Vernunft mit einer „höheren Bedeutung“ versehen ist und damit Ausdruck der Vernunft wird. Die sinnliche Erscheinung wird von der Vernunft „belebt“, sie erhalte „Bürgerrecht in der Vernunftwelt“ (260). Anmut und Grazie sind dann „Schönheit der Gestalt unter dem Einfluss der Freiheit“ (264), die sich in demjenigen, was bei absichtlichen Bewegungen unabsichtlich, „zugleich aber einer moralischen Ursache im Gemüt entsprechend ist“ (271) ausdrücke. Das „Unabsichtliche“ ergibt sich, wenn die Person nicht mehr einer „imperativen Form des Moralgesetzes“ als Herrschaft der Vernunft über die Sinne folgen muss, sondern „seiner Vernunft mit Freuden gehorchen“ (283, 287) kann. In dieser Übereinstimmung von Pflicht und Neigung harmonieren in der „schönen Seele“ Sinnlichkeit und Vernunft, „und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung“ (288). Paradigmen für jene Harmonie, in der Pflicht mit Neigung vereint ist, sind für Schiller der Tanz oder der liberale Staat. Erst dann, wenn die Gesetzgebung der Vernunft mit dem Trieb im Widerstreit liege, sei nicht mehr moralisch „schön“, sondern moralisch

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„groß“ zu handeln: Ausdruck einer entsprechenden „heroischen“ Haltung sei dann die Würde des Handelns, „welches zu verrichten [der Mensch] über seine Menschheit hinausgehen muss“ (298). Dieser begegne man nicht mehr mit Wohlgefallen, sondern mit Achtung. Selbstzerstörerische Perversionen der Anmut seien „Ziererei“, der Würde „Gravität“, weil beide sich hier bewusst zu inszenieren suchen. Damit ist das Begriffsfeld vorgegeben, mit dem sich auch Kleist auseinandersetzt. Sein Thema ist ebenfalls Anmut und Grazie in einem freilich ganz anders gefassten Spannungsfeld zu Gravität und Ziererei. Üblicherweise wird seine Frontstellung gegenüber Kant auf die sogenannte KantKrise Kleists aus den Jahren 1800/1801 zurückgeführt. Kleist habe sich durch die Kantische Modellierung unseres theoretischen und praktischen Weltbezuges desillusioniert gefühlt und sei an der Rolle, die Kant den Erkenntnisvermögen (Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung) und der praktischen Vernunft (Freiheit als Instanz eines Handelns aus Pflicht, welche allein einen guten Willen ausmacht) verzweifelt. Ernst Cassirer (1924/ 1971) hat mit guten (philologischen und philosophischen) Gründen aufgewiesen, dass angesichts einer nach wie vor produktiven Auseinandersetzung mit Kant Kleists Fundamentalkritik sich wohl eher gegen ein Moralitätskonzept und ein damit verbundenes Erziehungsprogramm richtete, welches in der damals ebenfalls weit verbreiteten Schrift „Die Bestimmung des Menschen“ von Johann Gottlieb Fichte niedergelegt war, welche fälschlicherweise als Manifest eines transzendentalen Idealismus der „neueren sogenannten Kantischen Philosophie“ erachtet wurde (Cassirer 1971, 166). Dort wird der transzendentale Idealismus als Durchgangspunkt einer Betrachtung dargestellt, die uns zu einem Naturkonzept als schlechthin lückenlosem Zusammenhang von Dingen und Kräften führt, sich jedoch als bloßes Konstrukt des Wissens erweist und, nachdem „jegliche Substantialität der Welt versunken ist“ (Cassirer 1971, 170), beansprucht, uns zum Glauben zu führen, einem „Geltenlassen“ des Wissens unter dem Primat praktischer Vernunft. Auf diesem Hintergrund erhält die Konstellation der Themen in Kleists „Marionettentheater“ eine weitere Sinndimension: Die Autorität praktischer Vernunft, wie sie in Fichtes Schrift von 1800 behauptet wird, ist in noch radikalerer Weise zu problematisieren als hierfür Kant und Schiller Anlass gegeben hätten.

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2. Kleists Schrift ist in drei Gesprächsepisoden zwischen einem Tanzmeister „C.“, der als Lehrer auftritt, und dem Ich-Erzähler gegliedert, datiert auf den Winter 1801, also knapp ein Jahr nach der Kant/Fichte-„Krise“, in der Kleist sein Konzept von Natur, Wahrheit und Bildung sowie daran orientierter Pflicht in Frage gestellt sieht (Briefe vom 16.09.1800 und 22.03.1801 an Wilhelmine von Zenge, Kleist SW 1227 ff.; 1278 ff.). Die erste Episode ist ein seminarartiges Gespräch, welches sich unter dem Eindruck der von beiden besuchten Aufführungen eines Marionettentheaters entspinnt und, flankiert von kritischen Bemerkungen über die Unzulänglichkeiten menschlicher Tänzerinnen und Tänzer, zu einem Lob vollendeter Tanzkunst der Marionetten führt, deren mechanische Verfasstheit derjenigen menschlicher Tänzer in vielerlei Hinsicht überlegen sei. Letztlich könne gar der Maschinist, den es keine große Kunst koste „die natürliche Form der Bewegung des menschlichen Körpers zu verzeichnen“, durch eine Kurbel ersetzt werden, so dass auch „der letzte Bruch von Geist“ aus den Marionetten entfernt werden könne – ein Bruch, der dadurch gegeben ist, dass der Marionettenspieler selbst noch tanzt, indem er sich in den Schwerpunkt der Marionetten „versetzt“ (SW 1089). Diese Apotheose des Technischen, welches in seiner Vollendung als Geistloses-Unmittelbares-Natürliches dargestellt wird, also in kritischer Anspielung auf Schillers dort unvollkommene „architektonische Schönheit“, wird ferner illustriert durch die Schilderung eines englischen Technikers, der Beinprothesen verfertigt, welche ihre Träger trotz Beschränktheit der Bewegung in vollkommener Anmut tanzen lassen, und der erst recht, wenn er in dieser Weise eine ganze Marionette zusammensetzen würde, dieser den Vorteil vor lebendigen Tänzern gewähren würde. Denn die vollendete Anmut und Grazie der Marionetten sei zum einen darin begründet, dass sie vermöge ihre Aufhängung am Schwerpunkt „antigrav“, der Schwerkraft enthoben seien (1091, vgl. hierzu Schiller: „[...] und die kunstreichste Technik wird endlich [...] von der Schwerkraft bezwungen“, 275), und dass zum anderen der Schwerpunkt eben nicht, wie im Zuge ansonsten bewusster Bewegungen, dieses Zentrum verlassen könne. Ihre „Seele“, gefasst als „vis motrix“ (Bewegungskraft) werde immer als Zentrum dieser Bewegung ersichtlich, und der „Weg“ dieser Seele bleibe „ungestört“, sowohl von notwendig zu kompensierenden Irritationen der Schwerkraft als auch von bewusster Steuerung der Glied-

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maßen, welche dazu führe, dass die Seele jeweils bloß in diesen „sitzend“ (1091) erscheint. Bei der Marionette hingegen mache es die „Ruhe“ und „Leichtigkeit“ der Bewegung aus, dass die Seele/vis motrix immer als Zentrum/Schwerpunkt der Bewegung erscheint und die übrigen Gliedmaßen als „reine Pendel“ den Naturgesetzen folgen, sodass die Marionette „sich niemals zierte“ (1090). Jenes Sinnbild des seit Menschengedenken gehegten Traums einer bewusstlos-autonom-vollkommenen Technik, die ungestört aus sich heraus agiert, erfährt seine Erweiterung, indem deren Bewegung (in schrägen Analogien aus der Mathematik) als unendlich erscheinend charakterisiert wird: Ein bewusster künstlerischer Eingriff in diese Bewegung verhalte sich wie die Asymptote zu einer Hyperbel oder eine Zahl zum Algorithmus (sic!). Jene Bewegung erfahre keine Hemmung wie der natürliche Tanz und bedürfe nicht der Erholung. Die im dritten Kapitel des ersten Buches Moses geschilderte Entstehung von Bewusstheit und „erster Bildungsanstrengungen“ des Menschen und die damit verbundenen „Unordnungen in der natürlichen Grazie des Menschen“, welche „das Bewusstsein anrichtet“, mache es den Menschen schlechthin unmöglich, den Gliedermann auch nur zu erreichen. „Nur ein Gott könne sich auf diesem Felde mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt ineinander griffen“ (1091). Dieses dritte Stadium wird später in die Formel gekleidet, „dass wir zum zweiten Male vom Baum der Erkenntnis essen müssten“ (1094). Eine fast unüberbietbare Darstellung des avisierten Dreischritts von paradiesisch unbewusster Vollkommenheit über den scheiternden Gang des Bewusstseins, diese Vollkommenheit einzuholen, hin zur Utopie einer gottgleichen Einheit von Bewusstsein und „Materie“ scheint mir Giorgio de Chiricos Allegorie „Offerta di Giove“ (1971) abzugeben. Den olympischen Göttern, dem Zeus, der mit der Naturordnung gebrochen und den Chronos entmachtet hat, der Athene als Kopfgeburt des Zeus, die die Real-, Intellektual- und Sozialtechniken eingeführt hat, dem Apoll und den anderen Strategen des Götterhimmels bietet die Gliederpuppe ihr ebenfalls mechanisch verfasstes Kind dar.

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Giorgio de Chirico, Offerta di Giove (1971)

Zur „unendlichen Bewegung“ ungestört prozessierender Technik ist hier noch ihre Reproduktivität getreten – der neueste Traum der Ingenieure jüngster Zeit von sich selbst replizierenden Automaten. Nicht symbolisch ist hier jene Konstellation dargestellt, sondern eben in demjenigen Sinne, wie er der Allegorie überhaupt eigentümlich ist: entgegen der symbolischstrikten Zuordnung zu einem Bezeichneten diejenigen Ambivalenzen zu Tage treten zu lassen, die sich aus den Deutungsoptionen ergeben, wenn wir zu seiner Szene, einem Handlungsstück, einer Geste in einen Bezug treten und uns an ihr abarbeiten müssen (vgl. etwa die Ausführungen Karl Wilhelm Ferdinand Solgers (1815) oder Walter Benjamins (1928) zu diesem Thema). Wie etwa die Blindheit in der Allegorie der Gerechtigkeit in ihrer Ambivalenz oder die Suspension des Technischen in Dürers Melencolia, birgt die Geste der Offerta der Gliederpuppe vielschichtige und konträre Anmutungen: Diejenige des Triumphs einer Eigenständigkeit alternati-

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ver Verfasstheit, integriert bleibend in das Erdreich der Gaia, auf dem ein Produkt der Zeus/Athene-Rationalität, das Zahnrad, beiläufig herumliegt, und dennoch aus diesem Reich irgendwie sich herausentwickelnd zugleich aber offen für eine Deutung als Anklage, Markierung des Verlustes, der durch die deutliche Scheidung der beiden Sphären markiert ist und kritische Widerständigkeit evoziert; ferner einschätzbar als Geste des Trotzes gegenüber dem blitzeschleudernden Zeus, Betonung einer Alterität, innerhalb derer als Äquivalent zur Kopfgeburt die Geburt aus dem Mechanismus selbst erfolgt ist; schließlich die Offerta als Angebot der Versöhnung, des Austauschs, des Handels im Sinne einer zu erstrebenden Harmonisierung der Beziehungen, gar einer möglichen Vereinigung als Utopie. (Dass die Gliederpuppe und ihr Kind gesichtslos sind, steigert ihre Charakterisierungen in Rilkes Vierter Duineser Elegie – „bloßes Aussehen“ –; Gesichtslosigkeit als Ausdruckslosigkeit ist eben die Konsequenz fehlender Bewusstheit und fehlender artifizieller Intentionalität, nach deren Maßgabe sich ein Gesicht formt und jene Intentionalität situativ oder als Haltung dauernd zum Ausdruck bringt.)

3. Die nachfolgenden beiden Episoden kreisen um Berichte von zwei Begebenheiten, die die Theoreme der ersten Episode illustrieren und vertiefen sollen. Der erste vom Ich-Erzähler vorgetragene Bericht handelt von einer Begebenheit im Badehause, bei der ein Jüngling aufgrund der „Unordnungen“, welche das Bewusstsein in der „natürlichen Grazie des Menschen“ anrichte, seine Unschuld verloren „und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wiedergefunden“ habe (1092). Denn der Jüngling entdeckte zufällig im Spiegel, dass seine unwillkürliche graziöse Gebärde derjenigen des berühmten Dornausziehers glich – eine Beobachtung, die er mit dem Ich-Erzähler teilte. Dieser wiederum, nun seinerseits in die Rolle des Lehrers gerückt, will den Jüngling testen: Er stellt die Beobachtung in Frage und fordert den Jüngling auf, die Gebärde – nunmehr bewusst – zu wiederholen, was kläglich scheitert. Der irritierte Jüngling versucht anschließend, immer wieder vor dem Spiegel übend, seine Grazie wiederzugewinnen, was ihm angesichts einer „unbegreiflichen Gewalt“, die sich „wie ein eisernes Netz um das freie Spiel seiner Gebärden

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zu legen“ schien (1092), nicht mehr gelingt. Er verliert unwiederbringlich seine „Lieblichkeit“. Festzuhalten ist zunächst, dass nicht das SichBewusstwerden als solches (Spiegelung) den Verlust der Grazie bewirkt, sondern die im Prüfungskontext erhobene Forderung des Ich-Erzählers, das unmittelbare Phänomen natürlicher Grazie in einen technisch reproduzierbaren Effekt zu transformieren. Reproduzierbarkeit als generelle Norm, die das Technische überhaupt ausmacht, wird zum Gelingenskriterium eines bewusst planenden Prozessierens. Die „Unschuld“ des Vollzugs in dem Sinne, dass dieser niemandem etwas schuldet, wird durch die Forderung zerstört, unter einem externen Kriterium eine Schuld abzutragen, nämlich diejenige der Authentifizierung. Solcherlei setzt die Einnahme einer Beobachterperspektive des Subjekts sich selbst gegenüber voraus, mithin diejenige einer Objektivierung, auf deren Wege bekanntlich niemals Authentifizierung zu erreichen ist – das Subjekt-Objekt-Dilemma des Selbstbewusstseins. Der „Schwerpunkt“ hat den zum Subjekt und Objekt gespaltenen Jüngling verlassen, weil dessen Selbstgesetzgebung der Anerkennung einer externen Gesetzesvorgabe gewichen ist, mit der sich der Jüngling identifizieren zu müssen glaubt, um seinem Eindruck von sich selbst Gültigkeit zu verleihen (vgl. hierzu auch die Überlegungen von Jan Müller in diesem Band). Der auf den ersten Blick tragische Konflikt mündet in die Situation einer Ausweglosigkeit, wie sie bereits Aristoteles als Grund für das Lachen der Komödie ausgemacht hat: Der Ich-Erzähler hat Mühe, über ein „so komisches Element [...] das Gelächter zurückzuhalten“ (1092). Anmut/Grazie hebt sich auf, sofern sie bezweckt und verfertigt werden soll – bei Schiller aus ästhetisch-definitorischen Gründen, weil es sich dann um „Ziererei“ handelte – „Grazie hingegen muss jederzeit Natur [...] sein, und das Subjekt darf nie so aussehen, als wenn es um seine Anmuth wüsste“ (269) – ; bei Kleist hingegen in einem sarkastischen Sinne real, wie er sich in dem performativen Widerspruch von Forderungen wie „Sei spontan!“ verdeutlicht und eine Hypothek für jegliches Erziehungsprogramm darstellt, worauf noch zurückzukommen sein wird. Der Bericht der dritten Episode, nunmehr wieder vom Tanzmeister „C.“ vorgetragen, handelt von einem Wesen, welches jener Dilemmatik enthoben scheint: einem in der Fechtkunst versierten Bären, dessen Meisterschaft selbst derjenigen des Tanzmeisters mit seiner hochentwickelten Körperbeherrschung sowie einer Bewusstseinsführung, die sich nicht nur auf die Aktionen selbst, sondern auch auf eine deren Gelingen sichernde Beeinflus-

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sung der Interaktion der Kämpfenden durch Finten, List und Täuschung bezieht, völlig überlegen ist. Indem der Bär zu seinem Gegner nicht in einem bewusst-vermittelnden Bezug steht, vermöge dessen er seine Reaktionen wenn auch blitzschnell zu planen in der Lage wäre, sondern „Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte“ (1094) jeden Schlag und jede Finte als solche unmittelbar erfassend und daher angemessen oder gar nicht agierend (nicht reagierend), wird er zum Sinnbild „strahlender und herrschender“ Grazie, die in dem Maße hervortritt, „als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird“ (ebd.). Wir finden hier sozusagen Flexion statt Reflexion, die vollkommene Integration der Funktionen in einen Gesamtzusammenhang des Agierens, die dem Bären gegeben, dem Fechter „C.“ hingegen verstellt bleibt. Wagt man den Vergleich mit Oskar Schlemmers Figurinen des „Triadischen Balletts“, deren Funktionsmechanismen und Kraftschlüsse explizit reflexionslos den Bewegungsraum aufspannen und in diesem nicht irritiert werden können, weil alles einer Naturgesetzlichkeit unterliegt, die vorgestellte Ziele nicht kennt und deshalb auch kein Verfehlen, so scheint derlei auch hier vorfindlich, ergänzt um die wesentliche Komponente des Lebens (siehe hierzu den Beitrag von Petra Gehring in diesem Band), welches auf Selbsterhaltung aus ist – bildlich: auf Erhalt der vis motrix in sich selbst, dem „Schwerpunkt“. Für eine solche Verfasstheit, die nicht eines vorstellenden Denkens entbehrt, sondern dergleichen gar nicht nötig hat, gelte: „Wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, [findet sich] die Grazie wieder ein; sodass sie zu gleicher Zeit in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann oder in dem Gott.“ (Ebd.) Der Bär scheint beides zu verkörpern, und der nunmehr „ein wenig zerstreute“ Ich-Erzähler mutmaßt, dass „wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen“ müssten, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen. Jenes „letzte Kapitel von der Geschichte der Welt“ wäre also nicht durch potenzierte Reflexion im Modus des Erkennens, sondern durch deren Erübrigung qua Einsicht in die jenen Anspruch verfehlende Verfasstheit von Erkennen überhaupt erreichbar. Sehen wir hier ein utopisches Ideal oder seine Verabschiedung? Auf den ersten Blick bieten sich hier drei Deutungsoptionen an, für die sich jeweils in der Rezeptionsgeschichte entsprechende Fraktionen ihrer Verfechter finden: Auf der Linie von Hegels Generalkritik an den Kleistschen Figuren als Aufweis einer „Aufopferung der Mündigkeit des Men-

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schen“ zugunsten des „Magnetischen“ und des „Somnambulismus“ (SW 13, 198) wird eine Versöhnung von Grazie und Bewusstsein nicht durch Negation des Bewusstseins, sondern im „Durchgang der Erkenntnis durchs Unendliche“ dahingehend in Aussicht gestellt, dass ihre Absolutheit nicht im Erreichen eines Zustandes, sondern in der Vergewisserung über die Verfasstheit der Vernunft als „Trieb“ läge (Hegel in den Schlusspassagen der „Phänomenologie des Geistes“ und der „Wissenschaft der Logik“), welche das niemals abgeschlossene Projekt der Moderne ausmacht. Zweitens verlockt die Utopie wiedererreichbarer Unmittelbarkeit zur Proklamation einer Rückkehr hin zu paradiesischer Ursprünglichkeit qua expliziter Negation von Erkenntnis im Dienste der Selbstverwirklichung – der Zug einer Antimoderne mit ihrer Zivilisationskritik, die das Authentische in archaischer Triebhaftigkeit verortet und entsprechend ihre Residuen wie Eros und Kampf zu Idealen nicht entfremdeten Agierens adelt. Drittens ließe sich, bestimmten Darstellungszügen der Kleistschen Schrift folgend, die DreiStadien-Lehre insgesamt „dekonstruieren“: als Signatur von Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit angesichts derer der Ich-Erzähler zu Recht „zerstreut“ ist und sich in eine Position gerückt sieht, die jenseits eines Projekts unabgeschlossener Moderne oder eines Ideals einer Antimoderne sich als „Postmoderne“ begreifen mag.

4. Die Spannung zwischen der ersten und zweiten Deutungsoption wird in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ paradigmatisch vorgestellt und als Ausgangspunkt einer Entwicklung des Komponisten Adrian Leverkühn präsentiert, der nicht nur den Künstler im buchstäblichen Sinne personifiziert, sondern – als Doktor Faustus – das (gesellschaftliche) Subjekt überhaupt, welches als Autor seiner Verwirklichung in Freiheit auftreten können soll. In dem unter der geistigen Mentorschaft Adornos konzipierten Roman finden sich zahlreiche explizite Verweise auf Kleists „Marionettentheater“, zentriert um die Thematik des „Durchbruchs“ und der „Erlösung“ als Einheit von „Konstruktion“ als „Ordnung“, die nichts Zufälliges mehr an sich hat, und „Ausdruck“ der „Spontaneität“ als natürlichem, ungekünsteltem Weg der Seele in einem noch nicht verriegelten Paradies der Unmit-

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telbarkeit, die durch nichts gestört ist: keinen heteronomen Kriterien, Determinanten, Hemmnissen. Im Kapitel 22 wird das Ausgangsproblem mit Blick auf die Idee der klassischen Moderne, verkörpert in der Kunst des Expressionismus, entwickelt. Wie ein „Meltau“ habe sich die Subjektivität allem bemächtigt, sich über alles gelegt; Freiheit sei zur Sterilität der Beliebigkeit geronnen (1947/ 1967, 190); Subjektivität als Subjektivismus führe zur Gleich-Gültigkeit im buchstäblichen Sinne und zerstört damit jegliche Autorschaft, die nun nicht mehr mit Geltungsanspruch auftreten kann (85). Wahre Freiheit müsse sich im Gegensatz hierzu der Organisation bemächtigen. In der organisierenden Arbeit an einem vorgegebenen Material – in der Musik als Arbeit der „Durchführung“ gesetzter Themen oder als „entwickelte Variation“ gegebener Ausgangspunkte – manifestiere sich Subjektivität als Umgang mit Regeln unter Regeln, die allererst erlauben, diesen Umgang identifizierbar zu machen und zu verorten. Idealiter erscheint dann Freiheit als Prinzip „allseitiger Ökonomie“ (ebd.): Es gibt nichts Unthematisches oder Zufälliges mehr; alles ist als bestimmte Ableitung im frei gewählten logischen Raum und somit als Ausweis der Autorschaft erkennbar; jegliche Äußerung der Spontaneität erscheint erst und gerade dadurch, dass sie verortet ist. Diese Einheit von expressiver Geste und immer wieder korrigierter technischer Gestaltung bis hin zur Bastelei ist im Spätwerk Beethovens sowie im Brahms’schen Konstruktivismus vorfindlich; in kühner Verallgemeinerung wird sie als Prinzip kapitalistischen Wirtschaftens sowie moderner Kriegsführung herausgestellt (307 – letzteres wohl in bewusster Absetzung von der Diagnose Georg Simmels, der in zynischer Ignoranz vor der Kriegsmaschinerie einzig die individuelle Aktion des Kämpfers als Ausweis nicht entfremdeten und authentischen Selbstverhältnisses erachtet, Simmel 1999, 40). Wie sollte aber Freiheit als Prinzip allseitiger Ökonomie von einem Subjekt als Künstler, Techniker, Politiker, Unternehmer realisiert werden können? Die ironische Auseinandersetzung mit diesem Postulat und einer DreiStadien-Lehre, die den Weg zu seiner Erfüllung beansprucht, findet sich eben in derjenigen Schrift niedergelegt, nämlich Søren Kierkegaards „Entweder – Oder“, in die Adrian Leverkühn vertieft ist, als sich ihm der Mephisto in verschiedenen Gestalten präsentiert (223). Neben der letzten Gestalt als Intellektueller, der unübersehbar die Physiognomie Theodor W. Adornos trägt und den Weg einer unvollendeten Moderne skizziert, er-

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scheint der Teufel zunächst als Advokat einer Antimoderne, einer Rückkehr in den Stand der Unmittelbarkeit und Unschuld: „Wir bieten Beßres [...], nicht mehr das klassische [...] sondern das Archaische, Urfrühe [...], von tötender Verstandeskontrolle ganz uneingeschränkte Begeisterung [...] heilige Verzuckung [...]“ (237 f.). Bei seinem euphorischen Plädoyer für die Authentizität unmittelbarer Triebhaftigkeit und ihrer Erfüllung tritt der Teufel freilich im Gewande eines Zuhälters auf. Seine Position als Loddel, der mit der „Unmittelbarkeit“ Geschäfte macht, verweist performativ darauf, dass er längst das Triebhafte als Ursprüngliches verabschiedet und angesichts der zivilisatorischen Verfasstheit der Gesellschaft die Ventilfunktion der Triebbefriedigung als geordnetes ökonomisches Geschehen anerkannt hat (in dem Sinne, wie der Kulturpessimist Hans Freyer in seiner Kritik an den „sekundären Systemen“ der technischen Zivilisation die Technisierung der Triebentfaltung und -befriedigung im Rahmen entsprechend organisierter Vergnügungen als unverzichtbares und konstitutives Element der Erhaltung des Funktionszusammenhangs beklagt hat, Freyer 1955, 60 f.). Jene Teufelsposition mit ihrer antimodernen Interpretation der Drei-Stadien-Lehre findet sich im „Doktor Faustus“ bereits vorbereitet im einschlägigen Gespräch des Kapitels 8: „Für ein Kultur-Zeitalter scheint mir eine Spur zu viel die Rede zu sein von Kultur in dem Unsrigen, meinst du nicht? Ich möchte wissen, ob Epochen, die Kultur besaßen, das Wort überhaupt gekannt, gebraucht, im Munde geführt haben. Naivität, Unbewusstheit, Selbstverständlichkeit scheint mir das erste Kriterium der Verfassung, der wir diesen Namen geben. Was uns abgeht, ist eben dies, Naivität, und dieser Mangel, wenn man von einem solchen sprechen darf, schützt uns vor mancher farbigen Barbarei, die sich mit Kultur, mit sehr hoher Kultur sogar, durchaus vertrug. Will sagen: unsere Stufe ist die der Gesittung, – ein sehr lobenswerter Zustand ohne Zweifel, aber keinem Zweifel unterliegt es auch wohl, dass wir sehr viel barbarischer werden müssten, um der Kultur wieder fähig zu sein. Technik und Komfort – damit redet man von Kultur, aber man hat sie nicht“ (62). Im Kapitel 30 findet sich die Problematik reformuliert und radikalisiert: Zum Kriegsausbruch 1914 verabschiedet sich der Berichterstatter von Adrian Leverkühn; dieser liest nun gerade Kleists „Über das Marionettentheater“. Wiederum stehen die Bemerkungen unter dem Leitmotiv des „Durchbruchs“ (307, 309). Leverkühn fragt: „Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling?“ Wie ist die Antigravität zu verwirklichen, das Sich-

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Entheben von äußerer Bestimmung, die Stürze und Ungelenkigkeit, Ruhebedarf und Kraftschöpfen, Fehlleitung und Zielverfehlung bedingt? Leverkühns Werkbiographie in dieser Phase führt vor, dass er den Konflikt austrägt, aber noch nicht löst: Die „Kosmos-Sinfonie“, betitelt mit „Wunder des Alls“ – zu lesen als Allegorie jener „allseitigen Ökonomie“ – soll nicht wie ursprünglich geplant als Ballett, sondern bloß konzertant aufgeführt werden. Die explizite Absage an das Ideal vollkommener Verwirklichung zugunsten einer Reduktion auf rein bewusstseinsmäßigen (Nach)vollzug in den Grenzen eben dieses Bewusstseins macht, wie Kierkegaards „Ethiker“ oder Max Frischs „Stiller“ aus der Not eine Tugend. Das weitere Werk, die „Gesta romanorum“ werden hingegen explizit als Ballett konzipiert, jedoch als Ballett nun direkt für Gliederpuppen und führen entsprechend einen „stillen Satanismus“ vor, demgegenüber eben gerade diejenigen Haltungen und Deutungsoptionen offen bleiben, mit denen Kleists Schrift uns konfrontiert. Beide Werke sind durch „kalkulatorische Kälte“ geprägt: Ersteres durch die Reduktion auf Bewusstsein, letzteres durch die Reduktion auf blinden Mechanismus. Ein Umschlagen kalkulatorischer Kälte in „expressiven Seelenlaut“ gelingt Adrian Leverkühn in seiner großen Komposition „Doktor Fausti Weheklag“ (Kapitel 46). Dem Impuls folgend, den ihm Mephisto in der Gestalt des Adorno gegeben hat, welcher eine Lösung des Konfliktes in Gestalt einer Negation beider Seiten vorsieht, verfasst Leverkühn seine Klage: Er konzipiert sie als „Echo“ (auf die Potenzierung der „Echo“-Figur in dem Roman kann hier nicht eingegangen werden), und er verfasst das Echo als Zurückgeben des Menschenlautes als Naturlaut und umgekehrt seine Enthüllung als Naturlaut qua Rückgabe durch die Natur. Die Klage ist die Signatur eines Projekts der Moderne als negativer. In ihr ist dasjenige Natürliche und Unmittelbare aktiviert, über welches sich das konstruktive Bewusstsein gelegt hat; dessen Begrenztheit wird nicht vorgestellt und ihrerseits zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht, sondern unmittelbar – klagend – ausgedrückt. Der Weg der Seele wird als solcher ex negativo in seinem Scheitern enthüllt und bleibt dahingehend natürlich; umgekehrt führt seine Entäußerung in eins mit der dokumentierten Autorschaft jener Konstruktion, an der er sich entäußert, dazu, dass die „Natur“ in Gestalt des Echos antworten kann: Sie meldet sich als Instanz eines der begrenzten menschlichen Erkenntnis Jenseitigen zurück und verdeutlicht zumindest die Möglichkeit einer Bezugnahme auf etwas, was sich jenseits einer erkennt-

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nismäßigen Bezüglichkeit als Anderes präsentiert (485). Ex negativo zeichnet sich damit die Möglichkeit einer Harmonie ab, die ihrerseits jedoch nicht positiv verfasst ist, sondern dem „Schmerz als Motor des dialektischen Gedankens“ (Adorno 1970, 200) dasjenige unbestimmt vorstellt, worauf er in seiner Suche nach Aufhebung und Vergehen zielt: dasjenige, von dem wir wünschen, dass es verweile, weil es so schön ist – das Glück. Diese Unendlichkeit, deren Bild nur ex negativo entsteht, findet sich im Musikalischen in den eingesetzten Mitteln der Barockrhetorik mit ihrer Klageund Echo-Motivik, den Madrigalen mit ihren Komponenten als Zeitlosigkeit anmutender Wiederkehr wie insgesamt in der auf äußerster Konstruktion basierenden Musik Monteverdis (487), deren Konstruktivität gleichwohl nicht diejenige eines als Techniker auftretenden Komponisten ist, der bloß seinen subjektiven Ausdruck organisiert. Die in der Weheklag vorfindliche „Geburt der Freiheit aus der Gebundenheit“, „Wiedergewinnung des Ausdrucks aus dem Konstruktiven“ ist eben eine Wieder-Gewinnung, die nur dann möglich ist, wenn der Ausdruck sich nicht zu einem angemaßter positiver Freiheit versteigt, sondern sich als „Naturlaut“ in der Konstruktion angesichts der Konstruktion ausweist (485). Seine Negativität als Klage rettet ihn davor, in die Fetischisierung oder Hypostasierung einer zuhälterhaften Pseudo-Unmittelbarkeit zurückzufallen. Eine positive Unmittelbarkeit ist ja längst verloren. Nur in der Klage drückt sich das Verhältnis einer ersten Natürlichkeit zur zweiten Natur der Konstruktion aus – eine Harmonie zwischen beiden ist weder durch Verzicht auf Reflexion (Antimoderne) noch als Utopie vollkommener Verwirklichung (klassische Moderne) zu begründen.

5. Jenseits der bisher aufgewiesenen Dichotomie und jenseits ihrer Lösung als negativ gefasste Harmonie in Gestalt der Klage, die die Natur als Echo zurückgibt, findet sich nun die Sichtweise, welche im Rahmen der von vielen als eine der Gründungsschriften der sogenannten Postmoderne erachteten Abhandlung entwickelt wird: Paul de Mans Aufsatz „Ästhetische Formalisierung: Kleists ‚Über das Marionettentheater‘“ von 1984 unternimmt eine Lektüre des Textes als Dekonstruktion von Schillers Aufsatz „Über Anmut und Würde“ und dekonstruiert diese Dekonstruktion ihrerseits. In – zug-

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ebenermaßen grober – Vereinfachung kann man „Dekonstruktion“ als ein Verfahren begreifen, welches die Gültigkeitsansprüche von Zeichen, also die semantische Dimension, danach validiert, was sich an performativen Effekten in und an einem Text zeigt, also vorgeführten Korrespondenzen verstärkender, relativierender, modifizierender, kontrastierender oder konfligierender Art. Die Abstraktheit der Relation von Zeichen, Begrifflichkeiten und Propositionen auf ihren Referenzbereich („Welt“) wird unterlaufen und zurückgeholt auf eine Dimension von Effekten dieser Welt, die jene semantischen Konstruktionen konterkarieren, sich aber ebenfalls nur zeichenförmig manifestieren. Wir sehen uns also – folgt man diesem Zugang – einer insgesamt zeichenmäßig verrätselten Welt gegenüber, deren Zeichendimensionen (semantisch oder performativ) ineinander wirken. Kleists Text wird von Paul de Man zunächst als Dekonstruktion der Schillerschen Abhandlung gelesen, durchaus in zunächst semantischer Übereinstimmung des Schillerschen Befundes, dass Ziererei eine Degenerationsform von Anmut/Grazie und Gravität eine Degenerationsform von Würde sei. Dieser Übereinstimmung folgend wird gefragt, wie Gravität und Ziererei vermeidbar seien, wobei die im Schiller-Text immer wieder und in unterschiedlichster Formulierung affirmierte These, dass eine Pflichtbefolgung in der Haltung unbewusster Moralität (s. hierzu den Beitrag von Christoph Halbig in diesem Band) gerade Grazie und ästhetische Vollkommenheit evoziere, radikal interpretiert wird, und zwar dahingehend, dass das Fehlen oder die Überwindung von Bewusstsein mit seinen Grenzen dann doch eben diese ästhetische Vollkommenheit bedingen müsste. Diese These fände sich nun im Kleistschen Text inszeniert im Rahmen einer vorgeführten Belehrung als „Vermittlung des Besitzes von allem, was nötig ist, dies zu begreifen“, die freilich als „hermeneutisches Ballett“ (Paul de Man 1988, 224) auftrete. Dieses Ballett umfasse quasi-mathematische Modellierungen, die äußerst problematisch sind, die Bereitstellung bestimmter Begrifflichkeiten sowie eine Serie der Veranschaulichung an Beispielen, welche ihrerseits das Ergebnis der Dekonstruktion des Schillerschen Textes in einem seltsamen Lichte erscheinen lassen. Denn die szenischen Ereignisse als Vorführung der Umstände und die Aktionen und Reaktionen der Gesprächspartner sowie die eingesetzten Mittel einer Rhetorik der Persuasion problematisieren gerade die „Hermeneutik“ (211), den Sinn der Begrifflichkeit und die Gültigkeit der Präpositionen der Persuasion. Sie tun dies als kolportierte Ereignisse der Rahmenerzählung selbst als auch in

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Gestalt der Ereignisse, die in den Erzählungen vorkommen, die die Tanztheorie illustrieren (erste Episode), den Verlust der Anmut beim Jüngling (zweite Episode) und die Fechtkunst des Bären (dritte Episode). Was hier geschildert wird, ist, von der Ereignishaftigkeit her gesehen, nicht weniger irritierend als die Begebenheiten der Rahmenerzählung. Kein Wunder also, dass nicht nur der Ich-Erzähler angesichts jener Ereignisse am Ende „ein wenig zerstreut“ zurückgelassen wird (angesichts der Dekonstruktion des Schillerschen Textes), sondern dass auch wir selbst verwirrt werden, wenn uns der Kleistsche Text seine Dekonstruktion regelrecht aufnötigt. Die agonalen Szenen des Erziehens (des Ich-Erzählers durch „C.“ mit ihrer Pseudo-Mathematik und -Physik, des Jünglings mit Blick auf das Kunstwerk, des „C.“ angesichts der Bärennatur) sind verwirrend, weil die Referenzinstanzen und Vorbilder Mathematik, Kunst, Natur in bereits sehr problematischer Verfasstheit vorgestellt werden. Betrachten wir zunächst mit Paul de Man die Ereignisse der Rahmenerzählung: Paul de Man sieht hier gewisse vorgetragene Affirmationen, die – hermeneutische Dimension – die Gültigkeit des Berichteten betonen und authentifizieren sollen, gleichwohl in ihrer Verfasstheit genau diesen Aspekt verfehlen. Beginnend mit der Datierung auf M.(ainz), wo sich Kleist erst 1803 aufhielt, und gleichwohl doch die Kant-Krise von 1801 reflektierend, fände sich hier eine erste Signatur der Vermischung von Authentizität und Fiktionalität (225). Verstärkt wird dieser Eindruck durch die kontraintuitive Schilderung beziehungsweise Inszenierung, die angesichts der seltsamen Erzählungsinhalte die Glaubwürdigkeit der Erzähler betonen sollen: Der zustimmende Wechsel der Blicke und Gesten, die freudigen Versicherungen, die immer wieder proklamierte Selbstverständlichkeit des Vorgetragenen sowie die Emphase des wechselseitigen Applauses, die proportional zur Unwahrscheinlichkeit des Kolportierten steigt, relativieren sich, indem die Affirmation sich selbst regelrecht als Substitut der Glaubwürdigkeit entlarvt (216). Ferner wird der Ablauf als lockere Reihe von Einfällen präsentiert („bei dieser Gelegenheit [...]“), gleichwohl das Konstrukt als eines herausgestellt, welches „mehr als ein bloßer Einfall“ sei (232). Und schließlich wird die Idee einer wiederzugewinnenden Unschuld selbst durch ein Argumentationsgeschehen unterfüttert und verliert damit genau jene Unschuld aus dem Fokus, weil sie im Modus des Erkennens unter Verweis auf die Mathematik als deren sicherster Gewährsinstanz eine Erkenntnisform vorführt, die in ihrem Modellierungsgehabe wohl am weites-

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ten von der unmittelbaren Weltbezüglichkeit des Bären als Ideal entfernt ist. Die Reihe dieser Befunde ließe sich fortsetzen und wird von Paul de Man genüsslich ausgebreitet. In den kolportierten Berichten selbst, in denen sich jeweils eine Lehrerposition vorfindet („C.“, dann der Ich-Erzähler, schließlich in gewisser Hinsicht der Bär selbst) finden sich ebenfalls performative Inkonsistenzen, die die beanspruchte Sinndimension bezüglich ihrer Gültigkeit konterkarieren: Aus dem Marionettendialog der ersten Episode sei an dieser Stelle (mit Paul de Man) nur auf den problematischen Einsatz der Mathematik verwiesen, der, am Ende der Schrift wieder aufgenommen, fast schon parodistische Züge trägt und jedem gebildeten Leser die gesamte Veranstaltung als Pseudo-Seminar erscheinen lässt. Analoges gilt für die vom Ich-Erzähler vorgenommene lehrerhafte Prüfung des Jünglings am ästhetischen Vorbild, dessen Uneinholbarkeit einerseits die Grenzen bewusster Handlungsplanung aufweisen soll, andererseits aber ungewollt doch die von Kleists Absicht her inkriminierte Schillersche These bestärkt, dass nur ein nicht strategisch konzipierter Vollzug der Pflicht jene Anmut ursprünglicher, naiver Moralität mit sich führt. Obwohl emphatisch begrüßt, vertieft doch der Bericht dieser Episode den Hiatus zwischen Technik und Unbewusstheit, wie er sich zwangsläufig jedem Menschen darbietet, von dessen Positionalität sich die beiden Dialogpartner gleichwohl in wechselseitiger Versicherung emanzipieren wollen, indem sie über die Vollkommenheit unbewusster Technik schwadronieren. Und in der dritten Episode wird der Bär, der angeblich nicht über ein bewusstes Erkennen verfügt und somit nicht in dessen Grenzen verhaftet ist, sehr wohl als Bewusstseinsträger präsentiert, und zwar als Träger eines Lehrerbewusstseins, mittels dessen er die Seele von „C.“ lesen kann (223 f.). Seine Verfasstheit soll mithin sowohl diejenige eines höchsten Bewusstseins als auch diejenige eines Nicht-Bewusstseins sein, was sich nicht mit der Metaphorik positiver Unendlichkeit als bestimmter Negation von Endlichkeit (Un-Endlichkeit) deckt, sondern allenfalls mit einem Konzept von Nicht-Endlichkeit als dem Definitionsbereich von Endlichkeit/Unendlichkeit enthoben (analog der Unterscheidung von unmoralisch zu amoralisch). Jenseits der hermeneutisch-begrifflichen Bemühungen in Form von Verdeutlichungen, Erklärungsleistungen, und Gedankenverkettungen in Gestalt von problematischen ex negativo-„Beweisen“ wird untergründig das Paradox vorgeführt, welches dann entsteht, wenn eine Erziehung zur Vollkommenheit als unschuldiger Unmittelbarkeit

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im Modus der Erziehung vorgenommen werden soll. Eine solche ist nämlich auf den Verweis auf Autoritäten angewiesen, die allesamt – als bewusste – selbst im „zweiten Stadium“ zu verorten sind: den Tanzmeister, drittpersonale Berichter und Zeugen und schließlich sogar den Bären selbst, über den nicht anders geredet werden kann als in anthropomorpher Modellierung seiner geistigen Verfasstheit als „lesendem“ Bewusstsein, welches eben besser ist als dasjenige des „C.“ und als graziös/reflexionsloses gerade nicht (mehr) beschreibbar wäre. Was Kleist also mit Schiller gegen Schiller einzuwenden hat, dass nämlich Erziehung zur Vollkommenheit nicht als Erziehung auftreten kann – weil Schiller einerseits die Anmut als unbewusste Moralität charakterisiert und andererseits über die ästhetische Erziehung des Menschen handelt –, gilt für das Gegenkonzept ebenfalls, welches möglicherweise dasjenige von Kleist ist, angesichts von dessen Darstellungskunst gleichwohl eine gewisse Distanzierung verrät: Die performativen Widersprüche im Dialoggeschehen als auch die performative Widersprüchlichkeit der berichteten Begebenheiten, welche in den sich selbst konterkarierenden Berichtsereignissen zu Tage tritt, desavouieren sowohl das Erziehungsziel als auch den avisierten Weg zu seiner möglichen Erfüllung. Aus der Sicht eines unvollendbaren Projekts der Moderne kann Vollkommenheit nur ex negativo, als negative Utopie, stehen, vermittelt über die Figur des Schmerzes und der Klage als immanenter Vergewisserung über die performative Widersprüchlichkeit jeglicher Ökonomisierungsbemühungen, seien es solche der Kunst, des Wirtschaftens oder der Erziehung: Sie erscheint allenfalls als „Seismogramm des Untergangs“ und in dieser Form allenfalls als verschlüsselte Botschaft, als „Chiffre des Potentials“ dessen, was anders sein könnte (Adorno 1973, 56). Aus postmoderner Sicht hingegen bleibt lediglich die Option einer „Emanzipation“ von jeglicher Art eines Fortschrittsdenkens und seiner Illustration im Rahmen von Fortschrittserzählungen. Es bliebe dann im striktesten Sinne geltungsmäßig Nichts, seien es die Häufung von Kontingenzen, die quietistisch-gleichgültig zu registrieren wären, sei es ein Dezisionismus, der sich immerfort selbst ironisch zu relativieren hätte und allenfalls seine Absurdität ausleben könnte. Es sei denn, die sogenannte Postmoderne erwiese sich zu Unrecht als Allgemeinbegriff, weil manche ihrer Vertreter nichts anderes darunter verstehen als einen Rückgriff auf Archetypen, der über ihre bloße Zitation hinausreicht und vergessene Schätze moderner Welterschließung wieder

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hebt. Dies etwa in Gestalt einer Rückkehr zu alten Technologien in modernem Gewande, die auf anderen Naturverhältnissen beruhen als denjenigen, die sich im Zuge interventionistisch-technischer Modellierung gebildet und entsprechend verengt haben: So etwa Paolo Portoghesis Verweis auf Antriebstechniken wie das Segeln in entsprechender Optimierung für große Schiffe (1981/2010, 91) oder alternative Verfahren der Energiebereitstellung. Was anderes sollte dies aber sein als etwas „typisch Modernes“, sofern man die Nutzung regenerativer Energien als „fortschrittlicher“ versteht?

6. Der Unterschied ist einer der Haltungen und einer diesen Haltungen verpflichteten Erziehungsprogramme. Exemplarisch für eine Alternative scheint mir Jean Pauls „Titan“ zu sein, der „Anti-Bildungsroman“ (Wolfgang Harich 1974). Auch dessen Held, Albano, das weiße, unbeschriebene Blatt, hat sich abzuarbeiten an vielerlei Bildungsangeboten, innerhalb derer sich ihm ein Vorbildhaft-Erhabenes letztlich doch immer wieder als eines relativ zu einer „zweiten Natur“ erweist. Für ihn gilt zunächst: „Die erste Reise, zumal wenn die Natur nichts als weißen Glanz und Orangenblüten und Kastanienschatten auf die Straße wirft, beschert dem Jüngling das, was oft die letzte dem Mann entführt – ein träumendes Herz, Flügel über die Eisspalten des Lebens und weit offene Arme für jede Menschenbrust“ (JPW III, 18) – dass also das gleichzeitige Blühen und Früchtetragen der Orangen und die Beweglichkeit der Schatten Zeitlosigkeit, Unbegrenztheit und Wiederkehr suggerieren. In der Emphase, in der er nun seine Naturverhältnisse eingehen und sich bilden will, wird er immer wieder genarrt, zurückgeworfen, bis zur Verzweiflung irritiert. Nachdem die Natur für ihn zunächst nur Projektionsfläche ist – er „vermengt“ den „Umkreis des Auges“ mit dem „Umkreis des Herzens“ (Isola Bella) – und er hin- und hergeworfen und entsprechend überwältigt wird von Anmutungen des Schönen und Erhabenen, führt ihn sein Bildungsweg zu gestalteten Naturverhältnissen: dem Garten (Lilar) als mit Unendlichkeit umgebener Natur und einer entsprechenden Erfahrung des Erhabenen ex negativo aus der Perspektive der Sehnsucht; den Ruinen (Tartarus) als Inszenierungen, in die die erste Natur wieder einbricht und

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als „Schaugericht“ irritiert; dem Forum Romanum, eingebettet in eine Natur, welche es „in die Ewigkeit zurückholt“, und schließlich dem VestaTempel Tivolis, der von der Natur „bekränzt“ ist und zu dessen Füßen ein Katarakt als Sinnbild der Naturkraft auch und gerade in Gestalt ihrer Nährkraft entspringt. Denn genährt werden hier Oliven, Feigen und Reben, und eine solche Natur eröffnet die Option einer Harmonie für denjenigen, der sich in politischer Absicht ihrer Gestaltungskraft anschließt und ihr in seinem Gestalten folgt. Es geht um das Ideal politischen Handelns als sinnvollem Einsatz von Kraft eingedenk ihrer Begrenzung in den „Eisenschranken der Notwendigkeit“ (III, 665). Schwester Linda bezichtigt ihn hier explizit des Verrats, weil ihrer Ansicht nach doch „nicht große Taten“, sondern nur „ein großes Leben“ (III, 663) maßgeblich sein müssten und nicht wie jetzt für Albano gelten dürfe „so wenig der Mensch dem Menschen, ein Menschenbild [...] ihm mehr und jede kleine Zukunft“ sei. Postwendend wird sie von Albano selbst als „Brutus“ betitelt. Albano nimmt mithin diejenige Perspektive vorweg, unter der später Kierkegaards „Ethiker“ (gegen die Vollkommenheitsutopie des „Ästhetikers“) oder Max Frischs Stiller (vom Künstler zum Handwerker) ihre Harmonie gefunden haben. Und in satirischer Überspitzung wird am Ende mit Fichtes Programm (ineins mit demjenigen seines „Generalvikars und Gehirndieners Schelling“) abgerechnet: Wer sich derlei anschließe gleiche „jenem betrunkenem Kerl, der sein Wasser in einen Springbrunnen hineinließ und die ganze Nacht davor stehen blieb, weil er kein Aufhören hörte und mithin alles, was er fort vernahm, auf seine Rechnung schrieb“ (III, 766). Gibt es eine schönere Parodie auf die „unendliche Bewegung“ einer „ungestörten“ vis motrix? In der Tat sind wir dazu verurteilt und „können nicht anders“ als „jede Tat wie eine Statue vorher im elenden Wachs der Worte [zu] modellieren“ (III, 662 – eine Anspielung auf die zweite Kleistsche Episode?). Erweis der Freiheit freilich ist eben Albanos Frage danach (ebd.). Wer sich zu dieser Frage entwickelt und dennoch in den „Eisenschranken der Notwendigkeit“ handelt, Harmonie mit einer nützlichen und schmückenden Natur suchend („Wein und Öl in Blütendüften“, III, 665) hat eine Stufe erreicht, die sich eben nicht im Drei-Stadien-Konzept verorten lässt.

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L ITERATUR Adorno, Th. W. (1970), Negative Dialektik, Frankfurt/M. Ders. (1973), Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. Benjamin, W. (1925), Ursprung des deutschen Trauerspiels, Berlin Cassirer, E. (1924/1971), Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, in: ders., Idee und Gestalt, Darmstadt Dotzler, B. (1999), MarionettenTheaterSzenen. Von Kleist bis Virilio: Polare Machtverhältnisse, in: R. Maresch/N. Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt/M. Freyer, H. (1955), Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart Harich, W. (1974), Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer neuen Deutung seiner heroischen Romane, Berlin Hegel, G. W. F. (1957), Sämtliche Werke, hg. v. Glockner, Stuttgart Hoffmann, E. T. A. (1967), Briefwechsel Bd. II, hg. v. F. Schnapp, München Hoffmannsthal, H. von (1955), Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa IV, hg. v. H. Steiner, Frankfurt/M. Jean Paul (1961), Werke, Dritter Band, hg. v. N. Miller, München 1961 [JPW III] Kleist, H. von (o. J.), Sämtliche Werke, hg. v. P. Stapf. Tempel Klassiker München [SW] Man, P. de (1988), Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. Mann, Th. (1947/1967), Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Frankfurt/Hamburg Plessner, H. (2000), Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart Portoghesi, P. (1981), Die Wiedergeburt der Archetypen, in: Contra spazio, Nr. 1-6, dt. Arch+ 63/64 2010, 89-91 Schiller, F. (1962), Über Anmuth und Würde, Schillers Werke Nationalausgabe, Bd. 20/1 Philosophische Schriften, hg. v. B. von Wiese, Weimar Simmel, G. (1999), Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, in: Gesamtausgabe Bd. 6, hg. v. G. Fitzi/O. Rammstedt, Frankfurt/M. Solger, K. W. F. (1815), Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst, Berlin

Der Mensch als „das noch nicht festgestellte Tier“? Plessner und Kleists Über das Marionettentheater F RANCESCA M ICHELINI

E INLEITUNG Nach Hanna Hellmanns berühmter Interpretation des Marionettentheaters von 1911 – die bekannterweise neben der Wiederentdeckung des Werkes auch zu seiner philosophischen Interpretation geführt hat – hat Kleist in seinem Werk eine Art „Philosophie der drei Stadien“ nach romantischem Modell formuliert.1 Wenn auch „mit persönlicher Modifikation“, so repräsentiert doch die Konstellation der Trias von Marionette, Mensch und Gott eine Parallele zu den „drei Stufen der Entwicklung, welche die Romantik nicht müde geworden ist, wieder und wieder aufzubauen“2. Der von Kleist in seinem Aufsatz eingenommene Standpunkt wäre so mit Friedrich Schlegels drei Erscheinungsformen des Göttlichen oder mit Schellings drei Momenten in der Geschichte des Selbstbewusstseins verwandt: „[D]as Ich zunächst in seiner bewusstlosen Tätigkeit […]. Sodann das Ich, das von der Anschauung zur Reflexion sich wandelt […]. Als

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H. Hellmann, Über das Marionettentheater, in: H. Sembdner (Hg.), Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen, Berlin 1967, S.17–31.

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Ebd., S. 17.

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Höchstes schließlich das Ich in seiner Freiheit, im Bewusstsein, die ursprüngliche Identität, das Subjekt-Objekt -Verhältnis der niedersten Stufe nun auf der höchsten wiederhergestellt, im Geiste, das Genie“3. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Novalis und in Schillers Kant-Auslegung und seiner Bezugnahme auf Rousseaus Idee der Unmöglichkeit der Rückkehr zum Ausgangsstadium, weil „der Naturzustand der Zustand des instinktmäßigen Gleichgewichts, nachdem er einmal durch Reflexion zerstört ist, nicht auf der alten Stufe wieder herzustellen“4 sei. „Ein sehr Verwandtes“ – so schließt Hanna Hellmann – „scheint mir überall: Thesis, Antithesis, Synthesis“5. Im Rahmen dieser Interpretation scheinen Kleists Position im Marionettentheater und der in diesem Text vorgefundene Entwurf einer Subjektivitätstheorie nicht viel mit der Philosophie eines Denkers wie Helmuth Plessner und mit dem im Mittelpunkt seiner Anthropologie stehenden Versuch, die menschliche Natur zu verstehen, gemeinsam zu haben. Plessners philosophische Reflexion zielt nämlich darauf ab, eine Subjektivität zu umreißen, die sich nicht durch eine Synthese wieder zusammenfügen lässt, sondern die auf immer zerbrochen ist oder die, besser gesagt, im Inneren eines Bruchs lebt und von sich selbst abscondita ist, die – um Plessners berühmten, aber oft missverstandenen Ausdruck zu verwenden – ganz exzentrisch ist. Jedoch rufen gerade Plessners Bezug auf Kleists Marionettentheater und, wie wir sehen werden, seine Art, die berühmte Anekdote vom fechtenden Bären zu interpretieren, den Zweifel in uns wach, dass die Dinge nicht so einfach liegen, und dass diese beiden Auffassungen der „Subjektivität“ vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt sind, wie man bei einer ersten Lektüre von Kleists Text denken könnte. Dieser Eindruck kann vor allem dann entstehen, wenn man sich von der einem Kleist-Bild löst, das darin besteht, dieser sei auf einer „romantischen“ Suche nach einer Synthese. Die durch Plessner auf den Text von Kleist gelenkte Aufmerksamkeit führt uns ganz im Gegenteil zu der Frage, ob es nicht vielmehr eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Auffassungen von Plessner und Kleist gibt – ein Eindruck, der allerdings nicht die bestehenden Unterschiede zwi-

3

Ebd., S. 17–18.

4

Ebd., S. 19.

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Ebd., S. 18.

D ER M ENSCH ALS DAS „ NOCH NICHT FESTGESTELLTE T IER “? | 33

schen diesen beiden auch zeitlich weit voneinander entfernten Denkern negieren oder verschleiern darf. Es stellt sich die Frage, ob (und in welcher Hinsicht) es möglich ist, Kleists Überlegungen eher als Anthropologie à la Plessner avant la lettre zu verstehen, denn als Modifikation der „Philosophie der drei Stadien“ nach romantischem Muster. Aus diesem Grund soll im Folgenden ausgehend von Plessners KleistInterpretation erstens der Versuch unternommen werden, zu verstehen, was Plessner meint, wenn er das menschliche Wesen als eine „exzentrische Positionalität“ definiert, und welche Verbindung dieses zur restlichen organischen Welt unterhält. Danach soll über den Vergleich mit dem Text Kleists dargelegt werden, warum Plessner Kleist quasi als eine Art Alliierten ante litteram betrachtet, und ob es tatsächlich trotz bestehender Unterschiede einen gemeinsamen Standpunkt beider Denker zum menschlichen Wesen und dessen Platz in der Natur gibt.

I. P LESSNER

ALS I NTERPRET

K LEISTS

Plessner hat dem Text von Kleist nie einen speziellen Aufsatz gewidmet. Seine Überlegungen sind zudem stets nur auf ein einziges Bild des Marionettentheaters bezogen. Es handelt sich dabei, wie schon vorweggenommen, um die Anekdote vom fechtenden Bären, die den Abschluss des Textes bildet. Der Hintergrund dieser Geschichte wird von Herrn C. erzählt. Auf einer Reise nach Russland wird dieser von dem Sohn seines Gastgebers zu einem Fechtkampf gegeneinander eingeladen. Fast jeder Stoß, den C. im Kampf führt, trifft, und es gelingt ihm so mühelos, seinen Gegner zu überwinden. Dieser bringt ihn nach Ende des Kampfes von den oberen Räumen seines Schlosses hinüber in einen Zwinger, wo ein Bär gefangen gehalten wird, und bietet ihm an, erneut gegen diesen besonderen Gegner zu kämpfen: „Der Bär stand, als ich erstaunt vor ihn trat, auf den Hinterfüßen, mit dem Rücken an einem Pfahl gelehnt, an welchem er angeschlossen war, die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: das war seine Fechterpositur. Ich wußte nicht, ob ich träumte, da ich mich einem solchen Gegner gegenüber sah; doch: stoßen Sie! stoßen Sie! sagte Herr v. G [...] und versuchen Sie, ob Sie ihm eins beibringen können! Ich fiel, da ich mich ein wenig von meinem Erstaunen erholt hatte, mit dem

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Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Ich versuchte ihn durch Finten zu verführen; der Bär rührte sich nicht. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. […] Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, Stöße und Finten wechselten sich, mir triefte der Schweiß: umsonst! Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.“6

Dieses Bild des fechtenden Bärs erscheint bei Plessner insbesondere in einigen Aufsätzen der sechziger Jahre, die dem Unterschied zwischen Tier und menschlichem Wesen gewidmet sind.7 Über diese Aufsätze hinweg bleibt Plessners Deutung der Kleistschen Szene konstant, und zielt durchgehend darauf ab, die „Überlegenheit“ des Tieres gegenüber dem Menschen zu unterstreichen und zu beleuchten, aus welchem Grund letzterer den Kampf mit dem Tier nicht gewinnen kann. Der Grund für die animalische Überlegenheit besteht darin, dass der Mensch sich, während das Tier eins mit seinem Körper ist, in seinem eigenen Körper wie in einer Verkleidung wiederfindet, er steckt in ihm wie in einem Futteral. Das Tier – sagt Plessner – „durchherrscht seinen Leib“ in dem Sinne, dass es vollständig zentriert in ihm ist, eins mit ihm, und sich nicht von ihm entfernt. Dies gestattet ihm, von der Zentriertheit aus zu handeln und deshalb sichere Stöße auszuteilen, die dem Menschen, gegen den es kämpft, kein Entrinnen lassen. Gerade aufgrund der Futteralsituation, die es ihm ermöglicht, „seinen Leib zu beherrschen“, hat der Mensch diese

6

H. von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Ilse-Marie Barth, 4 Bd., Frankfurt a. M.1990, S. 562.

7

Vgl. zum Beispiel H. Plessner, Gesammelte Schriften, Band VIII: Conditio humana, Frankfurt a. M. 1983, insbesondere die Schriften Zur Frage der Vergleichbarkeit tierischen und menschlichen Verhaltens (1965), S. 284–293; Der Mensch als Lebewesen. Adolf Portmann zum 70. Geburstag (1967), S. 314–327; Homo absconditus, (1969), S. 353–366.

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Sicherheit der tierischen Zentriertheit eingebüßt, denn „sein Leib ist ihm Instrument geworden“8. In diesem Sinne kommentierte Plessner beispielsweise bereits 1948 in seiner Anthropologie des Schauspielers die Anekdote des fechtenden Bärs: „Mit der Entdeckung seiner selbst, diesem Über-sich-selbst-hinaus-Sein, dieser fatalen Présence à soi hat der Mensch seine Freiheit gewonnen und die ungebrochene Sicherheit seiner Animalität verloren. Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist, und dem, was ganz Selbst ist, steht der Mensch, der sein Selbst sich präsentiert. Er besitzt weder die ungehemmte Präzision der Marionette bzw. die Instinktsicherheit des Tieres noch die vollkommene Ursprünglichkeit unfehlbarer Verwirklichung. Er ist gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über sich selbst verfügt. Er fällt nicht mit dem zusammen, was er ist: dieser Körper, dieses Temperament, diese Begabung, dieser Charakter, insofern als er sie, sich von ihnen distanzierend, als dieses ihm gegebene Sein erkennt. Sie sind ihm zugefallen und ihrer Zufälligkeit bleibt er sich bewusst, ob er nun ihrer Herr wird oder nicht. In diesem sich-präsentSein liegt der Bruch, die Stelle Möglichen Sich-von-sich-Unterscheidens, die dem Menschen im Zwang zur Wahl und als Macht des Könnens seine besondere Weise des Daseins, die wir die exzentrische genannt haben, anweist.“9

Plessner verwendet diese Anekdote hier, um mit Kleist zu beleuchten, auf welche Weise die Reflexion einen Bruch hervorruft, das heißt den Verlust eines Zustands der Vollständigkeit bedeutet, im Sinne der ungebrochenen Sicherheit der Animalität, des im eigenen Schwerpunkt Zentriert-Seins. Reflexion wird so zum Anlass einer gebrochenen Ursprünglichkeit und führt zur „Exzentrizität“ des menschlichen Wesens. Ob dieser vermeintliche Zustand der Vollständigkeit im Sinne Kleists als „Grazie“ bestimmt werden kann, hängt dann von der Interpretation dieser letzteren ab und wird uns am Ende dieser Ausführungen beschäftigen. Wichtig ist hingegen schon jetzt zu unterstreichen, dass der vom Denken eingeleitete Bruch etwas der „Exzentrizität“, der „menschlichen Natur“ also selbst zukommendes ist: „In diesem Sich-selbst-präsent-Sein liegt der Bruch, die Stelle möglichen Sich-

8

H. Plessner, Homo Absconditus, S. 356.

9

H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. VII: Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt am Main 1982, S. 416–417.

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von-sich-Unterscheidens“.10 Für Plessner ist mit dieser Spezifität allerdings nicht die Annahme eines ontologischen Hiatus zwischen Tier und Mensch verbunden. Ganz im Gegenteil: Das menschliche Wesen ist für Plessner lediglich die tiefste Entwicklung jenes Prinzips, das er selbst „Positionalität“ nennt und das, wie wir nun kurz sehen werden, das Lebewesen in seiner Gesamtheit betrifft.

II. D IE P OSITIONALITÄT

BEI

P LESSNER

Die Positionalität ist in der Tat für Plessner ein „Leitfaden“, ein Merkmal, durch welches sich belebte von unbelebten Naturgebilden unterscheiden: „In seiner Lebendigkeit“ – schreibt Plessner – „unterscheidet sich also der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder durch seine Positionalität“11. Der Begriff der Positionalität folgt direkt aus der Konzeption einer „Verwirklichung der Grenze“, wenn er nicht gar bedeutungsgleich mit dieser ist. Für Plessner sind Organismen Wesen, die ihre eigene Grenze „vollziehen“. Im Falle der anorganischen Wirklichkeit ist eine Grenze einfach identisch mit der Begrenzung bzw. mit dem Umfang des physischen Körpers selbst. Sie gehört in Wahrheit weder dem Körper, noch der Umgebung (dem Medium), noch etwa beidem an. Vielmehr ist sie lediglich ein virtuelles „Zwischen“, das sich aus der wechselseitigen Beschränkung von Körper und Umgebung ergibt. Das Ende des einen koinzidiere mit dem Anfang des anderen. Die Grenze trennt beide Bereiche und stiftet sonach jedem seine Identität. Demgegenüber erzeugt die organische Wirklichkeit eine gänzlich andere Situation: Hier gehört die Grenze wahrhaftig zum Körper, der nicht einfach dort endet wo seine Umgebung beginnt. Besser gesagt: Durch seine Grenze ist nach Plessner der organische Körper „in sich selbst“, da er eben dadurch erkennbar ist, dass er von seiner eigenen Umgebung sich abgegrenzt. Zugleich ist er aber „über sich selbst hinaus“, indem er die ihm zugehörige Grenze transzendiert. Im Falle des Organischen ist also die Grenze keine Barriere, sondern vielmehr etwas Vermittelndes, eine Schwelle,

10 Ebd. 11 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin, New York 1975, S. IXI.

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durch welche der Körper den „Übergang“ zum medium, das ihn umgibt, vollzieht. Auf diese Weise wird die Grenze „wirklich“, das heißt sie gehört „reel“ zum Körper.12 Denn „Positionalität“ drückt im Grunde nichts anderes aus, als die besondere Weise, auf die ein lebender Körper seine eigene Grenze realisiert. Das Lebewesen ist für Plessner per definitionem ein positioniertes Wesen: Ein Organismus, erfüllt demnach nicht einfach einen Raum, wie dies unbelebte Dinge tun, sondern er nimmt sich seinen Platz. Er hat also nicht einfach einen Platz innerhalb bestimmter raum-zeitlicher Koordinaten, sondern er besitzt und realisiert vielmehr jenen Standort. Ein Organismus verfügt über seine Umwelt in dem Sinne, dass er mit ihr ein Verhältnis des Austausches (und auch der Gegensätzlichkeit) unterhält: „In dem Bezogensein von Organismus und Umgebungsfeld, die beide gegensinnig zueinanderstehen, liegt das den lebendigen von unbelebten Körper unterscheidende Kennzeichen der Positionalität“13. In diesem Sinne ist „Positionalität“ keineswegs ein statisches Konzept – wie man meinen könnte, wenn man dabei nur an das Vorhandensein eines Körpers im Raum denkt. Sie ist vielmehr Ausdruck der Aktivität des Lebewesens, oder besser gesagt: Sie ist etwas, das sowohl die statischen als auch die dynamischen Kennzeichen des Lebewesens umfasst. Außerdem ist die Positionalität für Plessner „psychisch und physisch neutral“: Das positionale Prinzip wählt weder die physische noch die psychische Seite als bevorzugten Standpunkt, sondern es hat ganz im Gegenteil das Ziel, sowohl die „physischen“ als auch die „psychischen“ Phänomene des Lebewesens zu erklären. Auf der Kategorie der Positionalität gründet das, was Plessner als die „vertikale“ Verbindung des Menschen mit den anderen Lebewesen bestimmt. Anhand dieser genetischen Verbindung umreißt Plessner – ganz im Sinne einer durch J. von Uexkülls Beiträge vorbereiteten Naturphilosophie mit aristotelischem Ursprung – im Wesentlichen zwei positionale Formen: Pflanze und Tier. Ihre unterschiedliche Entwicklungsstufe ist demnach schlicht der unterschiedliche Ausdruck der Realisierungsform der eigenen Grenze von Seiten des Lebewesens: Je vermittelter und indirekter das Verhältnis des Organismus zur Umwelt ist, desto größer wird seine Abgren-

12 Ebd., S. XX. 13 H. Plessner, Die Stufen, S. 157.

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zung gegenüber der Außenwelt und folglich seine Selbständigkeit sein. Plessner bezweifelt aus diesem Grund, dass die Pflanze als ein Selbst definiert werden kann (er behauptet vielmehr im Sinne der Überlegungen von Goethe, Novalis und Hegel,14 es wäre besser, sie als ein dividuum zu definieren), eben dank ihrer Offenheit und ihrer unmittelbaren Stellung im Lebenskreis. Nur durch die Positionalform des Tieres wird eine neue Existenzbasis gegründet, welche für Plessner dieselbe ist, auf der der Mensch steht. Plessner definiert das Tier als eine „geschlossene Form“: „Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in seinen Lebensäußerungen mittelbar in seine Umgebung eingliedert und ihn zum selbstständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises ausmacht“.15 Der Mensch, wie das Tier, ist eine zentralistische geschlossene Form. Wie Plessner sagt, muss er „körperlich Tier bleiben“16. Besser gesagt bewahrt der Mensch in sich selbst jene positionale Unterscheidung zwischen Körper und Leib, die schon für das Tier typisch ist (aus diesem Grund wurde oben von zwei Positionalformen gesprochen und nicht von dreien, wie es gemeinhin getan wird). Es handelt sich um eine allgemein bekannte Unterscheidung, an die hier nur kurz erinnert sei: Während der Körper die Bedeutung eines lebenden Körpers, eines totalen Körpers annimmt, bezeichnet Plessner mit Leib den Körper des Lebewesens, den dem organischen Individuum eigenen Körper, der vom Organismus geordnet, geführt und nun konkret besessen wird. Leib und Körper sind von einem biologischen Standpunkt aus betrachtet objektiv identisch: Der Leib ist ausschließlich eine wesentliche Art des körperlichen Wesens, das nach einer geschlossenen Form organisiert ist, und er kann nur im Bereich der Suche nach den Wesensmerkmalen des Lebewesens aufgefasst

14 Vgl. Goethes Überlegungen zum Brutblatt (Bryophyllum calycinum) seit 1820 (dazu W. Troll, Goethe in seinem Verhältnis zur Natur, in: Ders., Goethes morphologische Schriften, Jena 1932, S. 57 ff. sowie die Replik von R. Virchow, Goethe als Naturforscher, Berlin 1861, S. 34); F. Novalis, Das allgemeine Brouillon, 1798/99, in: Ders., Werke Bd. 2, S. 692: „Das ächte Individuum ist auch das ächte Individuum“; G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1830, in: Ders., Werke Bd. 9, §344, S. 373. 15 H. Plessner, Die Stufen, S. 226. 16 H. Plessner, Die Stufen, S. 239.

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werden. Der Leib hat keine räumliche Struktur, seine Trennung vom Körper ist nicht physisch, und es hat laut Plessner keinen Sinn, einen Beweis empirischer Art für seine Existenz zu suchen. Damit es einen Leib geben kann, muss „ein Organismus über eine gewisse Organausstattung [ein Zentralorgan, F. M.] verfügen, damit er kraft seiner Positionalität eine Region der Innerlichkeit und der Geistigkeit bei sich Platz verschaffen kann“17. Aber diese Einsicht darf für Plessner nicht mit einer Form von Biologismus verwechselt werden, oder „mit jener materialistischen Spielart, für die Geist und Seele mit Tätigkeit des Gehirns identisch sind“18. Nur auf der positionalen Ebene ist es möglich, jene Unterscheidung zwischen Leib und Körper zu vollziehen, die andernfalls keinerlei Sinn hätte. Aber wenn der Mensch keine neue Positionalform 19 begründet, worin besteht dann für Plessner der Unterschied zum Tier? Auch das Tier ist nämlich in der Lage, in reflektive Distanz zu seinem Körper zu treten und mit ihm über diese Distanz hinweg in Beziehung zu stehen. Der Körper des Tieres ist so im zentralen Kontrollorgan (Gehirn) als Körper repräsentiert. Der Mensch jedoch übersteigt diese Stufe reflexiver Selbstbezüglichkeit noch einmal, denn nur er weiß von dieser Selbstbezüglichkeit und den sie begleitenden Unterscheidungen. Indem er sich ihrer völlig bewusst geworden ist, ist er ein Ich geworden. Der Mensch führt also nicht nur den Leib und stellt sich einem Äußeren gegenüber, welches er als vollständig von sich getrennt wahrnimmt – was auch typisch für das Tier ist20 –, sondern der Mensch weiß von dieser Trennung. Durch das Bewusstsein der Abstandnahme von sich selbst setzt der Mensch sich schließlich jenseits von sich selbst, jenseits – und hier greifen wir das Wort auf, das sowohl in Plessners Philosophie als auch in Kleists Marionettentheater zentral ist –

17 H. Plessner, Der Mensch als Naturereignis (1965), in Gesammelte Schriften, Band VIII, S. 281. 18 Ebd. 19 „Gebunden ist der Charakter des Menschen nur an die zentralistische Organisationsform, welche die Basis für seine Exzentrizität abgibt“. H. Plessner, Die Stufen, S. 293. 20 „Das Charakteristische also ist für die geschlossene Form, dass sie über eine Kluft hinweg mit ihrem Milieu zusammenhängt“. H. Plessner, Elemente der Metaphysik: Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, hg. von H.-U. Lessing, Akademie Verlag, Berlin 2002, S. 129.

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des eigenen Schwerpunkts. „Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber erlebt sich nicht als Mitte“21, während der Mensch im Gegenteil nicht nur in seinem Mittelpunkt steht, sondern ihn als Grenze realisiert, indem er daraus den Angelpunkt seiner existenziellen Wende und des Unterschieds zum Tier macht: „Mit dem Durchbruch zum Ich ist jedenfalls eine Positionsform etabliert, die ihrer eigene Mitte einsichtig sein kann und muss, und darum nicht mehr in sich ruht. Sie hat ihren Schwerpunkt außer sich, weshalb ich von Exzentrischer Positionsform spreche“22: Obwohl auch auf dieser Stufe das Lebewesen aus der Mitte lebt, ist ihm doch die Zentralität seiner Existenz bewusst geworden. Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar“, es ist der „hinter sich liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit“23. Diese besondere Situation hat nun mehrere Folgen: 1) Es ist nicht mehr möglich, zu einer Zentriertheit auf den eigenen Schwerpunkt zurückzukehren. Der Mensch ist definitiv dezentriert, und das ist überdies die Hauptbedingung, auf die alle menschlichen Handlungen gründen. 2) „Die Monopolstellung des Menschen als animal rationale, als zoon logon echon, ist darin eingeschlossen, weil Vernunft, Einsicht, Versachlichung, Wortsprache nur dank des Außersichseins dieser Art Lebewesen möglich werden.“24 3) Der Geist ist also keine einfache biologische Eigenschaft, aber auch keine Fähigkeit, die das Körperliche übersteigt, sondern er ist die direkte Folge der positionalen Strukturierung selbst. „Geist bedeutet die Fähigkeit der Abstandnahme“25. Wobei Abstandnahme als Distanz von dem eigenen Körper und von der Umwelt verstanden werden muss.

21 H. Plessner, Die Stufen, S. 288. 22 H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen, S. 323. 23 H. Plessner, Die Stufen, S. 290. 24 H. Plessner, Der Mensch als Lebewesen, S. 323. 25 H. Plessner, Mensch und Tier (1946), in Gesammelte Schriften, Band VIII, S. 64.

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4) „Nur in der Abstandnahme zu ihr wird menschliche Umwelt zur Welt von sachlichem Charakter“26, oder anders ausgedrückt: Das Tier ist umweltgebunden, während der Mensch weltoffen ist. In diesem Sinne bringt der Bruch des Ich, im Gegensatz zum Tier, seine eigene Weltoffenheit mit sich. Der Umweltgebundenheit der Tiere steht die Weltoffenheit der Menschen gegenüber. Das bedeutet dennoch nicht, dass der Mensch seine Umweltgebundenheit verliert: „Die einfache Zuordnung von Tier zu geschlossener Umwelt und Mensch zur Weltoffenheit macht sich die Sache zu einfach. Als leibhafte Wesen von artspezifischer Prägung sind wir nicht in der Situation des Engels, der endlich, aber körperlos ist. Wo ein Körper ist, muss Umwelt sein“27. Es ist unmöglich, eine klare Unterscheidung zwischen den beiden Bereichen zu machen, die sich gegenseitig beeinflussen und miteinbeziehen: Die Umweltgebundenheit beeinflusst die Weltoffenheit und umgekehrt die Weltoffenheit die Umweltgebundenheit. Es ist, als ob man sagen würde, dass unsere Biologie den Geist beeinflusse, und umgekehrt, dass dieser wiederum unsere Biologie selbst beeinflusse.

III. K LEIST

UND

P LESSNER

Diese knappe Erkundung von Plessners Denken soll nun herangezogen werden, um seine Nähe zu Kleist zu verdeutlichen, ohne jedoch die bestehenden Differenzen zu nivellieren. Ein Vergleich mit der philosophischen Anthropologie im Allgemeinen und mit der Interpretation Plessners im Besonderen, wird uns behilflich sein, einige Aspekte des Kleistschen Textes in ein deutlicheres Licht zu rücken, Aspekte, die ansonsten der Auslegung Schwierigkeiten bereiten, weil sie entweder zweideutig oder aber gänzlich dunkel bleiben, wenn man sich nur an die übliche Deutung des Marionettentheaters als romantische Konzeption hält. Wenn wir also von der Anekdote vom Bären und von der Darlegung von Plessners Überlegungen bis zu diesem Punkt ausgehen, dann kann man

26 Ebd., S. 64. „In dieser eigentümlichen Nichtfestsitzen des Menschen gründet seine eigentümlichen Gestigkeit, Menschlichkeit Freiheit“. Ebd. 27 H. Plessner, Der Mensch als Naturereignis, S. 277.

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einige Ähnlichkeiten zwischen beiden Ansätzen erkennen, die nun herausgestellt seien. 1) Zunächst besteht ein erster Aspekt der Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ansätzen, wie schon unterstrichen, in der Idee, dass die Möglichkeit zur Reflexion einen Bruch zum tierischen Zustand, zur Zentriertheit und zum Einssein mit dem eigenen Schwerpunkt bedeutet. Fast alle Interpreten Kleists stimmen darin überein, dass „das Denken und das Bewusstsein das unmittelbare Erfassen des Lebens und die unmittelbare Reaktion des Menschen auf die Mannigfaltigkeit des Lebens zerstören. Die Reflexion auf sich selbst vernichtet den natürlichen Zusammenhang zwischen Mensch und lebendiger Welt“28. „Ich sagte“, schreibt Kleist im Marionettentheater, „dass ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen in den natürlichen Grazien des Menschen das Bewußtsein anrichtet“29. 2) Für Plessner ist dieser Bruch – und damit kommen wir zum Verhältnis von Mensch und Tier – keiner, der einen ontologischen Unterschied zwischen Mensch und Tier impliziert. Auch in Kleists Fall muss bemerkt werden, dass der Dichter gerade anhand der Anekdote vom Bären eine tiefe Verbindung zwischen Mensch und Tier andeutet, welche besagt, dass im Menschen in gewissem Sinne seine tierische Vergangenheit aufbewahrt würde. Dieser Aspekt tritt in einem „Detail“ der Anekdote hervor, die bisher noch keine Berücksichtigung fand: Was Anderes könnte damit zum Ausdruck gebracht sein, dass der Bär „Aug’ in Auge“ mit seinem Gegner kämpft und auch in seiner faszinierenden Reaktionsgeschwindigkeit zeigt, wie er nahezu die Seele des Menschen liest, als eine Anspielung auf die Betonung der grundsätzlichen Gemeinsamkeiten der Opponenten? Vergegenwärtigen wir uns dazu noch einmal den Schluss der Anekdote: „Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug’ in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlag-

28 H. Plügge, Grazie und Anmut. Ein Biologischer Exkurs über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist. In: H. Sembdner (Hg), Kleists Aufsatz über das Marionettentheater, S. 54. 29 H. von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, S. 562.

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fertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.“30

Kleist formuliert dezidiert: „als ob er meine Seele darin lesen könnte“. Was meint der Dichter in diesem Zusammenhang mit „Seele“? Im Marionettentheater spricht Kleist an anderer Stelle von der Seele des zwar tanzenden aber ansonsten toten Körpers, wie bei der Marionette. Die Seele steht also in enger Verbindung mit dem Schwerpunkt der Bewegung: Deshalb erscheint es, wie Kleist schreibt, wie Ziererei, „wenn sich die Seele (vix motrix) in irgendeinem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung“31. Der durch die Überlegungen von Uexkülls geprägte Biologe Herbert Plügge hat bemerkt, wie „die Seele hier also im Sinne einer einzigen Funktion (vix motrix) [gedeutet wird]. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Kleist von dem Weg des Schwerpunkts als von dem Weg des Tänzers spricht. Nur mit dieser reduzierten Auffassung der Seele lediglich als vix motrix ist es Kleist auch gestattet, an einer anderen Stelle seines Essays die Seele in den Ellbogen zu verlegen. Schon daraus geht hervor, dass Kleist hier ganz wörtlich genommen werden will“32. Man könnte also annehmen, dass der Bär in den Menschen „Spuren“ seiner tierischen Zentriertheit wiedererkennen kann. Ein weiterer Aspekt des Verhältnisses von Mensch und Tier ergibt sich, wenn man den von Kleist beschriebenen Kampfmechanismus zwischen den beiden Gegnern berücksichtigt. Dieser Kampf scheint wenig mit einer Auseinandersetzung zu tun zu haben, bei der auf eine Handlung des einen Kämpfers die Reaktion seines Gegenübers erfolgt, sondern der geschilderte Ablauf erinnert vielmehr an Tierkämpfe wie sie zwischen einem Mungo und einer Kobra tradiert sind.33 Ein solcher Kampf wurde von Frederik Jacobus Johannes Buytendijk – einem Verhaltensforscher, der bekanntlich eng mit Plessner zusammengearbeitet hat – gefilmt. Buytendijk hat die Zeiten gemessen, die zwischen den einzelnen Kampfbewegungen der beiden kämpfenden Tiere liegen. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Bewegung des einen Tieres nicht als Reaktion auf die Bewegung des anderen aufge-

30 H. von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, S. 656. 31 Ebd., S. 559. 32 H. Plügge, Grazie und Anmut, S. 58. 33 Man denke an die eindrücklichen Schilderungen Kiplings.

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fasst werden darf. Beide Tiere bewegen sich vielmehr zugleich angreifend und zurückweichend, nie rein reaktiv auf die zuvor erfolgten Aktionen des Gegners, sondern wie nach einem die Bewegungsfolgen beider Tiere gemeinsam umspannenden Plan. Der bereits erwähnte H. Plügge hat bezüglich dieses Experimentes angemerkt: „[D]as Gesamt aller Bewegungsphasen beider Tiere hat weniger die Struktur eines Schachspiels, in dem der Zug eines Partners den des anderen veranlasst, sondern eher das Gefüge eines Konzerts, in dem die Mitspieler nach einem übergeordneten vorgeschriebenen Plan gleichzeitig ihre Stimme spielen“34. Auf eine ähnliche Weise scheint im Falle Kleists der Bär, der die Seele des Menschen lesen kann, die Hiebe des Fechters eher vorherzusehen und vorwegzunehmen, denn einfach auf sie zu reagieren, und folglich in gewisser Weise das „andere Tier“, mit dem er kämpft, zu verstehen und sich ihm anzugleichen.35 3) Die beiden zuvor erläuterten Aspekte führen uns zu dem zentralen Punkt von Kleists Aufsatz, nämlich zum Moment der Grazie. In diesem Gesichtspunkt scheint der größte Abstand zwischen Plessner und Kleist zu bestehen. Im Zentrum des Marionettentheaters von Kleist findet sich nämlich eine Sorge, die bei Plessner völlig zu fehlen scheint: Der Verlust der Grazie.36 Damit ist ein komplexes Thema angeschnitten, was eine Berücksichtigung der Bedeutung der Grazie im ganzen Denken Kleists zu behandeln hätte, und das – weil eine solche Behandlung hier nicht möglich ist – Gefahr läuft, für unseren Zusammenhang banalisiert zu werden. Wenn man sich dieser Gefahr eingedenk dennoch ausschließlich auf das stützen möchte, was in Kleists Text selbst artikuliert wird, dann hat die Grazie bei Kleist im genannten Zusammenhang auch die Bedeutung einer „Wesensbestimmung jenes Lebensausschnittes, der den Charakter der organischen Bindung bewahrt. Für ihn steht das Tier stellvertretend, und es teilt diese Auszeichnung mit der Pflanze“37. Auf gleiche Weise hat Plügge in seiner schon

34 Ebd., S. 64. 35 Es muss bemerkt werden, wie Plessner in seinem Bezug auf die Anekdote diese Stelle in Kleists Erzählung nie kommentiert, oder auch nur erwähnt, obwohl er sie als Bestätigung für seine eigene Position hätte verwenden können. 36 Kleist verwendet in seinem Aufsatz sowohl Grazie als auch Anmut als Synonyme. 37 J. Kunz, Kleists Gespräch über die Marionettentheater, in: H. Sembdner (Hg.), Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater, S. 79.

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zitierten „biologischen“ Auffassung des Marionettentheaters drei mögliche Interpretationen der Bedeutung von Anmut unterschieden: „In der letzten Schicht, die beiden anderen umgreifend, erscheint Anmut als wesentliches Moment einer Umweltbeziehung: dort wo Organismus und Umwelt in einem Gestaltkreis, als ein Wesen verbunden sind“38. Und so erläutert er weiter: „Wir finden Anmut als Ausdruck eines bestimmten Umweltverhältnisses; dort, wo Umwelt noch weitgehend zum Organismus des Tieres zugehörig ist, wo Organismus und Umwelt noch nicht in einsinnig kausalen reaktiven Beziehungen aufeinander treffen, sondern Tier und Umwelt in präformierten identischen Bewegungsformen, in einem Gestaltkreis als ein Wesen verbunden sind“39. Unter diesem Gesichtspunkt erfasst Plessner sicherlich einen der wichtigsten Aspekte, wenn er die Überlegenheit des Tieres als von seiner Umweltverbundenheit verlangt interpretiert, obgleich das ästhetische Thema der Grazie nicht sein Hauptinteresse darstellt. 4) Auch wenn eine solche Bedeutung von Grazie für Kleists Aufsatz unterstellt wird, so ist dennoch zu berücksichtigen, dass für Kleist nicht nur die Tatsache eines möglichen Verlustes, sondern mindestens ebenso auch der Wiedererlangung von Grazie für ihn wesentlich ist, und dieser Gedanke das ganze Marionettentheater durchzieht. Es scheint fast so, als ob der Schluss des Aufsatzes ausdrückt, dass nur im Fortschreiten zur Einheit die Verlassenheit des Menschen in der Welt wieder aufzuheben sei. Diese mögliche Ausrichtung von Kleists Überlegung stellt dann einen bemerkenswerten Unterschied zu Plessner dar, da bei diesem die Gebrochenheit der exzentrischen Positionalität die grundlegende Bedingung der menschlichen Existenz selbst und aller ihrer Eigenschaften und Handlungen bleibt. Beispielhaft dafür ist der Fall des Schauspielers, dessen Möglichkeit, andere Figuren darzustellen, eben von seinem Außersichsein herrührt. Wenn es jedoch außer Zweifel steht, dass es bei Kleist eine romantische Sehnsucht nach der Wiedererlangung von Grazie und somit eine latente Klage gegen den Intellekt gibt, so wie auch einen Bezug auf das unendliche Bewusstsein, dann ergibt sich so nicht die Bedeutung einer (unmöglichen) Rückkehr zu einer „ursprünglichen“ Situation, und auch nicht die Erlangung einer Synthese: „Seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen

38 H. Plügge, Grazie und Anmut, S. 74. 39 Ebd.

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haben“40, haben wir mit dem Paradies auch die vollkommene Anmut verloren. Der Rückweg ist so versperrt das Paradies ist unwiederbringlich verloren. Wir können lediglich versuchen, „die Reise um die Welt zu machen und zu sehen, ob es (das Paradies) vielleicht von hinten irgendwo offen ist“41. Aber dies bleibt eher eine Einladung, ein Wunsch, eine Hoffnung oder eben eine romantische Sehnsucht, denn ein Garant der Rückkehr. So ist abschließend festzuhalten, dass sowohl Plessner als auch Kleist trotz ihrer Unterschiede beide bei einer Philosophie des zweiten Stadiums bleiben. Ausgehend von diesem Stadium, von unserer gebrochenen Position, können wir jedoch nicht nur unseren eigenen Mangel erkennen, sondern auch manchmal Zeugen des Durchscheinens der Grazie werden, so wie es in der zweiten berühmten Anekdote von Kleist gezeigt wird, die hier nicht in Betracht gezogen wurde: der Anekdote vom Dornauszieher.42 Wenn nicht durch unser eigenes Reflexionsvermögen, wie könnten wir sonst die Grazie erkennen? Wenn wir sie erkennen können, so doch gerade dank unserer Abstandnahme von uns selbst, von unserem Schwerpunkt, und nicht weil wir ein unendliches Bewusstsein besäßen.

40 H. von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, S. 559. 41 Ebd. 42 H. von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, S. 560–561.

Erste und zweite Unmittelbarkeit oder: Wie viel Reflexion verträgt die Tugend?

C HRISTOPH H ALBIG

0. Der folgende Beitrag, der aus einer Ringvorlesung zu „Kleists Marionettentheater – zur Philosophie der drei Stadien“ hervorgegangen ist, argumentiert aus der Perspektive eines an systematischen Fragen interessierten Philosophen. Er erhebt daher von vornherein keinerlei Anspruch, Aufschlüsse zum Werk oder zur Gedankenwelt von Kleist selbst oder zu seinem geistesgeschichtlichen Kontext zu liefern. Vielmehr werden im ersten Teil dieses Beitrags ausgehend von dem kurzen Text über das Marionettentheater zwei philosophische Kategorien eingeführt und in Form von vier Überlegungen näher erläutert, nämlich die der ersten und der zweiten Unmittelbarkeit (1). Im zweiten Teil soll dann in einem ersten Schritt geprüft werden, inwiefern diese Kategorien eine hoffentlich erhellende Lektüre von Kleists Text ermöglichen, inwiefern aber auch Kleists Text selbst zu einer Schärfung dieser beiden Kategorien beitragen könnte. In einem zweiten Schritt werden dann einige allgemeine Überlegungen dazu angestellt, inwiefern das Problem der Unmittelbarkeit sich gerade in der Gegenwart mit besonderer Dringlichkeit stellt, vielleicht in noch weit größerem Maße, als dies für Kleists Zeit selbst der Fall war (2). Der dritte Teil des Beitrags wird dann ein wenig größere Anstrengung des Begriffs verlangen: Es soll nämlich geprüft werden, inwiefern eine zentrale Kategorie unserer moralischen Praxis, nämlich die der Tugend, Formen von Unmittelbarkeit vorauszusetzen scheint, die durch den immer weiter zunehmenden Reflexions-

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druck der Moderne zugleich immer stärker in Frage gestellt werden. Es stellt sich mithin die im Titel des Beitrags erwähnte Frage: Wie viel Reflexion verträgt die Tugend? (3) Diesem Problem werde ich wiederum auf drei Ebenen nachgehen: Auf einer ersten Ebene wird zu prüfen sein, ob es einzelne Tugenden gibt, die überhaupt nur unter Bedingungen einer reflexionsfreien, ersten Unmittelbarkeit möglich sind. Solche Tugenden wären dann für die Angehörigen einer reflexiven Kultur ipso facto nicht mehr erreichbar (3.1). Auf einer zweiten Ebene soll der Frage nachgegangen werden, ob Reflexion nicht nur einzelne Tugenden unerreichbar werden lässt, sondern eine wahrheitsfähige Verständigung mithilfe von Begriffen wie denen von Tugenden und Lastern insgesamt unmöglich macht (3.2). Auf einer dritten Ebene schließlich wird der Versuch unternommen, ein Argument auszuarbeiten, das zeigen soll, dass gerade eine heute vielfach als Ausweg aus den Verengungen der Modernen Ethik gepriesene Tugendethik daran scheitert, dass sie sich als Theorie selbst aufhebt und diejenigen, die ihr zu folgen versuchen, aus strukturellen Gründen in eine schizophrene Situation bringt (3.3).

1. Zunächst also bedürfen die Begriffe der ersten und zweiten Unmittelbarkeit näherer Prüfung. Erstens verweisen die beiden Begriffe sogleich auf einen dritten, nämlich den der Mittelbarkeit. Alle drei fügen sich in eine notwendige Abfolge: Die zweite Unmittelbarkeit setzt den Durchgang durch die Vermittlung voraus. Kleist selbst legt die Vorstellung einer geschichtsphilosophischen Entwicklungslogik nahe, wenn er am Ende seines Textes davon spricht, dass die Wiedererlangung des Paradieses eben das „letzte Capitel von der Geschichte der Welt“1 darstelle.

1

Kleist, Heinrich von (2010), „Über das Marionettentheater“, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, auf der Grundlage der Brandenburger Ausgabe hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle, München, S. 425–433, hier S. 433.

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Zweitens kommt die erste Unmittelbarkeit überhaupt nur dann in den Blick, wenn sie verloren gegangen ist. Der Bär oder der junge Mann in Kleists Text, der dem kapitolinischen Dornauszieher gleicht (ein Paradigma natürlicher Unschuld und Selbstvergessenheit, das ja auch Thomas Mann im Tod in Venedig Gustav von Aschenbach mit Blick auf Tadzio heraufbeschwören lässt), haben Grazie im Sinne einer solchen ersten Unmittelbarkeit, aber sie wissen es nicht. Der Zeitpunkt, in dem sich der junge Mann durch den Blick in den Spiegel über seine Grazie klar wird, bezeichnet nicht zufällig genau den Moment des Verlusts eben dieser Grazie. Die Unterscheidung von erster und zweiter Unmittelbarkeit setzt also die Vermittlung voraus, sie kann nie aus der Perspektive der ersten Unmittelbarkeit selbst erfolgen. Drittens setzt die Unterscheidung von erster und zweiter Unmittelbarkeit voraus, dass beide nicht zusammenfallen. Die erste Unmittelbarkeit ist unwiederbringlich verloren, zu ihr lässt sich nicht einfach durch ein Aufheben, Vergessen oder Verdrängen der Vermittlung zurückkehren. Kleists Text verwendet demgegenüber immer wieder Metaphern der Rückkehr: So heißt es etwa „Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“2 Und am Ende mutmaßt der Erzähler: „Mithin […] müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Erkenntnis zurückzufallen?“3 An beiden Stellen geht es um eine Rückkehr bzw. sogar um einen Rückfall in ein ursprünglich gegebenes Paradies, das es gleichsam durch die Hintertür zurückzuerobern gilt. Viertens aber stellt sich die Frage, ob eine solche Rückkehr von der Vermittlung in die erste, unschuldige Unmittelbarkeit nicht nur möglich ist, sondern ob sie im normativen Sinne überhaupt wünschenswert ist. Sollte ein Paradiesbewohner, selbst wenn er in Kleists Worten die Hintertür ins Paradies gefunden hat, die Reise um die Welt, die dazu notwendig war, um die Hintertür zu erreichen, einfach vergessen und sich über die wiederhergestellte Unschuld freuen? Oder sollte er, selbst gesetzt die Erneuerung der ersten Unmittelbarkeit wäre überhaupt möglich, sich dagegen entscheiden und eine zweite Unmittelbarkeit anstreben, die die Erfahrungen des Durchgangs durch die Reflexion, die Erfahrungen der Weltreise in sich auf-

2

Kleist, „Über das Marionettentheater“, S. 429.

3

Ebd., S. 433.

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nimmt? Philosophen werden hier sogleich an die Kategorien der Dialektik erinnert werden, von denen sich bei Kleist erstaunlich wenig Spuren finden. G.W.F. Hegel jedenfalls bringt den hier entscheidenden Zusammenhang im Vorbegriff zu seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse auf den Punkt: „Der Geist ist nicht bloß ein Unmittelbares, sondern er enthält wesentlich das Moment der Vermittlung in sich. Die kindliche Unschuld hat allerdings etwas Anziehendes und Rührendes, aber nur insofern sie an dasjenige erinnert, was durch den Geist hervorgebracht werden soll. Jene Einigkeit, die wir in den Kindern anschauen als eine natürliche, soll das Resultat der Arbeit und Bildung des Geistes sein. – Christus sagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder“ usf.; damit ist aber nicht gesagt, dass wir Kinder bleiben sollen.“

4

Aus Hegels Sicht besteht mithin eine teleologische Ordnung zwischen erster Unmittelbarkeit, begrifflicher Vermittlung und zweiter Unmittelbarkeit: Zur ersten Unmittelbarkeit zurückzukehren hält er nicht nur nicht für möglich, sondern auch nicht für erstrebenswert. Zugleich lässt Hegel aber auch erkennen, dass die zweite Unmittelbarkeit eine andere, nämlich durch die „Arbeit und Bildung des Geistes“ verdiente Unmittelbarkeit als die erste ist und ihr gegenüber den Vorzug verdient.5 Kleist spricht davon, dass „wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie [sich] wieder ein[findet]. [meine Hervorhebung, C.H.]“6 Hegel besteht demgegenüber darauf, dass es sich um eine andere Grazie handelt als die ursprüngliche.

2. Doch welche Phänomene sind es denn nun eigentlich, die uns die Unterscheidung zwischen erster und zweiter Unmittelbarkeit zu erschließen ver-

4

G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse

5

Zum Verhältnis von erster und zweiter Unmittelbarkeit vgl. Halbig (2002), Kap.

(1830), § 24 Z. 8 und Halbig (2005). 6

Kleist, „Über das Marionettentheater“, S. 432.

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spricht? Gerade wurde hervorgehoben, dass diese Unterscheidung erst aus der Perspektive des Verlustes überhaupt in den Blick kommt. Aus diesem Umstand ergeben sich drei Fragen: Erstens die danach, was denn überhaupt verlorengegangen ist, zweitens die nach der Ursache des Verlustes, und drittens die Frage, wie dieser Verlust geheilt werden könnte. In Kleists Text ist es die Grazie, die verlorengeht. Und den Grund für diesen Verlust erblickt Kleist in der Reflexion. Das erscheint phänomenologisch plausibel: Wem der Tango nicht im Blut liegt, und wer sich diesen Tanz durch die Lektüre von Handbüchern und das Abzählen von Schritten und Figuren erschließen muss, dem wird kaum ein natürlicher Bewegungsablauf gelingen. Die Reflexion auf die Regeln eines solchen Tanzes behindert die Grazie seiner Ausführung. Zugleich aber unterscheidet sich der wahre Könner vom Naturtalent gerade dadurch, dass er sich sehr wohl der Regeln seiner Kunst bewusst ist. Diese Bewusstmachung bildet sogar die Voraussetzung dafür, Mängeln und Schwächen in den natürlichen Abläufen als solche überhaupt thematisieren und dann an ihnen arbeiten zu können. Zugleich gilt es aber, diesen Reflexionsprozess wieder so in das sprichwörtliche ‚Fleisch und Blut‘ übergehen zu lassen, dass sich erneut die Grazie des Bewegungslaufs einstellt, nunmehr im Sinne einer zweiten, nicht länger einer ersten Unmittelbarkeit. Allerdings erscheint die von Kleist erschlossene Problemstellung als vergleichsweise harmlos, wenn es lediglich die Grazie oder die Lässigkeit eines antiken Dornenausziehers ist, die uns in unserer durch Reflexion geprägten Kultur abhandengekommen ist. Bevor ich anhand der Kategorie der Tugend zu zeigen versuchen werde, dass dieses Problem den Kern unseres ethischen Selbstverständnisses beruht, möchte ich zunächst zumindest kurz für die These argumentieren, dass der Verlust, der in unserer gegenwärtigen Kultur droht, nicht weniger als uns selbst betrifft: Wir selbst und nicht lediglich unsere Grazie sind es, die uns abhandenkommen. Der Grund für diesen Verlust liegt m. E. in einer bestimmten Form der Reflexion, nämlich einer szientistischen Deutung unserer selbst. Der Szientismus zeichnet sich dadurch aus, dass er vor dem Hintergrund des enormen kulturprägenden Erfolgs der Naturwissenschaften die folgenden beiden Thesen vertritt: (i) Methodologische These: Alle Aussagen über einen Gegenstandsbereich sind prinzipiell falsifizierbar durch die Naturwissenschaften.

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(ii) Ontologische These: Alle Einzeldinge eines Gegenstandsbereichs und ihre Eigenschaften müssen sich prinzipiell auf die grundlegenden Einzeldinge bzw. Eigenschaften reduzieren lassen, die durch die Naturwissenschaften postuliert werden.7 Beide Thesen versteht der Szientist bezeichnenderweise nicht als die philosophischen Thesen, um die es sich ohne Zweifel handelt, sondern als Aussagen, die durch die Naturwissenschaften selbst gedeckt sind. Mit besonderer Prägnanz wurde das den Szientismus motivierende Programm bereits 1960 von Wilfrid Sellars in seinem klassischen Aufsatz „Philosophy and the Scientific Image of Man“ mit Blick auf die Art von Entität, die wir alle selbst sind, nämlich Personen, formuliert: „Thus the conceptual framework of persons is not something that needs to be reconciled with the scientific image, but rather something to be joined to it. Thus, to complete the scientific image we need to enrich it not with more ways of saying what is the case, but with the language of community and individual intentions, so that by construing the actions we intend to do and the circumstances in which we intend to do them in scientific terms, we directly relate the world as conceived by scientific theory to our purposes, and make it our world and no longer an alien appendage to the world in which we do our living.“

8

Der begriffliche Rahmen von Personen, von dem Sellars spricht, kann hier stellvertretend für die oben bereits genannten, naturalisierungsresistenten Phänomene stehen, die gleichwohl einen zentralen Bestandteil unseres außerwissenschaftlichen Selbstverständnisses bilden: Wir verstehen uns als Personen mit mentalen Zuständen, die freie Entscheidungen treffen, sich an guten Gründen orientieren, die wiederum Werte voraussetzen, und die integriert werden müssen in die verfließende Lebenszeit unserer individuellen Existenz. Nach Sellars nun impliziert das wissenschaftliche Weltbild, insofern es konstitutiv Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, dass alle diese Phänomene in es integrierbar sein müssen. Teilt man diese Prämisse, besteht

7

Dieses Verständnis von Szientismus basiert auf den Vorschlägen von Quante (2000), S. 220 und Audi (2000), S. 31.

8

Sellars (1962), S. 40.

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nun in der Tat keine Alternative dazu, sie entweder zu naturalisieren oder aber, wenn dies nicht gelingt, zu eliminieren. Wogegen sich Sellars ausdrücklich wendet, ist der Versuch einer Versöhnung zwischen wissenschaftlichem Weltbild und unserem alltäglichen Selbstverständnis (Sellars spricht vom manifest image) im Gegensatz zu der von ihm angestrebten Annexion von letzterem durch ersteres. Eine solche Annexion ist im Gange: Hirnforscher fordern Änderungen des Grundgesetzes, da ihre Ergebnisse, wie sie meinen, zu einer Elimination der Kategorie freier Entscheidungen und damit der der Verantwortlichkeit für das eigene Handeln zwingen, wie sie die Voraussetzung etwa unserer Strafjustiz bildet. Phänomene wie diese sind längst in unser Selbstverständnis eingewandert und haben dieses tiefgreifend transformiert: Wenn wir Dinge, an die wir uns erinnern wollen, abspeichern oder gerade nicht auf dem Schirm haben, wenn wir uns einen Reboot verordnen statt einen Neuanfang zu wagen, deuten wir uns selbst nicht länger als Personen, sondern als Sachen und zwar nicht zufällig als Sachen einer bestimmten Kategorie, nämlich nach dem Modell nicht eines lebendigen Wesens als gleichsam natürlichem Paradigma des Natürlichen, sondern nach dem des Computers. Was im Bann des Szientismus verlorengeht, sind also wir selbst. Ich kann hier der Frage nicht nachgehen, inwiefern das überhaupt möglich ist: Vielleicht stellt der Szientismus ja nur eine weitere der welthistorisch verfehlten Weisen, uns selbst als Personen zu verstehen, neben etwa der Astrologie dar. Die Tatsache, dass die Art und Weise, wie wir uns als Personen verstehen, zumindest teilweise konstitutiv für das ist, was wir sind, lässt allerdings eine solche Abweisung des Szientismus als bloße Missdeutung eines allen Deutungen gegenüber resistenten Gegenstandsbereichs als Verharmlosung erscheinen. Was die szientistische Reflexion mithin in Frage stellt, sind nicht akzidentelle Eigenschaften von Personen wie etwa ihre Grazie, sondern es ist unsere Personalität selber. Auch hier stellt sich mit Kleist die Frage, wie eine Personalität nach der „Reise um die Welt“ durch die Labore der Hirnforschung, cognitive science etc. aussehen wird. Wiederum steht zu erwarten, dass die vielleicht erreichbare zweite Unmittelbarkeit eines durch die Aporien des Szientismus informierten Selbstverständnisses keineswegs eine bloße Rückkehr durch die Kleist’sche Hintertür in die erste Unmittelbarkeit des status quo ante vor der naturwissenschaftlichen Revolution bedeuten wird.

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3. Im Hauptteil meines Beitrags möchte ich jedoch den Blickwinkel wieder etwas verengen und die Frage nach dem Verlust einer ersten Unmittelbarkeit und den Perspektiven ihrer Überwindung für eine zentrale Kategorie unseres ethischen Selbstverständnisses, nämlich für die Tugend aufwerfen. Auch wenn Alasdair MacIntyre im Titel seines berühmten Buches von unserer Gegenwart als einem Zeitalter „After Virtue“9, nämlich als geprägt durch den Verlust verbindlicher und objektiver Konzeptionen von Tugenden und Lastern spricht, charakterisieren und bewerten wir einander doch hartnäckig mit Hilfe solcher Kategorien: Wir empören uns über ungerechtes Handeln, loben den Mut eines Kollegen, der sich gegenüber der Unternehmensführung für einen Auszubildenden einsetzt, schämen uns über die eigene Unbeherrschtheit oder Maßlosigkeit. Tugenden geben zudem als Ideale Zielpunkte für unsere eigene moralische Entwicklung vor – wir streben an, ein gerechter oder ein ehrlicherer Mensch zu werden. Schließlich sind Tugenden entscheidend für die Auszeichnung sog. supererogatorischen Handelns, also eines Handelns, das über das hinausgeht, wozu der Handelnde moralisch verpflichtet ist. Er leistet mehr, als von ihm erwartet werden kann. Solches Handeln kennzeichnen wir nun in der Regel mit aretaischen Begriffen: Mutter Teresa zeichnet sich durch heroische Tugenden aus – lediglich davon zu sprechen, dass ihr Handeln richtig war, trifft zwar zu, würde aber offenkundig dem ethischen Rang dieses Handelns nicht gerecht. Ich möchte nun wie eingangs angekündigt dem Zusammenhang zwischen Tugend und Reflexion auf drei verschiedenen Ebenen nachgehen: Zunächst möchte ich eine Gruppe von Tugenden in den Blick nehmen, die ich „Tugenden der ersten Unmittelbarkeit“ nennen möchte. Ihr Spezifikum besteht darin, dass Reflexion solche Tugenden aufhebt und zwar unwiederbringlich – sie lassen sich auf der Ebene einer zweiten Unmittelbarkeit nicht erneut begründen (3.1). Auf einer zweiten Ebene möchte ich dem Verdacht nachgehen, dass Reflexion nicht nur einzelne Tugenden unerreichbar werden lässt, sondern eine wahrheitsfähige Verständigung mithilfe von Begriffen wie denen von Tugenden und Lastern insgesamt unmöglich macht (3.2). Auf einer dritten Ebene schließlich möchte ich ein Argument vorstellen, das zeigen soll, dass gerade eine heute vielfach als Ausweg aus

9

MacIntyre (1984).

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den Verengungen der Modernen Ethik gepriesene Tugendethik daran scheitert, dass sie sich als Theorie selbst aufhebt und diejenigen, die ihr zu folgen versuchen, aus strukturellen Gründen in eine schizophrene Situation bringt (3.3). 3.1 Die Tugenden der ersten Unmittelbarkeit sind nicht zufällig – ich komme gleich auf die Gründe dafür zu sprechen – in der gegenwärtigen Forschung nahezu völlig unbeachtet geblieben. Für eine Diskussion muss man auf die ältere Literatur zurückgreifen, insbesondere auf die eingehenden Analysen in Nicolai Hartmanns Ethik aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts.10 Hartmann diskutiert die Tugenden der ersten Unmittelbarkeit insbesondere im Rahmen seiner Erörterung des Wertes der Reinheit.11 Die Opposition von Reinheit und Unreinheit bildet kulturgeschichtlich eine fundamentale ethische Unterscheidung, die ihre Bedeutung heute jedoch in westlichen Gesellschaftlichen nahezu ausschließlich noch in religiösen Kontexten behauptet. Die Reinheit charakterisiert Hartmann als „das sittliche Phänomen der Unbefangenheit, die Sicherheit und Selbstverständlichkeit des rechten Weges – ein Art sittlichen Instinktes der Abkehr vom Bösen ohne eigentliches Wissen um Gut und Böse“.

12

Zu den Tugenden der Reinheit gehören etwa Ehrlichkeit, Schamhaftigkeit und Keuschheit. Charakteristisch für sie ist erstens dass es sich um Tugenden handelt, die sich als Tugenden der Reinheit gerade dadurch auszeichnen, dass sie sich nicht gegenüber Versuchungen behaupten müssen. Eine Ehrlichkeit, die es ermöglicht, der Versuchung zu lügen zu begegnen, ist vielleicht auch eine Tugend, aber keine der Reinheit. Der Ehrliche in dem hier relevanten Sinne kommt gar nicht auf die Idee, etwas anderes als das, was er für wahr hält, zu sagen und unterstellt dies auch seinem Gegenüber. Das macht Persönlichkeiten wie etwa Gandhi die sich durch solche Tugenden der ersten Unmittelbarkeit auszeichnen so irritierend – und rückt sie in die Nähe von Kindern. Das tertium comparationis ist hier die Unschuld;

10 Hartmann (1962). 11 Vgl. ebd. Kap. 42, S. 407-416. 12 Ebd., S. 408.

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zugleich wird ein erster Grund sichtbar, warum die Tugenden der ersten Unmittelbarkeit in der Moderne kaum Beachtung gefunden haben – sie vertragen sich nämlich nicht mit einer Auffassung von Moral als Anstrengung, der zufolge Tugenden etwa kantisch gesprochen im Kampf mit den widerstrebenden Neigungen errungen werden müssen. Für den im Sinne der ersten Unmittelbarkeit ehrlichen Menschen liegt die Option, sich durch Lügen Vorteile zu verschaffen, einfach außerhalb des Vorstellbaren. Zweitens lassen sich solche Tugenden der ersten Unmittelbarkeit nicht zum Ziel des eigenen Handelns machen – sie geben also gerade kein anzustrebendes Ideal vor. Mit Hartmann gesprochen „Man kann sie wohl ersehen, sich nach ihnen verzehren, aber weder kann man sie zum Inhalt und Ziel der Intention machen, noch kann man sie ohne direkte Intention am eigenen Wesen realisieren.“13 Solche Tugenden kultivieren zu wollen, erweist sich als genauso aussichtslos, wie sich auf einer Party vorzunehmen, ungezwungen zu sein. Der bloße Vorsatz macht das Erreichen eines solchen Ziels unmöglich. Nichts wirkt gezwungener als vorsätzliche Ungezwungenheit. Hier wird indes ein Problem sichtbar, das auf einen zweiten Grund für die Vernachlässigung der Tugenden der ersten Unmittelbarkeit führt: Bei Tugenden handelt es sich um Charaktermerkmale, für die wir gelobt und getadelt werden, und zwar deshalb, weil wir für sie verantwortlich sind. Dies unterscheidet die ethischen Tugenden von den von Aristoteles sog. natürlichen Tugenden14 wie etwa Charme oder Witz. Charmant oder witzig zu sein sind Eigenschaften, die einem zufallen oder eben nicht (auch wenn sie sich dann natürlich auch kultivieren oder aber unterdrücken lassen), niemand verdient aber moralischen Tadel dafür, dass ihm ein charmantes Naturell verwehrt ist, und zwar deshalb nicht, weil er für sein Naturell nicht verantwortlich ist. Es ist für ihn nicht verfügbar. Genau das aber scheint auch für die Tugenden der ersten Unmittelbarkeit zu gelten, wenn sie sich denn weder direkt noch indirekt anstreben lassen. Drittens aber fallen auch die Tugenden der ersten Unmittelbarkeit nach Hartmann wenigstens insofern in den Bereich moralischer Verantwortung als wir zwar nicht für ihren Besitz, wohl aber für ihren Verlust verantwort-

13 Ebd., S. 412. 14 Zur Kategorie der natürlichen Tugenden vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI.13 sowie die Überlegungen bei Müller (1998), § 4 zum Verhältnis von ethischen und natürlichen Tugenden.

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lich sind: „Ist es gleich nicht möglich“ – schreibt Hartmann – „sie zu erringen, so ist es doch sehr wohl möglich sie zu bewahren.“15 Demzufolge verdienen wir möglicherweise zwar kein Lob, insofern wir die Tugenden der ersten Unmittelbarkeit besitzen, aber wir verdienen Tadel, insofern wir sie nicht (mehr) besitzen. Was von uns erwartet werden darf ist zwar nicht der Erwerb solcher Tugenden, wohl aber ihre Bewahrung. Was Hartmann dabei freilich übersieht ist die Tatsache, dass eine solche Bewahrung nicht nur durch individuelle Schuld unmöglich sein kann, sondern durch die kollektiven, kulturellen Rahmenbedingungen, die eine solche Bewahrung unmöglich machen. In der moralischen Entwicklung, die für nahezu alle Angehörigen westlicher Gesellschaften typisch ist, erweist sich die Vermeidung eben jener Formen von Reflexivität, die die Tugenden der ersten Unmittelbarkeit unwiederbringlich aufheben, als fast ausgeschlossen. Eine Tugend wie die der Keuschheit, insofern sie darauf beruht, bestimmte Formen des Umgangs mit der eigenen Körperlichkeit und Sexualität nicht einmal als möglich in Betracht zu ziehen, erscheint nicht aus Gründen individuell zurechenbarer Schuld, sondern aus kulturellen Gründen als nicht länger realisierbar. Die heutige Pädagogik setzt daher etwa in der Medienerziehung nicht auf Abschottung gegenüber Informationen und eben auch fragwürdigen Informationen, sondern auf die Erziehung zum reflektierten Umgang mit ihnen. Festzuhalten bleibt, dass in einer auf Reflexion gegründeten Kultur bestimmte Tugenden, nämlich diejenigen, die ich als solche der ersten Unmittelbarkeit bezeichnet habe, weitgehend verloren gegangen sind – und zwar nicht aus individueller Schuld oder aufgrund einer kollektiven Verfallsgeschichte, sondern aufgrund der Ontologie dieser Tugenden selbst, die sich mit einer solchen Reflexivität als unvereinbar erweist. Dieser Verlust bleibt als solcher zu konstatieren, in dem klaren Bewusstsein, dass er sich nicht ausgleichen lässt. Eine zweite Unmittelbarkeit der Keuschheit oder Ehrlichkeit bleibt ebenso inkonsistent wie eine zweite Naivität. 3.2 Nun mag es sein, dass einzelne Tugenden, eben die der ersten Unmittelbarkeit, aus Gründen ihrer speziellen Ontologie dem Reflexionsdruck der Moderne nicht standhalten. Einen viel weiterreichenden Verdacht hat der briti-

15 Ebd., S. 413.

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sche Moralphilosoph Bernard Williams jedoch in die Formel „reflection destroys knowledge“ gebracht.16 Williams zufolge ist uns in unserer reflexiven Kultur moralisches Wissen insgesamt unmöglich geworden und zwar gerade insofern solches Wissen die Kategorien von Tugenden und Lastern voraussetzt. Williams rechnet die Begriffe von Tugenden und Lastern zu den sog. dichten Begriffen; anders als sog. dünne Begriffe wie ‚richtig‘ und ‚falsch‘ eignet ihnen nicht nur eine wertende, sondern auch eine beschreibende Dimension:17 Wenn jemand eine seinem Gesprächspartner nicht näher bekannte Handlung als richtig bezeichnet, weiß dieser nichts über diese Handlung, außer, dass sie eben richtig ist. Wenn er sie dagegen etwa als freigebig bezeichnet, weiß sein Gesprächspartner, dass der Handelnde ein Opfer – sei es ein finanzielles oder sei es anderer Art – gebracht hat, indem er ein Gut, das ihm selbst wertvoll ist, einem anderen zu dessen Wohl zukommen lässt. Wer eine solche Handlung nun als freigebig bezeichnet, der fällt nach Williams ein wahrheitsfähiges Urteil – das eben dann wahr ist, wenn tatsächlich eine solche Handlung vorliegt. Würde jemand eine solche Handlung nicht als freigebig, sondern etwa als ehrlich bezeichnen, würden wir ihn ohne Mühe auf seinen Irrtum hinweisen oder aber die Frage aufwerfen, ob er die Begriffe ehrlich bzw. freigebig überhaupt verstanden hat. Moralische Wahrheit stützt sich also auf dichte Begriffe von Tugenden und Lastern, die wir mit Anspruch auf Objektivität unserer Praxis moralischer Bewertung zugrunde legen können. Eben dieser Anspruch wird aber nach Williams dadurch in Frage gestellt, dass wir in unserer reflexiven Kultur die Begriffe von Tugenden und Lastern selbst als keineswegs alternativlos erleben. Oben war von der Tugend der Keuschheit die Rede – auch Angehörige von westlichen Kulturen der Gegenwart können vermutlich eine keusche Weise des Auftretens im öffentlichen Raum zuverlässig von einer unkeuschen unterscheiden. Allerdings stellt sich die Frage, ob Keuschheit überhaupt eine Tugend darstellt. David Hume hat etwa in seiner Kritik an den sog. mönchischen Tugenden der christlichen Tradition wie etwa Demut oder eben Keuschheit die Frage aufgeworfen, ob solche traditionell als Tugenden eingeordneten Charak-

16 Vgl. Williams (1985), S. 167ff. 17 Zur Debatte um dichte und dünne Begriffe im Bereich der Ethik vgl. die grundlegenden Arbeiten Williams (1985), S. 140ff. sowie Scheffler (1987) und Blackburn (1992).

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termerkmale nicht vielmehr Laster seien.18 Die Keuschheit etwa scheitert an Humes Kriterien für den Status einer Tugend – nach Humes Auffassung nützt sie niemandem und als angenehm wird sie auch von niemandem empfunden. Oder handelt es sich bei der Keuschheit weder um eine Tugend noch um ein Laster, sondern um eine moralisch neutrale Charaktereigenschaft, die vielleicht bloß in den Bereich der Psychologie oder Soziologie fällt? Fragen, wie sie gerade in Bezug auf die Keuschheit formuliert wurden, lassen sich nun nach Williams in Bezug auf alle Tugenden stellen und sie lassen sich nicht nur stellen, sie werden von Angehörigen unserer Kultur notwendig gestellt. Die Orientierung an ganz anderen als den innerhalb einer bestimmten Kultur tradierten Konzeptionen von Tugenden und Lastern stellt nicht nur wie für das Mittelalter mit Blick auf die antiken Tugenden, die Augustinus als nichts als „glänzende Laster“ kritisiert hatte,19 eine zeitlich fernliegende Option dar, sondern sie wird uns in multikulturellen Gesellschaften an der Straßenecke als reale Option vorgelebt. Anders als auf die Frage, ob die Handlung x keusch ist oder nicht, erweist sich für Williams die Frage, ob Keuschheit eine Tugend, ein Laster, oder ein neutrales Charaktermerkmal ist, dagegen nicht einmal als wahrheitsfähig. Da diese fundamentale Frage jedoch unbeantwortet bleiben muss, gibt es ihm zufolge kein Zurück in ein ungebrochenes Vertrauen in die eigenen Begriffe von Tugenden und Lastern. Sie erschienen als eine Option unter vielen, die sich kausal durch die Zufälle der eigenen Kulturzugehörigkeit und Sozialisation erklären, aber nicht länger rechtfertigen lässt. Trifft Williams weitreichende Diagnose zu, sind uns also in unserer reflexiven Kultur nicht nur die Tugenden der ersten Unmittelbarkeit, sondern die Tugenden überhaupt abhandengekommen. Wir mögen weiter die uns

18 Zu Humes Kritik an den monkish virtues vgl. David Hume, Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals, hrsg. von L. A. Selby-Bigge, 3. Auflage überarbeitet von P. H. Nidditch, Oxford 1975, S. 270. 19 Die berühmt gewordene Formel der splendida peccata findet sich freilich gar nicht bei Augustinus selbst, sondern geht wohl auf Pierre Bayle zurück, vgl. dazu aber das Urteil von Mausbach (1929), Bd. 2, S. 259: „Ohne Zweifel hat Augustin durch seine wirkliche Lehre zu der geschärften Formulierung Anlass gegeben.“ Vgl. a. Schröder (2011), S. 210, Fn. 634 sowie zur augustinischen Auseinandersetzung mit den heidnischen Tugenden Irwin (2007), §§ 228-233.

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tradierten Tugenden zu kultivieren versuchen, aber wir können dies für Williams nur noch in dem Bewusstsein tun, dass dies funktional nützlich ist, weil es uns etwa Selbstvertrauen, Stabilität etc. vermittelt. Wir können jedoch nicht länger mit ihnen Wahrheitsansprüche der Form: „Wenn Du Keuschheit nicht zu den Tugenden rechnest, irrst Du Dich“ verbinden. Wiederum mit Kleist gesprochen würde uns die Reflexivität des historischen Bewusstseins und der multikulturellen Lebenswirklichkeit nicht bloß aus dem Paradies einer bestimmten Art von Tugenden, sondern aus dem der Tugend überhaupt aussperren. Williams Kritik wirft grundlegende Fragen der Ethikbegründung, auf die von der Relativismusdebatte bis hin zu metaethischen Fragen der Wahrheitsfähigkeit moralischer Wertung reichen. Ich muss mich hier darauf beschränken, drei Gründe zumindest zu nennen, aus denen ich glaube, dass die dichten Begriffe der Tugend durchaus und in höherem Maße als die dünnen des moralisch Richtigen und Falschen geeignet sind, dem Reflexionsdruck der Moderne standzuhalten; anders als Williams unterstellt, ist es keineswegs ausgemacht, dass sich keine verbindliche Liste von Tugenden formulieren und mit guten Gründen auch im Medium der Reflexion ausweisen lässt. Eine erste Strategie kann bei den sog. Sekundärtugenden oder auch strukturellen Tugenden ansetzen.20 Tugenden wie Mut oder Besonnenheit sind nicht konstitutiv bezogen auf bestimmte, moralisch lobenswerte oder zumindest akzeptable Ziele – auch ein Bankräuber kann pro tanto mutig sein. Vielmehr werden sie benötigt, um – im Falle des Mutes – Affekte des Zurückschreckens und Vermeidens, oder – im Falle der Besonnenheit – solche des Begehrens in Einklang zu bringen mit den Forderungen des als richtig Erkannten. Die Ausformung, die eine Tugend des Mutes etwa in der homerischen Gesellschaft erhält, mag durch die kontingenten Verhältnisse eines kriegerischen Ethos bestimmt sein. Die Notwendigkeit, Affekten des Zurückschreckens entgegenzuwirken, scheint jedoch in der menschlichen Natur selbst verankert zu sein und keineswegs an solche kontingenten Verhältnisse gebunden zu sein. Schwere Krankheiten erfordern nicht weniger die Tugend des Mutes als kriegerische Auseinandersetzung. Die Sekundärtugenden lassen sich mithin als ermöglichende Bedingungen von agency

20 Zur Unterscheidung von substantiellen und strukturellen bzw. exekutiven Tugenden vgl. Halbig (2013a), Kap. 2.3.

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überhaupt, also des Status einer nach Gründen handelnden Person, verteidigen. Eine zweite Strategie wird darüber hinaus in antiker Tradition Tugenden als die Charaktermerkmale zu fassen versuchen, die nicht bloß handelnde Personalität ermöglichen, sondern die einen konstitutiven Beitrag zum Glück bzw. zum Gedeihen, also zur Eudaimonie solcher Personen leisten. Gerechtigkeit etwa wird in der antiken Tradition nicht primär durch ihren Nutzen für die Ausgestaltung des menschlichen Zusammenlebens als Tugend legitimiert, sondern durch ihren konstitutiven Beitrag für ein gelingendes Leben des Gerechten selbst. Die Tugenden bilden aus dieser Sicht gerade nicht Internalisierungen von Forderungen kontingenter Praktiken des Zusammenlebens, sondern stellen umgekehrt Bedingungen eines gelingenden Lebens dar, die von jeder Ausgestaltung dieses Zusammenlebens zu achten sind.21 Eine dritte Strategie schließlich kann versuchen, Tugend ausgehend von intrinsischen Werten zu bestimmen. Tugenden werden hier als ihrerseits intrinsisch wertvolle Einstellungen zu intrinsischen Werten verstanden:22 Die Tugend der Ehrlichkeit lässt sich etwa als eine auf die Wahrheit als intrinsischem Wert antwortende Einstellung auffassen. Sie ist dabei nicht lediglich als Mittel zum Zweck wertvoll, insofern sie der Verbreitung wahrer Überzeugungen dient, sondern hat auch einen Wert an sich als angemessene Weise, diesem Wert gerecht zu werden. Alle drei Strategien stehen dabei keineswegs in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern können sich gegenseitig ergänzen und verstärken. Es besteht vor diesem Hintergrund kein Anlass, dem Projekt, eine Konvergenz auf einen Katalog universaler Tugenden und Laster auch und gerade unter den Bedingungen multikultureller Gesellschaften, globaler Vernetzung und ausgeprägtem historischem Bewusstsein geringere Chancen zuzutrauen als dem parallelen Bemühen um eine solche Konvergenz in Fragen der Menschenrechte, ein Bemühen, das aus meiner Sicht in fragwürdiger Weise im öffentlichen Bewusstsein das Ganze der Moral zu ab-

21 Das Problem des Verhältnisses von Tugend und Glück, verstanden als gelingendes Leben, wird diskutiert in Halbig (2013b). 22 Darin liegt die Kernidee der sog. rekursiven Theorie der Tugend, wie sie in ihrer elaboriertesten Form Hurka (2001) vorgelegt hat. Für kritische Überlegungen zu Hurkas Projekt und den Perspektiven seiner Fortentwicklung vgl. Halbig (2009).

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sorbieren droht. Vor diesem Hintergrund besteht entgegen Williams’ Kritik kein Anlass, in unserer moralischen Praxis den Anspruch, mit Hilfe der Kategorien von Tugenden und Lastern wahre moralische Urteile über uns selbst und andere fällen zu können, aufzugeben. Der Reflexionsdruck der Moderne mag die Realisierung einzelner Arten von Tugenden wie eben denen der ersten Unmittelbarkeit unmöglich machen, er stellt aber die zentrale Rolle der Kategorien von Tugenden und Laster weder in intra- noch in interkultureller Hinsicht in Frage. 3.3 Doch wie ist diese zentrale Rolle näher zu verstehen? Eine einflussreiche Strömung der modernen Ethik, die sog. Tugendethik, versteht die Tugend nicht nur als eine zentrale Kategorie unter mehreren, sondern versucht, die anderen Grundbegriffe der Moral auf diese zu reduzieren. Richtiges Handeln wird entsprechend definiert als ein Handeln, das den aktualen tugendhaften Charakter des Handelnden zum Ausdruck bringt oder das dem Handeln entspricht, für das sich eine tugendhafte Person unter den gegebenen Umständen entscheiden würde. Ich möchte nun auf einer dritten und letzten Ebene zeigen, dass das Projekt einer solchen Tugendethik scheitern muss und zwar deshalb, weil sie zu einer Form von Reflexivität zwingt, die mit der Tugend selbst in der Tat unvereinbar ist. Die Charakteristika der Tugendethik sowie das Problem der mit der Tugend selbst unvereinbaren Form von Reflexivität, auf das sie führt, lassen sich am besten an einem Beispiel erläutern. Herr Z, Abteilungsleiter in einem Baumarkt, wird von seinem Chef, Filialleiter M, darum gebeten, eine Beurteilung über den ihm unterstellten Mitarbeiter C abzugeben. Z weiß darum, dass M nach einem Vorwand sucht, C zu entlassen und sich von ihm eine entsprechend vernichtende Beurteilung erwartet. Z selbst ist aber durchaus davon überzeugt, dass C gute Arbeit leistet. Wenn sich Z nun die Frage stellt, wie er moralisch richtig auf den Auftrag seines Chefs reagieren soll, ob er also (i) eine wahrheitsgemäße Stellungnahme oder aber (ii) die vom Chef erhoffte und karrieredienliche vernichtende Stellungnahme abgeben soll, wird ihn die Tugendethik auf die eigenen Charaktermerkmale als Grundlage seiner Entscheidung verweisen, da sie es ja sind, die den deontischen Status einer Handlung festlegen, die also seine Handlung zu einer moralisch richtigen oder eben falschen Handlung machen.

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Nach Auffassung einer Form der Tugendethik, die von den Charaktermerkmalen des Handelnden selbst ausgeht,23 wird sich Herr Z fragen müssen, welche Handlung seine tugendhaften Charaktermerkmale bzw. die unter den verfügbaren Charaktermerkmalen besten zum Ausdruck bringt. Die Antwort liegt auf der Hand: Indem er dem Druck standhält und bei der Wahrheit bleibt, bringt er tugendhafte Charaktermerkmale wie Ehrlichkeit und Mut zum Ausdruck, zudem ist nicht zu sehen, welche stärker zu gewichtenden, tugendhaften Charaktermerkmale als diese für (ii) sprechen sollten. Nach Auffassung einer Form der Tugendethik, die von den Charaktermerkmalen einer idealen, tugendhaften Person ausgeht,24 wird sich Herr Z fragen müssen, wie eine solche tugendhafte Person in seiner Situation handeln würde. Die Antwort liegt wiederum auf der Hand: Sie würde im Sinne von (i) bei der Wahrheit bleiben. Die Tugendethik liefert also mit Blick auf unser Beispiel in den beiden hier exemplarisch herangezogenen Formen die richtige Antwort auf die Frage von Herr Z, wie er denn handeln sollte. Das Problem besteht indes darin, dass Herr Z, wenn er aus den genannten Motiven heraus handelt – nämlich entweder um seine tugendhaften bzw. relativ höchsten Charakter-

23 Für eine solche Auffassung von Tugendethik, die bei die den aktualen Charaktermerkmalen des Handelnden ansetzt, plädiert etwa Michael Slote: „Acts therefore don’t count as admirable of virtuous for agent-based theories […] merely because they are or would be done by someone who is in fact admirable or possessed of admirable inner states; they have to exhibit, express, or reflect such states or be such that they would exhibit, etc., such states if they occurred, in order to count as admirable or virtuous.“ (Slote (2001), S. 17, vgl. a. Slote (1995), S. 86f.) 24 So legen nach Auffassung von Rosalind Hursthouse nicht die aktualen Charaktermerkmale, aus denen jemand handelt, ihren deontischen Status fest; es genügt, wenn die Handlung dem entspricht, was jemand, der über einen tugendhaften Charakter verfügt, in der vorliegenden Situation tun würde: „An action is right iff it is what a virtuous agent would, characteristically, do in the circumstances, except for tragic dilemmas, in which a decision is right iff it is what such an agent would decide, but the action decided upon may be too terrible to be called ‚right‘ or ‚good‘. (And a tragic dilemma is one from which a virtuous agent cannot emerge with her life unmarred.)” (Hursthouse (1999), S. 79).

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merkmale zum Ausdruck zu bringen oder um dem Ideal einer tugendhaften Person nachzueifern – er zwar richtig handelt, aber nicht tugendhaft. Ein genuin ehrlicher Kollege von Z würde in derselben Situation dem Wunsch des Chefs widerstehen, weil er es dem Kollegen schuldig ist und er nur so bei der Wahrheit bleiben kann. Auch aus Sicht der Tugendethik kann das Verhalten von Z, insofern er aus den genannten Motiven heraus handelt, dabei durchaus nicht nur als richtig, sondern sogar als empfehlenswert betrachtet werden, allerdings nur dann, wenn Herr Z weit davon entfernt ist, über einen insgesamt tugendhaften Charakter zu verfügen. Gerade in diesem Fall kann es durchaus angemessen sein, sich an Fragen wie der, wie man denn das eigene ‚bessere Selbst‘, also die vorhandenen tugendhaften Merkmale, zum Ausdruck bringen kann, oder aber im vollen Bewusstsein der eigenen charakterlichen Mängel seine Handlungsentscheidungen aus der Perspektive des Ideals einer tugendhaften Person zu treffen. Festzuhalten bleibt aber, dass eine tatsächlich tugendhafte Person gerade als solche bei ihrer Entscheidungsfindung (von Ausnahmefällen abgesehen) weder den eigenen Charakter noch den idealisierten einer tugendhaften Person berücksichtigen wird. Die Tugendethik verlangt ihm mithin eine Form von Reflexivität ab, die seine Tugend aufhebt – ein Tugendhafter sollte eben möglichst wenig in Kategorien der eigenen Tugenden denken. Damit setzt sich die Tugendethik paradoxerweise genau dem Vorwurf der Schizophrenie aus, den Michal Stocker gegen Konsequentialismus und deontologische Ethik als paradigmatische Formen moderner Ethik gerichtet hatte – eine Kritik, die entscheidend dazu beigetragen hat, dem Projekt einer Tugendethik als konkurrierendem Paradigma normativer Ethik den Weg zu ebnen.25 Nach Stocker zwingt eine Theorie diejenigen, die sich von ihr Handlungsleitung versprechen, in eine schizophrene Situation, wenn sie es nicht zulässt, dass die Gesichtspunkte, die eine Handlung ihr zufolge richtig machen, auch motivational wirksam werden. So mag der hedonistische Egoismus, demzufolge eine Handlung richtig ist, insofern sie die Lustmenge des Handelnden maximiert, es untersagen, aus dem Motiv heraus zu handeln, dass die Handlung eben dies zu tun verspricht. Ein solches Verbot ergibt sich dann aus der Position des hedonistischen Egoismus, wenn sich herausstellt, dass der Verzicht auf ein durch die eigene Lustma-

25 Vgl. für die klassische Formulierung des Vorwurfs der Schizophrenie gegen die moderne Ethik Stocker (1976).

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ximierung motiviertes Handeln der Lustmaximierung förderlicher ist als ein so motiviertes Handeln. Ein Eingehen von privaten Bindungen wie dem Schließen einer Freundschaft oder einer Ehe mag zur Steigerung der eigenen Lust in höherem Maße oder vielleicht sogar überhaupt nur dann beitragen, wenn es uneigennützig erfolgt ist. Der hedonistische Egoismus stellt mithin, sollten diese empirischen Prämissen über die jeweiligen Folgen eigennütziger und uneigennütziger Motive für die Lustmaximierung des Handelnden zutreffen, eine Theorie dar, die sich – in der Formulierung Derek Parfits – selbst aufhebt.26 Auf der subjektiven Ebene des um Handlungsorientierung bemühten Subjekts entspricht diesem Merkmal von Theorien eben die psychologische Verfassung einer strukturellen Schizophrenie: Dem Subjekt wird abverlangt, sich bei der Entscheidung für eine Handlung nicht durch die Gründe motivieren zu lassen, von denen er gleichwohl überzeugt ist, dass sie für diese Handlung sprechen und sie zu einer richtigen Handlung machen. Auch wenn eine Theorie nicht dadurch inkonsistent wird, dass sie sich als handlungsleitende selbst aufzuheben zwingt, führt sie doch zu erheblichen Folgekosten: Erstens verwehren solche Theorien dem Handelnden ein grundlegendes Gut, nämlich die psychische und moralische Harmonie, die darauf beruht, dass unsere Überzeugungen über die guten Gründe, die wir haben, auch motivational wirksam werden und dass uns umgekehrt unsere Handlungsmotive als Ausdruck dieser Überzeugungen verständlich bleiben.27 Zweitens lassen uns solche Theorien bei der Handlungsorientierung im Stich: Sie treffen nur eine negative Aussage darüber, wodurch der Handelnde sich in seinem Handeln nicht motivieren lassen darf, nämlich durch genau die Gesichtspunkte, die ihnen zufolge seine Handlung richtig bzw. falsch machen. Insofern sie aber keine Auskunft darüber geben, was an deren Stelle treten sollte, versagen sie bei einer zentralen Aufgabe ethischer Theoriebildung. Die Tugendethik erweckt nun prima facie den Eindruck, dass sie aufgrund ihrer Orientierung an den Charaktermerkmalen und Motiven des Handelnden, wie sie von konsequentialistischen und deontologischen Ethiken nach Stockes Diagnose charakteristischerweise vernachlässigt wurden,

26 Parfit sricht von „self-effacing theories“, vgl. Parfit (1984), S. 24. 27 Vgl. Stocker (1976), S. 454.

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besonders gut geeignet zu sein, den Problemen der Selbst-Aufhebung und der Schizophrenie als deren subjektiven Korrelaten zu entgehen. Bei näherer Prüfung etwa an unserem Beispiel des Abteilungsleiters zeigt sich indes, dass das genau Gegenteil der Fall ist: Beide Probleme stellen sich für die Tugendethik nicht nur gleichermaßen, sondern in noch stärkerem Maße als dies bei den beiden konkurrierenden Paradigmen der Fall ist: Für eine Position wie den egoistischen Hedonismus nämlich ergeben sich beide Probleme aus lediglich kontingenten Gründen: Wenn es der Fall wäre, dass die Orientierung an der eigenen Lustmaximierung auch das geeignetste Mittel zu einer solchen Lustmaximierung darstellt, würde sich der egoistische Hedonismus nicht länger selbst aufheben – in diesem Fall nämlich würde er dazu anleiten, sich durch genau die Gesichtspunkte, die ihm zufolge eine Handlung zur richtigen Handlung machen, auch zu dieser Handlung motivieren zu lassen. Die Tugendethik jedoch stellt nicht bloß aus kontingenten, sondern aus strukturellen Gründen eine sich selbst aufhebende Theorie dar:28 Sie verlangt nämlich etwa von einem ehrlichen Menschen sich an etwas anderem als an der Wahrheit zu orientieren, nämlich an Charaktermerkmalen – sei es den eigenen, sei es denen einer tugendhaften Person – und damit an Gesichtspunkten, an denen er sich gerade als tugendhafter Mensch nicht orientieren darf. Wenn Herr Z in unserem Beispiel sich etwa fragt, welche der eigenen Charaktermerkmale er mit dem Ausstellen einer wahrheitsgemäßen Beurteilung zum Ausdruck bringt, stellt er nicht etwa in Bernard Williams berühmter Formulierung „eine Überlegung zu viel an“, sondern die von vornherein falsche Art von Überlegung: Von einem ehrlichen Menschen erwarten wir, dass es ihm um die Wahrheit zu tun ist, nicht darum, wie er seinen eigenen tugendhaften Charakter artikulieren kann. Ein solches Anliegen erscheint in fragwürdiger Weise als selbstbezogen. Die Tugendethik kann dem Problem der Schizophrenie auf dreifache Weise zu begegnen versuchen: Erstens kann sie ihren Anspruch aufgeben, überhaupt eine ethische Theorie anzubieten. Anstatt eine reduktive Definition des Begriffs richtigen Handelns vorzulegen, kann sie sich etwa darauf beschränken, eine Phänomenologie tugendhaften Handelns zu entwerfen. Auf diese Weise kann das Problem der Schizophrenie gar nicht erst entstehen, zugleich wird damit

28 Auf diesen Unterschied zwischen tugendethischen und konsequentialistischen Theorien macht Hurka (2001), S. 247 zu Recht aufmerksam.

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aber auch das fundamentale Programm der Tugendethik aufgegeben, eine dritte Theorieoption der normativen Ethik neben konsequentialistischen und deontologischen Ansätzen zu entwickeln. Zweitens kann sie an ihrem Anspruch festhalten, eine Theorie richtigen Handelns zu entwickeln, aber zugleich bestreiten, dass dieser Theorie eine handlungsleitende Rolle zukommt. Die tugendethische Theorie bleibt demnach beschränkt auf den Bereich philosophischer Reflexion, ihre Aufgabe besteht von vornherein nicht darin, von der erstpersönlichen Perspektive angeeignet zu werden und eine Antwort auf die Frage: „Was soll ich jetzt tun?“ zu liefern. Diese zweite Strategie scheint etwa Michael Slote zu verfolgen, der „some sort of split between valid moral principles and what guides action“29 konstatiert und zugleich bestreitet, dass eine solche Spaltung ein Problem darstellt.30 Gestützt auf die Moralphänomenologie hält es Slote in der Tat für ein konstitutives Merkmal eines Handelns, das etwa die Tugend des Wohlwollens (benevolence) zum Ausdruck bringt, dass der Handelnde in seiner deliberativen Perspektive ausschließlich die Person oder die Personen und deren Wohl im Blick hat, denen er Wohlwollen entgegenbringt.31 Slote räumt ein, dass jede Beschäftigung mit dem eigenen Charakter, etwa anhand der Frage, wie die Tugend des Wohlwollens hier angemessen zum Ausdruck gebracht werden kann, die Tugendhaftigkeit der entsprechenden Handlung zumindest mindert.32 Für Slote scheint es aber gerade deshalb geboten, die Frage „Was soll ich tun?“ ausschließlich aus der Perspektive der tugendhaften Person selbst zu stellen, und zwar ohne Berücksichtigung der Ergebnisse philosophischer Theoriebildung. Drittens schließlich kann in Analogie zu indirekten Formen des Konsequentialismus, die als Antwort auf das Problem der Selbstaufhebung zwischen Primärprinzipien, die eine Handlung richtig oder falsch machen, und Sekundärprinzipien, die eine Antwort auf die Frage geben, wonach sich die um Handlungsorientierung bemühte Person richten sollte, versucht werden, eine indirekte Form der Tugendethik zu entwerfen. So könnte etwa die Ori-

29 Slote (2001), S. 45. 30 Vgl. ebd., S. 43: „I believe that a split between moral theory/principles and what moral people think about it is not as inappropriate or implausible as some have thought […].“ 31 Vgl. ebd., S. 39. 32 Vgl. ebd., S. 46.

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entierung an der Wahrheit als handlungsleitendes Sekundärprinzip an die Stelle des Primärprinzips treten, die eigene Ehrlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Einem solchen Projekt steht jedoch die vorhin hervorgehobene Tatsache entgegen, dass die Tugendethik nicht aus kontingenten, sondern aus strukturellen Gründen mit dem Problem der Selbstaufhebung konfrontiert ist. Dass mit Hilfe etwa von Sekundärprinzipien den kontingenten Problemen, die sich etwa für das Projekt eines egoistischen Hedonismus daraus ergeben, dass ein Handeln das durch Maximierung der eigenen Lust motiviert ist, dieses Ziel gerade nicht erreicht, Rechnung getragen werden kann, mag aus der internen Logik einer solchen Position heraus einsichtig zu machen sein. Dies gilt aber nicht für eine Tugendethik, die mit dem fundamentalen Problem behaftet bleibt, dass sie die Orientierung an der aus ihrer Sicht fundamentalen Kategorie, nämlich dem tugendhaften Charakter, nicht etwa aus lediglich empirischen Gründen nicht als die bestmögliche Strategie auffassen, sondern sie gerade aus der Perspektive der Tugend für intrinsisch verwerflich halten muss. Keine der drei Strategien vermag mithin das Problem der Schizophrenie überzeugend zu bewältigen: Mit der ersten Strategie hebt sich die Tugendethik als Projekt philosophischer Theoriebildung selbst auf und wird bestenfalls zu einer Form der Theorieskepsis bzw. Anti-Theorie-Theorie,33 mit der zweiten Strategie behauptet sich die Tugendethik als Theorie, beraubt sich aber jeder handlungsleitenden Funktion und beschränkt sich in einer für den essentiell praktischen Bereich der Ethik fragwürdigen Weise auf eine rein theoretische Funktion, mit der dritten Strategie schließlich hebt sich die Tugendethik erneut selbst auf, insofern die Forderung an den Tugendhaften, sich z. B. nicht etwa an der Frage zu orientieren, wie die Tugend der Ehrlichkeit angemessen zum Ausdruck gebracht werden kann, sondern schlicht die Wahrheit im Blick zu behalten, zwar der Moralphänomenologie gerecht wird, aber unmittelbar die Frage aufwirft, warum es nicht die Orientierung an der Wahrheit (im Falle der Ehrlichkeit), die am Wohl des Anderen (im Falle der Hilfsbereitschaft) etc. selbst sind, die die entsprechenden Handlungen eben zu richtigen Handlungen macht. Das Sekundärprin-

33 Zur Theorieskepsis bzw. zur Anti-Theorie-Theorie vgl. Clarke (1987), Baier (1985), chap. 12 „Doing Without Moral Theory?“, und die in Clarke & Simpson (Hrsg.) (1989) versammelten Aufsätze.

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zip, weit entfernt davon, dem tugendethischen Primärprinzip zu handlungsleitender Kraft zu verhelfen und aus diesem heraus verständlich zu bleiben, setzt sich vielmehr an dessen Stelle. 3.4 Welches Fazit ist nach so viel philosophischer Reflexion, oder mit Kleist gesprochen, nach einem abermaligen und wiederholten Zugriff auf den Baum der Erkenntnis, zu ziehen mit Blick auf unsere Ausgangsfrage: Wie viel Reflexion verträgt die Tugend? Eine bestimmte Art von Tugenden hat sich aus Gründen, die in der Ontologie dieser Tugenden selbst angelegt sind, als unvereinbar mit dem Reflexionsdruck erwiesen, der in modernen Gesellschaften nahezu unausweichlich geworden ist. Dieser Umstand stellt weder den Wert dieser Charaktermerkmale noch ihren Status als Tugenden in Frage: Ihr Verlust ist vielmehr sehr wohl auf der Verlustseite der Bilanz der Moderne zu verbuchen, freilich im klaren Bewusstsein, dass jeder Versuch ihrer Restauration in einer erneuten ersten oder ihrer Wiederaneignung in einer zweiten Unmittelbarkeit scheitern muss. Dieses Schicksal einer einzelnen Art von Tugenden bleibt aber zu trennen von der Frage, ob mit Hilfe der Kategorien von Tugenden und Lastern objektiv wahre Urteile möglich sind – und zwar in einer universal gültigen, nicht auf einzelne Kulturen oder Epochen relativierbaren Weise. Entgegen der Kritik Bernard Williams‘ besteht kein Anlass, an dieser Möglichkeit zu zweifeln – sie bedarf freilich der argumentativen Rechtfertigung im Rahmen philosophischer Begründungsprogramme. Welche Charaktermerkmale es verdienen, als Tugenden ausgezeichnet zu werden, welche als Laster kritikwürdig sind und welche aus dem Raum moralischer Bewertung ganz herauszunehmen sind, sind Fragen, die sich nur auf dem Wege philosophischer Reflexion klären lassen. Der Versuch allerdings, die Kategorie der Tugend als die fundamentale Kategorie der Ethik anzusetzen, und Handlungen nur insofern als richtig oder falsch zu beurteilen, als sie Tugenden bzw. Laster zum Ausdruck zu bringen, scheitert notwendig daran, dass sie dem Tugendhaften eine Reflexivität abverlangt, die ihm wesensfremd bleibt. Die Tugenden zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie den Blick eröffnen für die Wirklichkeit, insbesondere die anderer Personen, und die normativen Ansprüche, die sich aus ihr ergeben. Der ehrliche Mensch gibt der Wahrheit die Ehre, der mit-

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fühlende orientiert sich am Leiden der Person, der seine Empathie gilt, der hilfsbereite hat die Notlage im Blick, die es abzustellen gilt. In solchen Fällen die Frage als moralisch grundlegend zu betrachten, wie der Handelnde seine Ehrlichkeit, sein Mitgefühl oder seine Hilfsbereitschaft am besten zum Ausdruck bringen kann, erscheint moralisch fragwürdig, vor allem aber widerspricht diese Form der Reflexivität dem Wesen der Tugend selbst. Die Kategorie der Tugend wird sich mithin auch unter den Bedingungen einer zweiten, durch die Reflexion hindurchgegangenen Unmittelbarkeit behaupten können, freilich nur dann, wenn sie auf die Ansprüche der Tugendethik verzichtet, die Tugend zum fundamentalen Begriff der Ethik überhaupt zu machen.

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Transit durch die Unendlichkeit oder (Sündenfall)2? Kleist im Spiegel der philosophischen Frühromantik

S ARAH S CHMIDT

1. E INLEITUNG : W AR K LEIST R OMANTIKER ? Mit seinen komplexen Schachtelsätzen, die in chirurgischer Manier die Feinmotorik der Affekte freilegen, nüchtern analytisch und zugleich voller emotionaler Plastizität, lässt sich Kleist – ähnlich wie Hölderlin und Jean Paul – schwer in den germanistischen Epochenschrank einordnen. Man könnte also mit einer Frage anfangen, die die Kleistforschung intensiv beschäftigt und als epochengeschichtliches Rätsel offenbar auch heute noch Kolloquien generiert, in denen Motivik, Themenwahl und Stilelemente gegeneinander abgewägt werden:1 War Kleist Aufklärer, Klassiker, Romantiker oder wagt er als Dekonstruktivist bereits den Sprung in die Moderne? Verfolgen wir die realgeschichtlichen Kontakte und wechselseitigen Rezeptionsbeziehungen in Bezug auf die Romantik, so wird deutlich, dass Kleist zwar in das diskursive Netz der als Romantiker etikettierten Literaten und Denker eingebunden war – im Urteil eben jener Zeitgenossen jedoch nur sehr bedingt Anerkennung fand. In Dresden lernte Kleist bereits 1803 Friedrich de la Motte Fouqué, bei seinem späteren Aufenthalt 1807 Gotthilf

1

Vgl. so z. B. die Beiträge des aktuellen Sammelbands Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hg. von Christine Lubkoll u. Günter Oesterle u. a., Würzburg 2001.

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Heinrich von Schubert, Adam Heinrich Müller und 1808 Ludwig Tieck kennen. In Berlin stand Kleist in freundschaftlichem Kontakt mit der Salonière und Schriftstellerin Rahel von Varnhagen und der Buchhändlersgattin Sophie Sander, die wie Kleists Verleger Reimer2 in Berlin zu den Multiplikatoren des romantischen geistigen Lebens gezählt werden können.3 Im Kreis um Sophie Sander trat er im Frühjahr 1810 mit Achim von Arnim, Clemens Brentano, Karl Friedrich Gottlob Wetzel und Friedrich Wilhelm Neumann in Kontakt. Die beiden großen Publikationsprojekte, den 1808 in Dresden erschienenen Phöbus und die 1810 bis 1811 gedruckten Berliner Abendblätter, in die Kleist mehr Ehrgeiz und Hoffnung setzte, als diesen Projekten an Erfolg beschieden war, starteten mit weitgehend „romantischer“ Besetzung und sind Kleists Versuch, selbst zum Multiplikator der Epoche zu werden.4

2

Mit Reimer stand Kleist in einen unaufgeregten herzlichen Kontakt. Reimer gab die meisten der zu Lebzeiten erschienenen Werke Kleists heraus (der erste und zweite Band der Erzählungen 1810 u. 1811, Das Kätchen von Heilbronn 1810, Der zerbrochene Krug 1811) sowie den von Ludwig Tieck besorgte Nachlass 1826.

3

Auch in der von Arnim 1811 gegründeten und von Adam Müller mitbetriebenen „Christlich-deutschen Tischgesellschaft“, in der sich die Redner durch antisemitische Tendenzen auszeichneten, zu der Juden, Frauen, Franzosen und „Philister“ keinen Zugang hatten, war der Name Kleist als Mitglied eingetragen. Die durch Reinhold Steig initiierte These (vgl. Steig, Heinrich von Kleist’s Berliner Kämpfe, Berlin/Stuttgart 1901), dass Kleists Berliner Abendblätter das Sprachrohr dieses Kreises war, gilt mittlerweile als entkräftet (vgl. Gerhard Schulz, Kleist. Eine Biographie, München 2011, S. 464.), ebenso fraglich ist, wie aktiv Kleist an diesem Kreis Teil hatte. Kleist teilte wohl den Antinapoleonismus und Nationalismus (vgl. Wolfgang Thorwart, Heinrich von Kleists Kritik der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien, Würzburg 2004, S. 248ff.), nicht jedoch die antisemitischen Tendenzen mit dieser Tischgesellschaft.

4

Im Phöbus schrieben neben Müller und Kleist unter anderem Friedrich de la Motte Fouqué, Karl Friedrich Gottlob Wetzel, der romantische Naturwissenschaftler Gotthilf Heinrich Schubert, der Däne Adam Gottlob Oehlenschläger, und auch Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck und waren zumindest für das Journal in Dresden angeworben worden und der 1801 verstorbene Novalis war als Autor vertreten. An den von Adam Müller mitherausgegebenen Berliner

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Einen Eindruck des zeitgenössischen Urteils vermittelt das in Briefen erhaltene gesellschaftliche Geschwätz über den Freitod am kleinen Wannsee, mitleidig, bissig und oder schwulstig, das sich oberflächlich auf den Freitod, hintergründig jedoch auch auf den Literaten Kleist bezieht und Unsicherheit und Irritation zum Ausdruck bringt - darin unterscheidet es sich nicht von dem Urteil zu Lebzeiten.5 Meine Intention ist es nun weder, diese allgemein bekannte Skizze der realgeschichtlichen diskursiven Zusammenhänge weiter zu treiben, die im Detail vor allem dann interessant wären, wenn sie neuen Verbindungslinien den Weg wiesen; noch möchte ich im engen Sinne in die Diskussion um eine epochengeschichtliche Einordnung einsteigen. Die Frage nach der epochengeschichtlichen Einordnung ist immer dann anregend, wenn sie dazu dient, die Eigentümlichkeit eines Autors oder Denkers zu konturieren – die Frage nach seiner Klassifizierbarkeit, zumal bei einem höchst problematischen Epochenetikett wie dem der Romantik6, bleibt immer zweitrangig. In diesem Sinne möchte ich mich im Folgenden der philosophischen Frühromantik als einer Art gedanklichen Spiegelfläche zuwenden, in Namen den Philosophen Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher, die eine Reflexion über Kleists Marionettentheateraufsatz anleiten soll.7 Im

Abendblätter beteiligten sich u. a. Clemens Brentano, Achim von Arnim, Karl Friedrich Gottlob Wetzel und Friedrich de la Motte Fouqué. 5

Vgl. die von Helmut Sembdner zusammengestellte Sammlung an Briefen und Zeugnissen der Zeitgenossen in der Kleist Gesamtausgabe Bd. 8, München 1969.

6

Dass die Romantik als Epochenbezeichnung problematisch ist, je nach dem, ob man sie im europäischen oder im nationalen Rahmen, philosophisch oder literarisch untersucht und welchen Denkerkreis man zum Ausgangspunkt wählt – den frühen und späten Berliner, den Jenenser, Dresdner oder Heidelberger, darf als Allgemeinplatz gelten. Bezogen auf das heterogene Urteil über die Kleistsche Zugehörigkeit zur Romantik vgl. Friedrich Strack, „Suchen und Finden. Romantische Bewusstseinsstrukturen im Werk von Heinrich von Kleist?“, in: KleistJahrbuch 1990, hg. von Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart 1991, S. 86–112, hier S. 87f.

7

Eine gedankliche und poetologische Nähe dieser von Kleist erzählerisch ins Jahr 1801 versetzten Schrift zur philosophischen Frühromantik wurde von der älteren Kleistforschung betont, insbesondere Hanna Hellmanns wegweisenden Kleist-

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Aufzug dieser frühromantischen Spiegelfläche geht es mir um Friedrich Schlegels und Schleiermachers Spinozalektüre und der daraus gewonnen Auffassung der unhintergehbaren Geschichtlichkeit des Menschen bzw. eines „ewigen Anfangens aus der Mitte“ und die daran anschließenden Frage nach einer möglichen Orientierung. Es ist der Versuch die Mangelhaftigkeit des Denkens durch das Denken selbst einzuholen, welches die Frühromantik und Kleist verbindet: durch ein potenziertes Denken, wie Schlegel formuliert, ein Denken, das durch die Unendlichkeit durchgegangen ist, wie Kleist formuliert, oder ein Denken, das sich in einer radikaleren Form als bei Kant selbst Methode und Gegenstand zugleich ist; eine Kritik der Kritik, ein Philosophie der Philosophie oder auch, um es mit dem biblischen Motiv auszudrücken, ein Sündenfall des Sündenfalls. Spiegelt sich Kleists Text hinsichtlich des philosophischen Problemaufrisses und der Zielvorstellung durchaus in der frühromantischen Philosophie, so findet sich wenig von ihrem Optimismus. Mit Blick auf das dramatische und erzählerische Werk, das hier nur ausschnitthaft und exemplarisch angeführt wird, erscheint Kleist nicht als imaginierter höchster Marionettenspieler, sondern vielmehr als dessen gewitzter Zauberlehrling, der die unzulänglichen Menschenmarionetten im Kampf zwischen Gravität und Antigravität vorführt und mit ihrem Ziehen und Zerren an den Fäden das gesamte Marionettenwerk zum Klingen bringt.

studien zur triadischen Struktur im Marionettentheater (Hanna Hellmann, Heinrich von Kleist, Heidelberg 1911 sowie der 1967 in dem Aufsatzband von Helmut Sembdner nachgedruckte Aufsatz „Über das Marionettentheater“, in: Helmut Sembdner (Hg.), Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1967, S. 17–31), Walter MüllerSeidel Untersuchungen zur erkenntnistheoretischen Position Kleists (Walter Müller-Seidel, Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln/Graz 1961 sowie Ders., „Kleists Wege zur Dichtung“, in: Die Deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive, hg. von Hans Steffen, Göttingen 1967, S.112–133), den Aufsätzen von Clemens Hesselhaus (Hesselhaus, Clemens, „Das Kleistsche Paradox“, in: Sembdner (Hg.) 1967, S. 112–131) und Beda Allemann (Beda Allemann, „Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch ‚Über das Marionettentheater‘“, in: Kleist-Jahrbuch (1981/82), Berlin 1983, S. 50 – 65) zur Figur der Paradoxe sowie der oben erwähnte Aufsatz von Friedrich Strack (Strack 1991). Auf sie wird an entsprechender Stelle verwiesen.

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2. D ER ROMANTISCHE S PIEGEL : F. S CHLEGEL , F. S CHLEIERMACHER UND DIE L EHRE DES H ERRN S PINOZA Eine der fundamentalen Einsichten, die die beiden Frühromantiker Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher verbindet, ist die der radikalen Geschichtlichkeit des Menschen, sein Gefangensein im kontingenten Denken und bedingt freien Handeln, aus der kein systematischer Zweifel, keine Transzendentalkritik à la Kant und keine Grundsatzphilosophie à la Fichte herausführen kann. Und es geht weniger darum, diese Geschichtlichkeit hinter sich zu lassen, als darum, ihr Movens zu bereifen und in der Bestimmung dieser Prozessualität eine Orientierung zu gewinnen. War Schlegel 1796 noch in Fichte-Begeisterung in Jena eingetroffen, so bestimmte die Mitarbeit und der Eintritt in den Diskussionszusammenhang der Autoren des von Niethammer herausgegebenen Philosophischen Journals eine Wende, in der sich Schlegel kritisch gegen eine Philosophie aus einem obersten Grundsatz wendete, wie sie bei Reinhold, Fichte, aber auch Jacobi vorlag.8 Anstelle eines unbedingten und aus diesem Grunde obersten Grundsatzes, auf dem Erkenntnis ‚zum Stehen‘ kommt, setzt Friedrich Schlegel die Idee einer quasi ‚schwebenden‘ Begründung der Philosophie in Form eines „Wechselgrundsatzes“ oder „Wechselerweises“: „Wie wenn nun aber ein von außen unbedingter, gegenseitig aber bedingter und sich bedingender Wechselerweis der Grund der Philosophie wäre?“9

8

Zur Kritik am Grundsatz-Denken der Frühromantik vgl. Manfred Frank, ‚Unendliche Annäherung‘. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main 1997.

9

Friedrich Schlegel, „Jacobis Woldemar“, in: Ders., Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Kritische Ausgabe II, hg. von Hans Eichner, München u. a. 1967, S. 57–77, hier S. 72. Eine Weiterführung dieses Gedankens findet sich vor allem im Philosophischen Journal und ist als eine Auseinandersetzung mit Fichtes Idee einer wechselseitigen Begründung zu verstehen. Schlegel wendet in seiner Fortführung des Gedankens jedoch Fichte gegen Fichte, indem er diesen Gedanken an einem anderen Platz in der Fichteschen Systematik einklagt und den Wechselerweis so zu einem grundsatzkritischen, alternativen Begründungsmodell macht.

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Einen Niederschlag findet der Gedanke des „Wechselerweises“ vor allem in den Philosophischen Lehrjahren (1796-1806), Schlegels frühe philosophische Aufzeichnungen, eine Art philosophisches Notizbuch, dessen Beginn er auf 1796 datiert, d. h. mit seinem Aufenthalt in Jena beginnt.10 Ist es der Diskussionszusammenhang des Niethammerschen Journals, das Schlegels Denken die entscheidende Wende gibt, so ist es die Begegnung mit Friedrich Schlegel mit der für Schleiermacher eine neue Periode anbricht.11 Gemeinsamer Ausgangspunkt ihrer symphilosophischen Freundschaft ist Spinozas Ethik, die Schleiermacher und Schlegel bei Ihrer Begegnung in Berlin verbindet.12 Die Übernahme, Umdeutung und Weiterführung dieses Spinozistischen Ausgangspunktes bei den Frühromantikern, die insbesondere in Friedrich Schleiermachers philosophischen Vorlesun-

10 Zu Friedrich Schlegels Philosophie des Wechselerweises vgl. Birgit RehmeIffert, Skepsis und Enthusiasmus. Friedrich Schlegels philosophischer Grundgedanke zwischen 1796 und 1805, Würzburg 2001 sowie Sarah Schmidt, Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin/New York 2005, S. 39–51. 11 So das Bekenntnis Schleiermachers in einem Brief an seine Schwester Charlotte, vgl. F. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, V 2, hg. von A. Arndt u. W.Virmond, Berlin/NewYork 1988, Brief Nr. 402. 12 Eine Auseinandersetzung Schleiermachers mit Spinoza läßt sich zu Beginn der 1790er Jahre datieren, also in eine Zeit, in der sich, ausgelöst durch Jacobis Spinozabuch Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelsohn von 1785, ein passionierter Streit über religionsphilosophische und erkenntnistheoretische Grundlagen entzündet. In seinem Spinozabuch stellt Jacobi Lessing als einen Vertreter der Spinozistischen Philosophie vor und interpretiert Spinozas Ethik als ‚perfekt‘ rationalistische Philosophie, deren konsequente Ausführung notwendig in den Atheismus führe. Schleiermachers Spinozalektüre, die zunächst eher durch ein Interesse an Jacobi als an Spinoza motiviert ist, schlägt sich in der Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems nieder, die wahrscheinlich 1793/94 während seines Berlinaufenthaltes als Schulamtskandidat entstand, und basiert zu diesem Zeitpunkt auf der zweiten, veränderten Auflage des Spinozabuches von Jacobi von 1789, das er zuvor gründlich exzerpiert und zum Teil kopiert hatte. Über eine eigene Spinoza-Ausgabe konnte Schleiermacher erst ab 1799 verfügen.

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gen eine Ausführung findet, möchte ich im Folgenden in fünf Aspekten umreißen.13 Die sich im Endlichen unendlich realisierende Substanz – Das Wechselverhältnis von Individualität und Universalität Von Spinoza übernehmen die beiden Frühromantiker die Idee einer sich im Endlichen auf unendliche Weise realisierenden Substanz. Wenn sich die Substanz im Endlichen auf unendliche Weise realisiert, so wird sie selbst als realisierte Substanz und nicht als abstrakt gedachte causa sui im gleichen Maße erst einsichtig wie das Bestimmte in seiner Bestimmung erst einsichtig wird, wenn der gesamte Kontext dieser Bestimmung – die realisierte Substanz einsichtig wird. Der wechselseitige Verweis von Einzelnem und Ganzen wird im frühromantischen Denken zum Wechselverhältnis von Universalität und Individualität, die gleichermaßen aufgegeben sind und zwei grundsätzliche Richtungen vorgeben, in die sich das menschliche Erkenntnisstreben aufmachen kann, um gleichwohl zirkulär aufeinander zu verweisen. Die Totalität des Individuellen muss, wie Schlegel in der Jenaer Vorlesung zur Transzendentalphilosophie (1800-1801) formuliert, als „Bild der unendlichen Substanz“14 begriffen werden und in diesem unendlichen Darstellungsverhältnis ist das Individuum als Individuum, als ein in seiner Einzigartigkeit aus der Totalität Erkanntes, genauso aufgegeben wie das Absolute und mithin unendlich. Umdeutung der Attribute: Menschliche Tätigkeit ist eine je eigene Mischung eines absoluten Gegensatzes An die Stelle einer sich in ihren Attributen unendlich – für den Menschen in Form der Attribute Ausdehnung und Denken zweifach und parallel – realisierenden Substanz tritt bei Schleiermacher und Schlegel jedoch ein ursprünglicher „absoluter Gegensatz“: eine als „pure Materialität“, „absolute Mannigfaltigkeit“ oder Chaos vorgestellte Natur und eine als „absolute Einheit“ vorgestellte Vernunft, die Schleiermacher einzelnen Nachschriften

13 Ich stütze mich dabei auf umfassende Untersuchungen, die ich an anderer Stelle vorgenommen habe, insbesondere meine Untersuchung zu Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, vgl. Schmidt 2005, auf die ich an entsprechender Stelle verweise. 14 F. Schlegel, „Philosophische Vorlesungen (1800–1807)“, KA XII, S. 39.

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seiner Dialektik-Vorlesungen nach zu urteilen auch zuweilen „Gott“ nennt. Die Realisierung des Absoluten kann in zweierlei Richtungen beschrieben werden: Es ist das In-Erscheinung-Treten der Vernunft als Gehaltwerden purer Identität und das In-Erscheinung-Treten der Natur als Gestaltwerden reiner Mannigfaltigkeit. Schleiermacher entwickelt und benennt diese Pole in seinen Dialektikvorlesungen in einer Art philosophischen Näherungsverfahren, indem er nach dem kleinstmöglichen Urteil und dem größtmöglichen Begriff fragt und sie als Denkgrenzen bestimmt, die das Denken bestimmend gleichwohl außerhalb des Denkens liegen.15 Alles reale Denken, Handeln und Fühlen ist eine je eigene Mischung dieses Gegensatzes; im Vorgriff auf Kleist könnte man sagen, ein mehr oder weniger aus dem optimalen Gleichgewicht geratene Mischung dieser beiden absoluten Pole. Gefangenheit im Endlichen: Knechtschaft der Affekte und das ewige Anfangen aus der Mitte In Spinozas Ethik folgt alles Endliche (natura naturata) einem strengen Determinationszusammenhang, in dem eine Modifikation immer auf eine andere Modifikation verweist, und es entsteht eine endlose Kette einander bedingender endlicher Modifikationen, ein unendlicher komplexer Zusammenhang von Ursache und Wirkung. So viele Erfahrungen wir auch machen, so bildet sich uns dieses unendlich verzweigte Netz von Ursache und Wirkung immer nur in Ausschnitten ab und unsere Erkenntnis, die wir auf diese Weise gewinnen, kann immer nur ein Vorstellen sein. „Irrtum“ ebenso wie „das Böse“ hat für Spinoza daher keine „positive Form“, die es uns erlaubt, die wahre von der falschen Vorstellung zu trennen. Denn jede Vorstellung ist in gewisser Weise ein Irrtum, insofern sie die Wirklichkeit nur ausschnitthaft erfasst und ein graduell zu unterscheidender Mangel an Erkenntnis bzw. an Freiheit ist.16 Als Teil der natura naturata oder der geschaffenen Natur ist der Mensch in diesem Endlichen, einem sich ihm nur ausschnitthaft präsentierenden Zusammenhang, gefangen und wie Spinoza im dritten und vierten Buch der Ethik, der Affektenlehre, ausführt, der „Knechtschaft“ oder Eigendynamik der Affekte ausgeliefert. Den Zustand der Knechtschaft können wir nicht aufheben, da wir unsere Endlichkeit und

15 Vgl. Schmidt 2005, S. 144ff. 16 Vgl. Spinoza, Ethik, II. Buch, Lehrsatz (LS) 33/35.

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unser Eingebundensein in die Natur nicht aufheben können.17 Vom Standpunkt der Ratio kann zwar Attributhaftigkeit untersucht, nicht aber die Substanz oder Gott als causa sui dingfest gemacht werden, denn sie ist lediglich immanente Ursache der Totalität des komplexen Ursachenzusammenhanges. Ebenso wie es bei Spinoza kein direktes Ableitungsverhältnis zwischen Gott und Welt, zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit geben kann, kann kein erster Punkt oder Moment festgestellt werden, der das erste Zusammenwirken der beiden absoluten Gegensätze bei Schleiermacher oder Schlegel bezeichnet. Wir finden das Einwirken auf die Vernunft durch die Natur und das Einwirken der Vernunft auf die Natur immer schon vor.18 In der Reflexion auf unser Handeln, Denken und Fühlen können wir so eine Geschichte sich verändernder Formen konstatieren, ihre Bestimmtheit auf vorausgegangene institutionalisierte Handlungs- und Denkmuster erkennen, die wir anwenden und zugleich individuell modifizieren, jedoch ohne dass wir an den Anfang oder das Ende dieser Geschichte heranreichen. In diesem Sinne finden wie bei Schlegel und bei Schleiermacher die Formulierung eines ewigen Anfangs aus der Mitte – bei Schleiermacher in den Dialektikvorlesungen 19, bei Schlegel u. a. in den Philosophischen Lehrjahren.20

17 Vgl. Spinoza, Ethik, IV, LS 4: „Es ist unmöglich, daß der Mensch nicht Teil der Natur ist und daß er nur Veränderungen erleiden kann, die aus seiner Natur allein begriffen werden können und deren adäquate Ursache er ist.“ (Der deutsche Text ist nach der revidierten Übersetzung von Jakob Stern, Stuttgart 1977, wiedergegeben.) 18 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre, auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hg. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1990, S. 13 § 67: „Die Ethik beginnt mit einem Minimum des Gewordenen, d. h. mit einem Sezen der Natur, in welcher die Vernunft schon ist, und mit einem Sezen der Vernunft, welche schon in der Natur ist, welches Ineinandersein unter jeder Gestalt auf ein früheres zurückgeführt wird.“ Sowie ebenda S. 9f. § 39: „Die Vernunft wird in der Natur gefunden und die Ethik stellt kein Handeln dar, wodurch sie ursprünglich hineinkäme.“ 19 Vgl. z. B. Friedrich Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik. Vorlesungsnachschriften, KGA II, 10.2, herausgegeben von Andreas Arndt, Berlin/New York 2002, S. 642, Std. 70.

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Orientierung in der Gefangenschaft: Aufklärung der Affekte versus historisches Verstehen der Bedingtheit Orientierung in dieser Knechtschaft des Endlichen findet bei Spinoza über Aufklärung statt, denn wir können zumindest die allgemeine Funktionsweise der Affekte einsehen, uns darüber aufklären, dass die Vorstellung immer nur einen unzureichenden Einblick in die komplexen Ursachen- und Wirkungszusammenhänge gibt und wir oft assoziative Verknüpfungen vornehmen. Mit dieser Aufklärung über die Natur der Affekte haben wir keine adäquate Erkenntnis der konkreten Ursache, aber wir erkennen die vorgestellte Ursache des Affektes als eine vermeintliche oder nur partielle Ursache und mildern so die Macht des Affektes.21 Auch in der frühromantischen Philosophie steht, wenn man so will, ein Aufklärungsakt zu Beginn aller Orientierungsversuche. Mit dem Bekenntnis zu einem „Philosophieren aus der Mitte“ geht die grundlegende Einsicht einher, dass wir nie über etwas anderes als eben über bedingtes Denken verfügen. Diese Einsicht scheint trivial und doch die grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir uns auf einen Verstehensprozess, einen Streit der Meinungen und einen Interessenskonflikt einlassen. Schlegel formuliert la-

20 Vgl. Friedrich Schlegel, „Philosophische Lehrjahre“, KA XVIII, hg. von Ernst Behler, München u. a. 1963, S. 26, Nr. 93: „Die ϕ [Philosophie] muß mit unend[lich] vielen Sätzen anfangen, d[er] Entstehung nach (nicht mit Einem).“ und ebenda S. 82, Nr. 626: „Die ϕ [Philosophie] ein εποζ, fängt in d.[er] Mitte an. – –“ sowie F. Schlegel, „Athenäum-Fragmente“, KA II, S. 178, Nr. 84: „Subjektiv betrachtet, fängt die Philosophie doch immer in der Mitte an, wie das epische Gedicht.“ 21 Vgl. Spinoza, Ethik V, LS 4, Anmerkung: „Es kann […] gegen die Affekte kein vortrefflicheres, in unserer Macht stehendes Heilmittel erdacht werden als dieses, das in der wahren Erkenntnis der Affekte besteht.“ Vgl. auch ebenda V, LS 3 u. V, LS 6. Dass sich mit der Einsicht in die Ursachen der Affekte bzw. in ihre Notwendigkeit oder ihre allgemeine Funktion die Affekte verändern, erläutert Spinoza in der Anmerkung zum Lehrsatz sechs des fünften Buches in Bezug auf ein verlorenes Gut: „Denn wir sehen, daß die Unlust über ein verlorenes Gut gemildert wird, sobald der Mensch, der den Verlust dieses Gutes erlitten hat, bedenkt, daß es auf keine Weise erhalten werden konnte.“ (Spinoza, Ethik V, LS 6, Anmerkung)

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pidar: „Erkennen bezeichnet schon ein bedingtes Wissen. Die Nichterkennbarkeit des Absoluten ist also eine identische Trivialität.“22 Das Ziel einer vollständigen Vermittlung der Gegensätze – also eine in universaler Gemeinschaft realisierte Individualität, eine als notwendig erkannte Freiheit und als Freiheit erwiesene Notwendigkeit, eine im Absoluten aufgehobene Individualität des Denkens wird im „ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ (1796), in Friedrich Schlegels „Rede über die Mythologie“ (1800) oder in Novalis „Hymnen an die Nacht“ (1800) auch als Programm einer „neuen Mythologie“ entworfen. Die Möglichkeit einer progressiven Annäherung an dieses Ziel, deren Problematik Schleiermacher in seinen philosophischen Vorlesungen bis in die 1830er Jahre bearbeitet, liegt nun jedoch nicht allein in dieser Grundeinsicht, sondern in der Zuwendung zu diesem Bedingten als Bedingten und ist in der Analyse konkreter Wechselwirkungsverhältnisse wie sie Schleiermacher in seinen Ethikvorlesungen ausführt, letztendlich philosophische Kulturkritik und Kulturhermeneutik.23 Eine besondere Funktion kommt in diesem Prozess unendlicher Progression den so genannten Mittlerfiguren zu, die im Vergleich zu anderen Menschen den Gegensatz in relativer Ausgewogenheit präsentieren und ihr „Zentrum“ gefunden haben. Solche Mittlerfiguren können nicht wie Lehrer erklären, wohl aber wie Meister anweisen oder lehren und neben religiösen Meistern (Christus) und Rednern sind für Schleiermacher und Schlegel aber auch für Novalis Künstler prädestinierte Mittler.24

22 F. Schlegel, „Philosophische Lehrjahre“, KA XVIII, 511, Nr. 64; vgl. auch folgenden Aphorismus aus den Philosophischen Lehrjahren: „Das Absolute selbst ist indemonstrabel […].“ (ebenda S. 512, Nr. 71). 23 Vgl. Schmidt 2005, S. 361–387. 24 Vgl. Friedrich Schleiermachers Über die Religion, KGA I/2, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, S. 193f. und F. Schlegel, „Ideen“, KA II, S. 260, Nr. 45: „Ein Künstler, wer sein Zentrum in sich hat. Wem es da fehlt, der muss einen bestimmten Führer und Mittler außer sich wählen, natürlich nicht auf immer sondern nur fürs erste. Denn ohne lebendiges Zentrum kann der Mensch nicht sein, und hat er es noch nicht in sich, so darf er es nur in einem Menschen suchen und dessen Zentrum kann das seine reizen und wecken.“ und Novalis „Hymnen an die Nacht“, in denen er eine zentrale „Mittlerreligion“

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Potenziertes Bewusstsein: Kritik der Kritik, Philosophie der Philosophie Ein letzter Punkt steht nun ganz jenseits Spinozistischer Philosophie, markiert jedoch eine zentrale Konsequenz frühromantischen Denkens. Will man das Vorhaben der Frühromantik als Kritik der historischen Vernunft beschreiben, was ich für zutreffend halte, einer Kritik der Vernunft, die sich in der geschichtlichen Bewegung als Methode und Gegenstand selbst zu erfassen sucht, so ist sie zum einen Kritik der Grenzen der Vernunft, die jedoch als Kritik selbst nicht jenseits des zu Kritisierenden fallen kann und mithin sich selbst zu gegebener Zeit der gedanklichen Modifikation zu unterweisen hat. Sie ist immer wieder von Neuem Kritik der Kritik, Philosophie der Philosophie als „potenzierte“ Philosophie. In der den frühromantischen Fragmenten eigenen Lust an der Überblendung unterschiedlicher wissenschaftlicher Aufzeichnungssysteme notiert Schlegel diesen Kerngedanken in mathematischer Schreibweise: (ϕ [Philosophie])2. Während Schleiermacher in seinen Dialektik- und Hermeneutikvorlesungen zeitlebens versucht, diese „höheren Kritik“ methodisch zu fassen und das ewige Anfangen des Menschen aus der Mitte unter den Vorzeichen permanenter Revision dennoch zu orientieren, setzt Friedrich Schlegel neben seiner hermeneutisch orientierten „Philosophie der Philologie“25 auf die philosophische Schreibpraxis der Ironie und des Fragmentes, die eine unendliche Revision des Denkens nicht nur fordert, sondern generiert. Während Ironie als Figur des „sowohl als ob“ das Zugleich von These und Antithese darstellt, geht es im Fragment in seiner „igelhaften“ geschlossenen Offenheit26 als philosophisches Genre nicht nur um das immer wieder neu zu konkretisierende Gedankenkonzentrat, sondern ebenso um den Zwischenraum zwischen den Fragmenten als einem Raum potentieller Argumentation.

entwirft (Novalis, Das dichterische Werk. Schriften Bd. 1, hg. von P. Kluckhohn u. R. Samuel. 1977, S. 115–179. 25 So betitelt Joseph Körner Schlegels Aphorismensammlung „Zur Philologie I u. II“, KA XVI, S. 33–81 (vgl. Josef Körner, Friedrich Schlegels ,Philosophie der Philologie`, in: Logos 17, 1928, H. 1, S. 1–72). 26 „Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“ (F. Schlegel, „Athenäums-Fragmente“, KA II, S. 197, Nr. 206).

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3. R EFLEXION : Ü BER

DAS

M ARIONETTENTHEATER

Paradox und Fragment Der kurze Text „Über das Marionettentheater“ – ein erzähltes Gespräch – enthält auf denkbar knappem Raum ein Ensemble von aufeinander verweisenden, sich ineinander spiegelnden Geschichten. Diese im Gespräch miteinander verbundenen Miniaturerzählungen oder Fragmente multiplizieren sich, wenn man die zahlreichen Verweise und Referenzen hinzunimmt, die selbst wiederum als Miniaturgleichnisse aufgefasst werden können und die ihrerseits zahlreiche Verweise, Anspielungen und Referenzen auf die Wissenschafts- und Kulturgeschichte enthalten. Eine auffällig hohe Absatzzahl, die zum Teil aus einem Satz bestehen, verstärkt den Eindruck der Vielgliedrigkeit, ja der Atomisierung des Textes.27 Die beiden Gesprächspartner erweisen sich, so ungezwungen das Gespräch daherkommt, als überdurchschnittlich gebildete Menschen, die in Kunst und Wissenschaft gleichermaßen zu Hause sind. Ohne Anstrengung wechseln sie von Beispielen aus der Kunst – einem Bauerntanz von Tintoretto dem Jüngeren und dem Motiv des Dornausziehers – in jene aus der Physik, Mathematik oder Optik wie die Newtonsche Gravitationslehre, die Keplersche Theorie der Bewegung (anima motrix), die Reflektion des Hohlspiegels und ein als Bewegungsmodell gefasster Verweis auf das fünfte Euklidsche Postulat. Obgleich die einzelnen Miniaturerzählungen in zahlreichen Referenzen aufeinander verweisen und die Gesprächspartner einander höflich Aufmerksamkeit und Zustimmung bekräftigen, stiftet das erzählte Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und dem Tänzer weniger einen eindeutigen argumentativen als einen assoziativen Zusammenhang. Die Dissonanz zwischen höflicher Zustimmung und integrierter „Regieanweisung“, die die Mimik und Gestik der beiden Protagonisten aufzeichnet28, offensichtlich

27 B. Allemann deutet die hohe Anzahl der Abschnitte als Ausdruck der dialogischen Struktur, vgl. Allemann 1983, S. 53. 28 Eine überzeugende Analyse dieser „semantische[n] Zweideutigkeiten, Unstimmigkeiten, Anspielungen, Fragwürdigkeiten, Widersprüchlichkeiten, ausgesparten Informationen“ findet sich bei Gerhard Kurz, „‚Gott befohlen‘. Kleists Dialog ‚Über das Marionettentheater‘ und der Mythos vom Sündenfall des Bewusstseins“, in: Kleist-Jahrbuch 1981/82, hg. von Joachim Kreutzer, Berlin

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widersinnige Behauptungen, wenn es beispielsweise um die „Pantomimik“29 der Puppen geht und die Ironie, mit der die Beredsamkeit der beiden Gesprächspartner kommentiert wird, nährt den Verdacht, dass die Gesprächspartner selbst auf der Suche sind und Vorsicht geboten ist, die einzelnen Miniaturerzählungen für Bausteine eines in sich aufgehenden Puzzles zu nehmen: So drückt der Icherzähler mehrfach sein Erstaunen und seine Verwunderung über die Thesen des Tänzers aus, er bezeichnet die Thesen des Tänzers als „sonderbare Behauptungen“30, er richtet den Blick „schweigend zur Erde“31, er antwortet im Scherz oder durch schlichtes Lachen. Der Tänzer hingegen argumentiert „abbrechend“32, blickt „seinerseits ein wenig betreten zu Erde“33 verweist darauf, dass man den Zusammenhang mit dem zuvor Erwähntem schon von selbst erschließt34. Beide versichern sich, dass die unwahrscheinlichste Geschichte die wahrscheinlichste ist35 und die zentrale Schlussreflexion des Icherzählers wird als „zerstreut“36 charakterisiert.

1983, S. 264–281, S. 267ff, Zitat auf S. 268. Auf diese „Dissonanz“ oder gezielte Unstimmigkeit im Versuch die einzelnen Erzählungen aufeinander abzubilden verweisen auch Wolfgang Binder („Ironischer Idealismus: Kleists unwillige Zeitgenossenschaft, in: Ders., Aufschlüsse: Studien zur deutschen Literatur, Zürich/München 1976, S. 311–329, hier S. 312), Allemann 1983 und Bettina Schulte, Unmittelbarkeit und Vermittlung im Werk Heinrich von Kleist, Göttingen/Zürich 1988, S. 79, sowie Paul de Man, der jedoch darin kein Modell einer „höheren Kritik“, sondern den „Fall“ von Sinnhaftigkeit schlechthin sehen möchte (Paul de Man, „Ästhetische Formalisierung: Kleists ‚Über das Marionettentheater‘“, in: Ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main 1988, S. 205– 233). 29 Vgl. Heinrich Kleist, „Über das Marionettentheater“, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. V, München 1974, S. 71. Alle folgenden Kleistzitate werden nach dieser von Helmut Sembdner besorgten Ausgabe belegt. 30 Ebenda, S. 72. 31 Ebenda, S. 73. 32 Ebenda, S. 74. 33 Ebenda, S. 74. 34 Ebenda, S. 76. 35 Ebenda, S. 77. 36 Ebenda, S. 78.

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Ein ebenso großes Interesse wie den einzelnen Miniaturerzählungen oder Fragmenten gilt demnach ihrer Komposition, ihrem „Zwischenraum“ als potentiellem Argumentationsraum, der nicht nur durch Fragmentierung entsteht sondern durch Ironie oder „Paradoxe“37 verstärkt wird und in einer Deutungsdissonanz der sich nicht 1:1 aufeinander abzubildenden Miniaturerzählungen mündet. Diese paradoxe Anlage des Textes, in der die Widerständigkeit der Interpretation vorgeführt wird, kann durchaus im Kontext frühromantischer Fragmenttheorie verstanden werden, indem die Aufforderung an den Leser geht, den argumentativen Zusammenhang in einem komplexen Netz aus Anspielungen und Entsprechungen je anders und aufs Neue zu suchen.38 Stellt das Fragment, wie Schlegel in seinem Notizheft, den Philosophischen Lehrjahren, formuliert, die „eigent[liche] Form d[er] Universalϕ[philosophie]“39 dar, so entspricht auch jene Grenzüberschreitung der Disziplinen im Gesprächsstoff, aber auch im Neben- und Durcheinander von populärer und hoher Kunst, von Lebensbezug und abstrakten Wissens, den die beiden Gesprächspartner praktizieren, einem Universalpoesie- bzw. Universalphi-

37 Ein direkter und zentraler Rezeptionsbezug für Kleists Denken in und über die Paradoxe(n) ist Adam Müllers Philosophie des Gegensatzes („Lehre vom Gegensatz“, 1804), eine Spur des direkten Bezugs ist die von Kleist verwendete Formulierung des „gegensätzischen“, die von Müller stammt, vgl. Joachim Pfeiffer, „Kleist und die Sprache des Unbewussten. Zur Geschichte der psychoanalytischen Kleist–Forschung“, in: Heinrich von Kleist, hg. von Ortrud Gutjahr, Würzburg 2008, S. 21–38, hier S. 24. Vgl. ebenfalls auch Walter Hinderer, „Immanuel Kants Begriff der negativen Größen, Adam Müllers Lehre vom Gegensatz und Heinrich von Kleists Ästhetik der Negation“, in: Lubkoll/Oesterle 2001, S. 35–62, S. 46ff. 38 Friedrich Strack spricht sich in seinen sechs Punkten, die das Verhältnis zur Romantik umreißen sollen, ausdrücklich gegen eine Nähe zum Programm einer progressiven Universalpoesie aus, bezieht sich dabei auf Kleists Dramen und Erzählungen, nicht jedoch auf Über das Marionettentheater und den prononciert fragmentarischen Charakter der kleinen Schriften aus den Berliner Abendblättern wie z. B. „von der Überlegung“, „Fragmente“ oder „Betrachtung über den Weltlauf“ (vgl. Strack 1991, S. 110). 39 Vgl. F. Schlegel, „Philosophischen Lehrjahre“, KA XVIII, hg. von E. Behler, München u. a. 1963, S. 114, Nr. 1029.

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losophieanspruch den Friedrich Schlegel in den Athenäumsfragmenten formuliert und in den Philosophischen Lehrjahren durchdekliniert.40 Triadische Strukturen: Zwischen gar keinem Bewusstsein und unendlichem Bewusstsein die menschliche Geschichtlichkeit Das Gespräch zwischen dem ersten Tänzer an der Oper der Stadt mit dem Icherzähler entzündet sich an der vom Tänzer vorgebrachten provokanten oder „paradoxen“ da zunächst widersinnigen These, dass die Marionette mehr Anmut und Grazie im Tanz besäße als der menschliche Tänzer selbst. Im Gegensatz zu der in ihrem Schwerpunkt bewegten Marionette säße die Seele des Menschentänzers nicht im Schwerpunkt ihrer Bewegung. Mit der Erklärung, dass solche „Mißgriffe“ des Menschen „unvermeidlich“ seien, „seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben“41, wird der Verlust der Grazie als Sündenfall zu einer conditio humana erklärt. Die Genesis als Interpretationsrahmen unterlegt den Überlegungen über die fehlende Anmut des Menschen eine triadische Struktur, die sich zunächst als heilsgeschichtliche Stufenfolge von Paradies, Welt und wiedererlangtem Paradies liest.42 Die zentrale Frage, wie und ob wir in das verlorene und verriegelte Paradies wieder Eintritt finden, ist jedoch mit dem Entwurf einer triadischen Struktur allein nicht beantwortet, sondern hängt davon ab, wie diese triadische Struktur inhaltlich konzipiert ist. Dafür bietet das Gespräch über Marionetten, einen sich zierenden Jüngling, Bärengefechte, Hohlspiegel und das Parallelenpostulat jedoch nicht eine, sondern mehrere, nicht vollkommen deckungsgleiche Vorschläge.

40 Vgl. F. Schlegel, „Athenäumsfragemente“, KA II, S. 182f, Nr. 116. Schlegel „dekliniert“ diesen Gedanken in seinen Notizheften Philosophische Lehrjahre gleichsam durch, spricht von „Universalpoesie“, „Universalgeschichte“, „Universalwissenschaft“ etc. Friedrich Schleiermacher baut diesen Gedanken dann in seinen Vorlesungen zur Philosophischen Ethik zu einer regelrechten Theorie der Wechselwirkungen der Wissenschaften oder modern gesprochen zu einer Theorie der Interdisziplinarität aus. Vgl. Schmidt 2005, S. 451–360. 41 Kleist GA V, S. 74. 42 In ihrer Studie zu Kleists Marionettentheateraufsatz sieht Hanna Hellmann insbesondere in dieser heilsgeschichtlichen Struktur bei Kleist eine Entsprechung mit dem prononciert triadischen Denken in der Romantik, etwa bei Schelling, Schlegel, Novalis und bei Adam Müller (Hellmann 1967).

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In den beiden Binnenerzählungen des jugendlichen Dornausziehers43 und des fechtenden Bären wird das Mangelwesen Mensch mit (s)einem unschuldigen, paradiesischen Zustand konfrontiert. Erlebt der junge Mann wie in einer Laborsituation den Verlust seiner Unschuld als Beginn der durch Bewusstsein gesteuerten Bewegung, so steht der menschliche Fechter dem instinktgesteuerten Bären wie einem Spiegel gegenüber, der ihm die eigene Mangelhaftigkeit vor Augen führt. Von den drei sehr unterschiedlichen im Gespräch angeführten Vertretern des anmutigen oder unschuldigen oder paradiesischen Zustandes – die Marionette, ein heranwachsender Mensch und ein instinktgesteuertes Tier – ist die Marionette wohl der provokanteste, insofern ihre Anmut in einer schlichten Negation von Geist besteht. In dieser Charakterisierung der Marionette als einer dem „bloßen Gesetz der Schwere“44 folgenden Materialität, aus der der „letzte Bruch von Geist“45 verschwunden ist, erscheinen die Marionette und ihr gegenüber der Gott mit unendlichem Bewusstsein weniger als Vertreter eines verlorenen und wiederzuerlangenden Paradieses, sondern als absoluter Gegensatz von „reiner“ Materie und „reiner“ Vernunft wie sie Friedrich Schleiermacher als transzendentale Denkgrenzen in seinen Dialektikvorlesungen deduziert. 46 Als absoluter Gegensatz verstanden, wäre Marionettenhaftigkeit und Gottähnlichkeit per definitionem für den Menschen nicht zu erreichen, denn sein Menschsein zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er Materie und Vernunft ist und zwar in einer je eigenen (unharmonischen, aus ihrem Schwerpunkt geratenen) Mischung. Versteht man die Marionette und Gott als jenen transzendentalen Gegensatz, der menschliche Geschichtlichkeit erst konstituiert, so gäbe es innerhalb der Geschichte keinen ersten „Einbruch“ der Vernunft in die Sphäre purer Materialität, wie es die Dornauszieher-Geschichte suggeriert. Menschsein heißt einem ewigen Aus-derMitte-Anfangen unterworfen sein.

43 G. Kurz weist darauf hin, dass Kleist das Wort Splitter und nicht Dorn verwendet und so keine intakte Natur, sondern Zersplitterung und Zerbrechen evoziert, Kurz 1983, S. 270f. 44 Kleist GA V, S. 74. 45 Kleist GA V, S. 73. 46 So interpretiert auch Hesselhaus Marionette und Gott als abstrakte Gegensätze von Materie und Geist, vgl. Hesselhaus 1967, S. 113f.

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Gerade in der Zuwendung zur eigenen Geschichtlichkeit liegt für die frühromantische Philosophie die Bedingung der Möglichkeit einer progressiven Vermittlung des absoluten Gegensatzes. Eine solche zuvor skizzierte „höhere Kritik“ oder (ϕ [Philosophie])2 könnte man hinter dem letzten Redebeitrag des Icherzählers im Kleistschen Text vermuten, wenn er „zerstreut“ bemerkt, man müsse doch wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen. Ganz ähnlich formuliert Novalis jene potenzierte Erkenntnis, die ihre eigene Endlichkeit in die Reflexion miteinschließt in den Fichte-Studien als doppelten Sündenfall oder (Sündenfall)2: „Adam und Eva. Was durch die Revolution bewürkt wurde, muß durch eine Revolution aufgehoben werden./ Apfelbiß/“47 Aber wird eine Annäherung in unendlicher Progression von Kleist tatsächlich in Aussicht gestellt? Bemerkenswert ist, dass Kleist in der Dornauszieher Episode wie im Bärengefecht zwar den Moment des Unschuldverlustes bzw. der Einsicht in die eigene Mangelhaftigkeit inszeniert, innerhalb dieser Erzählungen jedoch keinerlei Hinweis auf einen möglichen Austritt vorstellt: der Fechter verliert die Fassung und ficht sich müde, der junge Mann verliert innerhalb eines Jahres seine ganze „Lieblichkeit“ – und hier brechen diese Geschichten ab. Einen Austritt aus dem mangelhaften Zustand des Menschen scheinen hingegen die beiden Beispiele aus Mathematik und Optik nahe zu legen, die der Tänzer gegen Ende seinem Gesprächspartner anbietet: „Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punktes, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliche gegangen ist, die Grazie wieder ein [...]“48 Diese denkbar knappen Beispiele verdienen einige Ausführungen:49 Das Geradenbeispiel geht auf das fünfte Postulat Euklids zurück, das auch Pa-

47 Novalis, „Fichte Studien“, Schriften Bd. II. Das philosophische Werk, hg. von Richard Samuel, Stuttgart 1960, S. 275. Nr. 571. 48 Kleist GA V, S. 77. 49 Ich stütze mich hier auf die Ausführungen in Christian Paul Bergers Studie Bewegungsbilder. Kleists Marionettentheater zwischen Poesie und Physik, Paderborn, München, Wien Zürich 2000, S. 236ff. Viele Mathematiker haben immer

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rallelenpostulat genannt wird. Nach diesem Postulat gibt es in einer durch die Gerade g und den Punkt P bestimmten Ebene E nur eine weitere Gerade, die durch den Punkt P geht und g nicht schneidet. Diese Gerade h ist parallel zu g. Kleist, der einige Semester Mathematikstudium absolvierte, kannte insbesondere die Schrift des Mathematikers Kästner Anfangsgründe der Arithmetik. In diesem Buch wird im 11. Lehrsatz des geometrischen Teils das Postulat behandelt und dort als Bewegungsbeispiel vorgeführt. Bewegt man eine durch den Punkt P auf der Ebene E gezogene Gerade h, dann schneidet sie die Gerade g auf unendliche Weise bis sie an genau einem Punkt dieser Bewegung parallel zur Gerade g steht. Dreht man sie weiter, so schneidet sie die Gerade g wiederum und zwar von der anderen Seite auf unendliche Weise. Sie findet sich, wie es bei Kleist heißt, nach dem Durchgang durch das Unendliche wieder auf der anderen Seite ein. Mit diesem Geradenbeispiel werden zwei Richtungen bezeichnet, in denen in unendlicher Annäherung jener eine Punkt des Parallelseins von g und h erreicht wird, der vom Tänzer als Moment der Grazie identifiziert wird. Jener eine Moment des Parallel-Seins im Unendlichen entspricht dem Durchgang durch das Unendliche. Indem das Parallelenpostulat als Bewegungsbeispiel angeführt wird und jener sich „plötzlich“ einfindende Moment der Grazie im nächsten Moment auch schon wieder überholt ist, entsteht der Eindruck, als handle es sich weniger um eine gelungenen Bildungsprozess als um eine Art „Transit“, der sich fortlaufend wiederholt, sodass nach der Flüchtigkeit eines utopischen Momentes wie in einem „reset“ menschliche Mittelmäßigkeit von vorne beginnt. Auch die Art und Weise wie der Hohlspiegel vom Tänzer angeführt wird, muss als Bewegungsbeispiel aufgelöst werden. Treffen parallele Lichtstrahlen, die als Parallelen aus dem Unendlichen kommen, auf den Hohlspiegel, so werden sie von ihm im Brennpunkt gebündelt. Dreht man dieses Verhältnis um, so würden die Strahlen eines Lichtpunktes, der im Brennpunkt steht, vom Spiegel parallel ins Unendliche versendet. Vorzustellen wäre nun ein leuchtender Gegenstand, der mit dem Blickpunkt iden-

wieder versucht, dieses Postulat zu beweisen, was nicht gelungen ist, und eine Folgerung daraus ist, dass es neben der Euklidschen noch andere Geometrien gibt. Auch in der Zeit als Kleist den Marionettentheatertext veröffentlicht, besteht eine große, jedoch interne Diskussion um dieses 5. Postulat Euklids, vgl. Berger 2000, S. 238f.

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tisch ist. Bewegt dieser sich zwischen Brennpunkt und Spiegel, so erscheint das Spiegelbild zunächst vergrößert, im Brennpunkt wird das Bild ins Unendlich geworfen (und aus diesem wieder zurück) und hinter dem Brennpunkt steht es seitenverkehrt auf dem Kopf. Auch hier wird ein TransitMoment durch das Unendliche beschrieben, der den Umschlagpunkt zwischen zwei je anders ausgeformten Verfälschungen des Spiegelbildes darstellt. Mit Blick auf das dramatische und erzählerische Werk findet man tatsächlich immer wieder einzelne isolierte Momente, in denen paradiesische Zustände realisiert scheinen. Es sind Räume außerhalb oder „nach“ der Gesellschaft, deren Unbeschriebenheit sehr schnell wieder von der Gesellschaft eingeholt wird; so zum Beispiel nach dem großen Erdbeben in Das Erdbeben von Chile, als sich die beiden Liebenden in den Trümmern wiederfinden oder in Die Familie Schroffenstein in freier Natur zwischen den verfeindeten Territorien, und im Gespräch über das Marionettentheater ist es der kurze Moment der Grazie, der nicht nur im Bild, sondern auch dem jungen Mann unreflektiert gelingt. Auffällig ist, dass die Bilder und Metaphern, die jenen verlorenen oder zu erreichenden Zustand der Grazie symbolisch beschreiben, eine Ausnahme bildet die einmalige Erwähnung eines Gottes50, überwiegend als Menschenwerk zu identifizieren sind: So ist die Marionette ein technisch hergestelltes Modell des Menschen, der Tanz ein künstlerisches Medium. Scheint dem menschlichen Tänzer der Schwerpunkt verrückt, so kann doch der Marionettenspieler zu einem Tänzer werden, der in der Lage ist, sich zumindest in den Schwerpunkt einer Marionette zu versetzen und über diese zu tanzen. Auch das Marionettenensemble, das perfekte und scheinbar vollkommen bewusstlose von einer Kurbel betriebene System, stellt der Tänzer seinem Gesprächspartner nicht als eine göttliche Vision vor, sondern als eine Vision, deren Bauplan er selbst im Kopfe habe und nach dem „eine naturgemäßere Anordnung der Schwerpunkte“51 der Marionetten als beim Menschen zu konstruieren sei. Der Dornauszieher, dessen Grazie der junge Mann vor Augen hat, ist ein in x-facher Ausführung existierendes Kunst-

50 „Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander griffen.“ Kleist KA, S. 75. 51 Kleist GA V, S. 74.

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werk und selbst der Bär, den man geneigt ist, im ersten Moment mit der Natur gleichzusetzen, gewinnt seine Spiegelfunktion erst durch eine Interpretation durch den Menschen. Denn als Natur hat der Bär gar keine Unterscheidungsfunktion, die ihm Finte und Nicht-Finte trennen hilft. Die spezifische Leistung des Menschen besteht in seiner Interpretation, darin, sich der Natur gegenüberzustellen „als ob“ sie ein Fechtpartner wäre.52 Und nimmt man auch die Beispiele aus Mathematik und Optik hinzu, so verweisen sie auf wissenschaftliche oder technische Modelle. Dieser Befund lässt sich nun wie in einer Kippfigur unterschiedlich deuten. Zum einen könnte man in der Wahl dieser technischen oder künstlerischen Stellvertreter der Grazie einen Beleg für die Gefangenheit des Menschen in seiner Endlichkeit sehen, dem in seiner Vision einer ihn übersteigenden Grazie dennoch immer nur Menschenhaftes einfällt. Zum anderen erscheint er auch als ein Fingerzeig dafür, dass der Mensch via Technik, Wissenschaft oder Kunst an seiner eigenen „Überwindung“ 53 arbeitet. Die eigentliche Bedeutung des zweiten Sündenfalls würde in diesem Fall darin bestehen, dass der Mensch Gott nicht mehr braucht und sich seine Lehrmeister selbst erfindet. Solange der erfolgreiche Ausstieg jedoch nicht verbürgt ist, bleibt es eine Kippfigur. Der Widerstreit von Gravität und Antigravität des Menschen als „Knechtschaft der Affekte“ Bleiben wir im Gleichnis der Marionette, so wird der Mangel des Menschen im Vergleich zur materiellen Marionette nicht nur im Verlust seiner Anmut und Grazie, sondern über den Terminus der Antigravität bzw. Gravität bestimmt. Die Marionette ist, so erläutert der Tänzer, „antigrav“, indem ihre der Materie verschuldete Gravität zugleich von dem ihr ausgelagerten Bewegungsprinzip aufgehoben wird. Der Unterschied des Menschen zur Marionette besteht nun darin, dass sein Bewegungsprinzip nicht ausgelagert, sondern eingelagert ist. Er ist mit einer gewissen Freiheit ausgestattet, einer vis motrix. Der Mangel, der den

52 Darauf weist Benno von Wiese hin, Benno von Wiese „Das verlorene und wieder zu findende Paradies“, in: Sembdner (Hg.) 1967, S.196–219, S. 204f. 53 Vgl. Elena Dabcovich, „Die Marionette. Die Lösung eines künstlerischen und moralischen Problems durch einen technischen Gedanken“, in: Sembdner (Hg.), S. 88–98, S. 95.

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Menschen auszeichnet, lässt sich zunächst als ein zweifacher beschreiben: Erstens hebt die in ihm gelagerte Kraft die Gravitation nicht vollständig auf, sie streitet mit der Gravitation oder ist nur eine unvollkommene Antigravität oder wie der Tänzer lapidar formuliert: „Was würde unsere gute G... darum geben, wenn sie sechzig Pfund leichter wäre [...]“54. Zweitens ist die den Menschen bewegende Kraft aus ihrem Schwerpunkt geraten, sie setzt nicht an der richtigen Stelle an.55 Worin bestünde, worin äußert sich Gravität und Antigravität des Menschen? Als Teil seiner Marionettenhaftigkeit, die eben ohne jedes Bewusstsein „tanzt“, könnte man die Gravität des Menschen als seine Unterwerfung unter die alle Materie betreffenden Gesetze der Natur deuten. Die eigentliche Utopie des über Marionetten reflektierenden Tänzers, die vollendete materielle Grazie der Materie, gilt jedoch nicht dem jede einzelne Marionette bewegenden Marionettenspieler, sondern einem rein technischen System, in dem lediglich durch eine Kurbel alle Fäden bewegt werden; einem an einem Punkt sich über einen Mechanismus fortpflanzende Bewegungssystem, dem die Glieder der an ihren Schwerpunkten bewegten Puppen wie Pendel folgen. Hält man sich an die Bemerkung, dass aus diesem System „auch der letzte Bruch von Geist“56 entfernt wurde, so verschiebt sich mit

54 Kleist GA V, S. 75. 55 Dieser den Menschen auszeichnende Widerstreit zweier Kräfte, der ihn aus dem Gleichgewicht bringt, wird durch die Wahl der Termini „Gravitation“ und „vis motrix“ unterstrichen. Hinter ihnen verbergen sich nicht nur zwei streitende Kräfte, sondern zwei nicht kompatible Theorien: Steht die Gravität für das Newtonsche Gravitationsgesetz, so könnte man „vis motrix“ als Hinweis auf die Vornewtonschen Planetentheorie Keplers lesen. Um die Planetenbewegung zu erklären schloss Kepler auf eine „anima motrix“ (=„Seele des Bewegers“), eine magnetartige Kraft, die von der Sonne ausging und mit der Abnahme der Distanz der Planeten zum zentralen Himmelskörper ebenfalls abnimmt. Anstelle einer „anima motrix“ sprach Kepler auch von einer „vix motrix“ – der „Kraft des Bewegers“. Die Keplerschen Planetentheorie ist jedoch vom wissenschaftlichen Standpunkt inkompatibel mit der Newtonsche Gravitationslehre und der Widerstreit der zwei unterschiedlichen Theorie angehörenden Kräfte ließe sich natürlich auch in dem Sinne deuten, dass der Glaube an die Antigravität des Menschen einem überholten wissenschaftlichen Paradigma angehört. 56 Kleist GA V, S. 73.

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diesem Bild des Marionettensystems die Antigravität der Marionette von einem sie im Schwerpunkt haltenden Faden bzw. Marionettenspieler auf das Eingebundensein in ein System. Eine solche sich selbst haltende Gravität formuliert Kleist auch in der bekannten Metapher des Bogens in einem Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge am 16.11.1800 für die menschliche Existenz: „Mich schauerte, wenn ich dachte, daß ich vielleicht von allem scheiden müßte, von allem, was mir teuer ist. Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor sinnend zurück zur Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost [...].“57 Die spezifische Problematik oder Tragik des Menschen besteht jedoch nicht in seiner Gravität und systembedingten Antigravität, nicht darin, wie die Marionette zu sein (denn diese ist eine Gehaltene), sondern über eine ihm inne wohnende Kraft zu verfügen, die an diesen marionettenhaften Verstrickungen zerrt, sodass Fadendirektive und Eigendynamik der Menschenmarionetten (und somit die Eigendynamiken der Menschen untereinander) kollidieren.

57 Kleist GA VI, S. 125. Das Verstrickt-Sein des Menschen in das Leben als ein quasi sich selbst tragendes Netz, aus dem der Einzelne weder ausbrechen noch hinausfallen kann, findet als Bogenmetapher Eingang in Kleists erzählerisches und dramatisches Werk. Zugleich findet dieses Stürzen und zugleich GehaltenWerden meines Erachtens eine unmittelbare sprachliche Gestaltung und Entsprechung im Kleistschen Erzählstil. In seinen komplexen hypotaktisch strukturierten Schachtelsätzen folgt mit jedem Nebensatz ein Fakt oder Sachverhalt mit Notwendigkeit dem anderen, sie „fällen“ sozusagen nacheinander und werden doch durch die der deutschen Grammatik eigentümliche Klammerung wiederum „gehalten“. Insbesondere in den Eingangssätzen der Erzählungen Kleists – so z. B. in Das Bettelweib von Lokarno oder in Die Marquise von O werden die über einander hereinbrechenden Ereignisse, ‚en bloc‘ gleich zu Beginn in wenigen langen Schachtelsätzen gegeben und man kann alles weitere was folgt, als eine Analyse des in diesen zu Beginn gegebenen „Satzgewölben“ auffassen. Dem entspricht auch die eigenwillige Kommasetzung Kleists, die noch mehr Kommas setzt als nötig und so den Eindruck noch verschärft, es handele sich hier um einzelne, über Sinnzusammenhänge aneinander gebundene Bausteine.

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Der notwendige Zusammenhang des imaginierten perfekten Marionettensystems wäre dann als ein Miteinander zu verstehen, in dem keine Marionette der anderen in den Weg tanzt und jede in abgezirkelter Genauigkeit ihre Bahn beschreibt. Erst die dem Menschen eigene Antigravität, verstanden als die ihm als Vermögen innewohnende Selbstbestimmung oder Freiheit und ihr Widerstreit mit der „Gravität“ als der Notwendigkeit gesellschaftlicher Umstände, führt zu jenem Zustand menschlicher Endlichkeit, oder, wie Friedrich Schleiermacher in den Monologen (1800) formuliert: „Es stößt die Freiheit an der Freiheit sich, und was geschieht, trägt der Beschränkung und Gemeinschaft Zeichen.“58. Aufgrund der fatalen Eigendynamik in Kleists Dramen, in denen „die Handlung, wenn sie einmal in Bewegung gesetzt sind, ungehemmt ihren Weg durchläuft und insofern antigrav wirkt und niemals ein Sich-Zieren zulässt“59 deutet Paul Böckmann Kleists Dramenpersonal als Marionetten eines Menschenmarionettensystems. Determination ist dabei für Böckmann allein dem Umstand ihrer „Gravität“ verschuldet: Die dramatischen Gestalten wirkten „fast wie Gestalten, die nur ihre Muskeln, Sehnen und Bänder und deren Bewegungen zeigen, die aber nicht zugleich wieder alles unter der Haut wie im Spiegel verstecken. Seine Figuren sind in einem tieferen Sinne doch Gliedermänner, deren Bewegungen so eindeutig verlaufen, wie die Schwingungen des Pendels; sofern sie sich nicht zieren können, fehlt ihnen jenes Menschliche, das Goethes Gestalten Lebensnähe und subjektive Wahrheit zu geben vermag.“60

58 F. Schleiermacher, KGA I/3, hg. von Günter Meckenstock, Berlin/NewYork, 1988, S. 10. Anders Benno von Wiese und Schulte sehe ich in Kleists Begriff der Anmut oder Grazie zwar einen Begriff, dessen Herkunft aus einem ästhetischen Diskurs offensichtlich ist, zugleich aber nicht auf diesen beschränkt wird, sondern sowohl zu einem erkenntnistheoretischen wie handlungstheoretischen Zielbegriff wird, vgl. von Wiese 1967, S. 212 sowie Schulte 1988, S. 72. In einem ähnlich umfassende Sinne wird Anmut auch bei Friedrich Schlegel verwendet, wenn es in den Lyceums-Fragment Nr. 29 heißt: „Anmut ist korrektes Leben; Sinnlichkeit die sich selbst anschaut, und sich selbst bildet.“, vgl. F. Schlegel, „Lyceums-Fragmente“, KA II, S.149. 59 Paul Böckmann, „Kleists Aufsatz ‚Über das Marionettentheater‘“, in: Sembdner (Hg.) 1967, S. 32–53, hier S. 42. 60 Ebenda.

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Liegt der eigentümliche Charakter dieses Menschenmarionettenspiels jedoch gerade im Widerstreit zwischen Fadensystem und Eigenbewegung, dann kann die Determination mit der die Handlungen in Kleists Dramen ablaufen, nicht allein der „Gravität“ zugeschrieben werden. Vielmehr ähnelt Kleists Blick auf den Menschen, den er uns in seinen Dramen gewährt, einer Spinozistischen Affektenlehre in literarischer Form, die die fatale Selbstgenerierung und Reproduktion von Irrtum und Leiden beschreibt. Als vorstellende Wesen haben wir nach Spinoza nur eine verworrene Einsicht in unser Eingebundensein in den Gesamtzusammenhang der Natur und aus dieser ausschnitthaften Perspektive, der inadäquaten Erkenntnis vermeintlicher aber nur partieller Ursachen pflanzen sich Lust, Unlust und Begierde nach dem Prinzip von Ähnlichkeiten wie in einem Billardspiel fort.61 Eine solche Eigendynamik der Affekte, die im Modus verworrener Vorstellungen abläuft (also genau zwischen keinem und unendlichen Bewusstsein), findet sich paradigmatisch bereits in Kleists Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein62. Die einzigen Nachkommen zweier verfeindeter Familienzweige verlieben sich in einander und die Feindschaft der Familien führt am Ende zum Tod der Liebenden. Der Grund der Feindschaft bzw. des chronischen gegenseitigen Misstrauens ist ein in alte Zeit zurückreichender Erbvertrag, der beim Ableben einer der Familien den Besitz zum Besitz der je anderen erklärt. Der quasi ahistorische Charakter dieses Erbvertrages, dessen Abschluss in ferner Vergangenheit liegt, wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass er mit dem Sündenfall verglichen wird.63 Mit diesem in undefinierte Vorzeit zurückreichenden Erbvertrag, der die gesellschaftlichen Bedingungen diktiert, aus denen die Protagonisten nicht herauskommen und mit dem Geschichte erst ansetzt, wird auf dramatischer Ebene ein „ewiges Anfangen aus der Mitte“ inszeniert.

61 Vgl. Spinoza, Ethik III, insbesondere LS 14–17. 62 Das Drama wurde 1802 geschrieben und ist anonym im Geßnerschen Verlag erschienen – also genau in jener Zeit, in die Kleist sein Gespräch Über das Marionettentheater rückversetzt. 63 Auf die unwirsche Bitte des zwischen allen Stühlen stehenden Vermittlers, mit der Erklärung der Begebenheiten doch endlich zur Sache zu kommen und nicht so weit auszuholen, erwidert der Kirchenvogt „Ei, Herr, der Erbvertrag gehört zur Sache. Denn das ist just als sagtest du, der Apfel Gehöre nicht zum Sündenfall.“ (Vgl. Kleist GA I, S. 69).

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Thematisch gestaltet wird diese fatale Eigendynamik in Die Familie Schroffenstein u. a. als misslingende Kommunikation zwischen den Menschen. Die Ursache der Katastrophe – am Ende steht nicht nur der Tod der jungen Generation, sondern die beide Familienväter bringen in einem Verwechslungsgeschehen eigenhändig den je eigenen Spross ums Leben – ist jedoch nichts anderes als mangelnde Einsicht in das Gesamtgeschehen und die ihr folgende Fehlinterpretation durch die Akteure: Boten aber auch Vermittler, die sich nicht eindeutig einem der beiden Lager zuordnen lassen, werden erschlagen, um sich vor ihrer vermeintlichen Heuchelei zu schützen, das gestammelte Geständnis eines auf dem Markt gefolterten angeblichen Zeugen kann wegen des Marktlärmes nicht verstanden werden und das einzige verständliche Wort – der Name des verfeindeten Familienzweiges – wird den eigenen Vorurteile und Ängste folgend in einem divinatorischen Übergriff zu einem Geständnis vervollständigt, das den Rachfeldzug rechtfertigt. Ahnungen, Träume, Ängste, Neigungen bestimmen das Verständnis, Gerüchte werden mit Geheimnissen verwechselt, Geheimnisse offen kommuniziert, und dort, wo die Herrschenden zur Einsicht kommen, ist die Nachricht noch nicht an das Volk weitergelangt, das wie in einem zu langen Bremsweg der Befehle die Katastrophe vorantreibt. Dem Hinweis Paul de Mans folgend, nicht seiner Deutung, die Marionettenmetapher auch auf Textmodelle bzw. auf Sprache selbst zu übertragen64, ließe sich jenes unauflösbare Missverstehen auch als Widerstreit von Gravität und Antigravität des Menschen verstehen. Eine Sprache, in der kein Missverstehen stattfinden kann, wäre ein wie von einer Kurbel angetriebenes, marionettenhaftes, sich selbst spielendes Sprachsystem. Erst die individuelle Anwendung des Menschen, ihre Sinnbehaftetheit bringt die Perfektion durcheinander und führt zu jenem Zerren an den Marionettenfäden, in denen nicht nur Freiheit an Freiheit, sondern auch Sinn an Sinn sich stößt. Wer aber meint, böse Absicht sei im Spiel, der irrt. Denn die Akteure scheinen mit nichts mehr beschäftigt als mit Kommunikation und Verständigung: „Erkläre dich“, „Wie meinst du das?“, „ich bitte dich mit mir zu reden“, „sprich weiter“, „sag mir seine Worte“, „Und weiter weißt du nichts?“, „Nun sprich“, „Und sprach sie nicht?“, „Wie meinst du das?“, „Was meinst du?“, „Was Henker denkst du?“, „Wie sagst du?“, „wie

64 Vgl. de Man 1988, S. 227ff.

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meinst du das?“ – das sind die Sätze, die sich in einer dichten Frequenz durch die Zeilen ziehen, als würden die Protagonisten fieberhaft versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen.65 Man möchte diesen fieberhaft um Kommunikation bemühten Menschen Schleiermachers Hermeneutik anraten, die im Fokus frühromantischer Theorie erst zu einer philosophischen Disziplin wird, indem sie nicht das Verstehen, sondern das Missverstehen zum gängigen Ausgangspunkt nimmt und unterstreicht, dass Auslegung keine reine sekundäre Tätigkeit, „nur Auslegung“ ist, sondern bereits Handlung, Weltkonstruktion und Erkenntnis, die im Gefüge der Handlungen und Erkenntnisakte andere Handlungen zeitigt. Erst mit der Universalisierung des Missverständnisses und mit ihm die Einsicht in die unhintergehbare eigene Ausschnitthaftigkeit oder Bedingtheit des sprechenden Denkens, kann der Verstehensprozess methodische Orientierung finden. Die Einsicht, dass wir grundsätzlich bedingt sind, folgt in Schleiermachers Hermeneutikvorlesungen (bezogen auf den Verstehensprozess) wie in Schleiermachers Dialektikvorlesungen (bezogen auf den Erkenntnisprozess) jedoch die Einsicht der Bedingtheit. Einsicht der Bedingtheit ist die in unendlicher Annäherung vorzunehmende Aufgabe, die Ausschnitthaftigkeit des einzelnen Denkens im Gesamtgefüge zu verorten und dies kann nicht anders als im fortlaufenden, immer wieder neu zu revidierenden, Streitgespräch geschehen.66 In Kleists Drama scheint eine Verständigung möglich nur für die Liebenden. Denn erst in einem unbedingte Vertrauen zueinander finden sie nach der Konfrontation ihrer Versionen und einem gemeinsamen Schweigen zu einer hermeneutischen Logik, in der zwei sich widersprechende Versionen nicht kontradiktorisch gegenüberstehen, sondern bedingt richtig sein können: „(Ottokar) Wir glauben uns./ – O Gott, welch eine Sonne geht mir auf!/ Wenns möglich wäre, wenn die Väter sich/ So gern, so leicht, wie wir, verstehen wollten [...] Denn jeder einzeln denkt nur jeder seinen einen Gedanken, käm der andere hinzu,/ Gleich gäbs den dritten, der uns fehlt.“ 67

65 In der Reihenfolge der Ziate: Kleist GA I, S.67, S. 67, S. 68, S. 70, S. 71, S. 71, S. 72, S. 73, S. 77, S. 81, S. 83, 87, S. 107. 66 Vgl. Schmidt 2005, S. 267–273. 67 Kleist GA I, S. 110. Zur Sprachskepsis und Misskommunikation in Kleists Werk und insbesondere in der Familie Schroffenstein gibt es zahlreiche Studien, hier sei stellvertretend auf die ältere wegweisende Studie von Walter MüllerSeidel, Versehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist,

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Trotz der in ihrer Isolation utopisch anmutenden Verständigungsszene lässt sich Missverstehen und Krieg der durch einen Erbvertrag aneinander gebundenen Familien nicht aufhalten. Der moralische und auch politische Bankrott, vor dem die beiden Familien am Ende stehen, denn sie haben sich mit ihren Kindern selbst ausgelöscht, wird mit einem absurden Freundschaftsbund und Freudenfest noch neben den warmen Leichen der Kinder nur noch gruseliger, trotz oder gerade weil die beiden männlichen Oberhäupter ihre Einsicht zu Schau stellen, die Kleist bar jedes Optimismus präsentiert. Das Desaster in der Familie Schroffenstein spielt sich übrigens in einer Höhle ab und wenn man die Höhle als philosophische Metapher deuten will, so finden sich die Menschen auf dem Gipfel der Verwirrung und Gewalt in der Platonischen Höhle wieder. Drei Marginalisierte, der verrückte Johann, der blinde Sylvius und die Hexe Ursula scheinen – je auf ihre Weise einzelner Sinne beraubt – als einzige Wahrheiten auszusprechen und sie sind es auch, die die Verwechslung überhaupt erst aufdecken. So wird die Schlussszene von dem an seiner unerwiderten Liebe zur Agnes wahnsinnig gewordenen Johann kommentiert: „Bringt Wein her! Lustig! Wein! Das ist ein Spaß zum Totlachen!“ und kurz zuvor: „Seid nicht böse./ Papa hat es nicht gern getan, Papa/ Wird es nicht mehr tun. Seid nicht böse.“68Aber niemand ist wirklich böse in diesem Stück, denn das Böse ist nichts Positives für sich, sondern ein Mangel an Einsicht in den Gesamtzusammenhang, der permanent die Katastrophe generiert. Das spricht auch aus dem Mund der Hexe, wenn sie die Szene kommentiert: „Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen.“69

Köln/Graz 1961 sowie den viel rezipierten Aufsatz von Hinrich C. Seeba verwiesen („Der Sündenfall des Verdachts. Identitätskrise und Sprachskepsis in Kleist ‚Familie Schroffenstein‘, in: Kleist Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978, hg. von Walter Müller-Seidel, Darmstadt 1981, S. 104–150), sowie auf Dieter Heimböckels Untersuchung zur Sprachskepsis bei Kleist (Emphatische Unaussprechlichkeit. Sprachkritik im Werk Heinrich von Kleist, Göttingen 2003) die auch der zentralen Bedeutung, der Formen und Funktionen des Schweigens in Kleist Werk nachgeht (ebenda, S. 262ff.). 68 Kleist GA I, S. 156. 69 Ebenda.

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Der verlorene Mittelpunkt: Ohnmachtsanfälle, Paradiesstürmer und Spiegelgefechte Der Verlust der Marionettengrazie entsteht durch das Movens Bewusstsein, das es mit der Gravität des Menschen, seinem Eingebundensein in Natur und Gesellschaft, nur unzureichend aufnehmen kann und „Unordnung“70 anrichtet. Übersteigt die Antigravität der in ihrem Schwerpunkt geführten Marionette ihre Gravität, so liegt der Grund der aus ihrem Schwerpunkt getriebenen Bewegung des Menschen eben in jenem unentschiedenen und permanent auszufechtenden Widerstreit zwischen Gravität und Antigravität oder zwischen Notwendigkeit und Freiheit. Dass der Rückweg in den Zustand der marionettenhaften Bewusstlosigkeit dem Menschen verschlossen ist, bringt der Tänzer im Gespräch in dem viel zitierten Satz auf den Punkt: „Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns“71. Eine dramatische Gestaltung dieser Einsicht könnte man in den zahlreichen Szenen in Kleists Dramen sehen, in denen die Protagonisten genau in den Momenten bewusstlos, ohnmächtig oder scheintot werden, wenn die Widersprüchlichkeit und Komplexität des Lebens nicht mehr auszuhalten ist.72 So fällt in Das Kätchen von Heilbronn Kätchen in Ohnmacht, als ihr der geliebte Mann befiehlt, ihn in Ruhe zu lassen, in der Familie Schroffenstein fällt Sylvester ihn Ohnmacht, als ihm sein Getreuer die Gefolgschaft aufkündigt und mit der komplementären Version der be-

70 Kleist GA V, S. 75. 71 Kleist GA V, S. 74. Mit einer ganz ähnlichen Bemerkung fragt in der Familie Schroffenstein der blinden Sylvius den wahnsinnigen Johann als er ihn zum Unglücksort führt: „(Sylvius:) Wohin führst du mich, Knabe? (Johann:) Ins Elend, Alter, denn ich bin die Torheit. Sei nur getrost! Es ist der rechte Weg. (Sylvius:) Weh! Weh! Im Wald die Blindheit und ihre Hüter,/ Der Wahnsinn! Führe heim mich, Knabe, heim! (Johann:) Ins Glück? Es geht nicht, Alter. S’ist inwendig verriegelt. Komm. Wir müssen vorwärts.“, Kleist GA I, S. 153) 72 Margarate Berger deutet die Ohnmachtsanfälle als „das affektive Überwältigtwerden des Bewusstseins durch der Symbolisierung unzugängliche blitzartige Erhellungen der Widersprüchlichkeit im eignen Innern, die die Kontinuität des lebendigen Seins infrage stellen und durch augenblicklich nachfolgende Bewusstlosigkeit annulliert werden.“ (M. Berger, „Zu den Ohnmachtsszenarien Kleistscher Protagonisten“, in: Gutjahr (Hg.) 2008, S. 249–278, hier S. 256)

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feindeten Familie konfrontiert.73 Rupert, das Familienoberhaupt der anderen Familie, verfällt hingegen in eine Art demenzartiges Vergessen, als er an den Ort des Verbrechens zurückkehrt und schlicht und ergreifend nicht mehr weiß, warum er das vermeintliche Mädchen (seinen Sohn) umgebracht hat. Ihm ist der Glaube an gut und böse vollständig durcheinander geraten und er muss von seinem Diener als Vertreter der von ihm selbst formulierten Gesetzlichkeit wieder „auf Spur“ gebracht werden. Diese Bewusstlosigkeiten, eine Art intuitive Reaktion gegen das „zu viel“ an Bewusstsein, ist eine Flucht in den Scheintod, in ein marionettenhaftes Dasein, das ihnen jedoch ganz genau gar nichts nützt, denn sie sind Menschen und in der Lage, die Katastrophe, die sie angerichtet haben, zu realisieren. Mit Blick auf das Kleistsche Personal in seinen Dramen und Erzählungen, scheitern jedoch nicht nur jene Versuche, sich in den paradiesischen Zustand der Bewusstlosigkeit fallen zu lassen und nur Gravität zu sein, sondern auch jene, die Gravität des Menschen zu ignorieren. Jene Ignoranz der eigenen Gravität zeichnet Figuren wie Kohlhaas oder Penthesilea aus, deren Movens stark ist und die so tun „als ob“ ihre Bewegungsbahn eine wäre, die keine Hemmung und keine Abgleichung durch die gesellschaftlichen Umstände erfahren darf und kann. Man könnte diese Figuren, deren Kleists ganze Sympathie gilt, auch als Paradiesstürmer bezeichnen, die einen Frontalangriff auf die Cherubim wagen. Interessant ist, dass es in der dramaturgischen Gestaltung immer einen Moment gibt, in dem diese Personen wie vom Donner gerührt sind, als hätte sie jemand oder etwas in ihrem Schwerpunkt berührt, dem zu folgen fortan ihr einziges Ziel ist.74 Indem diese Paradiesstürmer, die jemand oder etwas in ihrem Schwerpunkt berührt hat, sich über ihrer Bedingtheit oder Geschichtlichkeit hinwegsetzen, scheitern sie nicht nur, weil sie in der Regel zu Tode kommen. Sie scheitern, indem sie sich in ihrem absoluten Streben selbst ad absurdum führen und das Gegenteil von dem erreichen, wozu sie aufgebrochen sind.

73 Vgl. Kleist GA I, S. 85. Nach der Ohnmacht möchte ihm seine Frau Bettruhe verordnen doch der Mann braucht zu seiner Stärkung wie er meint „nichts als mein Bewußtsein“, denn der Leib sei an allem Schuld (Kleist GA 1, S. 92). 74 Paul Böckmann bezeichnet dieses Erlebnis als „ein elementarer Einbruch in die Seele des Menschen“, vgl. Böckmann 1967, S. 44f.

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Eine Vermittlung von Notwendigkeit und Freiheit, von Sinnlichkeit und Vernunft, von Gesellschaft und Individualität, lässt sich im Kontext frühromantischer Theorie durch beständige Wechselwirkung erreichen. Bildung zur Individualität ist daher zugleich auch Bildung zur Universalität und Bildung zur gesamten Menschheit oder wie Friedrich Schlegel in seinen Notizheft „Ideen“ formuliert: „Ein wahrer Mensch ist, wer bis in den Mittelpunkt der Menschheit gekommen ist.“75 Vor dem Hintergrund jener programmatischen Bildung zur Individualität wird das Scheitern der Kleistschen Paradiesstürmer insbesondere im letzten Bild der Penthesilea sinnfällig: Penthesilea, die in den Endkampf stürmt und Achill zerfleischt, besiegelt ihr Ende mit einem Einstieg nach Innen. Dieser Einstieg hat jedoch nichts mit dem geheimnisvollen Weg nach Innen zu tun, wie ihn Novalis im Heinrich von Ofterdingen vorstellt; Penthesilea steigt in sich wie in ein sich selbst mit Hilfe ihrer Gefühle ausgehobenes Grab.76 Auf dem Weg der aufgegebenen Bildung zur Individualität kommt im Kontext frühromantischer Theorie den so genannten „Mittlerfiguren“ eine entscheidende Rolle zu, die zu einer Harmonie des absoluten Gegensatzes – in Kleistschem Vokabular: den Schwerpunkt ihrer Bewegung – gefunden haben und als „Meister“ eine Vorbild- oder Initialisierungsfunktion für den Menschen übernehmen. Ganz anderer Art ist jedoch die Meisterschaft, die uns Kleist in der Bärengeschichte vorstellt und mit der er meines Erachtens ein Gegenmodell zur Mittlerfigur entwirft. Der an einem Pfahl angebundene fechtende Bär soll dem meisterhaft fechtenden Tänzer C. zum Meister vorgeführt werden, denn „alles auf der Welt finde den seinen“77. Der Bär pariert jeden Stoß indem er intuitiv zwischen Finte und Nicht-Finte zu unterscheiden weiß und in dieser Unterscheidungsleistung eine Art Spiegelfunktion für den Fechter einnimmt; ein Spiegel der im wahrsten Sinne des Wortes eine Reflexionsleistung zu vollziehen scheint: „Aug in Auge“ dem menschlichen Fechter gegenüber steht, „als ob er meine Seele darin lesen könnte“78. Als befinde er sich im Gefecht mit dem Bären für einen Moment im Brennpunkt des

75 F. Schlegel, „Ideen“, KA II, S. 264, Nr. 87. 76 Kleist KA II, S. 427: „Denn jetzt steig’ ich in meinen Busen nieder,/ Gleich einem Schacht, und grabe, kalt wie Erz,/ Mir ein vernichtendes Gefühl hervor.“ 77 Kleist GA V, S. 76. 78 Ebenda, S. 77.

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Hohlspiegels wird dem menschlichen Fechter seine aus dem Schwerpunkt geratene Seele im Spiel zwischen Finte und Nicht-Finte vor Augen geführt. Eine ganz ähnliche Spiegelszene findet sich in Kleists Drama Das Kätchen von Heilbronn. Wie der Bär, der bar jedes Bewusstseins seiner tierischen Intuition folgt, unterscheidet das naive und ganz und gar von seiner blinden Liebe zum Grafen gefesselte Kätchen im Verhör mit dem Grafen Strahl, der ihr nach allen Regeln der Verhörkunst Finten stellt, Finte von Wahrheit.79 Und in dieser Spiegelfunktion dreht sich das Verhör quasi einmal um die eigen Achse, macht den Grafen Stahl zum Angeklagten und reflektiert vor Kätchens naiver Aufrichtigkeit die Unlauterkeit des Grafen, der seine Gefühle für Kätchen in ihrer gesellschaftlichen Unangemessenheit nicht zulassen kann. Ein Pendant zum „bewusstlosen“ Spiegel, den der Bär oder Kätchen darstellen, in dem sich die Blickrichtung ändert, findet sich im Text Über das Marionettentheater in der Miniaturerzählung des Dornausziehers. Denn es ist zunächst nicht der Wandspiegel, dessen 1:1 Reflexion dem jungen Mann die Grazie seiner Bewegung vereitelt, sondern der Spiegel im menschlichen Blick.80 Erst die fehlende Anerkennung des Icherzählers zwingt den jungen Mann zur Reproduktion der grazilen Bewegung, welche im Versuch der bewussten Steuerung misslingt. Die versteckte Heimtücke in dieser Geschichte ist, dass der Icherzähler die Grazie des jungen Mannes sehr wohl bemerkt hat und ihn schlicht und ergreifend anlügt und in diesem vermeintlich erzieherischen Akt sich selbst als affektgesteuert preisgibt. Der Sündenfall, der wie in einer Laborsituation nachgespielt wird, erscheint hier als eine Art „Infektion“ durch einen Sündigen, denn Lüge und fehlende Anerkennung im Blick des Anderen wecken ein rationales Kontrollbedürf-

79 Dem entspricht Hanna Hellmanns Interpretation des Kätchens als „Marionette“, Vgl. Hellmann 1967, S. 23 der auch Müller-Seidel, für den Kätchen den Status der Grazie verkörpert, vgl. Müller-Seidel 1961, S. 213: „Sie ist damit wirklich als die reinste Verkörperung der Grazie zu betrachten; im Grunde ist sie das schon mit märchenhaften Zügen ausgestattete Symbol einer vom Sündenfall unberührten Daseinsart.“ 80 Schulte weist darauf hin, dass der Verlust der Unschuld in der Sekundärliteratur fälschlicherweise allein dem Umstand des Sich-Spiegelns im Wandspiegel zugesprochen wird, vgl. Schulte 1988, S. 74.

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nis des jungen Mannes, der sein Bewusstsein zu seiner eigenen Verteidigung mobilisiert. Für den unschuldigen, seine Bewegungen intuitiv ausführenden jungen Mann, wird der menschliche Blick zum Lügenspiegel, der ihn mit Bewusstsein infiziert; für den sich zierenden, Finte und Nicht-Finte bewusst planenden Menschen wird der Blick des Unschuldigen und Intuitiven hingegen zum „Lügendetektor“. Diese Spiegelgefechte führen die eigene Mittelmäßigkeit vor Augen, der Bär ist Meister in der Darstellung dessen was ist, kein Mittler jedoch, kein Meister in der Darstellung was sein sollte.

4. S CHLUSS : D IE A POKALYPSE E NDLICHEN

DES UNENDLICHEN

Kleists paradoxe Anlage des Textes, die eingangs untersucht wurde, entspricht durchaus dem Programm der „höheren Kritik“, wie sie Schlegel formuliert, dem Programm „potenzierter“ Philosophie, die ihre eigene Vorläufigkeit immer schon mitzudenken hat. Wie eine Art Replique auf Kleists Marionettentheatertext liest sich Friedrich Schlegels Athenäumsfragment Nr. 51, indem die Ironie als potenzierte Reflexion sogar mit den Begriffen der Naivität und Anmut in Verbindung gebracht wird. 81 Bloßer Instinkt erscheint in dieser Polarität „albern“ und ebenso wenig erstrebenswert wie die „Affektation“ dessen, der alles mit Absicht betreiben will. Absicht, so

81 „Naiv ist, was bis zur Ironie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung natürlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Ist es bloß Instinkt, so ists kindlich, kindisch, oder albern; ists bloße Absicht, so entsteht Affektation. Das schöne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Instinkt sein. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freiheit. Bewußtsein ist noch bei weitem nicht Absicht. Es gibt ein gewisses verliebtes Anschauen eigner Natürlichkeit oder Albernheit, das selbst unsäglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Instinkt: Es ist wenigstens so viel Absicht darin, wie in der Anmut lieblicher Kinder, oder unschuldiger Mädchen. Wenn Er auch keine Absichten hatte, so hat doch seine Poesie und die eigentliche Verfasserin derselben, die Natur, Absicht.“ (F. Schlegel, Athenäumsfragemnte, KA II, S. 172f, Nr. 51).

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betont Schlegel, sei jedoch nicht mit Reflexion gleichzusetzen; und das gelungene Schöne und Poetische, was Schlegel auch in einem Atemzug mit der Freiheit gleichsetzt und so rein ästhetische Fragen überschreitet, ist Naivität und Anmut und als solche sowohl Instinkt wie Absicht. Diese gelungene Vermittlung zwischen Instinkt und Absicht ist jedoch Ironie – ein „Wechsel aus Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“. Die aus dem Gleichgewicht geratene je eigene Mischung von Vernunft und Materie, die den Menschen ausmacht, kann nach Schleiermacher in der Analyse der Architektur unterschiedlicher Wechselwirkungsverhältnisse, der grundsätzlichen Einsicht in die Ausschnitthaftigkeit des eigenen Wollens und Denkens und in der hermeneutisch-kritischen Zuwendung zu eben jenen historischen Formen der verwirklichten Vernunft bestehen. Während also Schlegel eine Annäherung programmatisch entwirft und Schleiermacher eine Methodik entwickelt, dieser Eingebundenheit des Menschen auf die Schliche zukommen, indem man sich gerade dieser Eingebundenheit zuwendet und – modern gesprochen – Kulturhermeneutik und Kulturkritik betreibt, so scheinen die Aussichten, die uns Kleist eröffnet, weit weniger optimistisch. Die aus ihrem Seelenschwerpunkt geratenen Menschenmarionetten rennen als Bewusstlose und Paradiesstürmer – Antigravität und Gravität des Menschen zum Trotz – gegen ihre conditio humana an. Und selbst da, wo ein glückliches Ende scheint, finden wir keinen Individual-Bildungsprozess, sondern eine als schöner Schein entlarvte Pseudoläuterung der Protagonisten vor: Kätchen weiß noch nicht einmal, dass sie zu ihrer eigenen Hochzeit geführt wird, der von ihr geliebte Mann ist schlicht und ergreifend geil und kann sich zur ihr erst bekennen, als sie sich – oh Wunder – als Kaisertochter entpuppt; die Schroffensteins übertünchen mit einem Händedruck neben den warmen Leichen ihrer Kinder den politischen und moralischen Bankrott, der auch nicht weiter untersucht wird, und der Prinz von Homburg endet in einem Verwirrspiel ethisch-moralischer Positionen das nicht etwa entknäult, sondern dem durch den Begnadigungsakt des Königs ein Ende gesetzt wird. Im Vorführen dieses Scheiterns wird der Künstler Kleist jedoch nicht etwa, wie Benno von Wiese anmerkt82, zum Maschinisten der Menschenmarionetten, der mit ihnen tanzt, sondern eher zum gewitzten Zauberlehr-

82 von Wiese 1967, S. 211.

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ling des göttlichen Maschinisten, der die Menschenmarionetten ins Unglück rennen lässt und so ihr Netzwerk und die ihm eigene Determination oder Affektenlehre vorführt. Diese „unvermeidlichen“ „Missgriffe“83 des Menschen erhalten im Text „Über das Marionettentheater“ einen Interpretationsrahmen bzw. leicht voneinander abweichende Interpretationsrahmen. Denn es stehen verschiedene Varianten der Interpretation des Verhältnisses von Endlichem und Unendlichem nebeneinander, die nicht vollständig zur Deckung kommen: eine idealgeschichtliche Stufenfolge steht neben dem Entwurf menschlicher Endlichkeit als unharmonische Mischung zweier absoluter Gegensätze, die Behauptung eines „letzte(n) Kapitel(s) von der Geschichte der Welt“ steht der Vorstellung eines Transits durch das Unendliche gegenüber, das sich in ewiger Wiederkehr ereignet. In seinem Text „Empfindung vor Friedrichs Seelandschaft“84 formuliert Kleist ein weiteres Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit, das in seiner metaphysischen Ernüchterung weit in die Moderne zu blicken scheint und die Kleist selbst als „apokalyptisch“ apostrophiert. In der Betrachtung des Gemäldes von C. D. Friedrich „Mönch am Meer“ beschreibt Kleist die Differenz zwischen einer verheißungsvollen „Unbegrenztheit“ des Meeres und der darin beheimateten Sehnsucht nach Transzendenz zu einer „Uferlosigkeit“ der Welt. Aus dem auf die See blickenden Menschen und dem Gefühl „daß man dahin gegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann“85 – also einer Verortung des Menschen im Endlichen in Bezug auf ein qualitativ Unendliches, wird eine Endlosigkeit des Endlichen, die den Mensch in seiner Endlichkeit isoliert als „einsame[r] Mittelpunkt im einsamen Kreis“86. Mit Hegel gesprochen, bringt das Friedrichsche Bild eine „schlechte Unendlichkeit“ zum Ausdruck, also eine Operation zur Überwindung der Endlichkeit, die sich immer gleich bleibend wiederholt („n+1“).

83 Kleist GA V, S. 74. 84 Der ursprünglich von Brentano stammende Text ist so stark von Kleist gekürzt und revidiert worden, dass jener die Autorschaft verweigerte, welche dieser dann übernahm. 85 Kleist GA V, S. 61. 86 Ebenda, S. 61.

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Diese schlechte Unendlichkeit mag auch in Kleists Parallelenbeispiel anklingen, wenn man den „Durchgang durch das Unendliche“, den der Tänzer hervorhebt, sozusagen „apokalyptisch“ interpretiert. Denn nicht nur der eine Punkt des Parallel-Seins, sondern auch der Durchlauf durch die Möglichkeiten eines Schnittpunktes zwischen g und h sind unendlich, jedoch eine unendliche Endlichkeit. Insofern ließ sich auch diese apokalyptische Version der Interpretation des Verhältnisses von Unendlich und Endlich in das Ensemble des Gespräches über das Marionettentheater integrieren. Anders als Kurz, der in der paradoxen Komposition des Textes „das ganze Modell des Sündenfalls mit den daraus in der Moderne abgeleiteten Geschichtskonstruktionen und Denkfiguren in Frage“87 gestellt sieht, und anders als Paul de Mans Lektüre, in der der „Fall“ (im doppelten Sinne) von Sinnhaftigkeit schlechthin inszeniert wird88, geht es Kleist meines Erachtens nicht um eine Destruktion der im Gespräch über das Marionettentheater vorgestellten Sinnentwürfe. Vielmehr geht es, da vom Standpunkt des Menschen ihr Entweder-Oder nicht entschieden werden kann, um ihr Sowohl-als-Auch und darum in der Dissonanz ihrer wechselseitigen Verweise aufeinander weitere Interpretationen zu generieren. In diesem Sinne bliebe Kleist, der Zauberlehrling des Marionettenspielers, in radikalisierter Form dem Programm frühromantischer Ironie verpflichtet: Steter Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung.

87 Kurz 1983, S. 268. 88 Man 1988, S. 231f.

Drei Varianten des letzten Kapitels der Geschichte Vollendete Moderne bei Rousseau, Schiller und Husserl

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Kaum ein literarischer Text hat in jüngster Zeit einen so intensiven philosophischen Wettstreit um mögliche Deutungen hervorgebracht wie Kleists Marionettentheater, bei dem schon die Frage nach seiner Form – Essay, dramatische Erzählung, ästhetische Schrift? – herausfordernd ist.1 Wie soll man dann erst den fechtenden Bären deuten? Handelt es sich um ein Wesen, das auf verschlungene Weise verwandt mit dem genialen Rennpferd ist, das den Mann ohne Eigenschaften beschäftigt, jenem Tier also, das eine merkwürdige moderne Erscheinung darstellt?2 Die These im Folgenden lautet: Kleists Marionettentheater inszeniert die Frage nach einer Vollendung der Moderne. Diese Frage erfindet Kleist nicht, vielmehr greift er ein bereits im 18. Jahrhundert in verschiedenen Varianten diskutiertes Modell von der Moderne und ihrer Vollendung auf. Die von Kleist auf die Bühne gebrachten eigenartigen Wesen – anmutige Prothesenmenschen, volltechni-

1

Anders noch Bubner, der 1982 feststellt, dass das Marionettentheater bislang kaum philosophisch gelesen worden sei. Vgl. dazu Bubner, Rüdiger (1982): „Philosophisches über Marionetten“. In: Kleist Jahrbuch 1980, S. 73–85, hier S. 73 f.

2

Vgl. Musil, Robert (1980 [1930]): Mann ohne Eigenschaften, Berlin: ex libris, Kapitel 13.

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sche Marionetten, ein fechtender Bär – führen die paradoxen Konsequenzen dieses Geschichtsmodells auf.

1. D AS M ARIONETTENTHEATER ALS G ESCHICHTSPHILOSOPHIE Die verschiedenen Episoden in Kleists Erzählung zeichnen die Umrisse eines Dreistufenmodells: Auf der ersten Stufe treten Figuren auf, die ohne Bewusstsein und Reflexion agieren, wie die titelgebenden Marionetten oder der Jüngling, welcher die anmutige Bewegung vollzieht. Auf der zweiten Stufe erscheinen Bewusstsein und Reflexion. Die harsch kritisierten Tänzer und Schauspieler bewegen sich auf dieser Stufe; ebenso der Jüngling, der seine anmutige Bewegung zu wiederholen versucht und daran scheitert. Auf der dritten Stufe zeigen die Prothesen der Versehrten sowie der fechtende Bär Reflexion und Aktion miteinander versöhnt. Jede dieser drei Stufen wird nicht nur durch die Figuren verkörpert, sondern in den Kommentaren von C. und dem Erzähler reflektiert. Dem Verhältnis von erster und zweiter Stufe lässt sich die Aussage zuordnen, „daß in dem Maaße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt“3. Die zweite Stufe findet sich in der Bemerkung des Erzählers anlässlich des scheiternden Jünglings: „Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.“ (325) Die dritte Stufe wird anhand der Geschichte des fechtenden Bären reflektiert: So fände sich, „wenn die Erkenntniß gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am Reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h.

3

Kleist, Heinrich von (1997): „Über das Marionettentheater“. In: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. II/7 Berliner Abendblätter, Hg. v. Roland Reuss und Peter Staengle. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld, S. 317-319, 321-323, 325-327, 329-331. – Alle folgenden Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die Brandenburger Kleist Ausgabe (=BKA).

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in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“ (330 f.) Die Entwicklung scheint sich daher von einer unmittelbaren Einheit (Marionetten) über die Zerrissenheit (scheiternder Jüngling) zur vermittelten Einheit (Gott, Bär) zu vollziehen. Was aber ist genau zerrissen und versöhnt sich? Der Text bietet eine Reihe von Kandidaten an: Natur und Kultur (Tanz, Schauspiel, Fechtkunst), Natur und Technik (Prothesen, mechanisierte Marionetten), Unmittelbarkeit und Reflexion (Jüngling), Naivität und Erkenntnis (Kommentar über die „Erkenntnis“, welche „durch ein Unendliches gegangen ist“), Körper und Bewusstsein (auch davon wird in Bezug auf den Jüngling sowie die Marionetten gesprochen); schließlich kommt auch die Anmut bzw. Grazie in Betracht, sie durchzieht in den Kommentaren den gesamten Text, allerdings stellt sie, wie noch gezeigt werden wird, bereits das Ergebnis einer vermittelten Einheit oder Versöhnung des Entzweiten dar. Zwischen diesen Alternativen bestehen vielfache Bezüge, was bei Technik und Kultur oder Erkenntnis, Reflexion, Bewusstsein offensichtlich ist. Zudem lässt sich anhand einer Rekonstruktion von Theorien der Anmut im 18. Jahrhundert zeigen, dass eine enge Verbindung zwischen den Diskursen um Natur, Kultur und Technik einerseits sowie um Naivität und die Reflexionshöhe der Seele andererseits besteht.4 Diese möglichen Gegenstände der Entwicklung sind daher keineswegs heterogen, sondern bilden ein Syndrom. Kleists Text inszeniert dieses dreistufige Modell nicht in einem historischen Vakuum, vielmehr greift er Überlegungen auf, die seit dem 17. Jahrhundert virulent waren, im 18. Jahrhundert in Gestalt geschichtlicher Modelle einer vollendeten Moderne in Erscheinung traten und noch bis ins 20. Jahrhundert aktuell bleiben sollten.5 Drei dreistufige Geschichtsmodelle bieten vielfältige Bezüge en détail zum Marionettentheater: (1) Rousseaus Darstellung des Prozesses vom Natur- zum Gesellschaftszustand und ‚zu-

4

Vgl. dazu Marwyck, Mareen van (2010): Gewalt und Anmut. Weiblicher Hero-

5

Vgl. die Nachweise zu Descartes, Hobbes, Fontenelle und Diderot (sowie Pla-

ismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld: transcript. ton) bei Bubner, Rüdiger (1982): „Philosophisches über Marionetten“. In: Kleist Jahrbuch 1980, S. 73–85. Bubner verdeutlicht, wie in der Neuzeit das Motiv der Reflexion in den Metaphern von Marionette und Theatermaschine hervortritt. Er sieht bei Kleist ebenfalls eine Geschichtsphilosophie, welche von einer Unmittelbarkeit über die Entzweiung zur Versöhnung in der Reflexion führt.

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rück‘6, (2) Schillers Versuch, Natur und Kultur in der Anmut miteinander zu harmonisieren sowie (3) Husserls Auffassung von der Geschichte als Verwirklichung der Vernunft. Sie gleichen sich in der Entwicklung, sind im Fluchtpunkt der Geschichte aber unterschieden. Bei Rousseau treten Überlegungen eines neuen Naturzustands im Durchgang durch die Kulturgeschichte in den Vordergrund; bei Schiller hat Geschichte ihr Ziel in der Harmonisierung von Natur und Kultur; Husserl wiederum fasst Geschichte als Prozess der (Selbst-)Verwirklichung der Vernunft. Neuer Naturzustand, Harmonie zwischen Natur und Kultur, radikalisierte Vernunft stellen drei Varianten desselben Prozessmodells dar. Die Versöhnung zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion wird jeweils unterschiedlich akzentuiert: einmal tritt die Natur in den Vordergrund, einmal die Harmonie, einmal die Vernunft. Damit sind drei prototypische Modelle einer vollendeten Moderne benannt, auf die sich das Marionettentheater bezieht, ohne sich für eines zu entscheiden. Vielmehr bringt es die Inkonsistenz jeder dieser drei möglichen geschichtsphilosophischen Varianten zur Darstellung.

2. R OUSSEAU : V ERÄNDERTE R ÜCKKEHR

ZUR

N ATUR

Rousseau ist keineswegs der erste Philosoph, welcher einen Naturzustand des Menschen setzt. Bekanntlich hatte bereits Hobbes im Leviathan einen hypothetischen Ausgangszustand entworfen, um zu begründen, warum die Abtretung der natürlichen Macht des Einzelnen im Rahmen einer vertraglichen Prozedur und die Inthronisierung eines Souveräns eine notwendige Schlussfolgerung der vernünftigen Einzelnen ist.7 Rousseau reflektiert jedoch die methodischen Probleme, vor die man sich beim Versuch einer Rekonstruktion eines Naturzustands des Menschen gestellt sieht, in ungekannter Weise. Im Vorwort zum Discours sur l’inégalité diskutiert Rousseau ein epistemisches Problem der Anthropologie. Die Suche nach der menschli-

6

Bekanntlich bestreitet Rousseau, dass es ein „Zurück zur Natur“ gibt; gleichwohl finden sich mehrere Spuren eines zweiten Wegs zur Natur zurück in seinem Werk, und zwar durch einen Durchgang durch die Kultur, wie im Nachfolgenden gezeigt werden soll.

7

Hobbes, Thomas (1984 [1651]): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

D REI V ARIANTEN DES LETZTEN K APITELS DER G ESCHICHTE | 113

chen Natur stehe vor der Schwierigkeit, dass der zeitgenössische Mensch kultiviert und seine Natur davon überlagert oder gar verändert worden sei.8 Die Bestimmung der Natur des Menschen müsse sich von dem aktuellen Menschen in der Kultur lösen, um zu seiner ursprünglichen Natur zurück zu dringen. Wiederholt kritisiert Rousseau daher die Anwendung kultureller Begriffe wie Recht, Eigentum, Stolz oder Autorität, um den Naturzustand und den Ausgang aus ihm zu erklären.9 Das neue methodische Problembewusstsein historischer Rekonstruktionen zeigt sich auch in Rousseaus Überlegungen zu den langen historischen Zeiträumen, die zwischen dem Naturzustand und dem aktuellen Kulturzustand des Menschen liegen, sowie in dessen Kritik von Erklärungshypothesen über den Ursprung der Sprache. Rousseau beanstandet etwa, dass derartige Erklärungen „den Fehler […] begehen, beim Nachdenken über den Naturzustand auf diesen die der Gesellschaft entnommenen Vorstellungen [zu] übertragen“.10 So wirft er Condillac vor, dass seine Theorie vom Ursprung der Sprache „vorausgesetzt hat, was ich in Frage stelle – nämlich, daß eine Art von Gesellschaft unter den Erfindern der Sprache bereits etabliert war“.11 Rousseau beschwört geradezu – im Kontext der These einer CoEvolution von Sprache und Denken – die „unendliche Zeit, welche die erste Erfindung der Sprachen gekostet haben muß; man verbinde diese Reflexion mit den vorangegangenen und man wird ermessen, wie viele Tausende von Jahrhunderten nötig gewesen wären, um im menschlichen Geist sukzessive die Operationen zu entwickeln, deren er fähig gewesen war.“12 Am Ende des ersten Teils findet sich eine ganze Batterie historisch-methodischer Überlegungen Rousseaus, etwa „über die Weise, in welcher der Zeitraum die geringe Wahrscheinlichkeit der Ereignisse aufwiegt; über die überraschende Macht sehr geringfügiger Ursachen, wenn sie ohne Unterlaß wirken“13.

8

Vgl. Rousseau, Jean-Jacques (2008 [1755]): Diskurs über die Ungleichheit. Paderborn, München: Schöningh, S. 69 sowie die Hinweise Rousseaus im Vorwort.

9

Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 119. Vgl. auch S. 69.

10 Ebd., S. 119. 11 Ebd., S. 117. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 169.

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Diesem Methodenbewusstsein liegt ein sachliches Motiv zugrunde: Kultur ist für Rousseau ein durch und durch historischer Gegenstand geworden. Vom ersten Diskurs, welcher die Frage nach der sittlichen Vervollkommnung des Menschen durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt stellt, über die Kritik am gegenwärtigen Zustand der Kultur, die Genealogie des Kulturmenschen aus dem Naturzustand, die These, dass das Werden des Menschen wesentlich in seiner Perfektibilität begründet ist, bis zu den Überlegungen einer möglichen Reversibilität dieser Entwicklung sind es stets historische Fragen und Antworten, die Rousseau stellt und gibt.14 Die Bezüge zum historischen Marionettentheater Kleists bestehen zunächst in der Schilderung des Naturzustands. In Émile ou De l’éducation beschreibt Rousseau den Beginn der geistigen Entwicklung: „Mit der Geburt sind wir zum Lernen fähig, aber wir wissen nichts und kennen nichts. Die Seele ist in unvollkommene und halbgebildete Organe eingebettet. Sie empfindet nicht einmal ihr eigenes Dasein. Die Bewegungen und Schreie des Neugeborenen sind rein mechanisch, ohne Bewußtsein und ohne Willen.“15 Dieser Anfang eines jeden Menschen korrespondiert mit Rousseaus Darstellung der Menschheit im Naturzustand. Ihm entgegen steht der Mensch in der gegenwärtigen Gesellschaft, der, indem er reflexiv wird, in seiner Natur korrumpiert wird: „Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, daß der Zustand der Reflexion wider die Natur ist und daß der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist.“16 Pointiert formuliert besteht der Unterschied zwischen dem Natur- und dem Kulturmenschen für Rousseau nicht in einem neu gewonnenen, erkenntnistheoretischen und formalen Vermögen der Reflexion, sondern darin, dass die gesellschaftlichen Menschen sich in einer ständigen, sozialen Reflexionsbewegung befinden, die sie außerhalb ihrer selbst versetzt. Es sind die mit der Gesellschaft verstärkten und neu aufkommenden Unterschiede zwischen den Menschen, welche entscheidende Relevanz für diese erhalten und sie dazu bringen, sich ständig mit den anderen zu ver-

14 Auch die Fragen nach dem Ursprung der Sprache und nach einem der Entwicklungsnatur des Menschen angemessenen Erziehungsprozesses, den er in Emil oder über die Erziehung vorstellt, behandeln historische Themen. 15 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 37. 16 Ebd., S. 89.

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gleichen. Das „universelle Verlangen nach Reputation“ führt nicht nur zu den Unterschieden zwischen den Bürgern, es führt auch dazu, dass diese ständig reflektiert würden im „Eifer, von sich reden zu machen, dieser Raserei, sich zu unterscheiden, die uns beinahe immer außerhalb unserer selbst hält“17. Diese Bestimmungen kehren in Kleists Figuren wieder. Die Marionetten sind ohne Bewusstsein, das ihre natürlichen Bewegungen stört. Sie funktionieren aufgrund eines „Mechanismus“ (556), sie funktionieren umso besser, je weniger Wille und Seele sie stören: „Inzwischen glaubte er“, heißt es von C., „daß auch dieser letzte Bruch von Geist, von dem er gesprochen, aus den Marionetten entfernt werden, daß ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinübergespielt, und vermittelst einer Kurbel […] hervorgebracht werden könne“ (557). Anders dagegen die Schauspieler und Tänzer, welche einer harschen Kritik im Marionettentheater unterzogen werden. Die Schauspielerin „P…“, welche die Daphne spielt und die, verfolgt von Apoll, sich nach diesem umdrehe, zerreißt C. mit den Worten: „die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes“. Mit Blick auf den jungen Schauspieler F. heißt es: „die Seele sitzt ihm gar […] im Ellenbogen“ (559). Die Szene des Dornausziehers funktioniert ebenfalls nach dem Prinzip einer störenden Reflexion. Zusätzlich wird aber der Grund dieser Störung nicht bloß formal in der Reflexion verortet, sondern in einer sozialen Reflexion: Die Reflexion wird auf die Eitelkeit des Jünglings, also Rousseaus „universelle[m] Verlangen nach Reputation“, zurückgeführt. In dieser Szene verliert der „junge Mann“ seine „Unschuld“, als er die anmutige Bewegung nach einem Blick in den Spiegel und unter dem Blick des Begleiters bewusst zu wiederholen versucht (560 f.).18 Im Marionettentheater leugnet der Begleiter des jungen Mannes, die erste anmutige Bewegung des jungen Mannes bemerkt zu haben, „um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu be-

17 Ebd., S. 257. 18 Im Émile heißt es hinsichtlich der eitlen Reflexion, des eitlen Blicks durch die Augen des anderen auf sich: „Einzig und allein die Eitelkeit macht uns tollkühn; man ist es nicht, wenn man von niemandem gesehen wird; Émile würde es nicht einmal sein, wenn er auch aller Augen ausgesetzt wäre.“ Vgl. Rousseau, JeanJacques; (1998 [1762]): Emil oder über die Erziehung. Paderborn: Schöningh, S. 119.

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gegnen“ (561). Im Émile führt Rousseau die Erziehungstechnik an, der Eitelkeit eines jungen Menschen Fallen zu stellen.19 Der Blick des anderen, den der Jüngling bei Kleist bemerkt, gilt ihm als Katalysator der Eitelkeit.20 Ganz wie von Rousseau empfohlen, entschließt sich der Beobachter des Jünglings, diesen gegen seine Eitelkeit zu erziehen – wenngleich ohne Erfolg. Im Detail bestehen also Ähnlichkeiten in der Charakterisierung des Naturzustands sowie der Rolle von Reflexion, Eitelkeit und Sozialität bei Rousseau und Kleist. Einen Schritt über Detailbezüge hinaus führt Rousseaus Geschichtsmodell. Hans Blumenberg wies darauf hin, dass es „zuerst und an einer sehr bedeutsamen Stelle Rousseau [war], der aus der Einsicht in die Nichtumkehrbarkeit der Geschichte seine Kritik am Gesellschaftszustand seiner Zeit mit dem Postulat der totalen Vollstreckung des in diesem Zustand wirksamen Prinzips verbunden hatte; gegen seinen Kritiker Diderot gewandt, forderte er nicht die Rückkehr zur Natur, sondern den konsequenten Durchvollzug der Künstlichkeit im Gefüge der menschlichen Vergesellschaftung: ‚Montrons-lui, dans l’art perfectionné, la réparation des maux que l’art commencé fit à la nature […]‘.“21 Diese Stelle, die aus dem Genfer Manuskript des Contrat social stammt, findet sich zwar nicht in dessen Endfassung. Es gibt jedoch mindestens drei weitere Varianten, in denen Rousseau das eingangs im Marionettentheater aufgeführte dreigliedrige Geschichtsmodell erprobt, auf die ich nun der Reihe nach eingehe. Im Émile diskutiert Rousseau drei Formen der Abhängigkeit des Menschen: die von der Natur, die von den Dingen sowie die von anderen Menschen. Letztere gilt Rousseau als Übel. Dennoch besteht die Aussicht, durch eine Gesellschaft, die wie Natur funktioniert, eine Art gesellschaftlichen Naturzustand herzustellen:

19 Vgl. Rousseau, Emil oder über die Erziehung, S. 252 f. 20 Ebd., S. 119: „Man befürchtet, ein Kind könne beim Schwimmenlernen ertrinken. Ob es beim Lernen ertrinkt oder weil es nicht schwimmen gelernt hat, schuld daran seid ihr. Nur die Eitelkeit macht uns tollkühn! Wenn uns niemand zusieht, sind wir nicht mehr eitel.“ 21 Hans Blumenberg (1981): „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart: Reclam, S. 11.

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„Das einzige Mittel gegen dieses Übel in der Gesellschaft wäre, den Menschen durch das Gesetz abzulösen und die öffentliche Meinung mit einer wirklichen Macht auszurüsten, die größer ist als die Macht eines jeden Einzelwillens. Wenn die Gesetze der Völker so unbeugsam wären wie die Gesetze der Natur, die keine menschliche Kraft jemals brechen kann, dann wären die Menschen von den Gesetzen genau so abhängig wie von den Dingen. Man könnte in der Republik alle Vorteile des Naturzustandes mit den Vorteilen der Gesellschaft verbinden. Und zur Freiheit, die ihn vor Lastern bewahrt, käme die Sittlichkeit, die ihn zur Tugend erhebt.“22

Im Prinzip liegt dem gesamten Émile der Gedanke zugrunde, Kunst und Natur zu verschmelzen. Denn Erziehung ist, zumindest teilweise, eine „Kunst“, wie Rousseau zu Beginn erläutert. „Das Ziel der Erziehung“ aber „ist das Ziel der Natur selbst“.23 Gibt es bei Rousseau also die – von verschiedenen Interpreten häufig bestrittene Möglichkeit – des „Zurück zur Natur“ doch? In Anmerkung Nr. IX des zweiten Discours kommt er bekanntlich auf die Frage nach dieser Möglichkeit zu sprechen und verneint sie.24 „Was denn? Soll man die Gesellschaften zerstören, Dein und Mein vernichten und dazu zurückkehren, in den Wäldern mit den Bären zu leben?“25 Die Möglichkeit, die „erste Unschuld“, wie Rousseau sie nennt, wiederzugewinnen, gibt es für ihn nicht – so wenig wie es im Marionettentheater möglich ist, schlicht in den „Stand der Unschuld“ zurückzufallen.26 Die einzige Aussicht des Marionettenthea-

22 Rousseau, Emil oder über die Erziehung, S. 63. 23 Ebd., S. 10-11. 24 Darauf berufen sich auch die meisten Interpreten. Vgl. beispielsweise Sturma, Dieter (2001): Jean-Jacques Rousseau. München: C.H. Beck, Kapitel III und IV. 25 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 319. 26 Rousseau spricht von einer „ersten Unschuld“, welche bereits die Möglichkeit einer anderen, nachfolgenden Unschuld impliziert, im Diskurs über die Ungleichheit auf Seite 319. Die Formulierung Kleists findet sich am Ende des Marionettentheaters auf Seite 331. Auch an anderer Stelle betont Kleist, dass es die einfache Rückkehr zur, mit Rousseaus Worten, ‚ersten Unschuld‘ nicht gebe: „Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies

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ters besteht darin, im Durchgang durch Vernunft, Technik und Kultur die Unschuld wieder zu erlangen, eben ein zweites Mal vom „Baum der Erkenntnis“ zu essen (331). Daher gibt es auch dort, wie bei Rousseau, nicht den Weg zurück, um „in den Wäldern mit den Bären zu leben“. Aber es gibt stattdessen den Bären, der auf seinen Hinterbeinen steht und in der Kunst des Fechtens unbesiegbar scheint, also die ideale Identität von Natur und Kultur darstellt. Dass der Bär im Marionettentheater ficht und nicht tanzt, mag dabei zunächst heutige Leser verwundern. Es findet sich jedoch eine konsequente Verbindung zwischen den tanzenden Marionetten, den mathematischen Modellen, welche C. und der Erzähler entwerfen, sowie der Fechtkunst: „Fecht- und Tanzmeister der Renaissance begriffen Bewegungen gleichermaßen als mathematisch exakt analysierbare Abläufe. Sowohl in der Kampf- als auch in der Tanzkunst wurden geometrische Aufzeichnungssysteme entwickelt, welche die Bewegungsabläufe als mathematisch exakte Prozesse zu definieren suchten und Bewegungen beliebig reproduzierbar machen sollten. Im Zuge dieser Schematisierungsversuche nähert sich die Kampfkunst dem Tanz noch weiter an, da es in beiden Künsten um die Suche nach einer einheitlichen idealen Bewegung ging.“27

Im Diskurs über die Ungleichheit skizziert Rousseau eine entsprechende dritte geschichtliche Stufe: einen Naturzustand, der durch die Vollstreckung der Kultur hindurch gegangen ist. Dieser Naturzustand ist nicht die erste, sondern eine zweite Unschuld. Die entstandene Gesellschaft bringt mit „Notwendigkeit“, wie Rousseau ausdrücklich betont, eine immer größer werdende Ungleichheit hervor.28 Diese Entwicklung läuft auf einen Wendepunkt zu, einem sich zuspitzenden Despotismus, der über sich selbst hinaus führt, indem er sich vollständig realisiert.29

derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden.“ (325) 27 Marwyck, Gewalt und Anmut, S. 113. 28 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 251. 29 Der Gesellschaftszustand, welcher auf den Naturzustand folgt, weist bei Rousseau selbst wiederum drei Stadien auf, deren letztes der Despotismus ist. Vgl. Diskurs über die Ungleichheit, S. 251.

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„Hier ist das letzte Stadium der Ungleichheit und der äußerste Punkt erreicht, der den Kreis schließt und den Punkt berührt, von dem wir ausgegangen sind. Hier werden alle Einzelnen wieder gleich, weil sie nichts sind; und da die Untertanen kein anderes Gesetz mehr haben als den Willen des Herrn und der Herr keine andere Regel mehr als seine Leidenschaften, verschwinden die Begriffe des Guten und die Prinzipien der Gerechtigkeit aufs neue. Hier läuft alles auf das alleinige Gesetz des Stärkeren hinaus und folglich auf einen neuen Naturzustand, der sich von jenem, mit dem wir begonnen haben, darin unterscheidet, daß der eine der Naturzustand in seiner Reinheit war, und dieser letzte die Frucht eines Exzesses an Korruption ist. Im übrigen besteht zwischen diesen beiden Zuständen so wenig Unterschied und der Regierungsvertrag ist durch den Despotismus so [vollständig] aufgelöst, daß der Despot nur so lange Herr ist, als er der Stärkste ist, und er, sobald man ihn zu vertreiben vermag, gegen die Gewalt keinen Einspruch erheben kann.“30

In den Rêveries du Promeneur solitaire erprobt Rousseau schließlich eine dritte Variante der veränderten ‚Rückkehr‘ zur Natur. Der berühmte fünfte Spaziergang schildert, wie Rousseau in der ästhetischen Naturbetrachtung auf einer einsamen Insel einen anderen Bewusstseinszustand gewinnt. Die Rhythmen der Natur führen dazu, „mir wieder Freude am Dasein zu geben, und ich musste dabei nicht einmal denken“31. Statt intensiver Glücksmomente, die „nur vereinzelte, scharf abgetrennte Punkte“ darstellen, findet er einen „einzigen fortwährenden Zustand“, dem „seine Dauerhaftigkeit einen solchen Reiz verleiht, dass man letztlich die höchste Seligkeit darin findet“32. Dieser ästhetische Zustand des Naturbezugs ist von einer anderen Zeitlichkeit. „Angenommen aber, unsere Seele erreichte eine solide Ruhelage, in der sie, ihr gesamtes Wesen konzentrierend, ganz zu sich käme: dann müsste sie Vergangenheit und Zukunft gar nicht bemühen; Zeit zählte für sie nicht, denn dauernd wäre ihre Gegenwart, ohne dass irgendwo sich ein Vorher oder ein Nachher abzeichnete […]. Wir hätten einzig das Gefühl zu existieren, dieses würde aber unsere Seele ganz erfüllen.“33 Was Rousseau hier noch in einem hypothetischen Konjunktiv schildert, findet

30 Ebd., S. 263. 31 Rousseau, Jean-Jacques (2003 [1776-1777]): Träumereien eines einsamen Spaziergängers [Rêveries du Promeneur solitaire]. Stuttgart: Reclam, S. 90. 32 Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers, S. 91. 33 Ebd., S. 92.

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sich in der Naturerfahrung der fünften Rêverie erfüllt. Zwischen dieser und dem Diskurs über die Ungleichheit besteht eine Parallele. Denn im Diskurs wird das Seelenleben des Menschen im Naturzustand eben in der Weise der fünften Rêverie beschrieben. Es ist die reine Freude an der eigenen Existenz, das Ruhen in sich selbst (statt des sozialen Außer-sich-seins) und die Gegenwart ohne Zukunft, welche Rousseau als den natürlichen Seelenzustand behauptet: „Seine Seele [die des wilden Menschen], die durch nichts in Unruhe versetzt wird, überläßt sich dem bloßen Gefühl ihrer gegenwärtigen Existenz, ohne irgendeinen Gedanken an die Zukunft, wie nah sie auch sein mag, und seine Pläne, die so beschränkt sind wie seine Ansichten, erstrecken sich kaum bis ans Ende des Tages.“34 Im Naturbezug der Rêveries ist auf neuem, literarisch-ästhetischem Wege gewonnen, was mit dem Naturzustand nach Rousseau einst verloren wurde. In drei Varianten findet sich bei Rousseau, dessen Werk Kleist intensiv las, ein dreistufiges Geschichtsmodell, dem das Marionettentheater entspricht: Ausgehend von einer unmittelbaren Natur wird im Durchgang durch die Kultur die Möglichkeit eines wiederholten und dabei durchaus veränderten Naturzustands in Aussicht gestellt. Die homologe Topologie von unmittelbarem Natur- und reflexivem Gesellschaftszustand (in sich ruhen vs. außer sich sein) sowie das Vorkommen einzelner Motive (etwa das des Bären) bei Rousseau und Kleist verstärken diese Parallele, so dass man den Eindruck gewinnen kann, Kleist versetzt Rousseaus Überlegungen in das Marionettentheater. Ich wende mich nun allerdings einer weiteren, in gewisser Weise damit inkommensurablen Option zu.

3. S CHILLER : H ARMONISIERUNG UND K ULTUR

VON

N ATUR

Ein Thema durchzieht jede der dramatischen Stationen im Marionettentheater: Anmut und Grazie. So fragt C. den Erzähler, „ob ich nicht, in der Tat, einige Bewegungen der Puppen, besonders der kleineren, im Tanz sehr graziös gefunden hatte“ (317). Mit Blick auf die Versehrten, welche ihre Prothesen gleichsam „tanzen“ ließen, heißt es: „Der Kreis ihrer Bewegungen ist zwar beschränkt; doch diejenigen, die ihnen zu Gebote stehen, voll-

34 Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 110, vgl. auch S. 267-269.

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ziehen sich mit einer Ruhe, Leichtigkeit und Anmut, die jedes denkende Gemüt in Erstaunen setzen.“ (321) In der Dornauszieherszene berichtet der Erzähler von „einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war“ (326). Der sie einleitende Kommentar, welcher ihre Mitteilungsabsicht umreißt, lautet: „Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.“ (325) Der Erzähler, welcher die anmutige Bewegung des jungen Mannes zwar sah, dies ihm gegenüber aber nicht zu erkennen gibt, begründet sein Verhalten mit den Worten, dass es ihm darum gehe, „die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen“ (326). Das dreigliedrige Geschichtsmodell schließlich spaltet sich erkennbar nach Maß und Art an Anmut und Grazie auf. Zunächst heißt es vom Standpunkt der zweiten mit Blick auf die erste Stufe, „daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt“ (330). Schließlich wird umgekehrt die dritte Stufe anvisiert: „[S]o findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“ (Ebd.) Was also hat es mit dieser auffallenden Häufung auf sich? Anmut und Grazie sind ein bedeutsames Thema im 18. Jahrhundert.35 Es mag den Anschein erwecken, als finde ein Bruch statt, wenn nun statt Rousseaus geschichtsphilosophischer Überlegungen zu Natur/Kultur-Verhältnissen Anmut zum Thema werde. Im Émile steht die Anmut als ein weibliches Erziehungsziel allerdings im beherrschenden Fadenkreuz von Natur und Kultur.36 In John Lockes Gedanken über Erziehung findet man gleichsam die Ausgangsüberlegung für Rousseaus und für Kleists Gedanken über Anmut. Locke kommt darin auf die Affektiertheit zu sprechen, die nicht „ein früher Fehler der Kindheit oder das Erzeugnis einer ungebildeten

35 Vgl. Marwyck, Mareen van (2010): Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld: transcript. – Zu dieser Zeit werden beide Ausdrücke synonym verwandt, weshalb ich im Folgenden auch nicht zwischen ihnen unterscheiden werde. 36 Vgl. Rousseau, Emil oder über die Erziehung, S. 342.

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Natur“ sei, sondern auf falscher Erziehung beruhe. 37 Die Affektiertheit führe dazu, den „Schein der Anmut“ gewinnen zu wollen. Anmut („gracefulness“) sei „die natürliche Übereinstimmung“, so Locke, „die in Erscheinung tritt zwischen dem Tun und einer seelischen Einstellung“, die der jeweiligen Situation angemessen ist.38 Die natürliche Übereinstimmung wird aber künstlich gewonnen und „durch ständige Übung“ hervorgebracht, die dazu führt, dass die Verhaltensweisen „nicht erkünstelt oder gesucht erscheinen, sondern sich ganz natürlich […] zu ergeben scheinen“39. Anmut sitzt also nicht im Ellenbogen wie bei dem im Marionettentheater kritisierten Schauspieler. Ein solche Entzweiung von Seele und Handeln bestimmt Locke nämlich als Affektiertheit, bei Kleist heißt dies Ziererei: Sie „erscheint […], wenn sich die Seele (vis motorix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung“ (559). Es zeigt sich: Wir bleiben im Zentrum der Unterscheidung von Natur und Kultur, sie ist keineswegs beiläufig für das Auftreten der Anmut im Marionettentheater. Vielmehr ist die Natur/Kultur-Differenz prägend für den Anmutsdiskurs des 18. Jahrhunderts. Friedrich Schiller hat diesen aufgegriffen und zugleich geschichtsphilosophisch aufgeladen. Zwar erscheint die Anmutsthematik bei Schiller im Rahmen ästhetischer Überlegungen; für Schiller wie für weite Teile des 18. Jahrhunderts gilt aber, dass die Ästhetik keine Teildisziplin ist. Anmut ist für Schiller zugleich ein Sittlichkeitsthema. Versucht man Schillers Anmutsbegriff zu rekonstruieren, stößt man auf einen Komplex mit den folgenden drei Merkmalen: (1) Naivität/Unmittelbarkeit; dabei gleichwohl Technisierung; (2) Bewegung; (3) sittliche (=schöne) Seele. Das der Anmut zugrunde liegende Problem, worin Schiller mit dem Anmutskonzept eine Lösung zu finden versucht, ist die historische Entzweiung von Natur und Kultur sowie Sinnlichkeit und Vernunft. Dieses Ausgangsproblem findet sich bereits in den Kallias-Briefen. Ihr Thema ist die Suche nach einer Vermittlung zwischen Natur und Freiheit. Schiller glaubt sie in der Kunst zu finden, genauer in der Schönheit, welche

37 Locke, John (2007 [1705]): Gedanken über Erziehung [Some Thoughts Concerning Education]. Reclam: Stuttgart, S. 61. 38 Locke, Gedanken über Erziehung, S. 61 f. 39 Ebd., S. 62.

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für Schiller „Freiheit in der Erscheinung“ ist.40 Kunst ist für Schiller technisch. Technik folge einer von außen vorgegebenen Regel, wogegen Natur durch sich selbst bestimmt sei. Bestimmtsein, ob in der Form des Voninnen- oder Vonaußenbestimmtseins, sei eine Vorstellung des Verstandes. Dies eröffnet Schiller die Möglichkeit, dass es Objekte gibt, welche den Verstand provozieren, nach dessen Bestimmungsweise zu suchen. „Eine Form, welche auf eine Regel deutet […], heißt kunstmäßig oder technisch.“41 Bei einem Kunstwerk werde eine solche Regel angesinnt, aber sie könne, sofern es ein gelungenes sei, nicht entdeckt werden. „[U]nd insofern als eine solche Form ein Bedürfnis erweckt, nach einem Grund der Bestimmung zu fragen, so führte hier die Negation des Vonaußenbestimmtseins ganz notwendig auf die Vorstellung des Voninnenbestimmtseins oder der Freiheit. Freiheit kann also nur mit Hülfe der Technik sinnlich dargestellt werden“42. Diese Überlegungen Schillers sind bekanntlich weitgehend durch seine Kant-Lektüre geprägt. In der Vermittlungsleistung des Schönen sucht Schiller entsprechend den von Kant hinterlassenen Graben zwischen Freiheit und Sinnlichkeit zu schließen, und zwar mit Kantischen Mitteln. Diese Ausgangsproblematik liegt auch Schillers Schrift Über Anmut und Würde zugrunde. Es geht darum, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, Natur und Kultur harmonisch zu vermitteln. Drei Momente stellen die Harmonie her. (1) Anmut muss naiv sein: Anmut wird in Schillers Text in einem Zusammenhang eingeführt, der, zunächst jedenfalls, die Rede von einer Kunst der Grazie oder einer Technik der Anmut ausschließt. Anmut ist eine Sache der Naivität, sie „muß jederzeit Natur, d. i. unwillkürlich sein (wenigstens so scheinen), und das Subjekt selbst darf nie so aussehen, als wenn es um seine Anmut wüßte“43. Mit Anmut kann nicht kokettiert werden, sie ist für sich selbst bewusstlos. Kleists Figuren erfüllen diese Bedingungen auf un-

40 Friedrich Schiller (1966 [1793]): „Briefe an Gottfried Körner“ [Kallias oder über die Schönheit]. In: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2. Hrsg. v. Herbert Göpfert. Darmstadt: WBG, S. 364. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 364 f. 43 Schiller, Friedrich (1984 [1793]): „Über Anmut und Würde“. In: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2. Hrsg. v. Herbert Göpfert. Darmstadt: WBG, S. 382-424, hier S. 395.

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terschiedliche Weise: Weder die Marionette, noch die Prothese, noch der Bär wissen um ihre Anmut; und die Person, die schließlich davon weiß, der Jüngling, verliert mit diesem Wissen schlagartig seine Anmut. Er blickt in den Spiegel und stellt sie fest. Infolge dieses Wissens scheitert er daran, sie erneut, also wissentlich und willkürlich herbei zu führen. Die Folge dieser Bestimmung der Anmut wäre jedoch, dass sie eben in keiner Weise vermittelbar, erziehbar, technisch umsetzbar oder gar steigerbar wäre. Außerdem scheint sie Schillers Überlegungen zu Beginn von Über Anmut und Würde zu widersprechen. Dort heißt es: „Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bei aller Willkürlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmuth erhebt.“44 Schiller präzisiert daher erwartbarerweise an anderer Stelle in Über Anmut und Würde die Verbindung von Anmut und Naivität. Besonders bemerkenswert an dieser Passage ist das dabei verhandelte Thema. Es geht um das Theater und insbesondere das Tanztheater. Schiller kritisiert vehement die nachgeahmte Grazie des Theaters und Tanztheaters, er spricht abfällig von der „Tanzmeistergrazie“. Gleichwohl sieht er eine Möglichkeit, wie ein Tänzer Grazie erwerben kann, indem sie ihm nämlich zur Natur wird. „Der Tanzmeister kommt der wahren Anmut unstreitig zu Hülfe, indem er dem Willen die Herrschaft über seine Werkzeuge verschafft und die Hindernisse wegräumt, welche die Masse und Schwerkraft dem Spiel der lebendigen Kräfte entgegensetzen. Er kann dies nicht anders als nach Regeln verrichten, welche den Körper in einer heilsamen Zucht erhalten und, solange die Trägheit widerstrebt, steif, d. i. zwingend sein und auch so aussehen dürfen. Entläßt er aber den Lehrling aus seiner Schule, so muß die Regel bei diesem ihren Dienst schon geleistet haben, daß sie ihn nicht in die Welt zu begleiten braucht; kurz, das Werk der Regel muß in Natur übergehen.“45

Sofern die Formung des Tänzers diesem zur Natur wird, ist es keine mehr bloß nachgeahmte, sondern eine gleichsam natürliche Grazie, die jedoch auf künstlichem Wege geworden ist. Es liegt nahe von einer Anmut zweiter Natur zu sprechen. Die technischen und technisch perfektionierten Figuren Kleists weisen eine zur zweiten Natur gewordene Regelhaftigkeit auf.

44 Schiller, „Über Anmut und Würde“, S. 384. 45 Ebd., S. 395.

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(2) Anmut und Bewegung: Anmut ist bei Schiller eine von zwei Formen der Schönheit, die andere ist die „architektonische Schönheit“. Anders als die architektonische ist die anmutige Schönheit keine fixe Eigenschaft eines Objekts, auch kein bloßer Eindruck eines Betrachters. Vielmehr ist sie etwas, das an Bewegungen in Erscheinung tritt: „Anmut ist bewegliche Schönheit“46. Oder wie es an anderer Stelle heißt: Anmut ist die „Schönheit der Bewegung“47. Indem Anmut eine Form der Bewegung ist, unterläuft sie eine Reihe von Dualismen wie jene von Geist und Materie, Vernunft und Sinnlichkeit, Natur und Sittlichkeit. Erneut findet sich hier eine Reihe von Motiven, die im Marionettentheater eine Entsprechung haben. Als erstes natürlich: Die Figuren in Kleists Marionettentheater führen Bewegungen durch, die als anmutig oder graziös bestimmt werden. Es ist nicht die Marionette als Marionette oder der Jüngling als Jüngling, sondern es sind deren Bewegungen, in denen Anmut zur Erscheinung kommt, genauer, die anmutig sind. Dies gilt gleichermaßen für die Versehrten und ihre Prothesen, die eben zu tanzen scheinen. Es gilt schließlich auch für den Bären, der nicht in seiner Erscheinung anmutig ist, sondern im Parieren der Fechtstöße. (3) Die schöne Seele als sittliche Seele: Auch das Zentrum dieser Bewegung stimmt bei Schiller und Kleist überein. Die anmutige Linie, welche die Marionette beim Tanz vollzieht, ist, so Kleist, „der Weg der Seele des Tänzers“ (319). Dass die Anmut durch die Schönheit der Bewegung der Seele zustande komme, wird auch durch die Diskussion der Ziererei im Marionettentheater bestätigt: „Denn Ziererei erscheint, wie sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkt befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung.“ (322)48

46 Ebd., S. 383. 47 Ebd. 48 Kleist verwendet nicht nur im Marionettentheater die geforderte Übereinstimmung der Seele mit der Bewegung als Kriterium und Kritikgesichtspunkt, sondern auch in einer Theaterrezension, die er am 2. Oktober 1810 im Berliner Abendblatt publiziert. Diese Kritik gilt dem Berliner Theaterdirektor, Autor und Schauspieler Iffland, mit dem Kleist nach seiner Einsendung des Käthchens von Heilbronn, auf welche Iffland nicht antwortete, einen halböffentlichen Streit austrug. Kleist verwendet in seiner polemischen Kritik an Iffland die Figur der Übereinstimmung der Bewegung mit der Seele. In dieser Rezension schreibt

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Ist es die Seele, welche die anmutige Bewegung hervorbringt (oder: die im Schwerpunkt der anmutigen Bewegung ist), so ist diese Seele die schöne Seele, die „kalokagathia“. Während die architektonische Schönheit mit dem Gegenstand erscheint, kann Anmut an ihm entstehen. Oder wie es an anderer Stelle zusammenfassend heißt: „Die Natur gab die Schönheit des Baues, die Seele gibt die Schönheit des Spiels. Und nun wissen wir auch, was wir unter Anmut und Grazie zu verstehen haben. Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit; die Schönheit derjenigen Erscheinungen, die die Person bestimmt. Die architektonische Schönheit macht dem Urheber der Natur, Anmut und Grazie machen ihrem Besitzer Ehre. Jene ist ein Talent, diese ist ein persönlicher Verdienst.“49

Auch wenn die Anmut unwillkürlich (naiv) sein muss, ist sie nicht vorgegebene Natur. Gleichwohl soll sie in jedem Fall natürlich erscheinen oder gar sein. Doch wie ist dies möglich? Indem sie zweite Natur ist. Am Fall des Tanzes erläutert Schiller diesen Prozess: Die Regeln müssen zur Natur des Tänzers geworden sein – gegen die er also unmittelbar auch nicht verstoßen kann. Es ist die schöne Seele, welche diese Form an sich selbst durch sich selbst gewonnen hat: „Daher ist […] die Anmuth nichts anders, als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in den willkürlichen Bewegungen. Wo also Anmuth stattfindet, da ist die Seele das bewegende Princip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich denn jene […] Vorstellung in folgenden Gedanken auf:

Kleist, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft ein Übereinstimmungsverhältnis zwischen Verstand und Hand belegt habe. Über Ifflands Schauspielkunst heißt es dann ironisch: „[V]on allen Seinen Gliedern, behaupten wir, wirkt, in der Regel, keins, zum Ausdruck eines Affekts, so geschäftig mit, als die Hand; sie zieht die Aufmerksamkeit fast von seinem so ausdrucksvollen Gesicht ab: und so vortrefflich dies an und für sich auch sein mag, so glauben wird doch, daß ein Gebrauch mäßiger und minder verschwenderisch, als der, den er davon macht, seinem Spiel (wenn dasselbe noch etwas zu wünschen übrig läßt) vortheilhaft sein würde.“ (Berliner Abendblatt, 2. October 1810). Iffland hatte übrigens 1807 ein Stück veröffentlicht, welches den Titel „Die Marionetten“ trägt. 49 Ebd., S. 391.

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‚Anmuth ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird.‘“50

Diese Überlegungen zum Begriff und zur Genesis der Grazie bindet Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen in geschichtsphilosophische Überlegungen ein. Es ist dort die Diagnose einer Zerrissenheit und Entzweiung, welche die Frage stellt, wie eine harmonische Einheit wiederherzustellen sei. Diese ist für Schiller nicht in ihrer ursprünglichen, unmittelbaren Weise zurück zu gewinnen. Für alle Völker, so Schiller, die in der Kultur sind, gilt, dass sie „durch Vernünftelei von der Natur abfallen müssen, ehe sie durch Vernunft zu ihr zurückkehren können.“51

Die Rückkehr zur Natur erscheint möglich durch Vollstreckung von Vernunft und Kultur, die Hoffnung ist, „diese Totalität in unserer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wiederherzustellen.“ 52 Wie schon bei Rousseau lassen sich Detailbezüge zwischen Schillers ästhetischer Theorie und Kleists Marionettentheater entdecken (vgl. etwa Tanz und die Tanzmeistergrazie). Insbesondere aber das gemeinsame Thema von Anmut und Grazie, die bei beiden an die Bewegung gebunden sind, welche von der schönen Seele ausgeht, verbindet die Texte. Zudem findet sich bei Schiller das dreistufige Geschichtsmodell, welches auf der Bühne des Marionettentheaters gespielt wird. Schiller setzt gleichwohl einen anderen Akzent als Rousseau. Diesen interessiert Kultur nur als notwendiges Vehikel einer anders nicht wieder zu findenden Natürlichkeit des Menschen. Bei Schiller steht die wieder gewonnene Einheit dagegen unter dem Zeichen einer neu gefundenen Harmonie von Kultur und Natur. Es gibt jedoch noch eine dritte Variante der Vermittlung von Natur und Kultur.

50 Schiller, „Über Anmut und Würde“, S. 385. 51 Schiller, Friedrich (1984 [1795]): „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2. Hrsg. v. Herbert Göpfert. Darmstadt: WBG, S. 445-520, hier S. 454. 52 Ebd., S. 459. Vgl. auch die Bemerkungen Schillers zur Philosophie der Geschichte im dritten Brief, die an einigen Stellen Rousseau anklingen lassen.

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4. H USSERL : D IE V ERWIRKLICHUNG DER V ERNUNFTNATUR Wie ein Kontrapunkt zum Marionettentheater erscheint ein Brief Kleists an seine Schwester Ulrike aus dem Mai 1799: „Tausend Menschen höre ich reden und sehe ich handeln, und es fällt mir nicht ein, nach dem Warum? zu fragen. Sie selbst wissen es nicht, dunkle Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen. Sie bleiben für immer unmündig und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls. Sie fühlen sich wie von unsichtbaren Kräften geleitet und gezogen“53. „Eine solche sklavische Hingebung“, führt Kleist weiter aus, sei eines freien Menschen unwürdig. Denn für den freien Menschen gilt folgendes: „Er bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn das höchste sei, er entwirft sich seinen Lebensplan, und strebt seinem Ziel nach sicher aufgestellten Grundsätzen mit allen seinen Kräften entgegen. […] Ein schönes Kennzeichen eines solchen Menschen, der nach sichern Prinzipien handelt, ist Konsequenz, Zusammenhang, und Einheit in seinem Betragen. Das hohe Ziel, dem er entgegenstrebt, ist das Mobil aller seiner Gedanken, Empfindungen und Handlungen. Alles, was er denkt, fühlt und will, hat Bezug auf dieses Ziel, alle Kräfte seiner Seele und seines Körpers streben nach diesem gemeinschaftlichen Ziele.“54

Kleist tadelt seine Schwester Ulrike, dass sie keinen Lebensplan ausgebildet habe. Ohne Lebensplan, der alles umfasst, der alle Handlungen einem Ziel verpflichtet und der einzig aus der Vernunft resultieren könnte, ohne einen solchen Lebensplan, so Kleist, sei das Leben „ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Draht des Schicksals“55. Hier findet sich also eine andere Verwendung der Marionettenfigur. Diese exemplifiziert die Abhängigkeit und Unterwerfung. Von diesem Draht befreie nur ein Leben ganz nach dem Entwurf der Vernunft. Das Marionettentheater wird später aber die Radikalisierung der Vernunft durch das erneute Essen „vom Baum der Erkennt-

53 Kleist, Heinrich von (1993): Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2. Hrsg. v. Helmut Sembdner. München: Hanser, S. 488. 54 Ebd., S. 488 f. 55 Ebd., S. 490.

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niß“ (331), „indem die Erkenntniß gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist“, als Lösung vorstellen. Dieses Marionettentheater tritt 1923 erneut auf, in fünf Aufsätzen von Edmund Husserl, die einem Thema gewidmet sind: „Erneuerung“. Husserls Aufsätze sind als Antwort auf den Ersten Weltkrieg geschrieben worden, den er zunächst selbst als Möglichkeit der Intensivierung ethischer Werte betrachtet hatte. Am 11.8.1920 schreibt Husserl jedoch in einem Brief an einen ehemaligen Doktoranden: „Dieser Krieg, der universalste und tiefste Sündenfall der Menschheit in der ganzen übersehbaren Geschichte, hat ja alle geltenden Ideen in ihrer Machtlosigkeit und Unechtheit erwiesen.“56 Die Aufsätze Über Erneuerung stellen einerseits eine wichtige Vorarbeit zu den mehr als ein Jahrzehnt später entstehenden Krisis-Schriften dar. Zentrale Motive, Begriffe und die Krisis-Diagnose werden in diesen Texten bereits ausgearbeitet. Sie verrücken meines Erachtens die Gewichte in der Krisis-Schrift (die ja unabgeschlossen blieb). Was sie mit Kleists Marionettentheater teilen, ist ein Geschichtsmodell, welches in der Radikalisierung der Vernunft terminiert und das sich, obgleich Husserl nicht von drei Stufen spricht, als ein dreistufiges Modell rekonstruieren lässt. Wie in Kleists Brief an die Schwester geht es um die Frage, was es heißt, ein Leben rein aus Vernunft zu führen. Das titelgebende Wort Erneuerung darf dabei durchaus reformatorisch verstanden werden, „es wird gefragt, wie eine Reform dieses unwertigen Kulturlebens zu einem Vernunftleben in die Wege zu leiten sei“57. Die Marionette, welche in Kleists Brief die Menschen sind, ist dabei noch jene, die gleichsam auf halbem Wege zwischen der Natur (der bloßen Marionette) und der Vernunftkultur (der perfektionierten Marionette, dem Bären) stehen geblieben ist. Erneuerung besteht darin, den Anschub zur Vollendung zu finden. Zu Beginn der Aufsätze parallelisiert Husserl die Entwicklung der Natur- und Geisteswissenschaften. Die Erfolge der Naturwissenschaften gingen auf die Mathematisierung der Natur zurück, eine entsprechende Mathematisierung des Geistes sei aber – bislang – ausgeblieben. „Genauer bezeichnet fehlt uns die Wissenschaft, welche für die Idee des Menschen […]

56 Husserl, Edmund (1989): „Einleitung der Herausgeber“. In: ders., Aufsätze und Vorträge 1922-1937 [=Hua XXVII], Dordrecht: Kluwer, S. XII. 57 Husserl, Edmund (1989): „Fünf Aufsätze über Erneuerung“. In: ders., Aufsätze und Vorträge 1922-1937 [=Hua XXVII], Dordrecht: Kluwer, S. 3-58, hier S. 10.

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das zu leisten unternommen hätte, was die reine Mathematik der Natur für die Idee der Natur unternommen und in den Hauptstücken auch geleistet hat.“58 Die Mathematisierung des Geistes ist jedoch nicht als eine Naturalisierung desselben (im Stile Laplaces und des Materialismus) oder in der Art einer Sozialphysik zu verstehen. Es geht daher auch nicht um eine Messbarmachung und Quantifizierung des Geistes. Die Mathematisierung soll vielmehr – in einer Leibniz’ mathesis univeralis überbietenden – rationalen apriorischen Wissenschaft bestehen. In den Geisteswissenschaften „fehlt eben die parallele apriorische Wissenschaft, sozusagen die mathesis des Geistes und der Humanität“59. Gemeint ist damit, dass eidetische, reine Begriffe des Geistes analog zu den reinen Begriffen der Mathematik ausgearbeitet werden. Diese reinen Begriffe sollen bestimmen, was die reine Möglichkeit von Handlung, Kultur, Norm, Gemeinschaft ist. So wie der reine Begriff der Fläche oder eines geometrischen Körpers den Möglichkeitsraum apriori vorgibt für wirkliche geometrische Körper. Husserls Überlegungen sind alles andere als deskriptiv zu verstehen, obgleich sie zuweilen so klingen. Sie erfolgen aus einem radikalen praktischen Interesse. Es geht Husserl um die „Idee des ethischen Menschen“, die „Idee des Vernunftmenschen“, um „Selbsterneuerung [und] Selbstgestaltung zu dem ‚neuen Menschen‘“.60 Dabei interessiert Husserl insbesondere die Idee universaler ethischer Selbstgestaltung, die „Form universaler Selbstregelung“. Der radikale Gedanke Husserls entspricht Kleists Forderung an seine Schwester nach einem Lebensplan: „Der Mensch kann sein gesamtes Leben, wenn auch in sehr verschiedener Bestimmtheit und Klarheit einheitlich überblicken und es nach Wirklichkeiten und Möglichkeiten universal bewerten. Er kann sich danach ein allgemeines Lebensziel vorsetzen, sich und sein gesamtes Leben in seiner offenen Zukunftswirklichkeit einer aus eigenem freien Wollen entsprungenen Regelforderung unterwerfen.“61

Husserl unterscheidet dazu eine Reihe von Entwicklungsstufen auf dem Weg zu diesem radikalen Vernunftleben. Genauer: Die Idee der radikalen

58 Husserl, „Fünf Aufsätze über Erneuerung“, S. 6. 59 Ebd., S. 7. 60 Ebd., S. 23. 61 Ebd., S. 26 f.

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Selbsterneuerung aus Vernunft wird von Husserl entlang eines Stufenmodells der Entwicklung europäischer Vernunftkultur erläutert. Die erste Stufe bildet „die Lebensform des paradiesischen Menschen, also die der ‚paradiesischen Unschuld‘“62. „Der paradiesische Mensch wäre sozusagen unfehlbar. Aber nicht wäre es die göttliche Unfehlbarkeit, die aus absoluter Vernunft, sondern eine blinde, zufällige Unfehlbarkeit, da ein solcher Mensch von Vernunft […] keine Ahnung hätte. In seiner reflexionslosen Naivität wäre er eben nur ein durch blinde Instinkte […] ideal angepaßtes Tier.“63

Der ‚Sündenfall‘ besteht für Husserl in der Entstehung des Selbstbewußtseins. „In seiner reflexiven Bezogenheit auf sich selbst lebt er nicht bloß naiv dahin“.64 Dieser Sündenfall wird aber von Husserl nicht negativ bewertet, denn durch ihn entsteht erst die Möglichkeit des Vernunftlebens. „Immerzu besteht dabei die Wesensmöglichkeit, daß der Mensch in ein ‚sündhaftes‘ Weltleben hineingerät, ein Leben, das zwar nicht wiederum naiv ist, weil der fortwirkende ethische Entschluß seiner Forderung an das Leben immerfort […] geltend macht“65. In der X. Beilage zu den Aufsätzen über Erneuerung heißt es: „Die europäische Menschheit ist von ihrem eingeborenen Telos abgeirrt. Sie ist sündhafter Entartung verfallen, sofern sie sich dieses Telos schon bewußt geworden war (vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte), aber dieses Telos weder zu vollstem Bewußtsein erhoben hat noch dabei geblieben ist, es als ihren praktischen Lebenssinn konsequent durchzuführen.“66

Das Naschen vom Baum der Erkenntnis hat also zum Sündenfall geführt, aus dem heraus allerdings nur eines führt: Konsequent und unbeirrbar weiter von ihm zu essen. Diese Vollstreckung der Vernunft führt nämlich zur dritten und „höchsten Wertstufe“:

62 Ebd., S. 34. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 38. 66 Ebd., S. 118.

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„Gehen wir hier bis an die ideale Grenze, mathematisch gesprochen an den ‚Limes‘, so hebt sich von einem relativen Vollkommenheitsideal ein absolutes ab. Es ist nichts anderes als das Ideal absoluter personaler Vollkommenheit – absoluter theoretischer, axiotischer und in jedem Sinne praktischer Vernunft – einer Person, die, wenn wir sie zugleich als allkönnende oder ‚allmächtige‘ dächten, alle göttlichen Attribute hätte. Jedenfalls könnten wir […] sagen: Der absolute Limes, der über alle Endlichkeit hinausliegende Pol, auf den alles echt humane Streben gerichtet ist, ist die Gottesidee. Sie selbst ist das ‚echte und wahre Ich‘, das wie noch zu zeigen sein wird, jeder ethische Mensch in sich trägt.“67

Jedes relative Ideal des Menschen ist ein „Ideal, das immer noch den Stempel der Unendlichkeit in sich trägt“68. Diese Entwicklung interpretiert Husserl nun anhand des bekannten Schemas, das von einer unmittelbaren Natur über die Entzweiung zur zweiten Natur führt: „Sein Leben hat alle Naivität und damit die ursprüngliche Schönheit eines natürlich organischen Wachstums verloren – um dafür die höhere seelenvolle Schönheit des ethischen Ringes um Klarheit, Wahrheit, Recht zu gewinnen, und daraus entspringend die Schönheit der echten Menschengüte, die zur ‚zweiten Natur‘ geworden ist.“69

Die Umsetzung dieser radikalen Selbsterneuerung des Menschen soll selbst wiederum auf radikale, rationale Weise erfolgen, und zwar aufgrund einer rationalen, politischen Technik. „Das […] Leben in nie endender Selbsterziehung ist sozusagen ein Leben der ‚Methode‘.“ Husserl spricht hier sogar vom „Panmethodismus“70. Dieser führt durch Habitualisierung zu einer neuen zweiten (Vernunft-)Natur.

67 Ebd., S. 33 f. 68 Ebd., S. 34. 69 Ebd., S. 37. 70 Ebd., S. 39.

D REI V ARIANTEN DES LETZTEN K APITELS DER G ESCHICHTE | 133

5. „D AS

LETZTE

C APITEL

VON DER

G ESCHICHTE “?

In drei Varianten ist das letzte Kapitel der Geschichte geschrieben worden: bei Rousseau, Schiller und Husserl. Wie erscheinen sie auf dem Marionettentheater? Der fechtende (tanzende) Bär tritt als kulturelle Rückkehr zur Natur, als Harmonie zwischen Sinnlichkeit und Freiheit, als Vernunftleben in höchster Form auf – und damit jeweils höchst eigenartig und unpassend. Bedenkt man, dass Schiller den Bären als das nichtanmutige Tier par excellence betrachtet und Rousseau die Rückkehr zu den Bären polemisch thematisiert, wirkt es irritierend, dass Kleist ausgerechnet auf diese Gestalt verfallen ist, um sie das Finale der Geschichte einleiten zu lassen.71 Betrachten wir zudem die Marionetten, so sind diese nicht ohne weiteres geeignet, ein Paradigma der Anmut zu sein. Zu Kleists Zeit war das Marionettenspiel zwar ungemein beliebt, es stand jedoch im Ruf, durch „Zweydeutigkeiten, ja durch recht grobe Zoten den Beyfall des großen Haufens zu erhalten [zu] suchen“, und ihm wurde daher vorgeworfen, „offenbar sehr viel zur Verschlimmerung des Charakters des Volks“ beizutragen.72 Die Anmut durch die zotigen Marionetten oder die Harmonie von Vernunft und Sinnlichkeit als eine zwischen den Körpern der Versehrten und ihren Prothesen darzustellen, musste etwa aus Schillers Sicht polemisch erscheinen. Blickt man aber weniger auf den Streit zwischen den Personen als auf den Streit innerhalb der Sache, den Kleist dabei vortrug, gewinnt man einen anderen Ertrag des Marionettentheaters. Es bringt in der vorgestellten radikalen Vollstreckung von Kultur, Harmonie, Vernunft, Technisierung, Habitualisierung die darin angelegten Irritationen zur Erscheinung, die als Bär oder Prothesenmensch sichtbar werden. Die Rückkehr zur Natur durch eine radikalisierte Kultur, die vollendete Harmonie eines Ganzen und seinen Teilen, das reine Vernunftleben gleichen den perfektionierten Marionetten, bei denen die Unterschiede verschwimmen. Zwischen Determinismus und Freiheit, Unmittelbarkeit und Reflexion, Natur und Technik ist, wenn die

71 Vgl. Schiller, „Briefe an Gottfried Körner“ [Kallias oder über die Schönheit], S. 366 f. – Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 319. 72 Vgl. den Eintrag zu „Marionetten-Spiel“ (1801) in: Johann Georg Krünitz (Hg.): Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Hausund Landwirthschaft, Bd. 84.

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Vollendung der Moderne als eine konsequente Vollstreckung an Sachen gedacht wird, nicht mehr zu unterscheiden. Kleists irritierende Figuren sind Irritationen dieses Geschichtsmodells.

Lebendigkeit oder Leben? Kleists „Marionettentheater“ und die Physiologie

P ETRA G EHRING

Kleist Schrift Über das Marionettentheater lädt dazu ein, Leitdifferenzen des 19. Jahrhunderts auf sie zu projizieren: Natur oder Geist, Natur oder Technik, Mensch oder Maschine, freier Wille oder mechanischer Automat. Sind dies jedoch die Alternativen, um die es Kleist im MarionettentheaterAufsatz geht? Ich bezweifele es und möchte eine alternative Lesart vorschlagen. Sie läuft zwar ebenfalls darauf hinaus, Kleists Text mitten in den Auseinandersetzungen um die beginnende Moderne zu positionieren. Sie fasst aber einen anderen Frontverlauf ins Auge. Die Differenz, auf welche ich abseits von „Natur“, „Geist“ oder „Mensch“ die Aufmerksamkeit lenken möchte, ist diejenige von „lebendig“ und „lebend“. Genauer: die Differenz zwischen einerseits einer Ästhetik der Oberflächen, die an der Annahme einer demiurgischen Natürlichkeit des Gegebenen festhält und dabei nicht mehr gelten lässt als die Wirkweisen einer positiven, gleichsam ohne Rest alles mit allem verkettenden, weit gefassten und womöglich wundersamen Mechanik – sowie andererseits einer Ästhetik des Verborgenen, die ihre Einsatzpunkte im Innersten des Menschen sucht, wobei sie anthropologisch wie auch beim Blick auf Lebewesen überhaupt von der Physiologie ausgeht, das heißt einem bio-romantischen Naturverständnis huldigt: dem Glauben an eine im Organismus von innen her wirkende, naturale Tiefenursache im Singular. Dieser zweite Blickwinkel hebt ab auf die verborgene Eigentlichkeit „der“ Seele – einer beim Menschen durch Freiheit und Bewusstheit geadelten Seele. Vor allem jedoch gründet er sich neu. Ohne dass Naturphilosophie

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und Naturwissenschaft bereits klar geschieden wären, steht die Physiologie für einen neuen Leitbegriff: das als verborgene stoffliche Größe und dynamische Tiefenursache vorgestellte „Leben“ im Singular. Spreche ich von der Auseinandersetzungslinie zwischen „Lebendigkeit“ und „Leben“, so meint „Leben“ also gerade nicht den Lebenslauf, den Erzählsachverhalt eines Lebens, das jemand z. B. erinnert oder mehr oder weniger gut führt. Im Fokus steht vielmehr das „Leben“ der zu Kleists Zeit – nämlich recht genau um 1800 – zu einer Art Leitwissenschaft avancierenden frühen Physiologie. Meine These wird sein, dass Kleist auf Abstand geht zu einer Romantisierung des „Lebens“, die sich am physiologischen Paradigma orientiert. Zu sagen, Über das Marionettentheater plädiere – und zwar auf der klassischen Traditionslinie einer in die Antike zurückreichenden Ästhetik der Lebendigkeit – im Namen der Kunst gegen die zu seiner Zeit neu auftauchende Physiologie, wäre wohl zu plakativ. Festhalten lässt sich aber: Kleist thematisiert die Alternative zwischen der Monokausalität einer innerlichen Vitalkraft und dem magischen Pantheismus eines Soseins äußerer Wechselwirkungen, und er adressiert sie als Optionen, zwischen welchen die romantische Psychologie (und überhaupt die Frühromantik) schwankt. In Gestalt seines Ich-Erzählers und im Wege der drei Episoden bezieht Kleist hier Stellung. Dabei schlägt er sich auf die Seite einer Ästhetik der Materialität und der Oberflächen sowie genauer: auf die Seite der Kunst. Und zwar einer Kunst, deren Macht sich nicht begrenzen lässt durch den Vorrang einer – in Gestalt unmanipulierter Innerlichkeit der künstlerischen Schöpfung entgegen tretenden –„natürlichen“ Tiefenkraft des „Lebens“. Dass ich die drei Episoden des Marionettentheater-Aufsatzes nicht im Sinne einer ‚drei Stadien‘-These lese, sei nur angemerkt. Ich denke weder, dass die drei Geschichten drei Bewusstseinsstufen oder Haltungen symbolisieren, noch dass der Ich-Erzähler am Schluss des Textes gleichsam einen Bildungsgang beendet. Kleists Dramaturgie konterkariert solche Deutungen. Man könnte allenfalls vom Ausschreiten einer Problemlage sprechen, die den Erzähler und auch die Leser – bis hin zur feinen Ironie eines unter dem Eindruck des Gesagten wiederholten Griffs zum Baum der Erkenntnis – in eine wohlkalkulierte Ratlosigkeit versetzt. Das Fehlen positiver Botschaften hindert freilich nicht, dass Kleists Text kritisch funktioniert, nämlich mittels Irritationen und im Modus des Widerlegens ex negativo Thesen enthält.

L EBENDIGKEIT ODER L EBEN ? | 137

1. I NS R EICH

DER

K UNST

Über das Marionettentheater ist ein Text, der nicht zuletzt durch die Abwesenheit heute gewohnter Dualismen auffällt. Das Staunen vor dem Artefakt, seiner Anmut wie auch seiner Menschenähnlichkeit, wird vorgeführt, ohne das Gemachte dem Natürlichen, das Menschliche dem Nichtmenschlichen oder auch das Tote dem Lebendigen entgegenzusetzen. In Gestalt der Marionetten übertrifft das Artefakt den Tänzer an Anmut und dazu auch an Anspruchslosigkeit und voraussetzungsloser Volksnähe: Seine Schönheit teilt sich unmittelbar mit. In Gestalt der Prothese weiß das Artefakt auf ähnlich perfekte Weise zu helfen: Fast scheint es zu wenig, nur zu sagen, dass es den zum Tanz befähigten Invaliden lediglich ein Körperglied ersetzt. In Gestalt der Dornauszieher-Statue sowie dem Hinzutreten des Spiegels wirkt ein Artefakt destruktiv: es wird seinem jungen Bewunderer zum ästhetischen Verhängnis. Und in Gestalt des Bären, oder besser: jenes im Holzstall improvisierten Fechtbodens mit dem angeketteten Gegner, wächst sich ein im ersten Moment nur spielerisches Arrangement bedrohlich aus: Wer die Waffe in die Hand nimmt, erlebt einen übermächtigen Meisterfechter und verfällt einem bezwingenden Blickregime. Wo man hinsieht Gemachtes: Technik, Handwerk, Schaustell, Kultur. Auch auf Seiten der Erzähler ist von Natur nirgendwo die Rede. Stattdessen bewegen wir uns in einer großstädtischen Alltagsszene, an einem Winterabend in einem öffentlichen Garten – parallel wird das Bild eines Jahrmarkts evoziert. Und auf der Ebene des Gesprächsstoffs gibt es zum einen das Register der klassischen Physik (Schwerpunkt, Linien, Pendel, Krümmung, Logarithmen, Hyperbel etc.), zum zweiten das biblische Register (Paradies, Cherub, Buch Mose, Gott, Stand der Unschuld und der schon erwähnte Baum der Erkenntnis), sowie zum dritten das Register der Kunst. In allen Szenen erleben wir Künste, wird das Kunstvolle und wird Kunsterfahrung und wird das Machen von Kunst vorgeführt. Nicht nur werden die in den drei (oder, zählt man die Invalidengeschichte gesondert, vier) Episoden zentralen Artefakte als Kunstwerke beschrieben – die Puppengruppe auf dem Markt hätte von Teniers nicht hübscher gemalt werden können, was der Marionettenlenker tut, nennt der Erzähler im Gespräch immerhin die Spielart einer schönen Kunst, die Schöpfer der mechanischen Beine aus England werden als englische Künstler bezeichnet, die berühmte Pariser Statue, der vielfach nachgebildete, aber un-

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nachahmliche Dornauszieher, ist sowieso Kunst und der junge Herr von G. machte den Virtuosen, bevor er als Besiegter dann seinen Meister mit dem Bären konfrontiert. Noch deutlicher tritt hervor, dass der Text sich ganz im Universum der Kunst bewegt, wenn wir uns klarmachen, wie Kleist uns dort, wo die Episoden für Argumente stehen, durchweg Künstler und Künstlermeinungen präsentiert. Dass der Gesprächspartner C. erster Tänzer ist, macht nur den Anfang. Diskutiert werden eingehend die Einlassungen des Maschinisten, also des Puppenführers, der sich zwar für durch eine Kurbel ersetzbar hält, aber dessen Handwerk einiger Empfindung bedarf: Seine Kunst erscheint jedenfalls als ganz besondere Form von Mechanik. Dass der englische Prothesenbauer eine solche Kunst am Menschen womöglich in gesteigerter Form zur Perfektion bringt, wurde schon erwähnt. Ob der Ich-Erzähler selbst ein Künstler ist, bleibt offen. Jedenfalls hat er ähnlich wie C. selbst bereits verschiedentlich das Marionettentheater besucht und das Gespräch beider hat einen kennerschaftlichen Ton – man denke an die Passage, in welcher als Negativbeispiele für schauspielernde Ziererei verschiedene Bühnensituationen durchgegangen werden, C. setzt hier voraus: Beide haben die P, wenn sie die Daphne spielt, den jungen F., der als Paris eine schlechte Figur abgibt, oder die gute G., die besser sechzig Pfund leichter wäre auf der Bühne gesehen. Sie sind ihrerseits wohl Schauspieler oder ebenfalls Tänzer. Dass der junge Doppelgänger des Dornausziehers, welcher in Paris Museen besucht, sich ebenfalls mindestens in Kunstkennerschaft übt, liegt auf der Hand. Die livländischen Adeligen schließlich huldigen der Fechtkunst und bieten mit der Weisheit, man habe seinen Meister gefunden, doch alles auf der Welt finde den seinen, immerhin eine wie immer rudimentäre Künstlertheorie auf. Ein Sonderfall ist der Bär, bei dem man nicht recht entscheiden kann, ob er als Künstler zu deuten ist, als Werk oder als Erscheinung jenseits von beidem. Er gleicht dem ersten Fechter der Welt: perfektes Geschöpf oder aber als Schöpfer eines ganz eigenen Stils. Von einem kunstphilosophischen Austausch wird man angesichts des mäandernden Gesprächsverlaufs zwischen C. und dem Erzähler nicht sprechen, aber Kleist präsentiert uns eine Welt der Theaterleute und Theaterfreunde, der Tanzkunst und populären Akrobatik, der Künstler und Kunstkenner unter sich.

L EBENDIGKEIT ODER L EBEN ? | 139

Den Tänzer C. und den Erzähler verbindet ein Milieu – und eben dies rahmt und definiert worum das Gespräch sich dreht. Ich halte das fest. Wir haben es über den gesamten Text hinweg nicht nur mit einer Welt zu tun, die vollständig auskommt ohne im engeren oder emphatischen Sinne „Natur“. Sondern wir bewegen uns von Anfang an durch ein Universum der Künste. Kleists Thema ist nicht Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Bildung, Freiheit, menschliche Anmut oder die conditio humana im Allgemeinen – sein Thema ist die Kunst.

2. L EBENDIGKEIT

IM

K UNSTWERK

Rückt man die Kunst in den Fokus, muss erneut auffallen, dass der Text jegliche Rede von Natur verweigert. Naturschönes, Kunst als Ausdruck von Natur – Schlüsselmotive romantischer Kunsttheorie finden in Über das Marionettentheater keinerlei Widerhall. Sehr wohl allerdings fügen sich alle drei Episoden in eine sehr viel ältere kunsttheoretische Traditionslinie, nämlich in die lange Linie einer ästhetischen Diskussion über die „Lebendigkeit“ des Kunstwerks hinein. Dies gilt für das variierte Grundmotiv – jeweils geht es um den (erstaunten) Betrachter, das (die gegebene Realität überbietende) Kunstwerk und den (meisterlichen) Künstler. Es gilt aber auch für die werkästhetische Pointe der sich um Lebendigkeit drehenden Diskussion: Das Werk kann nicht nur „lebendig“ werden und wirken im Unterschied zu dem Material, aus dem es gemacht ist, vielmehr kann es auch die Lebendigkeit seines Vorbildes überbieten, dessen also, was es darstellt oder dem es zu gleichen scheint. Hierzu eine kurze Erläuterung, sie führt im Bogen zu Kleist zurück. Dass es zu den höchsten Aufgaben künstlerischer Werke gehöre, den Schein des Lebendigseins zu erzeugen, postulieren schon Kunsttheorien der Spätantike. Was das Werk dabei leisten soll, unterliegt einer zweifachen Abgrenzung: Einerseits muss das Artefakt die Leblosigkeit der verwendeten Materialien hinter sich lassen, andererseits darf es nicht bereits vorgefundenen, profanen Formen zum Verwechseln gleichen. Um das Fehlen oder die völlige Tilgung jeglicher Spuren der Gemachtheit kann es Kunstwerken also nicht gehen. Bewundert wird ja gerade die meisterliche Technik des gelungenen Artefakts: die Werkhaftigkeit des Werks. Stoffe oder Materialien, die den Eindruck der Schönheit aus sich selbst heraus erzeu-

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gen, fallen also ebenso aus dem Reich der Kunst heraus wie perfekte Doubles oder Automaten, die keinerlei ästhetische Transposition in ein anderes Material oder Medium erkennen lassen.1 Einen Schein erzeugen, der einerseits wahr anmutet, andererseits aber die hierzu genutzten Mechanismen – die mechané, den Kunstgriff des Werks – nicht gänzlich verbirgt: Im Hintergrund dieses künstlerischen Doppelanspruchs steht das aristotelische Postulat, Aufgabe des Malers (zôographos) sei es, belebte Körper nachzuahmen.2 Bewundert wird das Werk als Maximalisierungsleistung. Wo es Bestehendem nahekommt, ist es nicht auf Betrug aus, sondern auf Emergenz. „Lebendigkeit“ ist ein vielfach aufgegriffener Lobtopos der bildenden Kunst der Antike und als vivacitá und vivezza dann auch der Renaissance. Bei Tertullian, Apuleius, Leonardo zielt er auf die grundsätzliche Begrenzung der Reichweite von Kunst: Durch Selbstfestlegung auf ein bestimmtes Material und insbesondere durch seine fehlende Beweglichkeit kommt das Bildnis nicht an das von vornherein anders beschaffene Lebendige heran. Bildnissen kann Lebendigkeit aber auch niveaugleich zur lebendigen Anmutung abgebildeter Gegenstände zugebilligt werden, hier kennen wir das antike Thema des Malerwettstreits: Das Meisterwerk fasziniert durch täuschende Echtheit. Nach Plinius malt Zeuxis Trauben, welche die Vögel mit essbaren Trauben verwechseln, und Parrhesios malt einen Vorhang, den Zeuxis wegschieben will.3 In einer dritten Perspektive gesteht man dem Kunstwerk explizit die Leistung zu, das Vorfindliche – wohlgemerkt: das Gegebene, nicht aber emphatisch „Natur“ – in seiner Lebendigkeit zu übertreffen, eine gesteigerte und andere Form des Lebendigen also zu schaffen. Ovids Pygmalion setzt das in Szene als Geschichte des Künstlers, der sich den zu liebenden Körper herstellt: Das Werk ersteht mit seiner Vollendung als lebendiges Wesen. Paradigma einer Reproduktion, die Reproduktion

1

Vgl. hierzu wie als Grundlage des Folgenden Frank Fehrenbach: Art. „Lebendigkeit“. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart 2003, S. 222–225, S. 222. Ich danke Frank Fehrenbach nicht nur für den glänzenden Überblicksartikel, sondern auch für gemeinsame Gespräche während des Jahrs 2010/11 am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

2

Vgl. Aristoteles: De anima 2, 413b2–4.

3

Vgl. Ralf Konersmann: Der Schleier des Timanthes. Frankfurt am Main 1994, 22006.

L EBENDIGKEIT ODER L EBEN ? | 141

bleibt, deren Lebendigkeit (und Anmut) aber ebenfalls mehr fesselt als das schlichtweg Gegebene ist der Narziss Ovids. Der Betrachter verfällt dem Bildnis – mit der besonderen Pointe, dass im Falle des Jünglings, der sich spiegelt, der Betrachter zugleich der Abgebildete und in gewisser Weise auch der Schöpfer des Bildnisses ist.4 In der Renaissancemalerei treiben namentlich die ‚lebendigen‘ Darstellungen von Schlafenden oder von Toten ihr meisterliches Spiel, die mit der überweltlichen, abseits von toter Materialität wie auch von realer Belebung gelegenen Virtualität des Kunstwerks. Auch in der Ausarbeitung von Lebendigkeit in (und trotz) dargestelltem Schlaf und Tod besteht die Leistung von Werk und Künstler nicht darin, wie oder als der körperliche Erzeuger eines (körperlichen) Lebewesens zum Schöpfer zu werden. Kunst ist weder physische Fortpflanzung noch schafft der Künstler wie Gott. Das Werk verhält sich vielmehr reflexiv. Es bringt in einem gesonderten Medium zum Erscheinen, was dasjenige, was am Objekt lebendig wirkt, als „lebendig“ erkennbar macht. Lebendige Anmut virtuell zu schaffen, hat also im klassischen Paradigma gerade nichts zu tun mit einer endgültigen Angleichung an Lebewesen oder Dinge. Vielmehr geht es um die Stiftung einer alternativen Evidenz, die auf artifiziellen Wegen trifft oder überbietet, was man aus dem Reich des Existierenden kennt – und dort auch stets an ein bestimmtes ästhetisches Maximum gebunden findet, welches das Kunstwerk womöglich sprengt. Grenzen lebendiger Möglichkeiten, etwa die Grazie menschlicher Körperbewegungen, kann die Kunst ihrer Geltung entheben. Und mit der Lebendigkeit im Werk tut sich als genuine Lebendigkeit des Werks ein unbekanntes Drittes auf – nicht ‚zwischen‘ lebendig und tot, sondern abseits von beidem und als Modus, in welchem beides dann wiederum zur Darstellung kommen kann.5

4

Vgl. Fehrenbach, Lebendigkeit, S. 233, als Parallele zu Narziss nennt er noch

5

Dass eine Darstellung, die sich selbst als „lebendig“ einsetzt, die Differenz von

Ovids Medusa. Realität und Symbolisierung zwar bearbeiten, aber eben nur deren imaginäre Tilgung anstreben wird, betonen die Herausgeber eines für meine Überlegungen anschlussfähigen Sammelbandes, sie sprechen vom „paradoxen Effekt einer imaginären Naturalisierung des Symbolischen durch Strategien seiner kunstvollen Steigerung“, vgl. Armen Avanessian, Winfried Menninghaus, Jan Völker:

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Die bei Kleist umschriebene antigrav genannte Kondition der Puppen trifft diesen Sachverhalt durchaus. Zwar unterliegen die Puppen ganz und gar der Schwerkraft. Sie bewegen sich aber dennoch nicht wie Menschen, sondern gewinnen ihre Anmut durch eine Art eigener Physik, eine innerweltliche Transzendenz. Die Puppen sind nicht nur in ein Spiel von Zugkräften und Gravitation (Faden und Schwerkraft) dergestalt eingelassen, dass aus beiden Richtungen die Kräfte zusammen- oder wechselwirken. Es ergibt sich darüber hinaus ein Ausgleich im Schwerpunkt – ein blinder Effekt, der einen schwerelosen Stand der Unschuld schafft: Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstehendsten aller Eigenschaften, schreibt Kleist, wissen sie – also die Puppen, die Puppenkörper – nichts. Kleists ganzer Text probt Urszenen ästhetischer Lebendigkeit durch. Die Marionetten, aus schäbigem Material gefertigt, aber kunstvoll geführt, überbieten alles, was man von menschlichen Bewegungen erwarten kann. Die künstlichen Beine invertieren diesen Effekt: als inkorporierte Artefakte tun sie Gutes. Dennoch ist das Bild der tanzenden Amputierten, vermutlich Kriegsversehrte, von raffinierter Ambivalenz. Die elfenhafte Leichtigkeit der Puppen kann man auf eine Welt ohne Fäden und auf die Logik des Substituts nicht übertragen. So denkt man womöglich eher an die lebensnahen Totenbilder der Renaissance. Im Erinnerungsbild des Dornausziehers spiegelt sich der unglückliche junge Mann, für welchen bei Kleist wiederum – auf diese subtile Umkehrung hat Ralf Konersmann aufmerksam gemacht – der reale Spiegel „erblindet“.6 Er zeigt nur Abweichungen, und zwar, so Konersmann, womöglich weniger von der Statue als von der falschen Erwartung, durch Vertiefung ins Kunstwerk auf reale Weise sich selbst zu sehen: Kleist schreibe „kein Traktat über Autoerotik“, der Blick des jungen Mannes sei vielmehr „der selbstbezügliche Blick des neuzeitlichen Subjekts, das am Gegenüber sich als es selbst, sich selbst als anderes zu begegnen sucht“.7 Eben dieser Blick, so wäre zu ergänzen, verfehlt und zerstört auf der Suche nach Innerlichkeit wohl auch den Sinn für die ästhetische Lebendigkeit der Kunst. – In der letzten Episode schließlich wieder der

Einleitung. In: Dies. (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit. Berlin 2009, S. 7–11, S. 8. 6

Ralf Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts (1988). Frankfurt am Main 1991, S. 52.

7

Konersmann, Lebendige Spiegel, S. 53.

L EBENDIGKEIT ODER L EBEN ? | 143

Bär: Ein Monstrum, das zwar befremdlich agiert, aber eine so intensive Präsenz entfaltet, dass der C. sich der leeren Makellosigkeit dieses Gegners nur geschlagen geben kann. Zugleich fühlt er sich durch den Blick des Tieres – ahnend, dass es diesem darauf vermutlich gar nicht ankommt – bis ins Innerste durchbohrt. Die Ästhetik der Lebendigkeit ist eine Ästhetik der hergestellten Oberflächen, welche bezüglich subjektiver Dimensionen oder auch natürlicher Lebendigkeit die Weglassprobe souverän besteht: Es zählt ein ästhetisches Mehr an Lebendigkeit, Grazie und Kraft, die nur das geschaffene Werk kennt, nicht aber das Lebewesen. Die Marionettenpuppen verfügen darüber – nicht, weil sie bloße Materie sind oder weil ihnen die Natur oder aber das Leben fremd sind und auch nicht allein, weil sie technisch oder „mechanisch“ funktionieren, sondern weil sie Kunstwerke sind und ein Künstler sie schuf. Im Umkehrschluss wäre das Problem der conditio humana jedenfalls nicht unsere Natur oder eine uns eigene Zwitterstellung zwischen Natur und Kultur und auch nicht, dass wir einen lebendigen Körper haben. Problem wäre aber – und hier sind der zur Kurbel ratende Puppenspieler, der scheiternde Dornauszieher wie auch als Fechter Herr C. selbst mahnende Größen zu nennen – dass wir nicht meisterlich geschaffen, nicht Geschöpfe eines künstlerischen Universums sind.

3. S EELE AN DER S CHWELLE ZUM L EBEN : Ä STHETIK UND P HYSIOLOGIE Kleist belässt es nicht bei kunsttheoretischen Reminiszenzen. Daher nun von der Ästhetik zur Physiologie. Hier ist zunächst eine weitere Fehlanzeige wichtig. In ästhetischer Hinsicht bedarf es für Kleist keiner „Seele“. Indirekt greift er vielmehr sowohl organische als auch idealistische Seelenvorstellungen an. Schreibt Über das Marionettentheater ausgerechnet einem mechanischen Gliedermann „Anmut“ zu, so setzt dies einen deutlichen Kontrapunkt zum ästhetischen Zeitgeist. Namentlich Friedrich Schiller dürfte – wenn auch ungenannt – polemisch gemeint sein, der in Über Anmuth und Würde (1793) die Beseelung als Bedingung von Anmut und Grazie ausdrücklich fordert. Schiller charakterisiert die Anmut als eine von der Sittlichkeit herkommende, ästhetisch gesonderte Gabe, als einen „Gürtel

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des Reizes“8, welcher sich um eine vorhandene, lediglich der Natur zu verdankende Schönheit legen kann, sofern in ihr Freiheit zum Ausdruck kommt – Freiheit allerdings nicht aus Verstandeswillkür, sondern als moralisches Empfinden. Schiller hält sich an Kant, wenn er eine Form ästhetischer Unmittelbarkeit skizziert, welche (natürlich gebildetes) Schönes und (in individueller Innerlichkeit gegründetes) Gutes für den Moment ihres Erscheinens zusammenbringt. Anmut gehört zur Sphäre dessen, was Natur als bloße Sinnlichkeit übersteigt, sie lässt aber auch den bloß technischen Geist hinter sich, jenen Gebrauch seiner Freyheit, welche den Menschen lediglich zu den reinen Intelligenzen erhebt.9 Schönheit sei eine Pflicht der Erscheinungen, postuliert Schiller, was im Falle von Anmut und Grazie die Verbindung zum Sittengesetz, auch wenn er sich von Kant dann absetzen wird, zunächst direkt herstellt. Sofern sie in der Freiheit der Gesinnung entspringt, ist die Anmut persönliches Verdienst.10 Von Kleist her gesehen fällt zum einen auf, dass auch bei Schiller der „Bewegung“ eine zentrale Rolle zukommt. Anmut ist eine bewegliche Schönheit11, sofern sie persönliche Gemütsveränderungen offenbart und eben dies nur die Bewegung leistet. Zum zweiten akzentuiert auch Schiller das „Spiel“ – allerdings als einen Modus, dem „sympathetische“ Energie und freiheitliche Selbstschöpfung des Einzelnen die entscheidenden Züge verleihen. Die Natur gab die Schönheit des Baues, die Seele giebt die Schönheit des Spiels12 heißt es im Text, der immer wieder die Leitmetaphern „Bau“ und „Spiel“ einander gegenüber stellt. Die Welt des Technischen schiebt Schiller so gänzlich beiseite. Technische Vollkommenheit, bloße formale Kunstmäßigkeit, reichen noch nicht einmal für die aus der Natur herkommende architektonische Schönheit der menschlichen Bildung

8

Vgl. Friedrich Schiller: Über Anmuth und Würde (1793). In: Schillers Werke,

9

Über Anmuth und Würde, S. 263.

Bd. 20. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 251ff. 10 Über Anmuth und Würde, S. 264. 11 Über Anmuth und Würde, S. 252. 12 Ebenda, S. 264.

L EBENDIGKEIT ODER L EBEN ? | 145

hin.13 Ähnliches gilt für die Welt des Tiers, dessen Bildung nie etwas anders als das Werk der Natur ausdrücken kann.14 All dem stellen sich Kleists gänzlich mechanische oder prothetischhybride Wesen provokativ entgegen – bis hin zum Bären, der nicht nur als plump und seelenlos, sondern wohl auch als Inbegriff der Heimtücke zu gelten hat. Lässt Kleist in der Frage des Bewegungsregimes der Marionette allein die naturgemäßere Anordnung der Schwerpunkte gelten, meint die Rede vom „Naturgemäßeren“ noch nicht einmal ein organisches Gefüge, sondern gewissermaßen rohe, den Raum pauschal durchwirkende Physik – also die Mechanik durch äußere Kräfte bewegter Materialien. Gesonderte Organe im Inneren der Puppe, überhaupt ein mechanisches Innenleben, sind gänzlich entbehrlich, sofern ein „Schwerpunkt“ gar keine eigenständige Wirkursache ist, sondern sich nach Kraftfeldern bemisst, die den Körper durchqueren. Ein physikalischer Schwerpunkt von Gliedern, die tot sind, reine Pendel, ist das genaue Gegenteil eines Organs. Die Linie, die der Schwerpunkt einer gelungenen Tanzbewegung beschreibt, richte sich zum einen nach den körperlichen Gegebenheiten, zum anderen sei sie nichts anderes als der W e g d e r S e e l e d e s T ä n z e r s , erläutert Herr C., um hinzuzusetzen, „lebendigen Tänzern“ hätten die Puppen voraus, dass bei ihnen die Seele (vis motrix) sich niemals in irgendeinem andern Punkte befindet, als im Schwerpunkt der Bewegung. Spätestens mit dieser Passage im Text wird man Über das Marionettentheater auch als Abhandlung über die Seele lesen. Die Seele „ist“ der Schwerpunkt, sie folgt mit ihm in der Bewegung, sie ist ein lebloses und transitorisches Phänomen. Eine einzige Verbindung zu Schiller bleibt: auch Kleist schließt in puncto Anmut absichtsvolle Steuerung aus. Zeichnet Schiller aber von der anmutigen Bewegung das paradoxe Bild einer Art unwillkürlichen Willkür, so verwirft Kleist sowohl die Figur freiheitlicher Unmittelbarkeit als auch den moralischen Quellgrund der anmutigen Erscheinung. Die Selbstreflexion wird nicht rehabilitiert, was die Dornauszieher-Episode bestätigt. Sie präsentiert das Bewusstsein als das, was die natürliche Grazie des Menschen in Unordnung bringt: als eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt oder aber – mit einer Metapher, die den Willen deterministisch fasst – als eisernes Netz. Dass auf der anderen Seite externe Steuerung der anmutigen

13 Vgl. Über Anmuth und Würde, S. 256f. 14 Über Anmuth und Würde, S. 273.

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Erscheinung nicht entgegensteht, sondern auf geheimnisvolle Weise sogar gebraucht wird, belegen die Auskünfte des Marionettenlenkers, der unter anderem das Verhältnis von Fingern und Puppenkörpern mit dem von Zahlen zu ihren Logarithmen oder die Asymptote zur Hyperbel vergleicht. Ich möchte nun vorschlagen, Kleists mechanizistische Andeutungen bezüglich der Seele – einer auf die bloße Bewegungsphysik von Artefakten reduzierbaren Seele – zu kontrastieren mit der avancierten Seelenlehre seiner Zeit und das heißt mit Physiologie um 1800. Zweierlei scheint mir interessant. Erstens möchte ich belegen, dass Kleist, von dem man weiß, dass er intensiv auch Literatur aus dem Bereich Naturforschung studiert hat, sich in der Frage der belebten Bewegung nicht allein mit Ästhetik auseinandersetzt, sondern möglicherweise auch als Physiologe positioniert. Und zweitens möchte ich zeigen, dass er – obwohl er das tut – den entscheidenden Schritt des physiologischen Mainstreams seiner Zeit gerade nicht mitvollzieht, sondern erneut auf negativem Wege Stellung nimmt. Er verzichtet auf das physiologische Konzept „des“ Lebens. Hier wäre ein längerer Exkurs zur Karriere des Kollektivsingulars Leben, „des“ Lebens um 1800 fällig. Eine epistemische Schwelle trennt die Naturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts von der entstehenden Physiologie und Biomedizin des 19. Jahrhunderts, und auch hier gehört die „Lebendigkeit“ zu einem Begriffsregister, das mit der beginnenden Moderne fraglich wird. Der Wissenshistoriker Michel Foucault hat nachgewiesen, wie um 1800 die epistemische Rede von dem Leben auftaucht – in der neuen Bedeutung eines funktionalen Kontinuums, welches im Inneren des Lebendigen physiologisch wirksam ist und sowohl die Erscheinung des Exemplars als auch Entwicklung und Ausprägung der Gattung erklärbar macht. Dass Lebewesen lebendig sein können oder tot, war selbstverständlich immer schon naturkundlich und insbesondere medizinisch evident. Dennoch blieb „Lebendigkeit“ in der Naturkunde des 17. und 18. Jahrhunderts ein Oberflächenbegriff, eines unter vielen Attributen, die sich zum Zwecke klassifizierender Unterscheidung in der großen Kette der Wesen gebrauchen ließen. „Lebendig“ war eine im Wesentlichen sichtbare Eigenschaft wie „rund“ oder „behaart“. Und klassischer Weise war es die Bewegung – die aus eigener Kraft vollzogene Bewegung, die Selbstbewegung – die zählte. Um 1800 erscheint nach Theorien zu dem Organischen innewohnenden „Lebenskräften“ das Leben im Singular als eine die Stofflichkeit der organischen Natur von innen her tragende, verborgene Größe, als

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universaler Prozessbegriff und als Matrix einer nicht mehr morphologischen, sondern in die Tiefe gehenden Medizin und Physiologie. Foucaults Gewährsmann für das neue Forschungsparadigma, das die Organe der Wesen nicht mehr einzeln betrachtet, sondern entlang der Frage nach tieferliegende Funktionen für den ganzen Organismus und für die ganze Art analysiert, ist der Physiologe Georges Cuvier.15 Mit Cuvier verschwindet der alte Raum einer durch ein Gewimmel von vielerlei Erscheinungen angefüllten Natur. Stattdessen erscheint das Reich eines Organischen, das sich aus der Tiefe des Lebens heraus dynamisch ordnet – und zwar, indem es unsichtbaren Funktionen gehorcht. Nicht auf der Ebene des Sichtbaren, sondern „in dem, was es an Nicht-Wahrnehmbarem, an rein Funktionalem hat“,16 drücken sich die eigentlichen Unterscheidungen des Lebens aus. Die Oberflächen zählen nicht mehr. Alte Gewissheiten verlieren ihr Gewicht, neue Deutungsräume werden eröffnet: „[D]ie Unterschiede sind an der Oberfläche zahllos, während sie in der Tiefe vergehen, sich vermengen, sich miteinander verknüpfen und sich der der großen, mysteriösen, unsichtbaren fokalen Einheit nähern, aus der das Vielfältige wie durch eine unaufhörliche Zerstreuung hervorzugehen scheint. Das Leben ist nicht mehr das, was sich auf eine mehr oder weniger bestimmte Weise vom Mechanischen unterscheiden kann. […] Dieser Übergang vom taxonomischen Begriff [also dem, der bloß attributhaft funktionierte, pgg] zum synthetischen Begriff des Lebens wird in der Chronologie der Ideen und Wissenschaften durch das Wiederaufleben vitalistischer Themen am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts signalisiert. Vom archäologischen Blickpunkt her sind es die Bedingungen der Möglichkeit einer Biologie, die sich zu diesem Zeitpunkt errichten.“17

Soweit Foucault. Tatsächlich gehört Cuviers Anatomie zu den ersten Lehrgebäuden, die „das“ Leben als konkrete Gesamtursache hinter den organischen Prozessen für die medizinisch-physiologische Empirie der Zeit im Einzelnen zu erschließen vermag. Alle Tiere, und das meint Menschen mit, regiert „ein inneres Princip der Unterhaltung und der Ersetzung“,

15 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (1966). Frankfurt am Main 1974, S. 322 ff. 16 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 328. 17 Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 329.

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„es besteht in de[m] gemeinsamen Resultat der Verrichtungen, welche den Körper ernähren, das heißt die Verdauung, die Einsaugung, das Athmen, die Ausdünstung und die Ausleerungen“,

weswegen Cuvier diese Verrichtungen „mit dem Namen LebensVerrichtungen belegt.“18 Cuvier war Leser Hegels und vice versa. Neben der deutschsprachigen romantischen Physiologie bezeugt auch die deutschsprachige Philosophie ab 1800 vielfach den nach Foucault für die Wissenschaftslandschaft der Moderne überaus einschneidenden begrifflichen Umbruch: an die Stelle der „Lebendigkeit“ tritt „Leben“.

4. K LEISTS Ä STHETIK DES L EBENDIGEN UND DIE P HYSIOLOGIE Dass Kleist Hegel las, können wir nur annehmen. Dass Hegel Kleist las, ist bekannt. Ebenso dass er sich in Kleist nicht wiederfand. Das Faktum, dass Kleists Figuren in ihrem Inneren Fremdartiges tragen, hat Hegel als künstlerischen Bruch und als verfängliches Kokettieren mit einer „Krankheit des Geistes“ moniert.19 Ich verfolge die Spur des Hegelschen Krankheitsbegriffs, der auf philosophischen Wegen zum „Leben“ führen würde, nicht weiter. Stattdessen möchte ich das Marionettentheater mit zwei andere Kontexten konfrontieren, einem frühen naturphilosophischen und einem physiologischen, und zwar dem Lebensdenken von Johann Gottfried Herder und Christoph Heinrich Pfaff. Als ersten Teil seiner vielgelesenen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) entwirft Herder eine Philosophie der Natur. Für die begriffsgeschichtliche Alternative von Lebendigkeit oder aber Leben sind die hier entfalteten Überlegungen deswegen interessant, weil sie sich auf der Grenze beider Paradigmen halten und dort ein wenig schwan-

18 Georges Cuvier: Vorlesungen über vergleichende Anatomie (1798), Leipzig 1801, Bd. 1, S. 24 [1. Vorl., 1. Abschnitt]. 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik 1. In: Werke, Bd. 13. Hg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1986, S. 314.

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kend zu balancieren scheinen. Herder geht im Ansatz konventionell vor, indem er die Natur als große Reihe und verkettete Vielfalt der Wesenheiten charakterisiert. Er sieht in dieser Fülle unter anderem „Lebenskräfte“ am Werk – auch das passt in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Terminus „Leben“ bleibt primär für die Lebensspanne des Individuums reserviert, und in der Natur sieht Herder „organisches Leben“ als eigenschaftsartige Sache an: Leben ist etwas, das uns und anderen Wesen zukommt, vielen Naturerscheinungen aber auch nicht. Daneben jedoch finden sich zum einen generalisierte Innerlichkeitspostulate, wie sie für die romantische Seelenkunde und Anthropologie der späteren Jahre paradigmatisch werden. „Im Innern liegt der Grund des Äußern, weil durch organische Kräfte alles von innen heraus gebildet ward und jedes Geschöpf eine so ganze Form der Natur ist, als ob sie nichts anders geschaffen hätte.“20

Zum anderen schildert Herder die Natur mit einer ganzheitlichen Emphase, bei welcher er auf eine verborgene Tiefendynamik von „Gang“ und „Untergang“ abhebt, die in ihrem Inneren herrscht: „Sobald in einer Natur voll veränderlicher Dinge Gang sein muß: sobald muß auch Untergang sein; scheinbarer Untergang nemlich, eine Abwechselung von Gestalten und Formen. Nie aber trifft dieser das Innere der Natur, die über allen Ruin erhaben, immer als Phönix aus ihrer Asche ersteht und mit jungen Kräften blühet.“21

Das Bild vom Phönix, der immer wieder den Untergang seiner körperlichen Existenz übersteht, wird später Hegel als Gleichnis für das „Leben des Geistes“ verwenden: nachdem im Lebendigen die Natur sich vollendet, kann dieses universale Leben entstehen.22

20 Herder, Ideen, S. 119. 21 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784). In: Werke III/1, hg. von Wolfgang Pross, München, Wien 2002, S. 27 f. 22 „Ziel der Natur ist, sich selbst zu töten und ihre Rinde des Unmittelbaren, Sinnlichen zu durchbrechen, sich als Phönix zu verbrennen, um aus dieser Äußerlichkeit verjüngt als Geist hervorzutreten.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830). In: Werke 9, hg. von

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In einem Manuskript Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele aus dem Jahr 1778 bietet Herder aber auch selbst eine physiologisch unterlegte, nämlich in einem reiztheoretischen Kontext einrückte Deutung von „Leben“. Diese ist im Blick auf Kleist besonders interessant, weil sie ein präzise zum Marionettentheater-Aufsatz passendes Bildfeld mobilisiert, am entscheidenden Punkt aber nicht nur antimechanistisch, sondern ausdrücklich metaphysisch argumentiert: „Ein mechanisches oder übermechanisches Spiel von Ausbreiten und Zusammenziehen sagt wenig oder nichts, wenn nicht von innen und außen schon die Ursache desselben vorausgesetzt würde, ‚Reiz, Leben.‘ Der Schöpfer muß ein geistiges Band geknüpft haben, daß gewisse Dinge diesem empfindenden Teil ähnlich, andre widrig sind; ein Band, das von keiner Mechanik abhängt, das sich nicht weiter erklären läßt, indes geglaubt werden muß, weil es da ist, weil es sich in hunderttausend Erscheinungen zeiget.“23

Ein Band, das von keiner Mechanik abhängt, sondern nur von Ähnlichkeiten – eine solche allenfalls geistige Physiologie wäre eine weitere mögliche Gegenfolie, von der Über das Marionettentheater sich in materialistischer Klarheit abhebt. Kleist kontert hier mit „Maschinist“ und „Kurbel“. Er subtrahiert das Übermechanische und belässt es ja diesseits des göttlichen Knüpfwerkes Herders gerade beim mechanischen „Spiel“. Der verbleibende Rest von Magie findet sich bei Kleist unter den Titeln Anmut und Grazie zwar wieder, dann aber eben so transformiert, dass „Natur“ nur noch am Rande interessieren muss, nämlich in kunstphilosophischer Wendung. Schon im Marionettengleichnis der platonischen Nomoi lenken Götter die Menschen an Bändern, wobei Platon nicht von geistigen Bändern, sondern von Interventionen ins Innere des Organismus spricht: Es sind die Gefühle, an welchen gleich inneren „Sehnen und Schnüren“ die Götter ziehen.24 Ob es zu den Intentionen Kleists gehörte, auch dieses berühmte Bild

Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970, S. 538 (§ 376, Zusatz). 23 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778). In: Werke II, hg. von Wolfgang Pross, München, Wien 1987, S. 664– 696, S. 669. 24 Vgl. Platon, Nomoi 644d ff.

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umzuprägen, wissen wir nicht. Die Intention aber, den von Herder abgekürzt als Reiz, Leben bezeichneten Zusammenhang nicht auf Geistigkeit zurückzuführen, sondern als Sache nervlicher Reizverarbeitung zu erklären, verfolgt zu Kleists Zeiten unter anderem Christoph Heinrich Pfaff, romantischer Physiologen und Arzt, dessen Grundriß einer allgemeinen Physiologie und Pathologie des menschlichen Körpers wie Cuviers deutsche Anatomievorlesungen im Jahr 1801 erscheint. Im selben Jahr also, in welchem Kleist Über das Marionettentheater schreibt. Pfaffs Buch, das für sich beansprucht, eine Synthese aus Physiologie und Pathologie des menschlichen Körpers zu wagen und damit die Bemühungen um das Gebäude einer Wissenschaft des Lebens zu befördern25, bietet eine durchdachte Zusammenführung der entgegengesetzten physiologischen Ansätze seiner Zeit – und zwar wie Cuvier, früher als Johannes von Müller (und ganz anders als Herder) auf der Basis eines konsequent physiologisch gefassten Lebens im Singular. Pfaff schiebt Metaphysik beiseite. Ihm geht es „arzneywissenschaftlich“ um Krankheiten, um nicht die „formale“, sondern die „lebendige materielle“ Kenntnis des Lebens.26 Dabei vertritt er eine Reiztheorie des Organischen, die vermitteln will zwischen einem Physikalismus, der auch im Inneren des Organismus keine anderen Kräfte walten sieht als außerhalb seiner, und einer Theorie der innerlich verursachten Krankheitsentstehung, deren reiztheoretischen Ansatz Pfaff in vielem teilt. Einen zentralen Platz in der Abwägung der Positionen hat die Frage nach den Gründen der „Erregbarkeit“ eines Organismus: Wird das lebende Individuum letztlich durch Außenreize erregt (und auf diesem Wege dann auch erkranken) oder finden sich im Organismus selbst jene Zustände, die Gesundheit verursachen (und kommt dann auch die Krankheit von Innen her)? Sind Krankheiten also Reaktionen gesunder Organe auf äußere krankmachende Reize oder aber Resultat schadhafter Organe im Organismus selbst? Pfaff sieht die Wahrheit in der Mitte. Den möglichen Einwand, er habe den Außenreizen zu viel Macht zugebilligt, weist er durch folgende Überlegung zurück:

25 Christoph Heinrich Pfaff: Grundriß einer allgemeinen Physiologie und Pathologie des menschlichen Körpers. Zum Gebrauche bey medizinischen Vorlesungen. Kopenhagen 1801, S. III [Vorrede]. 26 Pfaff, Grundriß, S. VIII [Vorrede].

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„Man hat die Selbständigkeit der thierischen Organe durch die Annahme eines so unmittelbaren und directen Einflusses der Reize auf den Zustand ihrer Erregung für herabgewürdiget halten. Diese sollten nehmlich nach einer solchen Hypothese gleichsam bloße Marionetten seyn, die bey einerley Zustande ihrer Kräfte alle Erscheinungen hervorbringen, die ihnen der Reiz inspiriret. Aber wenn ihre Actionen von dem jedesmaligen Zustande ihrer Form und Mischung abhängen, und dieser Zustand selbst von der Einwirkung der Reize bestimmet wird, bleiben sie alsdann nicht auch nach dieser entgegengesetzten Hypothese bloße Marionetten, denen der Reiz beliebige Actionen inspirirt?“27

Tatsächlich hatte zwei Jahre zuvor (1799) der Physiologe Johann Christian Reil28 in seinem Buch Über die Erkenntnis und Cur der Fieber die Außenreiz-Hypothese wie folgt resümiert: „Diese Hypothese betrachtet die Organe eines Thieres als Marionetten, die bey einerley Zustand ihrer Kräfte alle Erscheinungen hervorbringen, die der Reitz ihnen inspirirt.“29

Zunächst Reils Außenreizkritik: Organe sind keine Marionetten, dann Pfaffs Erweiterung des Arguments: auch ein auf Reizen von innen her basierender Determinismus bleibt ein Determinismus. Beide Autoren positionieren die Physiologie auf der Seite eines Denkens, das von der Selbstorganisation eines Organismus ausgeht, dessen Innenleben zählt. Worauf Pfaffs Argument die Sache zuspitzt, ist, dass im Streit über die Kausalität der Außenreize wohl auch die Sorge um Freiheit mitschwingt. Reiz bleibt Reiz, ob nun von innen oder von außen: dieser Gedanke kann sich in die Physiologie eines generalisierten Lebens fügen. Er fügt sich aber auch in die Szenerie von Über das Marionettentheater, in welcher Kleist die Wendung des Bildes gänzlich fremdgesteuerter Körper ins Positive so konsequent vollzieht. Für Schiller ist Kunst „eine Tochter der Freyheit“ 30. Wohl nicht in der grundsätzlichen Hochschätzung der Kunst, aber in Sachen Freiheit konter-

27 Pfaff, Grundriß, S. 167. 28 Pfaff charakterisiert Reil als Vertreter einer „Reizpathologie im engern Sinne“, vgl. Grundriß, S. 167. 29 Johann Christian Reil: Über die Erkenntnis und Kur der Fieber 1. Allgemeine Fieberlehre (1799). Halle 31820, S. 12 f.

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kariert Kleist das vollständig: Die unwillkürliche Perfektion der Puppe, der Kurbel, des Bären gehören in eine Welt der Fremdbestimmung – jedenfalls vom bewusstseinsphilosophischen Standpunkt aus gesehen. Ob wir determiniert sind, scheint daher kaum die Frage, sondern allenfalls wie und zu welchem Ende oder Effekt. Kleists Schilderung der Marionettenbewegung dramatisiert denn auch nicht die Fremdsteuerung als solche, sondern die Komplexität der Determination und damit die Tatsache, dass die Steuerung eines hohen Maßes an Kunstfertigkeit bedarf. Inneres und Äußeres der Puppenglieder sind (wie diese auch miteinander) verbunden, aber – ähnlich wie bei Pfaff – eher widerspielend oder wechselseitig als unidirektional kausal. Dass Kleists Marionetten-Metapher der Physiologie um 1800 derart nahe steht, gibt der Abwesenheit von expliziten Referenzen auf Naturphilosophie und Naturwissenschaft in Über das Marionettentheater zusätzliches Gewicht. Kleist, so scheint mir, bezieht auch hiermit ex negativo Stellung – und zwar indem er gegen „Leben“ optiert. Weder aber, um einer metaphysischen Naturphilosophie, etwa nach dem Vorbild Herders, das Wort zu reden, noch um eines eindimensionalen Physikalismus willen, der sich für das, was Herder „übermechanisch“ nannte, gar nicht interessiert. Unter den Bedingungen der modernen Physiologie mitsamt der durch sie sich verschiebenden Frontlinien – Herder, Kant, Goethe, Sulzer, Schiller – kommt Kleist vielmehr auf die Kunst zurück. Um für die ästhetische Alternative zu plädieren. Für die Lebendigkeit.

F AZIT Das Leben ist mit der Definition von Cuvier 1801 eine „allgemeine und allen Theilen sich mittheilende Bewegung“31, und folglich eben nicht bloß ein Effekt des Zusammenkommens oder richtigen Angeordnetseins oder Zusammenstimmens von Komponenten. Die neue Perspektive trennt ein Denken des Lebens von der alten Tradition einer Ästhetik der Lebendigkeit

30 Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1793). In: Schillers Werke, Bd. 20, Weimar 1962, S. 311. 31 Cuvier, Vorlesungen über vergleichende Anatomie 1, S. 8 [1. Vorl., 1. Abschnitt].

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endgültig ab. Auch Biologie und Ästhetik werden sich nun endgültig voneinander lösen. Was die Rede von der Lebenskraft nur unbeholfen anzuzeigen vermochte, bedarf ab 1800 einer Fassung, die allein auf die Allgemeinheit einer quasi-stofflichen Lebensfunktion abstellt, die als solche keine Erscheinung mehr besitzt. Ästhetische Virtualität – und also die Künstlichkeit der Kunst – hat im Reich der mit den frühen Lebenswissenschaften verbundenen Authentizitätserwartungen keinen Platz. Wie Leben bei Herder und selbst in Schillers Anmutslehre noch koexistierte mit dem ästhetisch-naturphilosophischen Universum einer attributiven Lebendigkeit, habe ich umrissen. Auch Kant gehört in diese Epoche des Umbruchs, bei dem die Marionette als fremdbestimmter Automat und bloßer Mechanismus „ohne Leben“ Erwähnung findet.32 Und auf untheoretische Weise auch Goethe, dessen „Emphasen des Lebens“33 freilich ohne die Marionettenmetapher auskommen. Kleist sticht hier durch Gespür für das, was auf dem Spiel steht, und – in meiner Lesart – durch Fundamentalopposition heraus. Er setzt sich von der Lebenskraftmetapher ab, aber nicht um sich dem Leben oder einer Ästhetik der Lebensähnlichkeit zuzuwenden, wie dies in der fraglichen Zeit etwa in Johann Georg Sulzers Theorie der schönen Künste der Fall ist, die sicher ebenfalls zu Kleists Gegenfolien gehört.34 Über das Marionettenthe-

32 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Praktischen Vernunft (1788). In: Werke 7, hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1974, S. 101–283, S. 227, 282. Eine luzide Bestimmung des aufgefächerten Nebeneinander von lebendig/Lebendigkeit und lebend/Leben bei Kant (im Zentrum dabei: das „Lebensgefühl“) unternimmt Winfried Menninghaus: ‚Ein Gefühl der Beförderung des Lebens‘. Kants Reformulierung des Topos ‚lebhafter Vorstellung‘. In: Armen Avanessian, Winfried Menninghaus, Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit. Berlin 2009, S. 77–94. 33 Frank Fehrenbach: Bravi i morti! Emphasen des Lebens in Goethes Italienischer Reise. In: Armen Avanessian, Winfried Menninghaus, Jan Völker (Hg.): Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit. Berlin 2009, S. 57–75. 34 Sulzer bestimmt „das Leben“ als Näherungswert der Kunst zwar ungenau, aber mit modernen Einsprengseln auch als „Gefühl“, als „würkliches Leben“, und das Bild als „Übersetzung der Natur“. Vgl. Johann Georg Sulzer: Art. „Leben (Malerey)“. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, nach alpha-

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ater provoziert vielmehr dadurch, die reine Mechanik der Antike und frühen Neuzeit zu restituieren: Das Ideal einer Mechanik, in der noch nicht einmal Automaten vorkommen, sowie den Kraftbegriff einer Physik, für die das Leben ganz arbiträr bleibt und deren Rahmen man an den Anschein des Lebendigen glaubt. Denn in dem, was wir vorfinden, lässt sich Belebtes und Unbelebtes anhand seiner oberflächlichen Unterschiede vom bloß Mechanischen nicht trennen – und mehr als die oberflächlichen Unterschiede haben wir nicht. So wird der Weg frei für einen entschiedenen Rückgriff auf den Standpunkt der Kunst. Oder genauer: auf die lange Tradition einer Ästhetik des Scheins, für welche die genuine, mit technisch-meisterlichen Mitteln geschaffene Lebendigkeit des Kunstwerks noch über alle Formen des „natürlichen“ Lebens zu triumphieren vermag. Auch einer weiteren Konsequenz der Lebensphysiologie seiner Zeit stellt Kleist sich entgegen, nämlich der mit dem Kollektivsingular besiegelten These, dass das Leben nichts Zusammengesetztes sei. In allen vier Motiven – Magie der Puppen und der lenkenden Maschinerien, Synergie der Prothese, Bann von Statue und Spiegel, Übermacht von Tatze, Blick und Ernst des angeketteten Bären – hält Kleist gegen die vitalistische Kategorie der Einbildungskraft am Gedanken der compositio fest. Es ist kein organisches Werden, sondern es ist die meisterhafte Zusammenfügung, aus welcher die Einheit des Werks entsteht – Effekte der Lebendigkeit einschließlich.35 Über den physiologischen Naturalismus triumphiert der Materialismus der Kunst. Als letzter Punkt mag die Seele erwähnt werden, welche Kleist nicht leugnet, aber gleichsam disseminiert. Sie gleitet als Resultante äußerlicher Kraftfelder durch Körper und Bewegungsmuster hindurch. Kleists Vorrang des Artefakts verweigert sich damit zugleich der entstehenden Biologie wie auch den Anthropologien seiner Zeit: Dem Leben wie auch Postulaten einer organisch fixierten Innerlichkeit der als Bewusstsein definierten Seele. Lebendigkeit ohne Seele? Vielleicht sogar Lebendigkeit nur ohne Seele? Die in dieser Hinsicht provozierendste Figur, die Über das Marionettentheater bereithält, ist der Bär: der erste Fechter der Welt, stummes Gegen-

betischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Leipzig 1793, S. 158–160. 35 Vgl. Frank Fehrenbach: Art. „Komposition“. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart 2003, S. 178–183.

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über, weder nur Tier, noch nur Natur, noch Künstler, noch alter ego, noch Werk. Dennoch scheint er lebendig – lebendig wie die List, die Aggression, lebendig wie die erstaunliche Perfektion und lebendig wie der Tod, sofern er als Täter auftritt, der er uns töten wird.

Gut gemeinte Erziehungsmaßnahmen Kleists Gespräch über das Marionettentheater zwischen aristokratischer Verstellungskunst und bürgerlicher Bloßstellungskunst

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„Die Satyre bessert niemals daher wenn ich auch die / Talente dazu hätte so würde ich mich ihrer nicht bedienen.“ IMMANUEL KANT

Die Kleistforschung der letzten Jahre hat wiederholt darauf hingewiesen, dass Kleist sich nie zum Bürgertum bekehrt hat. Er hat sich von den aristokratischen Prägungen seiner familiären Herkunft befreit, ohne je Vertrauen in die Alternativangebote des bürgerlichen Lagers zu fassen. Eine besonders deutliche Formulierung dieser Diagnose bietet Günter Blambergers Kleist-Biographie, die gegen die ältere Forschung hervorhebt, Kleists Leben lasse sich nicht einfach in eine „aristokratische Präexistenz vor 1799“ und ein bürgerlich-idealistisches Erwachsenenleben „zweiteilen“.1 Blamberger beschreibt nicht nur Kleists Leben als eines auf der Schwelle zwischen aristokratischen und bürgerlichen Verhaltensmustern, er betont auch die Bedeutung dieser „Schwellenposition“ für Kleists schriftstellerische

1

Günter Blamberger, Heinrich von Kleist. Biographie, Frankfurt am Main 2011, S. 49.

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Produktion.2 Damit formuliert er in politischen Kategorien, was die ältere Forschung eher poetologisch oder geistesgeschichtlich interpretierte: Kleists eigentümliche Strategie eines aggressiven Desengagement, die ästhetische, philosophische und politische Positionen gegeneinander ausspielt, ohne selbst eine einzunehmen.3 Exemplarisch für die älteren Deutungen dieser Strategie ist ein Aufsatz Hartmut Binders, dessen Überlegungen zu „Kleists unwilliger Zeitgenossenschaft“ nicht am politischen Begriff des Bürgertums, sondern am philosophischen Begriff des Idealismus orientiert sind. Nach Binder zweifelte Kleist an der Tragfähigkeit des idealistischen Denkens, konnte es aber, mangels Alternative, nicht vermeiden, „dessen Kategorien samt der dazugehörigen Sprache zu verwenden“.4 Ein besonders prägnantes Beispiel für die schriftstellerische Strategie, mit der Kleist dieser Situation begegnete, bietet die Art, wie er in seinem Gespräch über das Marionettentheater die Kategorien der idealistischen Ästhetik in ein Vokabular rein mechanischer Bewegungsabläufe übersetzt. Die bekannte Argumentation des Tänzers „C.“, wonach eine vollkommen konstruierte Marionette jeden Tänzer an Grazie übertreffen muss, weil sie keine „Ziererei“ kennt, nimmt Schillers Begriff der Grazie auf, entfernt aus ihm aber jeden „Bruch von Geist“, so dass die anmutige Bewegung nicht mehr als Ausdruck von Freiheit, sondern als Resultat einer wohlabgewogenen „Anordnung der Schwerpunkte“ erscheint.5 In einer eher geistesgeschichtlich orientierten Lektüre lässt sich dann feststellen, dass man es bei Kleist „mit einem strikt materialistischen Gebrauch des Grazie-Begriffs zu tun“ hat, der an La Mettrie und Vaucanson erinnert,6 während der eher politisch orien-

2

Ebd., S. 49 und 83.

3

Blamberger stuft diese Strategie, ganz angemessen, als „destruktiv“ ein (ebd., S. 298).

4

Hartmut Binder, „Ironischer Idealismus. Kleists unwillige Zeitgenossenschaft“, in: ders., Aufschlüss. Studien zur deutschen Literatur, Zürich/München 1976, S. 311-329; hier: S. 311.

5

Heinrich von Kleist, „Über das Marionettentheater“, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von Helmut Sembdner, zweibändige Ausgabe in einem Band, München 2001, Bd. II, S. 338-345, hier: S. 340 f. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit Band- und Seitenzahl im Text nachgewiesen.

6

Vgl. Ulrich Johannes Beil, „‚Kenosis‘ der idealistischen Ästhetik. Kleists ‚Über das Marionettentheater‘ als Schiller-réécriture“, in: Kleist Jahrbuch 2006, S. 75-

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tierte Leser hervorheben wird, dass Kleist gegen Schiller einen aristokratisch geprägten Begriff der grazia ins Feld führt, wie er sich bei Machiavelli und Castiglione findet.7 Dass die in aristokratischen Verhaltensbrevieren gelehrte Verstellungskunst einen festen Bestandteil von Kleists Schreibstrategien darstellt, ist in jüngerer Zeit immer wieder festgestellt worden. Adam Soboczynski weist in seinem Versuch über Kleist darauf hin, dass sich die oft betonte „Modernität“ Kleists, die die Tugendvorstellungen der Aufklärung hinter sich lässt, „paradoxerweise aus voraufklärerischen Verhaltensmustern der Verstellungskunst, der Lüge, des höfischen Spiels“ speist.8 Paradox wäre das allerdings nur, wenn Kleist ohne Distanz zu den reaktivierten Verhaltensmustern operierte und die bloße Restauration des Alten den Effekt des Neuen erzeugte. Tatsächlich nutzt Kleist seine lebensgeschichtliche Unsicherheit aber zu einer Strategie der doppelten Distanz, die nicht einfach Grundvorstellungen des bürgerlichen Tugendkanons durch aristokratische Alternativvorstellungen ersetzt, sondern die theoretischen Schwächen und moralischen Kosten beider Seiten hervorkehrt. Kleists Skepsis zeigt in einer Art von antinomischem Verfahren, dass beide Seiten gleichermaßen unwahr sind. Dieses Verfahren ist zweifellos destruktiv, besitzt als solches aber ein nicht unerhebliches diagnostisches Potential. Das möchte ich im Folgenden nur an einem eng umrissenen Beispiel zeigen, das sich als Ergänzung zu den bereits existierenden Analysen der aristokratischen Verstellungskunst in Kleists Texten lesen lässt. Die leitende These dieser Lektüre lautet, dass die aufklärerische Forderung nach Aufrichtigkeit die kommunikativen Kriegstechniken des gegnerischen Lagers nicht nur abgelehnt, sondern in Reaktion auf die aristokratische Verstellungskunst eine bürgerliche Bloßstellungskunst herausgebildet hat, die Kleist nicht ausdrücklich kritisiert, sondern literarisch destruiert.

99, hier: S. 83. Dieser Text entwickelt zwar nicht den für die folgenden Überlegungen zentralen Zusammenhang von Naivität und Beschämung, er war für die allgemeinere Analyse des Verhältnisses von Schiller und Kleist aber sehr wichtig. 7

Vgl. Blamberger, Heinrich von Kleist, S. 297 und 353 f.

8

Adam Soboczynski, Versuch über Kleist, Berlin 2007, S. 8.

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1. A UFRICHTIGKEIT Kleist war – zumindest zeitweise – ein begeisterter Leser Rousseaus. Wie zahlreiche seiner Zeitgenossen zeigte er dabei eine besondere Vorliebe für den Émile, in dem Rousseau nicht nur seine Erziehungslehre entwickelt, sondern letztlich alle wichtigen Grundzüge seiner ethischen und politischen Überzeugungen zusammenfasst.9 Welche Bedeutung die Erziehungslehre des Émile für die eigentümliche Gesprächsführung in Kleists Versuch über das Marionettentheater hat, wird noch näher zu erläutern sein. Hier sei zunächst nur eine Passage über Émiles „ursprüngliche Einfalt“ zitiert, die emblematisch für Rousseaus Ideal des aufrichtigen Herzens ist: „Sein Herz, das ebenso rein ist wie sein Leib, kennt die Verstellung so wenig wie das Laster. Weder Verweise noch Verachtung haben ihn zaghaft gemacht; niemals hat ihn niedrige Furcht sich verstellen gelehrt. Er hat alle Offenherzigkeit der Unschuld; er ist ohne Bedenken naiv; er weiß noch nicht, wozu das Betrügen dient. Es geht nicht eine Bewegung in seiner Seele vor, die sein Mund oder seine Augen nicht verraten; und oft sind die Gefühle, die er hat, mir eher bekannt als ihm.“10

Kein Autor des 18. Jahrhunderts hat die Aufrichtigkeit so rückhaltlos überhöht und so entschieden zur Kardinaltugend erklärt wie Rousseau. Selbst Kant, dem oft fundamentalistische Ansichten in Sachen Lüge zugeschrieben werden, gesteht der Verstellungskunst eine gewisse Daseinsberechtigung zu, weil die Zivilisierung einer Gesellschaft nicht ohne ein Mindestmaß an Höflichkeit und geselligem Austausch gelingen kann. Zudem unterscheidet er die moralisch gebotene Aufrichtigkeit sehr strikt von der offenherzigen Äußerung jeder Seelenregung, die Rousseau an seinem Zögling preist. Dass „Offenherzigkeit (die ganze Wahrheit, die man weiß, zu sagen)“ im alltäglichen Umgang nicht vorausgesetzt werden kann, ist nach Kant ein unabänderliches Faktum, dem man nicht mit überzogenen moralischen Forderungen begegnen sollte. Was man von jedem Menschen fordern

9

Ebd., S. 106

10 Jean Jacques Rousseau, Émile oder von der Erziehung, in der deutschen Erstübertragung von 1762, nach der Édition Duchesne vollständig durchgesehen von Siegfried Schmitz, Zürich 1989, S. 414.

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kann, ist nur eine Haltung der „Aufrichtigkeit“, die nicht alles sagt, aber garantiert, „daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei“.11 Rousseaus Anspruch geht dem gegenüber deutlich weiter. Seine Kulturkritik orientiert sich an einem Ideal der Offenherzigkeit, dem schon Verschwiegenheit als Verstellung und jede Zurückhaltung in der Preisgabe der eigenen Empfindungen als Unaufrichtigkeit erscheinen muss. Daher Rousseaus Überhöhung des unschuldigen Kindes, das sich seine natürliche „Offenherzigkeit“ bewahrt hat und „ohne Bedenken naiv“ ist.12

2. A NMUT

UND

G RAZIE

Zu den wenigen Punkten, in denen sich zahlreiche Leser des Versuchs Über das Marionettentheater einig sind, gehört die Feststellung, dass der Text von Anmut und Grazie handelt. Kleists eigentümliche Auseinandersetzung mit dem Thema kann dabei als deutlicher Beleg für das erwähnte Changieren zwischen bürgerlichen und aristokratischen Denk- und Verhaltensmustern gesehen werden. Kleist greift Schillers idealistische Konzeption der Anmut auf, konfiguriert sie im Bild der anmutigen Marionette aber derart neu, dass man von einer „Demontage“ 13 des Schillerschen Begriffs sprechen muss. „Anmut und Grazie“ sind nach Schiller eine Sache der schönen Bewegung, sie können aber niemals durch bloße – natürliche – Bewegung hervorgerufen werden, sondern nur dort, wo Bewegung „ein Ausdruck moralischer Empfindungen“ ist.14 Dieser Ausdruckskonzeption von Anmut und Grazie setzt Kleists Tanzmeister – der Gesprächspartner „C.“ des Versuchs Über das Marionettentheater – seine berühmte These entgegen, dass in den mechanischen Bewegungen einer Marionette „mehr Anmut“ liege als ein menschlicher Tänzer je hervorbringen kann (II 342 f.).

11 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, herausgegeben von Bettina Stangneth, Hamburg 2003, AA VI, 190, Anm. 12 Rousseau, Émile, S. 414. 13 Beil, „‚Kenosis‘ der idealistischen Ästhetik“, S. 83. 14 Friedrich Schiller, „Über Anmut und Würde“, in: Theoretische Schriften. Text und Kommentar, herausgegeben von Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer, Frankfurt am Main 2008, S. 330-394, hier: S. 333

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Für meine Überlegungen ist in diesem Zusammenhang nur die ethische Konnotation von Schillers Begriff der Anmut von Bedeutung, die ihn unmittelbar an eine menschliche Anlage zur Aufrichtigkeit koppelt. Rousseaus Rede von der Naivität des noch unverdorbenen Zöglings markiert in diesem Zusammenhang genau den Punkt, an dem sich das Motiv der Aufrichtigkeit mit dem der Anmut und Grazie berührt. Schiller bemerkt in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung, „ein naiver Ausdruck sowohl in Worten als Bewegungen“ sei das „wichtigste Bestandstück der Grazie“.15 Dabei stützt er sich auf den § 54 von Kants Kritik der Urteilskraft, der die „Naivität“ als den spontanen „Ausbruch der der Menschheit ursprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur gewordenen Verstellungskunst“ bestimmt.16 Diese Aufrichtigkeit kann dem Naiven nicht als Verdienst angerechnet werden, weil sie letztlich nur auf der Unfähigkeit zur Verstellung beruht. Nach Kant ist unser Lachen über diese „Einfalt, die noch nicht versteht, sich zu verstellen“, aber dennoch mit „Ernst und Hochschätzung“ gemischt, weil sie uns zeigt, dass „die Lauterkeit der Denkungsart (wenigstens die Anlage dazu) doch nicht ganz in der menschlichen Natur erloschen ist“.17 Man muss also nicht sehr weit in die Fundamente des idealistischen Diskurses über Anmut und Grazie vordringen, um die bürgerliche Kardinaltugend der Aufrichtigkeit wiederzufinden. Mit Blick auf Schiller muss dabei aber festgehalten werden, dass sich der Zusammenhang zwischen Naivität und Aufrichtigkeit nicht in dem spontanen Ausbruch unserer natürlichen Anlage zur Lauterkeit erschöpft. Die Begegnung mit dem Naiven liefert uns nicht nur ein erfreuliches Beispiel für Aufrichtigkeit, sie zeigt auch, dass uns die „Verstellungskunst“ schon so weit zur zweiten Natur geworden ist, dass wir „gar nicht gewärtig“ sind, noch „auf die unverdorbne schuldlose Natur“ zu treffen.18 Erst dieses Moment der Entlarvung macht nach Kant erklärlich, dass wir angesichts des Naiven lachen. Im Lachen

15 Friedrich Schiller, „Über naive und sentimentalische Dichtung“, in: Theoretische Schriften, S. 706-810, hier: S. 720. 16 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, herausgegeben von Heiner Klemme, Hamburg 2001, AA V, 335; vgl. Schillers Hinweis in „Über naive und sentimentalische Dichtung“, S. 711. 17 Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V, 335. 18 Ebd.

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löst sich die Spannung zwischen der Freude an der eigenen Überlegenheit und dem Bewusstsein, dass durch das Beispiel der Aufrichtigkeit „der Schalk in uns selbst bloßgestellt wird“.19

3. B LOSSSTELLEN , B ESCHÄMEN Kant geht es hier offenbar um eine ganz eigentümliche Form der Bloßstellung, die nicht moralisch bedenklich, sondern sogar erwünscht ist, weil sie uns gleichsam von außen zur Aufrichtigkeit zwingt. Wo die Verstellung zur Gewohnheit geworden ist, bedeutet die Entlarvung der Unaufrichtigkeit den ersten Schritt zur Besserung. Dabei bietet die Scham des Bloßgestellten das wichtigste Mittel, um eine stärkere Neigung zur Wahrhaftigkeit zu fördern. In seiner Vorlesung über Pädagogik bemerkt Kant, wo man bei einem Kind den „Hang zum Lügen“ feststellt, sei „der Ort, von der Scham Gebrauch zu machen“.20 Bemerkenswert ist, dass diese moralische Aufwertung des Bloßstellens und Beschämens an exponierter Stelle in Schillers dichtungstheoretische Überlegungen einfließt. Als Beleg seien nur die ersten Sätze seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung zitiert: „Es gibt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften, sowie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohltut, auch nicht weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das Gegenteil stattfinden), sondern bloß weil sie Natur ist, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfahrt dieses, wenn er im Freien wandelt, wenn er auf dem Lande lebt oder sich bei den Denkmälern der alten Zeiten verweilet, kurz, wenn er in künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem Anblick der einfältigen Natur überrascht wird. Dieses nicht selten zum Bedürfnis erhöhte Interesse ist es, was vielen unsrer Liebhabereien für Blumen und Tiere, für einfache Gärten, für Spaziergänge, für das Land und seine Bewohner, für manche Produkte des fernen Altertums u. dgl. zum

19 Ebd. 20 Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Werkausgabe, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977, Bd. XII, S. 691-761, hier: S. 744.

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Grund liegt; vorausgesetzt, daß weder Affektation noch sonst ein zufälliges Interesse dabei im Spiele sei. Diese Art des Interesses an der Natur findet aber nur unter zwei Bedingungen statt. Fürs erste ist es durchaus nötig, daß der Gegenstand, der uns dasselbe einflößt, Natur sei oder doch von uns dafür gehalten werde; zweitens, daß er (in weitester Bedeutung des Worts) naiv sei; d.h. daß die Natur mit der Kunst im Kontraste stehe und sie beschäme. Sobald das letzte zu dem ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven.“21

Das ist eine ausgesprochen aggressive Bestimmung des Naiven, die nicht die Offenherzigkeit des Unverdorbenen betont, sondern dessen beschämende Wirkung auf das Verdorbene. Schiller konstatiert nicht nur, dass die Naivität, wie sie uns „in Kindern“ oder „in den Sitten des Landvolks“ entgegentritt, in einem deutlichen Kontrast zur „Kunst“ steht, er erwägt nicht nur, dass die potentiell immer auf Verstellung gründende Kunst von der Natur beschämt werden könnte, sondern er definiert das Naive geradezu als das Beschämende: Sobald die Natur die Kunst beschämt – „und nicht eher“ – wird sie zum Naiven. Schillers Begriff der Naivität kann in dieser Hinsicht geradezu als Paradigma bürgerlicher Tugendvorstellungen betrachtet werden, die so rückhaltlos am ideal der Aufrichtigkeit orientiert sind, dass sie Beschämung als Mittel der Erziehung und Bloßstellung als Mittel der Kritik propagieren. Genau an diesem Punkt zeigt Kleists kühler Blick auf die Konfliktlinie zwischen aristokratischen und bürgerlichen Verhaltenskodizes seine diagnostischen Stärken. Er analysiert nicht nur die höfische Verstellungskunst, sondern auch die bürgerliche Bloßstellungskunst als kommunikativen Kriegstechniken, deren Gewaltpotential durch schönen Schein oder tugendhafte Absichten nur schwach verdeckt wird. Auf Seiten der bürgerlichen Bloßstellungskunst kommen dabei immer wieder Erzieher und Examinatoren zum Einsatz, deren Versuche, von der Scham Gebrauch zu machen, in einer handfesten Blamage enden.

21 Schiller, „Über naive und sentimentalische Dichtung“, S. 706.

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4. E RZIEHUNGSMASSNAHMEN Wenn Anmut und Grazie das Thema des Gesprächs über das Marionettentheater sind, dann liegt es nahe, die Erzählung vom Verlust der Grazie in der so genannten Dornauszieher-Episode als Zentrum des Textes anzusehen. Diese Erzählung ist sehr bekannt, sie sei hier aber noch einmal im Zusammenhang zitiert, um die nachfolgende Analyse von umfangreichen Zitaten zu entlasten: „Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und nur ganz von fern ließen sich, von der Gunst der Frauen herbeigerufen, die ersten Spuren von Eitelkeit erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte.“ (II 343)

Ruft man sich Rousseaus Schilderung des noch unschuldigen Zöglings in Erinnerung, so steht der „junge Mann“ dieser Erzählung gerade auf der Schwelle zwischen jugendlicher Unschuld und den Gefahren des Erwachsenenalters. Er ist 16, steckt also tief in der heute so genannten Pubertät, die schon der Émile als eine besonders kritische Periode der Erziehung kennzeichnet.22 Mit Blick auf die jeder Anmut innewohnende Naivität könnte man sagen: Er steht zwischen dem Kind, das uns beschämt, weil es „ohne Bedenken naiv“ ist und dem Erwachsenen, der die Naivität verloren hat und selbst zur Scham neigt. Die eingangs zitierte Passage des Émile über die

22 Vgl. den Beginn des vierten Buches des Émile, wo es heißt, das „Murren der entstehenden Leidenschaften“ stelle den Erzieher vor neue Herausforderungen und nötige ihn, „die Methode zu ändern“ (S. 256 und 261).

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„natürliche Einfalt“ des Zöglings sieht gerade in der Anfälligkeit für Verlegenheit und Scham das erste Anzeichen des Erwachsenwerdens. Rousseau beendet seine kurze Schilderung des Zöglings wie folgt: „Solange er fortfährt, mir sein Herz so frei zu öffnen und mir mit Vergnügen all das zu sagen, was er empfindet, habe ich nichts zu befürchten. Wenn er aber scheuer, zurückhaltender wird, wenn ich in seinen Reden die erste Verlegenheit der Scham wahrnehme, so entwickelt sich der Naturtrieb schon, so ist kein Augenblick mehr zu verlieren; und wenn ich nicht eile, ihn aufzuklären, wird er bald wider meinen Willen aufgeklärt werden.“23

Lautete Rousseaus Botschaft für die Erziehung des Kindes, dass man es aus Erfahrung lernen und möglichst vieles tun lassen müsse, so ändert sich die Lage mit dem Eintritt der Pubertät dramatisch: Der Erzieher kann nun nicht mehr umhin, selber etwas zu tun, er muss sogar „eilen“, etwas zu tun, damit nicht andere – vorzugsweise Frauen – die Kontrolle über den Knaben an sich reißen. Eine ähnliche Hektik legt auch Kleists Erzieher an den Tag. Angesichts des selbstverliebten jungen Mannes befällt ihn ganz offenbar das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Das Ergebnis ist eine geradezu lehrbuchhafte Demonstration erzieherischer Orientierungslosigkeit. Der Erzähler versucht es mit einer pädagogischen Maßnahme, die man nicht einmal als misslungen bezeichnen kann, weil er selber nicht weiß, was er eigentlich erreichen will. Er bemerkt an seinem Zögling die „Spuren von Eitelkeit“, die er, ganz im Sinne Rousseaus, auf die „Gunst der Frauen“ zurückführt, und er hält es offenbar für geboten, die selbstzufriedene Versunkenheit des Jungen in der Betrachtung der eigenen Pose zu unterbrechen, indem er lachend bemerkt, „er sähe wohl Geister!“ Die erwähnte Unsicherheit des Erziehers liegt nicht nur in der schnellen Bemerkung, mit der er den Jüngling aus seiner Pose reißt, sondern auch und vor allem in der Vagheit der Gründe, die er nachträglich für sein Verhalten sucht. „Sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen“ – der Erzähler ist sich nicht einmal sicher, ob er seinen Schützling testen oder ob er seinen Charakter stärken wollte. Das ist ein Musterbeispiel erzieherischer Unentschiedenheit, das sich nicht nur auf die Angemessenheit erzieherischer

23 Rousseau, Émile, S. 414.

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Maßnahmen, sondern, weit grundsätzlicher, auf die Unterscheidung zwischen Erziehen und Prüfen erstreckt. Fest steht nur das Ergebnis der Maßnahme, die den Knaben „erröten“ und seine anfängliche Selbstsicherheit verlieren lässt: „Er errötete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehen lassen, mißglückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten, er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst er war außerstande dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen – was sag ich? die Bewegungen, die er machte, hatten ein so komisches Element, daß ich Mühe hatte, das Gelächter zurückzuhalten“ (II 343 f.).

5. A LLERNEUESTER E RZIEHUNGSPLAN Eine der konsequentesten Darstellungen von Kleists Skepsis gegen die Wirksamkeit erzieherischer Maßnahmen findet sich in einem Text, der im Oktober und November 1810 – nur wenige Wochen vor dem Gespräch über das Marionettentheater – in den Berliner Abendblättern erschien. Der Text mit dem ironischen Titel Allerneuester Erziehungsplan ist als Zusendung eines fiktiven „Philosophen“ an die Redaktion der Abendblätter getarnt und läuft, grob gesagt, auf den Vorschlag hinaus, den menschlichen Widerspruchsgeist zu nutzen, um durch schlechte Beispiele und Unterweisung in den unterschiedlichsten Lastern zur Besserung der Jugend beizutragen. Ich widerstehe der Versuchung, Kleists Erziehungsvorschläge und ihre anthropologische Begründung im Einzelnen nachzuerzählen. Der Philosoph stützt sich auf die Beobachtung, dass wir dazu neigen, auf eine Übertreibung („Er ist dick wie eine Tonne!“) mit einer Gegenübertreibung zu antworten („Er ist dünn wie ein Stock!“) und er unterfüttert seine Beispiele mit fragwürdigen Parallelen zur Elektrizitätslehre. Streckenweise liest sich der Text wie ein Boulevardstück in Prosa. Eine Ehefrau, die ihren Liebhaber erwartet und sicher gehen will, dass ihr Mann, wie üblich, in die Kneipe verschwindet, bekommt den Rat: Schling die Arme um ihn, küss ihn sanft und schlag ihm einen romantischen Abend zu zweit vor, etc. – Aus derlei Erwägungen entwickelt Kleist dann den Vorschlag, eine „gegensätzische Schule“ oder, deutlicher, eine „Schule der Tugend durch Laster“ zu gründen, in der die moralische Widerstandskraft der Zöglinge durch Unterweisung in „Religionsspötterei“, „Bigotterie“, „Unreinlichkeit“, „Unordnung“,

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„Streitsucht“, „Verleumdung“, „Faulheit“, „Völlerei“ und noch einer Reihe weiterer Untugenden herausgefordert werden soll (II 334). Ich zitiere eine längere Passage im Zusammenhang: „Wie vielen Einschränkungen ist der Satz unterworfen: daß schlechte Gesellschaften gute Sitten verderben; da doch schon Männer, wie Basedow und Campe, die doch sonst, in ihrem Erziehungshandwerk, wenig gegensätzisch verfuhren, angeraten haben, jungen Leuten zuweilen den Anblick böser Beispiele zu verschaffen, um sie von dem Laster abzuschrecken. Und wahrlich, wenn man die gute Gesellschaft, mit der schlechten, in Hinsicht auf das Vermögen, die Sitte zu entwickeln, vergleicht, so weiß man nicht, für welche man sich entscheiden soll, da, in der guten, die Sitte nur nachgeahmt werden kann, in der schlechten hingegen, durch eine eigentümliche Kraft des Herzens erfunden werden muss. Ein Taugenichts mag, in tausend Fällen, ein junges Gemüt, durch sein Beispiel, verführen, sich auf Seiten des Lasters hinüber zu stellen; tausend andere Fälle aber gibt es, wo es, in natürlicher Reaktion, das Polarverhältnis gegen dasselbe annimmt, und dem Laster, zum Kampf gerüstet, gegenüber tritt.“ (II 332)

Kleist übersetzt noch die skeptische Trope der Isosthenie – des Gleichgewichts der Gründe – in ein ironisches „tausend zu tausend“, mit dem empirisch abzählbare Fälle gegeneinander aufgewogen werden. Das darf aber nicht über den Ernst seines Anliegens hinwegtäuschen, das er an die pädagogische Prominenz seiner Zeit adressiert.24 Die eigentliche Pointe des Allerneuesten Erziehungsplans ist offensichtlich nicht die anekdotisch ausgeschmückte Mechanik des Widerspruchs, sondern die strikt und folgerichtig entwickelte Unmöglichkeit, die Wirkungen erzieherischer Maßnahmen vorauszusehen. Gegen tausend Fälle, in denen ein schlechtes Beispiel die Jugend zur Nachahmung verführt, stehen tausend andere, in denen es sie zur Gegenwehr herausfordert; und steht man vor der Wahl, welche Form von Beispielen man verwenden soll, „so weiß man nicht, für welche man sich entscheiden soll“. Das ist die zentrale Einsicht des Textes. Erziehung will Wirkungen auf einem Gebiet erzielen, auf dem jegliche Wirkung unvorhersehbar ist.

24 Der Text nennt Pestalozzi, Zeller, Campe und Basedow (II 332, 335).

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6. D IE D IALEKTIK

DER

B LOSSSTELLUNG

Wenn die Wirkung erzieherischer Maßnahmen unvorhersehbar ist, dann bleibt von der Bloßstellung in erzieherischer Absicht nur die Bloßstellung. Im Falle der Dornauszieher-Episode heißt das: Der Erzieher kann im Nachhinein selber nicht mehr so genau sagen, warum er den Jungen in Verlegenheit gebracht hat, er hatte aber das Gefühl es tun zu müssen. Einziges Ergebnis der Maßnahme sind ungelenke Versuche des Jungen, seine Pose wieder einzunehmen und mühevoll unterdrücktes Lachen auf Seiten des Erziehers. Das ist eigentlich kein Ergebnis, auf das man stolz sein kann. Dennoch wird erstaunlich selten bemerkt, dass hier einer mit dem Gestus des gebildeten Bürgers eine Geschichte erzählt, in der er alles falsch macht. Der Erzieher berichtet ganz offenherzig davon, wie er seinen Zögling blamierte und stellt damit sich selber bloß. Einen ähnlichen Fall sich selbst demontierender Bloßstellungskunst beschreibt Kleist am Ende seiner Abhandlung Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In diesem Fall ist es nicht der Erzieher, sondern der akademische Examinator, der sich berechtigt und verpflichtet fühlt, die „Blößen“ des Kandidaten zu Tage zu fördern. Natürlich formuliert Kleist in diesem Zusammenhang auch die zeittypische Kritik an den stupiden Abfrageprüfungen, die am besten besteht, wer seinen Stoff bloß „auswendig gelernt“ hat. Seine eigentliche Aufmerksamkeit gilt aber der „Unanständigkeit des ganzen Verfahrens“, das dem Prüfer erlaubt, ohne jedes „Zartgefühl“ zu verfahren, während der Prüfling letztlich bereit sein muss, nicht nur Kenntnisse, sondern seine „Seele“ vor ihm auszubreiten. Den einzigen Trost für den Prüfling sieht Kleist in einem strategischen Kalkül, nach dem es nicht unwahrscheinlich ist, dass das ganze Verfahren für der Examinator „schmachvoller“ ausgeht als für den Kandidaten: „Was übrigens solchen jungen Leuten, auch selbst den unwissendsten noch, in den meisten Fällen ein gutes Zeugnis verschafft, ist der Umstand, daß die Gemüter der Examinatoren, wenn die Prüfung öffentlich geschieht, selbst zu sehr befangen sind, um ein freies Urteil fällen zu können. Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens: man würde sich schon schämen, von jemanden, daß er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger, seine Seele: sondern ihr eigener Verstand muß hier eine gefährliche Musterung passieren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen gehen können,

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ohne sich Blößen, schmachvoller vielleicht, als der, eben von der Universität kommende, Jüngling, gegeben zu haben, den sie examinierten.“ (II 324)

Diese Figur eines bürgerlichen Bildungsbeauftragten, der mit dem Versuch, von der Scham Gebrauch zu machen, sich selber blamiert, variiert Kleist offenkundig auch in seinem Gespräch über das Marionettentheater. Das lässt sich mit Blick auf den Text der Dornauszieher-Episode nur vermuten – der Gesprächsverlauf vor der Erzählung und die Reaktion des Tanzmeisters machen es aber überdeutlich.

7. D IE D YNAMIK

GEGENSEITIGER

B ESCHÄMUNG

Zu den Lektüren, die schon früh den Gesprächscharakter von Kleists Text ernst nahmen gehört Beda Allemanns Aufsatz über „Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch über das Marionettentheater“. Allemann betont nicht nur, „welch grundsätzliche Bedeutung die Gesprächsform für den Argumentationsstil dieses Kleistischen Diskurses hat“, sondern auch, dass diese Form, „zumal bei Kleist“, „jede mögliche Form und Zahl von Zwischen- und Hintergedanken“ transportieren kann.25 Das trifft sich mit den Ergebnissen jüngerer Untersuchungen, die denselben Sachverhalt als Wiederaneignung aristokratischer Verstellungskunst deuten. Im ersten Teil des Gesprächs entwickelt der Tanzmeister die bekannte These, dass eine gut konstruierte Marionette jeden menschlichen Tänzer an Anmut übertreffen kann, weil sie keine „Ziererei“ kennt (II 341). Dabei ist er sich deutlich bewusst, wie schwer es seinem Gegenüber fallen muss, seinen sonderbaren Ausführungen über mechanische Anmut zu folgen, und er äußert auch die Befürchtung, der Erzähler werde einige Einzelheiten seiner Erläuterungen „nicht glauben“ (II 341). Allemann hat offenkundig Recht, wenn er bemerkt, dass die beiden Gesprächspartner von Anfang an „nicht mit offenen Karten spielen“.26 Letztlich ist von keiner der vorgetragenen Theorien und Anekdoten klar angebbar, ob sie ernst oder im Scherz geäußert werden. Zudem deutet die Gestik und Mimik der Gesprächspartner stark auf ein gegenseitiges

25 Beda Allemann, „Sinn und Unsinn von Kleists Gespräch ‚Über das Marionettentheater‘“, in: Kleist Jahrbuch 1981/82, S. 50-65, hier: S. 53. 26 Ebd.

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Versteckspiel hin. Das Eingeständnis des Tanzmeisters, seine Ausführungen seien vielleicht unglaubwürdig, reagiert auf die offenkundige Verlegenheit des Erzählers, der „den Blick schweigend zur Erde“ schlägt; wenig später sieht er selber „ein wenig betreten“ zur Erde (II 341). Allemann geht davon aus, dass man hier „den altmodischen Begriff der Scham“ gebrauchen sollte.27 Dem ist zuzustimmen, wenn Scham nicht nur als ein existentielles Gefühl, sondern ebenso als Mittel der Gesprächsführung verstanden wird. Die Gesprächspartner „geraten“ nicht nur in Verlegenheit, sondern versuchen einander gezielt in Verlegenheit zu setzen oder den Vorstoß des Gegners zu parieren. Das wird vor allem an der Gelenkstelle des Gesprächs deutlich, die von den Ausführungen über die Anmut der Marionette zu der allgemeineren Frage nach der „menschlichen Bildung“ übergeht: „Ich sagte, daß, so geschickt er auch die Sache seiner Paradoxe führe, er mich doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers. Er versetzte, daß es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen. Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander griffen. Ich erstaunte immer mehr, und wußte nicht, was ich zu so sonderbaren Behauptungen sagen sollte. Es scheine, versetzte er, indem er eine Prise Tabak nahm, daß ich das dritte Kapitel vom ersten Buch Moses nicht mit Aufmerksamkeit gelesen; und wer diese erste Periode aller menschlichen Bildung nicht kennt, mit dem könne man nicht füglich über die folgenden, um wie viel weniger über die letzte, sprechen.“ (II 342 f.)

Die vier Absätze dieser kurzen Passage lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Der Erzähler erklärt, dass er die Theorie des Tänzers über mechanische Anmut niemals glauben werde. 2. Der Tänzer wiederholt seine „sonderbare Behauptung“ und versieht sie mit einem nicht weniger sonderbaren Hinweis auf die „ringförmige Welt“.

27 Ebd., S. 57.

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3. Der Erzähler ist sprachlos. 4. Der Tänzer äußert die Vermutung, dass der Erzähler nicht gebildet genug ist, um überhaupt weiter mitreden zu können. Entscheidend für den weiteren Verlauf des Gesprächs ist dabei das letzte Manöver des Tänzers. Er ist sich bewusst, dass seine Theorie auf tönernen Füßen steht, bemerkt aber die Verlegenheit seines Gegenübers und nutzt sie, um in die Offensive zu gehen: Er spielt die Karte des belesenen Bildungsbürgers und spricht dem Erzähler kurzerhand die Befähigung ab, auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Ginge es ihm um die Sache, so genügte ein trockener Hinweis auf das dritte Kapitel des ersten Buchs Mose. Tatsächlich bemerkt er aber besorgt, sein Gegenüber habe das Kapitel wohl „nicht mit Aufmerksamkeit gelesen“ und folgert, man könne „nicht füglich“ mit ihm über die Sache sprechen. Wo eine gezielte Unverschämtheit mit so heuchlerischer Besorgtheit vorgetragen wird, wäre es sicher legitim – und geboten –, sein Gegenüber stehen zu lassen und zu gehen. Kleists Erzähler zeigt aber keinerlei Regung in diese Richtung. Er entpuppt sich als Streber, der beflissen zu beweisen sucht, dass er durchaus weiß, wovon hier die Rede ist. Die Unterwürfigkeit, mit der er sich dabei auf die Meister-Schüler-Inszenierung des Gegenübers einlässt und darum wirbt, weiter mitreden zu dürfen, wird manchen Leser unangenehm berühren: „Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnung, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden“ (II 343). Kleist zeigt kühl, wie die Dynamik der Bloßstellung Fahrt aufnimmt. Der Erzähler versucht mit der Dornauszieher-Geschichte zu zeigen, dass er dem Gespräch mit dem Tänzer gewachsen ist; dabei ist er so bemüht, den Faden nicht abreißen zu lassen, dass ihm nicht auffällt, wie schlecht er in der eigenen Erzählung dasteht. Um der Beschämung zu entgehen, erzählt er eine Geschichte, in der er seinen Schützling beschämt und sich selbst als Erzieher bloßstellt, der nicht weiß, was er tut. Der Tänzer antwortet darauf „freundlich“ mit einer anderen Geschichte, deren Stellung in der Entwicklung seines Gedankens angeblich „leicht“ zu begreifen ist, die sich aber so

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nachhaltig wie kaum eine andere jedem Deutungsversuch entzogen hat: die berüchtigte Geschichte vom fechtenden Bären.

8. M ÜNCHHAUSEN Ich möchte den zahlreichen Deutungen dieser Geschichte keine weitere hinzufügen, sondern nur eine kurze Vermutung formulieren, weshalb Kleist den Tänzer diese Geschichte erzählen lässt. Diese Vermutung besagt, dass in der Bären-Episode die Dynamik gegenseitiger Bloßstellung kumuliert (und kollabiert). Der Tänzer hat durchschaut, dass der Erzähler seine Geschichte nur vorbringt, um sein Gegenüber für sich einzunehmen, dass er sie zu diesem Zweck vielleicht sogar erfunden hat – und er pariert die Finte mit einer Geschichte über einen Bären, der jede Finte pariert, als ob er in der Seele seines Gegners lesen könnte (II 344 f.). Das Bild des Bären ist so vielfältig interpretierbar, dass sich die Plausibilität dieser Vermutung letztlich nur aus dem Gesprächsverlauf begründen lässt. Einen wichtigen Hinweis liefert noch einmal Allemann, indem er bemerkt, die Geschichte des Tänzers erinnere, durch ihren livländischen Schauplatz und durch die Figur des Bären, „an eine Münchhauseniade“.28 Diese Assoziation ist naheliegend, zumal Kleist die Gattung der Lügengeschichte nicht fremd war. Unter seinen Publikationen in den Berliner Abendblättern finden sich nicht nur das Gespräch Über das Marionettentheater und der Allerneueste Erziehungsplan, sondern auch eine Anekdotensammlung mit dem Titel Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeit, in der ein alter Offizier Geschichten im Stile Münchhausens erzählt. In einer der Anekdoten marschiert ein Soldat, nachdem ihn ein „Schuß mitten durch die Brust“ getroffen hat, weiter „stramm“ in Reih und Glied, weil ihm die Kugel einmal „zwischen Ribbe und Haut“ um den ganzen Leib „herumgeglitscht“ und hinten ohne weiteren Schaden anzurichten wieder ausgetreten ist (II 278); in einer anderen wird ein Soldat durch eine Explosion „samt Fahne und Gepäck“ von einem Flussufer zum anderen geschleudert „ohne daß ihm das mindeste auf dieser Reise zugestoßen“ wäre (II 280). Dabei fällt auf, dass Kleist den erzählenden Offizier mit derselben charakteristi-

28 Allemann, „Sinn und Unsinn“, S. 58.

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schen Geste auftreten lässt, mit der auch der Schauspieler im Gespräch über das Marionettentheater das gegenseitige Geschichtenerzählen einleitet: „‚Das war die erste Geschichte‘, sagte der Offizier, indem er eine Prise Tabak nahm, und schwieg.“ (II 279) „Es scheine, versetzte er, indem er eine Prise Tabak nahm, daß ich das dritte Kapitel vom ersten Buch Moses nicht mit Aufmerksamkeit gelesen […]“ (II 343).

Es spricht also einiges dafür, dass der Tänzer bewusst eine Lügengeschichte erzählt; und es ist weiterhin wahrscheinlich, dass er das tut, um die Geschichte des Erzählers damit ihrerseits als Lügengeschichte zu entlarven. Das entspräche zumindest der Strategie, die der englische Herausgeber der Münchhausenerzählung dem berühmten Freiherrn zuschreibt. Die allgemeine Akzeptanz moralisch motivierter Bloßstellung war im 18. Jahrhundert offenbar so groß, dass man auch offenkundige Lügengeschichten mit der Absicht rechtfertigen konnte, Lügner „blankzustellen“. Glaubt man dem englischen Herausgeber, so ließ sich der Baron, wenn ihm eine offensichtliche Lüge aufgetischt wurde, „niemals auf Widerlegungen ein“, sondern erzählte „irgendein Geschichtchen“, in dem er „die Kunst zu lügen“ konsequent auf die Spitze trieb, um die Gesellschaft der Aufschneider „aus ihrem Schlupfwinkel hervorzukitzeln und blankzustellen“.29 Diese Behauptung ist natürlich ein eher zweifelhafter Versuch, die Geschichten des Freiherrn mit einer moralischen Intention auszustatten; die Lügengeschichten fungieren, so die Worte des Herausgebers, als „Lügenstrafer“.30

29 Gottfried August Bürger, Wunderbare Reisen zu Wasser und Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, nach der Ausgabe von 1788 mit einem Anhang älterer Lügendichtungen herausgegeben von Irene Ruttmann, Stuttgart 2000, S. 5. Bei dem „englischen Herausgeber“ handelt es sich um den in London lebenden Rudolf Erich Raspe, der auf deutschsprachige Anekdotensammlungen zurückgriff; Bürgers deutsche Übersetzung ist also letztlich eine Rückübersetzung aus dem Englischen (vgl. das Nachwort der Herausgeberin, ebd. S. 158 f.). 30 Ebd., S. 5. Auch Bürger hat Zweifel angesichts dieser hochgestochenen Zielsetzung und stellt in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe die Gegenfrage, ob der Zweck des Buches nicht schon erfüllt sei, wenn es, „auf eine unschuldige Art lachen macht“ (ebd., S. 7).

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9. K EINE

STRAFENDE

S ATYRE 31

Wenn sich die vorgeschlagene Lektüre des Gesprächsverlaufs halten lässt, dann zeigt Kleist zwar, wie sich der Erzähler blamiert, um der Blamage zu entgehen und wie sich der Tänzer mit seiner Münchhauseniade als Lügenstrafer betätigt, vermeidet es aber zugleich konsequent, sich selber strafend, entlarvend oder bloßstellend zu seinen Figuren zu verhalten. Darin liegt der – minimale – ethische Impuls von Kleists skeptischen Analysen. Er demonstriert nicht nur, wie die gut gemeinte Forderung nach Aufrichtigkeit in eine fatale Dynamik gegenseitiger Beschämung und Bestrafung umschlagen kann, sondern enthält sich zugleich selber aller Möglichkeiten, die die von Schiller so genannte „strafende Satyre“ bietet.32 Die strafende Satyre verlangt einen gesicherten Standort, von dem aus sie die heute gern so genannten sozialen Pathologien geißeln kann. Zielscheibe von Kleists Skepsis sind aber nicht nur verschiedene „Positionen“ des zeitgenössischen Denkens, es ist auch und vor allem ein literarisches Genre, das eine gesicherte Position in Anspruch nimmt, um moralische Missstände und soziale Pathologien strafend zur Schau zu stellen.

31 Für die Aufforderung, diesen ethischen Zug von Kleists schriftstellerischer Strategie deutlicher herauszustellen, danke ich Jan Müller. 32 Vgl. Schiller, „Über naive und sentimentalische Dichtung“, S. 741. Nach Schiller ist die strafende Satyre eine Form der sentimentalischen Dichtung, die, anders als die naive, über ihren Gegenstand „reflektiert“ und daher unvermeidlich in einen Gegensatz zwischen Idee und Wirklichkeit gerät. Aus dieser Spannung resultiert ein Idealismus der eher groben Sorte, der feststellt, dass die Wirklichkeit nicht dem Ideal entspricht. Auf dieser Grundlage bleibt es dann dem Temperament oder den moralischen Überzeugungen des Schriftstellers überlassen, ob seine „Zuneigung“ zum Ideal oder seine „Abneigung“ gegen die Wirklichkeit das Übergewicht erhält. Entscheidet er sich, das Ideal als einen Gegenstand der Zuneigung zu behandeln, hat er die Wahl zwischen der Elegie, die das Ideal als verlorenes und der Idylle, die es als wirkliches vorstellt. Widmet er sich hingegen dem „Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale“, der die Wirklichkeit zu einem Gegenstand der Abneigung macht, so kann er sich der „scherzhaften“ oder der „strafenden Satyre“ bedienen. Die letztere, Missstände aufdeckende und Verfehlungen strafende Form nennt Schiller auch „pathetische Satyre“ (ebd., S. 739-741).

176 | A NDREAS G ELHARD

In diese Richtung weist letztlich schon Binders These, Kleist wehre sich gegen die Vormacht der idealistischen Kunst- und Tugendvorstellungen „durch Ironie“: „Nicht durch die handfeste Ironie der Bloßstellung, die einen eigenen und gesicherten Standort voraussetzte, sondern durch eine sehr versteckte Ironie, die zwar die Positionen ihres Zeitalters bezieht, aber zugleich erkennen läßt, daß sie ihre Tragfähigkeit bezweifelt.“33 Nimmt man Binders Überlegung ernst, so heißt das: Kleist untergräbt, zersetzt und zerstört zwar die Versatzstücke des bürgerlich-aufrichtigen Diskurses, zu dem er kein Zutrauen fassen kann, er enthält sich dabei aber weitgehend derjenigen Techniken des Bloßstellens, Entlarvens und Strafens, die er als einen wichtigen Bestandteil dieses Diskurses erkennt. Wenn man von so etwas wie Kleists Ethik sprechen kann, dann ist es eine Ethik der Enthaltung, wie sie schon aus einer von Kants Randbemerkungen zu seiner Schrift über das Schöne und Erhabene spricht: „Die Satyre bessert niemals daher wenn ich auch die / Talente dazu hätte so würde ich mich ihrer nicht bedienen.“34

33 Binder, „Ironischer Idealismus“, S. 311. 34 Immanuel Kant, Bemerkungen in den ‚Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‘, neu herausgegeben und kommentiert von Marie Rischmüller, Hamburg 1991, S. 81. Auch das Pathos dieses abschließenden Zitats bleibt nicht ohne ironische Brechung, da Kant nur wenig später eine strafende Satyre verfasst hat: die Träume eines Geistersehers.

„vielleicht tun wir am Ende recht“ Über ein rechtsphilosophisches Leitmotiv Heinrich von Kleists

J AN M ÜLLER

Heinrich von Kleists Prosastück „Über das Marionettentheater“ beginnt mit einem Verwirrspiel: Wo der Titel tradierten Gattungskonventionen gemäß einen Traktat oder eine Abhandlung „Über das Marionettentheater“ verspricht, wird ein Gespräch nicht einmal als scheinbar neutraler (letztlich dramatischer) Dialog dargestellt, sondern von einem der Gesprächsteilnehmer berichtet. Diese Inszenierung als bezeugter Bericht provoziert die Frage nach der Zuverlässigkeit des Zeugen. Wer sich zur Beglaubigung einer berichteten Sachlage auf einen Zeugen beruft, der entledigt sich nicht der Anforderung, die Angemessenheit seines Berichts zu beurteilen; er verschiebt nur, indem er den Bericht als Zeugnis versteht, die Last von der Sache auf den Zeugen. Die Figur des Zeugen ist ambivalent: Einerseits soll sie die Angemessenheit eines Berichts unmittelbar beglaubigen; und andererseits kann man das von ihr nur erhoffen, wenn man anerkennt, dass ein Zeuge prinzipiell fallibel ist. Relevant ist bei der Beurteilung des Zeugnisses nicht, ob der Zeuge ein Zeuge ist (dies festzustellen geht seiner Beurteilung als Zeuge voraus), sondern ob er ein guter oder ein schlechter – ein unzuverlässiger, voreingenommener usw. – Zeuge ist. Das Prosastück „Über das Marionettentheater“ inszeniert dieses Problem der Zeugenschaft. Das beginnt mit der ein- und ausleitenden Realitätsfiktion. Der Text hebt an mit der Mitteilung: „Als ich den Winter 1801 in

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M... zubrachte, traf ich daselbst [...] den Herrn C. an“; unterzeichnet ist er mit dem Kürzel „H. v. K.“ (KW II, 338 u. 345)1. Die Kleist-Forschung hat diese Angaben zu überprüfen versucht: Könnte Kleist sich im Winter 1801 in einer Stadt mit Oper aufgehalten haben, deren erster Tänzer ein „Herr C...“ gewesen sein könnte (Mainz bietet sich an – aber da war Kleist erst 1803)? Solches Nachdenken verdankt sich der Hoffnung, Erzählerfigur und Autorperson ließen sich einander so annähern, dass die Reden der Erzählerfigur zur Erhellung kleistischer Überzeugungen nützen. Der Text „Über das Marionettentheater“ könnte dann direkten Aufschluss über Kleists Verhältnis zu theoretischen Debatten seiner Zeit geben, etwa der Ästhetik oder Dichtungstheorie; auf seine „Poetologie“, also die Weise, in der er selbst höherstufig über sein Dichten Auskunft gibt. Eine solche Eindeutigkeitserwartung wird indes schon durch die Unmöglichkeit enttäuscht, den Zeugen des Berichts zu identifizieren. Ob die Signatur „H. v. K.“ „Text“ oder „Paratext“ ist2, ob sie zum abgedruckten Bericht gehört wie die Unterschrift unter einem Zeugenprotokoll, oder die Signatur des den Abdruck verantwortenden Redakteurs der „Berliner Abendblätter“ ist, lässt sich dem „Text“ nicht entnehmen – die Grenzen des Textes sind ja gerade das, was in Frage steht.3 Kaum weniger als die Identität des Zeugen ist seine Qualität problematisch: Was ist von einem Zeugen zu halten, der, nach der Mitteilung der verblüffenden Bärengeschichte (abermals treu durch Angabe eines Gewährsmanns, des „livländischen Edelmanns v. G...“ (KW II, 344) beglaubigt) gefragt: „Glauben Sie diese Geschichte?“, nach eigenem Bekunden „mit freudigem Beifall“ ausruft: „Vollkommen! [...] jedwedem Fremden

1

Ich zitiere Kleists Schriften und Briefe nach der von Helmut Sembdner besorgten zweibändigen Ausgabe (1984), verzichte aber darauf, alle Texte im einzelnen nachzuweisen – sie werden im Kontext jedenfalls genannt. Auf Kleists Werke wird mit der Sigle „KW“ verwiesen; die römische Ziffer gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an.

2

Vgl. Genette (1987).

3

Allenfalls könnte man auf Rückschlüsse aus dem Druckkontext hoffen. Man findet leider in den „Berliner Abendblättern“ sowohl Texte von Kleist, die gar nicht unterzeichnet sind, als auch unter Pseudonym veröffentlichte Texte – jedenfalls kein Muster, das letztlich erklären würde, welche Funktion das Autorkürzel unter dem Marionettentheater-Text erfüllt.

„ VIELLEICHT TUN WIR AM E NDE RECHT “ | 179

[...]: um wie viel mehr Ihnen!“ (KW II, 345) Gutgläubigkeit und mangelndes Urteilsvermögen machen den Erzähler unzuverlässig. Mit dem Zeugen aber wird das Bezeugte fragwürdig. Wenn der Text also eine Abhandlung ist – warum wird die Geltung der verhandelten Sachen überhaupt an die Glaubwürdigkeit von Zeugen geknüpft? Wenn der Text die Erzählung eines Streitgesprächs ist – sind die Gegenstände des Streits dann mehr als das beiläufige Thema? Diese Alternative ist bestimmt vom Bemühen, Kleists Text möglichst eindeutig als Gattungsexemplar – „philosophische“ Abhandlung oder „literarische“ Erzählung – zu klassifizieren. Kleist unterläuft dieses Bemühen. Die dafür verantwortliche ironische Haltung verdankt sich allerdings nicht skeptischen, sondern normativen Erwägungen (1): Sie ist ein Modus des praktischen Umgangs mit Dilemmata, die bei Kleist unter dem Titel des Rechts verhandelt werden (2). Unter diesem Titel arbeitet Kleist sich an einer Spannung in der Begründung von Normativität ab: Die Spannung zwischen der Unbedingtheit und Unhintergehbarkeit ihrer faktisch wirklichen Geltungsansprüche, und der Notwendigkeit und zugleich dem notwendigen Ungenügen ihrer individuellen und subjektiven Anerkennung. Kleists Erzählungen und Dramen führen diese Spannung aus der Teilnehmerperspektive betroffener Subjekte vor (3). Wenn das ein wiederkehrendes Organisationsprinzip kleistischer Stoffe ist, dann ist schließlich das Gespräch „Über das Marionettentheater“ die ironisch abbrechende Inszenierung des Versuchs, sich der Zumutung des Rechts unangemessen, nämlich bloß theoretisch, zu entledigen (4).

1. K LEISTS I RONIE : S KEPSIS

ODER

P RAXIS ?

Wie sollte man feststellen, ob „Über das Marionettentheater“ als Abhandlung oder als Erzählung zu lesen ist? „Literarische“ Texte unterscheiden sich von „philosophischen“ scheinbar in ihren „Eigenschaften“ (ihren sprachlichen Mitteln). Die Unterscheidung typischer sprachlicher Mittel schafft nun zwar, stabilisiert durch geistes- und gattungsgeschichtliche Konventionen und Rekonstruktionen, eine erste Orientierung. Bei genauerer Betrachtung erweist sie sich im Einzelfall aber stets als prekär.4 Das ist

4

Das ist die Erfahrung, die Jürgen Habermas’ vorschnelle Invektive gegen die „Einebnung des Gattungsunterschieds“ motivierte; vgl. Habermas (1985, 219ff.)

180 | J AN M ÜLLER

kein Zufall, noch weniger Resultat unscharfer oder unklarer Begriffsbildung. Die Ausdrücke „literarisch“ und „philosophisch“ fungieren nicht attributiv, sondern adverbial – sie bezeichnen nicht die individuierenden Eigenschaften von Sachen disjunkter Gegenstandsklassen, sondern zeigen Perspektiven an, die man (produzierend und rezipierend) auf Mitteilungen und Texte einnehmen kann. „Philosophisches“ Sprechen bemüht sich üblicherweise, seine „literarischen“ Aspekte so gut wie möglich zu kontrollieren und der Leserin transparent zu machen. Das ist pragmatisch auch völlig angemessen: Üblicherweise geht es in philosophischen Diskursen und Texten weniger darum, wie, und mehr darum, was behauptet und begründet wird, und es gilt als eine philosophische Tugend, gleichsam durch die verwendete Sprachform direkt auf die behandelte Sache zu blicken. Dieses Ideal völliger Transparenz, restloser Vernachlässigbarkeit, ist jedoch zweischneidig: Was völlig transparent ist, ist zwar unsichtbar, darum aber nicht unwirksam. Philosophisches Sprechen ist in einer Zwickmühle: Seinem Anspruch nach muss es einerseits seine „literarischen“ (figurativen, narrativen, metaphorischen) Aspekte vergessen machen – und darf sie andererseits gerade nicht vergessen, will es nicht von ihren Konsequenzen heimgesucht werden. „Philosophische“ Texte fordern von der Philosophierenden, diesem Vergessen reflexiv nachzuspüren. „Literarische“ Texte fordern von der Philosophin dagegen, weder deren „philosophische“ Aspekte historistisch zur Autorideologie herabzustufen,5 noch umgekehrt ihre „literarischen“ Aspekte als bloß randständige Verzierung einer klaren „philosophischen“ These beiseite zu lassen.6

und Habermas (1988). Besonnener und im ganzen, denke ich, richtig wird diese logisch-grammatische Vagheit gattungstheoretischer Sortierversuche von Jacques Derrida in seinem Essay über das „Gesetz der Gattung“ vorgeführt (Derrida 1979); ihm folge ich in diesem Abschnitt. 5

Weil über die Güte und Angemessenheit der fraglichen Auffassung damit noch nichts gesagt wäre.

6

Beide Verhaltensweisen legen sich deshalb so umstandslos nahe, weil sie sich aus Entwicklungen speisen: Der „denkerischen“ Arbeitsteilung, der Entstehung einer (im ideologiehistorischen Sinn verstandenen) „bürgerlichen“ Literaturund Kunstvorstellung, die den als „Literatur“ angesprochenen Texten bestimmte (nicht zuletzt politische) Leistungen zusprach, sowie die disziplinäre und institu-

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Kleists „Über das Marionettentheater“ provoziert diese Zwickmühle für seine philosophierende Leserin. Liest sie den Text, berechtigt durch seinen Titel, als eine „philosophische“ Abhandlung und beurteilt sie dabei die Geltung investierter Voraussetzungen und die Abfolge von Argumenten, dann muss sie die Pragmatik des Gesprächs vernachlässigen – die Spitzen und Sticheleien der Streitenden,7 ihre Zerstreuungen und Themenwechsel („Bei dieser Gelegenheit“...).8 Fokussiert die Leserin umgekehrt die „literarischen“ Aspekte des Textes: den Erzähler, die Pragmatik und Dramaturgie der erzählten Diskussion, dann vernachlässigt sie die Orientierung, die der Titel gibt. Deutungen, die in Kleists Text eine im weitesten Sinn „theoretische“ Problemlage verhandelt finden, wirken dann überinterpretierend: Dass Philosophinnen und Philosophen im „Marionettentheater“ das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung, oder Schillers Ästhetik, oder Thesen der Psychologie und der Moral verhandelt finden, liegt daran, dass sie den Text eben lediglich als Antwort auf solche theoretischen Fragen lesen. Angemessen wäre eine Deutung von „Über das Marionettentheater“, die beide Perspektiven vermittelt. Die „dekonstruktive“ Interpretation bean-

tionelle Herausbildung des Philosophierens als akademischer „Wissenschaft“; und beide Verhaltensweisen finden sich scheinbar dadurch bestätigt, dass die genannten Entwicklungen sich in typischen Textsorten widerspiegeln. 7

Vgl. die malizöse Bemerkung, der Gesprächspartner habe „nicht mit Aufmerksamkeit gelesen“, oder die grobe Abqualifizierung seiner Gesprächskompetenz: „wer diese erste Periode aller menschlichen Bildung nicht kennt, mit dem könne man nicht füglich über die folgenden, um wie viel weniger die letzte, sprechen“ (KW II, 343).

8

Solche Lesarten sind freilich auch literaturwissenschaftlich verbreitet, weil sie erlauben, wenigstens im Ansatz geistesgeschichtlich verortbare Thesen oder Behauptungen zu identifizieren. So nennt etwa der Kleist-Editor Helmut Sembdner den Text in seinem Kommentar einen „Aufsatz“, und trifft damit eine nicht unschuldige Lektüreentscheidung: „Der erste, der den überragenden Wert dieses Aufsatzes erkannte, war anscheinend E. T. A. Hoffmann“; Sembdner orientiert sich dabei an einem Brief Hoffmanns aus dem Jahr 1812, in dem auch dieser von einem „Aufsatz über Marionetten-Theater“ spricht, bemerkt dabei aber nicht, dass Hoffmann die Rede von der Textsorte „Aufsatz“ sehr viel allgemeiner gebraucht haben dürfte (KW II, 930).

182 | J AN M ÜLLER

sprucht das. Sie argumentiert, dass der „theoretische“ (begriffliche, philosophische) Gehalt weniger auf der Ebene des Erzählten zu suchen sei, als in der Inszenierung (im Darstellen und Erzählen) des Behauptens.9 So meint

9

Ich entwickle diese Überlegung im Folgenden im Gespräch mit den Ausführung von Andreas Gelhard (vgl. seinen Beitrag in diesem Band) und konzentriert auf die Pragmatik eines solchen Inszenierens. Mich interessiert, was philosophisch geschieht, wenn man so spricht. Darin unterscheidet sich diese Deutung von der klassischen Interpretation durch Paul de Man. De Man sieht das Verhältnis der beiden kleistischen Gesprächspartner und ihrer Geschichten höherstufig als eine Allegorie des Verhältnisses von Zeichen und Bezeichnetem, oder – aktiv gewendet – von Lesen und Schreiben. Der Meistertänzer oder tänzelnde Fechter C... ist für de Man ein Indiz dafür, dass der Text ein „hermeneutische[s] Ballett“ als „Schauspiel der Verausgabung“ inszeniere, dessen Gehalt die generelle These repräsentiert: „entweder wir beherrschen den Text, dann können, aber brauchen wir nicht zu täuschen; oder wir beherrschen den Text nicht und können dann auch nicht wissen, ob wir täuschen oder nicht“ (de Man 1979, 224). Eine solche Deutung ist möglich, sagt aber weniger etwas darüber, wie man den Text „Über das Marionettentheater“ deuten sollte, als dass sie ihn für die Illustration einer gewissen generelle Art und Weise, über Lesen und Schreiben nachzudenken, nutzt. So erhellend dieses Vorgehen ist, so sehr leidet seine Plausibilität darunter, dass der philosophische Zweck, zu dem das „Marionettentheater“ eine illustrierende Funktion erfüllt, dem Text letztlich beiläufig ist. („Letztlich“ beiläufig ist er ihm deshalb, weil der Text hinreichend plausible und relevante Anknüpfungspunkte bieten muss. De Mans Deutung knüpft an die Verwendung des Ausdrucks „lesen“ im Kleist-Text an, und würde ohne diese Verbindung nicht bestehen können. Ob Kleists Verwendungen des Ausdrucks „lesen“ für de Mans Frage aber relevant sind, ergibt sich nicht aus Kleists Text.) De Mans Deutung ist nicht dekonstruktiv genug: Beansprucht er, dass die philosophische Überlegung, zu der ihm die Lektüre von Kleists Text Anlass gibt, sich nicht nur beiläufig ergibt, dann liest er das Prosastück nur als – zugegeben: kunstvoll verrätseltes – Thesenstück, dessen philosophischer Gehalt sich in der generellen Behauptung wiedergeben lässt, die ich zitierte. Beansprucht er das nicht, dann deutet er Kleists Text auch nicht, sondern nutzt ihn lediglich für die Illustration seiner von Kleist ganz unabhängigen Überlegungen, wobei die Angemessenheit der Illustration sich an seinen Überlegungen bemisst und nicht am Kleisttext. Im ersten Fall fiele auch de Man auf die durch den Titel nahegelegte Privilegierung

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Wolfgang Binder, es sei letztlich zufällig, dass im Text gerade ein zeitgenössisch verbreitetes Drei-Stadien-Modell besprochen werde.10 Ebenso gleichgültig sei deshalb auch, ob Kleist sich während seiner so genannten „Kant-Krise“ plötzlich und schmerzlich von solchen Modellen abgewendet habe, oder ob er den Anspruch und die Reichweite solcher Modelle schlicht missverstanden habe.11 Jedenfalls dürfe man das Auftauchen dieser Modelle nicht als Bekenntnis des Autors verstehen; und weil sich dem erzählten Gespräch auch höherstufig keine kohärente sachliche Behauptung entnehmen lasse, schließt Binder: „Der idealistische Dreischritt: Sein - Entfremdung - Sichfinden beruht auf der Kontingenz eines verwirrenden Faktums, das so unbezogen wie entbehrlich ist. Kleist macht, was seinem Zeitalter als Horizont der Daseinsdeutung gilt, zum Instrument der poetischen Durchführung, und diese Umdeutung eines Credo in ein technisches Mittel, das nicht mehr verbindlich, sondern nur brauchbar ist, kann wohl ironisch genannt werden. [...] Kleist verwendet die idealistischen Kategorien und Schemata [...] als Gestaltungsmittel [...], aber er glaubt nicht mehr an die Sinndeutung des Da-

des „philosophischen“ Aspekts herein; im zweiten Fall würde dieser Aspekt zugunsten herangetragener kunstphilosophischer Annahmen über das Wirken literarischer Texte vernachlässigt. Dass de Man dieses Dilemma nicht berührt, liegt daran, dass ihm das strukturalistische (und damit letztlich empiristische) Modell des Textes als eines irgendwie selbsttätigen, sinngenerierenden Dings unfraglich ist. Er nivelliert die Spannung von literarischem und philosophischem Aspekt, indem er Texte überhaupt als Instanzen von Funktionserfüllungen betrachtet, Funktionen, deren Charakterisierung er kunst- und ästhetiktheoretischen Diskussionen entnimmt. 10 Vgl. Binder (1976). 11 Wolfgang Binder beurteilt die Bedeutung der „Kantkrise“ insgesamt skeptisch: Es sei bemerkenswert, dass sie vor allem eine Legitimationsfunktion für Kleists Bemühen erfülle, sich den Ansprüchen seiner Umwelt zu entziehen – das Antreten eines festen Amtes, die Heirat mit Wilhelmine von Zenge und die damit verbundene Einschränkung seiner Freizügigkeit tauchen wenigstens in den Briefen aus dem Frühjahr 1801 stets in der Nachbarschaft von Schilderungen der durch die Lektüre „kantischer Philosophie“ erlittenen Zerrüttungen nebst Angabe des probaten Gegenmittels – reisen! – auf; vgl. Binder 1976, 319.

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seins, die sie bisher mit sich führten. [...] Dieses Verfügen [...] ist die Ironie des jeder Setzung mitgegebenen Offenlassens.“ (Binder 1976, 326 u. 328)

Andreas Gelhard hat diese Ironie im Anschluss an Binder sehr treffend mit der pyrrhonischen Isosthenie und der daraus folgenden Urteilsenthaltung in Verbindung gebracht. Kleist nimmt demnach im Text „Über das Marionettentheater“ eine bestimmte praktische Haltung zu den verwendeten theoretischen Modellen ein: Er weiß, wie sie funktionieren, lehnt aber ab, sich von ihnen betreffen zu lassen. Statt dessen führt er vor, wie die Wahrheitseffekte der verhandelten Ideologeme im und durch den erzählten Streit eintreten – wie etwa unbegründete Behauptungen bloß durch ihr Bezeugtsein genauso glaubhaft und plausibel werden, wie die durch den Erzähler in zweiter Ordnung bezeugte Behauptung, es gebe solche Zeugen.12 Man kann diese ironische Haltung auf wenigstens zwei Weisen verstehen. Die erste, von Wolfgang Binder vorgeschlagene, sieht in den skeptischen oder relativistischen Konsequenzen, die sie nahelegt, gerade den clou von Kleists Vorgehen. Die zweite, mit Andreas Gelhard anvisierte Deutung sieht Kleists Verdienst umgekehrt darin, eine ironische Haltung vorzuführen, die nicht im Skeptizismus endet. – Binder sieht in Kleists Text ungefähr folgendes epistemologisches Dilemma:13 ‚Es ist kein sicheres Urteil mit Wahrheitsanspruch möglich; also enthalte ich mich des Urteils‘. Ergänzt man das Enthymem um die zweite Prämisse: ‚Nur wahre Urteile sind erstrebenswert‘, dann ist entweder die erste Prämisse wahr, die zweite

12 Vgl. Foucault (1973). Eine analoge Deutung unternimmt Vogl (2004), der sich dabei auf Kleists „Lustspiel“ „Der zerbrochene Krug“ bezieht. – Vogls Deutung scheint mir deshalb unzureichend, weil er in seiner Lesart Foucaults die juristische Form lediglich als Ausdruck wahrheits- und biopolitischer Praktiken liest. Die Gerichtsverhandlung wird ihm so zu einer Inszenierung der Konstitution des „Falls“ aus einer Machtpraktik. Das scheint mir zu kurz zu greifen – denn die wesentliche Differenz des Kleist’schen Anti-Ödipus Adam zum Ödipus des Sophokles ist die Form des Rechts und seiner Anwendung; vgl. Vogl 2004, 116f., und direkt dazu Menke (2010a) und (2011, v.a. Kap. II,3). 13 Ich supponiere das als Erläuterung von Binders These, Kleists Ironie bestehe eben in der Verwendung idealistischer Theoreme „aus kritischer Distanz“ (Binder 1976, 328), die von der epistemologischen „Kant-Krise“ wenigstens motiviert sei.

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falsch, und die Folgerung beliebig; oder die zweite Prämisse ist wahr – dann gilt die erste nicht unbedingt, und das Dilemma besteht bloß faktisch. Typischerweise folgt aus einer solchen Lage eine quietistische oder voluntaristische Haltung. Präzise dieses Dilemma bespricht Kleists Zeitgenosse Hegel als zwei Gestalten eines „unglücklichen Bewußtseins“ – als Versuche, ein vernünftiges Selbstverhältnis zu konzipieren, die daran scheitern, dass man die skandalöse Inkonsistenz beider Haltungen nicht als Anzeige unzureichender gedanklicher Anstrengung bei der Modellierung, sondern als Merkmal des Modellierten missversteht. Ein so verstandenes Selbstverhältnis zwingt in der Tat zu einer ‚ironischen Haltung‘ – allerdings einer Ironie, die gegen „das Band [...], in welchem die Menschen und alles ihr Tun und Schicksal sich zusammenhält und Bestehen hat“ – gegen die Erfahrung unseres gemeinsamen Lebens – ein „Prinzip“ setzt, „welches die subjektive Überzeugung zur Regel macht“: „Ihr nehmt ein Gesetz in der Tat und ehrlicherweise als an und für sich seiend, Ich bin auch dabei und darin, aber auch noch weiter als Ihr, ich bin auch darüber hinaus und kann es so oder so machen. Nicht die Sache ist das Vortreffliche, sondern Ich bin der Vortreffliche und bin der Meister über das Gesetz und die Sache, der damit, als mit seinem Belieben, nur spielt und [darin ...] nur mich genieße“ (Hegel 1821, S. 275 u. 279).

Der (so verstandene) Ironiker enthält sich des Urteils, weil er sich von dem, worüber er urteilen könnte, für nicht betreffbar hält. Er übersieht dabei aber erstens, dass er immer schon betroffen ist – dass die Sache einen Anspruch an ihn stellt, ermöglicht ihm ja erst, sich ihm gegenüber indifferent zu geben. Er übersieht zweitens, dass sein scheinbares Nicht-Verhalten eben genau den Anspruch bestätigt, sich (irgendwie) verhalten zu müssen. Binders Kleist ist ein solcher inkonsistenter Ironiker. Andreas Gelhards Deutung der kleistischen Ironie unterscheidet sich davon durch den Hinweis, dass Kleists Urteilsenthaltung praktisch orientiert ist. Ihr geht es nicht um die theoretische Vermutung, dass Erkenntnis, Wissen, sicheres Urteilen prinzipiell unmöglich sein könnten (das wäre ein bloß „akademischer Skeptizismus“14), sondern darum, dass wir erstens im-

14 Diese Formulierung borge ich von Volker Schürmann; vgl. dessen vorzügliche Rekonstruktion in Schürmann 2002, 51ff.

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mer schon handeln, wissen und urteilen, zweitens aber die Beurteilung dieser Tätigkeiten ex post und aus reflexiver Perspektive prinzipiell problematisch ist. Angesichts des Zeugnisses des kleistischen Erzählers muss die Leserin urteilen, ob er zuverlässig ist. Darin spricht sich kein epistemologisches Dilemma aus, sondern eine normative Frage: Nicht, ob er ein Zeuge ist (sein Zeugnis liegt vor, stellt einen Anspruch an uns), sondern inwiefern er ein mehr oder weniger guter Zeuge ist. Der Bericht ist in der Welt, und wir müssen urteilend mit ihm umgehen, ohne dabei auf generelle Wissensbestände zurückgreifen zu können, die diesen praktischen Umgang infallibel machen könnten.15 Kleist enthält sich nicht einfach eines theoretischen Urteils; er enthält sich des Urteils, ohne dass damit der Anspruch des Urteilen-Müssens, die unmittelbare Betroffenheit von der Sache, verschwände. Seine Ironie dient dazu, das Verhältnis der theoretischen Unentscheidbarkeit und des praktischen Nicht-Nicht-Entscheidenkönnens zu artikulieren, ohne einfach höherstufig Unentscheidbarkeit zu proklamieren (= sich dafür zu entscheiden). Gegenstand dieser Ironie sind nicht theoretische Behauptungen, sondern der normativ urteilende Umgang mit Handlungen und ihren Konsequenzen. In der Tat diskutiert Kleist diese Sphäre des normativen Urteilens über unsere Praxis sowohl in literarischer Form wie in brieflichen Äußerungen in einem solchen Ausmaß, dass man von einem Leitmotiv oder Prinzip seines Dichtens und Denkens sprechen darf. Der Titel für diese Sphäre des normativen Urteilens aber ist das Recht.

2. D IE U NHINTERGEHBARKEIT

DES

„R ECHTS “

Auf den Stellenwert der Behandlung des Rechts im Werk Kleists – als einem der deutschen „Dichterjuristen“ am Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert16 – wurde vielfach hingewiesen. Tatsächlich finden sich in nahezu

15 Wir gehen mit ihm charakteristischerweise nicht so um, dass wir uns des Urteils enthalten: „Darüber kann man nichts sagen“ (a) ist eine ebenso unbefriedigende Antwort wie „Das interessiert mich nicht“, oder: „das deutet jeder nach seiner Fasson“ (b) – denn ad (a): Worüber „kann man nichts sagen“? Und ad (b): Wieso sprechen wir dann miteinander? 16 Vgl. etwa Weitin (2005, 146) und Großmann (2005); als Forschungsüberblick zum Thema generell Hamacher (2003).

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allen Erzählungen und Dramen Bezüge zum Recht, zur Rechtspraxis17 und zur zeitgenössischen Rechtsdiskussion.18 Für dieses Interesse am Recht gibt es einen begrifflichen Grund, der sich biographisch im Zusammenhang mit Kleists mutmaßlicher epistemologischer Desillusionierung herausbildet. Nach einem knappen halben Jahr wird nämlich die „Kant-Krise“ von einer veritablen „Rechtskrise“19 überholt. Die „Kant-Krise“ bestand in der empfindlichen Verletzung, die die Vorstellung, theoretische Bildung führe unmittelbar zur sittlichen Erhöhung, durch die „kantische Philosophie“ (vulgo: einen zunächst epistemologischen Skeptizismus) erlitten hatte. Die Einsicht, dass ‚unbedingtes‘ materiales Wissen faktisch nicht zu haben (weil begrifflich sinnlos) ist, nötigte – in der Formulierung Ernst Cassirers – zum „Verzicht auf jene unmittelbare Einheit des Theoretischen und Praktischen, die bisher die naive Voraussetzung all seines Denkens gebildet hatte. [...] [N]un war für ihn die moralische Begreiflichkeit der Welt überhaupt aufgehoben“ (Cassirer 1924, 182f.). So belehrt Kleist die bemerkenswert geduldige Wilhelmine von Zenge am 15. August 1801 brieflich mit Verweis auf den ersten rousseau’schen Diskurs, „der Mensch“ sei von einem „moralische[n] Bedürfnis [...] zu den Wissenschaften“ getrieben (KW II, 682). Nur „Wissenschaft“ als Titel vernünftiger Aufklärung ermögliche, sein Handeln an guten Gründen zu messen. Nun, da diese „Wissenschaft“ als Titel vernünftiger Aufklärung durch die „Kant-Krise“ grundsätzlich fraglich geworden sei, sei Sittlichkeit nur mehr im Stand der „Unschuld“ (ebd.) vorstell-

17 So weist Theodore Ziolkowski (1987, 41 u. 47ff.) auf die Spuren des Allgemeinen Landrechts als erstem deutschsprachigen modernen Rechtscodex in Kleists „Zerbrochenem Krug“ hin. 18 Diese Bezüge werden durchaus kontrovers beurteilt; während Ziolkowski die Kant-Krise als Anlass einer verstärkten Zuwendung zum positiven Recht (vermutlich in Form des ALR; Ziolkowski geht so weit zu sagen, Kleist habe – vor allem im „Kohlhaas“ – alle vorkommenden Rechtsfragen per analogiam zum ALR erschlossen) unterstreicht, hebt Regina Ogorek (1988) eher die Verwandtschaft zu den Überlegungen Adam Müllers hervor, die zur Debatte NaturrechtRechtspositivismus durchaus quer stehen. Soweit ich sehe, erlauben solche Rückschlüsse zwar die Erläuterung einzelner Motive durch Verweis auf ihre mutmaßlichen Quellen, tragen aber zur Erläuterung ihrer Funktion in Kleists Werken nicht unmittelbar bei. 19 Zum Ausdruck vgl. Ziolkowski (1987).

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bar. Die Rede von „Unschuld“ artikuliert die Idee einer unmittelbaren tugendhaften Sittlichkeit20 – freilich eine paradoxe, selbst durch ein Dilemma motivierte Idee: Wenn unser absichtsvolles Handeln immer auf seine Güte befragbar ist (These 1), das Wissen darum, wie diese Frage beantwortet werden könnte, diese prinzipielle Befragbarkeit jedoch nicht zum Verschwinden bringt (These 2), dann sind beide Thesen nur vereinbar im Licht der Idee eines unmittelbar sittlichen Handelns, eines Handelns also, bei dem nicht nach der Güte des Handelns als Handeln gefragt werden muss, weil es unmittelbar sittlich ist. Kleist operiert hier mit derselben Idee eines unmittelbaren, mithin unausgesprochenen und unaussprechlichen Einklangs des individuellen Handelns mit den Normen der Gemeinschaft, die Hegel unter dem Titel einer „antiken Sittlichkeit“ diskutiert. Und wie bei diesem die antike Sittlichkeit sich darin, dass sie thematisiert werden kann, als schon überschritten und prekär erweist – als Ideal gemeinschaftlicher Sittlichkeit, mit dem das individuelle Handeln gerade nicht übereinstimmt21 –, so begreift Kleist den Stand der „Unschuld“ als einen, der überhaupt nur deshalb verständlich und thematisierbar ist, weil er verlassen wurde. Das vernünftige Subjekt kann sich als eines begreifen, das unmittelbar unter Normen steht; das gehört zum Begriff eines vernünftigen Selbstverhältnisses. Es kann von seinem Unter-Normen-Stehen aber nur wissen, insofern es sich zu diesen normativen Ansprüchen anerkennend oder ablehnend22 verhalten kann, mithin die Unmittelbarkeit des Anspruchs bezweifeln kann. Dieses Zweifelnkönnen an den Normen, unter denen das Subjekt sich wiederfindet und an denen es sich urteilend misst, begründet die grundsätzliche Fraglichkeit der praktischen Geltungsansprüche (die theoretischen Wissensansprüche sind dabei nur eine Variante der praktischen Ansprüche). Die Idee unmittelbarer sittlicher Unschuld macht die praktische Prekarität unseres Urteilens verständ-

20 Vgl. den Beitrag von Christoph Halbig in diesem Band. 21 Kreons Berufung auf die „Gesetze der Väter“ ist verständlich erst von Antigones Zuwiderhandeln her, und umgekehrt ist ihr Zuwiderhandeln als individuelles Handeln nur vom Konflikt mit der (geistlosen) Gemeinschaft her verständlich. Vgl. Hegel 1807, 322 u. v. a. 348f. 22 „Ablehnen“ und „anerkennen“ sind hier freilich keine Gegensätze: Den Anspruch ablehnen heißt, ihn als Anspruch anerkennen und sich dazu ablehnend verhalten – „Ablehnung“ ist ein Modus des Anerkennens.

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lich. Umgekehrt kann man von dieser Idee der Unschuld keine Orientierung erhoffen: Ihre definitionsgemäße Unmittelbarkeit sorgt dafür, dass sie hochgradig ambivalent ist. Das sieht Kleist: „Wenn die Unwissenheit unsre Einfalt, unsre Unschuld und alle Genüsse der friedlichen Natur sichert, so öffnet sie dagegen allen Greueln des Aberglaubens die Tore“ (KW II, 682) – auf ihr lassen sich keine Normen begründen. „Unschuld“ ist attraktiv nur im Lichte unhintergehbarer Schuldverhältnisse, die sich aus der Unsicherheit unserer theoretischen und praktischen Urteilsmaßstäbe ergeben. Kleist zieht aus dieser Einsicht eine verblüffend radikale Folgerung. Wenn „niemand den Zweck seines Daseins [...] kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich und die Seele [...] zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt“, und der Bezug auf göttliche Offenbarung durch kulturellen Pluralismus fragwürdig wurde, weil etwa „[d]ieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, [...] dem Seeländer zu[ruft], ihn zu braten, und mit Andacht ißt er ihn auf“ (KW II, 683) – dann scheint reine Aktivität das einzig positiv Ansprechbare zu sein: Es „liegt eine Pflicht auf den Menschen, etwas Gutes zu tun [...], schlechthin zu tun“ (KW II, 684). Das klingt wie ein Plädoyer für einen theoretischen Voluntarismus.23 Kleists Satz: „so mögen wir denn vielleicht am Ende tun, was wir wollen, wir tun recht“ (KW II, 682), besagt

23 Äußerungen wie diese motivieren Ernst Cassirer zu seiner Engführung Kleists mit Fichtes Subjektphilosophie: „Im Tun allein liegt die Rettung; das Tun aber kann nicht warten, bis das Wissen mit seinen Erwägungen und Bedenken zu Ende gelangt ist. Es muß glauben und wagen; es muß in den Gang der Dinge eingreifen, unbekümmert darum, ob sich die Wirkung und der Erfolg dieses Eingreifens im voraus berechnen läßt“ (Cassirer 1924, 194f.). Cassirer meint, Kleist verzweifle daran, dass Normen, nicht anders als Sachverhalte, nicht mehr erkannt werden könnten; und er meint, Kleist folge Fichtes Lösungsvorschlag, dieses erkenntnistheoretische Problem durch einen argumentativen Ebenenwechsel anzugehen: Wenn auch die Normen des Handelns prinzipiell fraglich seien, so sei doch die reine Aktivität, das reine Tun, unfraglich und tauge zum Grundstein eines epistemologischen, und erst davon abgeleitet auch moralphilosophischen, Begründungsprogramms. – In diesem Essay wird eine entgegengesetzte Deutung vorgeschlagen: Sittliche Normativität ist nichts Fragliches, das erst der begründenden Konstitution bedürfte. Sie ist unfraglich wirklich – nur deshalb ergibt sich das scheinbare Dilemma.

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aber gerade nicht, dass es so etwas wie „Recht“ deshalb, weil es nicht erkenn- und begründbar ist, nicht gebe – weshalb es nur darum gehen könne, überhaupt rege zu sein. Der Satz besagt lediglich, dass die Begründung von „Recht“ als offenbarte absolute Norm (oder als System solcher Normen) prinzipiell problematisch ist, weshalb jedes Handeln unvermeidlich die Frage ermöglicht, ob und wie es eine Norm erfüllt. Die Frage danach, ob ein Handeln z.B. „gut“ ist, lässt sich nur stellen, wenn es im veritablen Sinn gut sein kann; das ist die Idee unmittelbarer Unschuld. Zugleich stellt sich immer schon die Frage, wie das Handeln einer Norm entspricht: Wir tun, nolens volens, wenn wir handeln, mehr oder weniger „recht“, und geben darüber Auskunft mit Bezug auf das System explizit Geltung beanspruchender Normen: das positive Recht. Diese Auskunft freilich bleibt streitbar, weil fallibel und nicht alternativlos – deshalb ist die „seeländische Küche“ so irritierend.

3. „S CHICKSAL “ UND „R ECHTSGEFÜHL “: F IGUREN DER A USTRAGUNG NORMATIVER S PANNUNGEN Kleist arbeitet sich an einer Spannung ab: Der Spannung zwischen der Idee unmittelbarer sittlicher Angemessenheit eines Handelns – seiner unbedingten Gerechtigkeit – und der Fallibilität aller abwägenden Beurteilung eines Handelns – seiner relativen Rechtmäßigkeit. Damit bewegt er sich durchaus im Kontext des mit dem Beginn der Neuzeit einsetzenden „Umbaus des Rechtsbewußtseins für die moderne Gesellschaft“.24 Zuvor begründete die klassische „ius“-Semantik des Rechts die reziproken Verpflichtungs- und Berechtigungsverhältnisse zwischen Menschen durch eine transzendente Idee der Gerechtigkeit: Zwischen Menschen bestehen natürliche Verpflichtungen, die das Recht nur noch benennt. Rechte kommen Menschen speziell, d.h. ad personam zu, weil sie logisch in der Idee der Gerechtigkeit gründen. Das souveräne Recht bildet so unmittelbar die Norm sittlich guten Handelns. Eine solche naturrechtliche Begründung wird, so Luhmann, einerseits von seinen Begründungslasten erdrückt, andererseits von der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft überholt. So kommt es auf drei Ebenen zur Herausbildung der Gestalt subjektiver Rechte. Erstens wird die

24 Vgl. zum Folgenden Luhmann 1981.

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Funktion des Rechts – mit Luhmann: die Herstellung von „Erwartungssicherheit“ – von dem Anspruch entkoppelt, zugleich sittlich gerechtfertigte Normen zu vertreten. „Rechtmäßigkeit“ und „Gerechtigkeit“ werden unterschieden. Zweitens wird der Anspruch auf Recht – das Recht auf Rechte – von singulären, faktischen und symmetrischen Verpflichtungsverhältnissen zwischen speziellen Personen entkoppelt. Subjektive Rechte etablieren erst asymmetrisch Ansprüche gegen „jeden“: „Dass Recht auf (subjektive) Rechte umgestellt wird, heißt, dass Rechte den Verpflichtungen vorher gehen und sie daher hervorbringen“ (Menke 2008, 88). Drittens werden die subjektiven Rechte (gleich, ob absolut oder relativ) auf die Fähigkeit des Rechtssubjekts gegründet, diese Rechte wahrzunehmen und selbst Adressat von Ansprüchen zu sein. Verpflichtungsverhältnisse bestehen nicht natürlich und faktiv, sondern sie bestehen vom Recht her, indem sie mit Verweis auf das Recht geltend gemacht werden. Darin liegt – neben dem Wegfall einer unbedingten, natürlichen Rechtsbasis – die zweite rechtsphilosophische Herausforderung: Auch die aufklärerische Rechtsphilosophie, die in einem emphatischen Begriff subjektiver Freiheit ein argumentatives Äquivalent zur Begründungsstrategie naturrechtlicher Konzepte entwickeln wollte, wird von der Entwicklung des positiven Rechts überholt. Die Entkopplung von „Recht“ und „Gerechtigkeit“ bedeutet, „dass die Freiheit, die das Recht, als verbindliches Gesetz, zu begründen vermag, also die Freiheit der Autonomie, nicht die Freiheit ist, die das Recht, als subjektives Recht, impliziert oder voraussetzt. Denn die Freiheit, die die Träger subjektiver Rechte haben (müssen), ist nicht die Freiheit der Autonomie, sondern individuelle oder private Willkür. Und zwar gilt dies allein aufgrund der Form subjektiver Rechte. Gleichgültig wozu sie da sind und worin sie begründet sind: subjektive Rechte konzipieren (oder ‚adressieren‘) ihre Träger als Individuen mit privater Willkürfreiheit“ (Menke 2008, 89) – nicht als autonome Subjekte.

Dem (positiven) Recht mangelt etwas: Es gewährleistet gerade nicht die Freiheit im Sinn einer sittlich unmittelbar angemessenen Autonomie, für deren Denkbarkeit es doch allein das Modell abgibt. Kleists Dichtungen – seine Erzählungen und Stücke – inszenieren in immer neuem Anlauf Varianten, wie mit diesem Dilemma praktisch umgegangen werden kann. Stets geht es dabei um drei Fragen: (a) Wie ist damit umzugehen, dass rechtes Handeln sein Maß an bloß faktisch geltenden, überkommenen Normen fin-

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den kann – Sittlichkeit mithin wie eine Unterwerfung unter solche Normen erscheint? (b) Wie ist damit umzugehen, dass diese Normen allein dem Anspruch auf „Gerechtigkeit“ genügen können – und zugleich „Rechtmäßigkeit“ von „Gerechtigkeit“ grundsätzlich verschieden scheint? (c) Wie lässt sich im Licht dieser beiden Fragen mit der Idee praktischer Freiheit als Selbstgesetzgebung umgehen – wie lassen sich bloße Unterwerfung unter je schon geltendes Recht einerseits und schiere Souveränität der Selbstlegislatur andererseits vermeiden? Ich entwickle diese Fragen exemplarisch an kleistischen Figuren: (a) Dem Handeln gehen die Normen seiner Beurteilung immer schon voraus. Handeln steht unmittelbar unter Normen; es ist in seiner Form normativ. Das macht die „Setzung“ von Normen zu einem paradoxen Akt: Spricht man eine Norm als Gesetz an, dann wird gesetzt, wovon beansprucht wird, dass es unmittelbar je schon in Geltung war. Zugleich gewinnt die Norm ihren bestimmten Gehalt erst in und durch die Setzung. Jede Setzung ist in gewisser Hinsicht gewalttätig: Sie fordert, man solle anerkennen, dass das Gesetzte unabhängig von seiner Setzung in bestimmter Gestalt immer schon gegolten habe. Diese Anerkennung reicht aber zur Begründung des bestimmten Gehalts des Gesetzten nicht hin. Anerkennen lässt sich, dass eine Norm unmittelbar gegolten habe; dass es gerade diese bestimmte Norm war, wie sie nach ihrer Vermittlung als Gesetztes sichtbar wird, lässt sich nur behaupten. Die unmittelbare sittliche „Unschuld“ taugt nicht zur Begründung von Rechtssetzungen, die mit dem Anspruch auftreten, die unmittelbare Normativität „unschuldiger“ Sittlichkeit explizit zu machen. Wer so argumentiert, verfehlt das, was er unter dem Titel „Unschuld“ in Anspruch nehmen wollte. Umgekehrt ändert die Kritik am Recht, dass seine Geltung unbegründbar und seine Gehalte kontingent seien, nichts an seiner Wirklichkeit. Das ist das Thema der Erzählung „Das Erdbeben von Chili“: Nachdem ein Erdbeben den wegen seiner Beziehung zu einer Schutzbefohlenen verurteilten Protagonisten (kurz, bevor er sich erhängen kann) befreit, trifft er seine – ebenfalls knapp der Hinrichtung entgangene – Geliebte Josephe und das gemeinsame Kind, und sie fliehen vor die Stadt, wo sie – bezeugt dadurch, dass Josephe den hungrigen Säugling anderer Überlebender stillt – „unter einem Granatapfelbaum“ (KW II, 150) Freundschaft mit einer hochstehenden Familie schließen. Die Naturkatastrophe hat, wenigstens punktuell, die Geltung des Rechts zugunsten einer

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unmittelbaren, paradiesischen Tugend ausgesetzt.25 Tim Mehigan meint, diese „idyllische“ Szenerie artikuliere ein rechtsphilosophisches Ideal Kleists: Es ziele auf eine vernünftige Menschengemeinschaft, in der die gesellschaftlichen Standesunterschiede verschwunden seien,26 und Recht und Rechtsprechung sich an „experience, tact and sympathetic impartiality“ der Richterpersönlichkeit orientierten (Mehigan 2010, 168). Kleists Erzählung markiert jedoch deutlich, dass die idyllische Anmutung bloß scheinbar und ausnahmsweise besteht: „Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen“ (KW II, 156) – der Satz behauptet eine Idylle, indem er sie durch explizite Nennung der Stände dementiert. Vollends sichtbar wird der Scheincharakter der Idylle, als die unmittelbare, sich im Figurenverhalten nur ausdrückende Sittlichkeit expliziert und begründet werden soll. Die Rückkehr in die Stadt, in der das Ausnahme-Idyll durch einen Kirchgang beglaubigt werden soll, endet katastrophal: Die Predigt nimmt das rechtsaussetzende Erdbeben als Gottesurteil wieder ins Recht hinein; es kommt zum Aufruhr, in dem ein religiös fanatisierter Mob die Protagonisten lyncht. Ist das unmittelbare Wirken der Sittlichkeit in dieser Geschichte am situativen Konflikt zweier Normen- und Rechtsordnungen dargestellt, so in den „Geschwistern Schroffenstein“ durch das unhintergehbare Bestimmtsein durch ererbtes Recht: Ein Erbvertrag zwischen den beiden Familienstämmen der Schroffensteins, entworfen, um den Fortbestand des Hauses zu sichern, determiniert das Verhältnis aller Akteure zueinander. Auch hier wird die Geltung des Vertrags und der aus ihm folgenden Rechts- und Rachehändel zu Beginn auf eine transzendente Instanz bezogen. Der Racheschwur Ruperts im ersten Akt findet nicht zufällig in der Schlosskapelle statt, wo der Kirchenvogt erläutert: „Ei, Herr, der Erbvertrag gehört zur Sache./ Denn das ist just als sagtest Du, der Apfel/ gehöre nicht zum Sündenfall“ (I, 184ff.).27 In einem Geflecht von archaischen Retributionsgeboten

25 In der Stadt selbst freilich herrscht Ausnahmerecht; es werden „Galgen auf[gerichtet], um der Dieberei Einhalt zu tun“ (KW II, 151). 26 Vgl. Mehigan 2010, 163. 27 Der Gottesmann wird zusätzlich, und nicht eben positiv, dadurch charakterisiert, dass er den situativen Anlass für das Auflodern des Konflikts für ganz unproblematisch hält: das unter Folter erpresste Geständnis eines Untertans von Sylves-

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und Erbrecht töten die verfeindeten Vettern schließlich in einer skurrilen Verwechslungsszene jeweils ihr eigenes Kind (die sich shakespeare’sch trotz der Familienfehde verliebt hatten). Die Begründung der Normen und ihrer motivierenden Wirkung geht unterdessen verloren. Unmittelbar, nachdem Rupert seinen Sohn – den er für Sylvesters Tochter Agnes hält – erstochen hat, wendet er sich zerstreut an seinen Vasallen und bittet um eine Erklärung seiner Tat: „Warum denn tat ichs, Santing? Kann ich es/ Doch gar nicht finden im Gedächtnis“; und Santing antwortet, als würde das den Mord begründen: „Ei,/ Es ist Agnes“ (V/I, 2515ff.). Die Dramenhandlung entfaltet sich mit schrecklicher Folgerichtigkeit, und doch urteilt die unbeteiligte Ursula am Ende: „Wenn ihr euch totschlagt, ist es ein Versehen“ (V/I, 2706). Das Blutbad unter den Schroffensteins ist kein Zufall: Jeder Schritt resultiert aus der Befolgung geltender Normen und Gesetze – und es ist doch ein Versehen, weil die es regierenden Normen grundlos und kontingent sind.28 (b) Dass sich das unmittelbare Gelten der Normen und ihrer Repräsentation, des Rechts, nicht im Rückgriff auf externe Autorität oder eine höherstufige Idee begründen lässt, berechtigt nicht dazu, die Wirklichkeit und Wirksamkeit ihres Geltens auszublenden. Die Entkopplung von Recht und Gerechtigkeit bedeutet nicht, dass beide nichts miteinander zu tun hätten. Sie unterstreicht nur, dass eine substantielle Idee von Gerechtigkeit nicht in der Verfahrensform des positiven Rechts aufgeht, wie umgekehrt die Geltung positiven Rechts, artikulierter Normen sich nicht hinreichend durch den Verweis auf eine solche substantielle Idee begründen lässt. Gerade diese Spannung ist es, die das Recht beständig unter Legitimationsdruck setzt: Die Frage danach, ob und wie das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit faktisch realisiert ist und vernünftig gedacht werden kann, ist Ausdruck der Entkopplung von Recht und Gerechtigkeit, und entfaltet direkt eine aufklärende Wirkung. Sie impliziert die Unterscheidung zwischen der Unmittelbarkeit geltender sittlicher Normen und der Geltung positiver Rechtssätze, eine Unterscheidung, die gerade nicht mehr auf der Begründung des Rechts durch eine Gerechtigkeitsidee beruht, sondern vom Recht her und mit den begrifflichen Mitteln des Rechts vorgenommen wird. Spricht man über eine

ter, er habe auf dessen Befehl Ruperts Sohn, der tatsächlich ertrunken ist, ermordet. 28 Vgl. dazu den Beitrag von Sarah Schmidt in diesem Band.

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unmittelbare, noch nicht thematisierte Sittlichkeit, dann tut man das mit den Mitteln des Rechts-Sprachspiels. Die Formulierung und Reflexion einer Idee der Gerechtigkeit bedient sich der normativen Grammatik des Rechts; der Bezug auf eine solche sittliche Idee (auf eine unmittelbar wirksame Norm) ist kein Bezug auf etwas außerhalb des Rechts, sondern eine Differenzierung im Recht. Deshalb löst der Bezug das Legitimationsproblem faktisch geltenden Rechts nicht, sondern er artikuliert es. Einerseits ist das Recht die Form, in der normative Anerkennungs- und Verpflichtungsverhältnisse zwischen Menschen überhaupt angesprochen werden können; „Recht“ ist eine Gestalt von Sittlichkeit. Andererseits scheitert es daran, weil die unmittelbaren praktischen Verhältnisse unter Menschen in der rechtsförmigen Explikation begrifflich nicht aufgehen. Einerseits taugt der Bezug auf die sittliche Idee kategorial nicht zur Begründung des Rechts; andererseits ist er unverzichtbar, weil er die indisponible Kontingenz des Rechts und seine praktische Unhintergehbarkeit zu thematisieren ermöglicht. Diese Spannung organisiert die Novelle „Michael Kohlhaas“: Kohlhaas, einer der „rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ (KW II, 9), opponiert gegen das ihm vom selbstherrlichen Junker Tronka zugefügte Unrecht, indem er die Rechtmäßigkeit des Rechts, dem er untersteht, bezweifelt. Insofern ist er „ent-setzlich“. Zugleich lässt er als Lösung des Konflikts nur gelten, im Recht und durch das Recht entschädigt zu werden. Das Gespräch mit Luther zeichnet den weiteren Fortgang vor: Kohlhaas habe, sagt Luther (ganz staatskirchenmännisch) „in Verfolg eigenmächtiger Rechtsschlüsse“ (KW II, 45) gehandelt und sich damit aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen.29 Kohlhaas erwidert darauf: Das stimme nur, wenn er Teil der Rechtsgemeinschaft wäre: „Der Krieg, den ich mit der Gemeinheit der Menschen führe, ist eine Missetat, sobald ich aus ihr nicht [...] verstoßen war“ (ebd.); insofern ihm aber „der Schutz der Gesetze versagt“ sei, könne er sich auch nicht aus der Rechtsgemeinschaft ausschließen. Daraus ergibt sich ein catch 22: Die sächsische Regierung akzeptiert – freilich eher aus Angst vor seiner Rebellentruppe – Kohlhaas’ Rechtsanspruch; sie begnadigt ihn unter dem Vorbehalt, dass er „bei dem Tribunal zu Dresden mit seiner Klage, der Rappen wegen“, angenommen wird (KW II, 53). Kohlhaas aber ist seine Zugehörigkeit zur

29 Vgl. dagegen Ziolkowski 1987, 45: nach ALR II 20, §§159ff., sei Kohlhaas etwa durchaus berechtigt zu seinem Feldzug gewesen.

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Rechtsgemeinschaft ganz prinzipiell fragwürdig geworden. Was, so argumentiert er, wenn die Amnestie bloß scheinbar und aus strategischem Kalkül gewährt worden wäre? Um also der Regierung „den Schein der Gerechtigkeit [zu verweigern, JM], während sie in der Tat die Amnestie, die sie ihm angelobt hatte, an ihm brach“ (KW II, 71), bezichtigt er sich der Rädelsführerschaft einer aus seinen Truppen hervorgegangenen Räuberbande. Kohlhaas ist nicht (nur) trotzig: Er sah sich vom Recht ausgeschlossen, und erst die Amnestie macht ihn wieder zum Rechtssubjekt. Würde die Amnestie nun gebrochen, obwohl sein Prozess fortgeführt wird, dann wäre der Rechtsprozess eine Farce – ein Geschenk der Regierung an ihn, der als Inhaftierter eigentlich keinen Prozess führen dürfte. Allein die selbstmörderische Selbstbezichtigung kann sicherstellen, dass Kohlhaas’ Prozess „der Rappen wegen“ keine Farce ist, sondern ihm als Rechtssubjekt zusteht; und sichergestellt ist das genau dann, wenn Kohlhaas zugleich Rechtssubjekt im kapitalstrafbewehrten Landfriedensbruchprozess ist. Erst das Urteil, das Kohlhaas final aus der Rechtsgemeinschaft ausschließt, gibt die Gewähr für seinen Status als Rechtssubjekt. „[H]eut ist der Tag“, sagt der Kurfürst am Ende, „an dem dir dein Recht geschieht“ (KW II, 101) – Restitution seines Eigentums und Enthauptung. Die Tragik der Geschichte liegt darin, dass das Recht, das Kohlhaas geschieht, nicht mehr als ein menschliches, kontingentes positives Recht ist noch sein kann. Die irrwitzige „Zigeunerinnen“-Episode am Ende der Novelle führt noch einmal, und dramaturgisch ziemlich unbeholfen, die Möglichkeit vor, sich auf ein transzendent, nämlich in der Person des absolutistischen Souveräns begründetes Recht zu beziehen. Die unbekannte Prophezeiung über seine Zukunft drängt dort den Kurfürsten dazu, das Recht (freilich zu seinen eigenen Zwecken) rechtskräftig auszusetzen. Würde Kohlhaas ihm das gestatten, dann würde er die Geltung seines Zivilprozesses unterminieren. Gerechtigkeit ist (nicht nur für Kohlhaas) nur in der Form menschlichen Rechts zu haben, weil sich Gerechtigkeit nur in der Form der Rechtmäßigkeit, oder vom Recht her, verstehen lässt. (c) Diese Spannung schließlich hat unmittelbar Konsequenzen für die Form subjektiver Selbstverhältnisse – denn sie zwingt zu einer Revision der Kleist zeitgenössischen Versuche, die Geltung des Rechts über den Begriff subjektiver Freiheit zu begründen. „Autonomie“ als Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung führt zum Dilemma der Selbstunterwerfung. Kant hatte dieses Dilemma, das noch Rousseaus Verständnis von Autonomie charakterisierte,

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umgangen, indem der das „Selbst“ in der Rede von „Selbstgesetzgebung“ nicht mehr auf den Akt der Legislatur bezieht, sondern als Bestimmung des Gesetzes denkt:30 Das Sittengesetz einsehen ist bereits, es sich zu geben, und diese Verpflichtung durch das Sittengesetz ist der Begriff des „Willens überhaupt“ als guter Wille – ist der Begriff der Freiheit. Kleist ringt indes damit, dass die Ausdrücke „Recht“, „Pflicht“ etc. in diesen Charakterisierungen einerseits in engster Verbindung zur Sprache und Praxis des Rechts stehen – das Recht aber andererseits nicht leisten kann, was mit ihm begründet werden soll. Das Recht thematisiert das Rechtssubjekt gerade nicht als autonomes Subjekt, sondern als willkürfreies Individuum; gerade dieser Effekt der modernen Rechtsentwicklung macht die Abkopplung des Rechts von der Idee substantieller Gerechtigkeit als Mangel erfahrbar. Auch Kleist bemerkt, dass „das Recht zu einem bestimmten Wollen und Handeln zu haben, nicht [heißt], in diesem Wollen und Handeln recht zu haben“ (Menke 2008, 90). Entweder funktionieren die Ausdrücke „Gesetz“, „Pflicht“ usf. in der philosophischen Erläuterung der Autonomie ganz anders als ihre Homonyme im Rechtsdiskurs. Der Versuch der Aufklärung, die Geltung des Rechts in der Geltung des Sittengesetzes zu gründen, wäre dann eine metábasis eis allo génos – schlechte, weil unbemerkte Metaphysik. Oder aber: Die Art, sich zu sich als autonomem Subjekt zu verhalten, greift auf die Redemittel des Rechtsdiskurses und ihre logische Grammatik zurück; die Ausdrücke und ihr Gebrauch sind in beiden Redekontexten (prinzipiell) dieselben. Das verlagert die Spannung von Recht und Gerechtigkeit ins Subjekt – ein Subjekt, dass sich nur als Individuum, als Rechtssubjekt, ansprechen kann, und dem das Ungenügen dieser Ansprache in jedem Konflikt von „eigenem Gesetz“ und dem indisponibel schon geltenden positiven Recht sichtbar wird. Beide Perspektiven wären ihm praktisch unangemessen, verstünde man sie exklusiv. Versucht man beide zugleich einzunehmen, ergibt sich eine Spannung, die bei Kleist den Titel „Rechtsgefühl“ trägt. So heißt es über Michael Kohlhaas: „Das Rechtsgefühl [...] machte ihn zum Räuber und zum Mörder“ (KW II, 9). Man hat das so gelesen, als berufe Kohlhaas sich für seine Kritik am positiven Recht auf eine irgendwie unmittelbare, gefühlte Idee der Gerechtigkeit. Das „Rechtsgefühl“ kann aber keine so verstandene Begründungsfunktion für ein alternatives ad per-

30 Hier folge ich Menke 2010b, 678.

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sonam-Recht erfüllen. Es ist kein zweifelsfreies „inwendiges Orakel“, weil Kleist es nicht als unfehlbar begreift und darstellt. Kohlhaas’ „Rechtsgefühl“ zwingt ihn, gerade weil es prekär und nicht abschließend verifizierbar ist, der kurfürstlichen Amnestie zu misstrauen und so selbst seinen Niedergang einzuleiten. In den „Geschwistern Schroffenstein“ beharrt Ruperts Frau, als erste Zweifel an der Schuld Sylvesters auftauchen: „über jedwedes Geständnis geht/ Mein innerstes Gefühl doch“ (II/2, 1617f.) – und täuscht sich.31 Die Berufung auf ein „Rechtsgefühl“ gibt nicht (im Namen der Gerechtigkeit) einen Grund gegen das Recht, sondern zeigt ein Problem im Umgang mit dem Recht an. Das moderne Recht stellt das Recht auf subjektive Rechte – auf Ansprüche und Pflichten – sicher. Damit kann es nicht als „Instrument zur Durchsetzung substanzieller Gerechtigkeitsvorstellungen“ (Menke 2008, 89) dienen – wohl aber zu ihrer Formulierung.

4. „Ü BER DAS M ARIONETTENTHEATER “: V OM S CHEITERN PHILOSOPHISCHER A NTWORTEN AUF PRAKTISCHE F RAGEN Hegel modelliert die Spannung zwischen „Rechtsgefühl“ und unmittelbar geltendem Recht so: Das Recht beansprucht unbedingte Geltung; und ich bin seinem Gesetz unterworfen. Das Gesetz zwingt mich, weil nicht ich es gesetzt habe. Nur ein Gesetz, das ich mir selbst gegeben hätte, würde mich nicht zwingen. Genau das, meint Hegel, ist nicht denkbar: Als Gesetz ist das Gesetz allgemein; es betrifft mich nur als ‚einen von allen‘, als Individuum – nicht als wirkliches Selbstbewusstsein. Das macht die Form des Gesetzes aus. Im unmittelbaren Vollzug des Handelns bleibt das unthematisch; Sittlichkeit, der Vollzug des gemeinschaftlichen Lebens, besteht im situativen Zusammenfallen von Norm und Normgefühl. Weil das Handeln aber subjektives Handeln ist, muss es immer nach Maßgabe der artikulierten Normen – des Rechts – beurteilt werden können; und dabei muss es prinzipiell zum Auseinanderfallen beider Perspektiven kommen können. Was Kleist „Rechtsgefühl“ nennt, behandelt Hegel unter dem Titel „Gewissen“: „Das Gewissen drückt die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußt-

31 Das arbeitet Wolfgang Binder sehr deutlich heraus; vgl. Binder 1976, 323.

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seins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als das Gute weiß, zugleich in der Behauptung, daß, was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist“ (Hegel 1821, 255). Die Anerkennung dessen, was das Gewissen zu wissen meint, bedarf freilich der Formulierung im Recht. Artikuliert man die Norm in dieser Form, dann betrifft sie mich wieder nur so, dass sie mich als Individuum adressiert, mithin den Einspruch des Gewissens gegen solchen Zwang provozieren können muss. Kleist versteht diese Spannung richtig: als praktische, die im wirklichen Tun und Handeln immer aufbricht und eine praktische Vermittlung erzwingt. Im „Prinzen von Homburg“ klingt das, bei aller patriotischen Schrillheit, durch: Der Prinz, der – schuldlos, aber unbedacht – den Befehl des Kurfürsten verletzt, wird in Abwesenheit zum Tod verurteilt („Wer immer auch die Reuterei geführt/ [...] Damit ist aufgebrochen, eigenmächtig/ [...] Der ist des Todes schuldig, das erklär ich,/ Und vor ein Kriegsgericht bestell ich ihn“; II/9, 715), obwohl er sich keiner Schuld bewusst ist.32 Der allzu menschliche Kurfürst begnadigt ihn seiner dem Prinzen zärtlich zugetanen Tochter Natalie zuliebe – aber nur, falls der Prinz unter Eingeständnis seiner Schuld um diese Gnade bitte. Der Prinz steht nun vor einem Dilemma: Dass er unrecht handelte, wie es das Recht sagt, sieht er nicht ein; andererseits ist sein Leben bedroht. „Daß er [der Kurfürst, JM] mir unrecht tat, wies mir bedingt wird,/ Das kann ich ihm nicht schreiben; zwingst du mich,/ Antwort, in dieser Stimmung, ihm zu geben,/ Bei Gott! so setz ich hin, du tust mir recht“ (IV/4, 1356ff.). Nach einer patriotischen Ermannung wird aus Todesangst die Einsicht, dass ein Gnadengesuch die Geltung des Kriegsrechts, und damit die souveräne Autorität des Kurfürsten gefährden würde. Für Homburg geht es um die Integrität seines, allerdings am Absolutismus Preußens geschulten, Gewissens: Das Gnadengesuch relativierte den Rechtsgaranten; die Berufung auf diesen Rechtsgaranten war aber die Grundlage für Homburgs Gewissensurteil: „Mir war der Schatten seines Hauptes heilig“ (III/1, 915). Beharrte Homburg auf seinem Rechtsgefühl, dann dementierte er seine Geltung, und deshalb entscheidet er sich tragisch: „Ich will das heilige Gesetz des Kriegs,/ Das ich verletzt, im Angesicht des Heers,/ Durch einen

32 Immerhin half er die Schlacht gewinnen, nicht verlieren.

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freien Tod verherrlichen!“ (V/7, 1750ff.)33 Tragisch ist das, weil der Konflikt zwischen positivem Recht und unmittelbarem Rechtsgefühl seinen Grund in der antidemokratischen Verfassung des im „Prinzen von Homburg“ geltenden Rechts hat. Der Heroismus des Prinzen ist nicht einfach (wie jeder Heroismus) lächerlich, sondern bitter. Wenn „überhaupt von einem Heldentum hier die Rede sein kann“, so Klaus Lüderssen, „dann davon, daß der Prinz die Demütigung, die man ihm letztlich zuteil werden läßt, akzeptiert“ (Lüderssen 1985, 74). Der Prinz von Homburg ist eine moderne Figur: Seine Modernität besteht in der Erfahrung, dass geltendes Recht und sittliche Selbstwahrnehmung auseinanderfallen können und mit dieser Erfahrung beide Perspektiven nie unproblematisch gewesen sein werden. In der zweiten Anekdote des Gesprächs „Über das Marionettentheater“ behandelt Kleist diese moderne Problemlage am Versuch, eine unmittelbar graziöse, gelungene Bewegung handelnd zu wiederholen. Entgegen verbreiteten Deutungen geht es Kleist dabei nicht darum, „Grazie“ und „Bewusstsein“ gegeneinander auszuspielen.34 Die Differenz von Bewusstheit und Unbewusstheit ergibt sich nur beiläufig, nämlich als Folge der Differenz zwischen unmittelbarem Vollzug und der absichtsvollen Wiederholung, in der „Grazie“ als bezweckter Sachverhalt repräsentiert35 und die Verwirklichung des Zwecks schrittweise mit dem vorgesetzten Zweck ver-

33 Die Tragik beruht hier freilich auf der Idee des im doppelten Souveränkörper gegründeten Rechts. Gnade als Rechtsaussetzung kann im modernen Recht auch komisch inszeniert werden; vgl. zum „Zerbrochenen Krug“ Menke (2010a, 2011); zur ambivalenten Art, in der die Gnade im „Prinzen von Homburg“ gewährt wird, vgl. dagegen Großmann (2005). 34 „Der Verlust der Grazie geht nicht auf Rechnung der Reflexion als solcher, sondern des Versuchs, Grazie willentlich hervorzubringen, d.h. etwas Natürliches künstlich zu erzeugen. [...] Auch der Satz, das Bewußtsein zerstöre die Grazie, ist nicht bewiesen worden, es sei denn, Bewußtsein bedeute weder Wissen noch Sichwissen, sondern Sich-zu-etwas-machen-wollen, das freilich nicht ohne Verlust des ursprünglichen Seins abgeht. Herr C. nennt es das ‚Sich-zieren‘“ (Binder 1976, 313). 35 Die Komik der Sachlage – der Erzähler lacht nicht nur aus Boshaftigkeit – dürfte in der in dieser Formulierung komprimierten Vermischung grundsätzlich verschiedener logischer Grammatiken bestehen.

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glichen wird.36 Nicht beiläufig dagegen ist die Charakterisierung der Grazie als einer unmittelbaren Qualität, die sich situativ – durch Übung oder glücklichen Zufall – einstellen mag. Das Maß ihres Gelingens hat auch die unmittelbare Grazie in der Explikation und Reflexion ihres Misslingens. Grazie wird als Modus eines intentionalen Handelns begriffen: als der Modus, der sich nicht sinnvoll bezwecken lässt – der aber auch nicht einfaches Widerfahrnis ist. Darin gleicht die Grazie dem sittlichen Leben und der Unschuld. „Das Leben selbst“, heißt es in der „Paradoxe von der Überlegung“, „ist ein Kampf mit dem Schicksal“, ein praktischer Umgang mit nichtdisponiblen Widerfahrnissen, in dem die „Überlegung [...] ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat“ finde (KW II, 337).37 Darin steckt ein begrifflicher Hinweis: Es wurde immer schon praktisch, wirklich, situativ etwas getan, wenn über das Handeln (und das Verhältnis von Handeln und Denken) nachgedacht wird, und die Beurteilung des Handelns ist genau deshalb ein unablässiger „Kampf mit dem Schicksal“, weil auch das Urteilen unmittelbar Teil des urteilsbedürftigen Lebens ist. Der Zeuge, der das Gespräch über das Marionettentheater erzählt, versteht das erkenntnistheoretisch. Er meint, das die Spannung zwischen dem Beurteilten und seiner (selbst urteilsbedürftigen, weil Angemessenheit beanspruchenden) Repräsentation im urteilenden Bewusstsein in einen Regress führe. Und er meint, dass dieser Regress erst in einem restlosen Zusammenfallen von Urteilendem und Beurteiltem zu vermeiden sei. Die Idee dieses unmittelbaren Zusammenfallens ist, natürlich, die Idee der Unschuld. Im Gespräch „Über das Marionettentheater“ taucht sie als die Utopie eines „Stands der Unschuld“ auf, in dem durch erneuten Erkenntnisapfelgenuss eine völlige Adäquation von „Bewußtsein“ und „Sein“ (und also „gar kein“ Bewusstsein, KW II, 345) realisiert wäre: „das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt“ (ebd.), in dem der Vollzug des menschlichen Lebens im

36 Diese Problematik zieht sich durch die erzählten Anekdoten: Noch dem fechtenden Tanzmeister fallen Vollzug, unmittelbares Agieren, und Reflexion des Vollzugs auseinander („Ich versuchte, ihn durch Finten zu verführen“ [Hervorh. JM]; KW II, 345). 37 Eine „Paradoxe“ ist das deshalb, weil diese Reflexion als theoretische Unterweisung eines Kindes vorgestellt wird – als Lehrsatz der Art: „Sei immer hübsch spontan!“.

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Ganzen abgeschlossen ist und so Gegenstand unmittelbar gelingender Kontemplation sein kann. Wolfgang Binder hat allerdings auf eine bemerkenswerte Verschiebung im Gespräch hingewiesen: Die Behandlung der Grazie wandle sich, von den Gesprächspartnern unbemerkt, von der Betrachtung „reine[r] Bewegungsanmut, also ein[es] außermoralische[n] Phänomen[s]“, hin zur Rede von Unschuld, d. h. „ein[es] moralische[n], richtiger ein[es] vormoralische[n] [Phänomens]. Aus ihr kann die Schuld und mit ihr der Mensch entstehen, aus Grazie entsteht nichts“ (Binder 1967, 317). Binder folgert aus dieser Beobachtung nichts, sondern illustriert mit ihr nur die These, Kleist spiele unbeteiligt mit Idealismen. Der Wechsel von einer deskriptiven zu einer normativen Grammatik ist jedoch bedeutsam. Denn er funktioniert nur deshalb so diskret, weil wirkliches Tun (auch das tätige Denken und Wissen!) bereits unter Normen steht, deren Erfüllung und deren Angemessenheit Gegenstand praktischen Urteilens sind. Kleists Figuren im „Marionettentheater“-Gespräch missverstehen das. Sie übersehen, dass ihr epistemologischer Regress bloß daraus resultiert, dass sie die prinzipielle Prekarität praktisch-situativer Urteile der erkenntnistheoretischen Modellierung des Beurteilten zuschlagen. Gerade um diese praktische Prekarität aber geht es Kleist; darum, dass Urteilen, auch wenn es unmittelbar („unschuldig“) gelingen können muss, fallibel bleibt. Im Text „Über das Marionettentheater“ macht das die Unzuverlässigkeit des Zeugen handgreiflich; am Text wird es handgreiflich im Zwang, dem Text gerecht werden zu müssen. Die philosophische Interpretin würde dazu die fingierte Perspektive vom „letzten Kapitel der Geschichte der Welt“ her einnehmen. Die Handlungen, Figuren und Reden in Kleists Erzählungen und Dramen sind jedoch Teil der „Geschichte der Welt“. Kleists Texte erzählen aus der Teilnehmerperspektive den Vollzug subjektiven Lebens im Dickicht der sie regierenden Normen. So auch das „Gespräch über das Marionettentheater“. Es führt aber zudem ironisch vor, wie es aussehen würde, wenn man dieses praktische Dickicht bloß theoretisch beschreiben und seine Anforderungen bloß theoretisch zu lösen versuchen wollte. Genau das unternehmen die beiden Gesprächspartner; und der Text führt konsequent vor, was für das Gelingen eines solchen Unterfangens nötig wäre: „Das ist“ – den Text in performativer Aufhebung des reflektierenden Dialogs beschließend – „das letzte Kapitel der Geschichte der [erzählten, JM] Welt“ (KW II, 345). Die Spannung zwischen den normativen Anforderungen, die wir an uns gestellt finden,

„ VIELLEICHT TUN WIR AM E NDE RECHT “ | 203

und der vernünftigen Anerkennung und Ablehnung aus subjektiver Perspektive, würde ‚behoben‘ sein genau dann, wenn keine Praxis mehr wäre. Weil das eine unsinnige Vorstellung ist, bleibt nur „schlechthin zu tun“, und dabei so zu navigieren, dass wir „vielleicht am Ende tun, was wir wollen, wir tun recht“. Das erzählt Kleist.

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Rhythmus und Schwere Existenz- und musikphilosophische Überlegungen zu Kleists Über das Marionettentheater A NDREAS L UCKNER

Kleists Text Über das Marionettentheater enthält viele Bilder, Sentenzen, Metaphern, an denen Lesarten sich wie kristalline Strukturen an Kristallisationskeimen anlagern und wachsen. Es gibt wohl kaum einen Text, an dem dieses Phänomen der Anlagerung von weiteren Texten über eine – in historischen Dimensionen gedacht – doch relativ kurze Rezeptionsgeschichte hinweg sich besser studieren ließe als am Marionettentheater Kleists. Diese änigmatische Schrift – eine Schrift, die ständig auf sich zeigt und dabei sagt: ‚Deute mich!‘ – steht, vielleicht mehr als andere, mit ihren vielfältigen und divergierenden Interpretationen wie in einem gitterartigen Verbund zusammen. Und mittlerweile, nimmt man die Kristallisationspunkte von Kleistens Text und die ihnen angelagerten Textanlagerungen zusammen, ist hier ein Textkristall von beträchtlicher Größe herangewachsen. Diese auf ein paar Berliner Abend-Blätter verteilte Arbeit ist in mehrfacher Hinsicht anstößig für das Denken. Obschon sie selbst kein Stück Philosophie ist – manche meinen ja, hier hätten wir es mit einer versteckten Theorie oder Lehre zu tun – ist sie freilich philosophisch interessant. Wie oft schon ist das Marionettentheater Anstoß für philosophisch-begriffliche Strukturbildung gewesen! Und diese ist durchaus notwendig, wenn man Kleists Schrift nicht nur als mehr oder weniger geistreiches Feuilleton auffassen möchte. Das merkwürdige Textlein lässt sich ja noch nicht einmal eindeutig einer Textsorte zuordnen; so wird es von den Interpreten mal „Aufsatz“, mal „Erzählung“, mal „Gespräch“ genannt – warum nicht auch

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‚Allegorie‘, „Rätselspiel‘, ‚Kunstmythos‘, dies alles trifft irgendwie zu und dann doch wieder nicht. Diese Schrift ist anscheinend nicht tot zu interpretieren, weswegen es auch immer wieder versucht wird. Dieser Text wird oft dahingehend verstanden, dass er sagen wolle, Anmut und Bewusstsein von Anmut schlössen sich aus, weil derjenige, der wüsste, dass er z. B. anmutig spricht, sich bewegt usw. es eben genau im selben Moment nicht mehr sein könnte, weil ein Wissen von sich und seinen Eigenschaften notwendiger Weise eine Distanz zu sich impliziert. Anmut ist aber gerade die Erfahrung einer Selbstkongruenz, die durch das Verhältnis des Bewusstseins notwendigerweise aufgelöst wird. Dies soll nicht bestritten werden; dagegen soll die weiter reichende These bestritten werden, dass für die Erfahrung von so etwas wie Anmut Bewusstsein tout court ausgeschlossen sei. Die Gegenthese ist vielmehr: Um Anmut erfahren zu können ist vielmehr ein Bewusstsein von Schwere notwendig, im physischen wie auch im übertragenen existentiellen Sinne. Nur ist dies freilich nicht das Bewusstsein desjenigen, dem Anmut zugeschrieben wird, sondern das Bewusstsein desjenigen, der Anmut erfährt. Mit anderen Worten: Anmut ist immer die Anmut des Anderen. Wo Schiller noch richtig sagte, dass die Schönheit der Bewegung, wie sie eine Person hervor zu bringen vermag, hinreißend ist, täuschte er sich lediglich darin, durch wen die Anmut erzeugt wird: Sie entsteht nämlich erst im Auge des hingerissenen Betrachters und hierüber zeigt uns Kleist die ganze, wenn auch etwas versteckte Wahrheit. Die Anmut, die Grazie, das Geschenk der Leichtigkeit, die Gnade (gratia) der Erlösung von der Erdenschwere ist notwendig auf die Erfahrung von Schwere verwiesen. Nur wer die Schwere kennt, weiß, wie viel Wert die Anmut, die Leichtigkeit hat. Oder, mit anderen Worten: Im Paradies gibt es keine Anmut. Wozu auch? Wenn dies stimmt, dann wäre das ganze Gespräch des Erzählers und des Tänzers von der durch die Hintertür per unendlichem Bewusstsein mögliche Rückkehr ins Paradies eigentlich hohles, überflüssiges Gerede. Denn wer im Rhythmus der (fremden) Bewegung erfährt, dass das Schwere als Schweres leicht werden kann, ist ja schon der Erlösung teilhaftig. Dies zeigt uns auch die Erzählung vom Bären: So wie der sich nicht von den Finten seines Gegenübers täuschen lässt – genauer: er sieht die Finten gar nicht als Finten – so auch der Leser des Marionettentheatertextes: Den Erlösungsköder kann er links liegen lassen, wenn er begriffen hat, dass

R HYTHMUS UND S CHWERE | 209

Schwere und Anmut sich bedingen und wir der Erlösung gar nicht bedürfen, wenn wir Anmut erfahren.

1. S CHWERE

ALS

B EDINGUNG

VON

A NMUT

Kleists Text ist ja nun schon selbst ein kleines kristallines Gebilde von, man möchte fast sagen: traumartig-musikalisch miteinander verspannten Motiven. Ich will hier nur an einige erinnern: Da wären die beiden Binnenerzählungen, einmal die vom in sich ruhenden, schlagfertigen Kampfbären und einmal die vom jungen Mann, der unwillkürlich in seiner Bewegung die Anmut des Dornausziehers wiederholte, dieser bekannten antiken Plastik, aber in seinem willkürlichen Versuch, die Anmut zu wiederholen, scheiterte; weiterhin die hiermit eng in Verbindung stehenden Motive vom Paradiesverlust inklusive Baum der Erkenntnis, Sündenfall, Vertreibung und den Rückweg versperrenden Cherub, dann die physikalischen und mathematischen Analogien für die Unendlichkeit des Bewusstseins, welche im Zusammenhang der Frage nach der möglichen Wiedergewinnung des Paradieszustandes stehen: der Hohlspiegel und die sich schneidenden Geraden, von Hyperbel und Asymptote – und natürlich, über all dem steht das titelgebende, alles beherrschende Motiv des Marionettentheaters und der bewusstseinslosen und gerade deswegen anmutig sich bewegenden Gliederpuppen. Ich möchte mich diesem spannungsreichen Motiv-Komplex von einem der Kristallisations-Punkte aus nähern, der in den meisten Interpretationen übergangen wird; ausgenommen einmal den Aufsatz Paul de Mans, der, allerdings nur beiläufig, auf diesen Punkt eingeht.1 Ich meine das Streifen der Marionetten auf dem Boden. Die entsprechende Textstelle lautet:

1

Vgl. Paul de Man, Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater, in: Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M. 1988, S. 205– 233, hier S. 230.

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„Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben.“2

Dies gibt der in seinem Metier erfolgreiche Tänzer C. dem Ich-Erzähler als Erläuterung des einen von zwei Hauptgründen für die Anmut der Marionettenbewegungen an. Es ist eine Erläuterung dafür, dass die Puppen, wie es im Text heißt, antigrav sind, d. h. dass ihnen Leichtigkeit eignet. Gesagt wird ja hier, dass bei aller Leichtigkeit die Puppen, ja selbst die Elfen, dennoch den Boden benötigen, wie ja auch die Tänzer ihn benötigen, wenn auch in anderer Weise. Die Puppen benötigen ihn dafür, dass der Schwung zumindest momentan gehemmt wird. Und dies wiederum ist nötig, weil der ansonsten ungehemmte Schwung der Glieder keine belebte, lebendige – und das bedeutet: keine anmutige – Bewegung ergäbe. Also: Die augenblickliche Hemmung des Gliederschwungs ist eine notwendige (wenn auch noch nicht hinreichende) Bedingung dafür, dass die Bewegung der Puppen eine bestimmte Form annehmen kann, die wir anmutig nennen. Dies findet Bestätigung durch eine weitere Stelle, die schon zu Beginn der Erläuterungen des Tänzers zu lesen ist, wo es heißt, dass der Bewegungsablauf der Gliederpuppen, schon wenn er auf eine „bloß zufällige Weise erschüttert“ würde, „in eine Art von rhythmischer Bewegung käme, die dem Tanz ähnlich wäre [Hervorhebung von mir, A. L.]“3

– und natürlich entsteht diese rhythmische, tanzähnliche Bewegung der Puppen auch dann, wenn etwa der Puppenspieler diese Erschütterung herbeiführt, etwa indem er die Marionetten leicht den Boden streifen lässt. Wichtig ist hierbei – darum geht es ja nun generell in diesem Text – dass die rhythmische Bewegung der Puppen, und damit einhergehend auch deren Anmut, etwas ist, was im Verlauf dieses Prozesses von Gliederschwung und hemmender Erschütterung entsteht und nicht durch direkte Intention bewirkt werden kann. Wenn wir also die beiden Äußerungen, die Kleist den

2

Heinrich von Kleist, Über das Marionettentheater, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, 2 Bände, München 1993, Bd. II, S. 338-345, hier: S. 342 f.

3

Kleist, Über das Marionettentheater, S. 339.

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Tänzer C. treffen lässt, zusammen nehmen, können wir das Streifen der Glieder auf dem Boden als eine solche Erschütterung auffassen, durch die ein lebendiger Rhythmus der Bewegung entsteht oder doch zumindest entstehen kann – ‚lebendig‘ hier attributiv, nicht prädikativ verstanden, also als nähere Bestimmung dessen, was überhaupt Rhythmus heißt (so verstanden gibt es keine nicht-lebendigen Rhythmen). Sowohl für das Streifen auf den Boden als auch überhaupt für das Pendeln der Glieder, ist aber so etwas wie Schwere durchaus eine notwendige Bedingung. Stellen wir uns nur einmal einen Marionettenspieler in einer Raumstation außerhalb des Schwerefelds der Erde vor: Dort könnte es weder die genannten Pendelbewegungen geben, noch auch ein solche Bewegungen hemmendes Streifen auf dem Boden, ja im Grunde hätten wir es in der Schwerelosigkeit aufgrund der gleichwohl bestehenden Trägheit der Puppen mit einer ganz anderen Form von Schwung zu tun. Wie auch immer, es gäbe, auch und gerade nach des Tänzers Ausführungen, bei den Puppen keinen tanzähnlichen Rhythmus der Bewegungen ohne die Schwere der Glieder, und damit, weil Anmut auf eine bestimmte, auf jeden Fall rhythmische Form der Bewegung verweist, gerade keine Anmut der Bewegung ohne Schwere. Aber – widerspricht dies nicht diametral der Behauptung des Tänzers, dass die Puppen antigrav sind? (Nebenbei: Auch zu Kleists Zeiten ist ‚antigrav‘ ein ungebräuchliches Wort). Nun – schon der kurze Blick, den wir eben auf das Phänomen einer (wenn auch noch so kurzen) Hemmung des Schwungs geworfen haben, welche einer rhythmisch-lebendigen Bewegung notwendiger Weise vorausgehen muss, wirft ein deutliches Licht darauf, wie dieser merkwürdige Ausdruck zu verstehen ist: Die Marionetten sind nicht in dem Sinne antigrav, dass sie schwerelos bzw. ohne Trägheit sind – wären sie das, könnten sie gar keinen Schwung aufnehmen, der gehemmt werden könnte – sondern sie sind es, wie auch die Erläuterungen des Tänzers deutlich machen, indem sie kein Bewusstsein von Schwere haben. Die Stelle lautet im Ganzen: „Zudem, sprach er, haben die Puppen den Vorteil, daß sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften,

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wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist, als jene, die sie an der Erde fesselte“ [Hervorhebung von mir, A. L.].“4

Natürlich sind sie schwer und träge, und natürlich wissen sie nichts davon, und nur dies letztere macht ihre Antigravität aus. Aber, wie ja auch schon das Erzähler-Ich (allerdings nur für sich bzw. für uns, nicht in einer an den Tänzer gerichteten Rede) lakonisch bemerkt: Das liegt natürlich vor allem daran, dass Holzpuppen überhaupt keinen Geist und kein Bewusstsein haben. Aber darum geht es hier nicht, der entscheidende Punkt ist vielmehr, gegen den hochfahrenden Schillerschen Idealismus der Anmut gerichtet: Die Puppen bedürfen, um anmutige Bewegungen zu zeigen, eben gerade keines Geistes, keines Bewusstseins und erst recht keiner schönen Seele. Wirklich gar keines Bewusstseins? Dass die Marionetten selbst kein Bewusstsein haben ist selbstverständlich – aber rührt die Anmut ihrer Bewegung dann nicht zwangsläufig von den die Marionetten führenden Handbewegungen des Spielers her, der – ganz ähnlich wie etwa auch die Menschen, die mit ihren Prothesen anmutige Bewegungen vollführen können, von denen der Tänzer ebenfalls berichtet – als Spieler durchaus bewusst die Puppen tanzen lässt, ja, in ihnen und vermittels ihrer und dann eben doch durchaus tanzt? Das wird von den beiden Gesprächspartnern, dem Tänzer und dem Ich-Erzähler ja durchaus so erwogen. Ist es also das Bewusstsein des Marionetten-Spielers, welches hier entscheidend für die Anmut der Bewegungen wäre? Nein, letztlich ist selbst die Anwesenheit eines Marionettenspielers, – als der „letzte Bruch von Geist“ – nicht notwendig damit die Anmut der Bewegungen entsteht. Im Prinzip muss ja der Marionettenspieler, wie der Tänzer erläutert, beim Puppenspiel nur den Schwerpunkt der Puppe führen; alles andere geschieht wie von alleine, insofern die Glieder sich wie Pendel im Schwerefeld verhalten und elliptische Linien beschreiben; lediglich – aber entscheidend! – das augenblickliche Streifen auf dem Boden ist nötig, um den Schwung rhythmisch wieder zu beleben (das müssen wir weiterhin

4

Kleist, Über das Marionettentheater, S. 342. „Antigrav“ bedeutet eben deutlich etwas anderes als z. B. ‚agrav‘ (ich danke Petra Gehring für diesen Hinweis): Nicht der Umstand ist gemeint, dass die Marionetten keine Schwere hätten (denn die haben sie ja), sondern dass sie der Schwerkraft entgegen bewegt werden. Antigravität setzt demnach gerade Schwere voraus.

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festhalten). Obwohl der Marionettenspieler sich bei seiner kunstvollen Führung in die Puppe bzw. deren Schwerpunkt hineinversetzen muss und also in einem gewissen Sinne selber in den Puppen ‚tanzt‘ und uns diesen Tanz in der Bewegung der Puppen vorführt, hält selbst Herr C. dies als Bedingung für die Anmut der Bewegung offenbar nicht für notwendig, wie der kurze Disput über die Pläne für eine Marionettenmaschine (durch Kurbeln usw.) zeigt. Der Marionettenspieler könnte die Bewegung des Schwerpunkts, die ja „den Weg der Seele des Tänzers“ beschreibt, im Prinzip auch einem Automaten überlassen und sich ins Publikum setzen, wodurch er freilich aufhörte, ein Spieler zu sein. Womit er als Zuschauer aber nicht aufhörte, wäre, qua Schwerebewusstsein in den Puppen zu tanzen, so wie alle anderen Zuschauer auch. Mit anderen Worten: Für so etwas wie Anmut kommt es nicht auf ein am Ende auch noch besonders gebildetes Bewusstsein der sich Bewegenden an – gegen Schiller, der ja meinte, Anmut würde von der schönen Seele eines Menschen in dessen eigener Körperbewegung hervorgebracht – sondern es kommt auf das Bewusstsein der die Bewegung Wahrnehmenden an. Wenn es nur irgendein Bewusstsein gibt, das den Tanz, die rhythmische Bewegtheit nachvollzieht, kann deren Schönheit bzw. Anmut hervorgebracht werden. Und dieses Bewusstsein ist notwendiger Weise ein Bewusstsein der Schwere, denn es geht ja um die den Nachvollzug der Bewegung des Schwerpunkts. Auf dieses Schwerebewusstsein des Rezipienten kommt geradezu alles an; ohne dieses könnte die Gliederpuppe keinen „Weg der Seele“ beschreiben, der sich so als Seelenweg des als Zuschauer Tanzenden entpuppt. Der Tanzende ist also im Grunde niemand anderes als der schwerebewusste Zuschauer (worüber Herr C. und der Ich-Erzähler allerdings kein Wort verlieren), der eben gerade darum kein reiner Beobachter, sondern ein am Geschehen Teilnehmender ist. Umgekehrt gilt, dass ein SchwereBewusstsein der sich Bewegenden gerade die Anmut der eigenen Bewegung verhindert, wie ja in ähnlicher Weise die Dornausziehergeschichte deutlich macht.5

5

Die Dornauszieherparabel ist nicht einfach, wie sie oft verkürzt verstanden wird, die Geschichte von einem, der wegen seines Bewusstseins nicht mehr spontan handeln kann, sondern die Geschichte von einem, der ja erfahren hat, dass er spontan handeln kann, einfach weil er sich selbst dabei in den Spiegel schauend überrascht hat, aber genau diese Anmut nicht wieder herstellen kann (ich danke

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Das Gegenteil von Antigravität, dem Fehlen des Bewusstseins von Schwere als Eigenschaft der Marionetten, ist die Gravität, was entsprechend nicht nur Schwere, sondern zudem ein Bewusstsein von Schwere, auch und gerade im übertragenen Sinne von Gewichtigkeit der eigenen Person, sozusagen von existentieller Schwere impliziert. Dies ist der Grund, weshalb der anmutige Tanz der Marionetten und die damit selbst an leblosen Körperbewegungen erfahrbare Überwindung von Schwere per metaphorischer Exemplifikation auch auf die Überwindung der Schwere menschlicher Existenz bezogen werden können, worauf die ganzen erbaulichen Reden vom Paradies etc. am Ende des Textes verweisen. Gravität ist also, sowohl im wörtlichen Sinne des körperlichen Schwerebewusstseins wie auch im übertragenen Sinne von Würde nicht nur Gegenteil, sondern auch Voraussetzung von Anmut – aber freilich können Anmut und Würde nicht zugleich in der selben Person zur selben Zeit zusammentreffen. Die Synthese von Anmut und Würde, mit anderen Worten, ist gemäß der kleistschen Darstellung nur in einer Alteritätsbeziehung möglich. Halten wir fest: Selbst im Extremfall einer automatischen Marionettenbewegung wäre für das Hervorbringen einer anmutig-lebendigen, nicht gezierten oder manierierten Bewegung weiterhin unabdingbar: a) die Hemmung des Pendelschwungs und damit das Element der Schwere und b) ein tanzendes Bewusstsein, welches aber weder in der Marionette, noch im Marionettenspieler, sondern lediglich überhaupt im Verhältnis zu den Bewegungen gegeben sein muss, z. B. als Zuschauer, der, anders als ein bloßer ‚Beobachter‘, in diesem Geschehen körperlich engagiert ist (ohne sich dabei körperlich bewegen zu müssen). Diese notwendigen Bedingungen von Anmut sind aber nicht vollständig, es gibt eine weitere notwendige Bedingung: die Schwerpunktkongruenz und die damit einhergehende Authentizität der Bewegung. Erst wo „der Weg der Seele“ mit dem Weg eines Körpers kongruiert – oder genauer: wo

Petra Gehring für diesen Hinweis). Das Bewusstsein verhindert also nicht einfach Anmut, sondern es lässt das Problem allererst entstehen, das jemand haben kann, der sich darüber klar wird wird, dass seine Anmut einen Blick von außen erfordert, den er nicht mehr haben kann. Denn der anmutig sich Bewegende, den er zunächst sah, bevor er erkannte, dass es sein Spiegelbild war, war ein Anderer. Nun, da er weiß, das bin ja ich, kann er sich nicht mehr von sich lösen – was geradezu eine Definition von ungraziösem, geziertem Auftreten ist.

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diese beiden Momente der Bewegung gar nicht erst auseinandertreten, so dass Kongruenz überhaupt erst als Erfordernis entstünde, wie bei den bewusstlosen Gliederpuppen – dort erst können wir es mit einer anmutigen Bewegung zu tun haben.6 Die notwendige Schwerpunktkongruenz des sich Bewegenden bedeutet, dass es nicht nur nicht nötig ist, dass derjenige, welcher sich anmutig bewegt, ein Bewusstsein der Schwere hat, sondern dass es sogar ausgeschlossen ist; denn wenn der sich Bewegende ein solches Bewusstsein entwickelt, kommt es gerade zur Inkongruenz bzw. Dezentrierung. Denn ein Bewusstsein von Schwere haben heißt, aus sich herausgetreten zu sein, d. h. ein Verhältnis zu seinem Schwerpunkt gewonnen haben – und damit zwar die Möglichkeit der Führung, aber eben auch notwendig den Verlust an Anmut. Mit anderen Worten: Anmut und Würde sind nicht von ein und der selben Person und zu der selben Zeit realisierbar. Das anmutskonstitutive Schwerebewusstsein ist, mit anderen Worten, notwendiger Weise das Bewusstsein jemandes anderen (genitivus subjectivus). Anmut, so könnte man sagen, ist immer die Anmut des Anderen. So wie man sich nicht selbst erschrecken kann – aber natürlich: im Nachhinein über sich erschrocken sein – oder, anderes Beispiel: So wie man sich selbst gegenüber nicht dankbar sein kann, ja, streng genommen noch nicht einmal sich selbst etwas schenken kann – so auch kann man sich selber nicht als anmutig erfahren. Sich selber für anmutig halten, das geht freilich, aber eben nur um den Preis des Anmutsverlustes, denn gerade darin besteht die Ziererei und Manieriertheit: Das, was man tut, für anmutig halten. Hier sind die abfälligen Bemerkungen des Tänzers über seine Kollegen einschlägig, deren Bewusstsein aus dem Schwerpunkt ihrer Bewegungen heraustritt und in den Nacken oder Ellenbogen rutschen, womit die mögliche Anmut ihrer Bewegung – die nur für die mit dem Bewusstsein der Schwere ausgestatteten Zuschauer erfahrbar wäre – verstellt wird. Der Tänzer schaut sich in diesen Fällen sozusagen selbst beim Tanzen zu und gerade dies verhindert die Anmut seiner Bewegungen, die nur für die anderen (oder für ihn als anderen, etwa im unerkannten Spiegelbild) sichtbar ist bzw. sein kann. Der affektierte Tänzer schiebt somit sein Bewusstsein zwischen den Schwerpunkt seiner Bewegung und den schwerpunktbewussten Zuschauer und verstellt

6

Der Konjunktiv soll andeuten, dass wir es hier mit einer notwendigen, nicht hinreichenden Bedingung zu tun haben, denn offenbar sind nicht alle schwerpunktkongruenten Bewegungen anmutig, wie z. B. das Fallen von Steinen.

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damit den Blick auf seine Anmut. Leichtigkeit und Schönheit der Bewegung entsteht nur im Verhältnis des sich Bewegenden einerseits und des mit dem Bewusstsein der Schwere versehenen anderen andererseits. Nüchterner und allgemeiner gesprochen: Anmut, und zwar nicht nur die eines Tanzenden, sondern überhaupt Existierenden ist etwas irreduzibel sozial Konstituiertes. (Entsprechend ließe sich dies auch für Würde durchspielen: Auch sie muss zugeschrieben werden, wer sich für würdig hält, ist vielleicht gerade deswegen nur lächerlich). Wir haben nun also drei notwendige Bedingungen von Anmut: 1. Die rhythmusverursachende Hemmung (das Streifen auf dem Boden), 2. das dadurch aktivierte Schwerebewusstsein des wie immer auch teilnehmenden (und solchermaßen ‚tanzenden‘) Zuschauers und 3. die Schwerpunktkongruenz und Antigravität beim sich Bewegenden, gleichgültig, ob dies nun ein ‚Etwas‘ oder ein ‚Jemand‘ ist. Sind alle drei notwendigen Bedingungen von Anmut zusammen schon hinreichend für sie? Um diese Frage zu beantworten, kann eine Reflexion darüber hilfreich sein, was überhaupt Rhythmus ist.

2. R HYTHMUS Wenn wir auch vielleicht nicht jede rhythmisch strukturierte Bewegung gleich ‚anmutig‘ nennen würden im engeren Sinne ist – wenn man einmal an die Rhythmen bestimmter Musikarten, wie z. B. im Heavy Metal denkt, die sich gerade in grotesken Bewegungen angesichts übermächtiger Schwere manifestiert, die man schwerlich noch adäquat ‚anmutig‘ wird nennen können – gilt doch erstens für jede anmutige Bewegung, dass sie einen Rhythmus ausbildet, also eine irgendwie erfahrbare Bestimmtheit der Form gewinnt. In einem gewissen, weiten Sinne von ‚anmutig‘ wäre es daher sogar auch noch bei einem Heavy-Metal-Rhythmus treffend, von Anmut zu sprechen, denn immerhin wird ein (gerade noch) freier Umgang mit Schwere vorgeführt. Die Rhythmen der Musik und der Körperbewegungen beim Tanz überhaupt sind paradigmatische Rhythmen, Rhythmen in Reinform, d. h. eigens zur Vorführung bestimmte Musterrhythmen. Rhythmus ist aber freilich nichts Spezifisches für Musik oder Tanz; in unmetaphorischer Sprechweise wird auch in nicht-künstlerischen Zusammenhängen etwa vom Rhythmus einer Körperbewegung, vom Rhythmus einer Rede, vom

R HYTHMUS UND S CHWERE | 217

Rhythmus eines Tagesablaufs, vom Rhythmus der Jahreszeiten usw. gesprochen. Dies alles sind deswegen keine metaphorischen Redeweisen, wenn man unter ‚Rhythmus‘ ganz allgemein in sich gegliederte zeitliche Verlaufsformen von Vorgängen versteht, oder kurz: Zeitgestalten.7 Rhythmen sind in sich zeitlich gegliederte Bewegungsgestalten, also solche Formen, deren Elemente sich zu einem Ganzen fügen, auf das sich die Glieder funktional beziehen lassen, wie in einem Organismus, nur eben auf zeitlicher Ebene. Traditionellerweise werden daher auch nicht von ungefähr Rhythmen Qualitäten des (im weitesten Sinne) Lebendigen zugesprochen, Rhythmen können ‚hektisch‘ oder ‚beschwingt‘ sein, ‚schwerfällig‘ oder ‚apart‘, ‚monoton‘ oder ‚mitreißend‘, ‚schlicht‘ oder sogar ‚grotesk‘ usw. – kaum eine Verbindung, die der Ausdruck ‚Rhythmus‘ nicht eingehen könnte. Charakteristisch für solche quasi-lebendigen Verlaufsgestalten mit einer inneren Organisation wie den Rhythmen ist nun, wie oft in der langen Tradition dieses Begriffes gesehen wurde, das Phänomen der Bindung. Mit Bindung wird das bezeichnet, welches macht, dass Elemente einer Struktur zu Gliedern einer Gestalt, im Falle des Rhythmus zu einer zeitlichen Gestalt werden.8 Wir haben es dabei mit einem Teil-Ganzes-Verhältnis zu tun, bei dem die Teile Glieder eines Funktionszusammenhanges sind, wie es eben paradigmatisch bei Lebewesen ist, die in ihrer Gestaltbildung Glieder und Organe ausbilden. Aber das ist eben auch nur der paradigmatische Fall einer solchen Organisation, welcher verantwortlich ist, dass wir so etwas wie

7

Vgl. hierzu Richard Hönigswald, Das Problem des Rhythmus, Leipzig/Berlin 1926, hier v. a. S. 4 ff. sowie Franz Neumann, Die Zeitgestalt. Eine Lehre vom musikalischen Rhythmus, Wien 1959, S. 18 ff. Nun spricht man mitunter auch vom Rhythmus einer Fassade oder eines Gebäudes oder einer Zeichnung; selbst hierbei, so scheint es, handelt es sich nicht um einen metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks ‚Rhythmus‘; denn mit diesen Sprechweisen wird nicht einfach nur die (statische) Form einer Sache gemeint, sondern vielmehr, wie diese Form erlebt wird, wie etwa im Falle des Ausdrucks ‚Rhythmus einer Fassade‘, der Blick an Simsen entlang geführt wird und durch einen Portikus aufgefangen wird usw. Auch hier hat man es also mit in sich gegliederten zeitlichen Verlaufsformen zu tun.

8

John Dewey schrieb treffend vom Rhythmus als ‚organized energy‘ (vgl. John Dewey, Art as Experience, New York 2005, S. 168 ff.).

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einem Rhythmus Qualitäten des Lebendigen zuschreiben können. Mit Nelson Goodman gesprochen: Rhythmen können metaphorisch lebendige Organismen und deren mögliche Eigenschaften exemplifizieren und sie können dies, weil ein Rhythmus selber eine Gestalt über die Zeit hinweg ‚ausbildet‘; damit eignet einem Rhythmus die Qualität, auf die er Bezug nimmt, ja sogar auch noch in ihrer Entstehung vorführt, was es erlaubt, ihn in übertragender, metaphorischer Weise Bezug nehmen zu lassen auf organische Entstehungs- und Vergehensprozesse aller Art, wie sie charakteristisch für den Bereich des Lebendigen sind. Organisationen sind, mit Kant gesprochen, Gegenstand einer teleologischen Urteilskraft, also eines Vermögens, Gegebenes unter der Idee der Zweckmäßigkeit zu einem Ganzen zu konstituieren, das mehr ist als die Summe seiner Teile (wie die abgenutzte, aber immer noch treffende Formel in diesem Zusammenhängen oft lautet). Wir fassen Bewegungsabläufe also dann rhythmisch – und damit auch schon ‚anmutig‘ im genannten weiten Sinne auf – wenn wir Anlass haben, unterstellen zu können, dass es eine Instanz gibt, die die Gliederung der Bewegung organisiert. Ohne solch eine Unterstellung keine Rhythmuserfahrung und a fortiori auch keine Anmutserfahrung. Ein Rhythmus verteilt die Schwere, er macht das Schwere als Schweres leicht, nämlich zum Teil eines beweglichen Ganzen, das sich selber trägt. Dieses Sich-Selber-Tragen ist das Entscheidende, es ist die Erfahrung der Antigravität, des nicht weiter heruntergezogen werden Könnens, kurz: der Freiheit in der Erscheinung. Nun können wir wieder zu Kleists Text zurückkehren, genauer zu den Stellen, bei denen es hieß, dass die Puppen das Streifen auf dem Boden benötigen, um ihrem Schwung neue organisierte Energie zuzuführen, welche die Bewegung zu einer rhythmischen, tanzähnlichen und damit (in einem weiten Sinne) anmutigen Bewegung macht. Der Rhythmus einer Bewegung, so konnten wir nun sehen, ist angewiesen auf ein Bewusstsein bzw. eine Erfahrung der Schwere; Rhythmus ist das, was das Schwere als Schweres leicht macht, Rhythmus verteilt die Schwere auf bestimmte Zeiten, gibt dem Schweren einen bestimmte Zeit, eine Stätte im Zeitraum, ist gleichsam freier Umgang mit Schwere. Hierfür ist wichtig, dass die Schwere in gewisser Weise erhalten (aufgehoben) bleibt: Nichts ist für die Anmut und die mit ihr verbundenen Freiheits- und Erlösungserfahrung gewonnen, wenn die Schwere des Körpers – und übertragen der Existenz – abgeschafft würde. Nur körperliche Wesen können Freiheit und Gelöstheit erfahren.

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Und sie führen sich diese Freiheit in den Rhythmen vor, die als organisierte Energien sich in Körpern fundiert als Gestalten der Freiheit aufbauen.

3. D AS T ÄNZERGESCHWÄTZ DES B ÄREN

UND DIE

L EHRE

Bisher haben wir den Tänzer ernst genommen und versucht, seinen Reden einen Sinn abzugewinnen. Wenn wir nun zu den im Text vorzufindenden Interpretationen des C. kommen, d. h. zu den Anschlüssen, die Kleist den Tänzer für seine Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Anmut der Marionetten selbst finden lässt, zeigt sich, dass der Tänzer ein rechter Schwätzer ist. Während seine eröffnenden Reden durchaus einen gebrochen-ironischen Klang haben, sind seine abschließenden Reden geziert und manieriert – nicht anmutig – im Unterschied zu den Gedanken des Ich-Erzählers, die eher nüchtern, schlicht und, außer ganz zum Schluss, auch auf dem Boden der Phänomene bleiben. Wie der Tänzer seine Gedanken in Bewegung zu bringen versucht, zeigt sich z. B. im Nachgang zu der Stelle, die schon zu Anfang Thema war: „Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen, und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein Moment, der offenbar selber kein Tanz ist, und mit dem sich weiter nichts anfangen läßt, als ihn möglichst verschwinden zu machen.“9

Was der nicht-anmutige Gedanken-Tänzer C. hier äußert, ist bei Licht betrachtet einfach Unsinn – und er müsste es ja sogar selber wissen, dass es Unsinn ist. C. ziert sich im Reden, indem er an der zitierten Stelle für die einigermaßen schöne begriffliche Opposition von ‚streifen‘ und ‚ruhen‘ die einfachsten, lebensweltlichen Erkenntnisse zu opfern bereit ist – als wenn ein Tänzer den Boden nicht auch und gerade dafür bräuchte, um auf ihm zu tanzen! Und natürlich ist weder die Bühne noch irgendein Tanzboden ein Ort zum Ausruhen, das Bild ist – sicher mit voller Absicht Kleists – völlig schief. Oder man nehme die merkwürdigen mathematischen Analogien mit

9

Kleist, Über das Marionettentheater, S. 342.

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Asymptote und Hyperbel oder Zahl und Logarithmus – wie soll man diese auf das Verhältnis von Marionettenspielerbewegung und Bewegung der Marionette applizieren? Es hört sich freilich sehr gelehrt an, aber es ist unmöglich – oder sagen wir: recht schwer – diesem affektierten, mehr gewollten als gekonnten Gedankentanz überhaupt einen rechten Sinn abzugewinnen. Die Verweise auf die Genesis und die Sündenfall-Geschichte und die oftmals gerade daraus abgeleitete ‚Lehre‘ von den drei Stadien menschlicher Existenz, von naiver Unschuld, bewusster Schuld und wiedererlangter Unschuld durch ein ‚unendliches Bewusstsein‘, durch das man möglicherweise, gleichsam nach der Umrundung der ganzen Welt durch die Hintertüre wieder in einen paradiesischen Unschuldszustand eintreten könne – C. gefällt sich sehr in solchen Äußerungen. Aber sie sind zum großen Teil manierierte hohle Phrasen. Wenn wir in diesem ganzen Paradies-Komplex nur einmal die Rede vom ‚unendlichen Bewusstsein‘ herausgreifen: Dies ist eigentlich das beste Beispiel für geziertes Tänzer-Geschwätz. Denn klar ist doch, dass ein unendliches Bewusstsein entweder gar kein Bewusstsein ist – denn Bewusstsein ist der Name für die endliche Form des Geistes, wenn anders doch Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist, was es nicht selber ist; und insofern dies so ist, ist also Bewusstsein notwendig endlich. Oder aber, damit Bewusstsein von etwas tatsächlich aufgefasst wird als etwas, das keine Grenze besitzt, und in diesem Sinne ‚unendlich‘ ist, dann ist das Bewusstsein von sich selbst, das Selbstbewusstsein, dass sich unendlich im Kreise um sich dreht, wie die berühmte Katze, die ihren Schwanz zu fangen versucht. Diese ‚unendliche‘ Struktur wäre aber einfach vitiös, also ein Gedanke, von dem man schwerlich behaupten wollen wird, dass er dazu anleiten könnte, den Menschen den Weg vorwärts ins Paradies wiedergewonnener Unschuld finden zu lassen. Wenn aber, wie wir im ersten Teil gesehen haben, Anmut ein Bewusstsein von Schwere, im übertragenen Sinne auch Bewusstsein der Schwere der Existenz notwendig voraussetzt – wobei dieser Zusammenhang zur Schwere der Existenz, also Schwerebewusstein im übertragenen, existenziellen Sinne, hier nur angedeutet werden kann –, dann ist die ganze Rede vom Stand der Unschuld, vom unendlichen Bewusstsein, das uns evtl. die Hintertür zum Paradies aufstoßen könnte, völlig unnötig, überflüssig und bodenlos.

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Aber wie wäre es, wenn sowohl die Philosopheme und Theologeme, wie auch die mathematischen Analogien, die der Tanzmeister bei Kleist ausstreut, Finten und Irreführungen wären, die Kleist uns hier präsentiert? Wenn Denken eine Bewegung von Gedanken ist – müsste es dann nicht auch eine Anmut, einen Rhythmus des Denkens geben? Eine solche Anmut des Denkens wiese der Ich-Erzähler weit mehr auf als der Herr C. Am Schluss wäre es gerade des Tänzers eigene Erzählung vom Kampfbären, mit der uns Kleist zeigen würde, wie man mit dem Gedankenzierrat des Tänzers umgehen kann und soll. Diese Erzählung in der Erzählung, direkt nach der DornauszieherGeschichte des Ich-Erzählers, wird mit den Worten eingeleitet: „Bei dieser Gelegenheit, sagte Herr C... freundlich muß, ich Ihnen eine andere Geschichte erzählen, von der sie leicht begreifen werden, wie sie hierher gehört.“10

Zunächst einmal gehört die Geschichte hierher, weil der in sich ruhende, die Seele des gegnerischen Fechters lesende Bär, durch seinen Mangel an Bewusstheit auch nicht getäuscht werden kann – ob man hier gleich von einer Anmut des Bärens sprechen soll, mag einmal dahingestellt bleiben, im allgemeinen gilt der Bär nicht gerade als Sinnbild von Grazie. Wie auch immer: Auch hier, ähnlich wie in Bezug auf die Marionetten, hätte der IchErzähler gut sagen können: Wo kein Geist ist, da kann er auch nicht getäuscht werden. Worum es aber bei der Bärengeschichte viel mehr geht, ist die bewundernswerte und irgendwie ja doch auch vorbildliche traumwandlerische Sicherheit des Bären, die ebenfalls jenseits von Bewusstheit angesiedelt ist. Was macht den Bären so schlagfertig? Schlagfertigkeit ist eben keine und wenn auch noch so schnelle Reaktion, noch nicht einmal im Sinne eines (vorbewussten) Reflexes, sondern Mitaktion aus der gemeinsam geteilten Situation heraus. So auch der Bär: Er ‚weiß instinktiv‘, was der Fechter tun wird, nicht weil er von äußeren Indizien her auf seine Intentionen schließt oder auch nur schließen könnte, sondern weil er in der Seele des Fechters, wie der Tänzer erzählt, ‚lesen‘ kann. Damit agiert der Bär aus seinem Zentrum heraus, er reagiert nicht auf den Gegner, was diesem erst die Gelegenheit geben würde, den Bären zu täuschen. In dieser Hinsicht ist er dem Fechter sogar immer ein Stück voraus, weil der auch noch so be-

10 Kleist, Über das Marionettentheater, S. 344.

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wusste und aufmerksame Fechter genau dies nicht kann: in seiner eigenen Seele lesen. Ob es dergleichen wie den schlagfertigen Bären tatsächlich geben kann oder nicht, ist an dieser Stelle vielleicht nicht so wichtig; wichtig dagegen ist, dass hier, in der Erzählung vom Kampfbären, der Punkt des Textes erreicht ist, an dem das Geschwätz des Fechters in eine echte Erkenntnis umschlägt – und das ist ein zweiter Sinn des Satzes, den Kleist den Tänzer sagen lässt, nämlich dass die Geschichte hierher gehört – hierher nämlich, in diesen Text über das Gespräch mit dem Tänzer. Wir sollten die Aussagen von der Rückkehr ins Paradies, dem unendlichen Bewusstsein, dem letzten Kapitel der Geschichte der Welt usf. als das lesen, was sie sind: Finten, Köder, Irreführungen, die mit unserem Ressentiment gegen die Erdenschwere rechnen. Wir sollten uns einfach an das halten, was über das Phänomen der Anmut selbst gesagt wurde und auf die Finten und irreführenden Reden gar nicht erst einlassen, ganz so, wie es uns der schwere, aber aufrechte Kampfbär in Ketten vorführt. Was fragt aber der bislang doch nüchtern und in gewisser Weise in seinem Denken anmutig gebliebene Ich-Erzähler dann am Schluss des Textes noch, ob man „zum zweiten Male vom Baum der Erkenntnis essen“ müsste? Es scheint fast so, als wenn der Ich-Erzähler vom ungehemmten Gedankenflug des Tänzers schon ein wenig mitgenommen ist (er sagt ja auch von sich selbst, er sei „zerstreut“). Ob man vom Baum der Erkenntnis essen müsse, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen – was für eine Frage! Als wenn dies, nach diesen ganzen Reflexionen über die notwendiger Weise körper- und schweregebundene Anmut überhaupt etwas zu Erstrebendes wäre! Und der Tänzer entgegnet doch tatsächlich auf diese Frage: „Ja, das wäre das letzte Kapitel der Geschichte der Welt“ – als wenn es wünschenswert wäre, dass es mit dieser Welt zu Ende geht! Man könnte meinen, Kleist hält uns mit diesem Gesprächsschluss einen Spiegel vor, in dem wir unsere Erlösungssehnsucht, wie sie sich in solchen Gedanken äußert, erkennen können. Aber wenn überhaupt, dann fallen wir deswegen in den Stand der Unschuld zurück – wenn man partout so geziert reden will – weil wir der Erlösung nicht mehr bedürfen, weil wir wissen, dass unsere Erde schon der Himmel ist oder doch zumindest sein könnte, und dass unsere irdisch-schwere Existenz das Hier-und-jetzt-da-sein ist, in dem wir durch Schwere und damit der Grazie und damit des Paradieses als

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einer Dimension unseres Daseins teilhaftig sind – und nicht als Gegenstand unserer Hoffnung und Sehnsucht. Wenn man nun aber mit ‚Stadien‘ die zeitlichen Abschnitte einer (am Ende gar fortschrittlichen) Entwicklung meint, kann es sich hierbei nicht um Stadien handeln – niemand hält sich im Paradiese auf, ohne sogleich zu verschwinden. Es gibt in den Bedingungen des Existierens keinen Fortschritt; sie sind allemal dieselben, Endlichkeit, Zeitlichkeit, Schwere. Alles andere – Leichtigkeit, Glückseligkeit, Rhythmus, Anmut – ruht auf diesem Grunde auf. Der kleistsche Text erscheint in dieser Interpretation als ein Stück Existenzphilosophie avant la lettre. Denn schließlich waren es die Philosophen der Existenz von Kierkegaard bis Heidegger, von Nietzsche bis Sartre, welche die unabstreifbare Schwere des Daseins thematisiert haben – und auch das Wort ‚unabstreifbar‘ klingt noch zu sehnsüchtig. Denn sie haben die Erlösung von der Schwere als illusorisch, ja, als unnötig charakterisiert: Weil Schwere notwendig auch zur anmutig-leichten Existenz gehört, die ansonsten unerträglich wäre. Das Modell hierfür finden wir in den kleist’schen Marionetten und den scheinbar leblosen Dingen, mit denen wir uns umgeben. Anmut ist nur auf Erden zu haben. Aber, und das ist ja wichtig: sie ist zu haben. Der Dornauszieher ist anmutig, nur derjenige nicht, der das Geschenk der Anmut (wieder) herstellen will; der nicht sich zierende Tänzer ist anmutig, nur derjenige, der seine Absicht in die Bewegung legt, ist es nicht. Die Gedanken sind anmutig, sofern sie aus der Tiefe aufsteigen, nicht insofern sie Tiefe schürfen wollen. Die Marionette ist anmutig, sofern man mit ihr und durch sie tanzt, und das heißt: ihre für Anmut notwendige Schwere rhythmisch verteilt. Und so steht es mit aller Bewegtheit der Welt: Im (wie immer auch) anmutigen Rhythmus der Bewegung hat die Erlösung, von der die Schwerenöter nur träumen, längst Statt gefunden.

Kleists „Hermannsschlacht“ mikropolitisch gelesen M ARC R ÖLLI Das ist der Teutoburger Wald, Den Tacitus beschrieben, Das ist der klassische Morast, Wo Varus steckengeblieben. Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, Der Hermann, der edle Recke; Die deutsche Nationalität, Die siegte in diesem Drecke. (HEINRICH HEINE, DEUTSCHLAND. EIN WINTERMÄRCHEN)

Die Hermannsschlacht gilt als minderwertiges nationalistisches Drama, das Kleist zu einer Zeit verfasste, als ihm die Aufgabe eines antinapoleonischen Agitators vor Augen stand. Stimmt es, dass es sich dabei lediglich um eine biographische Episode der Begeisterung eines Schnellbegeisterten handelt, der die Kunst den Parolen des Tages opfert?1

1

Unter den Stichworten „patriotisches Kreischen“ und „patriotischer Trug und Selbstbetrug“ handelt Hans Mayer die Hermannsschlacht ab: „Noch deutlicher wird die Fragwürdigkeit der politischen wie überhaupt der vaterländischen Position, versteht man es, die Hermannsschlacht […] richtig zu lesen. […] Niemals

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Diese Einschätzung basiert auf einer Anzahl wohlmeinender Motive. Die Bühnengeschichte des Stücks macht deutlich, dass seine Aufführung von deutschnationalen Interessen abhängig ist, die zuletzt im Nationalsozialismus kulminieren.2 Tatsächlich findet man bei den streng patriotischen Franzosenhassern und Antisemiten der ersten Stunde eine „Rede des Arminius an die Deutschen vor der Teutoburger Schlacht“ und andere Formen der Verherrlichung Hermanns als Einiger der Deutschen, mit dem eine deutsche (oder ‚deutsch-germanische‘) Geschichte beginne. 1838 wird ein Verein für das Hermannsdenkmal gegründet, das 1871 fertig gestellt und 1875 von Wilhelm I. feierlich eingeweiht wird. Fortan treffen sich dort an bestimmten Jahrestagen nationalistische und antisemitische Gruppierungen. Nicht nur die konservativen, eine nationale Identität des Deutschtums predigenden Historiker wie Theodor Mommsen oder Felix Dahn erinnern an den Siegesgesang nach der Varusschlacht. Spätere Reichsideologen wie Möller van den Bruck oder Rosenberg verbinden mit dem Sieg des Arminius über die Römer eine historische Begründung deutscher Weltherrschaftspläne.3

stand Kleist der Aufklärung und klassischen Humanität ferner als hier. Der Feind ist für ihn kein Mensch mehr.“ Vgl. Mayer, Heinrich von Kleist. Der geschichtliche Augenblick, Pfullingen 1962, 45 ff., hier 47. Vgl. auch Helmut Sembdner, „Nachwort“, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. H. Sembdner, München 1984, 1030-1040, hier 1034, Beda Allemann, Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, Bielefeld 2005, 227 und Bernd Fischer, Das Eigene und das Eigentliche: Klopstock, Herder, Fichte, Kleist, Berlin 1995, 300 ff. 2

Vgl. zu den ersten Aufführungen von Wehl (1860) bis zum 1. Weltkrieg: Otto Fraude, Heinrich von Kleists Hermannsschlacht auf der deutschen Bühne, Leipzig 1919. Zur „Kleist-Festwoche“ im Bochumer Schauspielhaus unter der Schirmherrschaft des „Reichsleiters“ Alfred Rosenberg vgl. Niels Werber, „Kleists ‚Sendung des Dritten Reichs‘. Zur Rezeption von Heinrich von Kleists ‚Hermannschlacht‘ im Nationalsozialismus“, in: Kleist-Jahrbuch 2006, 157-170.

3

„In der Perspektive der NS-Philologie gilt die Hermannsschlacht als Gründungstext eines geopolitisch verstandenen Reichs eines biopolitisch definierten Volks, dessen soziale Ordnung auf dem Schema Führung und Gefolgschaft basiert. Ein Volk, ein Reich, ein Führer.“ Werber, Kleists Sendung, a. a. O., 158. Rosenberg schreibt anlässlich einer Aufführung des Dramas im Völkischen Be-

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Auf Arminius und die Niederlage der Römer scheint erstmals Ulrich von Hutten in seinem (1529 postum erschienen) Arminius-Dialog Bezug genommen zu haben. Die deutsche Nation wird dazu aufgerufen, sich den Kämpfen gegen eine verwahrloste, verweltlichte Kirche anzuschließen.4 Im Umfeld Luthers wird Arminius als Hermann eingedeutscht. Neben Klopstocks Hermann-Trilogie oder Mösers Osnabrücker Geschichte entstehen im 18. Jahrhundert mehrere Trauerspiele, Epen und Oden, die Kleist den Stoff nahe gebracht haben.5 Im Handlungsmittelpunkt steht immer die Schlacht, in der Arminius als Kriegsherr der Germanen die römischen Invasoren um ihren Befehlshaber Publius Quinctilius Varus vernichtend geschlagen hat. Die römischen Quellen (Tacitus, Cassius Dio) datieren die Schlacht auf das Jahr 9 n. Chr. und situieren sie im Rahmen von Expansionsbemühungen, das Gebiet zwischen Rhein und Elbe zu erobern. Zwar fanden noch weitere Feldzüge der Römer in germanischen Gebieten statt. Tiberius aber beendete (im Jahre 15 n. Chr.) die material- und verlustrei-

obachter (1927): „Wir wissen, daß heute Juden, Polen und Franzosen die ganze Brut ist, die in den Leib Germaniens sich eingefilzt wie ein Insektenschwarm. Wir wissen, daß ein Ende sein muß mit der Liebespredigt für unsere Feinde, daß heute noch viel mehr als vor 1000 Jahren Haß unser Amt ist und unsere Tugend Rache. Wir wissen auch, was wir zu sagen haben, wenn Angstmänner ihre Feigheit mit der Bemerkung bemänteln wollen, es gebe doch auch gute Juden: dasselbe, was Kleist den Hermann sagen ließ, als seine Gattin um das Leben der besten Römer bat: Die Besten, das sind die Schlimmsten. So ist Kleist unser.“ Zit. nach Johannes F. Lehmann, „Zorn, Hass, Entscheidung: Modelle der Feindschaft in den Hermannsschlachten von Klopstock und Kleist“, in: Historische Anthropologie, 14, 2006, 11-29, hier 28. 4

Vgl. „Huttens letzte Tage“ (1872!) von Conrad F. Meyer: „Wie? Wenn der Papst die Christenheit betrügt, So ruf’ ich nicht: Der arge Römer lügt? […] Wie? Springt ein deutsches Heer in heißen Kampf, So atm’ und schlürf’ ich nicht den Pulverdampf? Wie? Sinkt der Sickingen, bedeckt mit Blut, So brennt mich’s nicht, wie eigner Wunde Glut? Freund, was du mir verschreibst, ist wundervoll: Nicht leben soll ich, wenn ich leben soll!“

5

Vgl. Richard Samuel, Heinrich von Kleists Teilnahme an den politischen Bewegungen der Jahre 1805-1809, übers. v. W. Barthel, Frankfurt a. O. 1995, 335336.

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chen Kämpfe. Ihre historische Bedeutung gewinnt die Varus- oder Hermannsschlacht aus der Retrospektive. Die Hermannsschlacht arbeitet Kleist zu einem Zeitpunkt aus, als die napoleonische Vormachtstellung in Mitteleuropa immer drastischer ausfällt.6 Spätestens seit der Gründung des Rheinbunds (1806) und der Schlacht bei Jena und Auerstädt (1806) etabliert sich mit der napoleonischen Fremdherrschaft eine Steuer-, Zoll- und Adelspolitik, die den dynastischen Interessen dient und die militärischen Expansionsbestrebungen unterstützt. Mit der Überführung des Konsulats in ein Kaiserreich (1804) wird die republikanische Opposition (insb. der Girondisten) in Frankreich ausgeschaltet, der Kleist (während seiner Aufenthalte in Paris) nahe stand.7 Wie seine politischen Schriften aus dem Jahre 1809 belegen, setzt Kleist seine Hoffnungen auf den Kriegseintritt Österreichs, auf den „hochherzigen Kaiser von Österreich, der für die Freiheit Deutschlands die Waffen ergriff“ (II, 360)8. Er plant in Wien unter dem Titel Germania eine Zeitschrift herauszugeben, die „der erste Atemzug der deutschen Freiheit“ sein sollte. Und auch die Hermannsschlacht soll in Wien uraufgeführt werden. Die Zeit ist reif, denn „jetzt hat der Kaiser von Österreich […] den Kampf […] für das Heil des unterdrückten […] Deutschland unternommen“ (II, 375).9

6

Geschrieben hat Kleist das Drama in der zweiten Hälfte des Jahres 1808. Erst im Jahr 1821 wird es in seiner vollständigen Form publiziert.

7

Vgl. Dirk Grathoff, „Heinrich von Kleist und Napoleon Bonaparte“, in: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i. Br. 1994, 31-59, hier 40.

8

Kleist wird zitiert nach folgender Ausgabe: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., hg. v. H. Sembdner, München 1987. Zitate werden im Text unter Angabe des Bandes und der Seitenzahl belegt.

9

„Jetzt, oder niemals, ist es Zeit, den Deutschen zu sagen, was sie ihrerseits zu tun haben, um der erhabenen Vormundschaft, die sich über sie eingesetzt hat, allererst würdig zu werden: und dieses Geschäft ist es, das wir, von der Lust, am Guten mitzuwirken, bewegt, in den Blättern der Germania haben übernehmen wollen. Hoch, auf dem Gipfel der Felsen, soll sie sich stellen und den Schlachtgesang herab donnern ins Tal! […] Sie will herabsteigen, wenn die Schlacht braust, und sich, mit hochrot glühenden Wangen, unter die Streitenden mischen, und ihren Mut beleben, und ihnen Unerschrockenheit und Ausdauer und des Todes Verachtung ins Herz gießen […].“ (II, 376)

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Kein Wunder, dass mit dem Sieg Napoleons in der Schlacht bei Wagram und endgültig nach dem Friedensschluss von Schönbrunn (beides 1809) Kleists Pläne gescheitert sind. (1810 vermählt sich Napoleon mit MarieLuise von Habsburg, die 1811 den ersehnten Thronfolger zur Welt bringt. Und Friedrich Wilhelm, der Preußenkönig, verbindet sich mit Napoleon gegen die Russen. Im November 1811 erschießt sich Kleist. Die Völkerschlacht bei Leipzig (1813) erlebt er nicht mehr.) Die Rezeptionsgeschichte prägen die Bemerkungen Heinrich von Treitschkes anlässlich der 1862 erstmals veröffentlichten politischen Schriften Kleists, die auf ihn einen „fast unheimlichen Eindruck“ machen. Angeblich zeigen sie, „daß Kleist im Herzen sein Lebtag preußischer Offizier der alten Schule blieb“.10 Mehring und Lukacz zementieren dann das Bild des romantisch-revolutionsfeindlichen Kleist als „verirrter altpreußischer Junker“, der „in Napoleon weit mehr den Erben der Revolution haßte als den Zwingherrn der Nation“.11 Vor diesem Hintergrund möchte ich die Hermannsschlacht einer mikropolitischen Lektüre unterziehen. Das Konzept der Mikropolitik entnehme ich den Arbeiten von Gilles Deleuze und Félix Guattari.12 Der Ausdruck „Mikro“ kombiniert Semantiken, die mit Tardes Mikrosoziologie und Foucaults Mikrophysik der Macht vorgegeben sind. Es geht nicht darum, das Kleine vom Großen (und damit von makropolitischen Erfordernissen) zu trennen, sondern darum, im Ausgang von kollektiv vernetzten Praktiken und Diskursen politische Situationen zu bestimmen und aktiv zu verändern, so dass diese nicht von außen im Rekurs auf eine vermeintlich stabile Liste sozialpolitischer Handlungsträger definiert werden können. Mit der Hermannsschlacht liefert Kleist eine exemplarische mikropolitische ‚Anwendung‘. Offensichtlich bezieht sie sich auf die aktuellen politischen Verhältnisse, indem sie Napoleons Machenschaften aus der Perspektive des Widerstands rekonstruiert – in der Absicht, einen Plan zu entwerfen, der die „Unterjochung“ durch Napoleon beendet. Dieser Kriegsplan besitzt revolutio-

10 Vgl. Helmut Sembdner (Hg.), Heinrich von Kleists Nachruhm, Bremen 1967, 157 f. 11 Vgl. Georg Lukacz, Werke, Bd. 7, Neuwied u. Berlin 1964, 201-231, hier 204 und Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 10, Berlin 1961, 314-324, hier 320. 12 Vgl. Ralf Krause, Marc Rölli, Mikropolitik. Eine Einführung in die politische Philosophie von Deleuze und Guattari, Wien 2010.

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näre Züge, indem die Freiheitsversprechen der Revolutionsjahre gegen ihren Verrat durch die napoleonische Politik akzentuiert werden.13 Im Unterschied zu den prominenten Repräsentanten der deutschen Klassik (Schiller, Goethe, Hegel) liegt Kleist zufolge die Lösung des Revolutionsproblems gerade nicht in der vernünftigen Festigung staatlich-hierarchischer Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft. In ihr wiederholt sich nur die Abgrenzung gegen die Unfreien. Anders gesagt, geht es bei ihm nicht um die Beherrschung der Natur (und der entfesselten Triebkräfte: des Pöbels und überhaupt der revolutionären Unordnung), sondern um die Reflexion auf ihre Konstruiertheit – und damit auch um ihre Inszenierung. Rousseaus Idee des Naturzustands wird dabei (in einem revolutionären Sinne) umgearbeitet. Mit der Figur des Hermann wird ein Fürst (der Cherusker) ausgewählt, der seine Feinde kennt, weil er in Rom Erziehung und Bildung erhalten hat. Ebenso werden von Kleist bestimmte Leistungen Napoleons durchaus gewürdigt – etwa der Code Civil, die Abschaffung der Feudalverfassung, der Patrimonialgerichte etc. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Aber diese Errungenschaften rechtfertigen nicht die militärische und kulturelle Hegemonie der Franzosen insgesamt: die Besteuerung, Unterjochung, Truppenerhebung, Machtwillkür.14 Mikropolitisch lesen, das bedeutet, die Strategie Hermanns nicht im Sinne einer Eigentum und Herrschaftsanspruch sichernden Gebietspolitik (miss) zu verstehen.15 Kleists Deutsch-

13 Vor Augen gestanden hat Kleist etwa der Sklavenaufstand in Haiti, wie seine Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ beweist. Es war Napoleon, der die Aufhebung der Sklaverei in Haiti wieder rückgängig gemacht hat. 14 Vgl. II, 380-381. 15 „Zuvörderst muß die Regierung von Österreich sich überzeugen, daß der Krieg, den sie führt, weder für den Glanz noch für die Unabhängigkeit, noch selbst für das Dasein ihres Thrones geführt werde, welches, so wie die Sache liegt, lauter niedere und untergeordnete Zwecke sind […]“, sondern für die Freiheit… (II, 381) „Was gilt es in diesem Kriege? […] Gilt es, eine Provinz abzutreten, einen Anspruch auszufechten, oder eine Schuldforderung geltend zu machen […]?“ (II, 377)

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land ist lediglich ein kommendes Land, ein Land nomadischer Freiheiten, nicht nationalstaatlicher Identitätspolitik.16 Die folgende Einteilung orientiert sich an der Einteilung des Dramas in 5 Akte. Der aus mikropolitischer Sicht vorgenommenen Rekonstruktion des Aktes folgt jeweils eine kurze Kommentierung.

I. Im ersten Akt gibt Kleist eine strategische Lagebeschreibung des Krieges zwischen Römern und Germanen, die ganz „für den Augenblick berechnet“ (II, 821) ist. Die Fürsten der germanischen Stämme suchen Hermann auf, um ihn – den „letzten Pfeiler“ im „allgemeinen Sturz Germanias“ (I, 535) – für ein Bündnis gegen Rom zu gewinnen. In die Enge gedrängt sind sie endlich fähig, Varus’ „Verräterei“ einzusehen. Sie haben zu spüren bekommen, wie sich ihre früheren Kooperationen mit Rom zu ihrem Nachteil entwickelten. Hermann aber will von einem Bündnis nichts wissen: „Nach allem, was geschehn, find ich/ Läuft nun mein Vorteil ziemlich mit des Varus,/ Und wenn er noch darauf besteht,/ So nehm ich ihn in meinen Grenzen auf.“ (I, 542) Mit diesen Worten stößt er sie vor den Kopf. Sie können nicht begreifen, was sie da hören. Schließlich wird auch Marbod, Fürst der Sueven (oder der Markomannen), gegen den sich Varus mit Hermann (zum Schein) verbünden will, mit Geld, Waffen und Kriegskunst von den Römern unterstützt. Begreift Hermann das nicht? Warum will er dem Römerkaiser „erliegen“? Hermanns Antwort ist kompliziert und umfasst vier unterschiedliche Dinge. Zunächst stellt er die aktuelle Situation als eine dar, die den Mut zur

16 Vgl. Hermanns Bemerkung zu Aristan: „Du bist imstand und treibst mich in die Enge,/ Fragst, wo und wann Germanien gewesen?/ Ob in dem Mond? Und zu der Riesen Zeiten?“ (I, 627) Im Katechismus der Deutschen heißt es: „Wo find ich es, dies Deutschland, von dem du sprichst, und wo liegt es? […] – Auf der Karte [vom Jahr 1805] […] – Napoleon […] hat es, nach dem Frieden [von Preßburg], durch eine Gewalttat zertrümmert […]“ – und doch ist es noch vorhanden: „seit Franz der Zweite […] wieder aufgestanden ist, um es herzustellen, und der tapfre Feldherr, den er bestellte, das Volk aufgerufen hat, sich an die Heere, die er anführt, zur Befreiung des Landes, anzuschließen.“ (II, 350-351)

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Entscheidung für oder wider verlangt. „Die Zeit stellt, heißen Dranges voll, die Gemüter/ Auf eine schwere Prob; und manchen kenn ich besser,/ Als er in diesem Augenblick sich zeigt.“ (I, 543) Dagobert und Selgar, Fürsten der Marsen und Brukterer, streiten sich um den „Strich am Gestad der Lippe“ und sind daher gegen Varus’ Kriegslist nicht resistent (ebd.). „Wollt ich auf Erden irgend was erringen,/ Ich würde glücklich sein, könnt ich mit Männern mich,/ Wie hier um mich versammelt sind, verbinden;/ Jedoch, weil alles zu verlieren bloß/ Die Absicht ist – so läßt, begreift ihr/ Solch ein Entschluß nicht wohl ein Bündnis zu […].“ (I, 543) Hermann will nichts erringen. Er sieht ein, dass er bereit sein muss, zu erliegen und zu verlieren.17 Zweitens macht er klar, dass er nicht dem Wahn blinder Hoffnungen und Träumereien eines möglichen Sieges verfallen will. „Wie wollt ihr doch, ihr Herrn, mit diesem Heer des Varus/ Euch messen – an eines Haufens Spitze,/ Zusammen aus den Waldungen gelaufen,/ Mit der Kohorte, der gegliederten,/ Die, wo sie geht und steht, des Geistes sich erfreut.“ (I, 544) Tatsächlich bedarf es, drittens, einer Kriegslist, die die Römer mit ihren eigenen Waffen schlägt, indem man sie im Glauben lässt, es mit leicht zu überlistenden Barbaren zu tun zu haben. Varus muss glauben, dass man ihn (aus freien Stücken und aus Gründen letzter Not) gegen Marbod zur Hilfe ruft. Daher ist es Hermanns „ganze Sorge“, „wie ich, nach meinen Zwecken, Geschlagen werd.“ (I, 545, Herv., Vf.) „Alles zu verlieren“ bedeutet daher viertens nicht, sich zu ergeben: „Einen Krieg, bei Mana! will ich/ Entflammen, der in Deutschland rasselnd,/ Gleich einem dürren Walde, um sich greifen,/ Und auf zum Himmel lodernd schlagen soll!“ (I, 545) Es bedeutet aber, bereit zu sein, auf Macht, Eigentum und Privilegien zu verzichten. „Kurz, wollt ihr, wie ich schon einmal euch sagte,/ Zusammenraffen Weib und Kind,/ Und auf der Weser rechtes Ufer bringen,/ Geschirre, goldn’ und

17 Das entspricht dem Grundsatz der Opferbereitschaft, den die Reformer um den Freiherrn vom Stein aufstellen, wenn sie von den alten Mächten einen Verzicht auf die traditionellen Privilegien fordern. Nicht um Preußen (Cheruska) allein geht es, sondern um Deutschland. (Dass Deutschland und Germanien zweierlei sind, wird – auch im Hinblick auf die Deutung von Kleists Drama – dann vergessen, wenn man dazu übergeht, die Verbindung als realhistorische zu konstruieren.) Ein freiwilliger Zusammenschluss aller Völker Deutschlands ist nach Gneisenau das realpolitische Ziel der Gegenwart. Vgl. dazu Samuel, Kleists Teilnahme, a. a. O., 140.

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silberne, die ihr/ Besitzet, schmelzen, Perlen und Juwelen/ Verkaufen oder sie verpfänden,/ Verheeren eure Fluren, eure Herden/ Erschlagen, eure Plätze niederbrennen,/ So bin ich euer Mann.“ (I, 546)18 Auf dieses Angebot können die verwirrten Fürsten nicht eingehen, schließlich sind die Fluren, Herden und Plätze genau die Dinge, die sie im Krieg verteidigen wollen. Mit den Worten: „Nun denn, ich glaubte, eure Freiheit wärs“ (I, 547) bricht Hermann das Gespräch ab. Übersetzt ins Jahr 1808 heißt das: Auf dem Spiel steht die Freiheit der Deutschen – und damit etwas nie Dagewesenes. Napoleon alias Varus hat sich zum Ziel gesteckt, ganz Deutschland zu unterjochen.19 Und ihm gelingt das, weil er die Landesfürsten gegeneinander ausspielt, und sie in einzelne Häppchen portioniert, die sich eins nach dem anderen verspeisen lassen. Ein Bündnis gegen Napoleon macht aber nur Sinn, wenn seine Kriegspolitik durchschaut und eine die Fürstentümer verbindende Idee hervorgebracht wird, die ihre Einzelinteressen übersteigt. Diese Idee bezeichnet Kleist als Freiheit.20

II. Im zweiten Akt wechselt die Szene von einer Gegend im Wald nach Teutoburg. Hier werden Leserin und Leser Zeuge, wie Hermann auf den Vorschlag des Varus eingeht, ins Cheruskerland mit drei Legionen einzurücken und den Marbod zu bekämpfen. Seinem Legaten, dem Ventidius, teilt er

18 Vgl. II, 381. 19 „Es wäre schrecklich, wenn dieser Wüterich sein Reich gründete. Nur ein sehr kleiner Teil der Menschen begreift, was für ein Verderben es ist, unter seine Herrschaft zu kommen. Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf eine Ausplünderung abgesehen, um Frankreich reich zu machen.“ (II, 771) Vgl. II, 761. 20 Vgl. Kleists Brief an Rühle vom November 1805: „Es wird sich aus dem ganzen kultivierten Teil von Europa ein einziges, großes System von Reichen bilden, und die Throne mit neuen, von Frankreich abhängigen, Fürstendynastien besetzt werden. […] Warum sich nur nicht einer findet, der diesem bösen Geiste der Welt die Kugel durch den Kopf jagt. Ich möchte wissen, was so ein Emigrant zu tun hat.“ (II, 761)

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mit, „Cheruskas ganze Macht […] als ein Vasall, zu Augusts Füßen nieder[zulegen]“ (I, 550). Diese Entscheidung wird herbeigeführt, indem Hermann in Aussicht gestellt wird, nach dem Willen Roms als Herrscher ganz Deutschlands eingesetzt zu werden. Hermann lässt sich auf das Spiel ein und markiert den naiven, unzivilisierten Barbaren: „Denn dieses Ziel, das darf ich dir gestehn,/ Reizt meinen Ehrgeiz, und mit Neid/ Seh ich den Marbod ihm entgegeneilen.“ (I, 549) Scheinbar überzeugend räumt Ventidius das Gerücht aus dem Weg, „Ein Neffe werd Augusts, sobald es nur erobert,/ In Deutschland, als Präfekt sich niederlassen;/ Und wenn gleich Scipio, Agricola, Licin,/ Durch meinen großen Kaiser eingesetzt,/ Nariska, Markoland und Nervien jetzt verwalten:/ Ein Deutscher kann das Ganze nur beherrschen!“ (I, 549) Nachdem sich Hermann in die Arme Roms geworfen hat, sucht Ventidius Hermanns Frau Thusnelda auf. Denn er hat noch ein Geschäft für Livia, die Kaiserin, zu erledigen. Thusnelda ist von Hermann instruiert, Ventidius „mit falschen Zärtlichkeiten“ zu umgarnen. Sie glaubt an die aufrichtigen Gefühle des Ventidius für sie – auch als dieser ihr ohne Erlaubnis (und nur zum Schmachten, wie er vorgibt) eine blonde Locke abschneidet. Mit der abgeschnittenen Locke wird für Hermann deutlich, dass Ventidius im Sinn hat, Thusneldas „Scheitel ratzenkahl […] abzuscheren“ – und die Haare nach Rom zu bringen. „Thuschen! Sieh mich mal an! – Bei unsrer Hertha!/ Ich glaub, du bildst dir ein, Ventidius liebt dich?“ (I, 556) Und als er noch hinzufügt: „Nun, Thuschen, ich versichre dich,/ Ich liebe meinen Hund mehr, als er dich“ (I, 557) – da reagiert sie etwas empfindlich: „Dich macht, ich seh, dein Römerhaß ganz blind./ Weil als dämonenartig dir/ Das Ganz’ erscheint, so kannst du dir/ Als sittlich nicht den Einzelnen gedenken.“ (I, 557) Die Szene macht deutlich, wie auf beiden Seiten falsch gespielt wird: auf Seiten der Römer, um Gebietsgewinne zu erzielen und andere Beute (Haare und Zähne etc.); auf Seiten der Cherusker, um die Römer in Sicherheit zu wiegen. Auf diesem Weg suchen sie ihrer militärischen Übermacht zu begegnen – nicht als Eroberer, sondern als Gezwungene, nämlich der Sklaverei zu entgehen, indem sie ihre Freiheit verteidigen.21 In der dritten Szene des zweiten Akts sendet Hermann einen geheimen Boten zu Marbod. Erst hier werden seine Kriegspläne offenbar. Er bietet Marbod an, ihn gegen die Römer zu unterstützen. Lieber will er sich dem

21 Vgl. II, 360.

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Marbod als den Römern unterwerfen. Sein neuer Kriegsplan sieht vor, dass Marbod früher als erwartet die Weser überquert und den römischen Legionen entgegen kommt. Hermann fällt ihnen dann in den Rücken. „Wenn nun der Tag der Nornen purpurn/ Des Varus Zelt bescheint, so siehst du, Freund Luitgar,/ Ist ihm der Lebensfaden schon durchschnitten. Denn nun fällt Marbod ihn von vorn,/ Von hinten ich ihn grimmig an […].“ (I, 561) Mit dem Brief sendet er seine beiden Söhne und einen Dolch als Vertrauensbeweis. Steht das Cheruskerland für Preußen, so die Sueven für Österreich. In der Kleist-Forschung wurde auf die Nähe zu den preußischen Reformern Stein, Hardenberg, Gneisenau, Scharnhorst hingewiesen. Die Hermannsschlacht greift demnach die Insurrektionspläne der Reformer auch inhaltlich auf: die Einrichtung von Landwehr und Landsturm entspreche der neuen postrevolutionären Kriegsqualität. Durch die Annäherung von Österreich und Preußen werde Scharnhorst zum Entwurf eines Kriegsplans veranlasst, die napoleonische Armee im Oder-Weichsel-Dreieck einzukreisen.22 Die Bemerkung zu Augusts Neffen ist eine deutliche Anspielung auf Napoleons dynastische Politik, die abhängigen Gebiete von Familienangehörigen regieren zu lassen. Nach dem Frieden von Tilsit wurde zum Beispiel per Dekret vom 18.8.1807 von Napoleon das Königreich Westfalen für seinen jüngsten Bruder Jérôme (genannt Hieronymus Napoleon) geschaffen. Ein weiteres wichtiges Thema ist hier das Sittengesetz und seine informelle Überschreitung, die sich auf den „animalischen“ Körper des Menschen direkt bezieht. Dazu weiter unten mehr.

22 Vgl. Richard Samuel, Heinrich von Kleists Teilnahme, a. a. O. 1995, 138 ff. und Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg 1987. 1813 werden etliche Heeresreformen in Preußen umgesetzt, z. B. wird die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, Landwehr (Reservisten) und Landsturm (die komplette restliche männliche Bevölkerung zwischen 17 und 60) etabliert. Damit reagiert Preußen auf die neue Qualität der napoleonischen Kriegsführung. Vgl. dazu Clausewitz, Vom Kriege [1832-34], Bonn 1980, 970 f. („Seit Bonaparte also hat der Krieg, indem er zuerst auf der einen Seite, dann auch auf der anderen wieder Sache des ganzen Volkes wurde, eine ganz andere Natur angenommen […].“)

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III. Die römischen Legionen sind wie aufgefordert unterwegs nach Teutoburg. Sie kreuzen auf ihrem Weg die Siedlungen Thuiskon, Helakon und Herthakon. Hermann beobachtet aus der Ferne, wie Rauchwolken aus den geplünderten und in Brand gesteckten Plätzen aufsteigen. Hauptmänner berichten von einer erschlagenen Frau und ihrem Säugling und von einem Aufruhr, den eine von den Römern gefällte Wodanseiche verursacht. Auf diese Meldungen reagiert Hermann mit der Verbreitung von Gerüchten: nicht drei sondern sieben Siedlungen seien ausgeraubt worden und abgebrannt; der Mann der Wöchnerin sei lebendig begraben worden und die Römer hätten verlangt, das Knie vor ihren Göttern zu beugen.23 Außerdem schickt er seine eigenen Leute aus, die als Römer verkleidet daran gehen, zu „sengen“, zu „brennen“ und zu „plündern“ (I, 566). Während sie den Einzug des Varus unter Aufbietung aller Wohltaten der Gastfreundschaft erwarten, unterhält sich Hermann mit Thusnelda über Haare. „Thuschen!/ Wie wirst du aussehn, liebste Frau,/ Wenn du mit einem kahlen Kopf wirst gehen?“ (I, 568) Die Haare werden als Beispiel genommen, um erklären zu können, warum überhaupt „die Kohorten […] übern Rhein gekommen“ sind (I, 568). Hermann erinnert seine Frau an das Schicksal einer Ubierin, welcher drei Römer auf offener Straße die Haare geschoren und die Zähne „mit einem Werkzeug“ aus dem Mund genommen haben. Wozu das Ganze? „Die schmutzgen Haare schneiden sie sich ab,/ Und hängen unsre trocknen um die Platte!/ Die Zähne reißen sie, die schwarzen, aus,/ Und stecken unsre weißen in die Lücken!“ (I, 569-570) Und auf die Frage „mit welchem Recht?“ antwortet Hermann mit einer Gegenfrage: „Für wen erschaffen ward die Welt, als Rom?“ (I, 570) Der Wurm gibt Seide und der Panther Fell – und auch der Deutsche ist (aus römischer Sicht) kein Mensch, sondern ein Tier, das man ausschlachten kann: „Eine Bestie,/ Die auf vier Füßen in den Wäldern läuft!/ […] Just einen Pfeilschuß wert, mehr nicht,/ Und ausgeweidet und gepelzt dann wird.“ (I, 570) Endlich erscheint Varus, mitsamt seiner prachtvoll ausgerüsteten Legionen und mit drei deutschen Fürsten im Schlepptau, die sich seinem Heereszug angeschlossen haben. Während zwei von ihnen einen eher gequälten

23 Vgl. I, 564-565.

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Eindruck machen, ist Aristan ein überzeugter Anhänger Roms. Mit Varus tauscht Hermann einige Nettigkeiten aus und versichert ihm, dass das Malheur mit der heiligen Eiche kein Drama ist. Sie besprechen kurz den Schlachtplan gegen Marbod. Den Septimius lässt Varus als „geschickten Römerfeldherrn“ in Hermanns Reihen. Insgeheim von Varus darüber befragt, was er denn von Hermann halte, ob ihm zu trauen sei, antwortet Ventidius: „Er ist ein Deutscher./ In einem Hämmling ist, der an der Tiber graset,/ Mehr Lug und Trug, muß ich dir sagen,/ Als in dem ganzen Volk, dem er gehört.“ (I, 576) Beide spekulieren darauf, bald „Cheruska als ein erobertes Gebiet“ zu sehen. Deutlich wird, dass die Römer Hermann nur gebrauchen wollen, um den Marbod zu besiegen. „Wahr ists, Rom wird auf seinen sieben Hügeln,/ Vor diesen Horden nimmer sicher sein,/ Bis ihrer kecken Fürsten Hand/ Auf immerdar der Szepterstab entwunden. […] So denkt August, so denket der Senat.“ (I, 577) Die Lage spitzt sich zu. Hinter der oberflächlichen Einigkeit in der Sache schwelen Unstimmigkeit und Verrat. Kleist hebt die napoleonische Truppenbewegung besonders hervor, die ihre Schnelligkeit ihrer Konsumtechnik verdankt. Sie führen keinen schwerfälligen Tross mit sich, sondern ernähren sich vom Land, das sie durchqueren. Einmal einmarschiert, folgt auf die militärische eine politische Lösung. Nicht unähnlich der Art und Weise, wie Kleist in seinem Entwurf des Lehrbuchs der französischen Journalistik über Zensur und Propaganda unterrichtet, operiert auch Hermann mit der Verbreitung falscher Nachrichten – um die Empörung (und den Hass) wachzurufen.24 Kleists Analyse eines Nürnberger Zeitungsartikels macht die napoleonische Verzerrung der Begebenheiten deutlich. „Es sind nicht sowohl die Franzosen, welche die Freiheitsschlacht, die bei Regensburg gefochten ward, entschieden haben, als vielmehr die Deutschen selbst. Der tapfre Kronprinz von Bayern hat zuerst, an der Spitze der rheinbündischen Truppen, die Linien der Österreicher durchbrochen. Der Kaiser Napoleon hat ihn, am Abend der Schlacht, auf dem Walplatz umarmt, und ihn den Helden der Deutschen genannt.“ (II, 373)

Maximilian I. von Bayern ist kein schlechter Kandidat für die Figur des Aristan: mit Napoleon (seit 1805) verbündet, wird er 1806 nach dem Frie-

24 Vgl. II, 361-367.

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den von Pressburg zum König Bayerns gemacht – und erhält österreichische Gebiete (wie Tirol). In den Schlachten von Regensburg werden die Österreicher mit Bayerns Hilfe geschlagen, in der Schlacht zu Aspern kann sich der Erzherzog Karl dagegen durchsetzen. Erst in Wagram ist die Niederlage Österreichs besiegelt. Kleist bezeichnet Maximilian als „entartet“. Zwar habe ihn Napoleon „Held der Deutschen“ genannt, aber „sein Herz sprach heimlich: ein Verräter bist du; und wenn ich dich werde gebraucht haben, wirst du abtreten!“ (II, 375) Es ist genau diese Art diplomatische Verräterei, auf welche die deutschen Fürsten reihenweise hereinfallen. In der Rede von einfältigem Hammel und wilder Bestie verbinden sich die Semantiken von barbarisch-zivilisiert, Natur-Geist, Tier-Mensch in einer Weise, die klar macht: die Deutschen sind geist- und kulturlos, naturverbunden und mit dem zufrieden, was vor ihrer Nase wächst. Naturverbunden, das kann auch heißen: ihren Triebmächten hilflos ausgesetzt, wenn sie aufgestachelt werden und in Massen agieren. Weil es keine Menschen sind, kann man auch die sonst verbindlichen Gesetze und moralischen Forderungen außer Kraft setzen. Humanität ist quasi ein Grundsatz, der (nur) für alle humanen, zivilisierten Menschen gilt. Die Frage ist dann: Wie kann man sich gegen Napoleon (und die Römer) zur Wehr setzen? Ein Naturrecht mag Anspruch auf universelle Geltung anmelden. Positives Recht, das staatlich legitimiert ist, hat Grenzen, die mit seiner Begründung oder Instituierung zusammenhängen. Die kaiserliche Majestät, so heißt es bei Justinian, muß nicht allein mit Waffen geschmückt, sondern auch mit Gesetzen gerüstet sein (non solum armis decoratam, sed etiam legibus oportet esse armatam).25 Kleists Schilderung des Aufstands der Germanen wurde mit einem Partisanenkampf verglichen. Nach Carl Schmitt ist Kleists Drama „die größte Partisanendichtung aller Zeiten“.26 Der Begriff „Guerilla“ (kleiner Krieg) entstand zur Kennzeichnung des spanischen Unabhängigkeitskriegs (18081812) – und meint in der Sache dasselbe. Stets geht es darum, eine illegale Besetzung zu bekämpfen (und sofern ein Angriffskrieg dem Völkerrecht

25 Zit. nach Cornelia Vismann, „Die Macht des Anfangs“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Heft 2, Hamburg 2011, 57-68, hier 61. Vgl. ebd. zu Heideggers Begriff des Imperiums: 67. 26 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 31962, 15.

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widerspricht, gibt es in manchen Ländern sogar eine „Widerstandspflicht“). Fraglich ist hier, ob Hermann – eben weil er die germanischen Volksstämme zu einen sucht und seine Kämpfer in geordneten Heerscharen auflaufen lässt – als echter Guerillero gelten kann. Einen Reichsgründungsmythos, wie es die Nazis wollten, wird man aus Kleists Stück aber nur schwer entnehmen können. Entscheidend bleibt zunächst, dass die Eroberungen Napoleons, auch wenn sie mit der Durchsetzung eines neuen Rechtssystems operieren, nicht-sanktionierte Ausplünderungen darstellen, „um Frankreich reich zu machen“. Unterstellt man sich den rechtlichen Maßstäben der Invasoren, so gibt man die Waffen aus der Hand, gegen sie Widerstand zu leisten. Das gilt einerseits mit Blick auf die Rechtsgrundsätze selbst (z. B. im Hinblick auf die Trennung von Kirche und Staat) und andererseits in Bezug auf ihre Nichtanwendung (z. B. im Falle der Eigentumsrechte), sofern sich ihre Instituierung in einem „vorinstitutionellen“ Raum vollzieht, nämlich in einem zu besetzenden Gebiet.

IV. Marbod erhält die Nachricht Hermanns – und fragt sich nun, ob er oder Hermann der Betrogene ist. Hat Hermann Recht, so hat Varus sein Bündnis verraten. Oder ist es eine List, ihn wegzulocken? Die Fragen klären sich, indem die mitgeschickten Kinder tatsächlich als Hermanns Söhne erkannt werden. Und als Marbod nach dem römischen Legaten schickt, stellt sich heraus, dass dieser bereits geflohen ist, mit all seinen Leuten. In dem Brief, den er hinterlassen hat, wird mitgeteilt, dass Hermann nun an Marbods Stelle die Oberherrschaft Germaniens erhalten soll, da er sich voll und ganz für Rom entschieden habe. Marbod entschließt sich daraufhin, Hermanns Plänen zu folgen, und die Weser zu überqueren. In Teutoburg verhalten sich die verbliebenen Römer derweil ruhig, sehr zum Leidwesen Hermanns. „Ich aber rechnete, bei allen Rachegöttern,/ Auf Feuer, Raub, Gewalt und Mord,/ Und alle Greul des fessellosen Krieges!/ Was brauch ich Latier, die mir Gutes tun?/ Kann ich den Römerhaß, eh ich den Platz verlasse,/ In der Cherusker Herzen nicht/ Daß er durch ganz Germanien schlägt, entflammen:/ So scheitert meine ganze Unternehmung!“ (I, 585) Mit Eginhardt, seinem Ratgeber, geht er durch die Straßen, auf der Suche nach irgendeinem Frevel. Und tatsächlich: ein Aufruhr! Eine

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„ganze Meute geiler Römer“ sind über ein junges Mädchen hergefallen und haben sie geschändet, verstümmelt und entehrt: die Hally. Ihr herbeigerufener Vater und zwei ihrer Vettern erdolchen sie daraufhin in ihrer Verzweiflung. Dann tritt Hermann auf, die Tat zu rächen – und entwickelt einen Plan, ganz Germanien gegen die Römer aufzubringen. „Brich, Rabenvater, auf, und trage, mit den Vettern,/ Die Jungfrau, die geschändete,/ In einen Winkel deines Hauses hin!/ Wir zählen funfzehn Stämme der Germaner;/ In funfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe,/ Teil ihren Leib, und schick mit funfzehn Boten,/ Ich will dir funfzehn Pferde dazu geben,/ Den funfzehn Stämmen ihn Germaniens zu./ Der wird in Deutschland, dir zur Rache,/ Bis auf die toten Elemente werben:/ Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend,/ Empörung! rufen, und die See,/ Des Landes Ribben schlagend, Freiheit! brüllen.“ (I, 590-91) Nachdem er diese Maschine der Mobilmachung mit allen Mitteln der Nachrichtentechnik und der Affektmanipulation in Gang gesetzt hat, macht sich Hermann bereit, dem Varus und seinen Legionen zu folgen – ohne dabei seine offene Flanke im Norden zu schützen, denn: „Kämpf ich auch für den Sand, auf den ich trete,/ Kämpf ich für meine Brust?“ (I, 599) Die zurückgebliebenen römischen Kohorten sollen am Morgen von Astolf, dem Anführer der verbliebenen Cherusker, vollständig niedergemacht werden. Erneut macht Thusnelda moralische Einwände: „Die Guten mit den Schlechten, rücksichtslos?“ (I, 593) Hermann erwidert, dass die Guten die Schlechtesten sind, weil sie es eigentlich besser wissen müssten – und doch als Sklaven dem Tyrannen dienen. Sie „veruntreuen“ sein Herz – und bringen seine Entschlüsse ins Wanken. (Auch die Moral wird im Krieg strategisch eingesetzt; und wer das nicht versteht, hat schon verloren.) Thusnelda bittet zuletzt um das Leben des Ventidius, was Hermann gewährt. Allerdings zeigt er ihr den Brief mit der Locke, den dieser an Livia geschrieben hat (und den ein Späher dem Boten abgenommen hat). Darin muss sie zu ihrem Entsetzen lesen: „Varus, o Herrscherin, steht, mit den Legionen,/ Nun in Cheruska siegreich da;/ Cheruska, faß mich wohl, der Heimat jener Locken,/ Wie Gold so hell und weich wie Seide,/ Die dir der heitre Markt von Rom verkauft./ Nun bin ich jenes Wortes eingedenk […]/ Hier schick ich von dem Haar, das ich dir zugedacht,/ Und das sogleich, wenn Hermann sinkt,/ Die Schere für dich ernten wird,/ Dir eine Probe zu, mir klug verschafft;/ Beim Styx! so legts am Kapitol,/ Phaon, der Krämer, dir nicht

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vor:/ Es ist vom Haupt der ersten Frau des Reichs,/ Vom Haupt der Fürstin selber der Cherusker!“ (I, 596-97) Wiederum agiert Hermann geschickt im Feld mikropolitischer Propaganda, für den Fragen des Besitzes, aber auch moralische Einwände irrelevant werden. Mit der Unterjochung der germanischen Völker verbindet sich eine Schuld, die es rechtfertigt, jeden der fremden Eindringlinge aus dem Land zu jagen (und zu töten). Wo scheinbar das gute Herz der Römer schlägt, zählen doch im Kern ihre ökonomischen Gewinn- und KarriereInteressen. Die Zerteilung der Hally zitiert eine alttestamentarische Geschichte aus dem Buch der Richter, die nicht nur bei Rousseau, sondern auch mitten im Trubel der Revolutionsjahre aufgerufen wird. 1793 steht in der Berliner Vossischen Zeitung: „Legendre (seines Handwerks ein Fleischer, aber itzt ein Gesetzgeber) schlug vor: man sollte Ludwig XVI. in Stücken hauen, sie einpökeln, und jedem Department eins davon zuschicken, daß es am Fuße des Freiheitsbaumes verbrannt würde.“27 Wie HansJürgen Schings gezeigt hat, stehen einige Grausamkeiten Kleists in enger Verbindung zu Begebenheiten bei der Erstürmung der Tuilerien und den Septembermorden.28 Freiheit und Terror lassen sich nicht voneinander trennen. In Kleists Erdbeben-Erzählung steht auf der einen Seite die paradiesisch anmutende Friedens- und Föderationsfeier, auf der anderen Seite die Guillotine, die den politischen Körper zurechtschneidet. Victor Hugos Musterrevolutionär Cimourdain erklärt: „La révolution […] veut pour l’aider des ouvrier farouches. Elle repousse toute main qui tremble. Elle n’a foi qu’aux inexorables. Danton, c’est le terrible, Robespierre, c’est l’inflexible, Saint-Just, c’est l‘irréductible, Marat c’est l’implacable. […] Ces noms-là sont nécessaires. Ils valent pour nous des armées. Ils terrifieront l’Europe.“29 Der Abschaffung der Grundregeln des vorrevolutionären Krieges entspricht die Parole von der humanen Inhumanität (oder von der Tu-

27 Vgl. dazu Hans-Jürgen Schings, „Über einige Grausamkeiten bei Heinrich von Kleist“, in: Kleist-Jahrbuch 2009, 115-137, hier 120. 28 Schings zitiert aus den Berichten Konrad Engelbert Oelsners, die in der Zeitschrift Minerva (1792, 1793) und dann auch in dem Band Luzifer oder gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution, 2 Teile, 1797-99, Nachdruck Kronberg 1977, erschienen sind. 29 Victor Hugo, Quatrevingt-treize, 2 Bde., Paris o.J., Bd. 2, 66. Zit. nach Schings, Über einige Grausamkeiten, a. a. O., 124 f.

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gendhaftigkeit des Terrors). Das Mitleid muss weichen, wenn der Befreiungs- und Volkskrieg auf der Höhe der Zeit, d. h. nach der Revolution, geführt werden will.

V. Der Rest des Dramas ist schnell erzählt. Varus’ Legionen werden von Hermanns Boten in die Irre geführt. Sie laufen im Kreis: nach Pfiffikon statt nach Iphikon, eine in der römischen Aussprache ununterscheidbare phonetische Differenz – und landen im Morast tief im Wald. Eine Alraune tritt auf und prophezeit dem Varus den Tod. Boten verkünden, dass Marbod entgegengerückt und Hermann ihnen dicht auf den Versen ist. Aristan, der zu Varus übergelaufene Ubierfürst, teilt mit, dass Hermann und Marbod verbündet sind: ein Brief Hermanns habe alle Deutschen in den römischen Reihen aufgefordert, sich ihm anzuschließen – und alle (außer ihm selbst) seien diesem Aufruf gefolgt. „Gewiß? Gewiß? – Daß mir der Schlechtste just,/ Von allen deutschen Fürsten, bleiben muß! –/ Doch, kann es anders sein? - - O Hermann! Hermann!/ So kann man blondes Haar und blaue Augen haben,/ Und doch so falsch sein, wie ein Punier?“ (I, 608) Währenddessen wird Hermann mit einem meuternden Cheruskerheer konfrontiert, das sich weigert, gegen Marbod zu ziehen. Nachdem er zur allgemeinen Freude seine wahren Absichten erklärt hat, verlangt er nach dem Septimius, dem „Halsring“ der Sklavenkette. Septimius muss sterben. Der folgende Dialog ist eine Miniatur der Kleistschen Problemstellung von Gesetz und Widerstand: S: „Wie, du Barbar! Mein Blut? Das wirst du nicht – !// H: Warum nicht?//– S: Weil ich dein Gefangener bin!/ An deine Siegerpflicht erinnr’ ich dich!// H: An Pflicht und Recht! Sieh da, so wahr ich lebe!/ Er hat das Buch vom Cicero gelesen./ Was müßt ich tun, sag an, nach diesem Werk?// S: Nach diesem Werk? Armsel’ger Spötter, du! Mein Haupt, das wehrlos vor dir steht,/ Soll deiner Rache heilig sein;/ Also gebeut dir das Gefühl des Rechts,/ In deines Busens Blättern aufgeschrieben!// H: Du weißt was Recht ist, du verfluchter Bube,/ Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt,/ Um uns zu unterdrücken?/ Nehmt eine Keule doppelten Gewichts,/ Und schlagt ihn tot!“ (I, 612)

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In der Ferne singt der Chor der Barden das Schlachtlied. Es ist ein Lied der endenden Duldung und des aufgenötigten Widerstands.30 Hermann entfaltet seinen Schlachtplan – ganz nach Napoleons Art, durch die Scharen durchzupreschen und das Heer zu zerteilen: auf Varus zu, dem Marbod entgegen. Nur die römischen Unterdrücker sollen vernichtet werden, nicht aber die übergelaufenen Deutschen. „Vergebt! Vergeßt! Versöhnt, umarmt und liebt euch!“ (I, 615) Zurück in Teutoburg trifft sich Thusnelda mit Ventidius zu einem vertrauten Stelldichein. Sie hat dafür gesorgt, dass eine hungrige Bärin an den Ort des Treffens gebracht wurde – und lockt den Ventidius dazu. „V: Zeus, du, der Götter und der Menschen Vater!/ Was für ein Höllen-Ungetüm erblick ich?// Th: Was gibt’s, Ventidius? Was erschreckt dich so?// V: Die zottelschwarze Bärin von Cheruska,/ Steht, mit gezückten Tatzen, neben mir!// […] Th: Die Bärin von Cheruska? […] Laß den Moment, dir günstig, nicht entschlüpfen,/ Und ganz die Stirn jetzt schmeichelnd scher ihr ab!/ […] Ach, wie die Borsten, Liebster, schwarz und starr,/ Der Livia, deiner Kaiserin, werden stehn,/ Wenn sie um ihren Nacken niederfallen!“ (I, 619) Seine Leiche wird dann von Astolf weggebracht, der gleich beginnt, die zurückgebliebenen Römer anzugreifen und ganz Teutoburg in „Schutt und Asche“ zu legen. Macht nix, sagt Hermann später: „Wir bauen uns ein schönres auf.“ Erst die Schluss-Szene spielt auf dem Schlachtfeld. Marbod wird berichtet, dass die Germanen in den Reihen der Römer revoltierten und dann – zur rechten Zeit, bevor Varus sie erreichte – der Brunhold mit dem Sueven-Heer die Schlacht bereits entschied. Varus tritt verwundet auf, da er vergeblich versucht hat, sich mit seinem eigenen Schwert zu töten. „Da sinkt die große Weltherrschaft von Rom/ Vor eines Wilden Witz zusammen,/ Und kommt, die Wahrheit zu gestehn,/ Mir wie ein dummer Streich der Knaben vor! […] Die Zeit noch kehrt sich, wie ein Handschuh um,/ Und über uns seh ich die Welt regieren,/ Jedwede Horde, die der Kitzel treibt.“ (I, 622) Nach einer kurzen Auseinandersetzung überlässt Hermann dem Fust den Vortritt, den Varus im Zweikampf zu besiegen. Das Stück endet damit, dass Marbod den Hermann und Hermann den Marbod zum König machen will, während der unversöhnliche Aristan hingerichtet wird.

30 „Wir übten, nach der Götter Lehre,/ Uns durch viele Jahre im Verzeihn:/ Doch endlich drückt des Joches Schwere,/ Und abgeschüttelt will es sein!“ (I, 613)

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„Und dann – [uns bleibt] nach Rom selbst mutig aufzubrechen!/ Wir oder unsre Enkel, meine Brüder!/ Denn eh doch, seh ich ein, erschwingt der Kreis der Welt/ Vor dieser Mordbrut keine Ruhe,/ Als bis das Raubnest ganz zerstört,/ Und nichts, als eine schwarze Fahne,/ Von seinem öden Trümmerhaufen weht!“ (I, 628) Hermann, „falsch wie ein Punier“, macht dem Varus einen Strich durch die Rechnung. Der Barbar erweist sich auf eine Art als zivilisiert, auch wenn er „unbeleidigt“ keinen Grund hat, fremde Völker zu unterdrücken. Thusnelda wiederum zeigt sich Ventidius so, wie er sie sehen wollte – als ein cheruskisches Tier, das interessantes Fell abwirft. Das erträgt er nicht, mit den eigenen Widersprüchen konfrontiert zu werden. Varus erscheint das Ganze wie ein Knabenstreich – mit dem Ergebnis, dass wilde (ungeordnete, getriebene) Horden die Welt regieren. Ebenso reagiert der Kurfürst im Prinzen von Homburg auf die Verteidigungsrede des Oberst Kottwitz, der das Kriegsgesetz zugunsten eines – wie der Kurfürst meint – „spitzfündge[n] Lehrbegriff[s] der Freiheit“ relativiert. (I, 699) „Was kümmert dich, ich bitte dich, die Regel, / Nach der der Feind sich schlägt: wenn er nur nieder/ Vor dir, mit allen seinen Fahnen, sinkt?/ Die Regel, die ihn schlägt, das ist die höchste!“ (I, 698) Dazu passt Hermanns Spott über Septimius’ Berufung auf Ciceros De officiis – ein in Preußen hoch geschätztes, von Christian Garve auf Anregung des alten Fritz übersetztes Werk. Darin ist von der Pflicht des Siegers die Rede, das Leben des Besiegten zu schonen (will er sich nicht „durch Grausamkeit […] der allgemeinen Rechte der Menschheit unwürdig [machen]“).31 Schließlich sind es gerade die Römer als verkleidete Franzosen, die den alten „gehegten Krieg“ der Preußen und Österreicher zu ihrem Vorteil hinter sich gelassen haben. Daraus zu lernen und ‚wettbewerbsfähig‘ zu werden, entwickelt sich eben die preußische Reformpolitik zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

VI. Kleists Hermannsschlacht kann mit guten Gründen als politische Kunst angesehen werden, die auf den Augenblick berechnet ist, d. h. auf eine aktuel-

31 Marcus Tullius Cicero, Abhandlung über die menschlichen Pflichten in drey Büchern, übers. v. Chr. Garve, Breslau 1792, 23 f.

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le Situation, indem sie eine Möglichkeit vorstellt und durchspielt, wie Napoleon zu begegnen wäre. Sie stellt keine Handlungsanweisung dar, aber sie entwirft einen Plan (im Sinne einer Situationsbeschreibung), der die virtuellen Handlungsbedingungen modelliert, Problemstellungen neu bestimmt und Lösungswege vorzeichnet.32 Kleist mach deutlich, dass der Widerstand mit dem Problem der Humanität verknüpft ist. Das heißt nicht, dass ein wahrer Revolutionär aus pragmatischen Gründen einfach das Mitleid in sich niederzukämpfen hat. Die Sache ist komplizierter. Behandeln die Römer die Germanen in der Tat wie Tiere – und lassen sich die Germanen diese Behandlung auch noch gefallen –, dann lassen sie sich auf dem Schachbrett der Weltherrschaftspläne wie Bauern hin- und herschieben. Ausgangspunkt des Widerstandes muss sein, so Kleists Hermann, das Spiel zu unterbrechen, indem die fremden Zuschreibungen – etwa des Tierstatus – entweder abgeschüttelt oder wirklich ernst genommen werden. Hält Varus den Hermann für doof, so besteht die Kriegslist eben darin, ihn in diesem Glauben zu lassen – und also ihm mit List und Täuschung zu begegnen. Immer wieder zeigt Kleist, dass der einzelne Feind nicht auf die Moral Anspruch erheben kann, eben weil er als Aggressor fungiert – und in diesem Zusammenhang an der Unterjochung (und d. h. auch: an der Behandlung der Germanen wie Tiere) partizipiert. Daher Hermanns Maßnahmen – mit Brecht zu reden – gegenüber Septimius.33

32 Am 1. Januar 1809 schickt Kleist das Manuskript der Hermannsschlacht nach Wien an Heinrich Joseph von Collin, mit den Worten: „Schlagen Sie es gefälligst der K. K. Theaterdirektion zur Aufführung vor.“ (II, 819) Am 20. April hakt er nach: „Doch, wie stehts […] mit der Hermannsschlacht? Sie können leicht denken, wie sehr mir die Aufführung dieses Stücks, das einzig und allein auf diesen Augenblick berechnet war, am Herzen liegt. Schreiben Sie mir bald: es wird gegeben; jede Bedingung ist mir gleichgültig, ich schenke es den Deutschen; machen Sie nur, daß es gegeben wird.“ (II, 824) 33 Bei Aristans Hinrichtung liegen die Dinge anders. Aristan hält an einem – man könnte sagen: antiquierten – Freiheitsbegriff („Der Fürst bin ich der Ubier,/ Beherrscher eines freien Staats,/ In Fug und Recht, mich jedem, wer es sei,/ Und also auch dem Varus zu verbinden!“ (I, 627)) fest, der für Hermann gefährlich ist, weil er die Notwendigkeit eines germanischen Bündnisses (zur wirkungsvollen Bekämpfung Roms) nicht einsieht.

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Die mikropolitische Lektüre ist auf die Konstruktion der Freiheitsidee ausgerichtet. Sie zielt auf die Beschreibung im Grunde vorhandener, aber nicht repräsentierten kollektiver Prozesse, indem ihre Zusammenhänge heraus- oder auch hergestellt werden. Kleist orientiert sich an der Schaffung politischer Assoziationen quasi sozialer Bewegungen, die das revolutionäre Freiheitsversprechen in sich aufheben.34 Propagandamaßnahmen, die Widerstandsformen bündeln und intensivieren, stellen gewissermaßen eine experimentelle Technik von „Kriegsmaschinen“ dar, die in anderer Form als militärische Operationen auch im Rahmen eines Staatsapparats funktionieren.35 Es stellt sich hier nach Kleist die Frage, wer die Propaganda einsetzt: der Angreifer, um seinen Machtbereich zu erweitern – oder aber der Widerstandskämpfer, der gegen die Missachtung seiner Freiheit aufbegehrt. Dabei handelt es sich nicht um bloße Mittel zu einem vorab festgelegten Zweck. Die Wahl der Mittel ist situationsbedingt – und steht mit den Zwecken in wechselseitiger Abhängigkeit. Die zwei obersten Grundsätze der französischen Propaganda lauten: „Was das Volk nicht weiß, macht das Volk nicht heiß“, und: „Was man dem Volk dreimal sagt, hält das Volk für wahr.“ (II, 361) Auf diese Weise soll es dazu gebracht werden zu glauben, „was die Regierung für gut findet“ (ebd.). Dagegen setzt Hermann bei den tatsächlichen, sonst aber verschwiegenen Vorfällen an, die mit dem Verlust der Freiheit verbunden sind (Mord, Plünderung, Vergewaltigung, Heteronomie). Man kann die Hermannsschlacht als nationalistischen Mythos lesen, wenn man Hermanns Strategie in den Vordergrund stellt, auf Napoleons Herausforderung nicht nur mit einem Bündnis gegen den Feind, sondern auch mit der Einrichtung eines bio- und geopolitisch gegründeten Reichs zu reagieren. Von Kleist bleibt so nicht mehr viel übrig: entweder verfällt das Stück der Kritik – oder aber (unter aller Kritik) der rechtsradikalen Vereh-

34 „Eine Gemeinschaft gilt es […], die, unbekannt mit dem Geist der Herrschsucht und der Eroberung, des Daseins und der Duldung so würdig ist, wie irgend eine; die ihren Ruhm nicht einmal denken kann, sie müßte denn den Ruhm zugleich und das Heil aller übrigen denken, die den Erdkreis bewohnen.“ (II, 378) 35 Vgl. zum Begriff der Kriegsmaschine mit Kleistbezug: Josef Nadler, Ostdeutsche Blätter, November 1927, 469, zit. in Werber, Kleists Sendung, a. a. O., 164.

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rung.36 Diese lange Zeit dominante Sichtweise (von Thomas Mann über Hans Mayer und Walter Müller-Seidel bis zu Helmut Sembdner) hat zu seiner „Ächtung“ geführt.37 Gegenwärtig begegnet man auch häufiger politisch korrekten (z. B. dekonstruktivistischen) Lesarten, die das Monströse und die eigentlichen Probleme einfach ausblenden, indem sie behaupten, Kleists Drama zeige die antihumanistischen Konsequenzen des totalen Krieges (der Revolution, der Moderne) auf – und darin bestehe sein wahres Anliegen. Das ist aber, wie gezeigt, Unfug.38 Die Probleme, die das Drama behandelt, sind durch und durch real. Und die Aussetzung moralischer und rechtlicher Grundprinzipien beruht auf Aporien, die mit der Rechtssetzung und der Notwendigkeit des Widerstands vorgegeben sind. Im Anschluss an Richard Samuel und Ruth Klüger hat man auch in der Kleist-Forschung diese Kontexte erkannt. Daran konnten meine Überlegungen anknüpfen. Eine Lösung des Problems gibt es aus meiner Sicht nicht. Aber es gibt bes-

36 Vgl. Werber, Kleists Sendung, a. a. O. Werber zeigt auf, wie die NS-Philologie Kleists Hermannsschlacht als Reichsgründungsmythos interpretiert – und in welcher Weise Kleists Drama tatsächlich dieser Interpretation Vorschub leistet. Unklar bleibt bei ihm, inwiefern der Schmittsche Deutungsrahmen selbst ein problematischer ist. 37 Vgl. Peter Hanenberg, „Ein Entwurf der Weltbewältigung: Kleists Herrmannsschlacht“, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft, Stuttgart 1995, 250-266 und Wolfgang Wittkowski, „Terror der Politik oder Politik des Terrors“, in: Beiträge zur Kleist-Forschung (8), Frankfurt/Oder 1994, 93-108. 38 Die politisch korrekte berührt sich mit der nationalistischen Deutung dort, wo sie den Bezug aufs Reich kritisch betrachtet. An diesem Punkt gewinnen beide Deutungen eine gewisse Berechtigung, nämlich wenn auf die Schluss-Szene des Dramas fokussiert wird. Hermann spricht hier davon, gegen die Römer zu ziehn. Ein Partisanenkrieg hingegen lässt sich nur auf eigenem Boden rechtfertigen – und hat auch nur dort Aussicht auf Erfolg. Vgl. Werber, Kleists Sendung, a. a. O., 170. Eine gute Darstellung dieses Zusammenhangs bietet Seán Allan, The Plays of Heinrich von Kleist. Ideals and Illusions, Cambridge UP 1996, 199222. Man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass Kleist das Stück ausschließlich für das Jahr 1809 geschrieben hat. Zweifellos kann seine Lektüre und Aufführung heute von der akademischen Reflexion profitieren, die über seine Rezeptionsgeschichte informiert ist. Hermann ist weder mit Hitler, noch mit Bismarck – und auch nicht mit dem Freiherrn vom Stein zu verwechseln.

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sere und schlechtere Situationsbeschreibungen, und das hängt nicht nur mit ihrer phänomenologischen Qualität, sondern auch mit ihrer (mikro-)politischen Perspektive zusammen – oder damit, was sie in Bewegung setzen kann. Kleist jedenfalls wollte sein Stück aufgeführt wissen – und dies lässt sich sehr genau datieren und lokalisieren: in Wien, zwischen dem 1.1.1809 und dem 6.7.1809. Hermanns Unternehmung bietet aus seiner Sicht die Möglichkeit, mit Napoleon fertig zu werden. Ob diese im Theater aufzuführende Möglichkeit in allen Punkten überzeugt – und insbesondere: ob sie in allen Punkten eine wünschenswerte Unternehmung darstellt – das sind offene Fragen, die nicht zuletzt (damals und heute) von den Reaktionen des Publikums abhängen.39

39 Vielleicht gibt es eine unerwartete Antwort auf die Frage, wer die heutigen Erben der Hermannsschlacht und des stets siegreichen Kampfes gegen die Römer sind. Es sind die wenigen unbeugsamen Gallier, die – vielleicht etwas spät – von Hermanns Widerstandsgeist inspiriert wurden. Sie machen den Deutschen vor, wie simpel – und wie wenig pathetisch und nationalistisch – eine solche Erbschaft angetreten werden kann.

Das Wissen der Darstellung Über Versuche, ins Offene zu gelangen – H. v. Kleist und G. W. F. Hegel

G ERHARD G AMM Was nicht festgehalten wird, ist nichts. Was festgehalten wird, ist tot. P. VALÉRY

Es ist meine Aufgabe, Hegels philosophische und Kleists literarische Produktion miteinander in Beziehung zu setzen. Obgleich sich dazu die DreiStadien-Lehre als Formular der Deutung anbietet, möchte ich einen anderen Weg einschlagen. Dieser bezieht die vergleichende Betrachtung auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Darstellung, die Kleist und Hegel nötigen, das, was ihnen literarisch bzw. philosophisch vorschwebt, auf diese oder jene Weise zu sagen: Wie präsentieren und organisieren sie, worum es geht? Welcher prosaischen und poetischen, logischen und rhetorischen Darstellungsformen bedienen sie sich, um ihre Projekte und Programme mit Leben zu füllen? Um die Einsicht in die Sache zu vertiefen und die Kommunikation mit der Oberfläche nicht abreißen zu lassen? Kurz, es geht um die Performance, zu der sie beider Sinn, ins Freie zu gelangen, antreibt. Entlang der Frage, was Darstellen heißt, gelangen wir fast übergangslos in das (methodische) Kraftzentrum sowohl der Philosophie wie der Dichtkunst. Über nichts sollte man geringer denken als über die Darstellung und das Wissen, das sie ermöglicht. Es wäre geradezu ein Kardinalfehler, die mit der Darstellung aufgeworfenen Probleme als zweitrangig zu betrachten, an

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ihr hängt in der (neueren) Philosophie die Wahrheit (oder vorsichtiger, die Überzeugungskraft) ihrer Aussagen, in der Literatur das nicht minder wichtige Anliegen, ob und inwieweit es ihr gelingt, Resonanz für ihre Gegenstände zu erzeugen. Walter Benjamin, ein großer Grenzgänger zwischen Literatur und Philosophie, hat es nachgerade als charakteristisch für das „philosophische Schrifttum“ angesehen, „mit jeder Wendung“ des Denkens „von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen.“1 Man könnte zur ersten, vorläufigen Orientierung bei Kleists „Marionettentheater“ von einer schwebenden, bei Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (der Schrift, auf die ich mich stütze) von einer sich vollbringenden Darstellung sprechen. Beide Texte werfen ein bemerkenswert-bedenkliches Licht auf die Macht und die Medien der Darstellung. Kein Sein ohne seine Darstellung in und mittels eines Mediums. Wenn Novalis schreibt: „Sein und Darstellung [sind, G. G.] inkommensurabel“ und Kant der Auffassung ist, durch die Berührung des Seins mit den Verstandes- und Anschauungsformen würde dasselbe – das An-sich-Sein der Dinge – unrein und unerkennbar, beißen wir mit Kleist und Hegel in den sauren Apfel: Wenn überhaupt, dann ist (das) Sein nur in und mittels figurativer, sprachlicher und begrifflicher Medien der Darstellung erkennbar, ohne dass die Darstellung das Sein gleichsam aufzehrt – wie im radikalen Konstruktivismus die Konstruktion die Realität oder heute, wo die Inszenierung einer Leistung fast schon die Leistung selbst ist. Als conditio sine qua non jeden Wissens ist seine Darstellung, genauer, das Wissen um seine Darstellung, unerlässlich, ohne dadurch bereits als Ausweis seiner Wahrheit gelten zu können. Während Kleists Text eher an ein (durch ein Gespräch gerahmtes) Gedankenexperiment erinnert, das Sein von Marionetten, Maschinisten, Makrosmaten und anderen seltsamen Wesen aus wechselnden Perspektiven zu profilieren, ist das methodische Regulativ von Hegels Dialektik der groß angelegte, d. h. durch- oder ausgeführte, Versuch, bei dessen Explikation streng unter Beachtung logischer und grammatischer Belange verfahren wird. Der gemeinsame Bezugs- und Vergleichspunkt unserer Betrachtung ist der „Versuch“ – im Spiegel seiner Unterschiede. Sie lassen sich in erster

1

W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ges. Schriften, Bd. I.1, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1974, S. 207.

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Annäherung über Begriffe wie Variation vs. Explikation beschreiben; oder, eine an Figuren, Bilder und Szenen geknüpfte Skepsis tritt einem „sich selbst vollbringenden Skeptizismus“ (Hegel) gegenüber. Diese Unterschiede (zwischen einem „unterbrochenen und die Standpunkte wechselnden Versuch“ und einem „ausgeführten Versuch“) reflektieren sich in oder an der je spezifischen textuellen (sprachlichen, literarischen usf.) Gestalt der Darstellung bzw. des Umgangs mit ihr.

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SCHWEBENDE

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Unser Interesse richtet sich auf einen Text von Heinrich von Kleist, einem Dichter, Schriftsteller und Dramatiker, dessen literarische Produktion auffällig häufig auch den philosophischen Sinn erregt hat. Man denke nur an die Erzählung „Michael Kohlhaas“ oder eben an unseren Text „Über das Marionettentheater“. Im Wesentlichen bewegen sich Kleists Stoffe auf dem Gebiet der Dramatik und Epik, während die Lyrik so gut wie keine Rolle spielt. Geht man der Frage weiter nach, wo im Rahmen des Epischen und seiner differentia specifica von Erzählungen, Romanen, Novellen, Anekdoten, Fabeln, Burlesken usf. unser Text „Über das Marionettentheater“ einzuordnen ist, erhält man wenig Auskunft, „andere Prosa“ heißt es lapidar, es scheint, als wolle er gar nicht unter einen der üblichen Gattungsbegriffe des Literaturbetriebs passen. Nur dass der Text Mitte Dezember 1810 in vier Fortsetzungen in (s)einer Zeitung, den Berliner Abendblättern, erschienen ist, kann man immer wieder lesen. E. T. A. Hoffmann spricht anerkennend von einem „Aufsatz“. Obgleich dieser Text einen Erzählfaden besitzt, in ihm per Dialog Kurzgeschichten erzählt und Berichte über wundersame Ereignisse und Phänomene ausgetauscht werden, konnten sich die Herausgeber verschiedener Ausgaben offenbar nicht entschließen, ihn unter der Rubrik Erzählung einzuordnen. Kleist selbst hat ihn auch nicht unter dieser Textsorte erscheinen lassen. Ein poet(olog)ischer Versuch. – Beim Gespräch „Über das Marionettentheater“ handelt es sich um einen Text, dessen Attraktivität man aufseiten seiner literarischen Qualitäten verbuchen sollte. Was partout nicht ausschließt, dass man durch ihn zahllose Anstöße zu philosophischen Überlegungen

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gewinnen kann. Oder genauer, wenn hier Philosophie stattfindet, dann zwischen den Zeilen. Es geht nicht – oder allenfalls indirekt – um Erkenntnisund Handlungstheorie, Existenz- oder Geschichtsphilosophie, allein im Kontext ästhetischer Fragen kann der Text punkten. Kleists Gespräch ist Poesie, nicht Philosophie, seine Gedanken reichen so weit wie die Macht seiner Bilder und der Zauber der Sprache, der sie umgibt. Der Text „Über das Marionettentheater“ stellt einen „Versuch“ dar – „Versuch“ aus dem Grund, weil die interne Logik und Rhetorik des Textes diese Kennzeichnung nahelegen: im wiederholten Anlauf ein Ensemble von Fragen auf Problemhöhe zu bringen. Der „Versuch“ ist eine experimentierende Methode, es müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen ein Gegenstand oder Problem erneut sichtbar werden kann. Man lässt Sätze oder Sentenzen, Berichte oder Geschichten wie Versuchsballone steigen, um zu sehen, in welche Höhenlagen der Abstraktion und Differenzierung sie vordringen. Betont die eine Seite der Rede vom „Versuch“ die Neueinsätze, die Verschiebung der Ausgangsbedingungen, das Ein- und Aushängen neuer Optiken (und Affekt-Interpretationen, wie Nietzsche sagt), so zielt das andere, eng damit verbundene Bedeutungsmoment auf die „Versuchsanordnung“, d. h. auf die zeitlich oder räumlich, sozial oder auch literarisch gefaltete „Konstellation“, in der etwas steht. Sie streicht die paradigmatische Ordnung heraus, in der die Elemente und Ebenen des jeweiligen Feldes nachgestellt werden. „Annäherungsversuch“ fasst die unterschiedlichen Momente nicht schlecht zusammen. „Versuch“ als ein Genre für den Text erscheint auch deshalb als passend, weil er sich so auffällig in die Sprache des Halbverstehens kleidet, bestehend aus Andeutungen, Vereinfachungen, Mehrdeutigkeiten, Schematisierungen, dem Spiel mit einer Generallinie, dem Gebrauch von Sinnbildern und zugkräftigen Metaphern; vor allem versteht er sich auf das formal wie inhaltlich bestimmte Spiel mit dem geheimnisvoll Unbekannten. Wenig erhöht den Reiz des Textes mehr, als die Platzierung seiner Themen und Szenen zwischen Geheimnis und verständiger Erklärung, Rätsel und angedeuteter Lösung, wenn es gelingt, das Unwahrscheinliche auf die Gleise des Nicht-ganz-Unwahrscheinlichen zu setzen. Hegel schreibt in seinen Vorle-

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sungen zur Ästhetik: „Der Geist arbeitet sich nur solange in den Gegenständen herum, solange noch ein Geheimes, Nichtoffenbares darin ist“.2 Aber nicht nur dort, wo dem Geist „Dunkles und Innerliches übrig bleibt“, ist die Anziehungskraft unvergleichlich hoch, das Versuchende selbst, das Vortastende, Vorfühlende, der spielerische Sinn selbst – im Gespanntsein auf das, was da kommt, was dabei herauskommt, wenn man es so oder anders macht – ist attraktiv. Er bringt eine mit Lust verbundene Erwartung oder besser noch, einen Wunsch (Sehnsucht) ins Spiel, der zwar auf Erfüllung nicht rechnen mag, den Leser und Denker aber dennoch wie wahnsinnig anzieht, für denjenigen, der etwas genau wissen will, allerdings ein Gräuel ist, weil er in einem fort in Andeutungen und unklaren Behauptungen stecken bleibt. Mit ihnen wiederum wird eine Ahnung erzeugt, die den Geist nicht zur Ruhe kommen, sondern vermuten lässt, dass unter Hinzunahme neuer Prämissen oder eines erweiterten Begriffsfeldes eine diskursive Lösung in Aussicht stehen könnte. Schwebender Wechsel. – Ein Grundbegriff der um 1800 intensiv diskutierten Ästhetik scheint auf geradezu exemplarische Weise auf Kleists poet(olog)ischen „Versuch“ zu passen: das Konzept des „Schwebens“ oder des „schwebenden Wechsels“, die Charakterisierung der ästhetischen Erfahrung durch das Schweben der Darstellung. Wir schweben, tanzen von einer Annahme zur anderen; mit unserer Aufmerksamkeit gerade bei einer gelandet, werden wir bereits mit der nächsten Vorstellung konfrontiert, kaum Zeit, zu prüfen, ob diese überhaupt auf der planmäßigen Flugroute des Gedankens liegt. Der Witz im Schweben der Darstellung liegt im abrupten Richtungswechsel, z. B. beim Paradox, das aber, anstatt verdrießlich zu stimmen, uns ob seiner leichten Verwirrung Anlass zu höchstem Genuss gewährt. Es ist der spröde Charme des schwebenden Wechsels, die Verwerfungen des Bewusstseins – in Gestalt jenes hybriden Personals von Marionetten, Maschinisten, Makrosmaten, Engel („Cherub“) usf. – genießen zu können, weil wir, von ihm in die Krise geführt, die Verwirrung (des Verstandes) nur streifen.3

2

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke, Bd. 14, Frank-

3

Auch wenn wir vom Schweben der Darstellung sprechen, bedeutet das nicht,

furt/Main 1970, S. 234. Kleist umstandslos der Frühromantik zuzurechnen. Eher gehört er wie Hölderlin

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Das In-der-Schwebe-Halten von kognitiven und imaginativen Deutungsmöglichkeiten, das Spiel mit den Unwahrscheinlichkeiten und den Unentschiedenheiten zwischen Fakten und Fiktionen, ist ein hervorstechendes Kennzeichen von moderner Kunst und Literatur. Es verlockt uns dazu, ihnen ein Stück weit nachzugehen. Weil sie uns nachgehen, gehen wir ihnen nach – diese Struktur derselben nennen wir gewöhnlich „Herausforderung“, in der, als dem gleichsam transzendentalen oder unhintergehbaren Modus unseres In-der-Welt-Seins, alles Erkennen und Wahrnehmen, Bilden und Gestalten wurzelt. Das „Marionettentheater“ ist, um einen Ausdruck Adornos zu gebrauchen, ein „Schauplatz“ (geistiger Erfahrung) im doppelten Sinn, auf dem nicht nur anschaulicherweise Marionetten und Tänzer, Makrosmaten und Mechaniker, Jünglinge und Engel ihren effektvollen Auftritt haben, sondern auch Redner und Erzähler in und mit ihrem Text um die Gunst des Publikums buhlen. Wie das Marionettentheater insgesamt mit seinem Personal, so spielt der Text mit Bildern und Vergleichen, Metaphern und Hyperbeln. Es ist, als ob sich überhaupt alle Figuren, nicht nur Marionetten und Tänzer, mit Leichtigkeit oberhalb des (harten) Bodens der Realität bewegten, als ob sie schwebten, ohne doch ganz den Kontakt mit den Leitstellen am Boden abreißen zu lassen: Ein „wunderbarer“ „ins freie Spiel der Gebärden“ verlorener Jüngling, ein traumwandlerisch sicher „gewandteste“ Fechthiebe parierender Bär, der, Aug’ in Aug’, den Eindruck vermittelt, als könne er in der Seele lesen wie in einem offenen Buch, sowie ein Engel, der hinter uns steht, mit uns das Paradies verriegelt vorfindet, in einer zwielichtigen Situation, angesichts der wir uns aufgefordert fühlen, erneut eine Reise um die Welt zu machen, um zu schauen, ob es nicht doch vielleicht – wie obszön – „von hinten“ irgendwo oder irgendwie offen ist. Selbst die tragenden Konzepte und Perzepte (Deleuze) dieses auf kürzeste Sendezeiten berechneten Theaters haben ein Schwebendes an ihnen selbst. Und ist nicht zuletzt Kleists Schreiben (Poesie) von der Art, die Nietzsche dem

oder Jean Paul zu den Schriftstellern, die zwischen Klassik und Romantik eine eigene Stelle ausfüllen. Werner Hamacher trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er, wegen der verstörenden Dichte und der dramatischen Anspannung des kleistschen Erzählstils, mit Blick auf „Das Erdbeben von Chili“, vom „Beben der Darstellung“ spricht. W. Hamacher, Entferntes Verstehen, Studien zur Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt/Main 1998, S. 235-280.

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Sprechen und seiner dichtenden Tätigkeit insgesamt attestiert: ein Tanzen? „Es ist eine schöne Narretei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge.“4 Anders gesagt, das „Marionettentheater“ ist Text und (anschaulicher) Gegenstand, Medium und Mittel, Metapher und Mechanismus zugleich. Beide Begriffsreihen sind ausgezeichnete Spiegel füreinander, die eine Anmut und Grazie reflektierende Poesie ebenso abzubilden vermögen wie das, was sich ihnen widersetzt. Jene Konzepte/Perzepte sind Hinsichtnahmen, durch die wir, nach dem schönen Wort von Caesare Pavese, eine Wirklichkeit nur dadurch beurteilen lernen, „indem wir sie durch eine andere hindurchziehen.“ Nicht nur der Tanz, aufgespannt zwischen Leichtigkeit und Schwerkraft, Initiative und Gebundenheit, zeigt jene Lust am/des Schweben(s), sondern auch der Text in seinen Sprach- und Wortspielen, die teils der Naturwissenschaft und Technik (Schwerpunkt, Linie, Ellipse, Mechanismus, Mechaniker, Prothese, Kurbel usf.)5, teils einer poetisch/ästhetisch bewegten, fließenden und entrückten Sinnlichkeit (Grazie, Anmut, Rhythmus, Leichtigkeit, Ebenmaß, Natürlichkeit, Schwung, „Entrechats und Pirouetten“ usf.) entlehnt sind, wobei „Hyperbel“ die vielleicht schillerndsten Assoziationen weckt, weil sie sowohl in der Mathematik (Kegelschnitt) als auch in der Stilkunde bzw. Rhetorik zuhause ist, in der sie auf das Übersteigerte und Übertriebene verweist. Literarische Reflexion. – Ein erstes, hervorstechendes Medium des kleistschen Versuchs ist das Befremdliche und das Verstörende sowie das Heiterkeit Verströmende (seiner Figuren, seiner Szenen und Kurzgeschichten), inklusive jener Dramaturgie der (dialogischen) Zwischentexte, die das InSzene-Setzen von Marionette, Dornauszieher, Engel der Geschichte und Bär rahmen. Überhaupt tritt, was die Dramaturgie betrifft, bei Kleist das Drehbuch, der zeitlich aufgebaute Spannungsbogen (am Leitfaden der dialogischen Erzählung) deutlich hinter der plakativen Anordnung des Stoffs zurück. Was sich darbietet, ist eher ein räumlich gefaltetes Tafelbild, bestehend aus

4

F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Werke in drei Bänden, Bd. 2, München 1966, S. 463.

5

Vgl. auch den Beitrag von Petra Gehring in diesem Band.

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drei, vier, fünf Szenen, die, obgleich nebeneinander, nicht ohne Wirkung aufeinander sind: die am Draht geführten Tanzmarionetten; deren Regie bzw. handling durch den Maschinisten; der sich einen Dorn, einen „Splitter“ ziehende Jüngling sowie der äußerst geschickt, gelassen und intelligent Fechthiebe parierende Makrosmat in Gestalt eines Bären – lose gerahmt vom eigentlichen Gespräch über die Marionetten/das Marionettentheater und dem am Ende wieder aufgenommenen Gesprächsfaden über das erste und letzte Kapitel von der Geschichte der Welt und seiner, der biblischen Geschichte entlehnten, Vorlage über die verlorene und möglicherweise (durch Rückfall) wiederzugewinnende Unschuld. Dabei fordern die Sprecher und Hörer betreffenden Zwischenkommentare wegen ihres stark expressiven Anteils zu Reaktionen heraus, angesichts derer der Leser kaum in der Lage ist, neutral zu bleiben. Ob beabsichtigt oder nicht, wir finden uns ständig selbst in die Rede mit eingeschlossen und können es kaum verhindern, vom Text zur Stellungnahme herausgefordert zu werden. Anders gesagt, die literarische Einbettung bietet uns durch den künstlerischen Rahmen qua Erzählung eine Möglichkeit der Reflexion. Sie ist ein wiederkehrender Einsatz, der den Gedanken hemmt, irritiert, provoziert, herausfordert. Der erzählende Teil des Textes verführt uns und lässt uns auf (fast) unmerkliche und schöne Weise stolpern. Die literarischen, an eine Erzählung erinnernden Textstücke stürzen auch den philosophischen Gedanken in Verwirrung, sie erinnern ihn mindestens an das soziale Milieu, in dem er sich gemeinsam oder entgegen dem common sense bewegt. Sie bieten eine Chance zur literarischen Reflexion.6

6

Ein Beispiel sind die in der Ringvorlesung wiederholt erwähnten Textstellen, in denen zuerst der Ich-Erzähler „den Blick schweigend zur Erde schlägt“ bzw. Herr C. oder der Tänzer „seinerseits ein wenig betreten zur Erde sieht“. Warum blickt die Ich-Figur des Erzählers schweigend zur Erde? Weil er die Behauptung des Wortführers, d. h. des Tänzers, trotz erkennbarer Sympathien nicht teilt? Weil er sich schämt und glaubt, einer Art Tabubruch beizuwohnen? Weil der Ich-Erzähler mit seinem Gegenüber nicht vertraut genug ist, um offen über diese Gegenstände zu reden? Nicht zuviel frei- oder preisgeben möchte? Weil er innerlich über das lacht, was er da gerade zu hören bekommt und durch eigene Fragen noch befeuert? Weil er sich ertappt fühlt, und er selbst genauso darüber denkt wie der als Autorität auftretende und die Gesprächsregie übernehmende

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Man stößt auf eine irreduzible Mehrdeutigkeit, bei der man sich verwundert die Augen reibt: Worum geht es eigentlich? Es ist, als bestätigte sich an Kleists „Marionettentheater“ schon bald eine Beobachtung P. Valérys, der über den „wahren Klassiker“ schreibt, er verschiebe „das Erstaunen des Lesers, in dem die Lektüre beendet ist. Man verwundert sich erst, während man nachdenkt. Und das ist die Absicht. Die anderen sind darauf aus, unentwegt Erstaunen zu erregen.“7 Was also tut der Text? Eine erste Antwort: Er gibt auf schöne (poetische) Weise zu denken.8 Kleists Meisterschaft besteht darin, mit dem „Marionettentheater“ eine Bühne geschaffen zu haben, die die Bedingungen der Möglichkeit der Reflexion mitaufzuführen und auszustellen gestattet. Die erzählerischen Zwischentexte bieten dazu einen nicht geringen Anlass. Das „Marionettentheater“ ist nicht nur ein poetischer, sondern auch poetologischer Versuch, mindestens dann, wenn man mit F. Schlegel Kunstwerke als „Darstellungen“, „die sich selbst mit darstellen“9, betrachtet. Kleist sieht „die ganze Finesse, die den Dichter ausmacht“, darin, dass er wie der Redekünstler „auch das sagen [kann], was er nicht sagt.“ Man muss mit dem Ungesagten im Gesagten ebenso rechnen wie mit der Abwesenheit des Menschen als dem anderen großen Ungenannten dieses Textes. Nicht nur einmal steht der Mensch als der große An- und Abwesende im Zentrum einer kühnen Komparatistik, z. B. wenn er zwischen der vollkommenen Anmut der Marionetten und Gott zu stehen kommt, ein halbseidenes Wesen. Der lebendige Tänzer erscheint im Unterschied zur

Herr C.? Oder „betreten“, weil der Erzähler die darin liegenden moralischen und technischen Herausforderungen spürt, die auf ihn zukommen und seinen Horizont weit überschreiten? Weil er sieht, dass die kleine und unscheinbare, sozial deklassierte Kunstform des Marionettentheaters womöglich ein größeres Geheimnis birgt, ein furchtbares vielleicht, an dem die Humanität des Menschen Schaden nehmen könnte? Das alles bleibt offen, lässt allenfalls einen ob des beredten Schweigens verunsicherten Leser zurück. 7

P. Valéry, Cahiers/Hefte, hrsg. v. J. Schmidt-Radefeldt, Bd. 6, Frankfurt/Main

8

Und was er „zu denken gibt, kann viel mehr sein, als in dem Gedanken lag, der

9

F. Schlegel, Kritische Schriften und Fragmente, hrsg. v. E. Behler, Studienaus-

1993, S. 388. ihn hervorbrachte“. P. Valéry, Cahiers/Hefte, a. a. O., S. 392. gabe, Bd. 2, Paderborn 1988, S. 127.

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Marionette, die den Boden „streift“, während er auf demselben „ruht“ oder in Gestalt des menschlichen Bewusstseins die „naturgemäße Ordnung der Schwerpunkte“ durcheinander bringt. Unter der Textoberfläche schwelt ständig der Brand, den sein In-der-Welt-Sein: als geworfenes, entworfenes und d. h. auch als verworfenes Wesen, entfacht. Man muss das Ungesagte sprechen lassen, weniger nach der Art des philosophischen Denkens, das aus dem netzartigen „Gewebe und dessen Knoten“ im gewöhnlichen Bewusstsein – in welches all der konkrete Stoff gefasst ist und den Menschen in seinem Tun und Treiben beschäftigt – die „allgemeinen Fäden“ herauszieht und „für sich zu den Gegenständen unserer Reflexion“10 macht, als nach Art eines freien Spiels der Kräfte, das, in der beharrlichen Erweiterung des Freiraums, den sinnlich erregten Vorstellungen ermöglicht, neue, andere, verwegenere („eiserne“) Netze zu weben und ob ihrer Provokation zu genießen. Philosophie und Dichtkunst sind nicht nur Darstellungen unterschiedlicher Denk- und Lebenserfahrungen, sondern auch unterschiedliche Reflexionsweisen der Praxis, die beide den paradoxen Versuch machen, sich selbst mitdarzustellen: spielend, schwebend und eher implizit in dem einen, diskursiv und explizit die ‚Grammatik‘ von Bewusstseins- und Weltgestalten bedenkend in dem anderen Fall. Das Befremden der Darstellung. – Was die literarische Form der „Finessen“, das Ungesagte zu Wort kommen zu lassen, betrifft, ist ihr Reichtum fast grenzenlos: semantische Ambivalenzen, Anspielungen, Auslassungen (Paralipsen), Zweideutigkeiten, Unstimmigkeiten und Widersprüche, vorenthaltene Informationen, befremdliche Assoziationen, Wechsel im Sprachregister und eine mehr als schillernde Kunstfigur in der Hauptrolle des Geschäfte führenden Herrn C. Ohne die Finessen besäße der Text nicht die innere Spannung, die er hat, die kaum merkliche, unterschwellige, unbestimmte Polemik, die er ausstrahlt. Sie verwandelt ihn in ein Stück aufmerksamkeitsfesselnde Prosa.11

10 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke, Bd. 18, Frankfurt/Main 1970, S. 77. 11 Anders gesagt, „Gespräch“ bedeutet, zumal bei Kleist, mit Zwischen- und Hintergedanken rechnen zu müssen. So entsteht beispielsweise der Eindruck, dass zu Beginn ihres Gedankenaustausches beide Gesprächspartner nicht mit offenen Karten spielen. Das gilt in erster Linie für den Ich-Erzähler, für den ungeklärt

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Gerade von der Art und Weise, wie durch Syntax und Semantik etwas Befremdliches und Verstörendes in den Text eingespielt wird, geht ein unwiderstehlich ästhetischer Reiz aus. Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, bringt das Ganze in die Schwebe. Die Wendung, „daß auch dieser letzte Bruch von Geist […] aus den Marionetten entfernt werden“ muss, gehört in diesen Kontext ebenso hinein wie die Rede von der „Linie“ „als der Weg der Seele des Tänzers“ oder die andere, nach der „sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette […] tanzt“. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Figuren und Szenen, Geschichten und starken Bilder des Marionettentheaters Versuche sind, Latenzen in ihrer faszinierenden oder bedrückenden Spannung zwischen Gewissheit und Unwissenheit, zwischen einer fast diaphanen Klarheit und einer – wie ein Fraktal – zurückweichenden Grundlosigkeit heraufzubeschwören. Das Schweben der Darstellung bringt hervor und zutage, dass wir an die Präsenz eines Gegenstandes glauben, den wir nicht bestimmen und greifen können, der uns aber die starke Vermutung abnötigt, er besäße gerade eine auf uns zugeschnittene Botschaft, vielleicht sogar die Lösung eines Rätsels. Mit jeder Zeile macht sich beim Leser das Gefühl breit, mit dem Verstand nichts ausrichten zu können, zu deutlich sitzen wir in Anspielungen und Zweideutigkeiten, im fliegenden Wechsel von Antwortregistern und einer kühnen Komparatistik fest, die dennoch – irgendwie – überzeugt; die uns lockt (verführt), auf den Spuren eines Sinns zu wandeln, der unbestimmt bleibt. Kunst ist, auf eine schöne, befremdende und spannende Weise zu scheitern. Dabei findet die Poesie ihre stärkste Stütze in einer weit verbreiteten und gut gesicherten Intuition. Die Leute fordern zwar, heißt es bei Kleist,

bleibt, was ihn am Marionettentheater reizt, bei dem sich, leichte Verwirrung zeigend, einerseits ein innerer Widerstand andeutet, Herrn C. widerspruchslos zu folgen; der andererseits gefesselt und amüsiert ist über das, was Herr C. an starken Behauptungen so präsentiert: wonach die bloß mechanisch bewegten, bewusstseinsfernen und geistlosen Marionetten das Ideal einer Tanzkunst verwirklichen sollen – vor allem aus dem Grund, dass sie sich nicht „zierten“: „Ich lachte. – Allerdings, dachte ich, kann der Geist nicht irren, da, wo keiner vorhanden ist. Doch ich bemerkte, dass er noch mehr auf dem Herzen hatte, und bat ihn, fortzufahren.“ Neugier und Widerspruch scheinen sich beim Ich-Erzähler die Waage zu halten.

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„als erste Bedingung von der Wahrheit, daß sie wahrscheinlich sei“, doch sie wissen auch sehr genau, dass „die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit“12 steht. Das Leben überrascht mit Unwahrscheinlichkeiten, sodass man deren Eintreffen, d. h. deren Wahrheit und Wirklichkeit, nie ganz ausschließen kann. Das „Marionettentheater“ lebt entscheidend von/aus dieser Differenz, welche die Spannung und den metaphysischen Schauder erzeugt, die die Kriminalgeschichten, wie Umberto Eco weiss, am weitesten gehend ausbeuten. Auch das, was undefinierbar ist, lässt sich nicht einfach leugnen. Aus den Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen, Anspielungen usf. speist sich die Unbestimmtheit der Darstellung, die zu Kleists Zeit immer stärker zur Charakterisierung des Schönen avanciert, sie wird ergänzt durch ein (strategisches) Spiel mit Entsubjektivierung und eine Dramaturgie, die im Zeichen der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen steht. Sie wird beflügelt durch den Gebrauch der Metaphern, gerade auch der befremdlichen („eisernes Netz“), nicht ohne Grund hat man die Metapher einen „Sprungtropus“ genannt. Und ist nicht die Rede über die Marionetten selbst eine befremdliche? Marionetten hängen willenlos an Strippen, die von anderen gezogen werden. Der Strippenzieher ist der Mann bzw. die Frau, der/die, im Hintergrund und vor den Augen des Publikums verborgen, Regie führt, d. h. die Puppen tanzen lässt. Eher ein Anflug von Übermut denn von Anmut regiert die Bewegungen der Marionetten, zumal bei einem Kleintheater, das der Volksbelustigung dient. Die Phänomenologie der Marionetten ist – mindestens was ihre realistische Wahrnehmung betrifft – grottenschlecht. Treffen die Prädikate Anmut und Grazie wirklich auf die Bewegung von Marionetten zu? Tanzen oder zappeln sie nicht vielmehr (zuweilen bedenklich) in der Hand von Strippenziehern? Haben ihre Bewegungen nicht in der uns bekannten Form etwas Eckiges bis Schlotterndes oder, falls extrem verlangsamt, etwas schwerfällig Gravitätisches, auch oder gerade, wenn sie mittels Strippen aus Draht, wie der Text meint, gezogen werden? Was bleibt vom Fließen, von den fließenden Übergängen anmutiger Tanzbewegungen überhaupt übrig? Von den fast ins Bedächtige und Würdevolle hineinspielenden Bewegungen, die Anmut und Grazie auszeichnen? Und dann

12 H. v. Kleist, Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten, in: Sämtl. Erzählungen und Anekdoten, hrsg. v. H. Sembdner, München 1977, S. 277 f.

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die Rede vom „mechanischen Gliedermann“, die unwillkürlich die Vorstellung eines über Knochen und Gelenke, Scharniere und Drähte zusammengesetzten (Toten)Gerippes aufruft und dabei vom Bild des skelettierten „Sensenmanns“ unterstützt wird. – Anders als mit Befremden lässt sich die versch(r)obene phänomenologische Optik kaum zur Kenntnis nehmen. Wenn Erwachsene oder Kinder sich am Puppenspiel erfreuen, dann sicher nicht aufgrund seiner Anmut, eher, weil alles so lustig – und bis ins Tollpatschige – ungelenk wackelt und zappelt. Im Fall des Betreten-zur-Erde-Blickens befremdet eher das Mehrdeutige, Unausgesprochene; bei Herrn C. irritiert seine kunstvolle Stilisierung: Seine Ausstattung – mit allen Insignien einer doppelten Autorität – ist ein kleines literarisches Meisterwerk, nicht nur im Blick darauf, die Hauptrede über diesen Gegenstand führen zu dürfen. Seine Darstellung arbeitet zuvörderst mit dem Mittel der Kontrastbildung bzw. der Strategie, weit auseinanderliegende bis widersprüchliche Fähigkeiten und Interessen in einer Figur zu verdichten, um mittels jener Facettenvielfalt den Eindruck von Überlegenheit und Urteilskraft, Welt- und Weitläufigkeit zu erzeugen.13 Der Text installiert mittels dieser Kunstfigur einen Erzähler, der wie ein Wahrnehmungs-, d. h. Lektürefilter wirkt. Es ist diese Kunstfigur, die eine Generallinie andeutet, um die sich in ihrem Schillern die weiteren Bilder und Szenen des Gesprächs über das Marionettentheater organisieren. Schon der Versuch, die Rede dieser Kunstfigur unter philosophische Wahrheitsansprüche zu stellen, oder sie ihrer literarischen Fiktionalisierung zu entkleiden, geht ihr auf den Leim und wirkt in aller Konsequenz nur komisch;

13 Herr C. ist nicht nur ein erfolgreicher Tänzer, der vor großem Publikum sein Glück gemacht hat, er ist sich auch nicht zu schade, sich mit einer kleinen, unscheinbaren, schlecht angesehenen, für den großen Haufen erfundenen Spielart einer schönen Kunst zu beschäftigen, auf die er zugleich den Glanz des Göttlichen fallen lässt. Man kann durchaus die Hintergrundmelodie der Ständeklausel hören, nach der das Fußvolk in der Komödie seinen Platz und sein Auftrittsrecht hat, das tragische Fach aber mit dem Personal der höheren Schichten, der Königshäuser und des Adels, bestückt werden soll, um das Künstliche dieser Kunstfigur deutlich vor Augen treten zu lassen. Was für die einen Tanz und Ballett, ist für die anderen das Marionettentheater – jeder freut sich auf seine Weise, nur der große Tänzer und Denker setzt sich souverän über alle Standesvorurteile hinweg.

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reizvoll hingegen ihr Schillern als Kunstfigur, bei der Kleist auch Töne des Prätentiösen und Selbstgefälligen anklingen lässt. Vom Frage- ins Antwortregister. – Bei der Behandlung des Maschinisten liegt die Sache ein wenig anders. Seine Figur spiegelt die Grundparadoxa der gesamten Geschichte auf ebenso elementare wie eindringliche Weise; wenn überhaupt, ist hier – gleichsam als Ouvertüre – am ehesten und auch nur anfänglich etwas von einer Theorie zu erkennen. Derjenige, der im Marionettentheater die Strippen zieht, wird üblicherweise „Puppenspieler“ genannt. Das Wort fällt im Text aber nie. Kleist bezeichnet ihn durchgängig als „Maschinisten“, über den in Anbetracht seines Könnens und Geschicks eher ausweichend Auskunft gegeben wird. Schon seine ausschließliche Denomination als Maschinist ergreift Partei gegen das „Spiel“ – den anderen großen Grundbegriff nicht nur der zeitgenössischen schillerschen Ästhetik. Die Vorstellung vom „Maschinisten“ erinnert unwillkürlich sowohl an die Bedienung und Wartung von Maschinen als auch an die mechanisch geregelte Kraftübertragung und ihre Funktionen, die die Bedienung selbst als hochgradig automatisiert vorstellt. Gleichzeitig ist auch die Rede davon, dass die Kunst des Maschinisten „nicht ganz ohne Empfindung betrieben werden kann“; doch auch „keine große Kunst kostet“, wenn man berücksichtige, dass die Gesetze, nach denen das Zusammenspiel der Kräfte der Marionetten sich richtet – die Linie, die der Schwerpunkt beschreibe, entweder sehr einfach und das heiße vermutlich „gerade“ oder mit Blick auf die Krümmung die „elliptische“ sei. Von der mechanischen Seite durchaus einfach, habe die „Linie“ von der anderen Seite „etwas sehr Geheimnisvolles“: Sie sei „der Weg der Seele des Tänzers“, der kaum anders gefunden werden könne „als dadurch, dass sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, d. h. mit andern Worten, tanzt“. Als sei die innere Spannung dieser Annahmen (noch) nicht groß genug, folgt diesem mehrdeutigen Bild des Maschinisten – ergänzt noch um den Hinweis ziemlich künstlicher Fingerbewegungen – eine Wendung oder Aufhebung, die durch die Radikalität ihrer Gegenposition überrascht. Danach gehört der Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte, sowohl hinsichtlich der mechanischen Handhabung der Tanzbewegung mittels einer Kurbel als auch im Blick auf den ästhetischen Eindruck von Anmut und

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Leichtigkeit, Natürlichkeit und Grazie, den der Tanz beim Zuschauer hervorruft. Zum empirischen Beweis seiner These stellt Herr C. zu guter Letzt einen Mechanikus in Aussicht, der entsprechend eines von ihm entworfenen Masterplans eine Marionette zu bauen verspricht, die selbst noch das Können des geschicktesten Tänzers seiner Zeit in den Schatten stellt. Er „getraue sich zu behaupten, dass wenn ihm ein Mechanikus, nach den Forderungen, die er an ihn zu machen dächte, eine Marionette bauen wollte, er vermittelst derselben einen Tanz darstellen würde, den weder er, noch irgend ein anderer geschickter Tänzer seiner Zeit, Vestris selbst nicht ausgenommen, zu erreichen imstande wäre“. Auf die Frage des Ich-Erzählers, ob der Maschinist, der diese Puppen regierte, selbst ein Tänzer sei oder wenigstens einen „Begriff vom Schönen im Tanz haben müsse“, antwortet Herr C. so ambivalent wie nur denkbar: Einerseits müsse sich der Maschinist über den Tanz den Weg in die Seele bahnen, andererseits glaube er inzwischen selbst, „dass auch dieser letzte Bruch von Geist […] aus den Marionetten entfernt werden, dass ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinüberspielt, und vermittels einer Kurbel, so wie ich es mir gedacht, hervorgebracht werden könne“. Wie schon die Marionette scheint (spätestens) an dieser Stelle auch der Maschinist zur Metapher zu werden: Ideal eines vollkommenen Tanzes, das sich von der Kunst oder der Praxis des Marionettentheaters als einer Volksbelustigung denkbar weit entfernt hat.14 Vom Ich-Erzähler, der die Augen schweigend zur Erde schlägt, eher skeptisch betrachtet, wird die außerordentliche Geschicklichkeit der englischen Beinprothesenkünstler ins Feld geführt, die genug Anlass böten, einen idealen „mechanischen Gliedermann“ zu bauen, der in allem, was Ebenmaß und Leichtigkeit, Beweglichkeit und Anmut angeht, die menschliche Tanzbewegung übertrifft – „alles in einem höheren Grade“, wie es im Text heißt. Dies sei vor allem deshalb möglich, weil diese neue Puppenart lebendigen Tänzern voraushabe, dass auch „dieser letzte Bruch von Geist“ entfernt sei: sie sich nicht „zieren“ könnten.

14 Nicht nur in dieser Episode, auch in anderen (Jüngling, Bär usf.) spielt der Text mit der Idee, Vollkommenheit liege in der Reflexionslosigkeit, die entweder verloren oder eventuell über Umwege wiederherzustellen sei. Vgl. dazu den Beitrag von Christoph Hubig in diesem Band.

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Einmal von dieser seltsamen Begründung einer in die Kulturpsychologie (gekünstelter, verkrampfter Schüchternheit) spielenden Anthropologie abgesehen – was ist passiert? Ein kaum merklicher Übergang, literarisch außerordentlich geschickt, einfach, schmucklos; sachlich aber ein qualitativer Sprung, ein Perspektivenwechsel oder, wie es heute heißt, ein thematischer Wechsel ins Frage- und Antwortregister: Von dem die Marionetten am Draht ziehenden Maschinisten sind wir zu den möglichen Herstellern eines ideal konstruierten „Gliedermanns“ gewechselt, um – in einem weiteren Sprung – dessen Eigenschaften zu diskutieren. Davon, wer die Marionette wie bewegt, ist nicht mehr die Rede. Der Leser wird unmerklich in den Umkreis oder besser, in den Bann einer neuen Imagination gezogen: in den der idealen Konstruktion einer Marionette, welche für den lebendigen Tänzer den Nachteil – sein ständig mögliches Scheitern – im Verrutschen des Schwerpunkts der Seele ins Ellenbogengelenk vorsieht. Aber ist es nicht eigentlich anders? Muss nicht entgegen der Ansicht des gesprächsführenden Herrn C. im Scheitern und den Schwierigkeiten, mit ihm fertigzuwerden, die Größe des lebendigen Tänzers gesehen werden? Muss nicht für seine um Anmut und Grazie bemühte Anstrengung gelten, was Plessner über die menschliche Würde schreibt: „Würde besitzt allein die gebrochene Stärke, die zwischen Macht und Ohnmacht gespannte zerbrechliche Lebensform“?15 Mechanik und Komik. – Betont man wie zuletzt die durch ein technisches Vokabular bestimmten Seiten der Darstellung, liefert Bergsons Verständnis des Komischen eine weitere treffliche Interpretation. Bergson sieht nämlich das Komische vorrangig dort entstehen, wo etwas Lebendiges von etwas Mechanischem überdeckt wird.16 Rührt nicht die komische Einfärbung des Textes „Über das Marionettentheater“ (von den explizit komischen Einlassungen, die durch die Skepsis des Erzählers in den Text eingespielt werden, abgesehen) auch daher, dass über weite Strecken, d. h. auf den verschiedenen Darstellungsebenen, etwas Lebendiges von etwas Mechanischem überdeckt oder überschrieben

15 H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspieler, in: Ges. Schriften, Bd. VII, Frankfurt/Main 1980, S. 416. 16 Vgl. H. Bergson, Über das Lachen (1900), Ein Essay über die Bedeutung des Komischen, übers. v. R. Plancherd-Walter, Hamburg 2010.

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wird? In eine technische Sprache übertragen wird? In der das Lebendige automatisiert und mechanisiert erscheint? Die Bezeichnung der Marionette17 als „mechanischer Gliedermann“, gehört ebenso hierher wie die expliziten Bezugnahmen auf Mechaniker und Mechanismus in Kombination mit lebendigen Prozessen und Bewegungen. Erfahrungen und Phänomene des Lebendigen werden in eine technische (und den Tod assoziierende) Sprache übersetzt: Sie erhalten einen leib-, geist- und seelenlosen mechanischutopischen Anzug und mit ihm eine Anzüglichkeit, die wie nur Weniges den menschlichen Sinn erheitert.18 Das gilt selbst dann noch oder sogar in besonderem Maße, wenn man an die aktuellste Version des Marionettentheaters, wie sie Thomas Bernhards autobiografische Schrift „Der Atem“ präsentiert, denkt: „Alle Patienten waren ausnahmslos an Infusionen angehängt, und da aus der Entfernung die Schläuche wie Schnüre ausschauten, hatte ich immer den Eindruck, die in ihren Betten liegenden Patienten seien an Schnüren hängende, in diesen Betten liegengelassene Marionetten, die zum Großteil überhaupt nicht mehr, und wenn, dann nur noch selten, bewegt wurden. Aber diese Schläuche, die mir wie Marionettenschnüre vorgekommen sind, waren für die an diesen Schnüren und also Schläuchen Hängenden meistens nurmehr noch die einzige Lebensverbindung. Wenn einer käme und die Schnüre und also Schläuche abschnitte, hatte ich sehr oft gedacht, wären die daran Hängenden im Augenblick tot. Das Ganze hatte viel mehr, als ich mir zuzugeben gewillt gewesen war, mit dem Theater zu tun und war auch Theater, wenn auch ein schreckliches und erbärmliches. Ein Marionettentheater, das, einerseits nach einem genau ausgeklügelten System, andererseits immer wieder auch vollkommen, wie mir vorgekommen war, willkürlich von den Ärzten und Schwestern bewegt worden ist. […] Die ich im Sterbezimmer auf diesem Marionettentheater zu sehen bekommen hatte, waren allerdings alte, zum Großteil uralte, längst aus der Mode

17 Die Marionette dient schon Bergson (und nach ihm anderen Theoretikern des Komischen, z. B. Plessner) als Paradebeispiel einer komischen Figur. 18 Wie soll man sich sonst die Attraktivität der vielen, die lebendigen Menschen und sozialen Verhältnisse betreffenden, Beobachtungen und Theorien (z. B. der Systemtheorie Luhmanns) erklären, wenn nicht dadurch, dass ein Gutteil ihrer spöttisch intonierten Heiterkeit und Humor spiegelnden Methode durch ihre technisch verfremdete Sprache bewirkt wird, die sie zur Darstellung der lebendigen Systeme braucht?

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gekommene, wertlose, ja unverschämt vollkommen abgenützte Marionetten, an welchen hier im Sterbezimmer nurmehr noch widerwillig gezogen worden ist und die nach kurzer Zeit auf den Mist geworfen und verscharrt oder verbrannt worden sind. Ganz natürlich hatte ich hier den Eindruck von Marionetten haben müssen, nicht von Menschen, und gedacht, dass alle Menschen eines Tages zu Marionetten werden müssen […], ihre Existenz mag davor wo und wann und wie lang auch immer auf diesem Marionettentheater, das die Welt ist, verlaufen sein. Mit Menschen hatten diese an ihren Schläuchen wie an Schnüren hängenden Figuren nichts mehr zu tun.“19

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SICH VOLLBRINGENDE

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Szenenwechsel, dieselbe Zeit, 1806/07, vergleichbarer Ort, Jena, Napoleon und der Schlachtenlärm des Krieges in Hörweite. Anstatt neun Seiten fünfhundertneunzig Seiten schwergängiger Text, Programmschrift eines neuen Philosophieverständnisses, welches das Diktum von William James über den spezifisch deutschen Nexus von Begriffsherrschaft und Geschichtsohnmacht schon vor der Zeit widerlegt. Wieder geht – im Anbruch einer neuen Zeit – die Reise um die (halbe) Welt. Aber anstatt eines verriegelten Paradieses und eines ziemlich ratlosen Engels der Geschichte hinter uns – wir mittendrin: mit einem guten GPS, dem der „Darstellung des erscheinenden Wissens“. Anstatt eines poet(olog)ischen Versuchs ein philosophischer: Das Schweben der Darstellung trifft auf die Bestimmtheit der Darstellung, ein unbestimmt mäanderndes Negatives auf das bestimmte, sich über die Reflexion von Unterscheidungen methodisch fortschreibende Negative. Den Figuren und Szenen, Kulissen und Geschichten des Theaters stehen historisch und epistemisch gesättigte „Bewusstseins- und Weltgestalten“, wie Hegel seine Tragikomödien nennt, gegenüber. Nicht drahtige Marionetten, tanzende Maschinisten und sich in Unbefangenheit übende und in reflexionslose Unschuld zurückfallende (!) Wesen treten auf, sondern das „stoische“ und „das unglückliche Bewusstsein“, „die schöne Seele“ und „die Ritter der Tugend“ samt ihrer in den „Weltlauf“ verwickelten Geschichte(n), „Herr und Knecht“, „Held“ und „Kammerdiener“, „die ge-

19 Th. Bernhard, Der Atem, Eine Entscheidung, München 2011, S. 40.

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hemmte Begierde“ und „die Furien des Verschwindens“, um zuletzt auf der „Schädelstätte des absoluten Geistes“ zu enden. Conditio humana. – Vielleicht liegt Aristoteles nicht ganz richtig, wenn er schreibt, alle Menschen streben von Natur aus zum Wissen. Eher müsste man sagen, vor allem anderen strebten die Menschen nach Sinn; sie sind sinnsuchende Systeme, Wesen, die, durch Sprache, Kultur und Lebensinteressen bewegt, gar nicht anders können, als mittels ihrer wohl mächtigsten Instrumente – der Induktion und der Universalisierung – bei Sinnschöpfungen aller Art Zuflucht zu suchen. Nichts widerstrebt ihnen so sehr, als in einer sinnwidrigen Welt leben zu müssen. Hegel ist der Auffassung, dass das Wissen der sinnsuchenden Systeme auf das wirkliche Wissen eingeschränkt werden muss, nicht wie Kant meinte, um dem Glauben Platz zu machen, sondern um die Freiheit dieser Wesen in ihr einzigartiges Recht zu setzen. Wissen zu erwerben heißt dementsprechend, Sinnkritik zu üben. Übel entstehen zuletzt durch eine keiner kritischen Einschränkung unterworfenen Sinnsuche. Der problematische, d. h. der ständig erzeugte, Sinnüberschuss muss sukzessive über individuelle und kollektive Lernprozesse rückgebaut werden, ohne vorab einen Maßstab zu besitzen, an dem sich der Lernprozess einfach orientieren könnte. Hegel glaubt, mittels der Methode bestimmter Negation einen Dreh gefunden zu haben, der wie von selbst auf das richtige, dem Wissen und der Vernunft immanente Ziel führt.20 Dabei hängt alles an der Darstellung. An ihr hängen nicht nur die Möglichkeit, die Liebe zum Wissen in wirkliches Wissen zu transformieren, sondern, wie Hegel an anderer Stelle schreibt, die zivilisatorischen Errungenschaften der conditio humana. Das Wissen, das sich nicht der Darstellung anvertraut, und damit der öffentlichen Auseinandersetzung, ist nicht eigentlich falsch; es tritt vielmehr, weil es sich vornehmlich „auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft […], die Wurzel der Humanität mit Füßen“ (65). Denn die Darstellung ist gleichsam der humanisierende Umweg zur Sache selbst, sie vollbringt in ihrer unvermeidlichen Selbstpreisgabe an die Macht der Medien, d. h. deren Abhängigkeit von den Zeichen, eine zivilisierende Leistung allerersten Rangs, nicht nur in einer Art cool down die Unmittelbarkeit und Wucht des totalitären An-

20 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, Frankfurt/Main 1970, insbesondere Vorrede und Einleitung. Im Text zit. nach dieser Ausgabe.

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spruchs, der sich mit dem Glauben, im Besitz des Ansichs der Sache selbst zu sein, verbindet, abzupuffern; sie stellt sich auch der Herausforderung, dass die „Kraft des Geistes […] nur so groß als ihre Äußerung [ist], seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut “ (18). Über Tatsachen oder Sachverhalte bilden wir Theorien, um sie zu verstehen oder zu erklären, Ereignisse stellen wir mit anderen Ereignissen in größere Zusammenhänge, Argumente beziehen ihre Bedeutung vor allem aus einem System, in dem sie mit anderen Argumenten und Unterscheidungen stehen, Sinn erzeugt sich stets erst über die Bildung von Zusammenhängen, Hinsichten oder Perspektiven. Er ist so besehen immer metaphysisch. Die Vernunft muss, so sehr sie an der Stiftung dieser Einheiten und Zusammenhänge, der Kohärenzen und Sinnordnungen beteiligt ist, ja sie initiiert und konstituiert, in dem, was ihre kritische Funktion betrifft, auch entgegenwirken. Sie kann gar nicht anders, als das ganze Geflecht von Einbildungen und Synthesen zu bemerken, sie muss sich einerseits bei ihrer kritischen Arbeit auf die Kraft der Imagination stützen – und zwar in jeder Hinsicht –, andererseits aber scheint sie in der Lage zu sein, diese sukzessive durchschauen zu können, d. h. selbstkritisch zu sein. Genau dabei hilft ihr die Darstellung, denn an ihr können wir die Erfahrung machen, dass das, was sich dafür ausgibt, reines Wissen zu sein, keines ist. Jede Darstellung ist ideologisch. Die Darstellung stört den Schlaf der Vernunft, weil sie immer scheitert oder nicht erreicht, was sie zu erreichen beabsichtigt, aber nur als Darstellung – in ihrer sprachlichen Bestimmtheit – zeigt sich, dass sie ihre Bestimmung, Darstellung des Wissens zu sein, nicht erreicht.21 Dabei führt die Methode des „absoluten Unterschieds“ Regie, sie besitzt ein enormes, mit Tod und Teufeln paktierendes Dramatisierungspotential; sie übersetzt das Befremden in methodische Entfremdung.22 Sie bringt eine Dynamik und Spannung ins Geschehen, die den Vergleich mit dem Theater nicht zu scheuen braucht. Sie stiftet methodisch die „Gestalten des Bewusstseins“, also philosophische Positionen und politische Anschauungen,

21 Darstellung gehört im lacanschen Sinn „gebarrt“ und müsste in diesem Fall entsprechend geschrieben werden: Darstellung. 22 „Das Befremden ist der wahre Anfang. Am Anfang war das Fremde (und es gibt so manchen, bei dem es nie wiederkehrt).“ P. Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 6, a. a. O., S. 554.

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dazu an, keinen Deut von der (anfänglichen) Behauptung ihrer Wahrheit abzurücken, diese bis in die letzte Konsequenz – bis an die Grenze ihrer Selbstpreisgabe – festzuhalten, einzig darauf bedacht, zu sehen, welche unbegründeten, ja illegitimen Voraussetzungen noch zum Vorschein kommen, d. h. auf dem Grunde ihrer Konzepte lauern, sobald sie sich in der Wirklichkeit Bedeutung und Geltung zu verschaffen suchen. Anders gesagt, erst angesichts des methodischen Extremismus einer sich selbst zersetzenden Mitte, die zeigt, dass und wie das jeweils vom Bewusstsein favorisierte Konzept (einer Sache oder eines Ereignisses) gerade dasjenige unmöglich macht, was es glaubt, erreichen zu können, lenkt es ein. Das Bewusstsein sieht sich ohne weitere Ausflüchte (die es ständig sucht) zu seiner „Umkehrung“ gezwungen. Die „Umkehrung des Bewusstseins“ wird zur Hauptquelle der Dramatik, in ihr liegt der Witz der Sache.23 Von der Gewissheit zur Wahrheit. – Die „Phänomenologie des Geistes“ ist die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins, sie stellt, wie Hegel schreibt, das „werdende Wissen“ dar. Diese Wissenschaft begreift die verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen eines Weges, auf dem aus bloßer (sinnlicher) Gewissheit wirkliches Wissen wird. „Dies Werden der Wissenschaft überhaupt oder des Wissens ist es, was diese Phänomenologie des Geistes darstellt. Das Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist ist das Geistlose, das sinnliche Bewusstsein. Um zum eigentlichen Wissen zu werden oder das eigentliche Element der Wissenschaft, das ihr reiner Begriff selbst ist, zu erzeugen, hat es sich durch einen langen Weg hindurchzuarbeiten.“ (31) Hegel geht nicht mehr davon aus, dass es eine philosophische (formale) Metasprache geben kann, die sich im Geiste eines rein formalen Regelapparats transzendentalen Denkens die Inhalte der empirischen Welt subsumiert. Man muss sich mit den Dingen, wie sie uns konkret im Kontext der Geschichte und der Geschichten, der Gesellschaft und der Wissenschaft entgegentreten und Relevanz erlangt haben, einlassen. Es geht darum, rückblickend (erinnernd) zur Einsicht gelangt zu sein, dass das Wahre konkret ist, d. h. nur an den wahr-unwahren Gestalten der Erfahrung in Erscheinung tritt, und abgesondert davon überhaupt keine Realität besitzt.

23 Vgl. G. Gamm, Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997, S. 85 ff.

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Was gedacht wird, muss dargestellt werden, erst dadurch eröffnet sich überhaupt die Chance, seine Liebe zum Wissen zu demonstrieren: PhiloSophia oder wirkliches Wissen zu werden. „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein. Daran mitzuarbeiten, dass die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen pflegen zu können und wirkliches Wissen zu sein –, ist es, was ich mir vorgesetzt. Die innere Notwendigkeit, dass das Wissen Wissenschaft sei, liegt in seiner Natur, und die befriedigende Erklärung hierüber ist allein die Darstellung der Philosophie selbst.“ (14) Darstellung ist Aufnahme von Beobachtungen und Erfahrungen und deren Hervorbringung zugleich. Sie ist Konstruktion, Übersteigerung, Pointierung, Verdichtung und darin erkenntnisbildend: die spezifischen Züge herausstellend, in denen die Wirklichkeit sich zeigt. Sie ist aber auch Konstruktion im Sinne von Täuschung durch ein Zuviel oder Zuwenig: wirklichkeitsferne Projektion. Sie schießt ständig über das Ziel hinaus, sie sagt auch immer zu wenig. Aber all das lässt sich nur erkennen, wenn auf dem Anspruch bestanden wird, eine sich qua Text vollbringende Darstellung wirklichen Wissens zu sein. Von daher ist die Phänomenologie die „Darstellung erscheinenden Wissens“, dessen Erscheinungsweisen so lange den Schein des Wissens verbreiten, als sie in ihren Kontingenzen und Überhöhungen der Darstellung noch nicht als solche, d. h. in ihrer Kritik, erkannt worden sind. Mit der Darstellung steht und fällt der Anspruch philosophischer Erkenntnis. Was in der Mathematik und den übrigen Wissenschaften der Beweis ist, ist in der Philosophie die Darstellung. An der Darstellung hängt nicht nur die Produktivität des Wissens, oder besser, der Wille zur Wahrheit; erst durch die Darstellung wissen wir vom Wissen, das diesen Namen rechtens trägt. Im Dargestellten erst zeigt sich, was man gedacht hat – an oder in seiner „Ausführung“ wie dem „Zweck“, den es hat. Die Einheit beider bildet, wie Heidegger schreibt, den Gedanken. „Das Ganze zeigt sich erst und nur in seinem Werden. In der Dar-stellung werden Thema und Methode identisch. Diese Identität heißt bei Hegel: der Gedanke.“24 Mit ihm

24 M. Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, S. 68.

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kommt die geschichtliche Sache der Philosophie, die als Substanz und Subjekt aufzufassende und auszudrückende Sache selbst, zum Vorschein. Darstellen übernimmt die Funktion der Rechenschaftsgabe (logon didonai), das Denken erhält dadurch eine äußere Form, auf die sich beziehen kann, wer an der Wahrheitsfindung ein Interesse nimmt. Was wahr sein soll, muss dargestellt werden, es muss sich zeigen in der Form der äußeren Darstellung. Nur unter dieser Bedingung kann man eine Behauptung diskutieren und die Einseitigkeit einer Sichtweise erkennen. Darstellung ist die eigentümliche Leistung der Philosophie: komplexe Verhältnisse in bestimmten diskursiven Zusammenhängen, den Denkfiguren, zu ordnen, sie zu konstruieren oder zu verdichten, sodass Erkenntnisse formuliert werden, die vorrangig die Art und Weise verstärken, wie das Gesagte zur Geltung gebracht werden soll. Hegels Darstellung bringt also zwei für die Philosophie ganz und gar entscheidende Momente ihrer Praxis zusammen – einerseits die diskursive, d. h. aufgrund der dargestellten Einzelschritte logisch (kohärent) nachvollziehbare, Entwicklung des Gedankens, andererseits die darin auftauchende Möglichkeit, die auseinandergezogenen Gedankenschritte in einem Bild oder einer rhetorischen Figur zu verdichten. Das Auf-den-Begriff-Bringen ist die Darstellung einer prägnanten Gestalt, also dessen, was man heutigentags, wie mehrdeutig auch immer, ein Paradigma nennt. Die Innovation, die Hegel mit der Konzentration auf die „Darstellung“ in die Wege leitet, besteht darin, dass man das Gesagte (Geschriebene) nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form und Bewegung des Sagens (Schreibens) hin reflektiert. Was daran wie an allen Bewusstseins- und Weltgestalten als Pointierung/Portraitierung entscheidend ist: Sie geben dem, was dargestellt oder ausgedrückt werden soll, eine prägnante Form, sie reduzieren die Komplexität einer Sache, indem sie die Komplexität in einem Paradigma oder, wie Hegel sagt, in einer „interessanten Individualität“ verdichten, und zwar so, dass entsprechend das Eigentümliche der Sache in seiner allgemeinen Bedeutung getroffen wird. Medien der Darstellung – das Zu(m)grundegehen der Wahrheit. – Die Darstellung des Wissens ist stets die Darstellung eines in einem bestimmten Medium dargestellten Wissens. Ihm haftet das Medium, im Fall der Sprache seine Grammatik, seine Semantik und Pragmatik, und eben auch seine durch die literarische Form verstärkte Dramatik und literarische Textge-

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stalt, nicht (nur) auf eine äußerliche Weise an. Es bringt das Wissen als so und nicht anders bestimmt oder beschrieben hervor. Die Darstellung der reinen Begriffsentwicklung kann ihre Manifestation, ihre äußeren, kontingenten Erscheinungsformen, z. B. in der Sprache, als repräsentative Textur niemals abstreifen, immer bleibt der Gedanke an seine Syntax, Semantik und Pragmatik gebunden. Man kann dies die (notwendige) Textur des Geistes nennen, seine Textualität. Sagen heißt, auf etwas hinweisen, schreiben heißt, Vorstellungen in einen Text übersetzen. Die Textualität des Geistes ist seine Bindung an die Syntax und den kategorial strukturierten Raum der Sprache. Aber diese Fesselung ist zugleich die Bedingung, unter der der Geist, als subjektiver wie objektiver und absoluter, sich seinen Weg ins Freie bahnt. Der unschätzbare Vorteil der sprachlichen wie der schriftlichen Darstellung ist, dass man etwas schwarz auf weiß vorliegen hat, auf das man sich beziehen kann, wie mehrdeutig es im Einzelnen auch ist, d. h., man kann auf das Gesagte, noch besser auf das Geschriebene zurückkommen, man gewinnt Abstand, man kann die Spur zurückverfolgen (rekonstruieren), wie es dazu: zu diesem oder jenem Urteil, zu dieser oder jener Behauptung, gekommen ist. Dazu muss man sich auf das, was dargestellt worden ist, z. B. auf den Satz oder einen Zusammenhang von Sätzen, d. h. die diskursive Formation oder die Gestalt, die das Bewusstsein jeweils angenommen hat, zurückbeugen (reflektieren). Sprache ist das Dasein des Geistes und die Reihe der Darstellung von Selbst- und Weltgestalten seine Geschichte, in der er sich im Negativen seiner, d. h. seinen positiv artikulierten, Gestalten erfasst, ohne je in diesen (seinen) endlichen Manifestationen auch wirklich (authentisch) er selbst zu sein. Sprache hat eine äußere Seite, die lautliche oder die textuelle, und eine intelligible, nämlich die, in der das Geistige über seine äußere, materielle, manifeste Form an seine stets endliche Existenz erinnert wird. Hegel spricht von Bewusstseins- oder Weltgestalten, seine Darstellung ist gewissermaßen reicher, komplexer und anspruchsvoller, weil er in diesen Gestalten des Bewusstseins und der Welt nicht nur philosophische bzw. erkenntniskritische Positionen und Standpunkte darstellt (wie Stoizismus, Skeptizismus usf.), sondern auch typische Figuren sozialer Interaktionen und/oder individueller Selbstverhältnisse (Herr und Knecht, das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung usf.).

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In den rhetorisch zugespitzten Beschreibungen und Argumentationen von Bewusstseins- und Weltgestalten ist das Bedeutsame, das Signifikante der sozialen oder existentiellen Situation, also die Seite, die für uns und unsere Erfahrung wichtig ist, aufgehoben. Sie erhält durch die rhetorische, teilweise polemisch zugespitzte Textgestalt ihre nicht-triviale, bezeichnende Form. Sie zeigt das Paradigmatische einer sozialen Situation und zwar in einer durch die Subjektivität und ihre Erfahrung gebrochenen Darstellung. Kurz, die ans Narrative grenzende Dramaturgie der Bewusstseins- und Weltgestalten (einschließlich ihrer Bezeichnung bzw. ihres Titels) spiegelt etwas von der existentiellen und sozialen Bedeutung, die das Fürwahrhalten der eigenen Überzeugung für das jeweilige individuelle Bewusstsein, d. h. für seine Identität, hat. Das gilt nicht weniger für das „Gesetz des Herzens“ und den „Wahnsinn des Eigendünkels“ als für die „schöne Seele“ oder die „reine Einsicht“. Anders gesagt, Bewusstseins- und Weltgestalten haben neben ihrer sprachlichen, syntaktischen und semantischen Seite, eine mal mehr mal weniger soziale, eine existentiale und eine historische Seite. Die Darstellung bringt das Wissen mit hervor, sie breitet es in all seinen Facetten und Schattierungen aus. In den durch diskursive wie figurative und narrative Prägnanzen ausgezeichneten Bewusstseins- und Weltgestalten sind vor allem drei Kräfte am Werk: die Relevanz stiftende, die Repräsentativität reflektierende und die Komplexität reduzierende Kraft. Man könnte sie auch die drei Seiten eines realitätstauglichen Arguments nennen. Sie spiegeln das, worin die argumentative Überzeugungsarbeit besteht. Sie zielen auf ein Verständnis des richtigen Denkens, das in seiner gedanklichen Selbstbewegung – „der Vermittlung des Sichanderswerden mit sich selbst“ – niemals ein rein formales sein kann. Anders gesagt, in der Darstellung, d. h. in der Explikation von Gestalten des Bewusstseins und der Welt müssen, wenn sie denn überzeugen sollen, argumentative Kräfte entbunden werden, die hinsichtlich der Relevanz nach der „Bedeutung“ und „Geltung“ fragen; im Blick auf die Repräsentativität die Probleme des „statistischen Durchschnitts“, der „(Stell)Vertretung“ und des „Expressiven“ im Auge behalten und, was die Komplexität betrifft, fragen, wie zulässig z. B. eine Vereinfachung (Reduktion) oder eine Verbildli-

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chung oder auch eine Symbolisierung ist.25 Die durch ihre Prägnanzeffekte ausgezeichneten Denkformen rücken dadurch einerseits in die Nähe des Exemplarischen, um andererseits an die allgemeine Vorstellung der sozialen Realität in einem (konkreten, individuellen) Fall anzuschließen. Kurz, neben die Forderung logischer „Kohärenz“ tritt das, was wir heutigentags „Focussierung“, die Einstellung der richtigen Brennweite, nennen. Hegel ist sich der Probleme, die mit Grundbegriffen wie denen der „Gestalt(en)“ einhergehen, außerordentlich bewusst. Gestalt- wie Bildevidenzen tragen gerade in ihrer aufdringlichen Klarheit und Unterschiedenheit, d. h. ihrer Prägnanz, in der sie Komplexität reduzieren und Relevanz stiften, und damit überzeugen, ein trügerisches Element, auch wenn sie nicht schlechterdings trügerischer Schein, bloße Illusion, die sich in nichts auflösen ließe, sind. Problematisch sind sie nicht allein wegen ihrer impliziten Prätention, in der Gestalt ein Ganzes (und Wahres) zu besitzen, sondern auch, weil sie unmittelbar erregte Bild- bzw. Gestaltevidenzen, d. h. subjektive Gewissheiten ohne weitere, d. h. vermittelnde, Prüfung als objektive Wahrheit ausgeben. In der „Ästhetik“ geht Hegels Skepsis noch weiter: „In der Welt der […] Gestalten und Gebilde“, schreibt er (nicht nur) über die symbolischen Formen, „ist […] uns nicht recht geheuer; wir fühlen, daß wir unter Aufgaben wandeln.“26

25 Gestalt und Gewalt liegen nicht nur phonetisch eng beieinander, jedes (per Abstraktion) in einer Gestalt zum Ausdruck gebrachte, festgestellte und übermittelte Wissen zeugt von Spuren begrifflicher Gewalt, die durch das Verdeutlichen, Abkürzen, Klassifizieren, Vereinfachen, Desambiguieren, Verschieben usf. ins Spiel kommen. Von diesen Akten einer fabrique par abstraction sind auch Kunst und Literatur nicht frei. 26 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke 13, Frankfurt/Main 1970, S. 400. – Über Hegel hinausgehend muss gefragt werden, ob und wie sich im Begriff der „Gestalt“ die Verhältnisbestimmung von Komplexität und Prägnanz noch denken lässt, wenn, wie heute an vielen Stellen ersichtlich, sich Komplexität und Prägnanz nicht (mehr) oder nur selten vereinbaren lassen; beide aber in Wissens- und Gesellschaftsordnungen unseres (westlichen) Zuschnitts irreduzible Anforderungen bzw. Bedürfnisse sind: Man muss der Komplexität Rechnung tragen, weil die Dinge es verlangen, man muss der (ausufernden) Komplexität auch etwas entgegensetzen, weil unser Dasein und unsere Handlungen es gebieten.

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Sich vollbringender Skeptizismus. – Wenn von Wissen, gar vom wirklichen Wissen die Rede ist, wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass das Wissen darstellungsinvariant ist – in der nachhegelschen Phänomenologie nicht anders als im Realismus. Mit diesem Vorurteil bricht die Dialektik. In jeder Darstellung steckt vielmehr ein das wirkliche oder reine Wissen relativierendes Element und dieses negative Moment ist das Größte, was Darstellung und Wissen passieren kann, nämlich, dass in der (methodischen) Anstrengung, die Sache auf den Begriff zu bringen, die Sache in der Darstellung verloren geht bzw. relativiert wird. Eine Sache ist für Hegels spekulative Dialektik umso konkreter oder dem wirklichen Wissen näher, je mehr sie sich in die Relativitäten der Darstellung zu verlieren getraut, sie das Schiefe, das Bedenkliche und den Irrtum in Kauf nimmt oder sie die Kraft hat, sie (in ihrer Relativität) darzustellen. Für Hegel liegt die Antwort auf die Frage nach dem Wissen in seiner Darstellung, an ihr lässt sich studieren, dass die Dialektik, wie Hegel nicht müde wird zu betonen, nicht eine Variante der philosophischen Skepsis, sondern eine des „sich vollbringenden Skeptizismus“ ist: Weil die Darstellung des Wissens das Wissen der Darstellung mit enthält, verkörpert sie die ungeheure Macht des Negativen, oder, wie Hegel auch sagt, die Energie des reinen Denkens. Sich in dieser Weise an die Darstellung halten zu müssen, ist der große methodische Gewinn der Dialektik. Ihre Macht liegt in der negativen Selbstbezüglichkeit des Wissens. Die Darstellung ist die Macht, und sie ist, wie Hegel in der „Wissenschaft der Logik“ sagt, der „Schein der Macht“.27 Die Reflexion der Darstellung, d. h. das Zurückkommenmüssen auf das, was in einer bestimmten Form gesagt oder behauptet wurde (von einer Bewusstseins- oder Weltgestalt), liegt im Bewusstsein, dass die jeweilige Darstellung ihr Ziel, das wirkliche Wissen, nicht erreicht; dass Geist und Buchstabe, die intendierte Bedeutung und die äußere Darstellung, der angezielte Gedanke und seine sprachliche Artikulation, die eigentliche Bestimmung und die faktische Bestimmtheit nicht zur Deckung kommen. Das Ansich der Bewusstseins- und Weltgestalten – das Ansich der „schönen Seele“, das Ansich der „reinen Einsicht“ – findet sich immer schon von der Form sei-

27 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, Werke, Bd. 6, Frankfurt/Main 1970, S. 247.

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nes sprachlichen, sei es syntaktischen oder semantischen, Gesetztseins betrogen. Kurz, die zeichenhafte Abhängigkeit der Darstellung hält Form und Inhalt in einer unüberbrückbaren Trennung. Diese Trennung ist das, was an der Darstellung produktiv wird und eine erneute Explikation verlangt. „Dass die Form des Satzes aufgehoben wird, muss nicht nur auf unmittelbare Weise geschehen, nicht durch den bloßen Inhalt des Satzes. Sondern diese entgegengesetzte Bewegung muss ausgesprochen werden; sie muss nicht nur jene innerliche Hemmung [darstellen], sondern dies Zurückgehen des Begriffs in sich muss dargestellt sein. Diese Bewegung, welche das ausmacht, was sonst der Beweis leisten sollte, ist die dialektische Bewegung des Satzes selbst. Sie allein ist das wirkliche Spekulative, und nur das Aussprechen derselben ist spekulative Darstellung. […] Wir sehen uns daher oft von philosophischen Expositionen an dieses innere Anschauen verwiesen und dadurch die Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes erspart, die wir verlangt. – Der Satz soll ausdrücken, was das Wahre ist, aber wesentlich ist es Subjekt, als dieses ist es nur die dialektische Bewegung, dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang.“ (61) Zusammenfassend, die Darstellung verfehlt immer auch ihr Ziel, wahre Darstellung des wirklichen Wissens zu sein. Sie bringt das Wissen hervor, zeigt, worum es sich handelt; sie ist aber auch die Form, die seine Unzulänglichkeit und Kontingenz bezeugt und in diesem Negativen den Impuls entfacht, eine andere oder verbesserte Form anzustrengen. Es kann keine positive oder objektive Verkörperung (Darstellung) der reinen Vernunft geben. Das ist Kants Resultat und Hegels Ausgangspunkt – sie markieren die Gefahren der reinen Vernunft, die in jedem Willen lauern, sei er theoretisch oder praktisch, ihm zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen. Die reine Vernunft ist (und bleibt) die leere Mitte der Macht. Wissen ist nur Wissen unter der Bedingung seiner Bindung an eine bestimmte Darstellung, an ein bestimmtes und bestimmendes (diaphanes) Darstellungsmedium, was jegliche Gestalt des Wissens notwendig relativiert. Denn keine Darstellung in ihren durch Sprache provozierten Kontingenzen kann je beanspruchen, das wahre oder wirkliche Wissen zu sein: Keine Darstellung ist die reine Verkörperung der Vernunft oder der reine Spiegel der Welt, von dem Bacon gesprochen hatte. Das gilt für die diskursive wie die narrative Darstellung gleichermaßen: Die Darstellung ist der

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Stein des Anstoßes, Motivation und Methode, nach einer verbesserten zu suchen. Gleichzeitig kann sich die Sache auch relativ von der Darstellungsform lösen bzw. die Sache kann auf eine andere Art und Weise dargestellt werden, es muss (sollte) dieselbe Sache sein, auf die sich die unterschiedlichen Medien beziehen und kann es doch nicht sein, wenn wir annehmen, dass das Medium der Sache diese und keine andere Gestalt gibt. Dies ist das eine Problem, das andere ist nicht weniger gravierend. Die je bestimmte Darstellung kann als Darstellung einer Sache die bestimmten formalen und inhaltlichen Voraussetzungen, auf denen sie beruht, nicht zugleich mit der Darstellung der Sache darstellen. Jene Voraussetzungen werden operativ benutzt oder mitgeführt, ohne selbst explizit Thema der Darstellung zu sein. Jede Darstellung bleibt auf den verschiedenen Ebenen und Stufen einseitig, sie kann nie zeigen, was sie darzustellen beabsichtigt, vor allem dann nicht, wenn das Ganze als das alleinige Wahre betrachtet wird. Sie kann niemals sagen, was sie meint, sie kann niemals darstellen, was sie (nur) zeigt – wie bei Wittgenstein im „Tractatus“ die sprachliche Form selbst. Mit der Darstellung eines Inhalts zeigt sich zugleich (s)eine sprachliche Form, die aber, nicht dargestellt, nur als Vehikel dient und, wie Wittgenstein glaubt, sich nur zu zeigen vermag. Es gelingt auch nicht, in der Darstellung jener spontanen, oder wie es heute heißt, behauptenden Kraft (eines Sprechers) explizit Ausdruck zu verleihen, sie ist in der Äußerung nur in ihrer Performativität anzutreffen, sie kann (eventuell) erst in der nachträglichen Rekonstruktion über die Logik eines „absoluten Unterschieds“ entziffert werden.

Die Autoren

Gerhard Gamm – Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Philosophie der Neuzeit, des Deutschen Idealismus sowie des 20. Jahrhunderts, Probleme der Bestimmbarkeit von Wissen und Handeln, Sozialphilosophie der modernen Welt. Einschlägige Veröffentlichungen: Das Schönste, was es gibt, Zeitschrift für Kulturphilosophie 2012, I. Philosophie im Zeitalter der Extreme, 2009. Philosophie im Spiegel der Literatur (hg. zus. mit A. Nordmann und E. Schürmann), 2007. Petra Gehring – Professorin für Theoretische Philosophie an der TU Darmstadt. Monographien: Theorien des Todes (2010, 22011). Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung (2008). Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens (2006). Foucault – Die Philosophie im Archiv (2004). Herausgaben: Parrhesía: Foucault und der Mut zur Wahrheit (2012, mit Andreas Gelhard). Raumprobleme (2011, mit Suzana Alpsancar, Marc Rölli). Michel Foucault: Geometrie des Verfahrens (2009). Andreas Gelhard – Wissenschaftlicher Leiter des Forum interdisziplinäre Forschung und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Philosophie der TU Darmstadt. Ausgewählte Publikationen: Kritik der Kompetenz, Zürich/Berlin: diaphanes 2011. Parrhesía. Foucault und der Mut zur Wahrheit, Zürich/Berlin: diaphanes 2012 (hg. zus. mit Petra Gehring). „Das Dispositiv der Eignung. Elemente einer Geschichte der Prüfungstechniken“, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1/2012, S. 44-60.

280 | KLEISTS „ÜBER DAS MARIONETTENTHEATER “

Christoph Halbig – Inhaber des Lehrstuhls für Grundlagen der Ethik und der angewandten Ethik an der Universität Gießen. Ausgewählte Publikationen: Objektives Denken. Erkenntnistheorie und Philosophy of Mind in Hegels System, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. Praktische Gründe und die Realität der Moral, Frankfurt 2007. Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013. Aufsätze zur Ethik, Rationalitätstheorie, Religionsphilosophie sowie zum dt. Idealismus und seiner Rezeption in der analytischen Philosophie. Christoph Hubig – Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: Technik- und Kulturphilosophie, anwendungsbezogene Ethik, Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Philosophie der Institutionen/Macht, Pragmatismus, Dialektik im Ausgang von Hegel. Ausgewählte Publikationen: Dialektik und Wissenschaftslogik (1978). Handlung – Identität – Verstehen. Von der Handlungstheorie zur Geisteswissenschaft (1985). Technik- und Wissenschaftsethik. Ein Leitfaden (1995). Technologische Kultur (1997). Die Kunst des Möglichen, Bd. I (2006), Bd. II (2007). Andreas Kaminski – Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Ausgewählte Publikationen: Technik als Erwartung. Grundzüge einer allgemeinen Technikphilosophie, Bielefeld: transcript, 2010. „Prüfungen um 1900 – als moderne Subjektivierungsform“, in: Historische Anthropologie, H. 2 (2011), 331-353. Zusammen mit Andreas Gelhard: Zur Philosophie informeller Technisierung, Darmstadt: WBG, 2013. Andreas Luckner – Professor am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie/Ethik, Philosophie der Erziehung, Phänomenologie, Philosophie der Technik, Ästhetik, Philosophie der Musik, Antike Philosophie, Rationalismus des 17. Jahrhunderts, Deutscher Idealismus, Heidegger. Ausgewählte Publikationen: Genealogie der Zeit. Zu Herkunft und Umfang eines Rätsels (1994). Martin Heidegger ‚Sein und Zeit‘. Ein einführender Kommentar (1997, 2007). Klugheit (2005). Heidegger und das Denken der Technik (2008).

D IE A UTOREN | 281

Francesca Michelini – Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theoretische Philosophie an der Universität Kassel. Mitarbeiterin des Sonderforschungsbereiches 644 „Transformationen der Antike“ an der HumboldtUniversität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Philosophie der Biowissenschaften, Philosophische Anthropologie und Deutsche Klassische Philosophie. Ausgewählte Publikationen: Sostanza e assoluto. La funzione di Spinoza nella Scienza della logica di Hegel (Die Substanz und das Absolute. Die Funktion von Spinoza in Hegels Wissenschaft der Logik), 2004. Il vivente e la mancanza. Scritti sulla teleologia (Das Lebendige und der Mangel. Schriften über die Teleologie), 2011. Jan Müller – Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Ausgewählte Publikationen: „Begriffliches Sprechen. Zur sprachphilosophischen Grundkonstellation der frühen Kritischen Theorie“, in: Völk, M./Schreull, S. u. a. (Hrsg.), „wenn die Stunde es zulässt.“ Zur Traditionalität und Aktualität kritischer Theorie, Bielefeld 2012, S. 173-202. „Das Handeln und die Eule der Minerva. Oder: Wie provisorische Moral und Ironie zusammenhängen“, in: Fischer, P./Luckner, A./Ramming, U. (Hrsg.), Die Reflexion des Möglichen, Berlin 2012, S. 87-101. „‚Erinnern‘ und ‚erinnert werden‘. Zur logischen Grammatik einer Wissensform“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 3/2009, S. 271-282. Marc Rölli – Professor für Philosophie an der Fatih Universität in Istanbul. Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Anthropologie, im amerikanischen Pragmatismus sowie in der neueren französischen Philosophie. Jüngste Publikationen: Mikropolitik (gemeinsam mit Ralf Krause, Wien 2010), Kritik der anthropologischen Vernunft (Berlin 2011), Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus (Wien ²2012). Sarah Schmidt – Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der BBAW (Schleiermacher Forschungsstelle). Promotion in Philosophie (Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2005). Lehrtätigkeit in Philosophie und Literatur in Paris, Bern, Stuttgart, London und Berlin. Seit 2011 Leitung des DFG-Netzwerkes „Sprachen des Sammelns“. Publikationen zur Philosophie der Frühromantik, Wechselwirkung von Kunst und Wissenschaft, materiale Kultur und Wissenssammlung, Interkulturalität und Fremdheitsdiskurse.

Edition panta rei Christoph Asmuth (Hg.) Transzendentalphilosophie und Person Leiblichkeit – Interpersonalität – Anerkennung 2007, 532 Seiten, kart., 39,90 €, ISBN 978-3-89942-691-5

Christoph Hubig Die Kunst des Möglichen II Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik Band 2: Ethik der Technik als provisorische Moral 2007, 266 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-531-4

Christoph Hubig Die Kunst des Möglichen I Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik Band 1: Technikphilosophie als Reflexion der Medialität 2006, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-431-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition panta rei Andreas Luckner Heidegger und das Denken der Technik 2008, 152 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-840-7

Joachim Schickel Der Logos des Spiegels Struktur und Sinn einer spekulativen Metapher (herausgegeben von Hans Heinz Holz) 2012, 370 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-295-5

Fabian Scholtes Umweltherrschaft und Freiheit Naturbewertung im Anschluss an Amartya K. Sen 2007, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-737-0

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Edition panta rei Siegfried Blasche, Mathias Gutmann, Michael Weingarten (Hg.) Repræsentatio Mundi Bilder als Ausdruck und Aufschluss menschlicher Weltverhältnisse. Historisch-systematische Perspektiven

Hans Heinz Holz Mensch – Natur Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie

2004, 342 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-127-9

Andreas Kaminski Technik als Erwartung Grundzüge einer allgemeinen Technikphilosophie

Albrecht Fritzsche Schatten des Unbestimmten Der Mensch und die Determination technischer Abläufe 2009, 194 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1233-2

Gerhard Gamm, Mathias Gutmann, Alexandra Manzei (Hg.) Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften 2005, 264 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-319-8

Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Unbestimmtheitssignaturen der Technik Eine neue Deutung der technisierten Welt 2005, 362 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-351-8

Mathias Gutmann Erfahren von Erfahrungen Dialektische Studien zur Grundlegung einer philosophischen Anthropologie 2004, 766 Seiten, kart., 2 Bände, 49,80 €, ISBN 978-3-89942-187-3

2003, 194 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-126-2

2010, 306 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1470-1

Josef König Denken und Handeln Aus dem Nachlass 1 2005, 190 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-320-4

Heinwig Lang Die Individualität der Dinge Kultur-, wissenschafts- und technikphilosophische Perspektiven auf die Bestimmung eines Unbestimmbaren 2008, 362 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-951-0

Lars Meyer Absoluter Wert und allgemeiner Wille Zur Selbstbegründung dialektischer Gesellschaftstheorie 2005, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-224-5

Nikos Psarros Facetten des Menschlichen Reflexionen zum Wesen des Humanen und der Person 2007, 194 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-89942-613-7

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