Das Subjekt und das Absolute: Zur Aktualität der Philosophie Wolfgang Cramers 9783495999158, 9783495491133


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1. Einleitung
1.1 Grundintentionen von Wolfgang Cramers Philosophie
1.2 Biographische Notizen zu Cramer und ein werkgeschichtlicher Überblick
2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalphilosophischen Perspektive in der Bewusstseinsdebatte
2.1 Bewusstsein im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie
2.1.1 Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Philosophie
2.1.2 Wissenschaftsphilosophische Überlegungen zur Neurowissenschaft
2.1.2.1 Die Unterscheidung von Objekt-, Para- und Metasprache
2.1.2.2 Neue Explananda in der Parasprache der Neurowissenschaft
2.1.2.3 Die assoziative Verallgemeinerung der neuronalen Korrelate
2.1.3 Die vermeintliche Fundamentalität der Physik im Physikalismus
2.1.4 Konsequenzen für Physik und Neurowissenschaften
2.1.5 Wissenschaftspraxis und Subjektkonzeption
2.1.6 Der Weg zu einer transzendentalphilosophischen Theorie des Bewusstseins
2.2 Die Berechtigung des Skeptizismus und die mit ihm verbundene Herausforderung
3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt
3.1 Die Kantischen Grundintentionen
3.2 Die Grundspannung in Kants Ansatz
3.3 Cramers kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Konzeption des transzendentalen Subjekts
3.3.1 Die notwendige Minimalbestimmung des Subjekts
3.3.2 Die transzendentale Realität der Zeit
3.3.3 Die Problematik des empirischen Subjekts
4. Die philosophische Deduktion als Methode
5. Cramers Theorie der Subjektivität
5.1 Der dreifache Gebrauch von »ich«: Überlegungen zu dem den Wahrheitsanspruch relativierenden Operator des Mir-so-Scheinens
5.2 Exkurs: Die Bedeutung von Descartes Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als Ausgangspunkt für eine Theorie der Subjektivität
5.3 Denken als Ausgangspunkt einer Theorie der konkreten Subjektivität
5.4 Der ursprünglich legitimierte Gedanke des »Ich denke«
5.5 Denken als spezifische Form des Erlebens
5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben
Erleben als aktives Zeugen
Das Erleben als Für-sich-Sein
Erleben als In-sich-Sein
5.7 Die zeitliche Struktur des Erlebens als Zeugen
5.7.1 Erleben als zeitliche Ausdehnung
5.7.2 Erleben als Integration von Gewesenem
5.7.3 Die Zeitlichkeit des Erlebens als durch eine andere Form der Zeitlichkeit bedingte
5.8 Der notwendige Bezug des Erlebens zum Organismus und zur Natur
5.9 Die denkende Monade: vom Geist
5.10 Das Selbstbestimmen als Prinzip der Freiheit
5.11 Die Sozialität des Geistes
5.12 Subjektivität und Transzendenz und die verschiedenen Arten des Transzendierens
5.12.1 Drei Formen der Transzendenz
5.12.2 Drei Formen des Transzendierens
6. Die Theorie des Absoluten
6.1 Propädeutische Überlegungen zu einer Theorie des Absoluten
6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise
6.2.1 Der kosmologische Gottesbeweis
6.2.1.1 Cramers Kant-Kritik im Kontext der Gottesbeweise
6.2.1.1.1 Kants Begriff des Daseins
6.2.1.1.2 Zeit
6.2.1.1.3 Kausalität
6.2.1.2 Die bleibenden Schwächen des kosmologischen Beweises
6.2.2 Der ontologische Gottesbeweis
6.2.2.1 Die Rekonstruktion des Gedankengangs bei Anselm nach Cramer
6.2.2.2 Das »herausgelöste« Argument und die berechtigte Kritik Kants
6.2.2.3 Eine Reformulierung des Beweises
6.2.2.4 Cramers eigene Version des ontologischen Arguments
6.3 Cramers Theorie des Absoluten
6.3.1 Die Philosophische Deduktion im Kontext der Letztbegründung
6.3.2 Die Bestimmtheit-selbst: der Letztbegründungsansatz in »Die Monade«
6.3.2.1 Motive zum Übergang von der Transzendentalontologie zur spekulativen Philosophie
6.3.2.2 Die Diskussion möglicher Zweifelsgründe
Die logische Struktur der letzten Frage
Die Descartessche Gewissheit des denkenden Subjekts
Unwegdenkbarkeit als reiner Bezug zum Denken
Die Unmöglichkeit der Erkenntnis des letzten Grundes
6.3.2.3 Die Beantwortung der letzten Frage: Die Bestimmtheit-selbst als letztbegründendes Prinzip
6.3.2.4 Das Prinzip der Bestimmtheit-selbst
6.3.2.5 Die Strukturcharaktere des Absoluten
6.3.3 Das erweiterte Konzept des Absoluten in »Das Absolute und das Kontingente«
6.3.4 Das Absolute in »Die absolute Reflexion«
6.3.4.1 Zur Unmöglichkeit des beziehungslosen Unterschieds
6.3.4.2 Der absolute Unterschied
6.3.4.3 Der Bezug zum Kontingenten: das Agere als zweite Art des Zeugens und der Modus des Außer-sich-Seins
6.3.4.4 Die Seinsmodalitäten und die göttliche Visio
6.3.4.5 Das Absolute als einfaches Unendliches und seine Unterscheidung vom mathematisch Unendlichen
6.3.4.6 Die Freiheit des Absoluten und die Freiheit des Kontingenten
6.3.4.7 Zeit und Ewigkeit des Absoluten
7. Ein kritischer Rück- und Ausblick
7.1 Die grenzbegriffliche Struktur in der Charakterisierung des Absoluten
7.2 Merkmale einer Begriffslogik
7.3 Grundanliegen einer intensionalen Logik
7.4 Philosophische Betrachtungen der intensionallogischen Struktur von Grenzbegriffen
7.5 Beispiele von Grenzbegriffen
7.5.1 Relative Grenzbegriffe
7.5.2 Der absolute Grenzbegriff
7.6 Der Nutzen der grenzbegrifflichen Struktur hinsichtlich des Gottesbegriffs
7.7 Eine grenzbegriffliche Rekonstruktion der Theorie des Absoluten bei Cramer
8. Ein abschließendes Fazit
9. Literaturverzeichnis
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Das Subjekt und das Absolute: Zur Aktualität der Philosophie Wolfgang Cramers
 9783495999158, 9783495491133

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Tobias Müller

Das Subjekt und das Absolute Zur Aktualität der Philosophie Wolfgang Cramers

https://doi.org/10.5771/9783495999158 .

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Tobias Müller

Das Subjekt und das Absolute Zur Aktualität der Philosophie Wolfgang Cramers

https://doi.org/10.5771/9783495999158 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Tübingen, Univ., Liz., 2019 ISBN 978-3-495-49113-3 (Print) ISBN 978-3-495-99915-8 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495999158 .

Für Hermann Schrödter in Dankbarkeit und freundschaftlicher Verbundenheit

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Vorwort

Wolfgang Cramers Theorie der konkreten Subjektivität und die daran anknüpfende Theorie des Absoluten gehören ohne Zweifel zu den originellsten und anspruchsvollsten systematischen Beiträgen der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Obwohl Kenner seines Werkes seinen Ansatz als eine beachtliche Ressource für die aktuellen Debatten halten, ist Cramers Philosophie bislang kaum rezipiert worden. Dies liegt zum einen an den sehr dichten Argu­ mentationsgängen und der Verwendung einer eigenen Begrifflichkeit in seinen Werken; zum anderen mag dies auch der allgemeinen Tendenz der Philosophie geschuldet sein, sich weniger mit den großen Grundfragen zu beschäftigen, sondern innerhalb eines gegebenen Rahmens generierte Probleme zu bearbeiten. Die vorliegende Arbeit, die eine leicht überarbeitete Fassung meiner Lizentiatsarbeit darstellt, die im Sommersemester 2019 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen wurde, möchte den Grundstein dafür legen, den Cramerschen Ansatz in der wissenschaftlichen Debatte bekannter und für aktuelle Diskussionen anschlussfähig zu machen. Es ist mir ein großes Anliegen, an dieser Stelle den Menschen Dank zu sagen, die zur Entstehung dieser Arbeit wesentlich beige­ tragen haben. An erster Stelle bin ich meinem Betreuer Prof. Dr. Johannes Brachtendorf zu Dank verpflichtet, der es mir durch seine Offenheit für die Thematik ermöglicht hat, diese Arbeit als Qualifi­ kationsarbeit einzureichen. Prof. Dr. Michael Eckert danke ich für das Zweitgutachten. Ganz besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Hermann Schrödter, der mir nicht nur die Philosophie Cramers nähergebracht hat, sondern der mir schon seit vielen Jahren ein wertvoller Gesprächspartner von unschätzbarem Wert ist und meine philosophische Entwicklung maßgeblich beeinflusst und gefördert hat. Darüber hinaus haben intensive Gespräche mit Dr. Bernhard Dörr, Prof. Dr. Thomas Hanke, Johanna Häusler, Dr. Hans-Jürgen Müller, Prof. Dr. Josef Schmidt SJ und Prof. Dr. Gunther Wenz dazu

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Vorwort

beigetragen, den Cramerschen Ansatz und seine Voraussetzungen immer tiefer zu durchdringen und die Rekonstruktion der Argumente klarer zu fassen. Meiner Frau Anna möchte ich herzlich dafür danken, dass sie meinen wissenschaftlichen Weg mit all seinen Mühen immer gedul­ dig mitgetragen hat. Zu danken habe ich auch Werner Paus, der nicht nur das Korrekturlesen übernommen hat, sondern die Arbeit auch immer mit kritisch-konstruktiven Kommentaren begleitete. Nicht zuletzt gebührt der NoMaNi-Stiftung großer Dank, ohne die das Forschungsprojekt, innerhalb dessen diese Arbeit entstanden ist, nicht hätte durchgeführt werden können. Dem Alber Verlag danke ich für die nun schon langjährige gute Zusammenarbeit und die Aufnahme des Buches in sein Programm.

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Grundintentionen von Wolfgang Cramers Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1.2 Biographische Notizen zu Cramer und ein werkgeschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . .

22

2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalphilosophischen Perspektive in der Bewusstseinsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

2.1 Bewusstsein im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Wissenschaftsphilosophische Überlegungen zur Neurowissenschaft . . . . . . . . . . . 2.1.2.1 Die Unterscheidung von Objekt-, Para- und Metasprache . . . . . . . 2.1.2.2 Neue Explananda in der Parasprache der Neurowissenschaft . . . . . . . 2.1.2.3 Die assoziative Verallgemeinerung der neuronalen Korrelate . . . . . . 2.1.3 Die vermeintliche Fundamentalität der Physik im Physikalismus . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Konsequenzen für Physik und Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Wissenschaftspraxis und Subjektkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.6 Der Weg zu einer transzendentalphilosophischen Theorie des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495999158 .

Inhaltsverzeichnis

2.2 Die Berechtigung des Skeptizismus und die mit ihm verbundene Herausforderung . . . . . . . . . . .

51

3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

55

3.1 Die Kantischen Grundintentionen . . . . . . . . .

55

3.2 Die Grundspannung in Kants Ansatz

68

. . . . . . .

3.3 Cramers kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Konzeption des transzendentalen Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die notwendige Minimalbestimmung des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die transzendentale Realität der Zeit . . . 3.3.3 Die Problematik des empirischen Subjekts

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74 80 83

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93

5. Cramers Theorie der Subjektivität . . . . . . . . . .

99

5.1 Der dreifache Gebrauch von »ich«: Überlegungen zu dem den Wahrheitsanspruch relativierenden Operator des Mir-so-Scheinens . . . . . . . . . .

100

5.2 Exkurs: Die Bedeutung von Descartes Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als Ausgangspunkt für eine Theorie der Subjektivität

107

5.3 Denken als Ausgangspunkt einer Theorie der konkreten Subjektivität . . . . . . . . . . . . . .

117

5.4 Der ursprünglich legitimierte Gedanke des »Ich denke« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

5.5 Denken als spezifische Form des Erlebens . . . . .

126

5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben . .

133

5.7 Die zeitliche Struktur des Erlebens als Zeugen . . 5.7.1 Erleben als zeitliche Ausdehnung . . . . . 5.7.2 Erleben als Integration von Gewesenem . 5.7.3 Die Zeitlichkeit des Erlebens als durch eine andere Form der Zeitlichkeit bedingte . . .

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151

4. Die philosophische Deduktion als Methode

10 https://doi.org/10.5771/9783495999158 .

Inhaltsverzeichnis

5.8 Der notwendige Bezug des Erlebens zum Organismus und zur Natur . . . . . . . . . . . .

153

5.9 Die denkende Monade: vom Geist . . . . . . . . .

162

5.10 Das Selbstbestimmen als Prinzip der Freiheit

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169

. . . . . . . . . . . . .

175

5.12 Subjektivität und Transzendenz und die verschiedenen Arten des Transzendierens . . . . . 5.12.1 Drei Formen der Transzendenz . . . . . . . 5.12.2 Drei Formen des Transzendierens . . . . . .

180 181 182

6. Die Theorie des Absoluten . . . . . . . . . . . . . .

187

6.1 Propädeutische Überlegungen zu einer Theorie des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

5.11 Die Sozialität des Geistes

6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Der kosmologische Gottesbeweis . . . . . . 6.2.1.1 Cramers Kant-Kritik im Kontext der Gottesbeweise . . . . . . . . . . . 6.2.1.1.1 Kants Begriff des Daseins 6.2.1.1.2 Zeit . . . . . . . . . . . . 6.2.1.1.3 Kausalität . . . . . . . . . 6.2.1.2 Die bleibenden Schwächen des kosmologischen Beweises . . . . . . 6.2.2 Der ontologische Gottesbeweis . . . . . . . 6.2.2.1 Die Rekonstruktion des Gedankengangs bei Anselm nach Cramer . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2.2 Das »herausgelöste« Argument und die berechtigte Kritik Kants . . . . . 6.2.2.3 Eine Reformulierung des Beweises 6.2.2.4 Cramers eigene Version des ontologischen Arguments . . . . . . 6.3 Cramers Theorie des Absoluten . . . . . . . . . . 6.3.1 Die Philosophische Deduktion im Kontext der Letztbegründung . . . . . . . . . . . . . .

191 191 199 199 203 204 207 211 212 214 216 218 222 222

11 https://doi.org/10.5771/9783495999158 .

Inhaltsverzeichnis

6.3.2 Die Bestimmtheit-selbst: der Letztbegründungsansatz in »Die Monade« 6.3.2.1 Motive zum Übergang von der Transzendentalontologie zur spekulativen Philosophie . . . . . . 6.3.2.2 Die Diskussion möglicher Zweifelsgründe . . . . . . . . . . . Die logische Struktur der letzten Frage . . . . . . . . . . . . . . . . Die Descartessche Gewissheit des denkenden Subjekts . . . . . . . . . Unwegdenkbarkeit als reiner Bezug zum Denken . . . . . . . . . . . . . Die Unmöglichkeit der Erkenntnis des letzten Grundes . . . . . . . . . . . 6.3.2.3 Die Beantwortung der letzten Frage: Die Bestimmtheit-selbst als letztbegründendes Prinzip . . . . . 6.3.2.4 Das Prinzip der Bestimmtheit-selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.5 Die Strukturcharaktere des Absoluten 6.3.3 Das erweiterte Konzept des Absoluten in »Das Absolute und das Kontingente« . . . . . . . 6.3.4 Das Absolute in »Die absolute Reflexion« . 6.3.4.1 Zur Unmöglichkeit des beziehungslosen Unterschieds . . . 6.3.4.2 Der absolute Unterschied . . . . . . 6.3.4.3 Der Bezug zum Kontingenten: das Agere als zweite Art des Zeugens und der Modus des Außer-sich-Seins . . 6.3.4.4 Die Seinsmodalitäten und die göttliche Visio . . . . . . . . . . . 6.3.4.5 Das Absolute als einfaches Unendliches und seine Unterscheidung vom mathematisch Unendlichen . . . . . . . . . . . . 6.3.4.6 Die Freiheit des Absoluten und die Freiheit des Kontingenten . . . . . . 6.3.4.7 Zeit und Ewigkeit des Absoluten . .

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226 226 228 228 229 230 230 231 236 240 244 252 263 265 277 284

287 288 290

Inhaltsverzeichnis

7. Ein kritischer Rück- und Ausblick . . . . . . . . . . .

295

7.1 Die grenzbegriffliche Struktur in der Charakterisierung des Absoluten . . . . . . . . . .

297

7.2 Merkmale einer Begriffslogik

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. . . . . . . . . . .

7.3 Grundanliegen einer intensionalen Logik

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301

7.4 Philosophische Betrachtungen der intensionallogischen Struktur von Grenzbegriffen

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7.5 Beispiele von Grenzbegriffen . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Relative Grenzbegriffe . . . . . . . . . . . 7.5.2 Der absolute Grenzbegriff . . . . . . . . . .

309 309 311

7.6 Der Nutzen der grenzbegrifflichen Struktur hinsichtlich des Gottesbegriffs . . . . . . . . . . .

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7.7 Eine grenzbegriffliche Rekonstruktion der Theorie des Absoluten bei Cramer . . . . . . . . . . . . .

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8. Ein abschließendes Fazit . . . . . . . . . . . . . . .

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9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung

1.1 Grundintentionen von Wolfgang Cramers Philosophie Wenn der Philosophie als Wissenschaft die Aufgabe zukommt, die scheinbar selbstverständlichen Inhalte unseres lebensweltlichen Wis­ sens – wie beispielsweise die, dass wir psychophysische Wesen sind, einen freien Willen haben oder im Denken die wesentlichen Bestimmungen der Dinge erkennen – kritisch, ohne dogmatische Vorurteile und unabhängig von opportunen Überzeugungen zu unter­ suchen und eventuell zu rechtfertigen, dann stechen Wolfgang Cra­ mers philosophische Werke durch eine radikale Kompromisslosigkeit und Konsequenz in der Sachfrage sowie eine besondere denkerische Schärfe ohne Zweifel hervor. Entgegen der Tendenz seiner Zeit, die mit der Kantischen Transzendentalphilosophie eine konstruktive Thematisierung ontolo­ gischer Fragestellungen für obsolet hielt, gab sich Cramer nicht mit überlieferten Überzeugungen der philosophischen Debatte zufrieden, wenn er meinte, dass darin die Sachfragen unzureichend behandelt worden seien. Dabei setzt Cramer bei denjenigen philosophischen Themen an, die zur Kantischen Transzendentalphilosophie geführt haben, und nimmt die mit ihnen einhergehende Herausforderung ernst: Hinter Kants Einsicht von der erkenntnistheoretischen und -konstitutiven Bedeutung der Subjektivität kann seiner Ansicht nach nicht zurückgegangen werden. Wohl aber biete der Kantische Ansatz letztlich keine Lösung, weil in ihm einige grundlegende theoretische Voraussetzungen nicht mehr eingeholt werden könnten, was schließlich erneut zu unlösbaren Problemen führe. Cramer hat sich deshalb vor diesem Hintergrund in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes, Leibniz, Husserl und vor allem Kant wieder den großen Fragen der Philosophie zugewandt. So entwi­ ckelte er eine Theorie der Subjektivität, die in kritischer Absetzung von Kant sowohl der Eigenart des Denkens und Erlebens als eigener Seinsmodi als auch dem notwendigen Bezug zum Leib und seiner Umwelt Rechnung tragen soll.

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1. Einleitung

Ausgangspunkt hierfür ist die skeptische Grundfrage, wie der Realitätsanspruch des Denkens überhaupt gerechtfertigt werden kann. Nur wenn diese Herausforderung angenommen und theore­ tisch bewältigt wird, lässt sich zeigen, wie das konkrete Subjekt in den Natur- und Weltzusammenhang eingebettet ist und wie die in Frage stehenden Fähigkeiten des Subjekts fundiert werden können. Es wird im Folgenden genau zu zeigen sein, wie die Entwicklung dieser Gedanken, ausgehend von einer skeptischen Grundhaltung, zu einer Konzeption führen, in der das erlebende Lebewesen als psychophysische Einheit ausgewiesen wird, wobei sich das Verhältnis von Geist bzw. Bewusstsein und Körper logisch gesehen als eine bedingte Binnendifferenz erweisen wird, durch die gerade die externe Gegenüberstellung von Wirklichkeitsbereichen vermieden werden kann, ohne einem einseitigen – reduktionistischen oder idealistischen – Monismus anheimzufallen. Dabei geht Cramer nicht von hypo­ thetisch gesetzten Prämissen aus, sondern versucht, die unhintergeh­ baren Bedingungen für eine Theorie der Subjektivität apagogisch zu entwickeln, die neben den transzendentalphilosophischen auch phänomenologische Momente beinhaltet. Als Schlüsselkonzept erweist sich hierbei sein negativer Seins­ begriff, der den ontologischen Status z. B. des denkenden Subjekts anhand des Gedankenexperiments des radikalen Zweifels als »nicht nur gedacht« ausweist. Dieser negative Seinsbegriff, durch den auch die Verschränkung von Gedanken- und Wirklichkeitsbestimmungen aufgewiesen wird, ist gleichzeitig auch der Ausgangspunkt einer Theorie des Absoluten, in welcher die letztendliche Bedingtheit aller endlichen Bedingungen noch einmal reflektiert wird. Dabei zeigt sich auch hier Cramers Kompromisslosigkeit in der Sachfrage, denn wie schon in seiner Subjektphilosophie, so versucht er auch in seiner Theorie des Absoluten nicht von hypothetisch gesetzten Prämissen auszugehen, was sich nach Cramer als der wesentliche Schwachpunkt der traditionellen Gottesbeweise erweist. Im Gegensatz zu den traditionellen Gottesbeweisen setzt Cra­ mers Argumentation, die zum Prinzip der Bestimmtheit als dem absoluten Sein führt, eben keine gemachten und damit willkürlich gesetzten Bedingungen voraus, sondern expliziert die letzten Bedin­ gungen überhaupt, die gar nicht gesetzt sein können, sondern implizit in jedem Bestimmten immer schon vorliegen:

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1.1 Grundintentionen von Wolfgang Cramers Philosophie

»Das Denken kommt also nicht von etwas erst zu der Einsicht in die Existenz Gottes, sondern es kann allein sich vorführen, daß es selbst schon von ihr beherrscht ist.«1

Zentraler Gedanke in diesem Ansatz ist es hierbei, ein Konzept des Absoluten zu entwickeln, das sowohl der geforderten Letztbegrün­ dung der in der Subjektphilosophie gefundenen Prinzipien genügt als auch die Basis einer angemessenen Vermittlung von Absolutem und Kontingentem darstellt. Dabei wird sowohl ein strikter Dualismus von Absolutem und Kontingentem, bei dem beide strikt getrennt sind, als auch ein Pantheismus, in dem die Welt als notwendiges Moment des Absoluten aufgefasst wird, vermieden, weil beide Konzepte nicht haltbare Annahmen implizieren und sich mit massiven Schwierigkei­ ten konfrontiert sehen. Cramer hat das Grundkonzept seiner Theorie des Absoluten kontinuierlich weiterentwickelt. Die Entwicklung gipfelte werkge­ schichtlich letztlich in der sogenannten »absoluten Reflexion«, die das Absolute aus sich, aus seinen fundamentalen Bestimmungen ohne Rückgriff auf hypothetische oder dem Absoluten äußerliche Prämissen begreifen möchte. Aufgrund der verwendeten Terminologie und der sehr dichten Argumentationsgänge in seinen Werken ist Cramer bislang kaum rezipiert worden, obwohl Kenner seines Werkes seinen Ansatz als beachtliche Ressource für eine Subjektphilosophie und eine Theorie des Absoluten ansehen. So schreibt z. B. Dieter Henrich in seiner Rezension der »Grundlegung einer Theorie des Geistes«, dass dieses das einzige grundlegende systematische Werk sei, das nach 1945 in Deutschland veröffentlicht worden sei, und Falk Wagner sieht Cramers Theorie des Absoluten als ebenbürtig zu denen Fichtes und Hegels an.2 Das Ziel der folgenden Untersuchung ist es, Cramers Theorie der Subjektivität und die daran anschließende Theorie des Absoluten kritisch zu rekonstruieren. Dabei soll gezeigt werden, dass ein großer Teil der Kritik an Cramers Ansatz interpretatorischen Missverständ­ nissen geschuldet ist. Dies liegt – wie oben bereits angedeutet – nicht zuletzt an der sehr dichten Darstellung Cramers und der Einführung neuer begrifflicher Konzepte, die eben aufgrund dieser begrifflichen W. Cramer, Die Monade, 239. Vgl. D. Henrich, »Über System und Methode von Cramers deduktiver Monadolo­ gie«, 237–256; vgl. F. Wagner, Religion und Gottesgedanke, 190.

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1. Einleitung

Dichte leicht zu falschen Assoziationen führen. Daher ist es für eine angemessene Beurteilung des Cramerschen Ansatzes notwendig, die verwendete Methode, den Duktus und die Grundlinien der Argumen­ tation genau nachzuzeichnen und kritisch zu diskutieren. Um die Aktualität des Cramerschen Ansatzes zu verdeutlichen, wird in einem ersten Kapitel gezeigt, dass die Fragestellungen Cra­ mers auch in der heutigen Debatte der Subjektphilosophie angesichts der reduktionistischen Herausforderungen, die aus einer an den Naturwissenschaften orientierten Philosophie kommen, keineswegs überholt, überflüssig oder entbehrlich sind. Vielmehr kann aufgewie­ sen werden, dass diese Fragestellungen im Gegenteil grundlegende Aspekte des Subjektseins und damit Voraussetzungen der empiri­ schen Forschung als normativer Handlungspraxis thematisieren, die heutzutage meist ausgeblendet werden. Dies führt im Allgemeinen zu einer Verkürzung der Problemstellung, durch die die in Frage ste­ henden Phänomene nicht mehr phänomenadäquat begriffen werden können. Einige wissenschaftsphilosophische Überlegungen werden zeigen, dass sowohl die Neurowissenschaften als auch die Physik als Wissenschaften keine ontologischen Reduktionen implizieren und dass das Betreiben von Wissenschaft ein Subjektkonzept voraussetzt, das sich innerhalb eines reduktionistischen Rahmens nicht mehr fassen lässt. Legitimiert diese kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Debatte schon eine umfassendere Theorie des Subjekts, so sieht sich eine solche durch eine Kantische Transzendentalphilosophie herausgefordert, denn es stellt sich systematisch die Frage, ob eine Subjekttheorie, die über den Status des Kantischen Konzepts der Transzendentalität des Subjekts hinausgeht, überhaupt gerechtfertigt werden kann. Nur wenn gezeigt werden kann, dass und wie man über ein solches Konzept der Transzendentalität hinausgehen kann, ist eine – in Cramers Terminologie – transzendentalontologische Konzeption legitimiert, in der das Subjekt begründet als nicht nur gedacht aufgefasst werden muss. Aus diesem Grund schließt ein Kapitel über die kritische Aus­ einandersetzung Cramers mit der Kantischen Transzendentalphiloso­ phie an, in dem gezeigt wird, dass Cramer nicht nur sehr vertraut mit der Kantischen Philosophie gewesen ist, sondern dass ihm auch die konzeptionellen Schwierigkeiten dieses Ansatzes klar vor Augen gestanden haben und dass die kritische Auseinandersetzung mit

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1.1 Grundintentionen von Wolfgang Cramers Philosophie

diesen Schwierigkeiten zugleich das Fundament für seine Philosophie gelegt hat. Im darauf folgenden Kapitel wird Cramers Theorie der Subjek­ tivität kritisch rekonstruiert, in einen aktuellen Kontext der Sub­ jektphilosophie eingebettet und gegen einige kritische Einwände verteidigt. Zu diesem Zweck werden zunächst einige Rahmenbedin­ gungen zur Möglichkeit einer Subjektphilosophie diskutiert. Anton Friedrich Kochs Unterscheidung der drei Gebrauchsweisen von »ich« wird dabei ebenso als Orientierung an der aktuellen Debatte zum Ich-Gedanken einbezogen wie einige grundsätzliche Überlegungen zum Gedankenexperiment des radikalen Zweifels von René Descar­ tes. Die sich daran anschließende Aufgabe besteht darin zu zeigen, dass Cramers Subjektphilosophie die in den vorherigen Kapiteln erarbeiteten Grundbedingungen erfüllt und die Grundlage für eine weitergehende Entfaltung des Subjektkonzepts bietet. Hinsichtlich Cramers eigenen Ansatzes stehen zunächst die Konzepte der trans­ zendentalen Realität der Zeit und der minimalen Bestimmbarkeit des Subjekts im Kontext eines negativen Seinsbegriffs im Vordergrund, die durch eine transzendentalphilosophische Erörterung der Grund­ struktur der Subjektivität, ausgehend von dem Gedankenexperiment des radikalen Zweifels und unter Einbeziehung von phänomenologi­ schen Aspekten, gewonnen werden. Anschließend wird die Grundstruktur der Subjektivität als Sich­ bestimmen bzw. als Zeugen weiter entfaltet und das Konzept der verkörperten Subjektivität durch die transzendentalphilosophische Herleitung des notwendigen Organismusbezugs des Erlebens vorge­ stellt. Die Subjektphilosophie stellt gewissermaßen auch den Drehund Angelpunkt für eine Theorie des Absoluten dar, insofern hier die ontologischen Verpflichtungen der Subjektphilosophie durch einen letzten Grund begründet werden sollen. Daher widmet sich der fol­ gende Teil der Arbeit dann der Entwicklung von Cramers Theorie des Absoluten. Als propädeutisch hilfreich erweist sich in diesem Kontext die kritische Auseinandersetzung Cramers mit den traditionellen Gottesbeweisen. Diese Kritik ist in zweifacher Weise für seine Theorie des Absoluten interessant: 1.

Zum einen stellt Cramer – ganz im Sinne Kants – die argumen­ tativen Schwachpunkte der traditionellen Gottesbeweise heraus. Cramer belässt es aber nicht bei dieser kritischen Analyse, sondern versucht – über Kant hinausgehend –, durch Modifika­

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1. Einleitung

2.

tionen ihre Beweiskraft zu restituieren und zu stärken. Damit stellen die modifizierten Gottesbeweise jenseits Cramers eigener Begründungsstrategien jeweils zusätzliche Argumente für die Existenz des Absoluten dar. Zum anderen erwachsen aus der strukturellen Kritik an den traditionellen Gottesbeweisen aber auch zugleich Minimalbe­ dingungen für eine konstruktive Theorie des Absoluten, die ein­ geholt werden müssen, wenn diese den klassischen Einwänden gegen die Gottesbeweise entgehen will.

Dies leitet über zu Cramers eigenem Letztbegründungsprojekt, das nach ihm immer zwei Momente beinhalten muss: Zum einen muss es eine Begründung des Absoluten geben, es muss also gezeigt werden, dass das Absolute notwendig ist; zum anderen muss das Konzept des Absoluten inhaltlich weiter entfaltet werden. Gemäß dieser »Zweiteilung« eines Letztbegründungsprojekts werden in die­ sem Teil sowohl die Entwicklung der Begründungsstrategien als auch der inhaltlichen Charakterisierungen des Absoluten innerhalb von Cramers Werkgeschichte dargestellt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei das Projekt der sogenann­ ten »absoluten Reflexion«, in der die Bestimmungen des Absoluten aus seinem eigenen Prinzip ohne hypothetische Voraussetzung ent­ wickelt werden sollen. Zu verstehen ist dieses Projekt im Rahmen von Cramers eigener Entwicklung: Cramers Argumentationsgang bis hin zu seinem Werk »Das Absolute und das Kontingente« führt zu einem differenzierten Konzept der Absoluten, das in der Lage sein soll, sowohl die Struktur des Absolutseins als auch die Möglichkeit zur Schaffung des Kontingenten aus dem letztbegründenden Prinzip zu entwickeln. Für die inhaltliche Charakterisierung des Absoluten, gerade hinsichtlich der Möglichkeit der Schaffung des Kontingenten, war aber eine reflexionslogische Rückwendung zum Kontingenten selbst erforderlich. Für Cramer bedeutete dies, dass die Ergebnisse seiner Reflexion zwar folgerichtig hergeleitet worden sind, aber die inhalt­ liche Charakterisierung des Absoluten einen reflexionslogischen »Umweg« über das Kontingente voraussetzen muss. Dieser reflexi­ onslogische »Mangel«, die Momente des Absoluten nicht aus sich heraus zu begreifen, führte Cramer zu dem Versuch, eine Bestimmung des Absoluten zu entwickeln, die geltungstheoretisch absolut voraus­ setzungslos sein soll und die daher »die absolute Reflexion« genannt worden ist.

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1.1 Grundintentionen von Wolfgang Cramers Philosophie

Dabei ist absolute Voraussetzungslosigkeit nicht so zu verstehen, dass diese Reflexion ohne jegliche genetischen Voraussetzungen auskommt und sozusagen im »luftleeren Raum« stattfindet; viel­ mehr muss sie so entwickelt werden, dass sie keine besonderen gel­ tungstheoretischen Voraussetzungen macht, die einfach hypothetisch gesetzt sind. Dies lässt sich nach Cramer nur so erreichen, dass durch apagogische Argumentation eine notwendige Bestimmung gefunden wird, die von jeglichem Standpunkt immer schon vorausgesetzt wer­ den muss. Damit ist es das für die absolute Reflexion spezifische Charakte­ ristikum, dass sie nicht eine Reflexion »auf« das Absolute ist, in dem Sinne, dass das Absolute einfach vorausgesetzt und gewissermaßen von »außen« charakterisiert oder etwas als absolut gesetzt wird. Sie kann also prinzipiell nicht von etwas in irgendeiner Weise willkürlich Vorausgesetztem ausgehen, sondern muss aufzeigen, dass sich ihr Inhalt notwendig aus einer speziellen Form der apagogischen Argu­ mentation ergibt. Wird in den bisherigen Kapiteln sowohl der Verlauf der Cra­ merschen Argumentation kritisch rekonstruiert und legitimiert und werden die darin verwendeten Konzepte erläutert, soll in einem anschließenden Kapitel eine methodische Grundproblematik unter­ sucht werden, die sich bei jeder Theorie des Absoluten ergibt. Es lässt sich zeigen, dass es innerhalb der Theorie des Absoluten bei Cramer, wie bei vielen Philosophen, die an einer Theorie des Absoluten arbeiten, zu einer Spannung kommt, wenn es um den Status der inhaltlichen Charakterisierungen des Absoluten geht. Zwar wird in einer ersten Charakterisierung des Absoluten dieses als »Sichbestimmen« oder später als ein »Zeugen« qualifiziert, in dem das für das Absolute notwendige Selbstverhältnis formal beschrieben wird. In einem zweiten Schritt der weiteren inhaltlichen Charakterisierung dieser formalen Konzepte werden diese aber dann mit Konzepten aus der Subjektphilosophie in Verbindung gebracht. Dieses Vorgehen ist zwar begründet, es entsteht aber notwendiger­ weise eine Spannung zwischen der Bedeutung der Konzepte, die für den Bereich des kontingenten Seienden entwickelt worden sind, und der Übertragung dieser Konzepte auf das Absolute, die es methodisch aufzuklären gilt. Daraus erwächst die Aufgabe, die von Cramer nicht geleistete Analyse der Bedeutungsverschiebung von Konzepten der Subjektphi­ losophie auf methodisch nachvollziehbare Weise nachzuholen und

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1. Einleitung

somit den Status der erreichten Einsichten genauer zu bestimmen. Zu diesem Zweck wird das Konzept der Grenzbegriffe zur Rekonstruk­ tion der Cramerschen Charakterisierung des Absoluten herangezo­ gen, das es erlauben soll, die prinzipielle Tragfähigkeit seiner Ein­ sichten besser zu legitimieren und somit seine bisher noch nicht ausreichend beachtete Aktualität auch hinsichtlich einer Theorie des Absoluten deutlich zu machen.

1.2 Biographische Notizen zu Cramer und ein werkgeschichtlicher Überblick Da Wolfgang Cramer in der aktuellen philosophischen Diskussion nur wenigen Kennern bekannt ist, seien einige Notizen zu Cramers Biographie und Werkgeschichte der systematischen Rekonstruktion seines Ansatzes vorangestellt.3 Wolfgang Cramer (1901–1974) studierte nach einigen Semes­ tern Philosophie bei Richard Hönigswald (Breslau) und Karl Jaspers (Heidelberg) von 1924–1931 Mathematik und Physik in Breslau. Dort promovierte er 1931 über ein Problem der Zahlentheorie bei Hans Rademacher in Mathematik. 1935 habilitierte Cramer sich in Philosophie mit einer Arbeit, die den Titel trägt: »Das Problem der reinen Anschauung. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung der Prinzipien der Mathematik«. Zunächst war Cramer Privatdozent für Philosophie der exakten Wissenschaften in Breslau, nach dem Krieg wurde er dann zunächst außerplanmäßiger, dann außerordentlicher Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.4 Zu seinem 3 Vgl. für die folgenden biographischen Hinweise: R. Tobies, Biographisches Lexikon in Mathematik promovierter Personen an deutschen Universitäten und Hochschulen WS 1907/08 bis WS 1944/45, 83. 4 Da in der Literatur zur deutschen Universitätsphilosophie im Nationalsozialismus Wolfgang Cramer aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NSDAP als »Naziphilosoph« bezeichnet worden ist (vgl. G. Wolters, Der ›Führer‹ und seine Denker. Zur Philo­ sophie des ›Dritten Reichs‹, 246), scheint es hier angebracht, einige Bemerkungen anzuführen, die zur Aufklärung dieses Sachverhalts beitragen können. Cramer ist in der Tat sehr früh in die NSDAP eingetreten (13.11.1934), wollte aber nach den Aussagen seiner jüdischen Freunde bereits 1934 wieder austreten. Sein Freund Moritz Löwi, ein Schüler seines Lehrers Richard Hönigswald, riet Cramer von dem Austritt ab, damit dieser im Schutze der Mitgliedschaft verfolgten Juden helfen könne. Dies tat Cramer auch, nicht nur im Falle von Löwi selbst, dessen Flucht er organisierte und

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1.2 Biographische Notizen zu Cramer und ein werkgeschichtlicher Überblick

Schülerkreis zählten u.a. Dieter Henrich, Hans-Friedrich Fulda, Rei­ ner Wiehl und Konrad Cramer. Aufgrund seiner Promotion in Mathematik standen zu Beginn von Cramers Karriere philosophische Probleme der Mathematik im Vordergrund. Es folgte eine sehr intensive Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants (»Das Problem der reinen Anschauung« (1937); »Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung« (1954)). In seinem Werk »Die Monade« wird diese kritische Abset­ zung von Kant durch seinen ersten Entwurf der konkreten Subjektivi­ tät sehr deutlich. Darin enthalten ist schon die Skizze einer Theorie des Absoluten, die den Abschluss seiner Transzendentalontologie darstellt. 1957 erscheint die »Grundlegung einer Theorie des Geistes«, in der eine systematische (Weiter-)Entwicklung seiner Subjektphilo­ sophie geleistet wird, wobei in 99 Paragraphen die drei Grundkon­ zepte »Denken«, »Erleben« und »Geist« entfaltet werden. Die Skizze der Theorie des Absoluten, die in »Die Monade« vorgestellt wurde, wird 1959 in »Das Absolute und das Kontingente« weiterentwickelt. Besonders zwei Punkte stehen dabei im Fokus: 1.

Wie ist die Struktur des letztbegründenden Prinzips in seiner Selbstanwendung als Grund und Begründetes genau zu verste­ hen?

finanzierte; er unterstützte auch andere jüdische Bekannte und Freunde. Der Breslauer Orientalist Theo Bauer sah in Cramer aufgrund dieser Aktivitäten sogar das »Zentrum eines Widerstandkreises« (C. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im dritten Reich: Teil 1, 662). Die systemkritische Haltung Cramers spiegelt sich auch in der Auseinandersetzung mit seinem Kollegen August Faust wider, der ein engagierter Nationalsozialist war und gegen katholische Kollegen aufgrund ihrer Gesinnung vorgehen wollte und in manchen Fällen auch vorgegangen ist. Als Cramer Faust in dieser Angelegenheit die Gefolgschaft verweigerte, fing Faust an, gegen Cramer zu intrigieren und schrieb einen Brief an den Rektor der Universität Breslau, um die fehlende nationalsozialistische Gesinnung Cramers anzuprangern. Dies machte er zum einen daran fest, dass sich in Cramers Schriften nirgends auch nur ansatzweise nationalsozialistisches Gedankengut finde, und zum anderen daran, dass Cramer auch weiterhin in jüdischen Kreisen verkehre (vgl. N. Kapferer, Die Nazifizierung der Philosophie an der Universität Breslau 1933–45, 199–202). Cramers unnachgiebige Haltung wirkte sich negativ auf seine wissenschaftliche Laufbahn aus, sorgten doch die Interventionen von Faust dafür, dass man Cramer die Ernennung zum außerplanmäßigen Professor in Breslau verweigerte. Alle bisherigen Untersuchungen und Dokumente weisen also eindeutig darauf hin, dass Cramer kein »Naziphilosoph« gewesen ist, sondern im Gegenteil spätestens seit 1934 aktiv gegen das nationalsozialistische System gewirkt hat.

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1. Einleitung

2.

Wie kann die Behauptung, dass das letztbegründende Prinzip, die »Bestimmtheit-selbst«, freier Grund des Kontingenten sei, aus seiner Struktur begründet werden?

Im Vordergrund stehen hierbei also das Verhältnis von Absolutem und Kontingentem und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Konzept der inneren Struktur des Absoluten. Dabei werden die methodischen Voraussetzungen einer spekulativen Philosophie in Form der »philosophischen Deduktion« und die Zweistufigkeit einer Letztbegründung diskutiert: 1. Das Absolute muss begründet werden. 2. Das Absolute muss inhaltlich weiter charakterisiert wer­ den. Ausgangspunkt für die weitere inhaltliche Charakterisierung der inneren Struktur des Absoluten bildet bis Mitte der 1960er Jahre das kontingent Seiende in seiner Bestimmung als Kontingentes, dessen kontingente Möglichkeit zur Existenz Cramer zufolge schon im Absoluten angelegt sein muss. Damit wird das Kontingente zum Ausgangspunkt der inhaltlichen Charakterisierung des Absoluten, wodurch die Reflexion durch das Kontingente bedingt bleibt. Die­ ser reflexionslogische »Mangel« führt Cramer selbstkritisch in den 1960er Jahren zu dem Projekt der »absoluten Reflexion«, in der die Struktur des Absoluten aus sich und nicht mit Bezug auf das Kontingente begriffen werden soll. In der ursprünglichen Konzeption war die absolute Reflexion als eine Werkreihe von fünf Bänden angelegt: Der erste Band dieser Reihe erschien 1966 mit dem Titel »Spinozas Philosophie des Absoluten«. Er bietet eine kritische Auseinandersetzung mit Spinozas Ansatz, durch die gleichzeitig wichtige Grundeinsichten für seine eigene absolute Reflexion gewonnen werden. Vier weitere Bände waren dem Vorwort von »Spinozas Philo­ sophie des Absoluten« zufolge geplant: »Gottesbeweise und ihre Kritik«, »Das transzendentale Subjekt«, »Die absolute Reflexion in der Philosophie des Deutschen Idealismus« und »Die absolute Refle­ xion«. 1967 erschien der Band »Gottesbeweise und ihre Kritik«, in der nicht nur eine kritische Diskussion der Gottesbeweise enthalten ist. In ihm wird auch auf wenigen Seiten schon eine Skizze des wesentlichen Gedankenganges der absoluten Reflexion geliefert, die Cramer als das Zentrum des Buches bezeichnet. Die weiteren geplan­ ten Bände erschienen nicht mehr zu Cramers Lebzeiten. In seinem 2012 erschienenen Nachlass sind Texte enthalten, die ursprünglich für Band 3 und Band 5 gedacht waren. Während also eine intensive Auseinandersetzung mit dem Ansatz der absoluten Reflexion in der

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1.2 Biographische Notizen zu Cramer und ein werkgeschichtlicher Überblick

Philosophie des Deutschen Idealismus ausblieb – in dem Nachlass­ band finden sich ca. 50 Seiten zu Kant und Fichte –, ist der größte Teil des Textes im Nachlass als weitere Entfaltung der Subjektphilosophie und der an diese sich anschließenden systematischen Durchführung der absoluten Reflexion zu verstehen.

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalphilosophischen Perspektive in der Bewusstseinsdebatte

Der enorme Erfolg der Naturwissenschaften seit dem 19. und vor allem im 20. Jahrhundert führte dazu, dass man in der Beschreibung der quantifizierbaren Aspekte der Natur durch immer detaillierter und präziser werdende Modelle der Naturerkenntnis einen unglaub­ lichen Fortschritt erzielte. Zudem wurden diese Erkenntnisse auch erfolgreich technisch umgesetzt. Beide Aspekte führten zu der vor allem in öffentlichen Diskussionen, aber auch in weiten Teilen der philosophischen Fachdebatten vorherrschenden Meinung, dass alles Wesentliche in der Welt naturwissenschaftlich erfasst werden könne. Umgekehrt wird dasjenige, was sich einer naturwissenschaftlichen Analyse entzieht, als etwas Unwesentliches oder als bloße Erschei­ nung dargestellt, das von den Strukturen, die die Naturwissenschaften untersuchen, nicht nur abhängt, sondern vollständig darauf zurückge­ führt werden könne. Diese Haltung hat besonders in der Diskussion um das Bewusst­ sein eine große Bedeutung, denn die Deutung des Status des Bewusst­ seins stellt für das Selbstverständnis des Menschen und seine »Stel­ lung« in der Welt einen entscheidenden Dreh- und Angelpunkt dar. Wie die gegenwärtige Debatte in Wissenschaft und Öffentlichkeit belegt, wird die Diskussion von reduktionistischen Ansätzen geprägt, die davon ausgehen, dass das Bewusstsein nichts anderes als das Feuern der Neuronen sei. Anders ausgedrückt: Die materiellen Struk­ turen erzeugten das Bewusstsein, das somit nur ein Nebenprodukt bestimmter materieller Konstellationen sei, das zudem auch keine eigene Ursächlichkeit habe, da alle kausal relevanten Faktoren in den materiellen Bestandteilen zu suchen seien. Aber diese Reduktion des Bewusstseins auf materielle Struktu­ ren ist kein direktes Resultat der Neurowissenschaften, sondern ist selbst eine über die wissenschaftlichen Ergebnisse hinausgehende

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

Interpretation, die eine Vielzahl von Zusatzannahmen voraussetzt, die in der Debatte meist nicht explizit diskutiert werden. Diese unkritische Übernahme führte dazu, dass der Physikalis­ mus, also die Grundüberzeugung, dass alle Phänomene und Qualitä­ ten der Wirklichkeit sich prinzipiell physikalisch erklären ließen, zur dominanten Position in der Bewusstseinsphilosophie wurde. Moti­ viert wurde diese Verbreitung des Physikalismus durch die Überzeu­ gung, dass man nur so der naturwissenschaftlichen Forschung gerecht werden könne. Folglich konzentrierte sich die Debatte auf die Frage, ob sich die Qualität des phänomenalen Erlebens auf physikalische Strukturen reduzieren lasse. Zu sehen ist diese reduktionistische Orientierung auch an dem Fokus der Geist-Gehirn-Debatte im Kontext der analytischen Phi­ losophie. Dort geht es in erster Linie um die Frage, ob mentale Eigenschaften wie Qualia von physischen bzw. physikalischen Eigen­ schaften unterschieden sein können. Auch wenn diese Unterschei­ dung bejaht wird, werden phänomenale Qualitäten in einer als Eigen­ schaftsdualismus klassifizierten Position oft als nicht-reduzierbare Eigenschaften von physikalischen Strukturen aufgefasst, wobei diese als alles bestimmende Größe aufgefasst werden. Diesem Ansatz gemäß werden die phänomenalen Qualitäten so konfiguriert, dass dann ein phänomenales Erleben entsteht.5 Unabhängig von der Problematik der Reduzierbarkeit, die in einem reduktionistischen Ansatz entsteht, wird zudem übersehen, dass ein konstitutives Merkmal des phänomenalen Erlebens ignoriert wird: Die Qualitäten des phänomenalen Erlebens existieren nicht ein­ fach wie physikalische Eigenschaften, sondern haben immer zugleich die Eigenschaft, in einer bestimmten Weise für ein konkretes erleben­ des Lebewesen zu sein, das diese Qualitäten erlebt. Phänomenale Qualitäten kommen deshalb nicht einfach in der Natur – außerhalb eines Bewusstseins – vor und werden dann zu größeren Einheiten gruppiert. Diese Qualitäten kommen immer nur im Erleben eines konkreten Lebewesens vor und sind dort Qualitäten für dieses Lebe­ wesen. Diese mit phänomenalen Qualitäten notwendig gegebene und damit unhintergehbare Subjektstruktur, die das »Für-das-Lebe­ wesen-Sein« bezeichnet, wird in der aktuellen Bewusstseinsdebatte so gut wie gar nicht thematisiert. Vgl. z. B. für einen Ansatz, der in diese Richtung geht: D. Chalmers, The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory.

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

Damit wird eine wesentliche Struktur des Bewusstseins einfach ausgeblendet, was in reduktionistischer Perspektive zu dem Glau­ ben führt, dass das »Rätsel« des Bewusstseins prinzipiell gelöst sei. Bestand dieses Rätsel darin, dass man sich fragte, wie die phänome­ nalen Qualitäten in die Natur eingebettet seien, wie sich jene also zu physikalischen Strukturen verhielten, so wähnte man im reduktionis­ tischen Paradigma die Lösung in der Annahme gegeben, dass die phä­ nomenalen Qualitäten einfach mit den physikalischen Eigenschaften als identisch oder als zwar verschieden, aber vollständig von diesen abhängig aufzufassen seien. Dass mit der fehlenden Thematisierung der Struktur des Für-es-Seins eine wesentliche Struktur von Subjekti­ vität ausgeblendet wird – ganz zu schweigen von geistigen Qualitäten wie Denken oder Urteilen, die sich noch viel weniger auf physikalische Strukturen reduzieren lassen –, wird in der gegenwärtigen Debatte kaum zur Kenntnis genommen. Dies mag umso mehr verwundern, wenn man daran erinnert, dass diese Qualität des Für-es-Seins in der analytischen Debatte schon relativ früh von Thomas Nagel formuliert, aber wohl wegen der Pro­ bleme, diese Qualität in einen physikalistischen Ansatz zu integrie­ ren, in seiner systematischen Reichweite nicht weiter bedacht worden ist. Nagel selbst hatte schon 1965 in seinem Aufsatz »Physicalism«6 betont, dass, obwohl diese reduktionistische Position einen großen Erklärungswert habe, die Qualität der Subjektivität eine Herausforde­ rung für physikalistische Strategien sei, da die beschreibende Person inklusive ihrer Erfahrung in einer solchen Weltbeschreibung nicht vorkommt. In seinem berühmten Aufsatz »What is it Like to Be a Bat? « hat Nagel dann diese Einsicht entfaltet, indem er dieses Für-es-Sein als Grundcharakteristikum bewusster Zustände auffasste: »Die Tatsache, dass ein Organismus überhaupt bewusste Erfahrung hat, heißt im Wesentlichen, dass es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein. Es mag weitere Implikationen bezüglich der Form der Erfah­ rung geben; es mag sogar (obwohl ich es bezweifle) Implikationen bezüglich des Verhaltens des Organismus geben. Grundsätzlich aber hat ein Organismus bewusste mentale Zustände dann und nur dann, wenn es irgendwie ist, dieser Organismus zu sein – wenn es irgendwie für diesen Organismus ist«7

6 7

Vgl. T. Nagel, »Physicalism«. T. Nagel, »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?«, 63.

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

Primär ging es bei Nagel und in der sich an seinen Ansatz anschließen­ den Diskussion bei diesem Für-es-Sein mehr um die unhintergehbare Perspektivität von Subjektivität und deren Nichtfassbarkeit in phy­ sikalistischen Ansätzen, da diese gerade von subjektiven Gehalten absehen wollen. Die Betonung lag also mehr auf dem Charakteris­ tikum und dem Status der Privatheit von Beschreibungen in der Ersten-Person-Perspektive und deren Nicht-Überführbarkeit in eine Dritte-Person-Perspektive. Allerdings klingt hier auch schon an, dass diese Erfahrungsqualitäten nicht von der Struktur sind, die man physikalischen Eigenschaften zuspricht, welche ja einfach »an Din­ gen« vorkommen, sondern dass phänomenale Qualitäten nur als Qualitäten eines erlebenden Lebewesens auftreten, das als Subjekt fähig ist, Erfahrungen zu machen. Denn wäre das Subjekt-Sein nichts als die Referenz auf eine physikalistisch beschreibbare Konstellation physischer Strukturen (in Nagels Terminologie der »Organismus« als reines Aggregat von physikalischen Teilchen), dann bestünde ja die ganze Problematik der Überführbarkeit von Erste- und DrittePerson-Perspektive überhaupt nicht, denn die Referenz auf einen physikalistisch aufgefassten Organismus wäre ja vollständig aus einer Dritte-Person-Perspektive erklärbar. Diese in physikalistischer Beschreibung nicht einholbare Sub­ jektstruktur des erlebenden Lebewesens muss gerade als Grund dafür aufgefasst werden, dass die Erste-Person-Perspektive nicht in eine Dritte-Person-Perspektive überführbar ist. Eine physikalistische Perspektive unterschlägt diese Art von Subjektstruktur, und es bleibt ihr auch keine andere Möglichkeit, denn in der physikalistischen Perspektive, in der alle Wirklichkeit letztlich als reine Konstellation physikalischer Entitäten aufgefasst wird, deren Grundbestimmung ausschließlich in ihrer kausalen Disposition besteht, kann diese rückbezügliche Struktur von Subjektivität nicht gefasst werden. In ihr muss aufgrund der bereits gemachten Voraussetzung, dass die gesamte Wirklichkeit letztlich auf physikalische Strukturen zurück­ führbar ist, alles als materielle Konstellation erscheinen. Aufgrund dieser vorausgesetzten Beschränkung der Beschrei­ bungsebene scheint es dann so, als könne sich der Physikalismus des eigentlichen Rätsels des Bewusstseins entledigen. Wie sich später aber zeigen wird, setzt gerade die Wissenschaftspraxis als normative Handlungspraxis ein Subjektkonzept voraus, das sich innerhalb eines reduktionistischen Rahmens nicht mehr fassen lässt. Es wird zu zei­ gen sein, dass die Eigenart und Struktur der hierbei vorausgesetzten

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

Subjektivität beispielsweise in Form des phänomenalen Erlebens als Struktur des »Für-das-Lebewesen-Seins« und ihre Einbettung in physische Strukturen einer transzendentalphilosophischen Analyse bedarf, wobei auch phänomenologische Aspekte berücksichtigt wer­ den müssen. Für den Kontext einer Subjektivitätstheorie bedeutet dies: Gibt es phänomenale Qualitäten und geistige Vermögen, dann ist ein Subjektkonzept unumgänglich, das einerseits diese Eigenarten des Subjekts phänomenadäquat begreift und andererseits das Ver­ hältnis dieser Subjektqualitäten zum Organismus so expliziert, dass auch die Relevanz der naturwissenschaftlichen Perspektive adäquat berücksichtigt wird. Um die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer transzenden­ talphilosophischen Subjekttheorie angesichts der Herausforderung des reduktionistischen Paradigmas zu rechtfertigen, sollen im Fol­ genden einige wissenschaftsphilosophische Überlegungen vorausge­ schickt werden. Diese werden zunächst zeigen, dass eine Reduktion von Subjektivität auf materielle Strukturen durch empirische For­ schung nicht gerechtfertigt werden kann. Vielmehr kann gezeigt werden, dass die Wissenschaftspraxis der empirischen Wissenschaften selbst ein Subjektkonzept voraus­ setzt, das mit reduktionistischen Annahmen inkompatibel ist. Die wissenschaftsphilosophische Analyse führt also letztlich zu der Auf­ gabe einer transzendentalphilosophischen Subjektphilosophie. Denn gerade die Wissenschaftspraxis setzt schon bestimmte Leistungen des Bewusstseins voraus, die es aufzuklären gilt. Beispielsweise wird in der Wissenschaftspraxis schon die Verfasstheit des forschenden Subjekts so angesetzt, dass das geistige Vermögen dieses Subjekts Bestimmungen erfassen kann, die der Wirklichkeit auch unabhängig von seiner Subjektivität zukommen sollen. Nichtsdestoweniger ist es subjekttheoretisch eine Leistung der jeweiligen Subjektivität, diese Bestimmungen zu erfassen. Wenn also Subjektivität ein eigener Modus von Wirklichkeit ist, dann führt dies unausweichlich zu der Frage, wie die Subjektivitätsleistungen gleichzeitig auch den Anspruch von Subjektunabhängigkeit sollen gewährleisten können. Dieser hier schon vorausgesetzte Anspruch des natürlichen Bewusst­ seins, mit seinen Denkbestimmungen schon Bestimmungen von Dingen an sich zu erfassen, muss aber in einer philosophischen Ana­ lyse erst gerechtfertigt werden. Die Rechtfertigung dieser Transzen­ denzleistung des Bewusstseins, das Cramer auch »transzendentale Verfasstheit« von Subjektivität nennt, ist Aufgabe der Transzenden­

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

talphilosophie.8 Es wird zu zeigen sein, inwiefern Cramers Ansatz den hier erarbeiteten Bedingungen und Aufgaben gerecht zu werden ver­ mag.

2.1 Bewusstsein im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie 2.1.1 Zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Philosophie Auf den ersten Blick scheint es, als könnten reduktionistische Inter­ pretationen auf empirische Belege verweisen, die mit experimenteller Kraft für ihre Erklärungsansprüche zu sprechen scheinen. Durch den Erfolg der Wissenschaften erwächst dann meist eine verallgemei­ nernde Auffassung, die sich in Aussagen wie »Wissenschaftliche Forschung impliziert Determinismus«, »Physik impliziert das Prinzip der kausalen Geschlossenheit der Welt«, »Neurowissenschaften ent­ larven den freien Willen als Illusion«, »Die Physik beweist, dass alle Wirklichkeit aus Teilchen aufgebaut ist« niederschlägt. Was vermag Philosophie angesichts dieser Aussagen, die sich ja scheinbar aus den empirischen Wissenschaften ableiten lassen, noch zur Diskussion beitragen? Hier sind vielleicht einige Bemerkungen zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Philosophie hilfreich. Bei genauer Analyse zeigt sich, dass Philosophie und Natur­ wissenschaften nicht dieselben Fragen stellen. Da den Aussagen naturwissenschaftlicher Forschung bestimmte Methoden zugrunde liegen, durch die dann messbare Eigenschaften zum Gegenstand in dieser Perspektive werden, übersteigen Fragen, die nicht in diesem Sinne durch Experimente entschieden werden können, den Problem­ horizont der Naturwissenschaften. So thematisieren Fragen nach Kri­ terien der Wahrheit, der Logik oder Rationalität bereits Aspekte der Wirklichkeit, welche die empirische Forschung voraussetzen muss. Dies macht deutlich, dass Philosophie und Naturwissenschaften nicht in einem Konkurrenzverhältnis stehen, sondern jeweils prinzi­ piell andere Fragen stellen, auch wenn dies durch einen methodisch unreflektierten Sprachgebrauch häufig verschleiert wird und der Ein­ druck entsteht, als handelten sie von den gleichen Fragestellungen. Vgl. K. Cramer, »Überlegungen zu Hans-Dieter Kleins Auseinandersetzung mit Wolfgang Cramers ›Grundlegung einer Theorie des Geistes‹“, 222ff.

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2.1 Bewusstsein im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie

Insofern enthalten philosophische Fragen Verallgemeinerungen, die über die jeweilige Forschungspraxis weit hinausgehen. Dies ist deshalb relevant, weil dadurch für die über die empirischen Ergeb­ nisse hinausgehenden Interpretationen wichtige Unterschiede, wie beispielsweise der vom Status des Prinzips der kausalen Geschlos­ senheit als metaphysisches oder als methodologisches Prinzip, nicht beachtet werden. Dies gilt schon für die scheinbar so evidente Gleichsetzung von Bewusstsein und Gehirnaktivität, die sich weder einfach aus der empi­ rischen Forschung ergibt noch eine unproblematische philosophische Deutung ist. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil es rein logisch mehr Möglichkeiten gibt, das Verhältnis von Bewusstsein und Gehirn bzw. Materie zu bestimmen, als die Alternative, die von einigen Hirnforschern, aber auch von einigen Philosophen immer wieder vorgetragen wird: Entweder müsse man Geist und Gehirn als zwei völlig verschiedene Substanzen denken, die unabhängig voneinander seien und nur auf geheimnisvolle Art und Weise wechselwirkten, oder man müsse die Identität von Geist und Gehirn annehmen, die dann so gedacht wird, dass die geistigen Aspekte vollständig auf die materiellen Strukturen reduziert werden können. Das Insistieren auf der Alternative von physikalistischem Reduktionismus oder Substanzdualismus ist eine verkürzte Darstel­ lung der möglichen Deutungen, die logisch möglich und die mit den empirischen Ergebnissen kompatibel sind. Auch innerhalb des Natu­ ralismus gibt es bedeutend mehr Formen, in denen Bewusstsein und Geist sehr wohl als etwas Natürliches aufgefasst, aber nicht auf die physikalistische Naturauffassung reduziert werden.9 Das bedeutet, dass die Alternative von Reduktionismus und Substanzdualismus schon logisch unterbestimmt ist. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die für das Menschenbild relevanten Aussagen, die sich auf empirische Belege berufen, implizit notwendigerweise philosophische Konzepte wie Kausalität, Naturbe­ griff, Bewusstsein usw. enthalten. Will man einer Scheindebatte ent­ gehen, die davon lebt, dass die Geltung und Bedeutung der verwende­ ten Begriffe und Aussagen nicht mehr methodisch nachzuvollziehen sind, sondern auf Ad-hoc-Annahmen und Intuitionen der Diskussi­ onsteilnehmer beruhen, müssen die verschiedenen Sprachebenen und Vgl. hierzu z. B. G. Rosenbergs Konzept des »liberal naturalism« in: G. Rosenberg, A Place for Consciousness.

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

mit ihnen die dazugehörigen Begründungsinstanzen und Argumente methodisch voneinander abgegrenzt werden. So erhält man zunächst einen Überblick darüber, auf welcher Ebene sich die Aussagen der empirischen Wissenschaften bewegen und was diese für eine umfassendere Bewusstseinstheorie bedeuten. Dies ist die notwendige Grundlage, um dann weitergehende Inter­ pretationen zu erörtern, die ohne diese grundlegenden Einsichten sozusagen in der Luft hingen. Daher ist es das Ziel dieses Kapitels, angesichts der reduktionistischen Ansätze die Möglichkeit und die Notwendigkeit eines transzendentalphilosophischen Ansatzes aufzu­ weisen. Die wissenschaftsphilosophische Analyse bietet somit den Ausgangspunkt, denn sie zeigt, von welcher prinzipiellen Reichweite die naturwissenschaftliche Perspektive ist, und sie ist gleichzeitig durch den Aufweis der Normativität der Wissenschaftspraxis ein »Scharnier« für eine nicht-reduktionistische Bewusstseinstheorie: 1.

2.

Die wissenschaftsphilosophischen Überlegungen sollen in aller Kürze zeigen, dass die Reduktion von Bewusstsein auf materielle Strukturen weder aus einer erfolgreich arbeitenden Neurowis­ senschaft noch aus der Physik folgt. Es handelt sich bei der natur­ wissenschaftlichen Perspektive um eine abstrahierende und idea­ lisierende Perspektive, die unter einer bestimmten Fragestellung mit Hilfe von bestimmten Methoden bestimmte Aspekte thema­ tisiert. Anhand der Wissenschaftspraxis wird gezeigt, dass auch neu­ rowissenschaftliche Forschung im Speziellen und naturwissen­ schaftliche Forschung im Allgemeinen eine Subjektkonzeption voraussetzen, die nicht reduktionistisch deutbar ist.

Damit bietet die wissenschaftsphilosophische Analyse der Wissen­ schaftspraxis also die Möglichkeit, zum einen die Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Perspektive zu kritisieren und zum ande­ ren die unhintergehbaren Subjektbedingungen der Wissenschaftspra­ xis zu thematisieren und dann zu einer Subjekttheorie auszubauen. Durch diese Analyse kann zudem die prinzipielle Reichweite der neurowissenschaftlichen Forschung angemessen verortet werden: Es zeigt sich, dass sich die Neurowissenschaften mit Mechanismen beschäftigen, die für Bewusstsein relevant sind, die aber das phäno­ menale Bewusstsein nicht im strikten Sinn erklären. Vielmehr wird sich zeigen, dass die behauptete Identität von Geist und Gehirn auf einer Verabsolutierung notwendiger physischer Bedingungen beruht

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2.1 Bewusstsein im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie

und das Bewusstsein folglich nicht in dem oben erwähnten Sinn reduzierbar ist, was eine erneute Thematisierung des Bewusstseins und seines Verhältnisses zum Organismus nach sich zieht.

2.1.2 Wissenschaftsphilosophische Überlegungen zur Neurowissenschaft Die Klärung wissenschaftsphilosophischer Fragestellungen beant­ wortet selbst keine empirischen Fragen, ist aber nichtsdestoweniger notwendig, wenn es darum geht, die Geltungsansprüche der empiri­ schen Wissenschaften kritisch zu würdigen. Denn nur durch eine wissenschaftsphilosophische Erörterung lässt sich klären, wie weit Fragen des Bewusstseins empirisch zu beantworten sind, da dies nicht durch ein empirisches Verfahren begründet werden kann. Nur so lässt sich der oben angeführten Scheindebatte entgehen. Die nachfolgenden wissenschaftsphilosophischen Bemerkungen führen zu der Notwendigkeit, verschiedene Ebenen von Behauptungen und deren Rechtfertigung zu unterscheiden und ihre Triftigkeit in der Hirnforschungsdebatte angemessen zu bewerten. Dabei sind vor allem folgende Punkte von besonderem Interesse: 1.

2.

3.

Die Unterscheidung verschiedener Sprachebenen (Objektspra­ che, Parasprache und Metasprache), die allesamt in den Debatten um die Bedeutung der Hirnforschung undifferenziert verwendet werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass auch nicht-objekt­ sprachliche Interpretationen der Ergebnisse direkte Schlussfol­ gerungen der empirischen Forschung seien. Daran schließt sich unmittelbar eine Diskussion über die kor­ rekte Beschreibung der Explananda »Bewusstsein« und »freier Wille« als Gegenstände der Neurowissenschaften an. Die Frage nach den Explananda macht es notwendig, auch das Verhältnis von Lebenswelt und wissenschaftlicher Praxis zu thematisieren. Die Anwendung psychisch-geistiger Konzepte auf das Gehirn und die Bedeutungsverschiebung in der neurowissenschaftli­ chen Forschung.

2.1.2.1 Die Unterscheidung von Objekt-, Para- und Metasprache Aus dem oben Gesagten folgt, dass eine wissenschaftsphilosophische Analyse Kriterien bestimmen sollte, die es ermöglichen zu entschei­

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den, ob z. B. die Behauptung eines Naturwissenschaftlers ein Ergebnis seiner empirischen Forschung ist, eine programmatische Behauptung oder eine (philosophische) Interpretation bestimmter Experimente, die über die fachwissenschaftliche Erkenntnis hinausgeht. Hilfreich bei der Klärung der verschiedenen Geltungsansprüche ist hier die Unterscheidung von Objekt-, Para- und Metasprache. Die Objektsprache ist diejenige Sprachebene, in der die unter­ suchten Gegenstände mit etablierten Methoden und in Fachtermi­ nologie beschrieben werden. Für die Hirnforschung sind das im Wesentlichen die Objektsprachen der Physik, Chemie, Physiologie und Neuroanatomie.10 Auf der metasprachlichen Ebene werden all diejenigen Sachver­ halte thematisiert, die auf einer Metaebene von der jeweiligen Objekt­ sprache handeln. Dies betrifft Überlegungen über den Status von Sätzen, Hypothesen und Gesetzen ebenso wie die nichtsprachlichen Tätigkeiten wie Beobachten, Experimentieren usw. Dies ist die sprach­ liche Ebene, auf der auch die wissenschaftsphilosophischen Reflexio­ nen ihren Platz haben. Hier kann es beispielsweise um Fragen gehen, was eigentlich das Experiment zu einem Experiment macht, was mit einem Experiment erfasst werden kann usw. Die metasprachliche Ebene wird in der gegenwärtigen Hirnforschungsdebatte weitestge­ hend ausgeblendet, obwohl durch eine methodische Reflexion viele Missverständnisse behoben und eine überzogene Erwartungshaltung an die Neurowissenschaften vermieden werden könnten. Auf der Metaebene lässt sich auch die sogenannte Parasprache lokalisieren. Sie ist von der Objektsprache unterschieden, hat aber eine inhaltliche Verbindung zu dieser, insofern mit ihr Inhalte der Objektsprache in einen erweiterten Kontext gestellt werden. Sie wird beispielsweise benutzt, um die fachwissenschaftlichen Ergebnisse zu popularisieren, Selbstverständnisse und Programme der jeweiligen Wissenschaften zu artikulieren.11 Die Artikulation von Forschungs­ programmen ist nicht nur ein sinnvolles Anliegen einer jeden Fach­ wissenschaft, sie ist darüber hinaus auch prinzipiell der Legitima­ tion fähig: Dazu muss aufgezeigt werden, dass die beschriebenen Explananda der Objektsprache entstammen und durch sie prinzipiell hinreichend bestimmbar sind. Ferner muss geklärt werden, welche Methoden hier zum Einsatz kommen sollen. Werden diese Bedingun­ 10 11

Vgl. P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 87f. Vgl. P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 90f.

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gen nicht erfüllt, so kann nicht von einem sinnvollen Programm gesprochen werden. Ein Programm kann nur sinnvoll sein, wenn tatsächliche Gegenstände der jeweiligen Fachwissenschaft mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln untersucht werden können. So wäre es z. B. kein sinnvolles Programm der Physik, das Brutver­ halten von Zugvögeln untersuchen zu wollen, da das Explanandum »Brutverhalten« kein physikalischer Terminus ist und die Physik nicht über experimentelle Verfahren verfügt, das Brutverhalten (nicht zu verwechseln mit physikalischen Aspekten des Brutverhaltens) von Vögeln zu untersuchen.

2.1.2.2 Neue Explananda in der Parasprache der Neurowissenschaft Nun wird die Debatte um den Status des Bewusstseins von Seiten der Neurowissenschaft in der Parasprache geführt, denn in der Frage nach der Relevanz der Neurowissenschaften für Gesellschaft und Men­ schenbild werden popularisierte Formen der neurowissenschaftlichen Ergebnisse benutzt, programmatische Absichtserklärungen wie in dem berühmten »Manifest« von elf führenden Neurowissenschaftlern formuliert sowie Selbstverständnisse von Hirnforschern artikuliert.12 Die Benutzung von Parasprache wird dann problematisch, wenn programmatisch die Ziele der Forschung nicht mehr methodisch begründet werden und es zu einer Bedeutungsverschiebung von Begriffen und damit zur Generierung vermeintlicher Explananda kommt. Durch die Vermischung von verschiedenen Sprachebenen in der Parasprache und einen laxen Wortgebrauch scheint es nämlich, als wären die neuen Explananda ebenfalls der Objektsprache entnommen und könnten mit den gängigen neurowissenschaftlichen Methoden erklärt werden. So tauchen beispielsweise neue Explananda wie »Bewusstsein«, »Willensfreiheit« usw. in der Debatte auf, die nicht in der Objektspra­ che vorkommen und daher mit den auf der objektsprachlichen Ebene benutzten experimentellen Mitteln nicht erforschbar sind, denn dazu müssten die Explananda begrifflich bestimmt und anschließend expe­ rimentell mit den vorhandenen Mitteln der Neurowissenschaften zugänglich gemacht werden können. Das bedeutet für alle sinnvollen Explananda der Neurowissenschaften, dass diese – insofern sie ent­ 12 Vgl. »Das Manifest« in: Geist und Gehirn, Das Magazin für Psychologie und Hirnfoschung, 6/2004.

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weder ein sinnvolles Programm mit diesen Explananda anstreben oder sich auf die Relevanz von bereits durchgeführten Experimenten berufen – die Explananda bestimmen müssen, und zwar so, dass sie als Leistungen des Gehirns – denn nur das ist der Gegenstand der Objektsprache – begrifflich und experimentell bestimmbar sind. Betrachtet man aber die in den Neurowissenschaften verwende­ ten Objektsprachen, also im Wesentlichen die Objektsprachen der Physik und Chemie, dann wird deutlich, dass diese Fachsprachen aufgrund der jeweiligen Fragestellung und der dazu verwendeten Methoden dazu geeignet sind, kausale Dispositionen von materiellen Teilchen zu beschreiben. Aus methodischen Gründen können also andere Explananda wie »phänomenales Erleben«, »freier Wille« usw. gar nicht mit den jeweiligen Objektsprachen beschrieben werden. Schon aus diesem Grund können Naturwissenschaften nicht die eigentlichen Qualitäten dieser Phänomene fassen, sondern nur Aus­ sagen treffen über korrelativ auftretende neuronale Strukturen. Dies kann auch anhand des sogenannten mereologischen Fehl­ schlusses gezeigt werden. Der Neurophysiologe Max Bennett und der Philosoph Peter Hacker haben diese Übertragung von psychologi­ schen Prädikaten auf das Gehirn den »mereologischen Fehlschluss« genannt, weil ihnen zufolge Zuschreibungen, die in einem Phäno­ menbereich gewonnen werden, der auf ein Lebewesen als ganzes bzw. auf eine ganze Person bezogen ist, nun nicht legitimerweise auf einen Teil der jeweiligen Ganzheit übertragen werden.13 Unbestritten ist, dass es prinzipiell eine ganze Reihe von Prädi­ katen geben kann, die sowohl einem Untersuchungsgegenstand als ganzen als auch einem seiner Teile zukommt. So kann ein Körper schwer sein, und auch einem Teil von ihm kommt diese Eigenschaft zu. In diesem Fall ist die Eigenschaft auf beiden Ebenen (Teil als auch Ganzes) wohl definiert und es gibt Methoden und Kriterien, dieses Prädikat beiden Instanzen zuzusprechen. Es gibt aber Qualitäten, deren Beschreibung in einem gewonnenen Kontext an bestimmten Entitäten gewonnen werden, die sich nicht sinnvoll auf andere Kon­ texte übertragen lassen: Ein Mensch ist wach oder schläft, aber man kann dasselbe nicht von seinem Herz sagen, weil die Bedingungen in diesem Kontext eine Zuschreibung nicht zulassen. Dasselbe gilt für personale bzw. geistige Fähigkeiten wie Schlussfolgern, Abwägen 13 Vgl. M. R, Bennett / P. M. S. Hacker, Die philosophischen Grundlagen der Neuro­ wissenschaften.

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oder moralisches Handeln. Das alles sind Fähigkeiten, die wir Per­ sonen zuschreiben, die aber nicht von Subsystemen übernommen werden können, die rein kausal bestimmt sind, weil durch sie die normativen Aspekte dieser geistigen Handlungen nicht geleistet werden können.14 Ebenso ist die neurowissenschaftliche Erklärung des Bewusst­ seins in der Form, dass das Bewusstsein nichts anderes sei als das Feuern der Neuronen, ein logischer Fehlschluss. Aus der empirischen Erkenntnis, dass keine geistige oder bewusste Aktivität ohne Gehirn­ leistung stattfinden kann, wird im Umkehrschluss gefolgert, dass alles allein aus Gehirnaktivitäten resultiert. Dabei wäre es metho­ disch angemessen, diese weiterführende und für die eigentliche neurowissenschaftliche Forschung nicht relevante Zusatzannahme einzuklammern und von den neuronalen Korrelaten zu sprechen, die in der neurowissenschaftlichen Perspektive thematisiert und mit bewusstem Erleben in eine Korrelation gesetzt werden, was zunächst nichts anderes heißt, als dass bei gewissen bewussten Aktivitäten bestimmte Hirnareale beteiligt sind. Dies ist zumindest das, was sich experimentell feststellen lässt. Jede weitere Deutung, wie diese beiden Ebenen in Beziehung stehen, ob also die materielle Ebene die bewusste Ebene vollständig determiniert, kann gar nicht Gegenstand der empirischen Forschung sein, sondern ist eine zusätzliche nichtem­ pirische Interpretation, für die es nichtempirische Gründe geben mag. Aus einer Korrelation folgt jedenfalls logisch nicht Identität oder eine bestimmte Richtung der Kausalität. Diese Erörterungen sind – neurowissenschaftlich gesehen – auf einer metasprachlichen Ebene angesiedelt.

2.1.2.3 Die assoziative Verallgemeinerung der neuronalen Korrelate Auf die Frage, warum es zu dieser gerade in der öffentlichen Diskus­ sion so folgenreiche Verschiebung auf der Erklärungsebene kommt, kann man neben Gründen, die eher auf einer strategischen und sozialen als auf einer wissenschaftlichen Ebene liegen, auch einen Grund anführen, der seinen Ursprung in der Fokussierung der wissen­ schaftlichen Methode der Neurowissenschaften auf die neuronalen Strukturen hat. 14 Vgl. beispielsweise W.-J. Cramm, »Zur kategorialen Differenz von Vernunft und Natur«.

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Da eine Korrelation von Gehirnprozessen und Bewusstsein her­ gestellt werden soll, wenn man Gehirnaktivitäten untersucht, sind die phänomenalen Aspekte des Bewusstseins immer involviert, was dazu führen kann, dass man vergisst, dass es sich hierbei zunächst nur um eine Korrelation handelt. Und da (1) die Objektsprache auf das physische Korrelat abzielt, liegt auch das primäre Augenmerk des Hirnforschers auf der physischen Seite, was dazu führt, dass man sie »automatisch« für elementarer und grundlegender hält. Hinzu kommt (2), dass die Aspekte der phänomenalen Seite des Bewusstseins, die in die Korrelation einbezogen sind, immer in einer methodischen Perspektive einbezogen sind, so dass es sich hier um die eine bestimmte Eigenschaften herausgreifende Sicht auf Bewusstsein handelt. Diese Perspektivität wird in der Parasprache gerne unterschlagen, so dass der Anschluss an die lebensweltlichen Debatten samt ihren geläufigen Begriffen unproblematisch scheint, denn schließlich sieht es so aus, als redeten beide Seiten – die Nichtfachleute, für die in der Parasprache die neurowissenschaftlichen Ergebnisse popularisiert werden, wie die Fachleute – in gleicher Weise von Bewusstsein und Wille usw. Vielmehr verhält es sich aber so, dass die Neurowissenschaften schon für die Korrelationen mit den bewussten Zuständen diese in der lebensweltlichen Perspektive voraussetzen müssen, damit sie in dieser Hinsicht überhaupt ein Explanandum haben. Dies gilt beispielsweise für Tätigkeiten wie Sehen, die phänomenale Qualitä­ ten beinhalten. Der Neurowissenschaftler, der das visuelle System physiologisch untersucht und seinen Bezug zu den phänomenalen Qualitäten des Sehens herstellen will, hat ohne den lebensweltlichen Vollzug des Sehens gar kein Explanandum. Das bedeutet, wenn er nicht selbst diese Qualitäten besäße, wüsste er aufgrund der physiolo­ gischen Strukturen gar nicht, womit diese auf der phänomenalen bzw. geistigen Ebene korreliert sind. Dies bringt Janich auf den Punkt: »Er [der Sinnesphysiologe; T.M.] kann sehen und weiß vor aller Labor-Empirie, was ›Sehen‹ ist, das heißt, er ist eingeübt in ein ›Sehen-Sprachspiel‹ des Alltagslebens. ›Hast Du das gesehen?‹ ist ihm ebenso verständlich wie ›Schau genau hin!‹ oder ›Was zeigt der Blick durchs Schlüsselloch?‹ Nicht die Physiologie definiert ›Sehen‹ als Wort für ein Explanandum, sondern die Alltagssprache hält es bereit. Ohne sein eigenes ›Sehen‹ hätte seine Naturwissenschaft kein

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Explanandum, keine Aufgabe, keinen Gegenstand. Er nimmt also die Teilnehmerperspektive ein.«15

Diese lebensweltlichen Bestimmungen der Phänomene bleiben auch in der neurowissenschaftlichen Perspektive notwendigerweise erhal­ ten. Die Antwort auf die Frage, was eigentlich erklärt wird, wenn es heißt, man habe das Bewusstsein neurowissenschaftlich erklärt, kann eigentlich nur lauten, dass man alle relevanten physischen Mechanis­ men gefunden hat, die an bestimmten Leistungen des Bewusstseins beteiligt sind. Die methodische Vorgehensweise besteht also darin, dass in einem ersten Schritt ein Phänomen bestimmt wird (wie z. B. das Sehen), das eine bestimmte phänomenale Erlebensqualität involviert und mit dem man aus einer lebensweltlichen Perspektive vertraut ist. In einem zweiten Schritt wird das neurophysiologische Objekt festge­ legt, was bedeutet, dass bestimmt wird, was und wie gemessen wird. Schließlich wird in einem dritten Schritt ein Modell erstellt, dass diese Messergebnisse funktional zuordnet. Es wird also eine Verbindung von der phänomenalen zur hirnphysiologischen Ebene hergestellt, wobei die quantitativen Ergebnisse der hirnphysiologischen Ebene in einem funktionalen Modell erfasst werden.16 Eine Erklärung in dem Sinn, dass aus den neurophysiologischen Strukturen geistige Tätigkeiten wie Erkenntnis kausal erklärt werden könnten, dass man von der physischen Ebene sozusagen »von unten« erklären könne, was Erkenntnis ist, ist deshalb prinzipiell nicht mög­ lich, weil die lebensweltliche Bestimmung von Erkenntnis auch und gerade für wissenschaftliches Arbeiten vorausgesetzt werden muss. Sofern in der neurowissenschaftlichen Forschung etwas über Strukturen in der Wirklichkeit erkannt werden soll, sofern es also um Erkenntnis geht, werden die Wahr-falsch-Unterscheidung und die Abwägung von rationalen Gründen notwendigerweise vorausgesetzt. Jeder, der Wissenschaft betreibt, erkennt zumindest implizit an, dass rationale Gründe in der wissenschaftlichen Praxis eine Rolle spielen, denn in dieser gibt es prinzipielle Unterscheidungen, wie z. B. dass es gute und schlechte Theorien oder Erklärungen gibt und dass das Vorherrschen einer bestimmten Theorie nicht nur willkürlich und zufällig ist, sondern dass es genügend empirische Ergebnisse gibt, P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 126. Vgl. dazu auch T. Müller, »Ist das Bewusstsein nichts als das Feuern der Neuronen? Ein philosophischer Problemaufriss«. 15

16

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die für eine These sprechen.17 Wären unsere Erkenntnisse nur Ergeb­ nisse von determinierten physiologischen Abläufen, dann könnte die Wahr-falsch-Unterscheidung gar nicht getroffen werden, denn kausal bestimmte Systeme sind, wie sie sind, der normative Unterschied zwischen Erkenntnis und Irrtum kann nicht vorkommen. Wird aber argumentiert, dass die neurophysiologischen Ergebnisse ja gerade zeigen, dass unsere Erkenntnisse auf den kausalen Mechanismen des Gehirns beruhen, dann verwickelt man sich in einen Selbstwider­ spruch, da man zugleich etwas explizit bestreitet, was man implizit voraussetzen muss. Peter Janich hat am Beispiel einer primitiven Rechenmaschine deutlich gemacht, dass ein kausaler Mechanismus keine Erkenntnis hervorbringen kann. Man kann z. B. eine Rechenmaschine mit einem Getriebe so bauen, dass sie bei einer bestimmten Übersetzung die Multiplikation bzw. Division durch einen bestimmten Wert erlaubt. Auch wenn die Maschine nun das richtige Rechenergebnis, z. B. 3 x 5 = 15, liefert, ist es nach Janich aber nicht legitim zu sagen, in der Maschine würden Erkenntnisse, z. B. »3 x 5 = 15 ist richtig«, verur­ sacht: »Es gibt sogar einen überzeugenden Grund, warum die Beschreibung des materiellen Systems (als Analogon zum Gehirn) aus zwei Zahnrä­ dern gerade nicht die ›geistige‹ Leistung des korrekten Rechenergeb­ nisses verursachen kann. Denn logisch gilt für Aussagen A und B nach der Kontrapositionsregel ›Aus (wenn A, dann B) folgt (wenn nicht B, dann nicht A)‹. Das heißt, wären richtige Ergebnisse eine kausale Wir­ kung etwa nach dem Hebelgesetz, würden im Umkehrschluss aus der Produktion falscher Rechenergebnisse die geometrischen und kausalen Beschreibungen des materiellen Systems falsch werden. Also wäre das Hebelegesetz empirisch widerlegt. Dieser Konsequenz stimmt allerdings niemand zu, und zwar zu Recht.«18

Die Wahr-falsch-Unterscheidung wird also durch jede wissenschaftli­ che Tätigkeit vorausgesetzt und kann gleichzeitig nicht kausal-mecha­ nisch beschrieben werden. Sie kann also nicht das Produkt eines kausalen Mechanismus sein. Und insofern die Wahr-falsch-Unter­ scheidung und deren Erkenntnis auch in den Neurowissenschaften 17 Vgl. J. Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, 169f., T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, 82f. H.-D. Mutschler, Von der Form zur Formel. Metaphysik und Naturwissenschaften, 105f. 18 P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 172.

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notwendig vorausgesetzt werden und im reduktionistischen Rahmen nicht widerspruchsfrei explizierbar sind, können weder die in den Neurowissenschaften eruierten Strukturen mit den Strukturen des phänomenalen Bewusstseins identisch sein noch können diese jene im starken Sinn verursachen. Durch die Annahme dieser Nicht-Identität soll natürlich nicht bestritten werden, dass ohne neuronale Aktivität keine Bewusst­ seinsleistungen möglich sind, dass also neuronale Aktivität eine notwendige Bedingung für geistige Leistungen des ganzen »Systems« Mensch ist. Nicht der Zusammenhang der physiologischen und bewussten Ebene wird bestritten, nur die reduktionistische Identität der beiden Ebenen sowie die Ansicht, dass allein der physiologischen Ebene kausale Wirksamkeit zukomme.

2.1.3 Die vermeintliche Fundamentalität der Physik im Physikalismus In der Diskussion um den Reduktionismus kommt der Physik eine Sonderrolle zu, denn ein wesentliches Merkmal des Physikalismus ist die Annahme, dass alles Wirkliche sich letztlich entweder als identisch mit physikalischen Strukturen oder als von diesen vollstän­ dig abhängig erweise. Die damit verbundene Vorrangstellung und Fundamentalität der Physik wird meist damit begründet, dass Physik sich mit den fundamentalen Strukturen der Wirklichkeit befasst, aus denen alles andere aufgebaut sei. Die Wissenschaftstheoretikerin Nancy Cartwright hat in der Diskussion um die ontologische Fundamentalität der Physik aber zu bedenken gegeben, dass schon die Auswahl der Phänomene und die thematisierten Größen nicht einfach mit ontologischen Grundgrößen gleichzusetzen, sondern durch das jeweilige Forschungsinteresse vor­ gegeben sind und damit eine bestimmte Ebene der Wirklichkeitsbe­ schreibung festsetzt wird, ohne dass dieser eine ontologische Priorität zukommen muss: »Consider how the domain of properties studied in physics gets set. Here is one caricature: we begin with an interest in motion–deflections, trajectories, orbits. Then we look for the smallest set of properties that is closed (or, closed enough) under prediction. That is, we expand the set until we get all factors, and then everything causally relevant to

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our starting factors, and then every causally relevant to those and so forth. To succeed does not show that we have gotten all properties there are.«19

Die Festsetzung von fundamentalen Fragestellungen in der jeweiligen Perspektive ist kontingenterweise von einem Interesse an bestimmten Phänomenen abhängig, wobei die Einbeziehung weiterer Faktoren durch ein pragmatisches Kriterium wie das der Vorhersage von bestimmten Größen gebunden ist. Dementsprechend ist die Einbezie­ hung weiterer Faktoren dann nicht mehr notwendig, wenn genügend Größen für eine Vorhersage eines bestimmten Phänomens in der Ausgangsfragestellung vorhanden sind. Diese damit einhergehende Beschränkung auf bestimmte Phänomene und bestimmte Größen mag für allgemeine ontologische Ansprüche limitierend wirken, für den großen Erfolg im Verständnis und in der Vorhersage solcher Phänomene ist eine solche Beschränkung auf Grundgrößen und deren kausal relevante Faktoren eine unverzichtbare methodologische Leit­ idee: Es sollen nur diejenigen Faktoren thematisiert werden, die für das in Frage stehende Phänomen unter einer Ausgangsfragestellung relevant sind. Die Berücksichtigung anderer Faktoren, die für das betrachtete Phänomen nicht relevant sind, würde die theoretische Beschreibung nur unnötig verkomplizieren. Ist also die Auswahl der Eigenschaften in der Physik von der Fragestellung abhängig, so ist auch die Reichweite von physikalischen Gesetzmäßigkeiten aus methodischen Gründen nicht unbeschränkt. Diese werden nämlich in Situationen abgeleitet, in denen die unter­ suchten kausalen Faktoren isoliert sind, wozu im Normalfall im Experiment eine künstlich hergestellte Situation geschaffen wird. Erst wenn alle anderen kausalen Faktoren ausgeschlossen sind, zeigt das System immer dieselbe Tendenz, sich in einer bestimmten Art zu verhalten. Das bedeutet, dass das Verhalten physikalischer Systeme nur unter Ceteris-Paribus-Klauseln gilt.20 Die idealisierte Darstellung der physikalischen Beschreibung der Welt als die ontologische Grundlage für alle anderen Ebenen der Wirklichkeit zu nehmen, heißt, die künstliche Laborsituation in universalisierter Perspektive in die reale Welt zu projizieren und N. Cartwright, »Fundamentalism Vs. The Patchwork of Laws«, 290f. Vgl. dazu A. Hüttemann, Idealisierungen und das Ziel der Physik. Eine Untersu­ chung zum Realismus, Empirismus und Konstruktivismus in der Wissenschaftstheo­ rie. 19

20

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dabei zu vergessen, dass schon die Ausgangsfragestellung methodisch andere Qualitäten ausblendet. Hinzu kommt, dass die Physik wie jede andere Wissenschaft auf die Verwendung von Modellen angewiesen ist.21 Zahlreiche Fallstu­ dien haben gezeigt, dass Modelle nicht nur heuristischen Wert haben, sondern dass ihnen auch eine notwendige erkenntnistheoretische Funktion zukommt. Sie vermitteln nämlich zwischen der abstrakten Theorie und dem konkreten Phänomen. Dabei verwenden Modelle Zusatzannahmen, die in den Theorien nicht vorkommen und die mit Idealsierungen und Abstraktionen einhergehen.22 Dies bedeutet aber, dass für die naturwissenschaftliche Beschreibung die Struktur des Modells eine wichtige Rolle spielt, denn von ihr hängt ab, was und in welcher Art und Weise etwas von der empirischen Welt erfasst wird. Demnach versteht man unter einem Modell die Interpretation eines empirischen Phänomens, das den intellektuellen Zugang zu diesem Phänomen z. B. durch Analogisieren, Idealisieren und Vereinfachen erleichtert.23 Dabei ist es ein wesentliches Merkmal von Modellen, dass sie immer nur einen bestimmten Aspekt des empirischen Phäno­ mens modellieren, was dazu führt, dass die Beschreibung notwendig immer partiell ist, während andere Aspekte, die für die jeweilige Fragestellung nicht relevant sind, methodisch ausgeblendet werden. Die notwendige Verwendung von Modellen in der naturwissen­ schaftlichen Beschreibung macht zweierlei deutlich: Zum einen wird damit immer nur ein bestimmter Aspekt der Wirklichkeit unter idealisierten Bedingungen beschrieben, zum anderen ergibt sich die Auswahl der modellierten Aspekte nicht aus der Theorie, sondern ist von dem Forschungsinteresse des jeweiligen Forschers bzw. der Forschungscommunity abhängig und setzt aufgrund des damit ver­ bundenen rationalen Abwägens von Interessen wiederum ein umfas­ senderes Subjektkonzept voraus. Denn der Forscher als Subjekt bzw. die Forschungscommunity als Gemeinschaft von vielen Subjekten 21 Vgl. für die folgenden modelltheoretischen Überlegungen auch T. Müller, »Natur­ wissenschaftliche Perspektive und menschliches Selbstverständnis. Zur Unverzicht­ barkeit lebensweltlicher Qualitäten«, 40–43. 22 Vgl. z. B. D. Bailer-Jones, Scientific Models in Philosophy of Science, 144–152. Vgl. zu der Modell-Theorie beispielsweise auch M. Morrison, »One phenomenon, many models: Inconsistency and complementarity«; M. Morgan / M. Morrison (Hrsg.), Models as Mediators; N. Cartwright, The Dappled World. A Study of the Boundaries of Science. 23 Vgl. D. Bailer-Jones, »Naturwissenschaftliche Modelle: Von Epistemologie zu Ontologie«, 2.

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setzt die jeweiligen Forschungsabsichten und Forschungszwecke fest, wobei dieser Prozess – jedenfalls als Leitidee – von vernünftigen Gründen geleitet werden soll. Schon die Auswahl von Modellen beinhaltet beispielsweise normative Vorgaben wie die Beachtung des Nicht-Widerspruchsprinzips, die eben nur von Subjekten erfüllt werden können, die über entsprechende geistige Vermögen verfügen.

2.1.4 Konsequenzen für Physik und Neurowissenschaften Begründet der Physikalismus seinen Anspruch mit dem Erfolg und der Fundamentalität der Physik, so lässt sich nach den angedeute­ ten wissenschaftsphilosophischen Überlegungen Folgendes sagen: 1. Wenn die Fragestellung der Physik die kausale Disposition zur Bewe­ gung von Körpern und den hierfür relevanten Faktoren betrifft, dann ist methodisch schon ausgeschlossen, dass andere Qualitäten der Wirklichkeit innerhalb der Physik thematisiert werden können. Dies lässt sich auch daran leicht erkennen, dass es aus methodischen Grün­ den nicht möglich ist, Geist oder Bewusstsein in der Objektsprache zu definieren, so dass sie überhaupt zu einem Explanandum gemacht werden könnten. 2. Es ist aufgrund der methodischen Voraussetzun­ gen auch nicht zu legitimieren, die so thematisierten physikalischen Aspekte als exklusive ontologische Grundgrößen anzusehen, denen die gesamte Kausalkraft zugesprochen werden müsste, denn ihre im Experiment eruierte Kausalkraft entfaltet sich dort ja nur unter der methodisch hergestellten Abwesenheit anderer Kausalfaktoren und besagt somit nichts über die mögliche Existenz anderer Qualitäten und deren Kausalkraft. 3. Die Verwendung von Modellen in der Physik macht deutlich, dass dort Wirklichkeit immer unter einer selektiven, idealisierenden und abstrahierenden Perspektive unter­ sucht wird, wobei es in der physikalischen Beschreibung sogar sich widersprechende Modelle für dieselben Phänomene oder Modelle mit falschen Propositionen gibt. Anzunehmen, die Physik beschreibe Wirklichkeit, wie sie in sich ist, vernachlässigt die methodischen Bedingungen der Physik, die gerade ihre Stärke ausmachen. Ähnliches gilt für die Neurowissenschaften. Betrachtet man die dort verwendeten Objektsprachen, also im Wesentlichen die Objektsprachen der Physik und Chemie, dann wird deutlich, dass diese Fachsprachen aufgrund der jeweiligen Fragestellung und der dazugehörigen verwendeten Methoden dazu geeignet sind, kausale

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Dispositionen von materiellen Strukturen und Abläufen zu beschrei­ ben. Aus methodischen Gründen können Explanda nur physiologi­ sche Abläufe und Mechanismen sein, die mit anderen Qualitäten korreliert sind. Solche Qualitäten, beispielsweise »phänomenales Erleben«, »freier Wille« usw., können gar nicht mit den jeweiligen Objektsprachen beschrieben werden und somit im eigentlichen Sinn auch keine Explananda sein. Schon aus methodischen Gründen kön­ nen Neurowissenschaften nicht die qualitativen Eigenarten dieser Phänomene erfassen, sondern nur Aussagen treffen über korrelativ auftretende neuronale Strukturen. Da eine Korrelation von Gehirnprozessen und Bewusstsein her­ gestellt werden soll, wenn man Gehirnaktivitäten untersucht, sind die phänomenalen Aspekte des Bewusstseins immer implizit involviert, was dazu führen kann, dass man vergisst, dass es sich hierbei in wis­ senschaftlicher Perspektive nur um eine Korrelation ohne Anspruch auf eine vollständige Reduktion handelt. Denn um zu sagen, für wel­ che phänomenale bzw. geistige Qualität die physiologische Struktur kausale Relevanz besitzt (z. B. als notwendige Bedingung), muss der Neurowissenschaftler jene schon aus einer lebensweltlichen Perspek­ tive gewissermaßen als Teilnehmer voraussetzen, damit es in dieser Hinsicht überhaupt ein Explanandum gibt. Dies gilt beispielsweise für Tätigkeiten wie Sehen, die phänomenale Qualitäten beinhalten. Der Neurowissenschaftler, der das visuelle System physiologisch unter­ sucht und seinen Bezug zu den phänomenalen Qualitäten des Sehens herstellen will, hat ohne den lebensweltlichen Vollzug des Sehens gar kein Explanandum. Das bedeutet, wenn er nicht selbst diese Qualitäten besäße, dann könnte er aufgrund der physiologischen Strukturen gar nicht wissen, womit diese auf der phänomenalen bzw. geistigen Ebene korreliert sind.

2.1.5 Wissenschaftspraxis und Subjektkonzeption Schon die bereits angeführten methodischen Bedingungen von Wis­ senschaft verweisen innerhalb der Wissenschaftspraxis in der Person des Forschers auf einen starken Subjektbezug. So ergibt sich beispiels­ weise die Auswahl der modellierten Aspekte nicht aus der Theorie, sondern ist von dem Forschungsinteresse des jeweiligen Forschers bzw. der Forschungscommunity abhängig und setzt aufgrund des

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damit verbundenen rationalen Abwägens von Interessen wiederum ein umfassenderes Subjektkonzept voraus. Denn der Forscher als Subjekt bzw. die Forschungscommunity als Gemeinschaft vieler Sub­ jekte setzt die jeweiligen Forschungsabsichten und Forschungszwecke fest, wobei dieser Prozess – jedenfalls als Leitidee – prinzipiell von vernünftigen Gründen geleitet werden soll. Die der Wissenschaftspraxis innewohnende Normativität ent­ puppt sich damit als Ausgangsbasis für ein nicht reduktionistisches Subjektkonzept. Denn war es gerade das Merkmal des Naturverständ­ nisses der modernen Naturwissenschaften, dass Natur als bloße Abfolge eines Geschehens aufgefasst wurde, das rein kausal beschrie­ ben werden kann, setzt die Wissenschaft eine Normativität für die beteiligten Forscher voraus, die als Subjekte entsprechende Vermögen besitzen müssen. Besonders deutlich lässt sich dies an der Analyse von Experi­ menten aufzeigen. Denn wie bereits oben ausgeführt, lassen sich Gesetzmäßigkeiten im strengen Sinn immer nur unter Ceteris-Pari­ bus-Bedingungen ableiten. Um die mit diesen Gesetzmäßigkeiten beschriebenen Situationen überprüfbar zu machen, muss eine Situa­ tion künstlich herbeigeführt werden, in der die zu untersuchenden Faktoren isoliert werden. Dadurch können erst die Bedingungen erfüllt werden, durch die der Naturvorgang wissenschaftlich beschrie­ ben werden kann: Er darf nicht durch andere kausale Faktoren gestört werden, er muss sich hinreichend genau beobachten und messen lassen, er muss »begradigt« ablaufen, so dass er idealerweise durch eine mathematische Gleichung beschrieben werden kann, und es müssen immer wieder dieselben Anfangs- und Randbedingungen herrschen.24 Dies ist prinzipiell nur unter Laborbedingungen möglich, die in einem Experiment verwirklicht sind. Das bedeutet, im Expe­ riment werden durch den Einsatz von Technik künstlich die CeterisParibus-Bedingungen geschaffen, unter denen ein Naturgeschehen unter kontrollierten Bedingungen ablaufen kann. Somit ist diese Untersuchung der experimentellen Vorausset­ zungen für die Reduktionismusdebatte relevant, denn es wird deutlich, dass für das Treiben von empirischer Forschung andere Kategorien notwendig sind als diejenigen, die in der jeweiligen Objektsprache vorkommen. Denn Experimentieren entpuppt sich als notwendige Voraussetzung von Wissenschaft als eines geplanten 24

Vgl. H. Tetens, »Das Labor als Grenze der exakten Naturforschung«, 32f.

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2.1 Bewusstsein im Kontext von Naturwissenschaften und Philosophie

Handelns zur Herstellung von Zuständen und Verläufen, die ohne das menschliche zweckgerichtete Handeln gar nicht zustande gekom­ men wären.25 Damit tritt im Zusammenhang des Experimentierens als eines notwendigen Bestandteils naturwissenschaftlicher Praxis ein fundamentaler Unterschied zutage: Das Experiment verlangt auf­ grund seiner Struktur, zwischen bloßem Verhalten und normativem Handlungszusammenhang zu unterscheiden. Das »bloße Verhalten« charakterisiert die Naturverläufe, die in den naturwissenschaftlichen Disziplinen untersucht werden, denn diese zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie als rein kausal beschreibbare Abläufe thematisiert werden können. Die Analyse der Wissenschaftspraxis zeigt aber nun, dass diese Art von Naturbe­ schreibung nur dann überhaupt erzielt werden kann (und im strengen Sinn überhaupt nur dann gilt), wenn im Experiment die notwendigen Bedingungen zielgerichtet herstellt werden, womit die Kategorie der Handlung unhintergehbar wird und den reduktionistischen Rahmen sprengt. Denn Handlungen sind auf zweifache Weise normativ: Zum einen können sie ge- oder misslingen, das bedeutet, sie können richtig oder falsch vollzogen werden. Zum anderen können sie erfolgreich oder erfolglos sein, je nachdem, ob der jeweilige Handlungszweck erreicht oder verfehlt wird.26 Dieses zweckgerichtete Handeln, das die Voraussetzung der experimentellen Handlung ist, wäre aber selbst nicht mit einem reduktionistischen Ansatzes vereinbar, demzufolge alle Phänomene letztlich mit einer physikalischen Mikroerklärung, gemäß der »funda­ mentale« Entitäten alle »höheren« Phänomene erklären, in physikali­ schen Kategorien explizierbar sein sollen: Denn auf der Ebene der blo­ ßen Naturabläufe gibt es weder eine Normativität, die als Kriterium für das Ge- oder Misslingen wissenschaftlicher Experimenthandlun­ gen fungieren könnte, noch gibt es so etwas wie Zielgerichtetheit, denn die rein kausalen physischen Abläufe haben ja schon eine hinreichend bestimmte kausale Wirksamkeit, die ja gerade so stark gedacht wird, dass sie nicht von anderen als den physischen Faktoren gelenkt werden kann.27 Somit stellt sich das wissenschaftliche Handeln beispielsweise im Experimentieren als normative Handlungspraxis heraus, die in Form Vgl. P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 152ff. Vgl. P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, 19. 27 Vgl. beispielsweise W.-J. Cramm, »Zur kategorialen Differenz von Vernunft und Natur«, 44. 25

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

des Wissenschaft betreibenden Forschers ein Subjekt voraussetzt, das bestimmte geistige Vermögen besitzt, die sich reduktionistisch nicht fassen lassen.

2.1.6 Der Weg zu einer transzendentalphilosophischen Theorie des Bewusstseins Die kritische Auseinandersetzung mit den physikalistischen Ansät­ zen hat gezeigt, dass phänomenales Erleben und geistige Vermögen nicht auf physikalische Strukturen reduzierbar sein können.28 Dies liegt daran, dass bestimmte Eigenschaften des Bewusstseins bzw. des Geistes, beispielsweise die phänomenale Qualität des Bewusstseins sich physikalistisch nicht fassen lassen.29 Insofern phänomenales Erleben nicht mehr auf andere Strukturen zurückgeführt werden, also adäquat nur unter Zuhilfenahme anderer, zusätzlicher Bestim­ mungen begriffen werden kann, bildet es einen Zusammenhang sui generis, der als eigener Modus der Wirklichkeit angesehen werden muss. Das schließt nicht aus, dass sich dieser Modus als Aspekt einer Einheit herausstellen wird, so dass er notwendigerweise immer an physische Strukturen geknüpft ist, wie später noch genauer zu erläutern sein wird. Es schließt zunächst nur aus, dass sich seine Qualität aus den physikalistisch-reduktionistischen Bestimmungen ergibt bzw. durch sie vollständig bestimmt wird. Die wissenschaftsphilosophischen Überlegungen haben klarge­ macht, dass sowohl die eigentliche Forschungspraxis der Neurowis­ senschaften wie auch die der Physik keine ontologischen Reduktionen implizieren. Im Falle der Neurowissenschaften würde bei einer reinen Bottom-up-Vorgehensweise, also dem Versuch, sich ausschließlich 28 Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass die Klassifikation des Bewusstseins als »physisch« wesentlich von dem jeweiligen Begriff des Physischen abhängt. Wird dieser sehr eng gefasst, so dass »physisch« mit »physikalisch« oder rein relational Definierbarem gleichgesetzt wird, greift die hier angeführte Kritik. Die Klassifikation des Bewusstseins als physisch scheint nur dann sinnvoll zu sein, wenn man einen sehr weiten Begriff von Physis verwendet, womit lediglich die Zugehörigkeit zur Natur und damit die Abgrenzung zum Übernatürlichen gemeint ist. Ein solcher Naturbegriff kann dann aber aufgrund der Kritik nicht mehr rein szientistisch sein, sondern muss so bestimmt werden, dass die genuinen Bestimmungen des Bewusstseins darin enthalten sind. 29 Vgl. hierzu ausführlicher beispielsweise T. Müller, »Zum Problem der Physikalisie­ rung des Bewusstseins. Was der Physikalismus nicht erklären kann«.

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2.2 Die Berechtigung des Skeptizismus

auf die physiologischen Strukturen zu fokussieren, sogar unverständ­ lich, mit welchem phänomenalen Gehalt oder geistigen Vermögen die physiologischen Strukturen korrelativ verbunden sind. Die Nicht-Reduzierbarkeit des phänomenalen Bewusstseins auf physische Strukturen und der Aufweis der Notwendigkeit geistiger Vermögen anhand der Normativität der empirischen Forschungspra­ xis machen in einem nächsten Schritt eine transzendentalphilosophi­ sche Analyse des Bewusstseins notwendig, um zu zeigen, wie das Subjektkonzept für die in der Wissenschaftspraxis vorausgesetzten Vermögen genau beschaffen sein muss und welche hierfür wesentli­ chen Merkmale von Subjektivität es zu entfalten gilt. Vor allem gilt es aber in dieser transzendentalphilosophischen Analyse zu klären, wie die konstitutiven Leistungen von Subjektivität, beispielsweise Bestimmungen der Dinge zu erkennen oder sich auf Dinge zu beziehen, die nicht nur gedacht sind, fundiert werden können. Dabei wird auch der Zusammenhang von Bewusstsein und Organismus näher zu bestimmen sein.

2.2 Die Berechtigung des Skeptizismus und die mit ihm verbundene Herausforderung Die Analyse der aktuellen Debatte hat ergeben, dass Bewusstsein und Geist nicht auf materielle Strukturen reduziert werden können. Wenn somit Bewusstsein bzw. Geist als ein Phänomen sui generis aufgefasst werden muss, ergibt sich damit aber erst die Aufgabe, eine Theorie der Subjektivität zu entwickeln, die Fragen beantwortet wie beispielsweise die nach der strukturellen Eigenart von Subjektivität oder die nach ihrer Einbettung in physische Strukturen. Voraussetzung für den Entwurf einer Theorie der Subjektivität ist aber noch die viel grundlegendere Frage, ob und wie eine Erkenntnis dieser Zusammenhänge möglich ist. Möchte eine solche Theorie nicht nur eine hypothetische Behauptung sein oder sich ständig dem Verdacht ausgesetzt sehen, sogar ein sinnloses Unterfangen zu sein, bedarf es einer fundamentalen Auseinandersetzung mit skeptischen Grundmotiven, um die Grundlage des theoretischen Bestimmungs­ versuchs von Subjektivität epistemisch abzusichern. Dabei ist die fundamentale Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus aus zwei Gründen von Vorteil: Zum einen verhindert eine skeptische Haltung, dass ein naiver Realismus als methodischer Ausgangspunkt einfach

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

vorausgesetzt wird. Zum anderen kann die Begründung einer Theorie der Subjektivität nur dann als apodiktisch gelten, wenn eine Wider­ legung des Skeptizismus gelingt. Es wird also zu zeigen sein, dass der Skeptizismus zwar durchaus in der Zurückweisung eines naiven Realismus seine Berechtigung hat, dass aber eine Verabsolutierung der skeptischen Haltung in Widersprüche mündet bzw. dass die skeptische Intention nur dann sinnvoll sein kann, wenn gewisse Wahrheiten vorausgesetzt werden. Bevor dies in der kritischen Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Kants und einer Re-Lektüre von Descartes Gedankenexperiment des radikalen Zweifels ausführlicher geschieht, sollen hier noch einige Grundunterscheidungen im Kontext des Skeptizismus vorgestellt und die Aufgabe einer Theorie der Subjektivität skizziert werden. Insofern eine skeptische Grundhaltung ihre Motivation aus der Annahme bezieht, dass einander widerstreitende Auffassungen nicht zugleich wahr sein könnten und dass ein angemessenes Wahrheitskriterium fehle und somit nur die Urteilsenthaltung als mögliche Konsequenz übrig bleibe, versteht sich der Skeptizismus in dieser Form als eine methodisch begründete Haltung. Eine begründete Antwort auf diese Art der Skepsis zu finden scheint deshalb möglich, weil durch eine kritische Untersuchung der vorgebrachten Gründe und der verwendeten Methode dieses skeptischen Ansatzes eine Widerlegung der Berechtigung seiner Schlussfolgerung gefunden werden könnte.30 Für jede skeptische Haltung gibt es nun eine absolut notwendige Grundunterscheidung, ohne die die skeptische Intention hinfällig wird. Die unhintergehbare Unterscheidung hat ihren Ursprung in dem Wahrheitsanspruch von subjektiven Behauptungen, denn die Skepsis bezweifelt ja gerade, dass Überzeugungen eines Subjekts als (unbezweifelbar) wahr ausgewiesen werden können. Damit ist für eine skeptische Haltung die Differenz von einer Sphäre, die durch das Subjekt bestimmt ist (Behauptungen, Ansichten usw.), und der Wirklichkeit, wie sie an sich bestimmt ist, konstitutiv. Ohne beide Momente hat die skeptische Haltung keinen Anhaltspunkt mehr, und somit setzt die skeptische Argumentation die Unterscheidung von dem Sein, wie es für das Bewusstsein ist bzw. erscheint (»Sein-für«),

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Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 18f.

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2.2 Die Berechtigung des Skeptizismus

und der Wirklichkeit (»Sein-an-sich«)31, wie sie in sich bestimmt ist, notwendig voraus. Der Gewinn der skeptischen Anfrage für Fragen mit erkennt­ nistheoretischem Hintergrund besteht in jedem Fall darin, dass ein naiver Realismus, der die beiden Momente einfach ineins setzt, ohne zumindest das Verhältnis beider zu reflektieren, keine Option sein kann, weil dann alle inhaltlichen Behauptungen notwendig unter dem skeptischen Vorbehalt stehen. Diese erkenntnistheoretische Aufgabe, das subjektive und das vom Subjekt unabhängige Moment zu thema­ tisieren, verabsolutiert der Skeptizismus zu der Annahme, dass die subjektiven Versuche, Wahrheit zu finden und als solche zu begrün­ den, prinzipiell nicht von Erfolg gekrönt sein könnten, weil für die Begründung schon der Zugang der Wahrheit als Maßstab vorausge­ setzt werden müsse, weil also schon die Begründung wieder Wahrheit voraussetze. Eine Wahrheitsfindung im Sinne der »adaequatio rei et intellectus« ist dem Skeptizismus zufolge nicht möglich.32 Wie kann dieser Argumentation nun begegnet werden? Nach Cramer sind hier zwei Optionen möglich: Eine Option bestünde darin, den Wahrheitsbegriff der adaequatio aufzugeben. Diesen Weg sieht Cramer von der Transzendentalphilosophie Kants beschritten. Eine andere Option wäre der Versuch nachzuweisen, dass diese adaequatio so geleistet werden kann, dass der skeptische Einwand nicht mehr möglich ist. Dies wäre dann der Fall, wenn gezeigt werden könnte, dass es gewisse Wahrheitsansprüche gibt, die auch der Skeptizismus immer schon voraussetzen muss. Diese adaequatio findet sich nach Cramer in der Voraussetzung des Erkenntnissubjekts, das für die Unterscheidung von Sein-Für und Sein-an-sich konstitutiv ist und das selbst nicht in ein Sein-für aufgelöst werden kann: »Es ist mithin unbezweifelbar, daß die Sphäre, welche allein des Meinens des Seins mächtig ist, das Moment des Seins in sich enthält, das nicht in Sein für auflösbar ist. Sowohl der Skeptizismus als auch Transzendentalphilosophie müssen um dieses Moment des Seins wis­ sen. Sonst ist ihr Thema nicht. Also muß das Wissen im Wissen des Wissens die adaequatio geleistet haben.«33

31 Cramer nennt diese beiden Sphären auch »Bestimmtes-für« und »Bestimmtes-ansich«. 32 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 22. 33 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 23f.

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2. Zu Aktualität und Notwendigkeit einer transzendentalen Perspektive

Wie genau dieses Wissen gerechtfertigt wird und was es umfasst, ist eine zentrale Aufgabe der Theorie der Subjektivität, die sich zu diesem Zweck mit den Ansätzen von Kant und dem Gedankenexperiment des radikalen Zweifels im Sinne Descartes‘ auseinanderzusetzen hat. Beides wird im Folgenden ausführlich dargelegt. Es sei hier nur schon angemerkt, dass nach Cramer jedes Selbstbewusstsein transzendental (in Cramers Sinn) verfasst ist, was bedeutet, dass es sich zum Sein transzendiert. Wie sich noch zeigen wird, zielt Cramer auf einen negativen Seinsbegriff, der lediglich verneint, dass das mit »Sein« gemeinte nicht in ein Sein-für auflösbar ist: Es ist nicht nur gedacht. In diesem Sinn ist für Cramer jedes Selbstbewusstsein transzen­ dental, denn es kann sich mit Hilfe des Gedankenexperiments des radikalen Zweifels klarmachen, dass es nicht nur gedacht ist, sondern schon die zeitlich verfasste Bedingung der Gedanken sein muss, die eben auch die Bedingung für die Sphäre des Sein-für ist und nicht in dieselbe aufgelöst werden kann. Dieses Transzendieren nennt Cramer »schwaches Transzendieren«, da hier nur nachgewiesen wird, dass die Sphäre der Subjektivität das Moment des Seins (»nicht nur gedacht«) notwendig in sich enthalten muss. Darüber hinaus ist es aber auch Aufgabe der Theorie der Subjektivität nachzuweisen, dass und wie diese Subjektivität einen Bezug zur Welt hat, was Cramer »starkes Transzendieren« nennt.34 Diesen Transzendenzbezug (in Cramers Worten die »transzendentale Verfasstheit« von Subjektivität) zu untersuchen und zu rechtfertigen, ist nach Cramer die eigentliche Aufgabe einer Transzendentalphilosophie.35 Im folgenden Kapitel geht es zunächst um eine kritische Aus­ einandersetzung mit der Philosophie Kants, dessen Ansatz in der Unterscheidung von Sein-für und Sein-an-sich Cramer zwar teilt, dessen strikte Verabsolutierung sich aber Cramer zufolge nicht kon­ sistent denken lässt.

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 29. Vgl. auch K. Cramer, »Überlegungen zu Hans-Dieter Kleins Auseinandersetzung mit Wolfgang Cramers ›Grundlegung einer Theorie des Geistes‹“, 222ff. 34

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

3.1 Die Kantischen Grundintentionen Es kann nicht verwundern, dass sich Cramer angesichts seiner Intention, eine minimalontologische Theorie der Subjektivität und darauf aufbauend eine Theorie des Absoluten zu begründen, an keiner anderen Philosophie so sehr abgearbeitet hat wie an der Transzendentalphilosophie Kants. Den Grund hierfür hat man darin zu suchen, dass Kants Philosophie eine hervorgehobene Stellung in der Philosophiegeschichte einnimmt und ihre Einsichten auch für nachfolgende und über diese Position hinausgehende Ansätze ein notwendiger Bezugspunkt bleiben. Dies gilt selbstverständlich auch für die transzendentalontologische Theorie der Subjektivität Cramers, die zwar nicht in vorkantischer Manier eine unkritische Subjektmetaphysik betreibt, aber dennoch den Anspruch hat, apodiktisch nachzuweisen, dass das Subjekt minimalontologisch bestimmt sein muss. Um das Anliegen und die Begründung der Cramerschen Transzendentalontologie besser verständlich zu machen, werden im Folgenden einige Grundmotive und -konzepte Kants theoretischer Philosophie und Cramers kritische Auseinandersetzung mit diesen vorgestellt. Kants Sonderstellung in der Philosophiegeschichte gründet bekannterweise darin, dass er die Erkenntnisleistungen des Subjekts in einzigartiger Weise in den Mittelpunkt der philosophischen Ana­ lyse gestellt hat. Dabei nimmt Kant in der Durchführung seines transzendentalphilosophischen Ansatzes nicht nur eine vermittelnde Position zwischen Empirismus und Rationalismus ein, er versucht zudem, sowohl dem Anspruch einer objektiven und notwendigen Erkenntnis in der Wissenschaft (im Falle Kants der Newtonschen Physik) als auch der skeptischen Unterscheidung von subjektiver Erkenntnis und subjektunabhängiger Wirklichkeit gerecht zu werden.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

Kants Ansatz, diese Spannung aufzulösen, beruht bekanntlich in der sogenannten kopernikanischen Wende, nach der sich die Erkennt­ nis des Subjekts nicht nach dem Gegenstand, sondern der Gegenstand nach der Erkenntnis des Subjekts richten muss. Es sind demnach die Bedingungen des Subjekts, die den Erkenntnisgegenstand konstituie­ ren. Als einer der Ausgangspunkte der Kantischen Philosophie kann die Unterscheidung verschiedener Aspekte dienen, mit deren Hilfe Arten von Urteilen charakterisiert werden können: 1. Sie können a priori, also erfahrungsunabhängig, oder a posteriori, also erfahrungs­ abhängig, sein. 2. Sie können notwendig oder nicht notwendig sein. Daraus ergeben sich folgende Kombinationsmöglichkeiten für die Unterteilung: Analytische Urteile beziehen sich auf etwas, das bereits in einem Begriff enthalten ist. Damit sind sämtliche analytischen Urteile a priori und notwendig, denn die logische Zergliederung eines Inhaltes kann nicht von Erfahrung abhängen. Synthetische Urteile hingegen können sowohl a posteriori als auch a priori sein. Es ist nach Kant also durchaus möglich, in synthetischen Urteilen neue Erkenntnisse unabhängig von Erfahrung zu gewinnen. Dies kann am Beispiel der Newtonschen Physik illustriert werden. Zwar fördert die Physik mit der Formulierung der konkreten Gesetzmäßigkeiten jede Menge neuer empirische Erkenntnisse zutage, zu der sie der empirischen Erfahrung bedarf. Es handelt sich hierbei um Erfahrungs­ urteile, in denen nach Kant unsere Erkenntnis a posteriori erweitert wird. Allerdings liegen der Physik auch synthetische Erkenntnisse zugrunde, die nicht aus der Erfahrung genommen werden können, wie beispielsweise das Kausalprinzip, nach dem alles, was geschieht, einer Ursache bedarf.36 Wenn diese notwendigen Gesetzmäßigkeiten Bestand haben, sich nicht aus der Erfahrung ableiten lassen und die skeptische Grundeinsicht berechtigt ist, einen Unterschied von subjektiver Erkenntnis (dem Sein-für) und der subjektunabhängigen Wirklichkeit (Sein-an-sich) einzuräumen, dann stellt sich notwendig die Frage, wie ein Subjekt diese notwendigen Bestimmungen erfassen und synthetische Erkenntnisse a priori haben kann. Daher kann die leitende Frage in Kants theoretischer Philosophie nur lauten, wie synthetische Urteile a priori möglich sind. Damit ist das Grundproblem der Kritik der reinen Vernunft das Wissen um Not­

Vgl. beispielsweise Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, § 15 A 74.

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3.1 Die Kantischen Grundintentionen

wendigkeit.37 Bekanntlich sah Kant in der kopernikanischen Wende, also gewissermaßen in der Umkehr des Konstitutionsverhältnisses von Wirklichkeit und erkennendem Subjekt im Erkenntnisprozess, die einzige Möglichkeit, synthetische Urteile a priori zu begrün­ den. Nur wenn die notwendigen Bestimmungen der Erkenntnisge­ genstände durch das Subjekt selbst in der Erkenntnis konstituiert werden, ist nachzuvollziehen, wie das Subjekt diese Notwendigkeit einsehen kann.38 Es ergibt sich damit die philosophische Aufgabe, die subjektiven Bedingungen, die für die Erkenntnis eines Gegenstandes notwendig sind, zu untersuchen, wobei Kant diese Art von Analyse »transzen­ dental« nennt.39 Daraus resultiert die Notwendigkeit für eine Kritik der reinen Vernunft als ein wesentlicher Teil ihres Programms, diese die Erfahrung notwendig bestimmenden Formen aus dem erkennen­ den Bewusstsein zu entwickeln und ihre bestimmende Funktion für die Konstitution des Erfahrungsgegenstandes nachzuweisen. Mit der Kantischen Auffassung von Erkenntnis ist die Unter­ scheidung von in der Anschauung Gegebenem, also Dingen, wie sie dem Subjekt erscheinen, und den Dingen an sich, die für das Subjekt unerkennbar bleiben, gegeben. Dabei sind einige wichtige Grundkon­ zepte Kants zu beachten: Das noch Unbestimmte, das dem Subjekt in der Anschauung gegeben ist, wird von Kant »Erscheinung« genannt, wobei an ihr Form und Materie unterschieden werden. Während die Form ihre Gegebenheitsweise bezeichnet, die allein als aus dem Subjekt stammend begriffen werden muss40, bezeichnet die Materie der Erscheinung eben dasjenige Moment, das als aus der Empirie stammende Empfindung gedacht wird, wobei unter Empfindung die »Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit«41 verstanden wird. Der Gegenbegriff der durch die Sinnlichkeit gegebenen Erschei­ nung ist der Gegenstand des Denkens, der »Noumenon« oder auch »Gedankending« genannt wird. Nur in der Vereinigung beider kann Kant zufolge Erkenntnis zustande kommen: Wird das erkennende Subjekt durch die Dinge an sich affiziert, sind diesem Erscheinungen Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 48. Vgl. Kant KrV A 106: »Aller Notwendigkeit liegt jederzeit eine transzendentale Bedingung zum Grunde.« 39 Vgl. z. B. Kant KrV, B 25. 40 Vgl. Kant KrV A 20 / B 34. 41 Kant KrV A19f. / B 34. 37

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

der Dinge an sich gegeben, die nun durch Erkenntnisleistungen des Subjekts zu einer Einheit synthetisiert werden, indem Vorstellungen auf notwendige Weise verbunden werden. Demnach konstituiert sich Erkenntnis immer als Synthese von Anschauung und Denken, wodurch jegliche Erkenntnis an Erscheinungen gebunden ist. In der Erkenntnis des Subjekts sind nun mehrere Momente zu unterscheiden: zum einen die Formen a priori, also sowohl Raum und Zeit als Formen der Anschauung wie auch die Verstandesbegriffe, mit denen das in der Anschauung Gegebene zu einer Einheit synthetisiert wird und mit denen der aktive Aspekt der Erkenntnis bezeichnet wird; zum anderen die Momente, die durch die sinnliche Anschauung a posteriori gegeben sind, die von Kant »Materie der Erkenntnis« genannt werden und die rezeptive Seite der Erkenntnis ausmachen. Durch sie wird das Subjekt durch etwas bestimmt, was nicht zur Sphäre des Bewusstseins gehört, auch wenn die Bestimmungen dieses Etwas an sich unerkennbar für das Subjekt sind.42 Nun zeigt aber gerade die Affektionstheorie, dass die Dinge an sich und das affizierte Subjekt in einer gemeinsamen Ordnung stehen müssen, dass das Subjekt selbst nicht nur ein Gedanke oder eine Vorstellung sein kann, es also auch an der Sphäre des »Ding an sich« teilhat, so aber, dass diese über Vorstellungen und Gedanken hinausgehende Qualität dem Subjekt selbst unbekannt bleiben muss.43 Bevor nun genauer auf die Cramersche Analyse und Kritik dieser Konzeption eingegangen wird, sollen hier zunächst die Kan­ tischen Grundgedanken, die für seine Subjektkonzeption relevant sind, dargestellt werden. Es ist nach Kant gemäß der skeptischen Grundunterscheidung von Sein an sich und Sein, wie es für das Subjekt erscheint, nicht einzusehen, wie das Subjekt die notwendigen Bestimmungen der Dinge an sich wissen können soll.44 Durch die Kopernikanische Wende wird die Frage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, dementsprechend dahingehend beantwortet, dass die Notwendigkeit dieser Urteile durch die Erkenntnisleistung des Subjekts garantiert wird. In der Analyse der Erkenntnisleistung stellt sich nach Kant heraus, dass Erkenntnis als Urteilen aufzufassen ist und dass im Urteilen eine Syntheseleistung vollbracht wird, indem in ihm verschiedene Momente verbunden werden, so dass in einem 42 43 44

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 51. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 51f. Vgl. z. B. Kant KrV A 104.

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3.1 Die Kantischen Grundintentionen

Urteil verschiedene Begriffe zu einem höheren Begriff vereinigt wer­ den. In Urteilen bezieht sich das Subjekt auf das Mannigfaltige, das ihm in der Anschauung gegeben ist, und stellt in der Erkenntnis eine Synthese von verschiedenen Vorstellungen her. Die Hauptaufgabe des Verstandes als Erkenntnisvermögens ist es demnach, in diesem Sinn Einheit zwischen Vorstellungen zu stiften. Der Erkenntnisge­ genstand unterscheidet sich also von bloßen Vorstellungen, insofern für ihn sowohl durch die Anschauung gegebene Momente (»Materie der Erkenntnis«) als auch Momente konstitutiv sind, die nicht rezeptiv gegeben sein können, weil das rezeptiv Gegebene der Anschauung diese Syntheseleistung nicht vollbringen kann.45 Die Momente der Erkenntnis, die nicht gegeben sind, können aber auch nicht die apriorischen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, sein, da diese die verschiedenen Vorstellungen nur in die Relation des Neben- und Nacheinanders setzen können. Gesucht sind aber Formen, die die Vorstellungen in eine begriffliche Einheit zu setzen vermögen. Es geht also um das Auffinden von Begriffen, die die Vorstellungen in notwendiger Weise verknüpfen können. Die Syntheseleistung in Urteilen kann nur durch den Verstand des Subjekts geleistet werden, der durch seine Aktivität verschiedene gegebene Vorstellungen miteinander verbindet. Hierfür kommen nur apriorische Formen in Frage, die auf die jeweiligen Vorstellungen angewendet werden. Durch ihren apriorischen Charakter garantieren sie die geforderte Notwendigkeit der synthetischen Urteile. Daraus erwächst die Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft, diese Synthese­ leistung des Subjekts und deren Voraussetzungen zu analysieren. Es werden nun kurz einige Grundgedanken der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Logik vorgestellt, sofern sie für die Kantische Subjektkonzeption und deren kritische Erörterung durch Cramer relevant sind. In der transzendentalen Ästhetik legt Kant dar, dass Raum und Zeit nicht Vorstellungen oder Bestimmungen der Dinge an sich sind, sondern apriorische Formen der Anschauung im Subjekt. Hierfür werden aus der Erkenntnis zunächst alle Momente ausgesondert, die dem Verstand zuzurechnen sind, die sogenannten Verstandeskategorien. Anschließend werden auch die empirischen Momente der Sinnlichkeit abgezogen, so dass dann nur noch die apriorischen Momente der Sinnlichkeit übrigbleiben. 45

Vgl. Kant KrV B 129.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

Durch Raum und Zeit als apriorische Formen ist alles in der Anschauung Gegebene in einer gewissen Ordnung gegeben. Wäh­ rend die Zeit die universale Ordnung der Anschauung ist, weil sowohl Erscheinungen des inneren als auch des äußeren Sinnes zeitlich geordnet sein müssen, kommt eine räumliche Ordnung nur für Objekte des äußeren Sinnes in Betracht. Nachdem Kant in der transzendentalen Ästhetik Raum und Zeit als apriorische Formen der Anschauung herausgearbeitet hat, geht es in der transzendentalen Analytik darum, die Apriori-Elemente, die für die synthetischen Urteile a priori notwendig sind, als Verstandes­ begriffe nachzuweisen. Dazu sind zunächst alle Urteilsarten zu iden­ tifizieren und die ihnen zugrundeliegenden Verstandeskategorien zu eruieren und anschließend ihren notwendigen und ausschließlichen Bezug zur Anschauung nachzuweisen. Der erste Hauptabschnitt der transzendentalen Analytik handelt von der metaphysischen Deduktion der Verstandesbegriffe. Dabei geht es zunächst um die Entdeckung eben derjenigen apriorischen Formen, die für jeden Verstand und jedes Begreifen konstitutiv sind. Da der Verstand in Urteilen Einheit stiftet, weil er Vorstellungen mit den apriorischen Formen verbindet, ist es nun nach Kant Aufgabe der metaphysischen Deduktion, die einzelnen Verknüpfungsarten der verschiedenen Urteile ausfindig zu machen. Denn die jeweiligen Verknüpfungsarten sind für sich genommen eben die Formen, die das Mannigfaltige in den Urteilen verbindet. Sie sind also die gesuch­ ten Verstandesbegriffe. So gelangt man durch eine Auflistung aller Urteilsformen zu dem Aufweis aller darin enthaltenen Verstandesbe­ griffe.46 Die metaphysische Deduktion dient also zunächst nur der Auffindung der reinen Verstandesbegriffe, ohne deren Funktion für die Erkenntnis zu thematisieren. In dem sich daran anschließenden zweiten Hauptabschnitt der transzendentalen Analytik, der sogenannten transzendentalen Deduktion, soll darüber hinaus noch der Nachweis erbracht werden, dass die gefundenen Kategorien auch notwendig für die Konstitution des Erkenntnisgegenstandes sind. Dabei liegt das Hauptproblem der transzendentalen Deduktion darin nachzuweisen, wie subjektive Bedingungen des Denkens objektive Gültigkeit haben können.47

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Vgl. Kant KrV B 104f. Vgl. Kant KrV B 122.

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3.1 Die Kantischen Grundintentionen

Da es – wie bereits erwähnt – für Kant unerklärlich ist, wie Gegenstände als Dinge an sich Vorstellungen im Subjekt ermögli­ chen, die diesem Aufschluss über die Eigenschaften der Dinge an sich geben, kann es nach Kant nur so sein, dass die Gegenstände durch die Erkenntnisleistung des Subjekts konstituiert werden.48 Wenn Erkenntnis die Verbindung von Mannigfaltigem in Urtei­ len ist, dann stellt diese Verbindung eine Einheit dar, die als synthe­ tische Einheit des Mannigfaltigen von Kant »Synthesis« genannt wird.49 Kant versucht in der transzendentalen Deduktion zu zeigen, dass die in der metaphysischen Deduktion aufgefundenen apriori­ schen Begriffe aller Erfahrung zugrunde liegen und deshalb für alle Erfahrung konstitutiv sind. Demzufolge kommt die Einheit in den Urteilen durch die Verstandesbegriffe zustande. Dies ist für die Subjektkonzeption Kants von entscheidender Bedeutung, denn fragt man nach dem Grund dieser Einheitsleistungen, so kommt nur das Erkenntnissubjekt selbst in Frage, da die rezeptive Sinnlichkeit, das heißt, die Materie der Erkenntnis und die Anschauungsformen, die geforderte Synthesis nicht leisten können.50 Demnach ist die Herstellung dieser Verbindung, die Synthesis, eine Verstandeshandlung, durch die verschiedene Momente zu einer Einheit verbunden werden, wobei die Verbindung eben selbst nur durch eine dieser Synthesis vorausliegenden Einheit vollbracht wer­ den kann. Diese ursprüngliche Einheit kann nach Kant wiederum nur eine solche sein, die »vor allen Begriffen der Verbindung vorher­ geht«51, und somit keine unterschiedlichen Momente mehr in sich enthalten kann, da sie sonst selbst wieder verbunden wäre und erneut eine Einheit voraussetzen würde. Demnach kann die ursprüngliche Einheit nur das transzendentale Subjekt sein, das in seiner Funktion für jede Synthesis die notwendige Bedingung ist, da dieses erst die Instanz ist, die die Synthesis verbürgt.52 Insofern ist die transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins, die sich in der Vorstellung des »Ich denke« ausdrückt, der oberste Grund der Einheitsfunktionen in Urteilen und gilt somit als Bedin­ gung der Möglichkeit der Einheitsstiftung in der Erkenntnis, weil Vgl. Kant KrV B 124 ff. Vgl. Kant KrV B 129ff. 50 Vgl. Kant KrV B 130. 51 Kant KrV B 131. 52 Vgl. dazu auch J. Kim, Substanz und Subjekt. Eine Untersuchung der Substanzka­ tegorie in Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹, 61f. 48

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

jedes Urteil letztlich auf die Vorstellung des »Ich denke« muss bezo­ gen werden können. Weil nun aber umgekehrt alles beliebig in der Sinnlichkeit Gegebene immer schon nur unter der Bedingung der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins konzipiert werden kann, lässt sich daraus nach Kant schließen, dass die Verstandeskate­ gorien ihrerseits als Einheitsfunktionen nur mit Bezug auf mögliche Erfahrungsgegenstände überhaupt Anwendung finden können und somit Bedingung der Möglichkeit für Gegebenes überhaupt sind. Was besagt dies nun für den Status des Subjekts? Als aller Synthesis vorausliegende Einheit, die sich in der transzendentalen Apperzeption als »Ich denke« ausdrückt, hat es eine grundlegende Funktion im Erkenntnisprozess, die bei jeder Vorstellung des Subjekts expliziert werden kann: »Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.«53

Kant gebraucht hier »Ich denke« im Gegensatz zu »Ich schaue an«, weil die notwendige Vereinigung von Vorstellungen nicht einfach gegeben ist, sondern schon als eine Leistung des Denkens angesehen werden muss.54 Auch wenn die transzendentale Apperzeption schon immer die Bedingung von Syntheseleistungen ist, ist der Ausgangs­ punkt für die Vorstellung »Ich denke« aber zunächst ein synthetisches Urteil wie beispielsweise »Der Körper ist schwer«, zu der dann die Vorstellung »Ich denke« hinzugesetzt werden kann, indem explizit gemacht wird, dass die Verbindung der Vorstellungen »Körper« und »schwer« nur durch das Subjekt geleistet wird. Und diese Leistung ist es, die im »Ich denke« nach Kant dann eigens vorgestellt wird: »Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der andern hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin.«55

Durch die Vorstellung »Ich denke« wird also nur das expliziert, was ohnehin in jedem Urteil implizit mitgedacht wird, dass nämlich die im objektiven Urteil gestiftete Einheit von dem erkennenden Subjekt Kant KrV B 132f. Vgl. O. Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, 138. 55 Kant KrV B 134. 53

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3.1 Die Kantischen Grundintentionen

geleistet wird und dieser Sachverhalt in der Vorstellung »Ich denke« gefasst werden kann. Dieser Sachverhalt muss nicht bei jedem Urteil explizit hinzugesetzt werden. Er kann hinzugesetzt werden, weil eben allen Urteilen die subjektiven Erkenntnisleistungen zugrunde liegen und somit der Subjektbezug immer schon in den Urteilen anwesend ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass das »Ich denke« nur deshalb gedacht werden kann, weil der Verstand schon in Urteilen Einheit gestiftet hat und durch diese Einheitsstiftung in Urteilen auch die transzendentale Apperzeption als notwendige Bedingung für diese Leistung gedacht werden kann. Daraus folgt, dass die transzendentale Apperzeption nicht ein­ fach durch eine Vorstellung oder eine Erscheinung gegeben sein kann, sondern dass dieser Gedanke eine Bestimmung denkt, die implizit in den objektiven Urteilen enthalten ist und somit als darin enthaltene Bestimmung in einem neuen Gedanken muss expliziert werden können, so dass das »Ich denke« als Vorstellung nur ein Akt der Spontaneität sein kann.56 Als solcher ist dieser Gedanke aber nur etwas Gedachtes, dem die Anschauung fehlt. Wir können im Gedanken »Ich« zwar wissen, dass es eines Subjekts bedarf, aufgrund der fehlenden Anschauung ist dieses Wissen aber keine Erkenntnis. Damit ist das »Ich denke« eine eigene Art der Vorstellung, die eben nur Begriffscharakter besitzt.57 Dadurch kann es nicht weiter bestimmt werden, denn alle Erkenntnis bedarf nach Kants Konzept der Zweistämmigkeit der Erkenntnis eines Inhalts, der durch eine Anschauung dargeboten wird und nicht nur Denkbestimmung ist. Somit ist der Gedanke »Ich«, mit dem das transzendentale Subjekt bezeichnet wird, ein Gedanke ohne Anschauung, wodurch das »Ich« eine leere Identität wird: »In diesem Gedanken ist zwar das Dasein des zu Grunde liegenden Subjekts gewußt. Nur ist dieses Wissen keine Erkenntnis, weil das transzendentale Subjekt schlechterdings nicht qualifizierbar ist.«58

Letztlich ist das sogenannte transzendentale Subjekt nach Kant die­ jenige Instanz, welche die für alle Erkenntnis notwendige Leistung erbringt und somit das allen Vorstellungen und Gedanken zugrun­ Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 65. Vgl. O. Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, 144. 58 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 52. 56

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

deliegende Subjekt ist. Sein Dasein ist nach Kant gewiss, denn es kann selbst weder Erscheinung noch Gedanke sein. Vielmehr muss es das »Subjekt der Gedanken« und somit »Grund des Denkens« sein.59 Darüber hinaus kann es aber nicht weiter qualifiziert werden. Es ist weder Substanz noch ist es zeitlich, da beides apriorische Bestimmungsformen des Subjekts sind, durch die Erscheinungen qualifiziert werden, die aber nicht auf das transzendentale Subjekt selbst angewendet werden dürfen. »Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Bezie­ hung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannig­ faltige angetroffen wird. Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, um sie von der empiri­ schen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle andere muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.«60

Kant zufolge ist die transzendentale Apperzeption deswegen als ursprünglich zu betrachten, weil sie von keiner anderen Vorstellung abgeleitet werden kann und von daher als der gemeinsame, einheitli­ che Horizont aller Vorstellungen aufgefasst werden muss:61 »Die reine Apperzeption hat sozusagen immer das letzte Wort im Umfassen und Begleiten und kann ihrerseits nicht umfaßt und extern begleitet werden, außer eben immer schon von sich selbst als selbstbe­ züglichem Horizontbewußtsein.«62

Somit stellt das »Ich denke« eine allgemeine Vorstellung dar, die als Horizont des Bewusstseins überhaupt gelten kann.63 Deshalb wird in der transzendentalen Apperzeption durch die Vorstellung des »Ich denke« lediglich die Meinigkeit der Vorstellungen prädiziert, die ohnehin in jeder Vorstellung als Vorstellung eines Subjekts schon Vgl. Kant KrV B 429. Kant KrV B 132. 61 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 156. 62 A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 157. 63 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 158. 59

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3.1 Die Kantischen Grundintentionen

gegeben ist. Dieses selbstbezügliche Horizontbewusstsein besagt also nicht nur, dass jede Vorstellung auf ein Subjekt bezogen ist, sondern auch, dass im »Ich denke« dieser Subjektbezug auch gewusst werden kann. Die transzendentale Apperzeption muss nach Kant einfach, iden­ tisch und einheitlich gedacht werden. Sie muss einfach sein, denn da ihr der Anschauungscharakter fehlt, gibt es nach Kant keine weiteren Möglichkeiten, an ihr unterschiedliche Qualitäten zu erkennen. Die Vorstellung ihrer Einfachheit und ihrer Identität lässt sich durch das Verhältnis des »Ich denke« zu den Vorstellungen des transzendenta­ len Subjekts gewinnen: Zum einen ist die Möglichkeit auszuschlie­ ßen, dass es im Erkenntnissubjekt Vorstellungen gibt, die diesem nicht zugehören. Aus diesem Grund muss der transzendentalen Apperzeption der Charakter der Einheitlichkeit a priori zugesprochen werden.64 Zum anderen können die verschiedenen Vorstellungen auf das »Ich denke« bezogen werden, so dass sie nach Kant durch diesen Bezug verbunden werden. Durch diese Verbindung wiederum können die Einheit und die Identität des »Ich denke« gedacht werden, die von Kant »analytische Einheit der Apperzeption« genannt wird: »Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstel­ lungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d.i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich.«65

Eine weitere Erläuterung findet sich wenig später: »Dieser Grundsatz, der notwendigen Einheit der Apperzeption, ist nun zwar selbst identisch, mithin ein analytischer Satz, erklärt aber doch eine Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen als notwendig, ohne welche jene durchgängige Identität des Selbstbe­ wußtseins nicht gedacht werden kann. Denn durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben; in der Anschauung, die davon unterschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtsein gedacht werden.«66

Vgl. J. Kim, Substanz und Subjekt. Eine Untersuchung der Subtanzkategorie in Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹, 63. 65 Kant KrV B133. 66 Kant KrV B 135.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

Da in diesen Zitaten das Verhältnis von analytischen und synthe­ tischen Momenten hinsichtlich der transzendentalen Apperzeption nicht ganz klar ist, soll dieser Zusammenhang hier kurz erläutert wer­ den.67 Wie bereits gezeigt, kommt die transzendentale Apperzeption nach Kant schon durch die einheitsstiftende Funktion von Urteilen in den Blick, da mit ihr die ursprüngliche Einheit bezeichnet ist, die als notwendige Bedingung für die Synthesis-Leistungen gedacht werden muss. Die Einheit und Identität der transzendentalen Apperzeption kann – dem ersten der beiden Zitate zufolge – nur dadurch gedacht werden, dass man verschiedene Vorstellungen des Bewusstseins auf das vorher schon als Bedingung jeder vereinigenden Vorstellung implizit zugrundliegende »Ich denke« bezieht. Durch diese Synthese werden nun eigens die Einheit und die Identität der transzendentalen Apperzeption vorgestellt, da das einfache »Ich denke« letztlich zu jeder Vorstellung expliziert werden kann.68 Somit ist die Vorstellung der Einheit der transzendentalen Apperzeption nur durch eine synthe­ tische Einheit möglich. Diese Synthese selbst – aber natürlich auch jede andere – setzt wiederum die ursprüngliche Einfachheit des »Ich denke« voraus, weil ja für jegliche Synthese-Leistung die ursprüngliche Einheit des Selbstbewusstseins die notwendige Bedingung war.69 Diese so gedachte Einfachheit der transzendentalen Apperzeption ist damit aber ein Prinzip der Synthesis und deswegen analytisch, weil es nichts anderes besagt als die Identität des »Ich denke«, die für jede Synthese notwendig ist.70 Durch die synthetische Funktion der transzendenta­ len Apperzeption ist es möglich, in allen synthetischen Erkenntnis­ sen dieses »Ich denke« ein identisches Moment zu eruieren, durch welches das erkennende Subjekt sich bewusst machen kann, dass seine verschiedenen Vorstellungen ihm zugehören. Nur durch diese Verbindung zum »Ich denke«, nur durch diese neue Synthese wird eben die Einheit der transzendentalen Apperzeption vorgestellt, die deswegen ein analytischer Grundsatz ist, weil sie »nur« die Identität des ansonsten leeren »Ich denke« fasst und eben dadurch das Prin­ Vgl. für die nachfolgende Interpretation W. Cramer, Die Monade, 38–41. Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 159. 69 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 38. 70 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 38. 67

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66 https://doi.org/10.5771/9783495999158 .

3.1 Die Kantischen Grundintentionen

zip der Synthesis bezeichnet.71 In diesem Kontext spricht Kant der transzendentalen Apperzeption einige Bestimmungen zu, die seine Funktion näher beleuchten: »Ich nenne auch die Einheit derselben die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen.«72

Somit ist die transzendentale Apperzeption letztlich das oberste transzendentale Prinzip, weil es das Prinzip der Spontaneität aller Synthesis ist. In diesem Sinn hat man dann auch Kants Überschrift des Paragraphen 16 »Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption« zu lesen. Wie bereits dargelegt, ist die Einheit der transzendentalen Apperzeption ja gerade nicht selbst synthetisch, sondern analytisch. Hier kann letztlich nur gemeint sein, dass sie als ursprüngliches Prinzip für alle Synthesis fungiert. Mit Cramers Wor­ ten: »Die Einheit (nämlich das ursprünglich einfache Ich-denke) aber ist nicht ursprünglich synthetisch, sondern Prinzip urspringender Syn­ thesis.«73

Kant sieht durch die Einheit der transzendentalen Apperzeption auch die Einheit des Erkenntnisobjekts gestiftet. Auch hierzu zunächst einige aufschlussreiche Passagen Kants: »Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muß, um für mich Objekt zu werden, weil auf andere Art, und ohne diese Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde.«74

Damit wird die Einheit des Bewusstseins als oberste Bedingung der Möglichkeit der Einheit des Objekts benannt, wodurch ersterer die Objektivität stiftende Funktion zukommt.75 Aus diesem Grund ist für Kant die Einheit des Selbstbewusstseins zugleich auch Bewusstsein

71 72 73 74 75

Vgl. W. Cramer, Die Monade, 39. Kant KrV B 132. W. Cramer, Die Monade, 39. Kant KrV B 138. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 42.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

der Einheit des Objekts in dem Sinne, dass ersteres die Einheit des Objekts verbürgt.76 Kant bringt dies folgendermaßen zum Ausdruck: »Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird. Sie heißt darum objektiv, und muß von der subjektiven Einheit des Bewusstseins unterschieden werden [...]«77

Damit sind einige für Kants Ansatz in der theoretischen Philosophie wesentliche Gedanken skizziert. War es nach Kant unverständlich, wie das Erkenntnissubjekt notwendige Bestimmungen der Dinge an sich erkennen könne, besteht Kants Lösungsvorschlag in der kopernikanischen Wende: Synthetische Urteile a priori kann es nur geben, wenn es das Erkenntnissubjekt ist, das die Notwendigkeit dieser Urteile durch apriorische Momente des Verstandes garantiert. Diese stellten sich in dem Kantischen Ansatz als Verstandeskatego­ rien heraus, welche die Vorstellungen, die dem Subjekt durch die Anschauung gegeben sind, in eine notwendige Verbindung setzen. Somit besteht objektive Erkenntnis nach Kant durch die notwendige Verbindung von Denken und Anschauung und bezieht sich nicht auf Dinge an sich, sondern nur auf Erscheinungen. Dabei garantiert die Einheit des Erkenntnissubjekts auch zugleich die Einheit des Erkennt­ nisgegenstandes. Die mit diesem Ansatz einhergehende Trennung von Ding an sich und Erscheinung wird auch auf das Erkenntnissub­ jekt übertragen, so dass es keine Erkenntnis davon geben kann, was das Subjekt an sich ist.

3.2 Die Grundspannung in Kants Ansatz Kants transzendentalphilosophischer Entwurf ist von zwei Problem­ lagen geprägt, die Kant mit seinem Ansatz zu beseitigen intendierte: 1.

76 77

Die für die Kritik der reinen Vernunft konstitutive Grundfrage, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, ist von Kant dahingehend beantwortet worden, dass diese nur durch die apriorischen Momente der Erkenntnisleistungen des Subjekts verbürgt werden können. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 42. Kant KrV B 140.

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3.2 Die Grundspannung in Kants Ansatz

2.

Mit dieser Hinwendung zum Erkenntnissubjekt war zugleich die Möglichkeit verbunden, die vermeintliche Widersprüchlich­ keit der alten Metaphysik zu beseitigen, die nach Kant aus der methodisch nicht zu legitimierenden Auffassung resultierte, dass das Subjekt Erkenntnisse von Objekten generieren könne, die jenseits der Erfahrung liegen. Zur Aufhebung dieser Wider­ sprüchlichkeit kann man nach Kant nur dann gelangen, wenn man die Erkenntnisfähigkeit – der Kopernikanischen Wende gemäß – auf das Feld der Erfahrung restringiert.

Kant hat seinen Ansatz also gerade so konzipiert, dass er beiden Problemlagen gerecht werden sollte. In beiden Fällen ergibt sich das Problemlösungspotential aus der kopernikanischen Wende, dadurch dass die Notwendigkeit synthetischer Urteile a priori durch das Subjekt verbürgt und aufgrund der Verlagerung der Erkenntnisbedin­ gungen in das Subjekt Erkenntnis selbst nur noch auf Erfahrung angewendet werden kann, womit gleichzeitig der dialektische Schein vermieden werden soll. Die für diese Wende notwendigen methodischen Voraussetzun­ gen beispielsweise in der Setzung der Unterscheidung von »analy­ tisch« und »synthetisch« oder der Unterscheidung »transzendental« und »empirisch« ermöglichen zwar einerseits, einen alternativen Ansatz zu konzipieren, durch den die angesprochenen Problemlagen bewältigt werden können. Andererseits können diese unhinterfragten methodischen Voraussetzungen in Kants Ansatz aufgrund der in ihnen enthaltenen Setzungen nicht mehr so thematisiert werden, dass die für sie erforderliche Begründungsstruktur selbst argumentativ eingeholt werden kann, was letztlich wiederum zu neuen Proble­ men führt. Dies soll beispielhaft an der für den Erkenntnisprozess notwen­ digerweise vorauszusetzenden Bezogenheit von Subjekt- und Welt­ konstitution verdeutlicht werden.78 Denn in dieser Bezogenheit wird ein Zusammenhang von Subjekt und Welt behauptet, der notwen­ dig einen Bezug der Momente »Vorstellendes«, »Vorgestelltes« und »Vorstellung« impliziert. Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie Kants bestünde dann nicht nur darin, die angesprochenen Problem­ lagen zu bewältigen, sie müsste zugleich auch eine nicht zirkuläre 78 Im Folgenden stütze ich mich auf die subtile und erhellende Analyse von Kurt Walter Zeidler. Vgl. K. W. Zeidler, Grundriß der transzendentalen Logik; ders. »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 43–50.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

Theorie zur Begründung des oben genannten Zusammenhangs lie­ fern. Das bedeutet: Soll dieser Zusammenhang nicht einfach behaup­ tet werden, ist die hiermit verbundene Aufgabe die Suche nach einem Prinzip, das die drei Momente als Unterschiedene und zugleich aufeinander Bezogene nicht einfach nur voraussetzt, sondern als Momente einer differenzierten Einheit begründet. Die besondere Herausforderung scheint darin zu bestehen zu zeigen, wie das Vorstel­ lende so auf das Vorgestellte bezogen sein kann, dass dieses zwar in durch die Vorstellung dem Subjekt auf eine subjektive Weise gegeben ist, gleichzeitig aber durch die Vorstellung eine Objektivität des Vorgestellten verbürgt wird. Wird dieser Zusammenhang nicht durch ein Prinzip vermittelt, mündet dies gerade hinsichtlich der Subjektfrage in einer Dichotomie von transzendentalem und empirischem Subjekt, in der das Subjekt einerseits die Instanz sein soll, welche die Subjekt-Objekt-Differenz und damit die Objektivität der Erkenntnis verbürgen soll, andererseits aber genau diese Subjekt-Objekt-Differenz wiederum so voraussetzt, dass das Subjekt die für die Objektivität notwendigen Momente des Zusammenhangs von Vorstellendem, Vorgestelltem und Vorstellung aufgrund der gesetzten methodischen Differenz nicht mehr begrün­ den kann. Dass diese Spannung in Kants Ansatz unauflöslich ist und »selbst zum unbewältigten dialektischen Problem«79 führt, soll kurz anhand der zwei Seiten der Transzendentalen Deduktion, nämlich der Unterscheidung von subjektiver und objektiver Deduktion, illus­ triert werden. Während die objektive Deduktion nach der objektiven Gültigkeit der Verstandeskategorien fragt, wird in der subjektiven Deduktion der Frage nachgegangen, wie das Vermögen zu denken selbst möglich sei.80 Damit käme der subjektiven Deduktion genau die Aufgabe zu, den Zusammenhang von Vorstellendem, Vorgestelltem und Vorstel­ lung so zu entwickeln, dass diese in einer nicht-zirkulären Begrün­ dungsstruktur fundiert werden. Es soll hier kurz illustriert werden, dass Kant aufgrund einiger seiner methodischen Setzungen innerhalb seiner Transzendentalphilosophie nicht in der Lage sein kann, beide Momente der Transzendentalen Deduktion so zu vermitteln, dass

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K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 45. Vgl. KrV A XVI.

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3.2 Die Grundspannung in Kants Ansatz

Welt- und Subjektkonstitution in konsistenter Weise in einem Bezug gedacht werden können.81 Somit sind zwar beide Deduktionen ihrer Anlage nach gemäß der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft als zwei Seiten der einen Transzendentalen Deduktion zu verstehen, doch muss die Vermitt­ lung beider Seiten als Programm angesehen werden, das innerhalb des transzendentalphilosophischen Ansatzes Kants theoretisch nicht bewältigt worden ist. Dies liegt daran, dass die subjektive Deduktion der methodischen Vorgabe der Subjekt-Objekt-Differenz gemäß nur als erkenntnispsy­ chologische Ergänzung der objektiven Deduktion angesehen werden kann82, die notfalls sogar entbehrlich ist. Daher wird allein der objektiven Deduktion die Beweislast für die Objektivität der Verstan­ deskategorien aufgebürdet.83 Als isolierter Beweisgang beinhaltet die objektive Deduktion aber einen Zirkelschluss, denn in ihr wird die Frage nach der objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe mit dem Verweis auf die »Möglichkeit der Erfahrung« beantwor­ tet, die ihrerseits durch die synthetische Einheit der Apperzeption begründet wird:84 »Das Beweisresultat der Deduktion B lautet dementsprechend, daß die Kategorien ›a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung‹ gelten (KrV B 161), weil bewiesen ist, daß wir ›uns keinen Gegenstand denken [können], ohne durch Kategorien‹, wir aber auch ›keinen gedachten Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen [sc. den Kategorien] entsprechen‹ (KrV A 165; Vgl. B 146).«85

Dies setzt aber voraus, dass wir bereits wissen, dass nur dasjenige in Raum und Zeit als bestimmt vorgestellt werden kann, was durch die ursprüngliche Apperzeption apriorisch verbunden wird:86 »Genau dies können wir aber nur wissen, wenn wir das bereits erkannte Objekt und ein diese Erkenntnis leistendes Subjekt voraussetzen, wenn wir also die im Rückblick auf den Erkenntnisgegenstand immer schon Vgl. für eine ähnliche Kritik R. Zocher, »Kants Transzendentale Deduktion der Kategorien«, 161–194. 82 Vgl. K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 48. 83 Vgl. Kant KrV A XVIf. Dort sagt Kant, dass allein die objektive Deduktion für seine Zwecke hinreichend sei. 84 Vgl. K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 46. 85 K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 47. 86 Vgl. K.W. Zeidler, Grundriß der transzendentalen Logik, 50. 81

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

vermittelte Differenz von empirischer Realität und transzendentaler Idealität der Anschauungsformen Raum und Zeit, sowie die im Aus­ blick auf das Subjekt dieser Gegenstandserkenntnis zu postulierende Vollständigkeit des Kategoriensystems bereits voraussetzen.«87

Die objektive Deduktion funktioniert also nur, wenn ein solches Kon­ zept des Subjekts samt der in Anspruch genommenen Verstandeska­ tegorien und deren Funktionen für den Erkenntnisprozess bereits vorausgesetzt wird. Der eigentlich zu begründende Zusammenhang von Transzen­ dentaler Ästhetik, Metaphysischer Deduktion und Transzendentaler Deduktion, der seinerseits für eine nicht-zirkuläre Fundierung des Zusammenhangs von Vorstellendem, Vorgestelltem und Vorstellung konstitutiv wäre und damit auch eine Begründung der Objektivi­ tät der Verstandeskategorien leisten würde, kann von der subjekti­ ven Deduktion nicht geleistet werden, da sich diese aufgrund der methodischen Unterscheidungen nur auf »eine vermögenspsycholo­ gische Umschreibung des Beweisziels der objektiven Deduktion«88 beschränken kann. Kants eigene methodische Voraussetzungen ver­ hindern gewissermaßen die Möglichkeit ihrer zirkelfreien Begrün­ dung. Eben weil die subjektive Deduktion diese Begründung aufgrund der methodischen Setzungen nicht leisten kann, bezieht sich Kant eben im Kontext der objektiven Gültigkeit nur auf den Grundge­ danken der objektiven Deduktion, dass nämlich die Einheit, die der Gegenstand notwendig voraussetzen müsse, selbst nun eben in der »formale[n] Einheit des Bewußtseins in der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen«89 zu suchen sei, die aber selbst nicht weiter bestimmt wird:90 »Nun möchte man erwarten, daß Kant diese ›formale Einheit des Bewußtseins‹ bestimmt, indem er aufzeigt, wie sie ›alles Mannig­ faltige […] auf Bedingungen ein[schränkt], welche die Einheit der Apperzeption möglich machen‹ (KrV A 105). Genau dies unterläßt Kant jedoch.«91

87 Vgl. K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 47; K.W. Zeidler, Grundriß der transzendentalen Logik, 51. 88 K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 47. 89 KrV A 105. 90 Vgl. K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 47; ders., Grundriß der transzendentalen Logik, 57. 91 K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 47.

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

Damit unterlässt es Kant, den geforderten Zusammenhang syste­ matisch zu entwickeln, und insistiert stattdessen in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft auf der Ursprünglichkeit und Faktizität der transzendentalen Apperzeption als eines synthetischen Prinzips hinsichtlich der faktischen Geltung von synthetischen Urtei­ len a priori in Mathematik und Naturwissenschaften, wobei eben wiederum das Verhältnis von Ursprünglichkeit und Faktizität nicht geklärt wird.92 Als Resultat dieser Überlegungen ergibt sich für eine Philo­ sophie, die dem Begründungsanspruch des Konstitutionsverhältnis­ ses von Subjekt und Welt gerecht werden möchte, die Aufgabe, den Zusammenhang von Vorstellendem (Subjekt), Vorgestelltem (Gegenstand) und Vorstellung (Denken) so zu entwickeln, dass diese als Momente von nicht zu reduzierenden Erkenntnisbezügen expli­ ziert werden können. Genau dies ist der Anspruch des philosophi­ schen Ansatzes von Cramer, der auch aus diesem Grund an mehreren Stellen Kritik an Kant geübt hat.

3.3 Cramers kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Konzeption des transzendentalen Subjekts Die im vorherigen Abschnitt skizzierte Grundspannung, die aufgrund der methodischen Voraussetzungen Kants in seinem Ansatz unauf­ löslich ist, ist auch von Cramer an verschiedenen Stellen detailliert problematisiert worden. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass sein eigener Entwurf wesentlich dadurch charakterisiert wer­ den kann, dass in ihm der prinzipielle Zusammenhang von Vorstel­ lung, Vorstellendem und Vorstellen begründet werden soll, der die Überwindung der dialektischen Probleme der Kantischen Philoso­ phie ermöglicht. Bezüglich seiner Kritik an Kant hat Cramer vor allem zentrale Punkte der Konzeption des transzendentalen Subjekts problemati­ siert, die sich vor allem auf (1) die Unerkennbarkeit des transzen­ dentalen Subjekts, (2) die transzendentale Konzeption der Zeit und (3) die Problematik des Verhältnisses von transzendentalem und empirischem Subjekt richtet. 92 Vgl. K. W. Zeidler, »Die Wesentlichkeit einer subjektiven Deduktion«, 48; ders., Grundriß der transzendentalen Logik, 57.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

Cramers Kritik führt zunächst zu dem Gedankenexperiment des radikalen Zweifels, durch den die Kantische Konzeption des trans­ zendentalen Subjekts als nur gedacht notwendig überwunden wird. Diese Grundbestimmung des Subjekts im Kontext eines negativen Seinsbegriffs, der zunächst nur besagt, dass etwas nicht nur gedacht ist, bietet zum einen die Basis für weitere inhaltliche Qualifikationen, wie dies später in Cramers Theorie der Subjektivität weiter ausgeführt wird. Zum anderen bietet ein solchermaßen bestimmtes Subjekt auch die Grundlage, die von Kant behauptete Meinigkeit der Vorstellungen sowie die Einheit des Erkenntnisgegenstandes durch die Einheit des Subjekts konsistent zu denken und zu begründen.

3.3.1 Die notwendige Minimalbestimmung des Subjekts Cramer stimmt mit Kant darin überein, dass man in einer philosophi­ schen Erörterung unserer Erkenntnisvermögen nicht einfach davon ausgehen kann, dass das Erkenntnissubjekt die Wirklichkeit, wie sie an sich ist, erkennen kann. Diese Annahme eines Realismus muss legitimiert werden, wofür eine philosophische Untersuchung unseres Erkenntnisvermögens notwendig ist. Möchte man einen naiven Realismus vermeiden, nach dem einfach behauptet wird, dass die Gedankenbestimmungen Gegenstandsbestimmungen sind, so dass die Behauptung unterstellt wird, dass die Erkenntnis eines Gegenstands den Gegenstand an sich treffe, dann ist zunächst die Unterscheidung von Wirklichkeit, wie sie an sich bestimmt ist, in Cra­ mers Terminologie »Bestimmtes-an-sich«, und Wirklichkeit, wie sie dem Subjekt erscheint, »Bestimmtes-für«, notwendig und legitimiert. Die entscheidende Frage ist aber, ob diese Unterscheidung konsistent auf alle Phänomene angewendet werden kann. Um nicht Gefahr zu laufen, einfach dogmatisch anzunehmen, dass das Erkenntnissubjekt dieser Unterscheidung enthoben ist, indem man versucht, im Fahr­ wasser der vorkritischen Metaphysik eine rationale Psychologie zu entwerfen, in der das Subjekt einfach metaphysisch z. B. als Substanz bestimmt wird, wendet Kant diese Unterscheidung auch auf das Erkenntnissubjekt an. In der Konzeption des transzendentalen Sub­ jekts weiß das Erkenntnissubjekt zwar, dass es das jedem Gedanken zugrundeliegende Subjekt ist. Da aber der dafür notwendige »Ich denke«-Gedanke nicht anschauungsfähig ist, kann über das Dasein

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

nichts weiter gewusst werden. Nach Kant ist das »Ich denke« somit ein einfacher und leerer Gedanke ohne weitere Struktur. Für die Cramersche Kritik dieser Übertragung der Unterschei­ dung von »Bestimmtes-an-sich« und »Bestimmtes-für« auf das Erkenntnissubjekt ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, wie das darin vorkommende Moment »Bestimmtes-an-sich« bestimmt ist: In ihm wird eine minimale Unabhängigkeit der gedachten Sache bzw. des gedachten Sachverhalts gedacht: Das Denken bestimmt eine Sache und denkt zugleich, dass die gedachte Bestimmung auch gültig ist, wenn sie nicht gedacht ist. Der Sache kommt die Bestimmung zu, gleichgültig, ob das erkennende Subjekt die Bestimmung erkennt oder nicht erkennt. Damit ist dem Denken ein Ist-Anspruch wesent­ lich, da durch diesen im Denken zugleich ausgesagt wird: »nicht nur gedacht« oder »gleichgültig, ob es gedacht wird oder nicht«.93 Dieser Ist-Anspruch begleitet das Denken in alltäglichen Gegenstandser­ kenntnissen. So wird beispielsweise in der Erkenntnis »Dort drüben steht ein Baum« zugleich mitgedacht, dass der Baum als Baum auch unabhängig von dieser Erkenntnis existiert. Die philosophische Frage lautet nun: Wie ist dieser Ist-Anspruch zu legitimieren? Cramer zufolge ist es nun aber das notwendige Verhältnis von Gedanke bzw. Erfassen von Bestimmtheit und Subjekt, das diese strikte Trennung begrenzt. Denn gerade diese Unterscheidung ist nur dann sinnvoll und durchführbar, wenn das Subjekt selbst als »Bestimmtes-an-sich« aufgefasst wird, so dass es nicht in »Bestimm­ tes-für« aufgelöst werden kann. Dem würde zwar auch Kant zustim­ men, allerdings mit der Einschränkung, dass das Moment des »Bestimmtes-an-sich« im Subjekt unerkennbar ist. Dies ist aber nach Cramer aufgrund der notwendigen Struktur des Verhältnisses von Gedanke und Subjekt letztlich nicht haltbar. Der für Cramer grundlegende Gedankengang ergibt sich aus dem Gedankenexperiment des radikalen Zweifels, das später noch im Kontext von Cramers eigener Konzeption ausführlicher diskutiert werden wird. In dem Kontext der Kritik an Kant soll hier kurz das Hauptargument angeführt und für die Kritik an Kant fruchtbar gemacht werden. Wird durch den Ich-Gedanken überhaupt erst die Differenz von »Bestimmtes-an-sich« und »Bestimmtes-Für« konstituiert, so dass 93 Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 6; W. Cra­ mer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 110.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

zunächst der Ist-Anspruch des Denkens eingeklammert werden muss, erweist sich der Ich-Gedanke als erster und ausgezeichneter Realitäts­ gedanke, der nicht außer Geltung gesetzt werden kann und deshalb ursprünglich ist.94 Denn im Ich-Gedanken ist der Realitätsanspruch unmittelbar erfüllt. Dies ist deswegen der Fall, weil Gedanken nicht einfach in der Welt vorkommen, sondern immer Gedanken eines denkenden Subjekts sind, das eben nicht nur gedacht sein kann und zugleich in einem Binnenverhältnis zu den Gedanken stehen muss.95 Daher weiß das denkende Subjekt im Ich-Gedanken, dass es selbst nicht nur Gedanke ist, sondern dass es selbst der Ursprung des Gedankens ist, und kann so minimal im Rahmen eines negativen Seinsbegriffs bestimmt werden: Das denkende Subjekt ist nicht nur gedacht, weil es der Ursprung und die notwendige Instanz dieses Bestimmungs- und Rechtfertigungsversuchs ist.96 Somit ist der Ich-Gedanke der ausgezeichnete Gedanke, in dem in einem Gedanken gewusst wird, dass es etwas gibt, das nicht nur Gedanke ist. Die ontologische Implikation dieses Gedankens kann nicht mehr sinnvoll bezweifelt werden, denn in dem Fall, in dem man den Ich-Gedanken nur für einen Gedanken mit nicht eingelöstem Ist-Anspruch hält, wird die Bestimmung des Gedanke-seins ausge­ höhlt und unterlaufen, weil es eine notwendige Bestimmung von Gedanken ist, Gedanken eines denkenden Subjekts zu sein.97 Somit nimmt auch eine mögliche Kritik, die behauptet, dass das »Ich« nur Gedanke sei, seinen ontologischen Status als nicht nur gedacht schon in Anspruch, da es in dem Gedanken »Das ich ist nur Gedanke« schon

94 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 14; W. Cramer, Die absolute Reflexion, 114f., W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealis­ mus«, 6. 95 Dies ist natürlich auch dann der Fall, wenn scheinbare »objektive« Bestimmungen der Welt in den Naturwissenschaften scheinbar ohne Subjektbezug erfasst werden. Diese Auffassung fokussiert sich dann ganz auf den Anspruch des Denkens, Bestimm­ tes an sich zu erfassen, wobei aber die subjektivitätstheoretische Voraussetzung dieses Wissens und die ihr zugrundeliegende Struktur als Prozesse des Denkens von Subjekten ganz vernachlässigt wird. Auch in diesem Fall wird natürlich Denken als Bestimmen vorausgesetzt. 96 Vgl. dazu z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 13. 97 Vgl. W. Kersting, »Der ursprüngliche Realitätsgedanke ›ich denke‹. Wolfgang Cramers cartesianische Meditationen«, 44–48.

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

die Unterscheidung von Gedanke und dem Denker als Ursprung des Gedankens, der eben nicht nur gedacht ist, voraussetzt.98 Aus diesem Grund ist also der Ist-Anspruch des Ich-Gedankens unmittelbar gerechtfertigt, und somit überschreitet sich das Denken in diesem Gedanken zu einem Sein, das so bestimmt ist, dass seine Bestimmung als Ursprung des Denkens im Gedanken »Ich denke« unabhängig davon ist, ob dieser gedacht wird oder nicht. Das bedeutet auch, dass das Denken diese Bestimmungen in jedem anderen Gedan­ ken bereits voraussetzt. Damit fällt in dem Ich-Gedanken das »Bestimmtsein-für« mit dem »Bestimmtsein-an-sich« zusammen, und das »Bestimmtseinfür« kann es nur geben, wenn das denkende Subjekt ein »Bestimmtesan-sich« ist. Es muss ein denkendes Subjekt geben, das die Qualität besitzt, Gedanken zu erzeugen bzw. zu haben, wenn es Gedanken geben soll. Es ist somit etwas Bestimmtes-an-sich, wenn es gleichzei­ tig – und das ist die Voraussetzung allen Erlebens, Denken und Zwei­ felns – auch die Voraussetzung des »Bestimmtseins-Für« ist, denn die Herabstufung der Erkenntnisansprüche in diesem Modus setzt ein seiendes Subjekt mit gewissen Qualitäten voraus. Vorstellungen und Erscheinungen als solche sind als Konzept nur dann konsistent zu denken, wenn es eine Instanz gibt, die nicht selbst Vorstellung oder Erscheinung ist, sondern als dasjenige existiert, was Vorstellungen oder Erscheinungen hat.99 Gerade in der Hervorbringung von Gedanken und in der Refle­ xion auf die Bedingungen dieser Hervorbringung im Ich-Gedanken transzendiert sich das Bewusstsein selbst zu einem legitimierten IstAnspruch und bestimmt sich, nicht nur Gedanke zu sein. Damit wird letztlich durch die Hervorbringung des Ich-Gedankens gewusst, dass das Ich nicht nur Gedanke, sondern Ursprung des Gedankens ist.100 Ist das Subjekt also durch einen negativen Seinsbegriff aufgrund der Unterscheidung von Gedanke und Denken gerechtfertigt, so ist es diese Unterscheidung, die das Subjekt zunächst formal qualifiziert: Es ist Ursprung der Gedanken. Dies ist der Ausgangspunkt für weitere inhaltliche Qualifikationen, die sein Ursprungsein weiter bestimmen. Wie später in der systematischen Entfaltung der Cramerschen Theo­ 98 Vgl. W. Cramer, »Aufgaben und Methoden einer Kategorienlehre«, 351. Ähnlich auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 112f. 99 Vgl. dazu z. B. W. Kersting, »Der ursprüngliche Realitätsgedanke ›ich denke‹. Wolfgang Cramers cartesianische Meditationen«, 47. 100 Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 6f.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

rie der Subjektivität noch zu sehen sein wird, ist das Subjekt ein zeitliches Zeugen der Gedanken, wobei das Zeugen eine reflexive Struktur besitzt. Denn Gedanken sind nicht unabhängig vom Denken schon fertige Sachverhalte, die schon vor dem Denken sind und auf die sich dann das Denken nur noch bezieht. Sie fallen auch nicht unmittelbar ins Denken, werden nicht einfach vom Denken vorgefunden, sondern werden vom denkenden Subjekt erzeugt. Einmal produziert, sind die Gedanken nicht für etwas außerhalb des Denkens, sondern dann auch wieder für das Denken. Damit zeugt sich das Denken Gedanken (ist also Ursprung des Denkens), und dieser Akt des Zeugens ist als Resultat wiederum für das Denken. Somit kann Denken in einem Verhältnis erfasst werden, das aus drei zusammenhängenden, aber nicht aufeinander reduzierbaren Momente besteht: »Ursprung des Zeugens«, »Zeugen« und »Gezeugtes«. Dabei handelt es sich um ein Binnenverhältnis, das sich dadurch auszeichnet, dass es in seinen Momenten keine Außenverhältnisse hat. Diese reflexive Binnenstruktur »Ursprung des Zeugens – Zeu­ gen – Gezeugtes« ist die Grundstruktur der Subjektivität und macht nun eine minimale Bestimmung des Subjekts möglich. Das denkende Subjekt ist nicht nichts, es ist somit mehr als nur Gedanke, ist mehr als nur gedacht. Es ist ein Seiendes, das durch das Verhältnis von Gedanke und Denken qualifiziert werden kann: Es ist eben der Ursprung des Denkens als eine bestimmte Art des Zeugens.101 Insofern stimmt Cramer Kant darin zu, dass der Ich-Gedanke eine spontan erzeugte Vorstellung ist. Allerdings lässt sich daraus gerade nicht ableiten, dass das damit bezeichnete Subjekt unerkennbar oder unqualifizierbar wäre. Das Ich ist zwar kein Gegenstand wie ein Ding, denn jeder Gegenstand und jeder Gedanke ist für es. Es kann sich zwar im Ich-Gedanken denken, es selbst ist aber nicht der Ich-Gedanke, es ist vielmehr Bedingung aller Gedanken. Deshalb hat es zwar einen anderen Status als andere Gegenstände der Erkenntnis, aber seine prinzipielle Unerkennbarkeit kann damit nicht behauptet werden, weil diese Argumentation sich selbst aufhebt:102 1. Es ist ja bestimmt als dasjenige, was immer noch Bedingung aller Gedanken ist. 2. Es ist in diesem Gedanken der Unerkennbarkeit des Subjekts noch gemeint, 101 Für eine ausführlichere Begründung dieses Gedankenganges siehe die Punkte 5.5 und 5.6. 102 Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 11.

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

dass es notwendig sei, dass es ein alle Gedanken Bedingendes gebe. 3. Es wird angenommen, dass Gedanken nur als die Gedanken dieses Subjekts sein können, wodurch dem Subjekt einige Bestimmungen hinsichtlich des Hervorbringens der Gedanken muss zugeschrieben werden können. »Daher ist die Argumentation gänzlich ungereimt. Denn sie sagt in der Tat nichts anderes als: weil das Ich das und das ist, ist es unerkennbar. Sie hat das Ich schon bestimmt und erkannt und will nun auf Grund dessen, daß sie es erkannt hat, begründen, daß es unerkennbar sei.«103

Deswegen ist die Kantische Trennung von Dasein und Qualität im Gedanken »Ich denke« in ihrer Striktheit nicht aufrechtzuerhalten. Denn im Ich-Gedanken wird nicht ein qualitätsloses Dasein gedacht, sondern aufgrund der Notwendigkeit, das Ich »hinter« seinen Gedan­ ken als Ursprung zu denken, müssen ihm hinsichtlich seiner Bezie­ hung zur Erzeugung seiner Gedanken notwendig einige Qualitäten zugesprochen werden. Sie wurzeln eben darin, dass das Ich notwendi­ gerweise Ursprung dieser Gedanken ist.104 Darüber hinaus hätte die Behauptung der Unerkennbarkeit des Erkenntnissubjekts auch die Folge, dass sich zentrale Konzepte wie »Erscheinung« nicht mehr konsistent denken lassen, denn »eine Erscheinung ist Erscheinung im Erscheinen der Erscheinung, und sie erscheint dem Ausgang des Erscheinens, dem Ich.«105 Es würde also keinen Sinn ergeben, das Ich als Erscheinung zu qualifizieren. Vielmehr ist dieses Ich als dasjenige, dem Erscheinungen sind, quali­ fiziert, und deshalb ist es selbst immer mehr als Erscheinung, ist die in sich bestimmte Instanz, die die Bedingung von Erscheinung ist. Das Gleiche gilt für den Begriff des Gegebenen, denn dieser besagt ja nicht einfach eine vom Subjekt unabhängige Existenz, sondern verweist auf die Beziehung zu einem »Ich«, dem etwas gegeben ist.106 Und auch in dieser Struktur des Gegebenen muss das Subjekt einen Anteil als Ursprung des Gegebenen haben, weil anderenfalls nicht klar wäre, wie es sich auf etwas beziehen könnte, was strikt von ihm getrennt ist.107 Damit würde die strikte Lehre der Unerkennbarkeit W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 11. Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«,11. 105 W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 11. 106 Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 12. 107 Wie dieses komplexe Verhältnis des passiven und des aktiven Moments in dem Subjekt Gegebenen gedacht werden muss, dazu ausführlicher Punkt 5.8. 103

104

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

des Subjekts nicht nur den eigentlichen und genuinen Zusammen­ hang von Subjekt und Gedanke zerstören, zugleich wäre damit auch eine Sinnentleerung der Konzepte »Vorstellung«, »Anschauung«, »Denken« und »Erscheinung« gegeben, die ja eine Unterscheidung von »Bestimmtes-an-sich« und »Bestimmtes-für« erst ermöglichen. Nimmt man die in der Struktur des Verhältnisses von Gedanke und Subjekt ernst, dann kommt man zu folgender Definition des Subjekts: »Ein Subjekt ist ein Bestimmtes von einer Bestimmtheitsform, nämlich ein derart Bestimmtes, daß etwas (Erlebtes, Vorgestelltes, Gedachtes, Gegenstände) für es ist, daß ihm etwas ist. Es ist prinzipiell das Haben von etwas.«108

Es ist schon jetzt darauf hinzuweisen, dass die Bestimmbarkeit des Subjekts nicht impliziert, dass man es wie sinnliche Gegenstände bestimmen könne. Die von Cramer angeführten Bestimmungen sind Minimalbestimmungen, die durch die Erkenntnisstruktur notwendig gegeben und unhintergehbar sind. Der Anspruch der Cramerschen Theorie der Subjektivität ist es, alle Bestimmungen der konkreten Subjektivität nur aus der unhintergehbaren Struktur der Subjektivität selbst abzuleiten. Aufgrund dieser daraus abgeleiteten ontologischen Minimalbestimmungen des Subjekts fällt Cramers Konzeption auch nicht der Paralogismus-Kritik zum Opfer.

3.3.2 Die transzendentale Realität der Zeit In der transzendentalen Ästhetik werden von Kant Raum und Zeit als apriorische Anschauungsformen herausgearbeitet, wodurch sie als die Formen bestimmt worden sind, mit denen Gegenstände der Erschei­ nung geordnet werden. Dabei möchte Kant nicht beweisen, dass ein Subjekt notwendigerweise die Anschauungsform der Zeit haben muss. Kant geht vielmehr von dem Faktum des Zeitbewusstseins aus, anhand dessen er dann aufweisen kann, dass alle Erscheinungen des Subjekts allein in der Form der Zeit gegeben sein müssen. Allerdings geht Kant über diesen Nachweis auch hinaus, indem dann aus der Notwendigkeit, dass alle Erscheinungen in der Zeit gegeben sein müssen, geschlussfolgert wird, dass damit die Zeit lediglich eine subjektive Form der Anschauung sei. Als Anschauungsformen sind 108

W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 12.

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

Raum und Zeit damit lediglich für die Gegenstände der Erscheinung konstitutiv, über die Dinge an sich können sie nichts aussagen: »Die Zeit ist transzendental ideal heißt demnach: die Zeit ist Form des möglichen Gegebenseins von Erscheinungen. Von dem Subjekte abge­ sehen, welchem Erscheinungen gegeben sind, ist die Zeit nichts.«109

Aufgrund der Unerkennbarkeit des transzendentalen Subjekts bezieht sich diese nach Kant konsequenterweise auch auf seine zeitli­ che Verfasstheit. Da die Zeit nur eine apriorische Anschauungsform ist, sich also nur auf Erscheinungen bezieht, kann das transzendentale Subjekt selbst nicht zeitlich sein. Nach Cramer ergibt sich hinsichtlich der Transzendentalität der Zeit ein nicht zu beseitigender Einwand. Ausgangspunkt hierfür ist die genauere Analyse der Erscheinung, die als solche das Subjekt vor­ aussetzt, dem diese Erscheinung ist. Nach Cramer ist es ja geradezu die Definition des Subjekts, dass dieses das Haben von Erlebtem, Vor­ gestelltem usw. ist.110 Dass dieses Subjekt im Denken, Vorstellen und Erleben selbst zeitlich ist, lässt sich an folgendem Beispiel deutlich machen: Wenn einem Subjekt zwei Erscheinungen A und B in der Zeit gegeben sind, dann bedeutet dies, dass A und B zeitlich aufeinander folgen, was besagt, dass das Subjekt zuerst die Erscheinung A hat und dann die Erscheinung B. Aus diesem Grund muss das Haben der Erscheinung, also das Subjekt, selbst zeitlich sein. Dem Argument kann man nicht entgehen, indem man das Haben auf eine Metaebene verlegt, und somit sozusagen noch einmal eine Ebene der inneren Erscheinung annimmt, so dass das Haben selbst eine Erscheinung wäre.111 Denn sowohl die Behauptung, dass das Haben dem Subjekt noch erscheinen soll, als auch die Möglichkeit, dass dem Subjekt sein Haben der Erscheinung noch zeitlich erscheint, wenn das Subjekt selbst noch eine Erscheinung von seinem Haben hat, setzen ein zeitliches Haben schon voraus, nach dem ihm erst das eine und dann das andere erscheint. In jedem Fall kann das Haben einer Erscheinung keine Erscheinung mehr sein, und somit ist das Haben einer Erscheinung selbst zeitlich.112 Gegen dieses Argument lässt sich nicht einwenden, dass even­ tuell die gedachten Inhalte, beispielsweise eine logische Relation, 109 110 111 112

W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 28. Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 12. Vgl. dazu auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 55f. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 29.

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zeitlos sind und deshalb das transzendentale Subjekt auch zeitlos sein müsse. Denn betrachtet man nur apriorische Verbindungen wie mathematische Sätze oder logische Relationen, so kann man zwar behaupten, dass diese zeitlos seien oder zumindest nicht von der Zeit abhingen. Aber dies sollte nicht verwundern, denn man betrachtet hier bereits eine Abstraktion. Es mögen die logischen Relationen keinen Zeitbezug haben; die Erkenntnisprozesse, die sich mit diesen Relationen beschäftigen bzw. die diese Relationen miteinander in ein Verhältnis setzen, sind hingegen unhintergehbar zeitlich. Mit dieser Erörterung lässt sich aber auch noch mehr über die nach Kant X-hafte Dimension folgern, die das Subjekt affiziert: Wenn in dem oben genannten Beispiel zuerst die Erscheinung A und dann die Erscheinung B erscheint, dann sagt dies eben nicht nur etwas über das Subjekt, sondern auch über das unbekannte X aus, das das Subjekt affiziert. Dieses muss selbst zeitlich bestimmt sein, denn nach der Affektionstheorie muss die Abfolge der konkreten materialen Erscheinungen ihren Grund in dem affizierenden X haben. Das affi­ zierende X muss also selbst zeitlich sein, denn anderenfalls gäbe es überhaupt kein Grund für die konkrete Abfolge der Erscheinungen. Klar ist zudem, dass die Abfolge nicht durch Kants Kategorie der Kausalität erklärt werden kann, denn diese verknüpft lediglich zwei Erscheinungen derart, dass die eine Erscheinung die Bedingung für die andere sein soll. Dies setzt aber die konkrete Abfolge der Erscheinun­ gen bereits voraus. Die Kategorie der Kausalität kann also gar nicht veranlassen, dass zwei Erscheinungen aufeinander folgen.113 Daraus folgt, dass eben der Aspekt des Subjekts, der nicht Bewusstsein ist, auch zeitlich bestimmt sein muss. Herauszufinden, wie diese Zeitord­ nung von Subjekt-Organismus-Natur konkret gedacht werden muss, ist dann Aufgabe einer Theorie der konkreten Subjektivität, wie sie später ausgeführt werden wird. Mit diesen Überlegungen zum Phänomen der Zeit möchte Cra­ mer keineswegs negieren, dass die Zeit eine Form der Anschauung ist. Erscheinungen können aber nur dann in der Form der Zeit gegeben sein, wenn das Vorstellen und das Haben an sich selbst zeitlich sind.114 Zeit ist somit eben nicht nur eine Form der Anschauung, sondern als unhintergehbare Bestimmung des Erkenntnissubjekts selbst eine Bestimmung von in sich Bestimmtem: Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 56. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 29; W. Cramer, Die absolute Reflexion, 55.

113 114

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

»Das Subjekt ist an sich das Haben, es ist an sich ein solches, welchem etwas für es ist, welches etwas tätigt, erlebt. Und eben das Subjekt in seinem Tätigen ist zeitlich.«115

Insofern muss auch hinsichtlich der zeitlichen Verfasstheit des trans­ zendentalen Subjekts über die Annahme seiner Unerkennbarkeit hinausgegangen werden. Denn insofern dieses im Gedanken »Ich denke« lediglich weiß, dass es das dem Denken Zugrundeliegende ist und nur um sein Dasein wissen können soll, muss auch dieses Dasein noch zeitlich bestimmt werden, weil das Haben, das Denken und das Vorstellen an sich zeitlich sind.116 Demnach muss sich auch die Iden­ tität des Subjekts als Denkendes, Anschauendes und Vorstellendes in der Zeit durchhalten, so dass das Subjekt – wie sich später in der Analyse der Cramerschen Theorie der Subjektivität noch ergeben wird – nur als eine bestimmte Art der Dauer bestimmt werden kann.

3.3.3 Die Problematik des empirischen Subjekts Das transzendentale Subjekt ist bei Kant die apriorische Bedingung jeder Synthesis und damit formaler Einheitspunkt, von dem gewusst werden kann, dass es das Subjekt jedes Gedanken ist. Gemäß der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich und deren Anwen­ dung auch auf das Erkenntnissubjekt kann aber über das transzen­ dentale Subjekt nicht mehr als sein Dasein ausgesagt werden. Eine weitere Qualifikation ist nach Kant ja deswegen nicht möglich, weil dem Gedanken des »Ich denke« jeglicher Anschauungscharakter fehlt. Dementsprechend können auch keine inhaltlichen Qualitäten des transzendentalen Subjekts erkannt werden. Da das transzendentale Subjekt sich selbst affiziert, erscheint es sich selbst, wodurch dann auch eine Erkenntnis der empirischen Merkmale des Subjekts mög­ lich ist. Cramer zufolge sieht sich diese Konzeption mit einigen Schwie­ rigkeiten konfrontiert, die sich innerhalb des Kantischen Ansatzes nicht mehr lösen lassen. Zunächst ist das Grundkonzept noch einmal zu klären: Das empirische Subjekt muss selbst Erscheinung sein bzw. es muss sich konzipieren lassen als gemäß der Synthesis vereinigte 115 116

W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 30. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 56.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

Einheit von Erscheinungen. Da das empirische Subjekt eben als Subjekt konzipiert ist, kommt als affizierendes Ding an sich nur das transzendentale Subjekt in Frage. Man kann also sagen, dass sich im empirischen Subjekt das transzendentale Subjekt selbst erscheint.117 Damit sind nach Cramer drei Möglichkeiten denkbar, wie die­ ses Erscheinen selbst zu denken ist: 1. als äußere Erscheinung, 2. als innere Erscheinung oder 3. als Erscheinung innerer ursprüngli­ cher Zustände: 1.

2.

117 118

Sofern es sich in einer äußeren Erscheinung erscheint, ist zunächst nicht einzusehen, warum es sich in einer äußeren Erscheinung erscheinen muss und wie diese Affektion zu den­ ken ist. Da das transzendentale Subjekt nur weiß, dass es das Denkende und Anschauende ist, muss in der äußeren Selbst­ erscheinung derjenige Aspekt des transzendentalen Subjekts erscheinen, der für es unerkennbar bleibt. Dieses Anderssein des transzendentalen Aspekts muss nun in einer äußeren Erschei­ nung erscheinen. Dadurch, dass aber der unbestimmbare Aspekt dem transzendentalen Subjekt erscheint, ist nicht mehr ein­ zusehen, wie sich dieses die äußere Selbsterscheinung selbst zuschreiben kann. Denn dazu müsste es wissen, welche äußere Erscheinung dem unbestimmbaren Aspekt zugeschrieben wer­ den müsste, was aufgrund seiner Unerkennbarkeit nicht mög­ lich ist.118 Probleme entstehen auch dann, wenn das empirische Subjekt als innere Erscheinung aufgefasst wird: Denn dann wären seine Erscheinungen nur Erscheinungen von Erscheinungen. In die­ sem Sinne wäre eine äußere Erscheinung als das Haben bzw. das Vorstellen selbst eine innere Erscheinung. Damit wäre aber gerade nichts anderes über das Subjekt ausgesagt, als dass es als Subjekt dasjenige ist, was Erscheinungen hat, denn es wäre in diesem Fall ja nur über das Haben von Vorstellungen etwas ausgesagt, nicht aber über weitere empirische Gehalte des Subjekts. Die konkreten Inhalte der Erscheinungen könnte es wiederum nicht sich zurechnen, weil in diesem Fall der Inhalt

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 60. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 60.

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

3.

der Erscheinung sich nur auf die Struktur des Habens der Erschei­ nung bezöge.119 Es bliebe also nur die Möglichkeit übrig, dass ursprüngliche innere Zustände wie Freude oder Schmerz dem Subjekt erschei­ nen. Da diese Zustände aber wohl mit der unerkennbaren Seite des Subjekts in Verbindung stehen müssten, bleibt auch hier die Frage, wie es diese Zustände als Zustände seiner selbst qualifizie­ ren können soll, bleibt doch der dafür notwendige Bezugspunkt durch seine Unerkennbarkeit charakterisiert.120

Die obigen Ausführungen haben bereits zentrale Kritikpunkte Cra­ mers an Kant deutlich gemacht. Es gibt Cramer zufolge aber in Kants Konzeption hinsichtlich der Funktionen und des Status des transzendentalen Subjekts auch darüber hinaus weitere Punkte, die ein Hinausgehen über Kant notwendig erscheinen lassen. Denn nach Cramer impliziert die Kantische Konzeption der Transzendentalphilo­ sophie Bestimmungen, die die Unerkennbarkeit des transzendentalen Subjekts notwendigerweise aufhebt: Die transzendentale Apperzep­ tion wird zwar als spontane Vorstellung angesehen, doch wird der for­ malen Qualifikation, die dieses Hervorbringen impliziert, von Kant nicht der angemessene Stellenwert eingeräumt. Die transzendentale Apperzeption muss demnach als das Selbstbewusstsein gedacht wer­ den, das die Vorstellung »Ich denke« hervorbringt. Damit muss die transzendentale Apperzeption als Ursprung dieser Vorstellung qualifiziert werden.121 Diese Hervorbringung eines Gedankens, der selbst wieder für das Selbstbewusstsein als Bestimmung ist, ist nach Cramer die formale Grundstruktur der Subjektivität, die es später in seinem eigenen Ansatz weiter zu begründen und zu entfalten gilt. Darüber hinaus ist in Kants Konzeption Folgendes zu klären: Sowohl das »Ich denke« als auch das Mannigfaltige werden in dem­ selben Subjekt angetroffen. Die hierfür vorausgesetzte Selbigkeit des Subjekts, in dem beide angetroffen werden, muss die Bedingung dafür sein, dass sich das »Ich denke« auf das Mannigfaltige, das schon im Subjekt angetroffen wird, bezogen werden kann.122 Dies setzt voraus,

119 120 121 122

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 60. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 61. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 37. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 37.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

dass es zur Bestimmtheit des transzendentalen Subjekts gehört, dass in ihm ein Mannigfaltiges vorgefunden wird.123 Hieran schließen sich die Fragen an, wie die Selbigkeit des Subjekts sowie die Einigung des Mannigfaltigen mit der Einfachheit des »Ich denke« im Subjekt konzipiert werden müssen. Wie noch weiter zu entfalten sein wird, setzen diese Fragen nach Cramer eine in sich strukturierte Einheit des Subjekts voraus, die nicht einfach mit der »Einfachheit« der transzendentalen Apperzeption identifiziert werden kann.124 Die angezielten Funktionen der transzendentalen Apperzeption lassen sich nur dann konsistent denken, wenn diese in sich eine bestimmte Struktur besitzt, so dass man über die Kantische Charakterisierung der Einfachheit der transzendentalen Apperzep­ tion trotz des Fehlens ihres anschaulichen Charakters hinauszuge­ hen hat. Dass beide Punkte bei Kant selbst nicht geklärt werden können, ergab sich schon in der Analyse von Kants Versuch der Verhältnisbe­ stimmung von analytischer Einheit der transzendentalen Apperzep­ tion und ihrer ursprünglichen Funktion als Prinzip aller Synthesis. Denn nach Kants Analyse muss es der transzendentalen Apperzeption auch zugesprochen werden, ursprünglich Funktion zu sein, denn durch diese Funktion wird garantiert, dass alle Vorstellungen unter dem Prinzip der transzendentalen Apperzeption stehen, die auf das identische »Ich denke« müssen bezogen werden können.125 Nimmt man diese Bestimmung auf und denkt sie weiter, dann ist nach Cramer die Identität des transzendentalen Subjekts nicht so zu denken, dass dieses von seiner eigenen Tätigkeit getrennt wäre, gleichsam, als ob es jenseits seiner Aktivität einen festen Bestand hätte und sich erst dann auf Vorstellungen bezöge, so dass sowohl das »Ich« als auch die Vorstellungen primär etwas Getrenntes wären, die dann erst durch die Aktivität des »Ich« zusammengebracht würden. Nach Cramer ist es vielmehr so, dass das »Ich« die Vorstellungen auf sich bezieht und erst durch das Beziehen sich allererst identifiziert: »Nur im Tätigen, im Beziehen ist das Ich das Prinzip, das es ist, in seiner Funktion also.«126

123 124 125 126

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 25. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 38. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 40. W. Cramer, Die Monade, 40.

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

Daraus folgt für Cramer, dass man nicht bei der von Kant behaup­ teten Einfachheit des transzendentalen Subjekts stehen bleiben kann; ihm muss vielmehr notwendig eine Struktur zugesprochen werden. Denn die ihm mit der Zuschreibung als Prinzip implizit zugesproche­ nen Eigenschaften qualifizieren es als »Ursprung und Entsprungenes, als Prinzip und Funktion, als Tätigung und Getätigtes«.127 Zudem ergibt sich ein notwendiges Strukturmoment des trans­ zendentalen Subjekts durch den Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption. Dieser besagt, dass alles Mannigfaltige unter der Bedingung der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption steht. Es gibt nach Kant zwar die Möglichkeit, einen Verstand zu den­ ken, der nicht auf Sinnlichkeit angewiesen ist, der also einer Synthesis des Mannigfaltigen nicht bedarf, weil er durch seine Vorstellungen die Gegenstände seiner Vorstellungen selbst erschaffen könnte.128 Der Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption gilt also nur für einen Verstand, der sich auf sinnlich Gegebenes bezieht:129 »Das Ich-denke ist demnach wesentlich durch die Bedürftigkeit des Verstandes charakterisiert. Die Bedürftigkeit des Verstandes prägt sich darin aus, daß es der Verstand eines Subjekts ist, welches Mannigfalti­ ges ›antrifft‹. Demnach kann das Ich-denke nur das Prinzip sein, das es ist, vermöge seiner Beziehung auf Sinnlichkeit. Beziehung auf Sinn­ lichkeit ist damit ein notwendiges Strukturmoment des Ich-denke.«130

Somit differenzieren sich die Vermögen des transzendentalen Sub­ jekts in Denken und Anschauung. Auch wenn die Wurzel beider Vermögen nach Kant unbekannt ist, so muss doch das transzendentale Subjekt diese Differenz der Vermögen in sich haben und zugleich die Einheit beider Vermögen sein, denn das Subjekt wäre gar nicht not­ wendig, wenn es nicht Denken und Anschauung als Vermögen gäbe. Die Beziehung beider Vermögen aufeinander ist somit wesentliche Bestimmung des Subjekts.131

W. Cramer, Die Monade, 40. Aus diesem Grund ist auch Gunnar Hindrichs Kritik an Cramer nicht zuzustimmen, der zwar zugesteht, dass das denkende Subjekt ein Seiendes sei, dass aber nicht weiter qualifiziert werden könne. Vgl. G. Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, 240–243. 128 Vgl. Kant KrV, 138f. 129 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 41. 130 W. Cramer, Die Monade, 41. 131 Vgl. W. Cramer, Die Gottesbeweise und ihre Kritik, 25. 127

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

Somit weist bereits die Kantische Konzeption des transzendenta­ len Subjekts notwendige Strukturmomente auf, die diesem an sich zukommen müssen, damit überhaupt die Kantische Unterscheidung von Sein-für-das-Subjekt und Sein-an-sich als sinnvoll erscheinen kann. Diese Unterscheidung ist also nur dann möglich, wenn dem transzendentalen Subjekt bestimmte Eigenschaften an sich – wie z. B. seine transzendental reale Zeitlichkeit und sein Ursprung-Sein – zugesprochen werden. Zu den bisherigen ungeklärten Fragen kommt nach Cramer noch eine weitere Unklarheit in der Kantischen Konzeption, die das Verhältnis von Einheit der transzendentalen Apperzeption und objektiver Einheit des Erkenntnisgegenstandes betrifft. Kant sieht – wie oben bereits dargelegt – durch die Einheit der transzendenta­ len Apperzeption auch die Einheit des Erkenntnisobjekts gestiftet. Damit wird die Einheit des Bewusstseins als oberste Bedingung der Möglichkeit der Einheit des Objekts benannt, wodurch jener die Objektivität stiftende Funktion zukommt.132 Aus diesem Grund ist für Kant die Einheit des Selbstbewusstseins zugleich auch Bewusstsein der Einheit des Objekts in dem Sinne, dass ersteres die Einheit des Objekts verbürgt.133 Sosehr diese Verbindung von Einheit des Bewusstseins und Bewusstsein der Einheit (als Einheit des Objekts) in Kants Grundgedanken, dass letztlich alle notwendigen Verbindungen aus dem Subjekt entspringen, als konsequent erscheint, stellt sich hier dennoch die Frage, ob mit dem Bezug des Mannigfaltigen einer Vor­ stellung auf das »Ich denke« die Einheit des Objekts als notwendige Verbindung gedacht werden kann.134 Um das näher zu erläutern, ist es sinnvoll, zwei Begriffe von Synthesis zu unterscheiden, die in der transzendentalen Deduktion verwendet werden: die Synthesis von Denken und Anschauen (1) und die Synthesis des Mannigfaltigen einer Anschauung (2).135 Beide Arten der Synthesis sind miteinander verbunden. Dabei wird deren Verhältnis so gedacht, dass die erste zwar die Bedingung der zweiten ist, aber ihrerseits wiederum nicht ohne die zweite möglich ist: Während die erste Synthesis besagt, dass das Mannigfaltige einer Anschauung auf Denken, nämlich auf das »Ich denke« als aller Syn­ 132 133 134 135

Vgl. W. Cramer, Die Monade, 42. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 42. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 43. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 69.

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

thesis vorausliegende Einheit, muss bezogen werden können, wird durch diese nach Kant gleichzeitig auch die notwendige Verbindung der Vorstellungen zur Einheit des Gegenstands geleistet.136 Dieser Zusammenhang scheint nach Cramer von Kant auch deswegen intendiert, weil anderenfalls die Frage bliebe, warum Den­ ken auf Anschauung muss bezogen werden können oder noch eine zusätzliche Einheit nötig wäre, um reine Apperzeption und das Mannigfaltige einer Anschauung zu vereinen. Die Vorstellungen sind dem Subjekt zwar gegeben, aber erst durch den Bezug auf die transzendentale Apperzeption sind sie im Subjekt als dem Subjekt zugehörig auch gewusst. Erst durch den Bezug auf die transzendentale Apperzeption wird dieses Wissen hergestellt, und dadurch sollen notwendig die Vorstellungen in einem Selbstbewusstsein vereinigt werden. Dadurch wird eine neue Verbindung geleistet, die vorher im bloßen Gegebensein der Vorstellungen im Subjekt noch nicht vorhanden war. Die Vorstellungen werden somit in einem Selbstbe­ wusstsein verbunden.137 Wird mit dieser Konzeption wirklich eine notwendige Verbin­ dung von Vorstellungen hergestellt, die vorher nicht vorhanden war? Nach Cramer ist dies nicht einzusehen, denn der Bezug der Vorstellungen zur transzendentalen Apperzeption bringt nur das zum Bewusstsein, was bereits vorher der Fall war: Denn an sich sind die gegebenen Vorstellungen schon Vorstellungen des identischen Subjekts, was schon die Bedingung von Erscheinung ist. Nach Cramer sind Vorstellungen eo ipso immer schon die des Subjekts.138 In Bezug auf die transzendentale Apperzeption wird dieses Faktum nur noch zusätzlich gewusst, aber die Vorstellungen sind schon zuvor verbunden, weil sie eben Vorstellungen des einen Subjekts sind. Cramer macht dies an einem Beispiel deutlich: Gesetzt den Fall, die Erscheinungen A und B sind einem Subjekt nacheinander gegeben, dann ist nicht ersichtlich, weshalb das Wissen davon, dass sie gegeben sind, im Bezug zum »Ich denke« die Vorstellungen selbst noch einmal in einer Weise verbinden sollte, die über die schon gegebene Verbindung hinausgeht.139 In der Kantischen Konzeption wird nicht ersichtlich, warum so etwas wie Einheit des Objekts im 136 137 138 139

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 69. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 70. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 70. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 70.

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

Gegensatz zu gegebenen Vorstellungen überhaupt notwendig ist. Auch die Antwort, dass dies notwendig sei, weil Erkenntnis möglich sei, kann hier nicht befriedigen, denn es wäre auch umgekehrt denk­ bar, dass dies eine Erkenntnis wäre, dass nämlich Vorstellungen nicht in irgendeiner notwendigen Verbindung stünden, wobei auch für diese Erkenntnis die formale Einheit des Bewusstseins vorausgesetzt würde. Es gäbe also Erkenntnis, die die transzendentale Apperzeption voraussetzte, ohne dass damit eine Einheit des Gegenstandes notwen­ dig mitgegeben wäre.140 Daher lässt sich mit Cramer schlussfolgern, dass in der Kanti­ schen Konzeption nicht einzusehen ist, wie die Einheit des Bewusst­ seins das Bewusstsein der Einheit, also die notwendige Einheit des Objekts begründet. Eine Begründung lässt sich nach Cramer nur dann finden, wenn die Einheit des Bewusstseins zugleich Bewusstsein der Einheit ist, wenn also im Selbstbewusstsein etwas gewusst wird, was an sich bestimmt ist.141 Erst dann also, wenn das denkende Bewusst­ sein sich dessen bewusst ist, dass es in seinem Selbstbewusstsein ein in sich Bestimmtes weiß, wenn also das Bewusstsein somit ein »deutendes« Bewusstsein ist und daher ein Ausrichten auf etwas, was aller subjektiven Deutung entzogen ist, wird die Möglichkeit ersichtlich, wie das Bewusstsein tatsächlich notwendig Gegenstands­ bewusstsein ist:142 Im Auffinden seiner eigenen Bestimmungen, die nicht nur Bestimmung-für, sondern als an sich bestimmte Instanz die Grundlage allen Bestimmung-für-Seins darstellt, erkennt das Selbstbewusstsein an sich selbst dann die Notwendigkeit seiner Bestimmung und somit die notwendige Einheit dieses Gegenstandes. Bisher wurde also aus Cramers Kantkritik ersichtlich, dass einige Konzepte Kants bereits aufgrund der ihnen zugeschriebenen Funktio­ nen und Voraussetzungen über sich hinausweisen, so dass dem trans­ zendentalen Subjekt eine Struktur und bestimmte Eigenschaften, beispielsweise seine transzendental reale Zeitlichkeit, zugesprochen werden müssen, die – dem Cramerschen negativ bestimmten Seins­ begriff gemäß – nicht nur gedacht und somit ontologisch fundiert sind. Wie genau diese Struktur beschrieben werden kann, werden die folgenden Kapitel entfalten, die über Cramers Theorie der Subjektivi­ tät handeln. 140 141 142

Vgl. W. Cramer, Die Monade, 47. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 47. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 45.

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3.3 Cramers Auseinandersetzung mit dem Kantischen transz. Subjekt

Hinsichtlich Kants Konzeption des transzendentalen Subjekts lässt sich mit Cramer zusammenfassen: »Die ursprüngliche Apperzeption ist ursprünglich Hervorbringung, Tätigung und damit Zeitlichkeit und individuell. Es gibt kein reines, nichtempirisches Ich, Ich, welches nicht vereinzeltes Ich wäre. Derglei­ chen ist eine Konstruktion, eine falsche Abstraktion.«143

Damit ließe sich sagen, dass zwar die Unterscheidung von Bestimm­ tes-an-sich und Bestimmtes-für vor dem Hintergrund des berech­ tigten Legitimationsversuchs von Realitätsansprüchen menschlicher Erkenntnis berechtigt ist, wenn man einem naiven Realismus ent­ gehen möchte, der die Aufhebung dieser Unterscheidung einfach behauptet. Verabsolutiert man aber andererseits die Unterscheidung so sehr, wie dies Kant getan hat, dass man sie auch auf das Erkenntnis­ subjekt so anwendet, dass auch dessen Bestimmtheit-an-sich gänzlich unerkennbar bleiben soll, dann entsteht die unüberwindbare Schwie­ rigkeit, von dieser künstlich abstrakten Ebene des transzendentalen Subjekts zu den konkreten einzelnen Erkenntnissubjekten zu gelan­ gen.144 Dies führte – wie gezeigt – innerhalb des Kantischen Ansatzes zu den Schwierigkeiten des Konzepts des empirischen Subjekts. Zwar ist nach Cramer Kant darin zuzustimmen, dass das Subjekt nicht angeschaut werden könne und dass es als Ursprung des Erlebens und der Gedanken selbst nicht nur Erlebtes oder Gedanke sein könne. Aber daraus lasse sich nicht schließen, dass es unerkennbar sei.145 Auch die Pluralität von Erkenntnissubjekten, die bei Kant zwar in der praktischen Philosophie vorausgesetzt werde, aber von seiner theoretischen Philosophie nicht mehr eingeholt werden könne, da die anderen Subjekte immer nur als Erscheinungen in Erscheinung treten könnten, sei durch den Überstieg auf die Kantische Transzendentali­ tät, wie sie in seiner theoretischen Philosophie durchgeführt worden ist, theoretisch nicht mehr legitimierbar.146 Möchte man diese abstrakte Verabsolutierung vermeiden, dann muss von der konkreten Subjektivität ausgegangen werden. Diese W. Cramer, Die Monade, 43. Vgl. für einen ähnlichen Einwand vor dem Hintergrund der Hegelschen Philoso­ phie B. Burkhardt, Hegels Kritik an Kants theoretischer Philosophie. Dargestellt und beurteilt an den Themen der metaphysica specialis, 226–228. 145 Vgl. W. Cramer, Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus, 10ff. 146 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 26f.; W. Cramer, Die absolute Reflexion, 61. 143

144

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3. Cramers Kritik an Kant: Das transzendentale Subjekt

konkrete Subjektivität erkennt in einem an Descartes angelehnten Gedankenexperiment apagogisch, dass sie im Denken etwas voraus­ setzt, das denkt, dass sie selbst also ein »Ich«, das heißt, ein Ursprung der Gedanken ist und gerade damit kein Gedanke mehr sein kann und dass sie als ein solches »Ich« ein endliches Bestimmtes von einer bestimmten Ordnung ist, von der auch andere solchermaßen geartete Seiende sein können. Diese Legitimation des Ist-Anspruchs des Ich-Gedankens ist nun die Aufgabe der Cramerschen Theorie der Subjektivität, wie im Fol­ genden nun ausführlicher gezeigt werden soll. Es ist hinsichtlich der Problematik der konkreten erkennenden Subjektivität hier nur ange­ deutet, welche Aufgabe eine solche Theorie der Subjektivität auch leisten muss: Wenn der Übergang von der Ebene des Denkens zum konkreten Subjekt, das in der Welt eingebettet ist, nicht willkürlich sein soll, muss dieser Übergang, der auf diese Einbettung verweist, als Moment der Subjektivität selbst aufgezeigt werden können. Es muss also gezeigt werden, dass Subjektivität in ihrem eigenen Modus von etwas bestimmt ist, was nicht aus ihr selbst produziert sein kann.

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4. Die philosophische Deduktion als Methode

Ist die Philosophie Cramers Auffassung zufolge gerade die Wissen­ schaft, die die Möglichkeit und die Berechtigung unseres lebenswelt­ lichen Wissens – wie beispielsweise die, dass wir psychophysische Wesen sind, einen freien Willen haben oder im Denken die wesent­ lichen Bestimmungen der Dinge erkennen –, prinzipiell begründen will, so muss vorab die Methode eines solchen Vorhabens geklärt wer­ den.147 Eine apodiktische Begründung, die selbst nicht hypothetisch sein oder auf gesetzten Voraussetzungen beruhen soll, kann nach Cramer nicht auf einer formalen Deduktion gründen, weil alle forma­ len Deduktionen unter Prämissen stehen, die ihrerseits nicht mehr begründet werden müssen, sondern am Anfang mit einer gewissen Willkür gesetzt werden. Ist dieses Verfahren für viele Fragen sehr nützlich, so kann es aber hinsichtlich des in Frage stehenden Projekts nicht als einzige Form der Deduktion verwendet werden, da ja die Auf­ gabe einer apodiktischen Begründung gerade darin besteht, auch noch die vorausgesetzten Prämissen als apodiktisch gewiss auszuweisen.148 Diese Inadäquatheit der formalen Deduktion hinsichtlich des Projekts einer Begründung mit apodiktischem Anspruch muss nicht die Aufgabe eines solchen Anspruchs bedeuten, da es nach Cramer auch andere Formen der Deduktion gibt, die diesem Anspruch genü­ gen können. In »Das Absolute und das Kontingente« grenzt Cramer die von ihm verwendete Deduktion, die sogenannte philosophische Deduktion, von der formalen Deduktion ab. Um die Inadäquatheit der formalen Deduktion für dieses Vorha­ ben präziser herauszustellen und ihren Unterschied zur philosophi­ schen Deduktion zu erläutern, wird hier zunächst kurz auf die Struktur der formalen Deduktion eingegangen und diese anschließend der philosophischen Deduktion kontrastierend gegenübergestellt.

147 148

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 57. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 60.

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4. Die philosophische Deduktion als Methode

Es ist für den vorliegenden Kontext ausreichend, die formale Deduktion anhand eines Syllogismus zu erläutern. Unter einem Syllogismus versteht man ein deduktives Argument, in dem von den Prämissen mit Notwendigkeit zu der Konklusion übergegangen wird. Aristoteles, der als erster den Versuch unternommen hat, die verschiedenen Formen des Syllogismus zu systematisieren, bietet folgende Charakterisierung: »Eine Deduktion ist also ein Argument, in welchem sich, wenn etwas gesetzt wurde, etwas anderes als das Gesetzte mit Notwendigkeit durch das Gesetzte ergibt.«149

Damit findet sich im Syllogismus ein Übergang von den Prämissen als etwas Gesetztem zu einem Nichtgesetzten in der Konklusion, wobei der Übergang durch eine Notwendigkeit gekennzeichnet ist, die besagt, dass, wenn die Prämissen wahr sind, es dann notwendiger­ weise auch die Konklusion ist.150 Obwohl nun die Formalität eines Syllogismus auch darin besteht, dass in gewisser Weise vom Inhalt abgesehen wird, muss doch vorausgesetzt werden, dass die allgemeinen Begriffsvariablen jeweils in den verschiedenen Prämissen eine identische Bedeutung haben. Anderenfalls könnte man beliebig bestimmte Prämissen für den Syllogismus verwenden, ohne dass der Schluss dadurch falsch würde. Für den notwendigen deduktiven Charakter des Syllogismus sorgt aber gerade eine Schlussregel, die zwar die inhaltliche Bestimmtheit der Prämissen voraussetzt, aber von ihrem konkreten Inhalt absieht. Die Stärke eines Syllogismus liegt also darin, dass er im Absehen vom konkreten Inhalt eine notwendige Schlussfolgerung liefert, wobei aber mit diesem Absehen vom Inhalt auch ein Absehen von der Wahrheit der Prämissen einhergeht. Die Folge dieser Abstraktion ist einerseits die Unterscheidung von Wahrheit und formaler Folgerichtigkeit des Syllogismus und andererseits die Konsequenz, dass in der Konklusion nur diejenigen inhaltlichen Bestimmungen auftauchen können, die schon in den Prä­ missen gesetzt worden sind.151 Das Neue in der formalen Deduktion besteht also nicht im Auffinden neuer begrifflicher Bestimmungen, sondern in der Explikation von Verhältnissen, deren begrifflicher Inhalt bereits gesetzt ist. 149 150 151

Aristoteles, Topik I 1, 100a25–27. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 60. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 61.

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4. Die philosophische Deduktion als Methode

Demnach hat eine formale Deduktion folgende Charakteristika:152 1. 2. 3. 4. 5.

Sie hat inhaltliche Voraussetzungen, die als solche nicht thema­ tisiert werden. Die Konklusion steht unter der Bedingung der Prämissen. Es treten in der Konklusion nur begriffliche Inhalte auf, die schon in den Prämissen gesetzt worden sind. Aufgrund des Absehens vom konkreten Inhalt wird nach einer Regel geschlossen, die auf viele Fälle anwendbar ist. In der Deduktion werden keine Probleme thematisiert.

Cramer sieht in der letzten Bestimmung ein wichtiges Charakteristi­ kum der formalen Deduktion und damit auch eine Möglichkeit, die formale von der philosophischen Deduktion abzugrenzen. Die Stärke der formalen Deduktion ist es demnach, dass sie vom konkreten Inhalt und damit auch von der Wahrheit der Prämissen absieht. Sie geht damit von etwas Gesetztem aus, ist aber aufgrund ihrer Methodik nicht in der Lage, das Gesetzte noch einmal kritisch zu thematisieren. Dadurch kann ihr bei der Darstellung einer Argumentation eine hilf­ reiche Rolle zukommen, da sie die logische Struktur eines Arguments klarer darzustellen vermag. Zu der Eruierung neuer Inhalte kann sie aber aufgrund ihrer methodischen Verfasstheit nichts beitragen. In einem Gegensatz dazu sieht Cramer die philosophische Deduktion, in der zwar auch formale Deduktionen vorkommen kön­ nen, die sich aber von dieser dahingehend unterscheidet, dass man durch sie in apodiktischer Weise zu neuen Inhalten gelangen kann, die nicht in den Prämissen gesetzt worden sind. Cramer verdeutlicht dieses Vorgehen an der philosophischen Betrachtung des Denkens. Wenn für gewöhnlich im Denken Bestim­ mungen von Dingen gedacht werden, ist das jeweilige Denken ganz bei der zu bestimmenden Sache und denkt nicht über die dafür notwendigen Prinzipien des Denkens nach. In diesem konkreten Denkprozess muss also das Denken selbst nicht thematisiert wer­ den, auch wenn es für denselben eine notwendige Bedingung ist. Erst wenn das Denken merkt, dass es als Qualität für die konkrete Bestimmung der Sache notwendig ist, kann es sich schließlich selbst thematisieren. Auch die daraus folgenden Schlussfolgerungen kön­ nen auf apodiktische Art und Weise durchgeführt werden, da durch 152

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 61.

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4. Die philosophische Deduktion als Methode

diese philosophische Deduktion auf die notwendigen Bedingungen zurückgegangen wird. Hierin manifestiert sich ein Unterschied von formaler und philo­ sophischer Deduktion. Während erstere von Prämissen ausgeht und dann zu der Konklusion als zu dem durch sie Bedingten vorangeht, geht letztere zurück zu den Bedingungen der Prämissen, wodurch diese auf eine Weise thematisiert werden, die das Erschließen neuer Inhalte zulassen. Daraus lassen sich einige Charakterisierungen der philosophischen Deduktion ableiten, die sie von der formalen Deduk­ tion unterscheidet:153 1.

2.

3.

4.

Zwar liefern beide Deduktionsarten in unterschiedlicher Hin­ sicht Nichtgesetztes, doch können durch die philosophische Deduktion als Rückgang zu den Bedingungen neue inhaltliche Bestimmungen erschlossen werden. Das in der philosophischen Deduktion Deduzierte sind die zunächst nicht thematisierten Bedingungen des Ausgangsphä­ nomens. Diese Leistung kann nicht durch eine formale Deduk­ tion erbracht werden. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, dass das durch die philoso­ phische Deduktion Bestimmte selbst nicht durch den Ausgang bedingt sein muss, sondern unabhängig von ihm sein kann. Das bedeutet, dass zwar der Erkenntnisprozess beim Ausgang beginnt und von ihm aus seine Bedingungen thematisiert wer­ den, dass aber umgekehrt dies nicht bedeutet, dass das so Thema­ tisierte in seinen Bestimmungen vom Ausgang abhängig ist.154 Am Beispiel des Denkens lässt sich dann sagen, dass bei der phi­ losophischen Deduktion von konkreten Gedanken ausgegangen wird, deren Bedingungen das Denken ist, dass es aber nicht zu der Bestimmung des Denkens gehört, diese konkreten Gedanken gedacht haben zu müssen. Während die formale Deduktion von Sätzen ausgeht und Sätze ableitet, gelangt die philosophische Deduktion durch apagogi­ sche Argumentation in Gedankenexperimenten zu Bestimmun­ gen, die nicht einfach nur vom Denken gesetzt sind und somit

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 63. Dies ist eine wichtige Konsequenz der philosophischen Deduktion, wenn es um eine Theorie des Absoluten geht, die den Mangel des kosmologischen Arguments, das Unbedingte nur unter der Bedingung des Bedingten thematisieren zu können, beseitigen will. 153

154

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4. Die philosophische Deduktion als Methode

einen verbindlichen ontologischen Gehalt haben. (Sie sind nach Cramers negativem Seinsbegriff nicht nur gedacht.) Der letzte Punkt lässt sich wieder an der Reflexion über das Denken illustrieren: Geht die philosophische Untersuchung von konkreten Gedanken aus, so stellt sich – wie die Darstellung der Theorie des Geistes gezeigt hat – das Denken als Qualität heraus, die den konkreten Gedanken zugrunde liegt und somit nicht nur gedacht ist. Die philosophische Deduktion kann also zeigen, dass die Qualität des Denkens eine eigene Bestimmung ist, die den konkreten Gedanken notwendig vorhergeht. An diesem Beispiel zeigt sich, wie es der philosophischen Deduktion möglich ist, als Rückgang apodiktisch neue Inhalte zu erschließen.155 Somit lässt sich die philosophische Deduktion zusammenfassend folgendermaßen charakterisieren: »So ist das philosophische Denken ein apodiktischer Fortgang, der ein Rückgang ist in die Bedingungen der Möglichkeit und ein Übergang von Gesetztem zu Nichtgesetztem, der das Gesetzte um inhaltliche Bestimmungen bereichert. Dieses apodiktische Denken ist grundwe­ sentlich synthetisch.«156

Diese Methode ist nicht nur grundlegend für die apodiktische Ent­ wicklung einer Theorie der Subjektivität, sie ist auch konstitutiv für eine Theorie des Absoluten, in der die alles bestimmenden Prinzipien noch einmal in einer letztbegründenden Perspektive in den Blick kom­ men. Die Betonung dieses methodischen Ansatzes ist deshalb wichtig, weil durch ihn die Struktur von Cramers Vorgehen deutlich wird: Es können keine hypothetischen Prinzipien und Annahmen für die Ent­ wicklung der jeweiligen Argumentationen in Anspruch genommen werden. Eine apodiktische Herleitung von Minimalbestimmungen sowohl in der Subjektphilosophie als auch in der Theorie des Absolu­ ten ist nur dann möglich, wenn durch die philosophische Deduktion diejenigen Prinzipien und Bestimmungen expliziert werden, die in den jeweiligen Zusammenhängen Denken – Erleben – Geist schon immer implizit gegeben sind. Die philosophische Deduktion versteht sich somit als das Auf­ finden und Explizieren der Bedingungen, unter denen die jeweiligen Phänomene schon immer stehen. Mit diesem methodischen Hand­ 155 156

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 64f. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 65.

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4. Die philosophische Deduktion als Methode

werkszeug gilt es, sich nun Cramers Theorie der Subjektivität zuzu­ wenden.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Cramers kritische Auseinandersetzung mit Kant hat nicht nur die strukturellen Schwierigkeiten der Kantischen Transzendentalphiloso­ phie verdeutlicht; durch sie wurden damit zugleich Vorgaben erarbei­ tet, die eine Theorie der Subjektivität erfüllen muss, wenn sie diese Schwierigkeiten umgehen will. Es ist Cramers Anspruch, dass eine solche Theorie der Subjek­ tivität keine hypothetischen Voraussetzungen bzw. keine unhinter­ fragten methodischen Setzungen machen darf. Vielmehr muss ein solcher Ansatz von einem unhintergehbaren Ausgangspunkt apodik­ tisch entwickelt werden. Dies kann nur dann erfolgreich geleistet werden, wenn es gelingt, die allgemeine Struktur von Subjektivität in dem Gedankenexperiment des radikalen Zweifels aufzuweisen. Da die radikalste Herausforderung für eine Theorie der Subjektivität in der skeptischen Verabsolutierung des subjektiven Moments des »Bestimmtes-für« besteht, durch das alle vermeintliche Erkenntnis zu einer rein subjektiven Vorstellung herabgestuft wird, ist es auch für Cramers Ansatz unvermeidlich, mit der Legitimation der Selbstge­ wissheit des Subjekts und den sich daraus ergebenden ontologischen Implikationen zu beginnen. Ähnlich wie Descartes setzt sich also auch Cramer mit dem Gedankenexperiment des radikalen Zweifels auseinander, das zu einer Statusbestimmung des denkenden Subjekts im Kontext eines negativen Seinsbegriffs führen wird. Es wird zu zeigen sein, dass das Subjekt eben nicht nur gedacht sein kann und sich daraus zudem der Ausgangspunkt für eine minimale Qualifizierung des Subjekts ergibt. Da dieses Gedankenexperiment für eine Theorie der Subjektivi­ tät den Dreh- und Angelpunkt darstellt, insofern es gleichsam das Fundament für das ganze Projekt und damit den Grundstein für eine Reihe von wichtigen weiteren Entfaltungsschritten bildet, wird an dieser Stelle auch noch einmal etwas ausführlicher auf den Des­ cartesschen Gedankengang, seine Voraussetzungen und die Reich­ weite seiner Schlussfolgerungen eingegangen. Durch diesen Bezug zum Ansatz Descartes kann deutlicher herausgearbeitet werden, was

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

eigentlich durch das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels systematisch für eine Theorie der Subjektivität erreicht werden kann. Entgegen den heute weit verbreiteten Vorurteilen gegen Des­ cartes führt das Gedankenexperiment nicht von sich aus zu einem Substanzdualismus. Es wird sich zeigen, dass zumindest bis in die zweite Meditation, in der der Descartessche Substanzdualismus noch gar nicht eingeführt worden ist, der Status des Subjekts ähnlich wie bei Cramer durch einen negativen Seinsbegriff legitimiert wird, der für jegliche Theorie der Subjektivität unhintergehbar ist: Das Subjekt kann keine Illusion sein, und insofern ist es nicht nichts, sondern etwas. Es wird sich weiter zeigen, dass man bei der daran anschlie­ ßenden Entfaltung des Subjektkonzepts, die in den Meditationen schließlich zu einem Substanzdualismus führt, Descartes nicht folgen muss. Wichtig ist hier nur die Legitimation des Ich-Gedankens. Für eine differenzierte Analyse dieses Argumentationsganges ist die Unterscheidung des dreifachen Gebrauchs von »ich«, wie sie Anton Friedrich Koch entwickelt hat, äußerst hilfreich, so dass zunächst diese Unterscheidung dargestellt werden soll.

5.1 Der dreifache Gebrauch von »ich«: Überlegungen zu dem den Wahrheitsanspruch relativierenden Operator des Mir-so-Scheinens Eine Theorie der Subjektivität, die den Ich-Gedanken zum Ausgang ihrer Überlegungen macht, muss sich mit dem skeptischen Grund­ anliegen auseinandersetzen, wenn sie sich nicht ständig mit einer möglichen skeptischen Relativierung konfrontiert sehen möchte. Methodisch ist dem Skeptizismus nur dann zu entgehen, wenn in einer kritischen Auseinandersetzung durch den methodisch gesetzten radikalen Zweifel gezeigt werden kann, dass diesem Zweifel in seiner Anwendung zugleich prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Zu diesem Zweck ist nun zunächst dem methodischen Zweifel in dem Gedankenexperiment des radikalen Zweifels die größtmög­ liche Stärke zu geben. Dies geschieht dadurch, dass in einem ers­ ten Schritt der Wahrheitsanspruch unserer (Wahrnehmungs-)Urteile eingeklammert wird. Sofern sich Urteile auf die subjektunabhängige Wirklichkeit beziehen, ist dieser Anspruch zunächst dadurch zu relativieren, dass in einem Urteil nun nicht mehr behauptet wird, dass der im Urteil ausgedrückte Sachverhalt, z. B. »Die Wand ist

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5.1 Der dreifache Gebrauch von »ich«

blau«, auf eine dem Subjekt unabhängige Wirklichkeit bezogen wird, sondern zunächst der Wahrheitsanspruch auf den subjektiven Anteil des Urteils beschränkt wird: »Mir scheint, dass die Wand blau ist« Durch die Anwendung des »Mir-so-Scheinen«-Operators wird also der Objektivitätsanspruch von Urteilen zunächst auf die rein subjektive Perspektive eingeschränkt. Dabei ist dem methodischen Zweifel gemäß nicht gesagt, dass die Anwendung des Operators auch bezüglich unserer Wahrnehmungsurteile in eine permanente skep­ tische Grundhaltung führen müsste. Die skeptische Grundhaltung ist nur der erste Schritt einer methodischen Untersuchung über die Reichweite der Möglichkeit des radikalen Zweifels. Diese Minimalisierung von Wahrheitsansprüchen ist also durch die Herausforderung des Skeptizismus motiviert.157 Aber insofern in einem ersten Schritt die Empfindungen und Empfindungsurteile von ihrem objektiven Anspruch suspendiert werden, beziehen sich die Inhalte auf rein geistige Zustände, insofern sie nur die subjektive Seite des Empfindens oder Denkens ohne einen Objektivitätsanspruch bezüglich einer vom Subjekt unabhängigen Welt thematisieren. Aus diesem Grund ist jedes Mir-so-Scheinen ein reiner Geisteszustand. Das Charakteristische an rein geistigen Zuständen ist nun, dass sie deskriptiv und dem Denker unmittelbar bewusst sind, so dass diese Zustände keine Gegenstände sinnvollen Selbstzweifels sind, da sich jemand, dem es scheint, dass er in einem solchen Zustand ist, sich auch in einem solchen Zustand befindet.158 So hat jemand auch Schmerzen, dem scheint, Schmerzen zu haben. Während durch die Bezugnahme auf irgendetwas außerhalb des Mir-so-Scheinens, und seien dies unmittelbare vergangene geistige Akte desselben Subjekts, zumindest immer die logische Möglichkeit der Fehlbarkeit gegeben ist, kommt nur den Zuständen des Mir-soScheinens diese unmittelbare Selbstevidenz zu, die irrtumsresistent ist. In einem starken logischen Sinn sind reine Geisteszustände genau dann unfehlbar, wenn nicht nur alle Fälle des Mir-so-Scheinens reine Geisteszustände sind, sondern wenn auch umgekehrt alle reinen Geisteszustände Fälle des Mir-so-Scheinens sind.159 157 Vgl. A.F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, 109. 158 Vgl. A. Kemmerling, Ideen des Ichs. Studien zu Descartes' Philosophie, 110. 159 Vgl. A.F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 52.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Dies bedeutet einerseits, dass man sich in dem jeweiligen rein geistigen Zustand befindet, wenn es dem jeweiligen Subjekt scheint, dass es in diesem ist; andererseits gilt aber auch wegen der Irrtumsre­ sistenz der Unmittelbarkeit der rein geistigen Zustände, dass, wenn ein Subjekt in einem rein geistigen Zustand ist, es ihm auch so scheint, dass es in diesem Zustand ist.160 Wenn einem Subjekt scheint, es habe Schmerzen, dann hat es auch Schmerzen, und umgekehrt gilt, dass es, wenn es Schmerzen hat, es ihm aufgrund der Unmittelbarkeit der rein geistigen Zustände auch scheint, dass es Schmerzen hat.161 Da rein geistige Zustände und die damit verbundenen Mir-soScheinen-Sätze jeweils logisch auseinander folgen, bedeutet das, dass sie logisch äquivalent sind. Aufgrund der logischen Äquivalenz ist damit die Unfehlbarkeit sowohl des rein geistigen Zustands als auch des Mir-so-Scheinens gegeben. Dieses inferentielle Selbstverhältnis gilt nun aber bezüglich jeglicher Iteration im Mir-so-Scheinen, denn jedes »Mir scheint, dass mir scheint, dass p« ist immer ein »Mir scheint, dass p«. Oder wenn man die selbstbezügliche Struktur des Wissens von »Mir-so-Scheinen«-Sätzen betrachtet, dann folgt aus »Ich weiß, dass mir scheint, dass p« der Satz »Ich weiß, dass ich weiß, dass mir scheint, dass p« und umgekehrt.162 Das Gründen zugleich sein eigenes Metabewusstsein ist, dass in diesem Fall Bewusstsein auch Selbstbewusstsein sein muss: »Bewußtsein ist als solches auch Selbstbewußtsein. Damit Selbst­ bewußtsein zustande kommt, bedarf es also keiner ausdrücklichen Reflexion des Bewußtseins auf sich. Sondern die stets nachträgliche Reflexion macht nur explizit, was immer schon implizit vorhanden ist: ein Wissen des Bewußtseins von sich als solchem.«163

Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 53; A. F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, 105. 161 Zu dieser Umkehrthese auch H.-P. Falk, Das Wissen in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹. 162 Vgl. A. F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, 105. Es bleibt anzumerken, dass sich diese Aussage nur auf ein Bewusstsein bezieht, das auch denken kann. Insofern ist z. B. phänomenales Bewusstsein von Tieren nicht automatisch Selbstbewusstsein. Zum Verhältnis von phänomenalem Bewusstsein und Denken siehe weiter unten auch Punkt 5.5. 163 A. F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theo­ rie, 108. 160

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5.1 Der dreifache Gebrauch von »ich«

Somit ist ein denkendes Bewusstsein allein durch die logische Äqui­ valenz mit seinem Metabewusstsein immer schon ein (mögliches) Bewusstsein von sich selbst und in diesem Wissen durch die Beson­ derheit des Mir-so-Scheinens zudem unfehlbar. Ein solches Bewusst­ sein ist demnach nicht primär durch Referenz, sondern durch Inferenz Wissen von sich selbst und damit Selbstbewusstsein, wodurch eben auch die Unfehlbarkeit dieses Wissens garantiert wird.164 Es wird sich zeigen, dass dies auch Relevanz für den Selbstver­ gewisserungsversuch bei Descartes hat. Denn auch in diesem Fall zeigt sich, dass das denkende Bewusstsein unfehlbar ist in seinen rein geistigen Zuständen und dass es aufgrund der logischen Äquivalenz mit seinem Metabewusstsein (Iteration des Mir-so-Scheinens) ein Selbstbewusstsein ist, auf dessen Existenz unfehlbar geschlossen werden kann.165 Durch das inferentielle Selbstverhältnis, das in der Struktur eines jeden denkenden Bewusstseins notwendig vorhan­ den ist, erscheint somit das jeweilige Selbstbewusstsein sowohl als implizite Voraussetzung der Reflexion der Selbstvergewisserung als auch als explizite Schlussfolgerung. Zwar wird mit dem Operator des Mir-so-Scheinens zunächst von allen Geltungsansprüchen (und somit zunächst auch von der Referenz auf ein Ich bzw. einen Den­ ker) abgesehen; allerdings wird durch die logische Äquivalenz der Iterationen des Mir-so-Scheinens deutlich, dass gleichzeitig durch das inferentielle Selbstverhältnis in der Anwendung des Operators des Mir-so-Scheinens der Schluss auf die Existenz des Denkers gerechtfertigt ist, weil jede Iteration des Mir-so-Scheinens letztlich auch eine Zuschreibung beinhaltet, die eben eine konkrete denkende Subjektivität voraussetzt.166 Der Operator kann nur dann überhaupt der Intention gemäß angewendet werden, wenn es ein Subjekt gibt, auf das hin die objektiven Wahrheitsansprüche bezüglich der subjekt­ unabhängigen Wirklichkeit relativiert werden können. Es muss also ein Subjekt geben, das dieser Relativierung noch vorausgeht und des­ sen Wirklichkeitsanspruch somit selbst nicht relativiert werden kann. Das so gefundene Selbstbewusstsein ist gewissermaßen die ontologische Voraussetzung der Minimalisierung im »Mir-so-Schei­ Vgl. A. F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, 108. 165 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 55f.; A. F. Koch, »Die Logik des Scheinens und der Sinn von ›ich‹“, 40f. 166 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 57. 164

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

nen«-Operator. Allerdings besteht hinsichtlich der konkreten onto­ logischen »Einbettung« seiner Existenz noch Klärungsbedarf, denn zunächst ist es nur negativ bestimmt als dasjenige, was für die Relativierung des Wahrheitsanspruchs vorausgesetzt werden muss und somit selbst nicht innerhalb der Klammer des Operators gedacht werden kann. So kann aus den bisherigen Überlegungen nicht herge­ leitet werden, dass es sich beispielsweise bei dem Selbstbewusstsein um eine rein unkörperliche Substanz handelt oder in welcher Form es an einen Organismus gebunden ist. Dies ist auch der Punkt, an dem verschiedene Gebrauchsweisen von »ich« legitimer Weise unterschieden werden können. Anton Friedrich Koch hat aufgrund der vorangegangenen Über­ legungen einen dreistufigen Gebrauch des »ich« vorgeschlagen, der sich aufgrund der Anwendung des »Mir-so-Scheinen«-Operators ergibt und der zwischen verschiedenen Subjektivitätsansätzen ver­ mitteln kann.167 In der Anwendung des Operators des Mir-so-Schei­ nens werden zunächst alle Wahrheitsansprüche minimalisiert, indem objektive Geltungsansprüche eingeklammert werden. Durch diese Einklammerung werden dann – wie gezeigt – rein geistige Zustände beschrieben, die irrtumsimmun sind.168 Der Operator fällt aber zunächst unter seinen eigenen Operationsbereich, so dass zunächst auch die Referenz eines »ich« als eines Objekts eingeklammert wird. Insofern ist der reine Operator-Gebrauch von »ich« irreferentiell, weil jeder Anspruch auf Objektivität durch die Anwendung des Operators aufgegeben wird und eine ontologisch unverbindliche Selbstzuschreibung entsteht. Koch nennt diesen Gebrauch von »ich« »transzendentale Subjektivität«.169 Dieser Gebrauch von »ich« ist durch den Operator vollständig abstrakt, weil von allen ontologischen Bezügen abstrahiert wird. Allerdings zeigt sich, dass diese Universalisierung des Operator­ gebrauchs instabil ist, da jede Iteration des Operatorgebrauchs wieder zu einem unhintergehbaren »Ich denke« bzw. »Mir scheint« führt, wodurch eine konkrete Subjektivität vorausgesetzt wird. Dies ist deswegen der Fall, weil durch den Operatorgebrauch der Wahrheits­ Vgl. die ausführliche Darstellung dieser Dreistufenthese in A. F. Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, 235–238. 168 Vgl. z. B. A. F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophi­ sche Theorie, 109f. 169 Vgl. A. F. Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, 233f; A. F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, 115. 167

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5.1 Der dreifache Gebrauch von »ich«

wert eingeklammert wird und so nur noch der zunächst ontologisch unverbindliche (Fregesche) Sinn von »ich« übrig bleibt, wodurch die Irrtumsimmunität erreicht wird. Allerdings hat diese Operatoran­ wendung ihrerseits Voraussetzungen, die zum Subjektgebrauch des »ich« führen: »Doch die Abstraktion ist instabil, weil die Prämisse zwar ontologisch voraussetzungslos, aber gegenstandsabhängig ist (weil mit anderen Worten zwar nicht ihre Wahrheit, gegeben ihr Sinn, wohl aber ihr Sinn als solcher einen Gegenstand – den Denker selbst – voraussetzt); und dies legitimiert den Übergang zu der Konklusion, daß der Denker existiert […]. Weil schließlich Sinne, so an das Denken und Sinnen gebunden, entgegen der Fregeschen Lehre keine quasi-objektiven, wohlindividuierten Entitäten, sondern jeweils nur innerhalb eines inferentiell selbstbezüglichen Anscheinens bzw. Denkens aktual sind und weil dieses Selbstverhältnis wiederum den Sinn von »ich« gene­ riert, ist jedes Wesen, das »ich« zu sich sagen kann, wesentlich ein denkendes, auf Sinne bezogenes Wesen […]«170

Demgemäß ist der Gedanke »Ich denke« in sich zweideutig, da er einerseits den ontologisch unverbindlichen Operatorgebrauch beschreibt, dieser aber selbst einen Gegenstandsbezug voraussetzt, der nicht durch Referenz, sondern durch die Iteration des Mir-soScheinens durch Inferenz legitimiert wird.171 Dieser Subjektgebrauch von »ich« ist nach Koch halbreferentiell bzw. unbestimmt referentiell durch Inferenz. Damit wird eine konkrete Subjektivität vorausgesetzt, die aber immer noch bezüglich ihrer konkreten empirischen Veror­ tung unter dem Operatorgebrauch steht. Zwar lässt sich nach Koch sagen, dass – insofern Subjektivität immer nur in Personen auftritt, die einen bestimmten Körper haben – auch diese Subjektivität in einer empirischen Person einen Körper haben muss. Um welchen genau es sich handelt, lässt sich im Subjektgebrauch von »ich« aber noch nicht sagen. Gerade diese Enthaltung macht diesen Gebrauch von »ich« irrtumsimmun gegen empirische Fehlidentifikation, durch die das »ich« mit der konkreten empirischen Person identifiziert wird, da hier immer noch die rein subjektive Seite, also die rein geistigen Zustände, aber mit Gegenstandsbezug thematisiert werden, der sei­ A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 58. 171 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 57; A. F. Koch, »Die Logik des Scheinens und der Sinn von ›ich‹“, 40. 170

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

nerseits notwendig auf eine weiterführende empirische Identifikation verweist. Man weiß hier lediglich, dass es sich um eine individuierte Subjektivität handelt, die in einer Person verkörpert ist. Erst der Objektgebrauch von »ich« erlaubt eine Identifizierung des »ich« mit einer konkreten Person. Durch die Identifikation mit einer konkreten Person wird auch der zu dieser Person gehörende Körper identifiziert, der empirisch gegeben ist. Allerdings kann sich diese Identifizierung nur um den Preis vollziehen, dass es hier zu empirischen Fehlidentifikationen kommen kann. Beispielsweise kann in einem Handgemenge ein Körperteil fälschlicherweise mit dem Körper der konkreten Person identifiziert werden, obwohl dieser nicht zu ihr gehört.172 Erst der Objektgebrauch von »ich« ist vollständig referentiell, weil er sich als verkörperte Subjektivität hier eben auch auf einen konkreten Körper bezieht. Dementsprechend sind die verschiedenen Gebrauchsweisen von »ich« von Fall zu Fall zu unterscheiden. In Sätzen wie »Ich habe eine Beule« wird das »ich« im Objektgebrauch benutzt, weil man sich auf eine konkrete Person mit dem dazugehörigen Körper bezieht (voll­ ständige Referenz mit Möglichkeit der Irrtumsanfälligkeit), während Sätze wie »Ich habe Zahnschmerzen« sich auf den irrtumsimmunen Subjektgebrauch des »ich« beziehen.173 Alle drei Gebrauchsweisen sind also legitime Gebrauchsweisen des »ich«, je nachdem, welcher Aspekt thematisiert werden soll, wobei die jeweilige Gebrauchsweise auch einen anderen epistemi­ schen Status hat. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass das Gedan­ kenexperiment von Descartes genau der oben dargelegten Struktur entspricht, dass also die Anwendung des Operators des Mir-so-Schei­ nens zunächst die objektiven Wahrheitsansprüche einklammert, dass sich dann aber zeigt, dass diese systematische Einklammerung mit dem im Ich-Gedanken bezeichneten Subjekt selbst etwas voraussetzt, was außerhalb der Klammer stehen muss. So weit wäre Descartes zumindest bis zur zweiten Meditation zu folgen. An diesem Punkt stellt sich aber dann notwendig die Frage, wie im Subjektgebrauch von »ich« der Bezug zu einer konkret verkör­ perten Subjektivität zu denken ist. Es wird sich dann später in der Darstellung des Cramerschen Subjektkonzepts zeigen, dass der Ver­ 172 Vgl. A. F. Koch, »Die Logik des Scheinens und der Sinn von ›ich‹“, 38f.; A. F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, 114. 173 Vgl. A. F. Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, 237.

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5.2 Descartes` Gedankenexperiment des radikalen Zweifels

weis des Subjektgebrauchs von »ich«, der auf eine konkrete Verkör­ perung verweist, selbst noch transzendentalphilosophisch hergeleitet werden kann. Jetzt gilt es aber zunächst den Argumentationsgang der Selbstvergewisserung bei Descartes zu rekonstruieren, die die obige Argumentationsskizze noch einmal en detail nachvollzieht.

5.2 Exkurs: Die Bedeutung von Descartes Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als Ausgangspunkt für eine Theorie der Subjektivität Die Wiedererstarkung einer Art der »pyrrhonischen« Skepsis, welche die Möglichkeit, sicheres Wissen zu gewinnen, anzweifelt, kann als die Grundmotivation für Descartes‘ Projekt gelten, eine erste Philoso­ phie zu begründen, die als Fundament eine unbezweifelbare Gewiss­ heit besitzt.174 Eine solche skeptische Grundhaltung führte also erkenntnistheoretisch zu einer Krisensituation, in der die Grundlagen nicht nur der damaligen Metaphysik, sondern auch der damaligen Wissenschaft sich einem prinzipiellen Zweifel ausgesetzt sahen, ob sicheres Wissen möglich sei. Diesem potentiellen Vorbehalt jeglichem Wissen gegenüber ist nur durch eine Untersuchung zu entgehen, die auf radikale Weise mit dem Zweifel ernst macht, um mögliche Grenzen dieser Haltung zu eruieren.175 Descartes geht es in seinen »Meditationen« also darum, die Möglichkeit zuverlässigen Wissens zu überprüfen und eine unum­ stößliche Gewissheit zu erreichen, mit deren Hilfe eine Erkenntnis­ theorie aufgebaut werden kann, die anhand von klaren Kriterien eine Unterscheidung von subjektiven Meinungen und wahrer Erkenntnis erlaubt, ohne auf überlieferte Traditionen und übernommene Voraus­ setzungen zurückzugreifen. 174 Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 27f. Schrödter nennt über die Herausforderung der »pyrrhonischen« Skepsis noch die zirkuläre Vorgehensweise des scholastischen Wissenschaftsbetriebs, der die Gewiss­ heit der Existenz Gottes aus der Bibel gewinnen möchte, sowie die unüberbrückbar scheinenden Kontroversen von Wissenschaft und Konfessionen. Insofern ist der Selbstvergewisserungsversuch des denkenden Ichs bei Descartes auch die systemati­ sche Grundlage der Gotteserkenntnis und die daraus entstehende Vermittlung von Wissenschaft und Religion. 175 Vgl. für eine Zusammenfassung der Strategie, Problemstellung und Motivation der Meditationen D. Perler, »Woran können wir zweifeln? Vermögensskeptizismus und unsicheres Wissen bei Descartes«.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Da ein solcher Skeptizismus seine Motivation daraus bezieht, dass einerseits – wie allgemein anerkannt – widerstreitende Auf­ fassungen nicht zugleich wahr sein können, dass zudem aber ein angemessenes Wahrheitskriterium fehle, so dass nur die Urteilsent­ haltung als mögliche Konsequenz übrig bleibe, versteht sich diese Spielart des Skeptizismus als eine methodisch begründete Haltung. Daher scheint aber das Unterfangen, eine Antwort auf die »pyrrhoni­ sche« Skepsis zu finden, deshalb erreichbar, weil eine kritische Unter­ suchung der vorgebrachten Gründe und der verwendeten Methode die Berechtigung ihrer Schlussfolgerung zu widerlegen hätte.176 Eine begründete Überwindung dieser methodischen Haltung kann berechtigterweise nur dann Erfolg haben, wenn es gelingt, alle Urteile über überlieferte Meinungen, Vorurteile und Gewohnheiten methodisch einzuklammern und im radikalisierten Zweifel einen Aspekt zu finden, der selbst unzweifelhaft wahr sein muss. Auf der Suche nach diesem Fundament kommt also dem metho­ dischen Zweifel die Aufgabe zu, alle vermeintlichen Fundamente in einen begründeten Zweifel zu ziehen, um zu prüfen, ob sie dem Anspruch eines erkenntnistheoretischen Fundaments genügen kön­ nen. Die Radikalisierung des Zweifels, durch die der Skeptizismus überhaupt nur begründet überwunden werden kann, ist auch der Grund, warum selbst die methodische Grundlage der neuen Art der Wissenschaftlichkeit, die sogenannte »mathesis universalis«, vor dieser skeptischen Haltung als zuverlässige Quelle von Wissen zu rechtfertigen ist.177 Aufgrund der Intention, die skeptische Haltung begründet über­ winden zu wollen, kann Descartes nicht auf traditionelle methodische Instrumente wie die der »resolutio« zurückgreifen, nach der von der sinnlichen Wahrnehmung ausgegangen wird und von ihr aus auf Grundbegriffe des Seienden geschlossen werden soll, da die skepti­ sche Haltung natürlich auch die Urteile über Sinneswahrnehmungen zunächst einschließt.178 An die Stelle der »resolutio« tritt bei Descartes deshalb die »meditatio«, die als philosophische Meditation im Wesentlichen durch das ernsthafte Nachdenken und genauem Hinsehen charakteri­

176 177 178

Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 18f. Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 19. Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 19f.

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siert ist. Sie ist nicht zu verwechseln mit einer Art Introspektion179, sondern zielt darauf ab, aufgrund der Unhintergehbarkeit und durch Vollzug des Denkens zu einer unumstößlichen Gewissheit zu führen, wobei die Vorgehensweise sowohl apagogisch (also darauf abzielt, mögliche Einwände zu widerlegen) als auch indirekt in dem Sinne ist, dass mögliche Einsichtshindernisse desjenigen, der diese Meditation durchführt, beseitigt werden sollen.180 Da das oben skizzierte Verfahren der Wahrheitssuche sich nicht auf überlieferte Meinungen oder Erkenntnisse stützen darf, wenn die Möglichkeit der skeptischen Haltung begründet in einem fun­ damentalen Sinn überwunden werden soll, müssen die bisherigen vermeintlichen Gewissheiten methodisch angezweifelt werden.181 Dieser Aufweis der Fallibilität einzelner vermeintlicher Gewisshei­ ten legitimiert es nun, den methodischen Zweifel auf alle unsere Meinungen auszuweiten.182 Zu diesem Zweck führt Descartes die skeptische Grundhaltung an konkreten Beispielen durch, wobei sich vier »Zweifelsgänge«183 ergeben, die nach aufsteigenden Gründen der Bezweifelbarkeit geordnet sind. Dabei führt Descartes nun faktische Gründe an, welche die Infallibilität der jeweiligen Erkenntnisse in Frage stellen und somit die Untersuchung rechtfertigen. In einem ersten Zweifelsgang werden die Sinnestäuschungen thematisiert, wodurch Erkenntnisse der Außenwelt als fallibel ausge­ wiesen werden. Nach Descartes ist es eine allgemeine Erfahrung, dass man sich in Urteilen, die auf Wahrnehmung beruhen, zuweilen getäuscht hat. Aus diesem Grund ist es eben auch hier ratsam, diese Urteile nicht als Basis sicherer Gewissheit machen zu wollen.

Es handelt sich dabei um die geläufige Unterstellung, dass Descartes die Methode der Introspektion verwende. Diese Methode kommt aber gar nicht bei Descartes vor (vgl. A. Kemmerling, Ideen des Ichs. Studien zu Descartes‘ Philosophie, 13). 180 Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 22. Dabei ist noch darauf hinzuweisen, dass Descartes die Deduktion aus ersten Prinzipien nur als Methode der Vergegenwärtigung benutzt, nicht aber zum Auffinden von Erkenntnissen (vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 20, FN 8). 181 Vgl. Zu Descartes‘ Verhältnis zu traditionellen skeptischen Strömungen und zu dem systematischen Stellenwert des methodischen Zweifels D. Perler, »Strategischer Zweifel. Die Funktion skeptischer Argumente in der Ersten Meditation«. 182 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 18. 183 H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 28. 179

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Zwar ließe sich hier noch einwenden, dass man günstigere und weniger günstigere Bedingungen der Wahrnehmung unterscheiden könne, so dass es Standardbedingungen gebe, unter denen die kausa­ len Bedingungen der Wahrnehmungsmeinungen ihre Wahrheitsbe­ dingungen sind. Allerdings zeigt der zweite Zweifelsgang, dass es die Möglichkeit gibt, dass man prinzipiell nicht entscheiden kann, ob solche Bedingungen vorliegen. Diese Zuspitzung des Zweifels bezüglich der Wahrnehmungsmeinungen findet sich in Descartes‘ Traumargument. Manchmal glaube man auch im Traum, dass diese Bedingungen erfüllt seien, und hält daher diese Traumeindrücke für die Realität. Insofern lässt sich das Traumargument als ein generelles Beispiel für Bewusstseinszustände verstehen, in denen systematisch verkannt wird, dass diese Standardbedingungen vorliegen.184 Insofern wird die Außenwelt im zweiten Zweifelsgang nicht nur relativiert, sondern ihre Existenz hinterfragt, so dass dadurch auch alle Inhalte der Selbstwahrnehmung bezweifelt werden kön­ nen.185 Somit taugen Wahrnehmungsmeinungen gerade nicht als erstes Fundament sicherer Gewissheit. Weitere Überlegungen zeigen aber nach Descartes, dass sogar mathematische Wahrheiten, also gerade der methodische Kern der neuen Wissenschaften, nicht als ein solches Fundament dienen kann, was nun in den beiden folgenden Zweifelsgängen gezeigt werden soll, in denen der Zweifel noch einmal radikalisiert wird.186 Im dritten Zweifelsgang wird – um die skeptische Haltung auf die Spitze zu treiben – die Möglichkeit erwogen, dass es zwar einen Gott gibt, der über Allmacht verfügt, von dem wir aber nicht wissen, wie er sie einsetzt. So könnte – so das Gedankenexperiment – dieser Gott uns derart geschaffen haben, dass unsere Erkenntnisfähigkeiten auch hinsichtlich der vermeintlich gewissen Vernunftwahrheiten, wie der mathematischen Wahrheiten – mangelhaft ist. Dieser Gedanke erfährt in dem vierten Zweifelsgang noch eine Zuspitzung, indem nicht nur die Möglichkeit eines unvollkommenen Gottes angenom­ men wird, sondern darüber hinaus auch ein allmächtiger Gott mit boshaften Absichten, der bewirkt, dass das Subjekt sich ständig in 184 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 19. 185 Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 29. 186 Zur Radikalisierung des methodischen Zweifels gegenüber spätaristotelischen Auseinandersetzungen des Skeptizismus vgl. D. Perler, »Woran können wir zweifeln? Vermögensskeptizismus und unsicheres Wissen«, 50–55.

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allen epistemologischen und somit auch in den mathematischen Operationen täuscht. Die in Zweifel gezogenen mathematischen Wahrheiten stehen stellvertretend für die Bezweifelbarkeit aller Ver­ nunftwahrheiten, die man eigentlich mit Klarheit und Deutlichkeit zu erkennen glaubte. Beide Zweifelsgänge stehen für die Radikalisierung des metho­ dischen Zweifels, wobei die Möglichkeit des bösen Täuschergottes in einem nicht mehr überbietbaren Skeptizismus gipfelt, denn dieser Überlegung zufolge könnten alle unsere Erkenntnisse auf Täuschun­ gen basieren.187 Diese Universalisierung des methodischen Zweifels mündet aber in eine Überlegung, die gleichzeitig die erkenntnistheo­ retische Wende mit sich bringt. Es bleibt auch in der Radikalisierung der Zweifelsgänge ein unbezweifelbarer Rest: »Indessen, ich habe mich überredet, daß es schlechterdings nichts in der Welt gibt: keinen Himmel, keine Erde, keine Geister, keine Körper, also doch auch wohl mich selbst nicht? Keineswegs; ich war sicherlich, wenn ich mich dazu überredet habe.«188

Zwar ist es hier prinzipiell noch möglich, skeptische Einwände anzu­ bringen, denn schließlich könnte man darauf insistieren, dass das Sich-einreden oder das Getäuscht-werden Aspekte menschlicher Pra­ xis sind, die raumzeitliche Voraussetzungen hat, die ihrerseits ja gerade bezweifelt werden.189 Doch es scheint in dieser Praxis ein Moment zu geben, das einen zweifelsresistenten Aspekt impliziert: Im Vollzug des Denkens kann sich der Denker seiner Existenz verge­ wissern. Der Satz »Ich existiere« ist also wahr, wann immer er in Gedanken gefasst wird. Diese Selbstvergewisserung bietet nun das gesuchte Fundament, denn in ihm wird eine notwendige Wahrheit ausgedrückt, die selbst ein böser Schöpfergeist nicht aufzuheben ver­ mag: »Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen, höchst mächtigen und verschlagenen Betrüger, der mich geflissentlich stets täuscht. – Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er es doch fertig bringen,

Zur Radikalität des Zweifels D. Perler, »Strategischer Zweifel. Die Funktion skeptischer Argumente in der Ersten Meditation«, 26–28. 188 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, 18. 189 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 27. 187

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daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. Und so komme ich, nachdem ich derart alles mehr als zur Genüge hin und her erwogen habe, schließlich zu dem Beschluß, daß dieser Satz: »Ich bin, ich existiere«, so oft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.«190

Die notwendige Schlussfolgerung ist also gekoppelt an den aktualen Vollzug des Denkens, wobei die inferentielle Struktur dieser notwen­ digen Erkenntnis so gedacht wird, dass schon jegliches Denken den Übergang zur Schlussfolgerung legitimiert, weil in ihr zugleich die Voraussetzung jeglichen Denkens explizit gemacht wird: »Die Wahrheit des Satzes wird vom Denken als solchem, auch wenn es gar keine Wahrheitsansprüche erhebt, vorausgesetzt, dies aber so, daß das Gegebensein dieser Voraussetzung, das Erfülltsein dieser Bedingung der Möglichkeit des Denkens, als etwas Ursprüngliches und durch sich Bekanntes eingesehen werden kann.«191

Gemäß der Absicht, eine Deutung der Descartesschen Selbstverge­ wisserung anzubieten, welche die voraussetzungsreiche Erweiterung zum Substanzdualismus vermeidet, aber eine begründete minimal bestimmte Deutung des Subjekts zulässt, ist hier noch einmal genauer auf die Struktur der Argumentation und die damit verbundene Erkenntnis einzugehen. Die Selbstvergewisserung hat methodisch die Struktur einer doppelten Negation: Während die Durchführung des Zweifels eine Negation der Möglichkeit sicheren Wissens darstellt, zeigt sich bei der radikalisierten Durchführung des skeptischen Unter­ nehmens, dass der Skeptizismus sich als Negation selbst negiert. »In der Durchführung der Zweifelsgänge zeigt sich jedoch: Es bleibt ein Rest, der Skeptizismus negiert sich als Negation, indem er sich kompromißlos verwirklicht. Daß »das, was denkt, nicht nichts« ist (id quod cogitat non est nihil; 3. Erw., 175), erweist sich als unbezweifelbar. In der Zweifelsbetrachtung, also im Vollziehen einer bestimmten Art von cogitatio, wird ein Nicht-nicht-Sein faßbar. Demnach ist die Neue Metaphysik als Metaphysik des Ichs als res cogitans grundle­ gend ›negative Metaphysik‹. Erst in positiver Umformulierung dieser inhaltlich negativen Einsicht gilt: »Ich bin etwas« (ego aliquid sum, II/7, 27)«192 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, 18. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 28. 192 H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 29. 190

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Das bedeutet, dass das Ergebnis der Radikalisierung des methodi­ schen Zweifels sich zunächst nur über diese doppelte Negation cha­ rakterisieren lässt, so dass etwaige weiterführende positive Bestim­ mungen derjenigen Instanz, die sich im Durchgang des Zweifelns als unbezweifelbar herausstellt, erst durch zusätzliche Überlegungen zu leisten sind. Diese Struktur findet sich auch bei Descartes, denn die ontologi­ sche Erweiterung und konkrete Bestimmung des »Ich« als körperlose Substanz findet sich erst in der sechsten Meditation, so dass diese ontologische weiterführende Interpretation für die Gedankengänge und Erkenntnisse der ersten bis fünften Meditation nicht voraus­ gesetzt werden muss.193 Bis zur letzten Meditation findet sich so nur die erste positive Minimalbestimmung, dass dasjenige, was die unbezweifelbare Einsicht gewinnt, ein denkendes Etwas ist, also etwas ist, das ein Denkvermögen voraussetzt. Um den Status der so gewonnenen Erkenntnis und dieser den­ kenden Instanz näher zu bestimmen, sollen hier noch einige wichtige Aspekte erläutert werden. Zunächst ist hier noch einmal festzuhalten, dass es sich bei dieser Erkenntnis nicht um eine intuitive Introspektion handelt, die auf einer passiven inneren Wahrnehmung beruht. Sie ist vielmehr das unbezweifelbare Ergebnis des Durchdenkens des methodischen Zweifels in seiner Radikalisierung, wodurch diese Erkenntnis demnach auf einem Denkakt beruht und somit performa­ tiven Charakter hat. Derjenige, der diese philosophische Meditation durchführt, versucht also im jeweils gegenwärtigen Gedankenexperi­ ment »die Verwirklichung der Möglichkeit der eigenen Nichtexistenz zu denken«194, und da jeder Denkakt die Existenz des Denkenden nicht konstituiert, sondern voraussetzt, scheitert dieser Selbstversuch notwendig. Für den konkreten Einzelnen, der dieses Gedankenexpe­ riment unternimmt, zeigt sich, dass er sich nicht widerspruchsfrei als nicht existierend denken kann.195 Das Denken ist also diejenige Qualität, ohne welche diese Selbstvergewisserung nicht vollzogen werden kann, weil diese nur durch und für das Denken ist, so dass der Denkende in seiner Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 32. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 30. 195 Vgl. hierzu A. Kemmerling, »Zweite Meditation. Das Existo und die Natur des Geistes«, 40, sowie H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 30. 193

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positiven Bestimmung zunächst nur diese Qualität und die mit ihr verbundenen Aspekte in Anspruch nehmen darf. Dies besagt weder, dass diese Qualität eine strikt abgesonderte ontologische Qualität ist (als Substanz), noch, dass es nicht auch andere, empirische Bestimmungen gibt, die ihm als dem konkreten Denker auch noch zukommen. Insofern sind die Zuschreibungen, die sich auf das Denken beziehen nur eine Teilidentifikation, die aber als einzige Qualität einen irrtumsimmunen Aspekt hat, während die empirischen Bestimmungen logisch immer die Möglichkeit zu Fehlidentifikationen beinhaltet.196 Da das Gedankenexperiment zunächst für denjenigen gilt, der es vollzieht, führt die Durchführung der Meditation zunächst zur Herausdeutung eines wohlbestimmten Individuums, das durch diese Durchführung zunächst nur partiell bestimmt ist: Man muss zumin­ dest sagen, dass es ein denkendes Etwas ist, wobei weitere Eigenschaf­ ten, wie z. B. das Verhältnis zu einer vom Bewusstsein unabhängigen Welt, noch nicht bestimmt worden sind.197 Dies führt in der Termi­ nologie Descartes‘ zu der Formulierung der »res cogitans«, die als denkendes Etwas (im Sinne von »nicht Nichts«) und nicht als eine Art Ding im Sinne einer Sache oder Substanz verstanden werden muss und die der ontologischen Erweiterung der körperlosen Substanz noch vorausliegt, so dass diese Erweiterung als eine Möglichkeit angesehen werden muss.198 Das bedeutet aber umgekehrt, dass man nicht auf diese Art von Erweiterung verpflichtet ist, wenn man die Argumen­ tation von Descartes bis zu diesem Punkt – dem unbezweifelbaren Aufweis der denkenden Instanz – teilt. Der nächste Schritt, der weiterhin den Bezug zu einer möglichen subjektunabhängigen Welt eingeklammert lässt und zunächst nur Charakterisierungen innerhalb der »Denksphäre« vornimmt, ist eine Aufzählung von Arten des Denkens: »Was aber bin ich demnach? Ein denkendes Ding! Und was heißt das? Nun, – ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das auch Einbildung und Empfindung hat.«199

Dabei kann es in dem bisher erreichten Argumentationsstadium beim »Vorstellen« bzw. »Empfinden« als Unterarten des Denkens nicht Siehe dazu der Dreistufengebrauch des »ich« bei Anton Friedrich Koch. Vgl. H. Schrödter, Metaphysik des Ichs als res cogitans: Ideen und Gott, 31f. 198 Aus diesem Grund ist auch eine vorschnelle Gleichsetzung von »res« und »sub­ stantia« abzulehnen. 199 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, 21. 196

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darum gehen, unter der Hand einen nicht legitimierten Bezug zur Außenwelt einzuführen, indem hier auf vermeintlich sinnlich wahr­ genommene Inhalte rekurriert wird. Schließlich stehen diese Bezüge immer noch unter der skeptischen Prämisse des Traumarguments, so dass die konkreten Inhalte auch die Leistungen des Geistes sein könn­ ten. Gleichzeitig offenbart sich in dem Modus dieser Einklammerung noch einmal konkret die irrtumsresistente Basis der Selbstvergewis­ serung: »Ich sehe doch offenbar jetzt das Licht, ich höre das Geräusch, fühle die Wärme; aber nein – das ist doch falsch, denn ich schlafe ja. Aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein, das ist es eigentlich, was an mir Empfinden genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist ein Bewusstsein.«200

Damit wird der Aspekt des Empfindens in einer »denkenden Instanz« in einem Gedanken ausgedrückt und somit als Unterart des Denkens behandelt und zugleich die darin zugrundeliegende Relation des Mirso-Scheinens in den Mittelpunkt gerückt, die nicht nur eine wichtige Grundeigenschaft von Subjektivität erfasst, sondern in der sich auch die grundlegende irrtumsresistente Struktur als Basis der Selbstver­ gewisserung der jeweiligen denkenden Instanz findet.201 Denn in ihr wird zum einen von dem Objektbezug in einer Außenwelt abgesehen, da dieser ja noch unter der skeptischen Klammer steht, zum anderen wird gerade durch diese Absehung ein irrtumsresistenter Aspekt dieser Struktur generiert, da in dem Mir-so-Scheinen das jeweilige denkende Subjekt im jeweiligen gegenwärtigen Zustand tatsächlich unfehlbar ist. Das bedeutet, es wird in dem Mir-so-Scheinen derjenige Aspekt des Empfindens bzw. des Denkens thematisiert, welcher die irrtumsimmune Grundlage der Erkenntnis darstellt. Denn wenn von dem Objektbezug abgesehen wird, bleibt in dem Empfinden die Struktur »Es scheint mir, dass ich höre, sehe, fühle usw.« übrig, in der das empfindende Subjekt unfehlbar ist. Descartes macht nun einerseits deutlich, dass die Wahrnehmungsmodi durch Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, 22. Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 31. Es ist hier darauf hinzuweisen, dass damit nicht zwangsläufig Denken und Empfinden gleichgesetzt werden müssen. Vielmehr ist es so, dass ein Aspekt des Empfindens im Denken thematisiert wird, durch den dann eine irrtumsimmune Erkenntnis erlangt werden kann. Das Verhältnis von Empfinden (als phänomenales Erleben) und Denken wird später eigens thematisiert. 200

201

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die Operation des Mir-so-Scheinens mindestens als reine Denkleis­ tungen konzipiert werden müssen, sofern es um den irrtumsimmunen Aspekt geht (was ja die Möglichkeit der Wahrheitsfähigkeit der Urteile über die jeweiligen Inhalte als wahrgenommene Gegenstände nicht ausschließt), und umgekehrt das Denken allgemein mit dem Mir-so-Scheinen charakterisiert werden kann (»das ist es eigentlich, was an mir Empfinden genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist ein Bewusstsein.«).202 Insofern der Wahrheitswert der Empfindungsurteile eingeklam­ mert wird, wird dieser Aspekt des Empfindens eben zu der Art des Denkens, das die Grundlage der Selbstvergewisserung ist. Denn in jedem Fall von Denken, der die Relation des Mir-so-Scheinens hat, also in jedem Denken der Art »Ich denke, dass p« oder »Mir scheint, dass p«, gleichgültig welchen Wahrheitswert p hat, ist die Schlussfolgerung auf die Existenz einer denkenden Instanz (»Ich existiere (jetzt)«) gerechtfertigt. Wie später bei der Bestimmung des »Ich« noch zu sehen sein wird, kommt der Tatsache, dass es sich bei der Schlussfolgerung um einen indexikalischen Satz handelt, eine besondere Bedeutung zu, weil das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels nur von einem konkreten Individuum durchgeführt werden kann, wodurch die Selbstgewissheit des jeweiligen Denkers im »Ich denke« auf diesen konkreten Denker verweist. Die Einklammerung des Wahrheitsanspruchs durch die Opera­ tion des Mir-so-Scheinens ist also nicht nur die Grundlage für die Überwindung des radikalisierten Skeptizismus und das Auffinden einer irrtumsresistenten Erkenntnis; sie ist auch die Grundlage für die unbezweifelbare Bestimmung des Subjekts, nicht nur gedacht zu sein, und bildet damit die ontologische Grundlage für die Unterscheidung von »Bestimmtes-an-sich« und »Bestimmtes-für«. Somit hat die kritische Auseinandersetzung mit dem »Mir-so-Scheinen«-Operator als Fundament für eine Theorie der Subjektivität auch Relevanz für mögliche Deutungen des Erkennenden als ein Ich und ist somit für ein Konzept der konkreten Subjektivität grundlegend. Im Folgenden geht es darum, die strukturell ähnliche Legitima­ tion des Ich-Gedankens bei Cramer zu rekonstruieren, wobei die vorangegangenen Überlegungen das Konzept Cramers argumenta­ tiv stützen, da dort die Radikalisierung der skeptischen Haltung 202 Vgl. A. F. Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des ›Ich denke‹ bei Descartes und Kant, 31f.

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5.3 Denken als Ausgangspunkt einer Theorie der konkreten Subjektivität

im Versuch der Universalisierung des »Mir-so-Scheinen«-Operators en detail durchgespielt wurde mit dem Ergebnis, dass sie notwendi­ gerweise ein nicht nur gedachtes Subjekt voraussetzt, wodurch die versuchsweise intendierte Verabsolutierung des Operators zum Scheitern verurteilt war. In ähnlicher Weise gelangt Cramer zu der Erkenntnis, dass das denkende Subjekt als Voraussetzung der Gedan­ ken selbst nicht nur Gedanke sein kann. Im Folgenden wird der Argumentationsgang Cramers zur Legi­ timierung des Ich-Gedankens nachgezeichnet, und darüber hinaus werden anschließend weitere Bestimmungen des Subjekts hergelei­ tet, wodurch zugleich die Eigenart des Denkens, seine Beziehung zum phänomenalen Erleben und der Bezug zum Organismus geklärt werden sollen.

5.3 Denken als Ausgangspunkt einer Theorie der konkreten Subjektivität Cramer hat in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes, Leibniz, Kant und Husserl eine Theorie der Subjektivität entwickelt, in der sowohl die Eigenart und Struktur des Erlebens und Denkens als eigener Seinsmodus gefasst werden als auch der notwendige Bezug zum Leib und seiner Umwelt apodiktisch hergeleitet werden soll. Ausgangspunkt dafür ist – wie im Folgenden genauer dargelegt wird – die Selbstgewissheit des konkreten denkenden Individuums und die damit verbundene allgemeine Struktur von Subjektivität. Eine Analyse der Subjektstrukturen wird zu einem Konzept führen, in dem das erlebende Lebewesen als psychophysische Einheit ausgewiesen wird, wobei sich das Verhältnis von Geist bzw. Erleben und Körper logisch gesehen als ein Bedingungsverhältnis erweisen wird, das gerade die externe Gegenüberstellung von Wirklichkeitsbereichen vermeiden möchte, ohne einem einseitigen – reduktionistischen oder idealistischen – Monismus anheimzufallen. Auch Cramer beginnt seine Analyse – aus ähnlichen Gründen wie Descartes und Koch – nicht beim phänomenalen Erleben, son­ dern beim Denken, da dies die Sphäre ist, die jegliches Bestimmen voraussetzt und somit diejenige Instanz ist, durch die einzig eine The­ matisierung von Rationalitäts- und Wahrheitsansprüchen, aber auch eine Selbstvergewisserung möglich ist. Durch die Unhintergehbarkeit

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

des Denkens lassen sich aber nach Cramer auch die notwendigen und konstitutiven Bedingungen und Merkmale desselben aus seiner Struktur erschließen, die auch in allgemeinerer Form im phänomena­ len Erleben zu finden sind.203 Dabei ist es Cramers Anspruch, dass durch eine Theorie der Sub­ jektivität einige Überzeugungen unseres »natürlichen Bewusstseins« wie beispielsweise unsere Überzeugung, dass es eine vom Bewusst­ sein unabhängige Außenwelt gibt, dass unser Bewusstsein nicht auf materielle Strukturen reduzierbar ist, dass wir einen Körper haben oder Dinge der Außenwelt erkennen können, philosophisch rekon­ struiert werden müssen.204 Das bedeutet, diese »Selbstverständlich­ keiten« dürfen als Intuitionen nicht einfach vorausgesetzt werden, zumindest dann nicht, wenn sie philosophisch thematisiert und pro­ blematisiert werden. Der unhintergehbare Ausgangspunkt jeglichen Bestimmens – seien dies lebensweltliche, naturwissenschaftliche oder philosophi­ sche Zusammenhänge – ist das Denken, da durch es den zu bestim­ menden Dingen Bestimmungen zugesprochen werden. Wenn Dinge in verschiedenen Arten von Zusammenhängen stehen, dann ist Denken als Bestimmen gerade die Differenzierung dieser Zusam­ menhangsarten.205 Daher ist Denken Bestimmen, und insofern im Denken den zu bestimmenden Dingen Bestimmungen zugesprochen werden, hat das Denken einen Realitätsanspruch: Zwar werden den Dingen im Denken Bestimmungen zugesprochen, gleichzeitig wird dieses Verhältnis von Denken und Sache aber so gedacht, dass die Bestimmungen den Dingen zukommen, auch wenn sie nicht explizit gedacht werden. Daraus ergibt sich spätestens seit Kant als zentrales philosophi­ sches Problem die Differenz von »Bestimmtes-für« und »Bestimmtesan-sich«. Denn wenn »Bestimmtes-für« als grundlegendes Merkmal 203 Cramer nennt dieses Vorgehen »philosophische Deduktion«. Während nach Cra­ mer formale Deduktion von Prämissen ausgeht und auf die Konklusionen schließt, ist die philosophische Deduktion der »Rückschritt in die Bedingungen der Möglichkeit«, wobei es um die Eruierung von ontologischen Bedingungen geht. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 63–65 und Punkt 4 dieser Arbeit. 204 Vgl. W. Kersting, »Der ursprüngliche Realitätsgedanke ›ich denke‹. Wolfgang Cramers cartesianische Meditationen, 34. 205 Vgl. W. Cramer, »Das Ich und das Gute«, 25: »Denken ist solches Bestimmen, das hinsichtlich der Artung von Zusammenhang bestimmt, das also Zusammenhangsar­ tungen differenziert. Denken denkt Artung von Zusammenhang.«

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5.4 Der ursprünglich legitimierte Gedanke des »Ich denke«

für Subjektivität ausdrückt, dass das phänomenale Erleben und das Denken der Modus ist, in dem die Welt dem jeweiligen Subjekt erscheint bzw. von ihm bestimmt ist, dann ist zu fragen, wie sich dieser Modus zu dem Anspruch verhält, dass wir die in der Subjektivität erlebten bzw. gedachten Dinge gewöhnlich als »Bestimmtes-an-sich« auffassen, denen diese Bestimmungen auch unabhängig von unserer Subjektivität zukommen sollen.206 So ist nicht nur alles phänomenale Erleben eben Bestimmtes für das Subjekt, das erlebt; auch die jeweiligen gedanklichen Thematisie­ rungen des Erlebten im Denken, in dem Bestimmungen des Erlebten erfasst werden sollen, sind ja zunächst Bestimmungsversuche des jeweiligen Subjekts.207 Demnach hat ein Subjekt alles, was es hat, seien dies Erkenntnisse, Vorstellungen oder Gegenstände nur in seinen Erlebnissen bzw. – sofern es gedanklich bestimmt ist – in seinen und durch seine Gedanken. Die Erkenntnis, dass die Modi »Bestimmtes-für« und »Bestimmtes-an-sich« jedenfalls nicht not­ wendig identisch sind, ist ja überhaupt erst der Ermöglichungsgrund jeglicher skeptischen Haltung. Insofern ist philosophisch zu klären, ob und wie es möglich ist, dass die gedanklichen Bestimmungen einer Subjektivität auch Bestimmungen der Realität treffen. Diesen transzendentalen Anspruch des natürlichen Bewusstseins, dass es Bestimmungen der Dinge weiß, die den Dingen auch unabhängig vom Bewusstsein zukommen, gilt es nach Cramer in einer Transzendental­ philosophie aufzuklären und zu rechtfertigen.

5.4 Der ursprünglich legitimierte Gedanke des »Ich denke« Da Cramer Denken als Bestimmen bestimmt208, kann erst im Denken die Differenz der beiden Bestimmtheitsmodi thematisiert werden, indem sich das Denken nun nicht mehr auf äußere Gegenstände bezieht, sondern seine eigenen Voraussetzungen thematisiert. Zwar erlebt ein Lebewesen, das das Vermögen des Denkens, also das Vermögen, das Erlebte auch begrifflich zu bestimmen, nicht besitzt, 206 Vgl. beispielsweise W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealis­ mus«, 3. 207 Vgl. dazu R. Schmelz, Subjektivität und Leiblichkeit. Die psycho-physische Einheit in der Philosophie Wolfgang Cramers, 15. 208 Vgl. beispielsweise W. Cramer, Die absolute Reflexion, 109ff.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

die erlebten Inhalte im Modus des »Bestimmtes-für«, ist aber nicht in der Lage, diesen Modus als solchen auch begrifflich zu bestimmen. Erst einem denkenden Lebewesen ist es nicht nur möglich, das Erlebte begrifflich zu bestimmen und seine gedanklichen Bestim­ mungen für Bestimmungen der Dinge zu halten, sondern auch die Differenz der beiden Bestimmtheitsmodi zu thematisieren. Die natürliche Haltung, nach der ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die jeweiligen Denkbestimmungen auch Bestimmungen der Dinge an sich sind und in ihr somit die in der Erkenntnisleistung notwendigen subjektiven Bedingungen außer Acht gelassen werden, ist durch die Erkenntnis der Differenz von »Bestimmtes-an-sich« und »Bestimmtes-für« zunächst zu einem »Ist-Anspruch« herabgestuft worden.209 Ähnlich wie bei Descartes kommt dem Ich-Gedanken auch bei Cramer eine besondere Bedeutung zu, denn erst mit der Erkenntnis, dass alle Bestimmungen Bestimmungen sind, die durch und für ein Bewusstsein hervorgebracht worden sind, wodurch die Differenz von »Bestimmtes-an-sich« und »Bestimmtes-für« überhaupt erst auftre­ ten kann, wird das Problem des Realitätsanspruchs deutlich.210 Der Ich-Gedanke ist somit für alle Ist-Ansprüche zentral, da die Infragestellung jeglicher Realitätsansprüche sich notwendig nur durch die Erkenntnis ergibt, dass das Realitätsansprüche stellende Denken immer das Denken eines konkreten Ich ist, durch welches das Verhältnis von »Bestimmtsein-für« und »Bestimmtes-an-sich« überhaupt erst konstituiert und thematisiert werden kann. Die Pro­ blematik der Realitätsansprüche des Denkens entsteht also erst durch eine selbstbezügliche Thematisierung des Denkens: Zwar wird im Denken beansprucht, dass die gedachten Bestimmungen zugleich Bestimmungen der Dinge sind, gleichzeitig sind die Bestimmungen aber primär immer Bestimmungen, die durch das denkende Subjekt hervorgebracht werden, das den unhintergehbaren Ausgangspunkt dieser Differenz bildet. Begriffliches Bestimmen ist also einerseits nur im Denken möglich, andererseits ist dieses Denken immer das Denken eines konkreten Subjekts. Damit kann auch die Rechtfertigung eines Realitätsanspruchs des Denkens – ähnlich wie bei Descartes – nur bei der Legitimation des Ist-Anspruchs des Ich-Gedankens beginnen, da alle anderen ver­ 209 210

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 110. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 111.

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5.4 Der ursprünglich legitimierte Gedanke des »Ich denke«

meintlichen Realitäten gemäß dem Operator des Mir-so-Scheinens zunächst nur Schein für ein Subjekt sein könnten. In der philoso­ phischen Überprüfung von Realitätsansprüchen kann also nicht auf vorausgesetzte externe Instanzen rekurriert werden, womit natürlich auch naturwissenschaftliche Aussagen hier nicht als Begründungsin­ stanz in Frage kommen, da diese wieder in den Bereich des wahrheits­ minimierenden Operators fallen.211 Daraus ergibt sich auch hier die Vorgehensweise, dass alle »Seinsansprüche« des Denkens zunächst eingeklammert werden müssen. Ähnlich wie bei der Verwendung des alle Wahrheitsansprü­ che minimierenden Operators des Mir-so-Scheinens können nun zunächst alle Bestimmungen als bloße Gedanken, als »bloß gedacht« aufgefasst werden. Und ebenso wie bei Descartes erweist sich auch in Cramers Analyse – wenn auch mit einem etwas anderen argu­ mentativen Fokus – der Ich-Gedanke als erster und ausgezeichneter Realitätsgedanke, der nicht außer Geltung gesetzt werden kann und deshalb ursprünglich legitimiert ist.212 Denn im Ich-Gedanken ist der Realitätsanspruch unmittelbar erfüllt, da Gedanken nicht einfach in der Welt vorkommen, sondern immer Gedanken eines denkenden Subjekts sind und von diesem produziert werden.213 Daher weiß das denkende Subjekt im Ich-Gedanken, dass es selbst nicht nur Gedanke, sondern dass es selbst der Ursprung des Gedankens ist, und kann auf diese Weise minimal ontologisch im Rahmen eines negativen Seinsbegriffs bestimmt werden: Das den­ kende Subjekt ist nicht nur gedacht, weil es der Ursprung und die notwendige Instanz dieses Bestimmungs- und Rechtfertigungsver­ suchs ist.214 Auch hier besteht eine strukturelle Ähnlichkeit zu der minimalen Bestimmung des denkenden Ich bei Descartes: Dieses stellte sich im Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als nicht Vgl. dazu beispielsweise T. Nagel, Was bedeutet das alles, 13. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 14. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 114f., W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealis­ mus«, 6. 213 Dies ist natürlich auch dann der Fall, wenn scheinbare »objektive« Bestimmungen der Welt in den Naturwissenschaften scheinbar ohne Subjektbezug erfasst werden. Diese Auffassung fokussiert sich dann ganz auf den Anspruch des Denkens, Bestimm­ tes an sich zu erfassen, wobei aber die subjektivitätstheoretische Voraussetzung dieses Wissens und die ihr zugrundeliegende Struktur als Prozesse des Denkens von Subjekten ganz vernachlässigt wird. Auch in diesem Fall wird natürlich Denken als Bestimmen vorausgesetzt. 214 Vgl. dazu z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 13. 211

212

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nichts, sondern eben als etwas, das so geartet ist, das es denken kann, heraus. Somit ist der Ich-Gedanke der ausgezeichnete Gedanke, in dem in einem Gedanken gewusst wird, dass es etwas gibt, das nicht nur Gedanke ist. Die sinnvolle Anwendung des Operators im Mir-soScheinen, dessen Aufgabe es war, als skeptische Vorsichtsmaßnahme alle Seins- und Wahrheitsansprüche zu relativieren, findet durch den Ich-Gedanken seine Grenze. Die ontologische Implikation dieses Gedankens kann nicht mehr sinnvoll bezweifelt werden, denn in dem Fall, in dem man den Ich-Gedanken nur für einen Gedanken mit nicht eingelöstem Ist-Anspruch hält, man also gewissermaßen den »Mir-so-Scheinen«-Operator unbegrenzt anwendet, wird die Bestimmung des Gedanke-Seins ausgehöhlt und unterlaufen, weil es eine notwendige Bestimmung von Gedanken ist, Gedanken eines denkenden Subjekts zu sein.215 Somit nimmt auch schon eine mög­ liche Kritik, die behauptet, dass das »Ich« nur Gedanke sei, seinen ontologischen Status als nicht nur gedacht schon in Anspruch, da es in dem Gedanken »Das Ich ist nur Gedanke« schon die Unterscheidung des Gedankens von dem Denker als Ursprung des Gedankens, der eben nicht nur gedacht ist, voraussetzt.216 Aus diesem Grund ist also der Ist-Anspruch des Ich-Gedankens ursprünglich gerechtfertigt, und somit überschreitet sich das Denken in diesem Gedanken zu einem Sein, das minimal bestimmt ist: Das Seiende ist eben nicht nur gedacht, und seine formale Bestimmung, Ursprung des Gedankens zu sein, ist gerade so bestimmt, dass diese das Subjekt charakterisiert unabhängig davon, ob dieses Subjekt seine Bestimmung als Ursprung des Denkens im Gedanken »Ich denke« denkt oder nicht.217 Damit setzt das Denken diese Bestim­ mung, Ursprung der Gedanken zu sein, in jedem anderen Gedanken bereits voraus. Und so fällt in dem Ich-Gedanken das »Bestimmtes-für« mit dem »Bestimmtsein-an-sich« notwendig zusammen, und das »Bestimm­ tes-für« kann es nur geben, wenn es im denkenden Subjekt ein Vgl. W. Kersting, »Der ursprüngliche Realitätsgedanke ›ich denke‹. Wolfgang Cramers cartesianische Meditationen«, 44–48. 216 Vgl. W. Cramer, »Aufgaben und Methoden einer Kategorienlehre«, 351. Ähnlich auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 112f. 217 Zu diesem negativen Seinsbegriff vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 110. 215

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5.4 Der ursprünglich legitimierte Gedanke des »Ich denke«

»Bestimmtsein-an-sich« gibt. Es muss ein denkendes Subjekt geben, das die Qualität besitzt, Gedanken zu erzeugen bzw. zu haben, wenn es Gedanken geben soll. Das denkende Subjekt ist somit etwas Bestimmtes-an-sich, wenn es gleichzeitig – und das ist die Vorausset­ zung allen Erlebens, Denken und Zweifelns – auch die Voraussetzung des »Bestimmtes-für« ist, denn die Herabstufung der Erkenntnisan­ sprüche in diesem Modus setzt ein seiendes Subjekt mit gewissen Qualitäten voraus. Vorstellungen und Erscheinungen als solche sind als Konzept nur dann konsistent zu denken, wenn es eine Instanz gibt, die nicht selbst Vorstellung oder Erscheinung ist, sondern als dasjenige existiert, was Vorstellungen oder Erscheinungen hat.218 Damit fallen im Ich-Gedanken die Bestimmungen »Bestimmtesfür« und »Bestimmtes-an-sich« zusammen, da die Bestimmtheit des Denkens nicht vom Denken selbst erzeugt wird. Das Denken findet sich als diese Qualität schon vor, ist also Bestimmtes an sich und versichert sich im Ich-Gedanken seiner prinzipiellen Struktur: »Ein Denken ist nicht ein durch es selbst konstituiertes, sondern es ist so konstituiert, daß es Gedanken denken kann. In dem Gedanken ›Ich denke‹ ist daher ein Sachverhalt legitim als an sich bestehend gewußt. Denn in ihm ist eine Bestimmtheit gewußt, eine solche zu sein, sich etwas für sich konstituieren zu können.«219

Damit ist der Ich-Gedanke nicht nur derjenige Gedanke, dessen Seinsanspruch unmittelbar gewiss ist, es ist auch derjenige Gedanke, an dem paradigmatisch gezeigt werden kann, dass in einem Gedanken etwas als Nicht-Gedanke gewusst werden kann, dass also in diesem Gedanken gewusst wird, dass mit einem Gedanken etwas bezeichnet wird, was Nicht-Gedanke ist, was es also gibt, ob es gedacht wird oder nicht.220 Somit ist das – nicht nur gedachte – »Ich« des Ich-Gedankens nicht nur die minimal bestimmte Voraussetzung aller Gedanken, es ist auch gleichzeitig diejenige Instanz, an der gezeigt werden kann, dass sich Denken auf »Bestimmtes-an-sich« legitimerweise transzendiert. Denn auch eine skeptische Position ist nur dann überhaupt formu­ 218 Vgl. dazu z. B. W. Kersting, »Der ursprüngliche Realitätsgedanke ›ich denke‹. Wolfgang Cramers cartesianische Meditationen«, 47. 219 W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 33. 220 Cramer nennt dies die Transzendenz des Denkens (W. Cramer, Die Monade, 223). In seinem Nachlass spezifiziert Cramer den Gedanken der Transzendenz. Vgl. Punkt 5.12.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

lierbar und sinnvoll, wenn diese voraussetzt, dass es eine ich-hafte Subjektivität gibt, durch die die Differenz von »Bestimmtes-für« und »Bestimmtes-an-sich« erst konstituiert werden kann.221 Und diese Subjektivität kann selbst nicht in ein »Sein-für« aufgelöst werden, sondern ist vielmehr als nicht nur Gedachtes, als nicht nur »Sein-für« gerade die seinshafte Voraussetzung für allen Subjektbezug.222 Da die Prüfung der Realitätsansprüche des Denkens über den Ich-Gedanken läuft, führt die Durchführung des Gedankenexperi­ ments damit ähnlich wie bei Descartes zunächst zur Herausdeutung eines wohlbestimmten Individuums, nämlich des konkreten Denkers, der diese Prüfung vollzieht. Mit der Legitimation des Ich-Gedankens erfasst er sich als konkreter Fall von Subjektivität, als konkrete Vereinzelung einer allgemeinen Bestimmtheit, nämlich denkendes Subjekt zu sein.223 Damit wird aber am Beispiel des Ich-Gedankens auch deut­ lich, wie ein konkretes Seiendes als solches mit einer allgemeinen Bestimmung bestimmt werden kann: Zwar ist der Ich-Gedanke eine allgemeine Bestimmung, aber das konkrete Denken erkennt, dass es ein Einzelnes von einer allgemeinen Bestimmung ist. Möglich wird das dadurch, dass das konkrete Subjekt im Gedankenexperiment Deswegen ist auch der Kritik Hindrichs an Cramers Versuch der Legitimation des Ich-Gedankens nicht zuzustimmen: Hindrichs unterstellt, dass Cramer allein aus dem Ist-Anspruch des Urteilens schon die Legitimation des Realitätsanspruchs des Ich-Gedankens ableitet und sieht diese Argumentation als nicht stichhaltig an, da sich alle Urteile auf Wirklichkeiten für das Subjekt bezögen, wodurch alle Bestim­ mungsversuche auf der Seite des »Bestimmtes-für« bleiben würden. Dies ist aber eine Verkürzung von Cramers Argumentation, die seine kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Transzendentalphilosophie nicht zur Kenntnis nimmt. Kurz gefasst: Der Ist-Anspruch legitimiert für Cramer per se nicht den Realitätsanspruch des Ich-Gedankens, sondern verweist zunächst auf das Problem der Unterscheidung von »Bestimmtes-für« und »Bestimmtes-an-sich«, die auch von Hindrichs schon in Anspruch genommen werden muss. Insofern diese Unterscheidung aber – wie gezeigt – den Realitätsanspruch des konkreten Subjekts durch das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels legitimiert (und zwar ohne dass für diese Erkenntnis wie im Kantischen Ansatz eine Anschauung des Ich notwendig wäre, weil diese Erkenntnis inferentiell gewonnen wird), trifft Hindrichs Kritik nicht die Cramersche Argumenta­ tion. Vgl. G. Hindrichs, Negatives Selbstbewusstsein. Überlegungen zu einer Theorie der Subjektivität in Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom transzendentalen Ich, 228–232. 222 Vgl. hierzu auch K. Cramer, »Überlegungen zu Hans-Dieter Kleins Auseinander­ setzung mit Wolfgang Cramers ›Grundlegung einer Theorie des Geistes‹“, 227ff. 223 Vgl. R. Schmelz, Subjektivität und Leiblichkeit. Die psycho-physische Einheit in der Philosophie Wolfgang Cramers, 23. 221

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5.4 Der ursprünglich legitimierte Gedanke des »Ich denke«

des radikalen Zweifels die allgemeine Bestimmung auf sich bezieht, indem es in der konkreten Erkenntnis das konkrete »Ich« meint. Aus der Vereinzelung der konkreten Subjektivität lassen sich – wie noch genauer zu zeigen sein wird – zwei Bezüge zu Instanzen herleiten, die sich als Bedingungen dieser konkreten Subjektivität erweisen: Zum einen zeigt die Erkenntnis der Vereinzelung, dass das konkrete Denken eine bestimmte Form ist, von der auch andere Glei­ che sein können. Damit wird schon der Bezug auf etwas außerhalb des Denkens hergestellt, das diese Vereinzelung verbürgt: Der einzelne Denker kann nur ein konkreter Fall von Subjektivität sein, wenn es eine Ordnung gibt, die diese Vereinzelung bestimmt und die nicht von dem konkreten Subjekt produziert werden kann, weil es diese Ordnung bereits voraussetzt. Zum anderen verweist die vorgegebene Inhaltlichkeit des kon­ kreten Erlebens auf ein Moment der konkreten Subjektivität, das weder durch den Modus des Denkens noch des Erlebens erklärt werden kann. Es wird sich herausstellen, dass die konkrete Subjekti­ vität durch den Organismus bedingt ist, wodurch ein notwendiger Bezug zu Körper und Natur aufgewiesen wird. Denn auch wenn dem »Ich« in der oben aufgezeigten Weise ein Sein zugesprochen werden muss, wird noch zu zeigen sein, dass dieses »Ich« nicht abstrakt und unabhängig vom Körper existiert, sondern dass es sich bei ihm um das Moment einer bestimmten Art eines erlebenden Lebewesens handelt. Es wird ebenfalls also zu zeigen sein, dass Denken und auch allgemein Erleben sich immer schon aus subjektphilosophischen Überlegungen notwendig als Moment konkreter Subjektivität herausstellen und damit auf einen konkreten Organismus verweisen. Damit weist die Cramersche Konzeption eine erstaunliche Ähn­ lichkeit mit den drei Gebrauchsweisen von »ich« bei Koch auf: Auch hier gibt es zwar zunächst die Möglichkeit, in einem Gedankenexpe­ riment den Operatorgebrauch zu entgrenzen, damit zunächst alle Wahrheitsansprüche zu minimieren und alle Bestimmungen als bloße Gedanken aufzufassen. Dieses Gedankenexperiment schlägt aber im Falle des Ich-Gedankens fehl, weil dieser das »Ich« als etwas ausweist, was nicht nur gedacht sein kann, sondern Grundlage der Gedanken ist. In diesem Fall legitimiert sich der Subjektgebrauch von »ich«, in dem aber das »ich« schon auf eine konkrete Person mit einem kon­ kreten Körper verweist, aber diese konkretisierende Identifizierung noch nicht vorgenommen wurde, was schließlich in dem (dann wieder teilweise fehlbaren) Objektgebrauch vollzogen wird.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass die Selbsterkenntnis und die minimale ontologische Bestimmung des Ich auf der Ebene des Subjektgebrauchs nicht referentiell durch ein Objekt in der Anschau­ ung, also nicht durch eine Subjekt-Objekt-Identität konstituiert wer­ den, sondern dass sich die Selbsterkenntnis und die daraus resultie­ renden Bestimmungen inferentiell notwendig ergeben.224 Für die Legitimation des Ich-Gedankens lässt sich zusammenfassen: 1.

2.

3.

4.

Die Analyse des Ich-Gedankens führt in der Unterscheidung Gedanke-Denken zunächst zur Selbstgewissheit: Das konkrete, denkende Subjekt weiß, dass es selbst nicht nur gedacht sein kann (negativer Seinsbegriff). In dieser Analyse zeigt sich die Grundstruktur des Den­ kens: Denken ist ein Bestimmen, in dem gewusst wird, dass die gedachten Bestimmungen nicht nur gedacht sind (»IstAnspruch«: Es ist so, gleichgültig, ob es gedacht wird oder nicht). Ein denkendes Lebewesen weiß sich im Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als ein konkretes Seiendes und in sich Bestimmtes, das von einer bestimmten Form ist. Es ist konkretes Einzelnes von einer Art, von der auch andere sein können. Die so gefundenen Prinzipien sind nicht nur Denkprinzipien, sondern Prinzipien von Seiendem.

5.5 Denken als spezifische Form des Erlebens Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Subjektivitätstheorie, in der Denken, Erleben, Organismus und Natur aufeinander bezogen werden, ist eine Analyse des Denkens. Mit dem Denken anzufangen ist deshalb notwendig, weil es die unhintergehbare Voraussetzung jeglichen Bestimmens ist. Aus diesem Grund kann keine Subjektivi­ tätstheorie adäquat sein, die die (meist implizit bleibenden) Grundbe­ stimmungen des Denkens nicht einholen kann. Cramer geht in seiner Analyse nicht von einer bestimmten Art des Denkens – z. B. des naturwissenschaftlichen oder logischen Denkens – aus, sondern versucht aufzuweisen, dass allen Arten 224 Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 22. Dazu auch W. Kersting, »Der ursprüngliche Realitätsgedanke ›ich denke‹. Wolfgang Cra­ mers cartesianische Meditationen«, 57.

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5.5 Denken als spezifische Form des Erlebens

des Denkens bestimmte Grundbestimmungen zukommen müssen. Grundlegend für diese Analyse des Denkens ist die Unterscheidung zwischen Gedanke und Denken. Mit Denken ist der gesamte Zusam­ menhang des (gedanklichen) Bestimmens gemeint, der auch Gedan­ ken einschließt, der aber nicht einfach in einem Gedanken oder auch in der Summe von Gedanken aufgeht. Denken ist deswegen nicht einfach nur Gedanke, weil dann wichtige Momente des Denkens nicht erfasst würden. Dies hängt mit der Eigenart von Gedanken zusammen. Da Gedanken weder einfach in der Welt vorkommen noch als fertige Eigenschaften von weltlichen Dingen aufgefasst werden können, auf die sich dann das Denken hinbezieht bzw. die dann erst in das Denken fallen, muss die dynamische und zeitliche Struktur der Produktion von Gedanken sowie die damit verbundene selbstbe­ zügliche Struktur des Denkens für eine umfassende Beschreibung berücksichtigt werden.225 Gedanken werden von einem Denker gedacht bzw. erzeugt und sind in ihrer Selbstbezüglichkeit auch wieder für den Denker. Als diese spezifische Aktivität ist das Denken deshalb also nicht nur Gedanke, sondern bezeichnet den dynamischen Zusammenhang des Habens und des Erzeugens der Gedanken.226 Konkrete Gedanken werden demnach nur in einem konkreten Denken, in einem konkreten Subjekt generiert. Es ist ein wesentliches Bestimmungsmerkmal des konkreten Denkens, dass es Gedanken produziert. Denken ist somit als Aktivität aufzufassen, die im denkenden Subjekt ihren Ursprung hat und deren Resultat konkrete Gedanken sind. Cramer nennt diese spezifische Aktivität des Denkens »Zeugen« bzw. »Erzeugen«. Wurde bisher das Subjekt aufgrund der Unterscheidung von Denken und Gedanke über den negativen Seinsbegriff nur minimal bestimmt und als Ursprung der Gedanken formal qualifiziert, sind nun weitere Bestimmungen zu finden, die sich aus der Qualität des Zeugens ergeben. Um über die formale Qualifizierung des UrsprungSeins inhaltlich hinauszukommen, kann sich die Reflexion nur auf die Struktur des Denkens selbst und die damit verbundenen Bestimmun­ gen stützen. Anderenfalls würden in der Bestimmung des Denkens an es Bestimmungen herangetragen, die dem Denken selbst äußerlich wären und somit nur einen hypothetischen oder assoziativen Charak­ ter hätten. 225 226

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 114. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 12.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Bei dieser Weiterbestimmung des Denkens kann also nur das konkrete Denken mit seinen Qualitäten im Fokus stehen, wodurch nun neben den transzendentalphilosophischen auch phänomenologi­ sche Aspekte berücksichtigt werden müssen. Dies wird neben der Qualifikation des Denkens als Für-es-Sein und In-sich-Sein auch zu seiner unhintergehbaren zeitlichen Verfasstheit führen, wobei es als konkretes Denken auf eine Ordnung verweist, in die es eingebettet ist. Für diesen Zweck ist nun die Eigenart des Denkens als Zeugen näher zu betrachten. Denken als Zeugen differenziert sich als Bin­ nenverhältnis seiner Momente »Zeugendes« (Ursprung), »Zeugen« (Aktivität) und »Gezeugtes« (Gedanken), was es nun zu erläutern gilt. Gedanken können nicht als etwas aufgefasst werden, das »vor« dem Denken schon existiert hätte und von diesem nur »eingefangen« würde, indem das Denken sich auf etwas bezöge, was ihm äußerlich wäre. Es findet die Gedanken nicht einfach vor, sondern es ist deren Ursprung und steht so in einer Binnenrelation zu ihnen.227 Dabei handelt es sich nicht um eine reine Korrelation, sondern um ein »asymmetrisches« Verhältnis: Nicht die Gedanken erzeugen das Denken, sondern das Denken erzeugt die Gedanken. Der Ursprung des Denkens zeugt einen Gedanken, wobei die Qualität des Zeugens selbstbezüglich in dem Sinn ist, dass das Gezeugte (der Gedanke) nicht etwas ist, was nach seiner Zeugung vollständig vom Ursprung separiert wäre. Der gezeugte Gedanke ist durch den Ursprung und zugleich für den Ursprung. Die vom Subjekt hervorgebrachten Gedanken sind dadurch auch wieder für das Subjekt. Zwar können die gezeugten Gedanken kommuniziert werden und sind so indirekt auch für andere Subjekte. Dies ist aber nur dann der Fall, wenn das denkende Subjekt dies will. Primär sind die gezeugten Gedanken reflexiv für das denkende Subjekt als Ursprung der Gedanken. Das bedeutet, das Denken ist durch seine reflexive Struktur ein Für-es-Sein und dadurch gleichzeitig ein In-sich-Sein, insofern das im Denken Produzierte primär nicht für etwas anderes als das produzierende Denken ist, sondern nur im aufgezeigten Zusammenhang bleibt. Damit lässt sich das Denken als dynamischer Zusammenhang in einer Binnendifferenzierung darstellen, die folgende logische Momente beinhaltet, die nicht weiter aufeinander reduzierbar sind: 227

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 21.

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5.5 Denken als spezifische Form des Erlebens

Ursprung des Denkens (»Erzeugendes«) – der Vorgang des Erzeugens (»Erzeugen«) – Gedanke (»Erzeugtes«)228 Betrachtet man nur die Gedanken, verkürzt man den dynami­ schen Zusammenhang des Denkens auf das Resultat und blendet die anderen notwendigen Momente aus. Den minimalen Gesamtzu­ sammenhang von Denken erfasst man also nur dann, wenn seine inhaltslogischen Momente, die implizit durch die notwendige Unter­ scheidung von Denken und Gedanke immer schon mitgedacht sind, in die Analyse aufgenommen werden.229 Weil Denken als begriffliches Bestimmen nicht auf irgendet­ was zurückgeführt werden kann, was nicht Denken ist, setzt dieses aktive Produzieren einen Ursprung sui generis, also ein denkendes Subjekt, voraus. Das denkende Subjekt produziert Gedanken, die dank der Selbstbezüglichkeit des Denkens auch wieder für dieses Subjekt sind. Diese Selbstbezüglichkeit hat aber auch Relevanz für eine weitere wesentliche Bestimmtheit des Denkens, nämlich seine zeitliche Bestimmung: Denn wenn das Denken auch ein Zeugen von Gedanken ist, dann ist dieses Erzeugen und damit das Denken selbst zeitlich bestimmt.230 Da Gedanken nicht in einem unausgedehnten Jetzt-Punkt gedacht werden können, sondern Denken in seinem Vollzug Zeit braucht, ist Denken selbst eine zeitliche Dauer.231 Zwar können im Denken zeitlose Gehalte gedacht werden (z. B. »5+2=7«), aber der Denkprozess, in dem dieser Gehalt gedacht wird, ist unhin­ tergehbar zeitlich.

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 22. Vor diesem Hintergrund ist auch Gunnar Hindrichs Kritik an Cramers Vorgehen zu widersprechen. Hindrichs stimmt zwar Cramer in der Auffassung zu, dass das den­ kende Subjekt ein Seiendes ist, sieht aber keine Möglichkeit, dieses zu qualifizieren. Vgl. G. Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt: Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, 240–243. Der konstitutive Bezug des Denkens für das Zeugen der Gedanken und der Aufweis der transzendentalen Realität der Zeit erlauben aber eine Qualifizierung des Subjekts, die sich gewissermaßen an den Mindestbedingungen einer Subjekttheorie orientieren. 230 Vgl. dazu Schmelz: »Alles Erlebte ist zeitlich bestimmt, weil das Bestimmen selber von dieser Bestimmung ist« (R. Schmelz, Subjektivität und Leiblichkeit. Die psycho-physische Einheit in der Philosophie Wolfgang Cramers, 43). 231 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 18; H. J. Zoche, Abso­ lutes Denken. Der Aufstieg zum Absoluten anhand der Transzendentalphilosophie Wolfgang Cramers, 14–15; R. Schmelz, Subjektivität und Leiblichkeit. Die psychophysische Einheit in der Philosophie Wolfgang Cramers, 43–45. 228

229

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Das Denken kann nicht nur Zeitloses denken, es hat zudem die Möglichkeit, die Zeit gewissermaßen aufzuheben, indem es zeit­ liche Ereignisse in einem Gedanken zusammendenkt.232 Aber dieser Bezug verschiedener zeitlicher Ereignisse in einem Gedanken ist nur dadurch möglich, dass auch das Denken dieses Gedankens selbst wieder zeitlich ist und dadurch mit den zeitlichen Bestimmungen schon immer vertraut sein muss. Ein zeitloser Gehalt muss demnach als Abstraktion von der konkreten zeitlichen Dauer des Denkens verstanden werden. Denn während es möglich ist, ein zeitloses oder ein zeitlich unausgedehntes »Jetzt« von einer konkreten Dauer zu abstrahieren, ist es umgekehrt nicht möglich, aus einer Zeitlosigkeit eine ausgedehnte Dauer zu produzieren.233 Es ist also weder möglich, aus ausdehnungslosen Zeitpunkten eine ausgedehnte Dauer zu generieren, noch ist es für ein in sich zeitloses Subjekt möglich, zeitliche Aktivitäten wie Denken, Vorstellen oder Anschauen zu vollziehen: »Nicht nur habe ich etwas in der Ordnung des Früher und Später, sondern das Haben ist früher und später, das Haben ist jetzt, z. B. das Denken ist jetzt […]«234

Deshalb sind die gedanklichen Vollzüge des denkenden Subjekts im Erzeugen und Haben von Gedanken selbst zeitlich.235 Damit ist aber Zeit nicht nur eine subjektive Anschauungsform, nach der angeschaute Inhalte geordnet werden, sondern sie ist nach Cramer transzendental real, beschreibt also auch die ontologische Verfasstheit von Subjektivität:236 »Denn Bewußtsein ist Dauer des Bewußtseins, Anschauung Dauer des Anschauens, Vorstellen Dauer des Vorstellens, Denken Dauer des Denkens. Nicht nur habe ich etwas in der Ordnung des Früher und Später, sondern das Haben ist früher und später […] Die Zeit ist die Form des Angeschauten (Form der Erscheinung) und Form des Anschauens, dem Subjekte eigene Form (Subjektivität der Form)

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 11. Vgl. für eine grundlegende Analyse von Zeitpunkt und zeitlicher Dauer A.N. Whitehead, Concept of Nature, die den Grundeinwand Cramers teilt. 234 W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 16. 235 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 60. 236 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 16f. Vgl. auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 54–57. 232

233

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5.5 Denken als spezifische Form des Erlebens

[…] das Subjekt ist das Tätigen der Anschauung, das Haben von Vorstellungen, ist ursprünglich zeitlicher Vollzug.«237

Dabei generiert Denken selbst in seinem Vollzug eine bestimmte Form der Dauer, denn im Erzeugen eines Gedankens ist im Vollzug des Gedankens auch noch das mitgedacht, was am Anfang gedacht wurde. Mit dieser zeitlichen Verfasstheit steht das denkende Subjekt aber auch in seinen subjektiven Vollzügen in einer zeitlichen Konti­ nuität: Nicht nur benötigen die gedanklichen Vollzüge eine zeitliche Dauer; durch die Selbstbezüglichkeit des Denkens ergibt sich in den Vollzügen auch Kontinuität in Form einer Dauer. Die Gedanken werden erzeugt und sind als erzeugte in ihrer Rückbezüglichkeit wie­ derum für den Ursprung des Denkens, für das denkende Subjekt. Die Erzeugnisse des Denkens (Gedanken, Vorstellungen, Anschauungen) sind also durch das Subjekt und für das Subjekt, wodurch eine gewisse transtemporale Identität generiert wird. Durch diese Überlegungen Cramers lässt sich das Konzept des Subjektgebrauchs von »ich«, wie er von Koch eingeführt wurde, wie folgt erweitern: Ähnlich wie bei Descartes ergibt sich bei Cramer zunächst die Selbstgewissheit des denkenden Subjekts durch die Prüfung des Realitätsanspruchs des Denkens. Dabei erweist sich der Ich-Gedanke als ursprünglich legitimierter Realitätsgedanke, da sein Ist-Anspruch unmittelbar eingelöst ist, denn bei aller Relativierung von Wahrheitsansprüchen ist das denkende Subjekt gerade die Bedin­ gung für den Operator des Mir-so-Scheinens bzw. die gedankliche Bestimmung des »nur gedacht«. Das denkende Subjekt ist demnach minimal bestimmt, da es nicht nur gedacht ist. Anhand der durch die Analyse des Denkens gewonnenen Unterscheidung von Gedanke und Denken erweist sich das denkende Subjekt als ein Moment des Gesamtphänomens Denken und somit als nicht nur gedachte Bedin­ gung dieser Unterscheidung, da Gedanken in ihrem genetischen Kon­ text nur als Produkte eines konkreten Denkens verstanden werden können, wobei die zeitliche Verfasstheit des Denkens ein wesentliches Bestimmungsmerkmal darstellt. Damit ergibt sich auf der Ebene des Subjektgebrauchs von »ich« keineswegs die von Kant postulierte Leerheit des Ich-Gedankens: Seine Bestimmtheit findet dieser nicht durch eine Anschauung, son­ dern inferentiell durch die Analyse des Denkens: 237

W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 16f.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

»Denn das Ich ist nicht der Gedanke ›Ich‹. Nicht der Gedanke ›Ich‹ denkt, sondern das Ich denkt. Das Ich, welches denkt, kann in der Tat nicht Gegenstand werden, denn jeder Gegenstand und jeder Gedanke ist für es. Aber daraus ist nicht die Folgerung zu ziehen, daß das Ich unerkennbar ist. Es ist gar nicht einzusehen, warum das Ich sich nicht den Gedanken von sich soll erzeugen können, d.h. die Bestimmung ›Erzeugendes‹ soll denken können. Gewiß liegt das Ich ›hinter‹ allem Gedachten und ist ein nicht Gedachtes. Wird ›Ich‹ gedacht, dann denkt immer noch das denkende Ich ›Ich‹. An den Ort des vom Ich Erzeugten freilich kann das Ich nicht gebracht werden. Das Erzeugende kann nicht Erzeugtes werden. Aber das ist auch gar nicht verlangt. Das Ich kann vermöge des Erzeugens der Bestimmung ›Erzeugendes‹ sich wissen.«238

Das denkende Ich kann also nicht in eine Vorstellung oder Anschau­ ung gebracht werden, und deshalb kann es auch nicht in eine SubjektObjekt-Identität aufgelöst werden.239 Erkenntnis des Ich gewinnt man nur indirekt durch eine Analyse des Denkens, das eben auch noch die Bedingungen des Denkens expliziert, also seine Merkmale als Aktivität, die Gedanken zeugt. Diese Analyse impliziert eine minimale Bestimmung des Ich, denn das Ich ist »nicht nur gedacht« und gleichzeitig erzeugendes und damit konstitutives Moment des Denkens, das zeitlich verfasst ist. Aber auch hier gilt, dass das denkende Subjekt, obwohl es als konsti­ tutives Moment des phänomenalen Erlebens in den Kontext eines eigenen Wirklichkeitsmodus gestellt ist, nicht als Substanz aufgefasst werden muss, sondern sich eben als Moment einer höheren Einheit erweist. Ebenso wie bei Koch lassen sich bestimmte Merkmale von Subjektivität unabhängig von Körperlichkeit thematisieren. Gleich­ zeitig verweist aber das vereinzelte Ich schon im Subjektgebrauch auf seine Verkörperung. Diese Angewiesenheit auf einen Organismus versucht Cramer aber subjektphilosophisch herzuleiten, wodurch Körperlichkeit und Weltlichkeit als notwendige und konstitutive Momente von konkreter Subjektivität erwiesen werden.240 238 W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 10f. Vgl. dazu auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 119–121; 126–128. 239 Diese Nicht-Auflösbarkeit des Selbstbewusstseins nennt Stekeler-Weithofer die Hegel-These. Vgl. P. Stekeler-Weithofer, »Das Subjekt des Handelns als Objekt der Reflexion«. 240 Vgl. W. Kersting, »Der ursprüngliche Realitätsgedanke ›ich denke‹. Wolfgang Cramers cartesianische Meditationen«, 60f.

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5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben

Damit muss es nach Cramer das Programm der Transzenden­ talphilosophie sein, diese Transzendenzleistung der Subjektivität in ihrem Bezug zum Organismus und zur Natur zu rechtfertigen.241 Der Schlüssel für diesen Nachweis liegt in einer Analyse des Erlebens im Allgemeinen. Denken wurde als eine spezielle Art des Erlebens bestimmt, da es sich beim Denken um eine spezifische Aktivität handelt, deren Charakteristikum es ist, Bestimmbares begrifflich zu bestimmen. Dieses Bestimmen bezieht sich aber im Falle des nicht philosophischen Denkens auf etwas, was im Erleben gegeben ist. Ein denkendes Lebewesen zeichnet sich somit gegenüber einem nicht denken könnenden Lebewesen dadurch aus, dass es das ihm im Erleben Gegebene eben begrifflich bestimmen kann. Allen Lebewesen ist aber damit das Erleben gemeinsam, das innere und äußere Wahr­ nehmung umfasst. Deswegen hat eine Theorie der Subjektivität auch ein Konzept des Erlebens zu entwickeln. Da schon gezeigt worden ist, dass sich das phänomenale Erleben nicht innerhalb reduktionis­ tisch-physikalistischer Ansätze deuten lässt, steht ein tragfähiges Konzept von Erleben vor der Herausforderung, sowohl der Eigenart des Erlebens als auch seiner organismischen Eingebundenheit und damit seinem Verhältnis zur Natur Rechnung zu tragen.242 Da Denken als eine spezielle Art des Zeugens herausgestellt worden und es somit als eine spezielle Form des Erlebens anzusehen ist, gilt es nun zu zeigen, dass die dort gefundene Grundstruktur des Zeugens, nämlich »Ursprung-Zeugen-Gezeugtes«, auch die Grund­ struktur des Erlebens ist. Darüber hinaus müssen die spezifischen Qualitäten des Erlebens entwickelt werden, wobei die Qualität der Dauer von entscheidender Bedeutung ist: Die Dauer als Integration des Gewesenen ist nicht eine spezifische Qualität des Denkens, son­ dern stellt die Grundbestimmung der Subjektivität überhaupt dar.243 Dies gilt es nun am Phänomen des Erlebens weiter zu entfalten.

5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben Durch das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels wird nicht nur das denkende Subjekt als nicht nur gedacht legitimiert; die Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 24. Vgl. W. Kersting, »Monade und Bewußtsein. Die monadologische Subjektivitäts­ konzeption Wolfgang Cramers«, 352. 243 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 26. 241

242

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Durchführung dieses Gedankenexperiments verweist zudem auch auf den konkreten Denker, der es durchführt. Somit erkennt sich das denkende Subjekt als konkret Seiendes und damit als Konkretisierung einer bestimmten Form der Realität (»Denker«), von der auch andere Seiende sein können. Dies führt wiederum auf den Einbettungszu­ sammenhang der konkreten Subjektivität: Da das konkrete Subjekt sich selbst nicht dazu bestimmen kann, diese bestimmte Form zu sein, da dies ihm also vorgegeben ist, lässt sich aus der Selbsterkenntnis auch schon auf eine Ordnung schließen, über die das Subjekt nicht verfügt. Damit ist ein Einbettungszusammenhang des Subjekts aus­ gewiesen, den es – im Sinne Cramers – transzendentalphilosophisch zu entfalten gilt. Zwar ist das Denken als Bestimmen derjenige Modus, in dem dieser Einbettungszusammenhang begrifflich bestimmt werden kann, doch ist das Denken für eine weiterführende Bestimmung auf etwas angewiesen, das nicht Denken ist, da aus der Analyse des Denkens allein keine weiteren Bestimmungen dieses Einbettungszusammen­ hangs gefunden werden können. Da der Gesamtbestimmungsprozess aber nur im Kontext des konkreten Subjekts und damit aus den oben schon für den Modus des Denkens angeführten Gründen nur inner­ halb von Subjektivität vollzogen werden kann, ist also innerhalb von Subjektivität nach einem weiteren Modus zu suchen, der Aufschluss über den Einbettungszusammenhang bieten kann und der zudem so grundlegend ist, dass er dem Subjekt auch zukommen muss, wenn es nicht denkt. Im Rahmen der Entfaltung des Einbettungszusammenhangs der konkreten Subjektivität kommt aber damit nur das Erleben als der Grundmodus der Subjektivität in Frage, durch das das Subjekt einen grundlegenden Bezug zu seinem Einbettungszusammenhang gewinnt. Grundlegend ist Erleben deshalb, weil in ihm der Bezug zum Einbettungszusammenhang notwendigerweise gegeben ist, während das denkerische Bestimmen dieses Zusammenhangs nur den mit Denkvermögen ausgestatteten Lebewesen möglich ist und dieses Bestimmen zudem auch nicht notwendig in dem Sinne ist, dass jedes denkende Lebewesen diesen Zusammenhang thematisieren muss. Das Denken bezieht sich somit auf dasjenige, was ihm durch das Erleben gegeben ist. Somit setzt Denken diesen grundlegenden Modus des Erlebens im Wahrnehmen, Vorstellen und Anschauen bereits voraus, denn es bezieht sich, wenn es sich nicht selbst thema­ tisiert, in seinem Bestimmen auf Inhalte, die ihm eben in diesen Arten

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5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben

des Erlebens gegeben sind. Deshalb ist Erleben als Grundmodus der Subjektivität auch Tieren zuzusprechen, deren Subjektivität nicht den Modus des Denkens, also des begrifflichen Bestimmens, beinhaltet. Ebenso wie die Realitätsansprüche des Denkens sind in einem Konzept des Erlebens ähnliche Ansprüche als Subjektivitätsleistun­ gen auszuweisen, wie beispielsweise die Auffassung, mit der Rezep­ tivität der Wahrnehmung habe das Erleben einen Bezug zur subjekt­ unabhängigen Welt. Dies ist insofern eine Herausforderung, als es sich beim Erleben ebenso wie beim Denken um einen Modus handelt, in dem ein naiv gedachter Bezug zu einem »Außerhalb« aufgrund seiner Eigenart als eigener Modus nicht möglich ist.244 Denn galt schon bei den Gedanken, dass sie nicht einfach außerhalb des Denkens existieren und dann sozusagen ins Denken fallen, so gilt auch beim Erleben, dass es sich nicht auf etwas Transzendentes hinbeziehen kann in dem Sinn, dass die erlebten Inhalte als solche schon vor dem Erleben existierten und dann in das Erleben »einfielen«.245 Es mögen zwar die erlebten Dinge in der Welt auch ohne das Erleben existieren, aber die jewei­ ligen Inhalte des Erlebens, die Vorstellungen und Wahrnehmungen existieren nicht außerhalb des Erlebens. Somit kann alles, was im Erleben vorkommt, in ihm nur im Modus des Erlebens gegeben sein. Der in der Auffassung, dass sich Erleben auf etwas außerhalb seiner bezieht, gemeinte Sachverhalt, dass Dinge außerhalb des Erlebens etwas mit Erlebnisinhalten zu tun haben, ist also komplexer, als es der naive Realismus suggeriert. Gerade wenn sich phänomenales Erleben nicht auf physikalische Strukturen reduzieren lässt und somit alle Inhalte des Erlebens als erlebte Inhalte im Modus des Erlebens von einer bestimmten Art sind, dann ist Erleben, wie in besonderer Weise schon am Phänomen des Denkens gezeigt wurde, eine Aktivität, die ihrem eigenen Prinzip untersteht.246 Erleben mag zwar in einem Zusammenhang mit der Natur stehen, aber diese kann – sofern Natur rein naturwissenschaft­ lich als rein relationale oder kausal-funktionale Struktur beschrie­ ben wird – Erleben als Erleben weder beschreiben noch erklären. Die naturwissenschaftliche Analyse kann nur diejenigen physischen Momente beschreiben, die mit dem Auftreten einer solchen Quali­ 244 245 246

Vgl. z. B. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 116. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 93f. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 33.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

tät einhergehen und von daher eine notwendige Bedingung dieses Auftreten darstellen. Insofern ist mit einer Kritik der physikalistischreduktionistischen Positionen zwar gezeigt, dass die Qualität des Erlebens anders geartet ist als die Qualitäten, die in physikalischen Beschreibungen vorkommen, aber damit ist die wesentliche Struktur des Erlebens noch nicht expliziert. Sofern nach den wesentlichen Bestimmungen des Erlebens gefragt wird, ist dies gleichzeitig die Frage nach seinem Prinzip, denn dieses gibt den generellen Bestimmt­ heitsmodus des Erlebens an.247 Da das Erleben nicht auf raumzeitliche Strukturen reduzierbar ist, es also eine eigene Bestimmtheit besitzt, muss es auch sein eigenes Prinzip besitzen.248 Das bedeutet, dass Erleben ein eigener Modus von Realität ist, der in seinen Zusammenhängen und Eigenschaften nicht durch etwas vollständig bestimmt werden kann, was selbst nicht Erleben ist.249 Denn damit wäre wiederum gesagt, dass die Eigen­ art des Erlebens doch wieder auf andere Strukturen zurückführbar sein müsste. Da sich im bisherigen Verlauf von Cramers Untersuchung her­ ausgestellt hat, dass Denken ein spezieller Modus der Subjektivität ist und als solcher daher auch eine spezielle Art des Zeugens ist, muss es auch eine Grundstruktur und damit auch ein eigenes Prinzip besitzen. Es gilt nun zu untersuchen, inwiefern die im Denken gefundene Grundstruktur des Zeugens, nämlich »Ursprung-Zeugen-Gezeug­ tes«, auch die Grundstruktur des Erlebens ist. Aus der Struktur des Denkens ergab sich, dass Denken als Zeugen eine spezielle Aktivität sein muss, weil Gedanken als erzeugte bzw. als produzierte bestimmt werden müssen und sich somit nicht einfach in der Welt vorfinden. Ferner muss das Denken einen Ursprung sui generis haben, da es sich nicht auf etwas reduzieren lässt, was nicht Denken ist, und hatte als Ergebnis konkrete Gedanken, die in der selbstreflexiven Struktur des Zeugens wieder für das Denken waren. Ähnlich verhält es sich nach Cramer beim Erleben. Da es sich nicht auf raumzeitliche Strukturen zurückführen lässt und zeitlich Vgl. W. Cramer, Die Monade, 50–54; W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 32f. 248 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 53. 249 Damit ist nicht gesagt, wie weiter unten noch auszuführen sein wird, dass Erleben nicht durch ein ihm Transzendentes bedingt sein kann. Es wird dadurch nur behauptet, dass Erleben in seiner Eigenart nicht auf etwas zurückgeführt werden kann, das nicht Erleben ist. Etwas, was nicht Erleben ist, kann somit Erleben nicht kausal erzeugen. 247

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5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben

immer schon ausgedehnt ist, ist es als eine spezifische Aktivität aufzufassen, die ebenfalls einen Ursprung sui generis voraussetzt. Das Verhältnis von erlebten Inhalten und Erleben ist nicht so zu denken, dass es z. B. erst einen Schmerz außerhalb des Erlebens gibt, der dann in das Erleben »fällt«. Vielmehr ist der Schmerz als phänomenale Qualität etwas, das erst durch den Modus des Erlebens im Erleben erzeugt wird. Dabei erlangt der gezeugte Inhalt nun keine Unabhängigkeit von dem zeugenden Moment, sondern ist zugleich im Zeugen als erlebter wieder für den Ursprung des Erlebens. Weil die gezeugten Inhalte für den Ursprung des Erlebens sind, hat Erleben damit eine selbstbezügliche Struktur.250 Damit erweist sich die im Denken gefundene Grundstruktur als Grundstruktur der Subjektivität überhaupt und gilt auch für das Erleben: Erleben kann deshalb adäquat nur in seinen Momenten »Ursprung des Zeugens–Zeugen–Gezeugtes« als Binnenverhältnis expliziert werden.251 Somit ist das Prinzip des Erlebens »Sichbestim­ men«, denn das Erleben bestimmt sich bzw. zeugt sich erlebte Inhalte, die in seiner Rückbezüglichkeit wiederum für das Erleben sind.252 Ausgangspunkt für diese Übertragung der Struktur ist die Ver­ fasstheit des Erlebens als Aktivität: Da Erleben nicht auf Raumzeit­ liches reduzierbar ist, kann seine Rezeptivität nicht einfach eine materielle Konstellation oder die Folge einer solchen sein. Und weil im Erleben nicht etwas erlebt werden kann, was nicht immer schon innerhalb des phänomenal Erlebbaren bestimmt ist, wodurch jeder erlebte Inhalt immer schon als konkretes phänomenales Erleben ausgewiesen ist, muss Erleben eine aktive Produktion sein, die ein eigener Modus ist. Als solcher ist Erleben zeitlich und produziert als »Resultate« erlebte Inhalte: »Erleben ist ein Zeugen des Erlebten.«253 Ebenso wie beim Denken ist – wie oben bereits angeklungen – im Erleben eine Selbstbezüglichkeit enthalten: Der Ursprung des Erlebens produziert erlebte Inhalte wie z. B. einen Sinneseindruck. Diese erlebten Inhalte sind gleichzeitig wieder und nur für den diese Inhalte erzeugenden Ursprung.254 Eine gemachte Vorstellung ist beispielsweise durch den Ursprung, und auch wieder für diesen und 250 251 252 253 254

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 94; Vgl. W. Cramer, Die Monade, 56. Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 8. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 39. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 28. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 94.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

nur für diesen. Der erlebte Schmerz oder die vorgestellte Vorstellung kann nicht von einem anderen Subjekt erlebt werden und kann auch nicht in eine Dritte-Person-Perspektive überführt werden.255 Das, was im Erleben durch das Subjekt produziert wird, ist somit gleichzeitig auch wieder für dieses Subjekt.256 Somit kann Erleben nach Cramer als einfaches zeitliches Beziehen auf sich bestimmt werden, das von dem Prinzip des Sichbestimmens beherrscht wird. Damit ist das Erleben ein aktives Zeugen und als solches in seiner reflexiven Struktur ein Für-sich-sein, da der gezeugte Inhalt für den zeugenden Ursprung ist, und ein In-sich-Sein, da die gezeugten Produkte durch den Ursprung und nur für den Ursprung sind.257 Beide Aspekte werden anschließend noch näher erläutert. Da auch das auf die Welt bezogene Erleben in diesem Modus stattfindet, sind auch Wahrnehmung und Anschauung als Produkti­ onsmodi der Subjektivität zu verstehen. Die Herausforderung für eine Subjektivitätstheorie hinsichtlich dieser Modi besteht darin, dass der Bezug zur Außenwelt unter Beibehaltung des spezifischen Modus des Erlebens rekonstruiert wird; denn im Erleben erlebt das Erleben die erlebten Inhalte als etwas vom Erleben Unabhängiges. Zwar ist bei­ spielsweise die Wahrnehmung eines Baumes als Wahrnehmung ein erlebter Inhalt, als solcher verweist er aber gerade auf etwas, das von der Wahrnehmung unabhängig ist, eben den Baum. Diese Spannung muss, wenn sie dem Anspruch und der in den Blick genommenen Qualität der erlebten Phänomene gerecht werden will, transzenden­ talphilosophisch im Sinne Cramers rekonstruiert werden. Aus dem bisher Gesagten kann aber schon ein wichtiges Merk­ mal der Struktur des Erlebens benannt werden. Es wurde gesagt, dass Erleben zwar Prinzip sein muss, da es sonst auf etwas reduzierbar wäre, was nicht Erleben ist. Allerdings wird sich noch genauer zeigen, dass Erleben selbst auf eine Instanz bezogen ist, die nicht Erleben ist, das heißt, dass es auf etwas bezogen sein muss, das nicht nur als Leistung des Erlebens aufgefasst werden kann. Denn die oben genannte Wahrnehmung des Baumes ist zwar als Wahrnehmung ein Interpretationen, in denen phänomenal Erlebtes bildlich in technischen Verfahren wie MRT, PET oder EEG so dargestellt werden soll, dass dies eine Aufhebung oder eine Überführung der Erste-Person-Perspektive in die Dritte-Person-Perspektive bedeuten soll, übersehen, dass es sich hierbei um nicht-eindeutige Korrelationsstrukturen handelt, bei denen allesamt die Privatheit phänomenaler Zustände bewahrt bleibt. 256 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 95. 257 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 60. 255

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5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben

Erleben und damit ein Gezeugtes, aber ihre Inhaltlichkeit ist nicht aus dem Modus des Erlebens als eines Zeugens selbst herzuleiten, da das Erleben nicht frei ist, willkürlich andere Inhalte zu erleben. Das Erleben ist somit nach Cramer »determiniert«, womit lediglich gesagt ist, dass Erleben durch etwas bedingt ist, was es selbst nicht ist.258 Dies gilt in zweifacher Weise: Zum einen ist die Inhaltlichkeit des Erlebens von diesem selbst nicht festgelegt, zum anderen hat sich das Erleben nicht selbst zum Erleben bestimmt, wodurch schon seine Existenz auf eine ihm vorgegebene Ordnung verweist.259 Beide Punkte werden später noch detaillierter erläutert. Die selbstbezügliche Struktur des Erlebens erweist sich in dessen Determiniertheit als mehrfach differenzierter Zusammenhang: Das Erleben ist ein eigener Modus, der auf nichts anderes reduziert werden kann und der in den Momenten Ursprung–Zeugen–Gezeug­ tes expliziert werden muss, und ist zudem als Modus gleichzeitig bedingt durch etwas, was nicht Erleben ist. Dies ändert nichts an seinem Status als eigener Modus, sondern zeigt, ähnlich wie beim Denken, die Verschränkung von Prinzip und Moment des Erlebens: Es ist Prinzip, d.h. Bestimmungszusammenhang seiner Eigenart, aber zugleich durch etwas anderes bedingt, das ihm als Moment gewissermaßen entgegensteht. Das bedeutet, durch sein Bedingtsein wird es zusätzlich zu seinem Prinzipsein auch Moment, dem ein anderes Moment (eben als Bedingung) entgegengesetzt ist. Damit ist Erleben das Prinzip des Sichbestimmens, das in seinem Bestimmen durch eine andere Instanz bedingt ist. Allerdings beherrscht Erleben als Prinzip, als Einheit der beiden Momente Erleben und Nicht-Erleben, eben noch beide Momente: Zwar bedingt das Moment des Nicht-Erlebens das Erleben, da die konkret erlebten Inhalte nicht aus dem Modus des Erlebens als eines Zeugens hergeleitet werden können. Da aber die Inhalte des Erlebens immer noch erlebte sind, sie also immer nur im Modus des Erlebens gegeben sein können, beherrscht Erleben als Bestimmungszusammenhang noch seine Negation. Diese Struktur verdeutlicht, dass Erleben Prinzip und Moment ist.260 Bevor der Bezug des Erlebens zu einer Instanz, die nicht Erleben (Organismus, Welt) ist, rekonstruiert wird, wodurch gleichzeitig 258 259 260

Vgl. z. B. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 116. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 29f. Vgl. z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 41–43.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

auch der Bezug zu dem jeweiligen konkreten Organismus hergestellt wird, werden an dieser Stelle noch einmal die für dieses Konzept des Erlebens konstitutiven Struktureigenschaften des Zeugens, des Für-sich-Seins und des In-sich-Seins näher beleuchtet. Erleben als aktives Zeugen Für das Denken als Konkretion des Erlebens wurde bereits gezeigt, dass diesem ein aktiver Aspekt zugesprochen werden muss, zumin­ dest dann, wenn man auf den normativen Aspekt und damit prinzipi­ ell auf Rationalität nicht verzichten will. Denken wurde so als zeitliches Zeugen von Gedanken qualifi­ ziert. Weniger offensichtlich mag das aktive Moment des Zeugens im phänomenalen Erleben erscheinen. Dies liegt zum Teil wohl daran, dass in der gegenwärtigen Debatte – zumindest in weiten Teilen der analytischen Philosophie – das phänomenale Erleben als rein passives Produkt oder passive Eigenschaft aufgefasst wird. Als ein Resultat neuronaler Aktivität stellt sich das phänomenale Erleben, je nachdem, wie stark die entsprechende physikalistische Intention ist, als Konstel­ lation dar, die entweder mit einer materiellen Konstellation identisch ist (Identitätstheorie) oder von dieser hinreichend kausal bestimmt wird (Arten der starken Supervenienz). In allen Fällen werden die kausalen Dispositionen der ontologisch als fundamental aufgefassten physischen Strukturen (meist noch in einem physikalischen Rahmen) als kausal primär und für die jeweilige phänomenale Qualität als hinreichend aufgefasst. Wie auch immer die Abhängigkeiten von physischen Strukturen gedacht werden: Die bisherigen Überlegungen machen es notwendig, nicht nur dem Denken als Spezialfall des phänomenalen Erlebens ein aktives Moment zuzusprechen, sondern auch schon dem phäno­ menalen Erleben im Allgemeinen. Der Grund hierfür liegt in der Grundbestimmung des phänomenalen Erlebens als eines eigenen Modus: Weder können phänomenale Qualitäten auf physikalische oder relational gefasste physische Strukturen zurückgeführt werden noch kann die Struktur des Für-sich-Seins, die mit diesen Qualitäten verbunden ist, in einem solchen Rahmen begriffen werden, weil das Grundmerkmal einer naturwissenschaftlichen Beschreibung aus methodischen Gründen entweder in einer rein korrelativen Beschrei­ bung von Phänomenen (womit von vornherein keine Reduktion von

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5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben

Phänomen intendiert ist) oder in der Zuschreibung von Kausaldispo­ sitionen hinsichtlich bestimmter Fragestellungen besteht. So fragt z. B. die Physik nach Dispositionen, die für die Bewegung von Körpern relevant sind, wodurch andere Qualitäten methodisch ausgeblendet werden.261 Es sollte also nicht verwundern, wenn die für das Erleben spezifischen Qualitäten sich nicht in der physikalischen Beschreibung fassen lassen. Beide Grundcharakteristika der naturwissenschaftlichen Beschreibung verhindern es aus ihrer wesentlichen Grundstruktur heraus, dass die spezifischen Qualitäten des Erlebens auf physische Strukturen reduziert werden können, wie sie in naturwissenschaft­ lichen Beschreibungen oder in deren reduktionistischer Verabsolu­ tierung, dem Physikalismus, behauptet werden. Auch wenn – wie noch genauer auszuführen sein wird – physische Strukturen in einem ganz bestimmten Bedingungsverhältnis zum phänomenalen Erleben stehen, so kann dieses eben nicht durch jene Strukturen vollständig bestimmt werden. Während reduktionistische Positionen die Identität oder die vollständige Bestimmung der phänomenalen Qualitäten durch physische oder physikalische Strukturen behaupten, bedeutet dies umgekehrt für nicht-reduktionistische Positionen nicht, dass es keinen systematischen Zusammenhang von phänomenalen und physischen Strukturen gibt. Allerdings wird sich zeigen, dass dieser Zusammenhang komplexer gedacht werden muss, als es in reduktionistischen Positionen behauptet wird. Die Unmöglichkeit, phänomenale Qualitäten auf physische Strukturen zu reduzieren, bedeutet, dass die Sphäre der phänomenalen Qualitäten eben einen eigenen Bestimmungskontext hat und damit eben einem eigenen Prinzip untersteht: »Alles, was ist (in welchem Sinne immer), ist auf eine gewisse Weise, ist bestimmt in einem gewissen Modus von Zusammenhang. So sind räumlich-zeitliche Realitäten in räumlich-zeitlichem Zusammenhange mit anderen solchen Realitäten bestimmt. Seiendes ist Seiendes von einer Artung, solches. Es hat also notwendige Bestimmungen, dadurch es ein so Geartetes ist. Diese notwendigen Bestimmungen sind das Sein des Seienden.«262

261 262

Vgl. N. Cartwright, »Fundamentalism Vs. The Patchwork of Laws«, 290f. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 32f.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Daraus folgt aber, dass die Entstehung des phänomenalen Erlebens nicht rein passiv als reine Konstellation einer anderen Art von Seien­ dem oder einer von dem Erleben verschiedenen Struktur gedeutet werden kann, sondern als aktiver Prozess des Zeugens, in dem und durch den seine konkreten Inhalte, bestimmte phänomenale Inhalte, produziert werden.263 Wie in besonderer Klarheit am Beispiel des Denkens deutlich wird, können konkrete Gedanken nur durch das Denken als spezifi­ sche Aktivität hervorgebracht werden. Diese Struktur lässt sich nun auch für das phänomenale Erleben als solches dahingehend verallge­ meinern, dass in diesem und durch dieses das phänomenal konkret Erlebte entsteht bzw. produziert wird. Denn genauso wie Gedanken nicht außerhalb des Denkens schon vorhanden sind und dann vom Denken »eingefangen«, sondern im Denken selbst produziert werden, so gibt es auch keine konkreten phänomenalen Inhalte außerhalb des phänomenalen Erlebens, die dann erst in das phänomenale Erleben gewissermaßen einfließen.264 Ebenso unsinnig wäre es anzunehmen, dass Inhalte, die dem Erleben prinzipiell transzendent sind, auf einmal in das Erleben kommen. Im Erleben können nur solche Inhalte erscheinen, die in der Qualität des Erlebens bestimmt sind, die also als Produkt des erlebenden Ursprungs erlebte Inhalte sind. Das bedeutet, dass in der Struktur des Für-sich-Seins auch schon ein Durch-sich-Sein des phänomenalen Erlebens gegeben ist, weil das Haben von konkreten phänomenalen Inhalten, z. B. bestimmten Vorstellungen oder Wahrnehmungen, durch die Bestimmtheit des phänomenalen Erlebens als eines eigenen Modus kein im oben dar­ gelegten Sinne externes Verhältnis sein kann.265 Insofern ist das phänomenale Erleben ein aktiver Prozess des Zeugens mit der oben schon angedeuteten selbstbezüglichen Struktur, die noch durch eine andere Instanz bedingt ist, die nicht Erleben ist. 263 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 92–100; W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 28–55; R. Schmelz, Subjektivität und Leiblichkeit. Die psycho-physische Einheit in der Philosophie Wolfgang Cramers, 39–42; H.-J. Zoche, Absolutes Denken. Der Aufstieg zum Absoluten anhand der Transzendentalphilo­ sophie Wolfgang Cramers, 16–19; W. Kersting, »Monade und Bewußtsein. Die monadologische Subjektivitätskonzeption Wolfgang Cramers«, 349–351. 264 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 93f. 265 Dies gilt auch dann, wenn phänomenales Erleben in gewisser Hinsicht auf eine Sphäre bezogen ist, die außerhalb des phänomenalen Erlebens und somit nicht phänomenales Erleben ist. Vgl. ausführlicher Kapitel 5.8.

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5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben

Das Erleben als Für-sich-Sein Wie schon im Kontext der Analyse des Denkens gezeigt worden ist, kann das dort thematisierte Subjekt nicht nur als passives, logisches Moment gedacht werden, sondern hat als Ursprung ebenso einen aktiven und konstitutiven Aspekt. In der bereits vorgestellten Argumentation zeigt Cramer, dass es in der für alle Bestimmungsversuche unhintergehbaren Aktivität des Denkens – seien diese wissenschaftlich oder lebensweltlich – als einer speziellen Form des Erlebens eine dreigliedrige Struktur geben muss, die in analoger Weise auch für das phänomenale Erleben im Allgemei­ nen gilt. Während diese Struktur beim Denken als »Ursprung des Denkens – Denken – Gedachtes«266 charakterisiert wurde, ist diese Struktur hinsichtlich des phänomenalen Erlebens im Allgemeinen zu modifizieren zu »Ursprung des Erlebens – Erleben – Erlebtes«267. Gilt für das Denken als Spezialfall des Erlebens zunächst, dass die im Denken erzeugten Produkte – eben bestimmte Gedanken – nicht einfach wie Dinge in der Welt existieren, die zu anderen Dingen eine rein äußerliche Beziehung haben, weil diese Dinge keinen internen Bezug zu etwas besitzen müssen, so gilt aber für die gemachten Gedanken, dass sie immer auch die wesentliche Bestimmung des Für-sich-Seins aufweisen, da sie immer für das denkende Subjekt sind. In diesem Sinn lässt sich argumentieren, dass Gedanken damit schon immer ein bestimmtes Subjekt implizieren, von dem sie aus­ gehen und für das sie sind.268 Nun wird aber gerade am Denken deutlich, dass dieses Subjekt die Gedanken nicht einfach vorfindet, sondern dass es im Prinzip auch Urheber dieser Gedanken und damit auch diejenige Instanz ist, die die Normierungsbedingungen von rationaler Rede erfüllen kann.269 Verneint man diese Binnenrelation von Urheber – Denken – Gedanke und macht daraus eine externe Relation, in der etwas anderes für die Entstehung von Gedanken – und damit auch für den Sinn und die Rationalität des jeweiligen Gedan­ kens – verantwortlich ist, dann führt man das Denken allgemein auf ein externes Kausalverhältnis zurück und gesteht somit einem Vgl. z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 22. Vgl. z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 28; vgl. auch W. Cramer, Die Monade, 56f. 268 Vgl. z. B. L. Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, 123. 269 Pathologische Fälle werden hier außer Acht gelassen, weil sie als solche keine posi­ tiven Aussagen über die prinzipielle Grundverfasstheit des Denkens machen können. 266 267

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

»okkulten« externen Faktor alleinige Wirkmächtigkeit zu, sei dies eine dem phänomenalen Erleben externe geistige Substanz oder ein materielles Substrat. Subjekttheoretisch bedeutet die oben beschriebene Binnendiffe­ renzierung des Phänomens »Denken« in »Ursprung«, »Zeugen« und »Gezeugtes« aber wiederum, dass das Moment des eigenmächtigen Produzierens auch notwendig durch den Aspekt des Für-sich-Seins qualifiziert werden muss. Das Gezeugte ist nicht etwas, was nach der Zeugung ein unabhängiges Sein besäße; sein Sein hat es vielmehr nur für seinen Ursprung. Beide Aspekte werden aber erst durch die dreigliedrige Struktur des Denkens ermöglicht. Diese dreigliedrige Struktur muss aufgrund der spezifischen Eigenschaften auch auf das Erleben in Anschlag gebracht werden. Denn wenn phänomenales Erleben einen eigenen Modus der Realität darstellt, dann kann es nicht einfach von Qualitäten kausal produ­ ziert werden, die ihrerseits nicht Qualitäten des Modus »Erleben« sind. Wenn also das Erleben eine Qualität von eigener Bestimmung ist, dann braucht es auch einen eigenen Zusammenhang, dessen Bestimmungen es als zeugende Aktivität untersteht. Somit ist also nicht nur der konkrete Inhalt des Erlebens – beispielweise eine konkrete Empfindung – analog zum Denken immer in der Struktur des Für-sich-Seins für ein Erlebnissubjekt, dieses ist zugleich durch die Eigenständigkeit des Modus auch immer die Ursprungsbedingung für das Erleben, so dass durch die erwähnte Struktur »Ursprung des Erlebens – Erleben – Erlebtes« immer schon eine selbstbezügliche Struktur konstituiert wird. Erleben als In-sich-Sein Erleben als Zeugen lässt sich also nur durch die dreigliedrige Struk­ tur explizieren. Diese beinhaltet nicht nur die Aspekte der aktiven Spontaneität und des Für-sich-Seins. Durch die interne Bezogenheit beider Aspekte folgt auch, dass es sich bei dem Erleben um ein In-sich-Sein handeln muss. Die erzeugten Inhalte sind nicht für eine andere Instanz, sondern ausschließlich für den Ursprung des Zeugens. So wird beispielsweise vom Ursprung eine Vorstellung gezeugt, und diese gezeugte Vorstellung ist dann auch wieder ausschließlich für den

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5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben

Ursprung. Dass dieses Für-sich-Sein ausschließlich wieder für den Ursprung ist, bezeichnet den Aspekt des In-sich-Seins.270 Dieses In-sich-Sein zeichnet sich also dadurch aus, dass alles, was im phänomenalen Erleben vorkommt, nur von der Qualität des Erlebens inklusive seiner Rückbezüglichkeit sein kann und eben in dieser Rückbezüglichkeit dem Erleben gewissermaßen den Modus der Geschlossenheit verleiht.271 Dies mag auf den ersten Blick trivial klin­ gen, doch ergibt sich mit dem Aspekt des In-sich-Seins auch die Frage, wie dann Wahrnehmung äußerer Gegenstände möglich ist, denn Wahrnehmung muss nach dem vorgestellten Konzept ein Modus des Erlebens sein. Als eine Art des Erlebens wäre die Wahrnehmung dann aber durch das In-sich-Sein charakterisiert, müsste aber – sofern sie Wahrnehmung derjenigen Wirklichkeit sein soll, die das lebendige Lebewesen umgibt – auch einen Bezug zu dieser Wirklichkeit haben. Zunächst kann eine Überlegung zur Struktur des Verhältnisses von Welt und Bewusstsein vor allzu schnellen Simplifizierungen bewahren: Einerseits gilt es einen naiven Realismus zu vermeiden, der den Modus des Erlebens bezüglich des Gegebenseins der Dinge im und durch Bewusstsein vernachlässigt, andererseits – wie dann noch in einem zusätzlichen Schritt zu zeigen sein wird – eine Verabso­ lutierung der Gegebenheitsweise als rein subjektive Vorstellung, die keinen Bezug zur subjektunabhängigen Wirklichkeit hat. In einer gewissermaßen »natürlichen« Haltung des Subjekts zur Welt wird in einer naiv-realistischen Weise davon ausgegangen, dass wir die Dinge so erleben, wie sie an sich, also bewusstseinsunab­ hängig, sind, als Dinge, die es außerhalb des Bewusstseins gibt.272 Eine Reflexion auf die Art des Gegebenseins von phänomenalen Inhalten hat aber eine Unterscheidung nahegelegt, die sich philoso­ phiegeschichtlich in verschiedener Ausprägung beispielsweise bei Hume findet, in Kants Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich einen ersten konzeptionellen Höhepunkt erreichte und später in der Phänomenologie in eine einseitige Betonung der Erscheinung der Dinge innerhalb des Bewusstseins mündet. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 94f. Vgl. z. B. B. Dainton, Stream of Consciousness, 14–17. 272 Vgl. dazu W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 40. Cramer versucht durch seinen Entwurf, diese natürliche Bewusstseinshaltung, dass es Dinge außerhalb des Bewusstseins gibt, transzendentallogisch zu rechtfertigen, während er eine naive Theorie dieser Haltung verwirft. 270 271

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Wie stark auch immer man diese Unterscheidung betonen möchte und welche Konsequenzen man auch immer aus dieser Art des phänomenalen Gegebenseins zieht: Es lässt sich erkenntnistheo­ retisch zumindest nicht leugnen, dass diese Unterscheidung nicht durch naiv-realistische Annahmen unterschlagen werden darf, so dass man mit einer von Cramer eingeführten Unterscheidung Erleben zunächst als »Bestimmtes-für« aufzufassen hat, insofern es immer im Modus des Erlebens für das Subjekt ist, während es eben nicht ausgeschlossen werden kann, dass es auch Bestimmungen gibt, die nicht als Erlebnisqualitäten vorkommen und als »Bestimmtes-ansich« bestimmt werden können wie beispielsweise die, dass den erlebten Gegenständen auch außerhalb des Bewusstseins ein von diesem unabhängiges Sein zukommt.273 Damit beinhaltet aber die Bestimmung des Für-sich-Seins des phänomenalen Erlebens für das erlebende Lebewesen immer zugleich auch, dass ihm die Welt nur in der Erfahrung, im Modus des Erlebens gegeben ist, der in diesem Sinne eine unaufhebbare Geschlossenheit besitzt.274 Zwar können Inhalte erlebt werden, die vorher nicht erlebt worden sind, und insofern kann konkretes Erleben immer wieder Neues erleben, aber dies ist nicht so zu verstehen, dass etwas, das nicht im Modus des Erlebens ist (bewusstseinsunabhängige Welt als etwas dem Erleben Transzendentes), nun auf einmal erlebt wird. Auch dieses neu Erlebte ist immer nur im Modus des Erlebens gegeben. Gleichgültig, welche Inhalte und in welchen Modalitäten des Erlebens (z. B. visuellen phänomenalen Erlebens) sie erlebt werden: Es sind immer konkrete Ausformungen des Erlebens. Im Modus des Erlebens kann Nicht-Erlebtes nicht als Inhalt vorkommen. Dieses strukturelle Merkmal des Erlebens veranlasste Cramer auch, vom erlebenden Lebewesen als einer Monade zu sprechen. Diese Bestimmtheit der Sphäre des Erlebens als eines in sich geschlossenen Modus wirft natürlich die Frage nach dem Verhältnis dieser Sphäre zu der nicht nur gedachten Welt auf. Übergeht das natürliche Bewusstsein diese Bestimmung des Modus des Erlebens, indem naiv von den Dingen der Welt gesprochen wird und so gerade die Erlebnisinhalte unreflektiert als Dinge aufgefasst werden, die bewusstseinsunabhängig so sein sollen, wie sie erscheinen, dann Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 3. Vgl. zu dieser Geschlossenheit auch K. Wellner, Das Bewusstsein. Beschreibung und Kritik der Transzendentalphilosophie bei Kant, Fichte und Schelling, 41f.

273 274

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5.6 Der Grundmodus der Subjektivität: das Erleben

verlangt gerade die Bestimmung des In-sich-Seins eine weitere Refle­ xion, um eine naive Verhältnisbestimmung von Bewusstsein und Realität außerhalb des Bewusstseins zu vermeiden. Wie dieses Ver­ hältnis genauer zu denken ist, soll später detaillierter untersucht wer­ den, wenn es um das Verhältnis von Erleben und Organismus geht. An dieser Stelle soll zunächst aus dem bisher Gesagten nur negativ eine Möglichkeit ausgeschlossen werden, die als externes Verhältnis von Erleben und Erlebtem bezeichnet werden kann: Das Verhältnis kann nicht so vorgestellt werden, dass sich der Modus des Erlebens auf etwas bezieht, das diesem transzendent wäre derart, dass es die zu erlebenden Inhalte schon jenseits des Modus des Erlebens gäbe und diese dann nur noch in das Erleben aufgenommen würden.275 Es wird sich zeigen, dass das Erleben als eine bedingte Aktivität oder auch eine spontane Rezeptivität konzipiert werden muss. Dieser Auffassung gemäß kann der Bezug zu etwas, das das Bewusstsein transzendiert, nicht direkt erlebt werden; vielmehr ist zu versuchen, aus einem Moment des Erlebens selbst zu schließen, dass Erleben auf etwas verwiesen ist, das nicht nur Erleben ist. Nur durch eine solche Verhältnisbestimmung kann man einerseits der Bestimmung des In-sich-Seins des Erlebens gerecht werden, ohne seinen Bezug zu einer Sphäre leugnen zu müssen, die eben nicht nur Erleben ist. Rich­ tet sich diese Einsicht zunächst gegen einen naiven Realismus, der glaubt, dass die erlebten Inhalte mit den bewusstseinsunabhängigen Dingen identisch sind, folgt daraus natürlich umgekehrt nicht, dass unser Erleben nur fiktionaler Schein ohne Bezug auf eine bewusst­ seinsunabhängige Welt ist.276 Wie sich herausstellen wird, ermöglicht die vorgenommene Verhältnisbestimmung eine vermittelnde und differenzierte Position, die beide Momente – das In-sich-Sein des Erlebens und den Bezug auf bewusstseinsunabhängige Dinge – zu integrieren vermag.

275 Vgl. dazu W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 34; R. Schmelz, Subjektivität und Leiblichkeit. Die psycho-physische Einheit in der Philosophie Wolfgang Cramers, 25; H.-J. Zoche, Absolutes Denken. Der Aufstieg zum Absoluten anhand der Transzendentalphilosophie Wolfgang Cramers, 19. 276 Eine solche fiktionale Sphäre des Bewusstseins vertritt beispielsweise Thomas Metzinger, der letztlich die Momente des Für-sich-Seins und des darin enthaltenen In-sich-Seins verabsolutiert und als Projektion des Gehirns klassifiziert. Zur Kritik dieser Verabsolutierung siehe z. B. T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

5.7 Die zeitliche Struktur des Erlebens als Zeugen Das Erleben wird hinsichtlich seiner Zeitlichkeit von Cramer als einfaches zeitliches Zeugen bestimmt. Dabei meint das Konzept der Einfachheit in diesem Kontext, dass Erleben eine Zeitlichkeit ist, die in ihrem Modus prinzipiell nicht in der Weise auf anderes Zeitliches bezogen sein kann, dass die Zeitlichkeit des Erlebens durch eine andere Art der Zeitlichkeit konstituiert werden könnte.277 Das bedeu­ tet, dass die spezielle Zeitlichkeit des Erlebens nicht auf eine andere Form der Zeitlichkeit, beispielweise das dynamische Miteinander der raumzeitlichen Dinge, reduziert werden kann.278 Die Zeitlichkeit des Erlebens ist ein eigener Modus, und eben dieser Sachverhalt wird mit dem Terminus »einfach« ausgedrückt. Dass das Erleben in sich überhaupt zeitlich sein muss, ergab sich – wie gezeigt – daraus, dass das Subjekt wesentlich als ein »Haben von etwas« bestimmt werden konnte: »Ein Subjekt ist ein Bestimmtes von einer Bestimmtheitsform, nämlich ein derart Bestimmtes, daß etwas (Erlebtes, Vorgestelltes, Gedachtes, Gegenstände) für es ist, daß ihm etwas ist. Es ist prinzipiell das Haben von etwas.«279

Dabei ist alles, was von einem Subjekt gehabt werden kann, ein Erleben, das sich z. B. in Wahrnehmen, Vorstellen und Anschauen differenziert. Alles Erleben ist aber eine zeitliche Tätigkeit, so dass das Haben von Erlebtem und somit das Subjekt selbst zeitlich sein muss. Dies lässt sich noch einmal folgendermaßen illustrieren: Gesetzt, es seien A und B Erscheinungen als Form von Erleben, die dem Subjekt in der Zeit gegeben sind, was bedeutet, dass A und B zeitlich aufeinander folgen. Dann besagt dies, dass das Subjekt zuerst die Erscheinung A hat und dann die Erscheinung B. Deshalb muss das Haben der Erscheinung, also das Subjekt in seinem Erleben als einem Tätigsein, selbst zeitlich sein. Die zeitliche Struktur des Erlebens ergibt sich schon aus seiner Struktur als ein Zeugen, das sich als zeitlicher Zusammenhang seiner Momente »Ursprung«, »Zeugen« und »Erzeugtes« fassen lässt: Der Ursprung zeugt im Erleben Inhalte, die wiederum für den Ursprung sind, wodurch gleichzeitig die Eigenschaften des In-sich-Seins und 277 278 279

Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 16f. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 60. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 12.

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5.7 Die zeitliche Struktur des Erlebens als Zeugen

des Für-sich-Seins des Erlebens expliziert wurden. Diese selbstrefle­ xive Struktur des Erlebens ist auch die Grundlage für weitere spezi­ fische Merkmale der Zeitlichkeit des Erlebens: 1. Erleben ist als zeit­ liche Ausdehnung Dauer, 2. als Dauer ist Erleben Integration von Gewesenem, 3. als einfache Zeitlichkeit ist Erleben durch eine andere Form der Zeitlichkeit bedingt.

5.7.1 Erleben als zeitliche Ausdehnung Das Erleben muss eine zeitliche Ausdehnung haben, weil in ausdeh­ nungslosen Zeitpunkten nichts erlebt werden könnte und zudem nicht klar wäre, wie ein ausgedehntes Zeitvolumen entstehen könnte, wenn sich Zeitspannen sozusagen aus ausdehnungslosen Zeitpunk­ ten zusammensetzten.280 Erleben als Tätigen beansprucht somit not­ wendig Dauer. Nur als Dauer ist Erleben als selbstbezügliche Struktur möglich: Das von dem Ursprung Gezeugte kann nur dann auch wieder für den Ursprung sein, wenn das Zeugen selbst zeitliche Dauer ist. Und nur weil das Zeugen selbst Dauer ist, ist auch der gezeugte Inhalt von einer bestimmten Dauer.281 Diese zeitliche Verfasstheit des erzeugten Produkts ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass das Subjekt überhaupt etwas haben kann, da ein ausdehnungsloser Zeit­ punkt nicht erlebt werden könnte und dieser Punkt als ausdehnungs­ lose Struktur auch nicht die geforderte Beziehung zum Ursprung haben kann.

5.7.2 Erleben als Integration von Gewesenem Als Dauer ist Erleben aber immer schon Reproduktion des Erlebten. Das bedeutet, dass Erleben zugleich auch immer schon die Integration Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 94. Darüber hinaus beleuchtet Alfred North Whitehead diese Problematik aus anderer Perspektive, kommt aber zu demselben Ergebnis. Vgl. A.N. Whitehead, The Concept of Nature, 49–98. Whitehead kritisiert dort die Auffassung, die ausdehnungslosen Zeitpunkte wären sozusagen die Grundkonstituenten von Zeit. Im Gegensatz zu dieser Auffas­ sung fasst Whitehead die ausdehnungslosen Zeitpunkte als mathematische Ideali­ sierungen auf, die durch eine Art mathematisches Grenzwertverfahren gewonnen werden und schon eine ausgedehnte Zeitstruktur voraussetzen. 281 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 97. 280

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

von Gewesenem sein muss.282 Denn als Abfolge von ausdehnungs­ losen Zeitpunkten hätten die einzelnen Erlebensmomente keinen Bezug zueinander, und es könnte nicht so etwas wie andauernde Kontinuität entstehen. Außerdem wäre es nicht möglich, im Erleben den Übergang von verschiedenen erlebten Inhalten zu erleben: Wird z. B. der Anfang eines Tons erlebt, dann kann der Anfang als Anfang nur dann erlebt werden, wenn zuvor schon Stille miterlebt worden ist.283 Das bedeu­ tet, dass das bereits Erlebte in das gegenwärtige Erleben als Erlebtes integriert werden muss. Damit ist noch nicht eine Gedächtnisleis­ tung gemeint, denn diese Art von Integration ist kein bewusstes Zurückerinnern, es ist vielmehr eine grundlegende Leistung, die dem fundamentalsten Erleben selbst zukommen muss.284 Daraus folgt, dass Erleben das schon Gezeugte in das neue Gezeugte integriert, wodurch es sich dann eine Dauer im Gezeugten zeugt. Diese Reproduktionsleistung des Erlebens lässt sich wiederum durch seine Struktur erklären. Dazu ist noch einmal auf das Grund­ prinzip des Erlebens, das Sichbestimmen, zurückzukommen: Der Ursprung zeugt sich bestimmtes Erleben, das dann wieder für den Ursprung ist. Dieses Für-sich-Sein ist auch der Grund, warum das Erleben Integration von Gewesenem sein muss. Denn da das Sichbe­ stimmen kontinuierlich ist, da also der Ursprung immer wieder Neues zeugt, ist das neue Zeugen notwendig bezogen auf den Ursprung, der ja um das vorher Gezeugte reicher geworden ist. Das heißt, sofern der Ursprung dann wieder erneut zeugt, ist dieses Zeugen auf das ihm vorangegangene Zeugen bezogen, das in seinem Bezogensein zu dem Ursprung für diesen ist und ihn damit um das Gezeugte bereichert. »Im Nochzeugen zeugt der Ursprung aus sich, der sich (relativ) auch noch gezeugt hat. Er zeugt im Nochzeugen notwendig Schongezeugtes mit. Allein dadurch, daß der Ursprung im Erlebten sich rückbestim­ mend auch noch zeugt und deshalb Schongezeugtes mitzeugt, ist Erleben eine Kontinuität, die sich Kontinuität zeugt. Diese Struktur, welche besagt, daß der Ursprung notwendig Schongezeugtes mitzeugt, weil er, der sich gewordene, bestimmend ist, heiße: Integration. Weil

282 283 284

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 52. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 19. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 53.

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5.7 Die zeitliche Struktur des Erlebens als Zeugen

Erleben Integration ist, spannt Erleben (noch so flüchtig) sich Dauern­ des auf.«285

Damit ist die Integration nicht so zu verstehen, dass in der Vergan­ genheit Erlebtes nun auf dieselbe Art und Weise noch einmal erlebt wird. Vielmehr ist das neu Erlebte wesentlich auf das davor Erlebte bezogen, es ist zu diesem im Erleben in eine Beziehung gesetzt. Diese Art der Integration kann somit als Voraussetzung von Erinnerung als darauf aufbauende Fähigkeit aufgefasst werden: Weil bereits Erlebtes auch in dem gegenwärtig Erlebten erlebt wird, es also einen Bezug zu Vergangenem gibt, kann Vergangenes auch als solches wieder ins Erleben gerufen werden. Erleben ist aber nicht nur auf das bereits Erlebte bezogen, es ist dem Erlebten in seiner Struktur auch wieder voraus, weil das gegenwärtig Erlebte schon so verfasst ist, dass es in zukünftiges Erleben integriert werden wird: »Daher ist Erleben offene Integration, das Erlebte offenes Integral. Das Erlebte ist das Ergebnis des Gewesenseins. Doch im Erleben von Erlebtem ist Erleben schon zukunftsträchtig.«286

Diese Art von Integration ist auch die Grundlage dafür, dass das erlebende Lebewesen eine Entwicklung durchmachen kann. Der reine Bezug von etwas Gewordenem zu Vergangenem ist nach Cramer noch nicht Entwicklung. Entwicklung kann nur dort stattfinden, wo etwas um sein Gewordenes reicher geworden ist, wo also das jeweilige Erleben einen intrinsischen Bezug zum unmittelbar zuvor Erlebten besitzt. Der Modus der Entwicklung ist somit auch die Bedingung für Geschichte und Geschichtlichkeit.287

5.7.3 Die Zeitlichkeit des Erlebens als durch eine andere Form der Zeitlichkeit bedingte Erleben ist zwar als einfache Zeitlichkeit ein eigener Modus, aber als solcher ist es zugleich bedingt durch eine Form der Zeitlichkeit, die nicht Erleben ist.288 Es wird noch genauer zu zeigen sein, dass W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 52. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 54. 287 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 55. 288 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 72–93. Hier grenzt Cramer sein eigenes Konzept der Zeitordnung auch gegen Kant, Heidegger und Hartmann ab. 285

286

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

die Bedingtheit des Erlebens durch etwas, was nicht Erleben ist (Organismus), auch eine zeitliche Ordnung des Organismus und der Welt impliziert, sofern diese diejenigen Instanzen sind, die das Sub­ jekt noch bestimmen. Wie schon oben kurz skizziert worden ist, ist Erleben determiniert. Das bedeutet in der Cramerschen Terminologie, dass Erleben zwar ein eigener Modus ist, dass aber eine Begebenheit des Erlebens nicht durch das Erleben selbst erklärt werden kann: Das Erleben war nicht frei, die erlebten Inhalte willkürlich zu verändern. Was dem Erleben inhaltlich gegeben ist, konnte prinzipiell nicht aus dem Erleben als Zeugen erklärt werden. Dies verwies auf eine Instanz, die das Erleben bedingt, die aber selbst nicht Erleben ist, also nicht aus der Struktur des Zeugens erklärt werden konnte. Diese Bedingtheit des Erlebens ist auch zugleich die Bedingtheit der einfachen Zeitlich­ keit durch eine Form der Zeitlichkeit, die nicht Erleben ist. Denn wenn die konkreten Inhalte des Erlebens durch diese Instanz bedingt sind, dann muss auch die zeitliche Abfolge der erscheinenden Inhalte (als konkreter materialer Erscheinungen) durch die bedingende Instanz gegeben sein; denn diese Reihenfolge wird nicht durch das erlebende Subjekt festgelegt, sondern allenfalls expliziert. Dies kann nur heißen, dass diese bedingende Instanz selbst zeitlich ist, denn anderenfalls wäre überhaupt kein Grund für die konkrete Abfolge der erlebten Erscheinungen.289 Dieses Affizierende muss demnach selbst zeitlich verfasst sein, auch wenn sein zeitlicher Modus anders bestimmt ist als der der Subjektivität selbst. Mit Cramers Zeitkonzeption wird es sowohl ermöglicht, die Zeitlichkeit des Subjekts in ihrer spezifischen Form als auch eine vom Subjekt unabhängige Zeitordnung in einer differenzierten Einheit und Bezogenheit zu denken. Diese Konzeption bietet also die Grund­ lage, sowohl die Eigenart der verschiedenen Formen von Zeitlichkeit als auch deren Bezogenheit im Subjekt zu begreifen.290

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 106. Insofern ist in diesem Kontext auch Heinz Eidams Kritik an Cramers Zeitkonzep­ tion zurückzuweisen, die eine Verdoppelung der Zeit sieht und diese kritisiert: »Weder eine Verinnerlichung der Zeit noch eine Restriktion ihrer Wirklichkeit auf bloß Äußerliches, die Struktur von Subjektivität gar nicht Tangierendes ist eine Lösung des Problems.« (H. Eidam, Kausalität aus Freiheit. Kant und der Deutsche Idealismus, 213, Fußnote 11). Diese Vermeidung beider Extreme trifft aber genau Cramers Intention, in der die Zeitlichkeit des Subjekts eine besondere Form der Zeitlichkeit überhaupt ist. 289

290

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5.8 Der notwendige Bezug des Erlebens zum Organismus und zur Natur

5.8 Der notwendige Bezug des Erlebens zum Organismus und zur Natur Ist die Struktur des Erlebens als einfaches zeitliches Beziehen auf sich charakterisiert worden und ist Erleben als eigener Modus aufzufassen, dann ist subjektivitätstheoretisch aber zu klären, wie Wahrnehmung als ein Erleben gedacht werden kann, das einerseits im Modus des In-sich-Seins gegeben ist und sich andererseits auf die subjektunab­ hängige Wirklichkeit beziehen soll. Der erlebte Inhalt ist immer im Modus des Erlebens gegeben, so ist z. B. der wahrgenommene Baum ein erlebter Inhalt mit phänomenalen Qualitäten. Gleichzeitig steht der wahrgenommene Inhalt als Wahrnehmung zu etwas in Beziehung (im Beispiel der Baum), das auch unabhängig vom erle­ benden Lebewesen existieren soll.291 Diese Spannung gilt es aber in einer Theorie der Subjektivität so aufzuklären, dass die bisherigen subjektphilosophischen Einsichten nicht unterlaufen werden. Alles, was erlebt wird, ist nur im Modus des Erlebens gegeben. Erleben kann nur als selbstbezüglicher Modus gefasst werden, der in der Struktur Ursprung – Erleben – Erlebtes entfaltet werden kann. Durch dieses In-sich-Sein des Erlebens lässt sich der Bezug zur Welt methodisch legitimerweise nicht einfach durch einen Verweis darauf erbringen, dass das Erleben etwas ihm Transzendentes erlebt.292 Der notwendige Bezug auf die Welt lässt sich demnach nur durch eine transzendentalphilosophische Überlegung legitimieren, die diesen Bezug als notwendige Bedingung des Erlebens, als internes Moment seiner Verfasstheit ausweisen kann. 293 Der Modus des Erlebens ver­ weist demnach aus sich heraus auf etwas, das nicht als durch das Erleben selbst produziert gedacht werden kann. Ausgangspunkt hierfür ist, dass Erleben in seinem Modus immer schon auf eine Dimension angewiesen ist, die nicht durch seine Pro­ duktionsstruktur erklärbar ist und die das Erleben in zweifacher Weise bedingt. Cramer hat diesen Bezug, der im Erleben selbst angelegt ist, die zweifache Determination des Erlebens genannt. Damit ist gerade nicht gemeint, dass das phänomenale Erleben aus etwas anderem, das Vgl. W. Cramer, Die Monade, 63. Vgl. W. Kersting, »Monade und Bewußtsein. Die monadologische Subjektivitäts­ konzeption Wolfgang Cramers«, 354f. 293 Vgl. K. Cramer, »Überlegungen zu Hans-Dieter Kleins Auseinandersetzung mit Wolfgang Cramers ›Grundlegung einer Theorie des Geistes‹“, 229ff.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

nicht Erleben ist, hervorgeht oder dass das erlebende Lebewesen in seinen Handlungen determiniert ist, sondern es ist damit lediglich gesagt, dass Erleben als eigener Modus in zwei Hinsichten durch etwas bedingt ist, das nicht aus dem Modus selbst kommt: 1.

2.

Insofern ein Subjekt im Erleben wechselnde Inhalte erlebt, ist zu erklären, wie der Wechsel der Inhalte zustande kommt und was für die konkreten Inhalte verantwortlich ist. Der Modus des Erle­ bens ist in der Aktivität des Zeugens erlebter Inhalte zwar formal bestimmt, Inhalte zu erleben. Aus dem Produktionsprinzip des Erlebens sind aber die konkreten Inhalte nicht herleitbar.294 Der Modus des Erlebens ist durch das Erleben selbst bestimmt, nicht aber die konkreten Inhalte.295 Erleben als Prinzip ist somit verantwortlich für die Produktion seiner Inhalte (wobei aber die Bestimmung, was konkret erlebt wird, selbst nicht vom Erleben geleistet wird), kann aber nicht erklären, warum es selbst von dieser Qualität ist. Es liegt nicht im Ermessen des Modus, nicht von dieser Qualität zu sein, sondern es findet sich als einzelnes Erleben und deshalb schon immer als konkrete Subjektivität vor.

Eine Theorie der Subjektivität muss also über die Aufklärung der inneren Struktur des Erlebens hinaus auch noch zwei Sachverhalte erklären: 1. Wie können sich trotz der Verfasstheit des Erlebens als In-sich-Sein die konkreten Inhalte ergeben? 2. Welcher Grund lässt sich für die konkrete Verfasstheit des Erlebens angeben, die sich nicht aus dem Erleben als Modus ableiten lässt? Diese Bestimmungen lassen sich nur durch eine Qualität erklä­ ren, die selbst nicht der Modus des Erlebens ist, zu diesem aber in einem konstitutiven Bedingungsverhältnis steht.296 Durch die Not­ wendigkeit des inhaltlichen Bestimmtseins kommt der Organismus­ bezug der konkreten Subjektivität in den Blick, durch den gleichzeitig auch ein Naturbezug gegeben ist. Dieser Bezug zu einer Dimension, die das Erleben bedingt und somit außerhalb des Erlebens steht, ist Dies ist ein Aspekt, durch den sich die Konzeption Cramers deutlich von Leibniz‘ Ansatz abgrenzt. Dieser hatte in seinem Konzept der Monade deren In-sich-Sein so verabsolutiert, dass die Abfolge der Perzeptionen allein durch die Monade bestimmt ist. Die Übereinstimmung von getätigter Perzeption und Welt wird dort allein durch die prästabilierte Harmonie gewährleistet. 295 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 94f. 296 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 104. 294

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5.8 Der notwendige Bezug des Erlebens zum Organismus und zur Natur

ein zweistufiger: Während für die konkrete Inhaltlichkeit des Erlebens nur der Organismus in Frage kommt, muss als Grund für die Ver­ fasstheit der konkreten Subjektivität ein Ordnungszusammenhang in Anschlag gebracht werden, der noch die Existenzmöglichkeit des erlebenden Lebewesens, nämlich von einer bestimmten Form (»Erle­ bendes«, »Denkendes«) zu sein, bestimmt.297 Das Explanandum der konkreten Inhaltlichkeit des Erlebens erfordert es, dass es sich zwar bei den erlebten Inhalten aufgrund des Charakters des In-sich-Seins immer um erlebte Inhalte handelt, dass aber das Erleben nicht für seine konkreten Inhalte als Erklärungsinstanz aufkommen kann. Der Inhalt einer Wahrnehmung ist dem Erleben vorgegeben, so dass es dem Erleben nicht freisteht, unter gleichen Bedingungen willkürlich z. B. ein anderes Objekt oder einen anderen Farbton zu erleben. In unserem Erleben ist aber nicht nur eine bestimmte Inhalt­ lichkeit gegeben; vielmehr wurde durch das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels deutlich, dass dieses nur durch eine konkrete Subjektivität durchgeführt werden konnte. Der dieses Gedankenex­ periment durchführende Denker erkennt, dass er vereinzelte Sub­ jektivität und damit ein Einzelnes von einer bestimmten Form ist. Gleichzeitig verweist die konkrete Inhaltlichkeit des Erlebens auf eine Instanz, die nicht Erleben ist, und legitimiert so die Zuordnung zu einem bestimmten Organismus, der für das Erleben einen besonderen Bezug darstellt. Dieser Organismus ist für das erlebende Lebewesen eine Ver­ mittlungsinstanz und kann deshalb nie nur »objektiver« Gegenstand werden. Zum einen bedingt er alle Erlebnisqualitäten mit, zum anderen ist er auch für die Interaktion des Erlebens mit der Welt notwendig. Alles phänomenale Erleben hat somit einen Bezug zum jeweiligen Organismus. Auch wenn die philosophische Analyse vom Phänomen des Erlebens ausgehen muss, weil jegliche gedankliche Bestimmung der Welt letztlich das Erleben voraussetzt, verweist die­ ses aus seinem eigenen Modus heraus doch notwendig auf etwas, was nicht durch den Modus des reinen Erlebens erklärt werden kann, eben weil es dem Erleben nicht freisteht, die erlebten Inhalte willkürlich zu ändern. Hierfür kann nur eine Instanz verantwortlich gemacht werden, die zwar mit dem Erleben verschränkt ist, aber selbst eben 297 Vgl. dazu W. Kersting, »Monade und Bewußtsein. Die monadologische Subjekti­ vitätskonzeption Wolfgang Cramers«; R. Schmelz, Subjektivität und Leiblichkeit. Die psycho-physische Einheit in der Philosophie Wolfgang Cramers, 52–56.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

nicht mehr aus dem Erleben erzeugt werden kann. Diese unauflösliche Verschränkung von Erleben und Organismus bildet somit in der konkreten Subjektivität – dem erlebenden Lebewesen – eine grund­ legende Einheit, von der Erleben und Organismus Momente sind.298 Diese Einheit wird durch das Erleben als Prinzip hergestellt, denn als solches beherrscht es noch beide Momente. Auch das Moment des Organismus als Nicht-Erleben ist etwas, das nur durch ein Moment innerhalb des Erlebens hergeleitet werden kann. Insofern kann auf das Moment des Nicht-Erlebens nur aus dem Erleben geschlossen wer­ den, wodurch das Erleben als Prinzip der bestimmende Zusammen­ hang bleibt. Somit ist das Verhältnis von Erleben und Organismus als Bedingungsverhältnis aufzufassen. Erleben ist und bleibt ein eigener Modus, der zwar nicht auf andere Modi zurückführbar ist, sondern nur in der Einheit des Lebewesens vorkommt und durch den Organismus bedingt ist.299 Durch den notwendigen Bezug zum Organismus tritt das Erleben immer nur verkörpert auf, so dass das Erleben immer das Erleben eines konkreten Lebewesens ist.300 Damit ist der Verweis auf den jeweiligen Körper, den der Subjektgebrauch von »ich« nach Koch schon mit sich bringt, aus dem Modus des Erlebens selbst hergeleitet worden. Die innere Verfasstheit des Modus des Erlebens macht es notwendig, dass es eine Qualität gibt, die Nicht-Erleben ist und dieses dennoch bedingt. Wenn Erleben ein eigenes Prinzip ist und durch den Organismus bedingt ist, dann stellt sich der Organismus zugleich als die Natur dar, die unter das Prinzip des Erlebens gestellt ist. Als Moment eines lebendigen Lebewesens und Teil der Natur hat der Organismus gleichzeitig noch andere Bestimmungen als nur dasjenige zu sein, welches das Erleben bedingt.301 Der Organismus als Moment des Lebewesens steht zudem auch in Wechselwirkung mit anderen raumzeitlichen Instanzen, die nicht notwendig Erleben besitzen und für deren Struktur und Bestimmun­ gen Erleben keine Rolle spielt. Er steht also auch in einem Zusam­ Insofern bestärkt diese Analyse des Erlebens den Übergang vom Subjekt- hin zum Objektgebrauch von »ich« bei Koch: Der Subjektgebrauch des »ich« verweist in seinem ihm mitgegebenen phänomenalen Erleben schon aus sich heraus auf die Verkörperung des »ich«. Die Überlegungen Cramers treffen aber nicht nur auf Personen, sondern auf alle Lebewesen zu, insofern sie zwar nicht Personen, aber Subjekte von Erfahrung sind. 299 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 43. 300 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 41. 301 Vgl. hierzu auch die Leibkonzeption von Gernot Böhme in G. Böhme, Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht. 298

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5.8 Der notwendige Bezug des Erlebens zum Organismus und zur Natur

menhang mit Natur, die nicht Moment der konkreten Subjektivität ist und die von dieser nur indirekt durch Wechselwirkung mit dem Organismus erfahren werden kann. Das Verhältnis von Erleben – Organismus – (»außerorganis­ mische«) Natur stellt sich dementsprechend folgendermaßen dar: Das Erleben ist in seiner Inhaltlichkeit durch den konkreten Orga­ nismus bedingt, also gewissermaßen durch den Teil der Natur, der zum Lebewesen gehört und der durch das Lebewesen erlebt wird. Andererseits steht der Organismus über seinen Bezug zum Erleben auch in Zusammenhängen mit Natur, die nicht direkt erlebt werden kann. Während Cramer die Natur, die im Bedingungsverhältnis zum Organismus steht, »organisierte Natur« nennt, bezeichnet er die Natur, die nicht in ein solches Bedingungsverhältnis eingebettet ist, als »bloße Natur«.302 Cramer führt in diesem Kontext zur Unterscheidung der jeweili­ gen Momente folgende Symbolik ein: Das Erleben als Sichbestimmen wird mit »S«, der Organismus als Nicht-Sichbestimmen mit »non S« (oder auch mit »O« für Organismus) und die bloße Natur mit »non/S« (auch mit »N«) symbolisiert.303 Durch die Wechselwirkung von Organismus (»non S«) und der Natur jenseits des Organismus (»non/S«), kann diese indirekt erlebt werden: Indem Natur auf den Organismus wirkt und dieser wiederum das Erleben bedingt, wird auch die außerorganismische Natur durch den Organismus indirekt erlebt. Äußere Perzeptionen stellen demgemäß ein doppeltes Bedin­ gungsverhältnis dar: Sie sind erlebte Wahrnehmung, die durch den Organismus bedingt ist, der wiederum in einem Wechselverhältnis mit der Natur steht.304 Damit entsteht folgender Zusammenhang: »Die Einwirkung äußeren Geschehens auf das Empfangsorgan heißt Affektion, das Einwirkende (non/S-Bestimmte) Reiz, das Organ Sin­ nesorgan, das Gezeugte Sinneseindruck.«305

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 44. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 45. 304 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 117; W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 18. 305 W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 46. 302

303

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Dadurch kann nun das Verhältnis von Erleben und subjektunabhän­ giger Wirklichkeit noch einmal genauer gefasst werden: »Wir erleben nicht äußere Reize (denn äußere Reize sind dem Erleben transzendent), wir erleben auch nicht das durch äußere Reize affizierte Organ oder physiologische Vorgänge (auch solches ist dem Erleben transzendent), sondern wir erleben = zeugen Sinneseindrücke mit Bezug auf das durch Reize affizierte Organ.«306

Damit ist für die subjektphilosophische Herausforderung, die Frage nämlich, wie Wahrnehmen als Erleben gleichzeitig ein In-sich-Sein und bezogen auf äußere Wirklichkeit sein kann, ein Lösungsvorschlag unterbreitet, der beiden Aspekten gerecht zu werden vermag. Wahr­ nehmung ist im Modus des Erlebens und als solches ein Zeugen, das unter der Bedingung des Organismus und damit auch indirekt unter der Bedingung der bloßen Natur steht.307 Insofern sich der Organismus eben auch in einem Zusammen­ hang hinsichtlich der bloßen Natur befindet, ist der ganze Lebensvoll­ zug des Lebewesens von vornherein in einen dynamischen Gesamt­ zusammenhang gestellt, da er sich in einem Spannungsfeld von physischen und psychischen Bedürfnissen und Vermögen des Lebe­ wesens abspielt. Die Einbettung des Lebewesens in den Naturzusam­ menhang macht also dessen Fähigkeit notwendig, die zur Selbster­ haltung notwendigen Funktionen und somit die Interaktionen mit seiner Umwelt auszuüben. Damit muss ein Lebewesen auch dazu in der Lage sein, seinen Organismus zu bestimmten Handlungen zu bestimmen, um die Aktivitäten, die zur Selbsterhaltung notwendig sind, durchzuführen.308 In diesem dynamischen Gesamtzusammenhang spielt der Orga­ nismus als der auf Erleben und den Lebensvollzug ausgerichtete Leib eine zentrale Rolle für das Lebewesen, da er die Vermittlungsinstanz von bloßer Natur und Erleben ist. Dies ist deshalb der Fall, weil sowohl das Wirken der Welt auf das Erleben als auch das Wirken des Erlebens auf die Welt nur durch den Leib vermittelt ist. Damit differenziert sich das Prinzip des Sichbestimmens im Lebewesen (sofern es sich nicht um Pflanzen handelt) in zweifacher Weise: Zum einen ist das Sichbestimmen das Erleben als Zeugen von erlebten Inhalten, zum 306 307 308

W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 46. Vgl. z. B. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 116. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 117.

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5.8 Der notwendige Bezug des Erlebens zum Organismus und zur Natur

anderen hat das (tierische) Lebewesen als Aktivität auch die Fähigkeit zur Handlung, wodurch es zugleich ein »Sichbestimmen-zu« ist:309 »Die Monade ist Einheit zwiefachen Ursprungs: Ursprung des Zeugens und Ursprung des Tuns. – Als Einheit zwiefachen Ursprungs bezieht sie ihre Perzeptionen auf ihre Aktivität und ihre Aktivität auf ihre Per­ zeptionen.«310

Dabei stehen äußere Perzeptionen und mögliche Handlungen in einem Zusammenhang, in dem der Organismus eine Vermittlungs­ rolle einnimmt. Denn nur durch diese Vermittlung steht das Lebewe­ sen durch seinen Organismus in einem Zusammenhang mit der Welt, der dem Lebewesen auch die Interaktion mit derselben ermöglicht, da der Organismus auch in Wechselwirkung mit anderen weltlichen, raumzeitlichen Strukturen steht. Im Erleben tätigt das Lebewesen nicht nur Wahrnehmungen, die durch den Organismus bedingt sind, der wiederum in einem Zusammenhang mit der nicht erlebenden Natur steht; es hat in diesem Kontext aufgrund der Einbettung in die Eigendynamik des Lebendigseins beispielsweise in der Selbster­ haltung auch notwendig das Vermögen zur aktiven Interaktion mit der Welt. In Bezug auf das Lebendigsein des Lebewesens ergibt sich im Kontext des Erlebens ein notwendiges Wechselverhältnis von Perzeption und Aktivität, das Cramer wie folgt ausdrückt: »Sie [die Monade; T.M.] einigt das Zeugen mit Bezug auf die Ein­ wirkung des Äußeren auf sie mit ihrer Einwirkung auf das Äußere durch ihre Aktivität. Sie agiert mit Bezug auf äußere Perzeptionen, sie verschafft sich durch Aktion äußere Perzeptionen, um wiederum mit Bezug auf diese zu agieren. Eine Aktivität kann also durch Aktion dafür sorgen, von äußeren Reizen affiziert zu werden, sich Sinneseindrücke zu verschaffen.«311

Deshalb hat der Organismus aus Sicht des Erlebens eine vermittelnde Funktion, die ihm aufgrund seines Doppelaspektcharakters zukommt: Er bedingt das Erleben in seiner Inhaltlichkeit und dient aufgrund seiner Wechselwirkung mit anderen raumzeitlichen Instanzen in der Aktivität des Lebewesens als Vermittler zwischen Erleben und Welt. Nur dadurch, dass der Organismus auch unter einer raumzeitlichen 309 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 47f.; Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 18. 310 W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 49. 311 W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 50.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Naturordnung steht, ist es dem erlebenden Lebewesen möglich, sich auf Raumzeitliches in der Welt zu beziehen. Und diese Einbettung des Organismus in Naturzusammenhänge ermöglicht es dann auch, den Organismus in einer naturwissenschaft­ lichen Perspektive zu betrachten, unter der er dann primär als Körper erscheint.312 Diese Thematisierung, in der von der Vermittlungsfunk­ tion des Organismus für das Erleben dann abgesehen wird (oder nur korrelativ Bezug genommen wird), ist entsprechend der Zweck­ setzung vollkommen legitim, solange dabei nicht vergessen wird, dass es sich um eine methodische Abstraktion unter einer bestimmten Fragestellung handelt. Durch den notwendigen Bezug von Erleben und Organismus kommt aber auch – wie bereits angedeutet – noch eine weitere Legitimation des Weltgedankens ins Spiel. Im Experiment der Selbst­ vergewisserung erkennt sich der Denker als Denker, indem er sich als konkrete Realisierung einer allgemeinen Bestimmung im IchGedanken, nämlich Denker und im Anschluss an die Analyse des Erlebens auch verkörperte Subjektivität zu sein, bestimmt. Diese Bestimmung, konkrete Realisierung einer allgemeinen Bestimmung zu sein, erfordert in diesem Kontext aber eine Ordnung, nach der diese Vereinzelung möglich ist. Da dies nicht von dem jeweiligen Lebewesen verbürgt werden kann, da sich dieses ja immer schon in der Vereinzelung vorfindet, erfordert eine Theorie der konkreten Subjektivität schon die Welt als deren Vereinzelungsordnung.313 Durch die Analyse des Denkens bzw. des Erlebens gelangt man durch seinen konkreten Weltbezug über den Organismus zu der diffe­ renzierten Einheit des erlebenden Lebewesens, dessen Momente Erle­ ben und Nicht-Erleben (Organismus) sind.314 Diese beiden Momente sind nicht zwei ontologisch voneinander getrennte Bereiche oder Sub­ stanzen, sondern sind als Aspekte bzw. Momente eines Lebewesens immer als konkrete Modi einer verkörperten Subjektivität, also als 312 Zu der Möglichkeit, den Leib unter naturwissenschaftlicher Perspektive als Körper aufzufassen, vgl. D. Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivi­ tät, 181; T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologische Konzeption, 99–103; M. Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, 342–348. 313 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 64–74. Vgl. dazu auch W. Kersting, »Monade und Bewußtsein. Die monadologische Subjektivitätskonzeption Wolfgang Cramers«, 355–357. 314 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 42.

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5.8 Der notwendige Bezug des Erlebens zum Organismus und zur Natur

zu unterscheidende Momente eines Ganzen zu begreifen. Während das Erleben immer nur Moment eines hinreichend komplexen Orga­ nismus ist und durch diesen mitbestimmt wird, ist umgekehrt der Organismus als eine besondere Art des Physischen, als Moment eines Lebewesens zu bestimmen, welches seinerseits durch die Dimension des Erlebens mitbestimmt ist.315 Es handelt sich also um die Einheit zweier unaufhebbarer Momente, welche Bestimmungen der Einheit eines Gesamtkomplexes – eben des Lebewesens – sind.316 Damit erweist sich Erleben als eigener Modus, der zugleich Prinzip und Moment ist. Prinzip ist Erleben deshalb, weil seine Bestimmungen nicht von etwas festgelegt werden können, das nicht Erleben ist. Moment ist es, weil es als Modus immer schon auf die Qualität angewiesen ist, die es bedingt, ohne dessen Eigenart aufzuheben. Somit ist Erleben das Einheitsprinzip des Lebewesens, das sich als differenzierte Einheit seiner Momente Erleben und Orga­ nismus darstellt. Eine so verstandene Subjektivität geht also nicht in reinen Bewusstseinsqualitäten auf, sondern verweist aus sich heraus not­ wendig auf ihren Leib und durch seine Einbettung auch auf die Natur bzw. die Welt. Der so skizzierte Organismusbezug bietet also Anschlussmöglichkeiten zu leibphilosophischen und leibphänome­ nologischen Ansätzen, welche die Aspekte der Leiblichkeit ins Zen­ trum stellen und differenzierter entfalten.317 Während solche Ansätze sich meist auf die berechtigte phänomenologische Beschreibung konzentrieren, aber die ontologischen und transzendentalphilosophi­ schen Bedingungen nicht weiter thematisieren, versucht das hier vorgestellte Konzept, das Verhältnis von Erleben, Organismus und

315 Dies im Gegensatz etwa zu rein physikalischen Prozessen, die nicht von einer übergeordneten Dimension wie etwa biologischen oder psychischen Qualitäten beein­ flusst werden. 316 Vgl. eine ähnliche Auffassung bei Fuchs: »So wie Subjektivität notwendig verkör­ pert ist, so ist ein geeignet organisierter, lebendiger Körper notwendig auch subjektiv.« (T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologische Konzeption, 120). Das hier vorgetragene Konzept teilt als Grundansatz die Auffassung, dass das lebendige Lebewesen als Einheit aufzufassen ist, geht aber bei der Bestimmung des Verhältnisses der Momente von Erleben und Organismus darüber hinaus, da es den Bezug zwischen beiden Momenten transzendentalphilosophisch begründet. 317 Vgl. zu solchen Ansätzen z. B. S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Lei­ bes; T. Fuchs, Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie; H. Schmitz, System der Philosophie. 1. Teil: Der Leib.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Natur begrifflich präziser zu bestimmen und den Organismusbezug der Subjektivität zudem transzendentalphilosophisch zu begründen. Der Bezug auf das Lebewesen als konkrete Subjektivität, die als Einheit sowohl Erleben als auch den Organismus umfasst, mag zwar in der aktuellen Bewusstseinsdebatte zunächst befremdlich scheinen, da man dort, inspiriert von physikalistischen Grundannahmen, ent­ weder eine wie auch immer geartete Zurückführung des Erlebens auf physikalische Strukturen anstrebt oder das Erleben dem Physischen als eigene Entität anstelle eines Moments oder Modus gegenüber­ stellt. Da aber – wie schon gezeigt worden ist – eine naturwissenschaft­ liche Perspektive eine Reduktion oder eine ontologische Trennung weder zwingend ergibt noch nahelegt, sondern umgekehrt die geis­ tigen Vermögen und bewussten Phänomene in ihrer Eigencharakte­ ristik voraussetzt, gilt es, unter Vermeidung der Extrempositionen eine Position zu finden, die beiden Ebenen als Momenten eines Gesamtkonzepts gerecht zu werden vermag. Eine solche Konzeption muss also einerseits die notwendige Eigencharakteristik der geistigen und bewussten Phänomene als solcher konzeptionell berücksichtigen, ihre Verbindung zum Orga­ nischen aufzeigen und schließlich darlegen, welche Rolle der natur­ wissenschaftlichen Perspektive zukommt. Die hier vorgeschlagene Verhältnisbestimmung versucht, die aus den Extremvorschlägen resultierenden Probleme zu umgehen, indem beide Ebenen als Momente einer differenzierten Einheit bestimmt werden. Ein solches Konzept einer konkreten Subjektivität ermöglicht es nicht nur, die Eigenstruktur des Erlebens aufzuweisen, sondern bietet aus sich heraus auch die Anschlussfähigkeit von phänomenologischen und naturwissenschaftlichen Perspektiven.

5.9 Die denkende Monade: vom Geist Die Entwicklung der Theorie der Subjektivität begann mit der Quali­ tät des Denkens, weil Denken der unhintergehbare Ausgangspunkt einer solchen Theorie sein muss, da Denken, seine Struktur und sein Anspruch in jeglicher Argumentation vorausgesetzt werden müssen. Dabei wurde zunächst nur die Grundstruktur des Denkens in dem Zusammenhang »Erzeugendes (Ursprung) – Erzeugen (Denken) –

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5.9 Die denkende Monade: vom Geist

Erzeugtes (Gedanke)«318 entwickelt, die, wie gezeigt werden konnte, auch die allgemeine Struktur des Erlebens ist. Anschließend wurde dann zunächst die Qualität des Erlebens und sein Bezug zum Orga­ nismus und der Natur weiter entfaltet. Dabei wurden in der ersten Bestimmung der Grundstruktur des Erlebens die unhintergehbaren logischen Momente des Denkens und des Erlebens unter Berücksich­ tigung der phänomenologischen Aspekte entwickelt. Nach der Entfaltung der Grundbestimmungen des Denkens, der Erörterung der Grundstruktur des Erlebens und der Thematisierung des damit gegebenen Einbettungszusammenhangs in Natur und Welt muss man für eine Theorie der Subjektivität nun zum Denken zurück­ kehren, um noch diejenigen Bestimmungen zu entwickeln, die mit dem Denken notwendig gegeben, aber bisher nur implizit geblieben sind. Damit werden nun auch noch die Bestimmungen expliziert, die für die Bestimmtheitsform »Denken« konstitutiv sind. Mit diesem Schritt werden die Grundmerkmale dessen bestimmt, was als Geist bezeichnet werden kann. Dabei ist zu beachten, dass die für das Erleben entwickelten Merkmale natürlich auch alle für denkende Lebewesen gelten. Wie schon weiter oben dargelegt, ist sowohl das Erleben als auch das Denken eine bestimmte Art des Erzeugens, wodurch beide durch das Prinzip des Sichbestimmens bestimmt werden. Während Erleben im Allgemeinen sich in Vorstellungen, Anschauungen und Wahrnehmungen zu erlebten Inhalten bestimmt, bestimmt Denken sich Gedanken. Denken ist somit ein spezieller Modus des Erlebens und damit auch ein spezieller Modus des Sichbestimmens. In ihm wird das Prinzip des Sichbestimmens als solches noch bestimmt: »Erleben ist Sichbestimmen, aber Denken ist das sich Prinzip gewor­ dene Sichbestimmen. Denken ist der Modus der dialektischen Einheit der Monade, dessen beherrschendes Moment zu sich, zu seinem Prinzip gekommen ist.«319

Das zentrale Fundament einer Theorie des Denkens ist der IchGedanke, denn in ihm wird der Ist-Anspruch des Denkens gerecht­ fertigt, also der Anspruch, dass bestimmte Bestimmungen zugleich Bestimmungen der Wirklichkeit sind, gleichgültig, ob diese auch noch gedacht werden. Entwickelt wird diese Rechtfertigung zu allererst an 318 319

W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 22. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 57.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

dem Ich-Gedanken, in dem das denkende Ich sich als Seiendes von der Bestimmung »Denken« bestimmt. Dabei ist die Selbsterkenntnis und die minimale Bestimmung des Ich auf der Ebene des Subjektgebrauchs nicht referentiell durch ein Objekt in der Anschauung, also nicht durch eine Subjekt-Objekt-Identität konstituiert, sondern ergibt sich notwendig inferentiell aus dem Ich-Gedanken und den daraus resul­ tierenden Bestimmungen, wobei durch die philosophische Deduktion eben die Bedingungen eines Ausgangsphänomens erschlossen wer­ den.320 Im Ich-Gedanken kann also der allgemeine Ist-Anspruch des Denkens legitimiert werden.321 Als konkret Seiendes von einer bestimmten Form ist dieses Denken aber auch in bestimmte Kontexte eingebettet, die, ausgehend von dem Ich-Gedanken, erschlossen wer­ den können. Dadurch ist der Ich-Gedanke eben auch der Ausgangs­ punkt für Bestimmungen, die mit dem gerechtfertigten Ist-Anspruch einhergehen. Weil im Ich-Gedanken das denkende Lebewesen einen Begriff von sich erzeugt, kann es auch seine Einbettung in einen Natur- und Seinszusammenhang thematisieren.322 Das bedeutet, dass aus den Bestimmungen, die sich aus dem Ich-Gedanken erge­ ben, hergeleitet werden kann, dass das Lebewesen eine Einheit aus Erleben und Organismus ist, dass der Organismus die Inhaltlichkeit des Erlebens bedingt, dass der Organismus seinerseits in einem Wechselwirkungsverhältnis mit der Natur steht, dass das Lebewesen notwendig auch der Aktivität (»Sichbestimmen-zu«) fähig sein muss, dass es eine subjektunabhängige Wirklichkeit gibt und dass das Lebe­ wesen in eine bestimmte Ordnung eingebettet sein muss, die seine Existenz als konkretes Einzelnes einer bestimmten Form (»Erleben«, »Denken«) ermöglicht. Alle die Bestimmungen, die im Zusammenhang des Erlebens entwickelt werden, gelten natürlich auch für Lebewesen, die die Fähigkeit zu denken nicht besitzen. Dem denkenden Lebewesen ist es aber allein möglich, auch alle diese Bestimmungen denkend zu the­ matisieren und zu wissen. Zwar muss ein denkendes Lebewesen den Ich-Gedanken nicht erzeugen und die damit verbundene Rechtferti­ gung des Ist-Anspruchs nicht nachvollziehen, aber prinzipiell muss Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 22. Dazu auch W. Kersting, »Der ursprüngliche Realitätsgedanke »ich denke«. Wolfgang Cra­ mers cartesianische Meditationen«, 57. 321 Vgl. hierzu z. B. auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 109–115. 322 Vgl. hierzu auch W. Cramer, »Das Ich und das Gute«, 26–33. 320

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5.9 Die denkende Monade: vom Geist

diese Möglichkeit mit der Fähigkeit des Denkens immer gegeben sein. Durch den Ich-Gedanken kann es sich anhand der mit diesem einhergehenden Bestimmungen als denkendes und erlebendes Lebe­ wesen bestimmen, das in einen Natur- und Seinszusammenhang eingebettet ist. Da das denkende Lebewesen eben nicht nur in die Strukturen des Erlebens und der Natur eingebettet ist, sondern diese auch als solche thematisieren kann, ist es zugleich Gegenstandsbewusstsein, Transzendenzbewusstsein (Wissen um die subjektunabhängige Wirklichkeit) und Realitätsbewusstsein.323 Dabei kommt ein wesentliches Grundmerkmal des Denkens zum Tragen, das bereits am Ich-Gedanken entwickelt worden ist: Im Ich-Gedanken ist in einem Gedanken etwas gewusst, was selbst nicht Gedanke ist. Das Ich als Ursprung ist nicht nur gedacht, aber dass es nicht nur gedacht ist, kann nur durch einen Gedanken gewusst werden. Somit ist durch den Ich-Gedanken der Ist-Anspruch des Denkens legitimiert. Es denkt bestimmte Realität, die vom Denken unabhängig ist, deren Bestimmungen so sind, gleichgültig, ob diese Bestimmungen noch gedacht werden oder nicht.324 Dadurch kann – mit Cramer gesprochen – das Denken selbst von sich »wegdenken«, es transzendiert sich zum einen, weil es weiß, dass es Bestimmungen denkt, die nicht von seinem Belieben abhängen, und zum anderen, weil es im Denken weiß, dass es etwas gibt, das nicht Denken ist (z. B. Organismus, Natur, Welt).325 Durch die Analyse des Ich-Gedankens wird schon deutlich, dass Denken sich in verschiedener Weise transzendiert. Es erfasst z. B. Bestimmtheitsformen, die nicht durch sein Belieben erzeugt werden können, es weiß, dass es Realität gibt, die unabhängig von ihm ist. Die verschiedenen Arten des Transzendierens, die mit dem Denken zusammenhängen, werden später noch einmal genauer erörtert wer­ den, weil sie auch die Grundlage für einen Übergang zu einer Theorie des Absoluten darstellen. Im Kontext der Theorie des Geistes ist hier aber zunächst auf die Differenzen und Gemeinsamkeiten von Denken und Erleben zurückzukommen. Obwohl Erleben im Allgemeinen und Denken im Speziellen ein Sichbestimmen ist, liegt eine entscheidende Differenz

323 324 325

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 61. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 13. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 63.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

darin, dass das Denken in einem größeren Maße spontan ist.326 Das phänomenale Erleben ist zwar in seinem Sichbestimmen auch eine Aktivität, die nicht auf andere Faktoren, die nicht Erleben sind, reduziert werden könnte. Erleben als Aktivität zeugt sich unter Bezug auf den Organismus bestimmte Inhalte. Es ist aber als bedingte Rezeptivität nicht frei, nicht zu zeugen.327 Wir können nicht willent­ lich bestimmen, nicht mehr erleben zu wollen. Im Unterschied dazu ist das Denken durch eine qualitativ andere Art der Spontaneität gekennzeichnet: Das Denken ist nicht gezwungen, Gedanken zu produzieren. Es ist selbst Ursprung, der sich dazu bestimmt, konkrete Gedanken zu erzeugen: »Spontaneität ist eine Produktion, darin der Ursprung sich selbst zum Zeugen bestimmt, sein Zeugen ohne Rücksicht auf seine Determina­ tion selbst noch beherrscht. Der Ursprung als Spontaneität lenkt sich zum Nochzeugen, gebietet sich zum Nochzeugen von Erzeugnissen, die nicht mit Bezug auf Affektion erzeugt sind.«328

Mit dieser Möglichkeit, das Zeugen von Gedanken spontan zu bestimmen, ist dem Denken eine weitere Besonderheit gegenüber dem phänomenalen Erleben gegeben: Zwar ist auch das Erleben Inte­ gration des Gewesenen und durch diese Struktur schon auf künftiges Erleben angelegt und so als offene Integration bestimmt worden. Beide Bestimmungen gelten auch für das Denken. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass das Denken als Spontaneität diese offene Integration selbst noch bestimmen kann. Da Gedanken schon von sich aus die Grundlage für weitere Gedanken sind, ist Denken eine Spontaneität, die sich als Sichbestimmen zu zukünftigem Sichbestim­ men bestimmt und somit noch seine offene Integration beherrscht:

326 Eine ähnliche Charakterisierung des Denkens als Spontaneität findet sich bei Pirmin Stekeler-Weithofer: »Am Ende gibt es Weniges, das sich auf so klare und deutliche Weise als ›freie‹ bzw. ›spontan ausführbare‹ Handlung (in einem noch nicht verderbten, insofern alten Sinn von ›spontan‹) von Widerfahrnissen und nicht weiter kontrollierten Verhaltungen unterscheidet, wie das zunächst versuchsartige Fassen und dann bewusste Ausdrücken von Gedanken.« (P. Stekeler-Weithofer, Denken, 112). 327 Vgl. z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 29. 328 W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 65.

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5.9 Die denkende Monade: vom Geist

»Spontaneität ist Sichbestimmen zu künftigem Sichbestimmen. Das Schonintegrierte ist schon integriert als Beginn eines im künftigen Integrieren erst zu Beendenden.«329

Das bedeutet, dass das denkende Lebewesen sich nicht nur im Erleben und Denken voraus ist, es ist sich als bestimmendes Denken auch dieser Bestimmtheit bewusst. Dieses Wissen ist dann zusammen mit der grundlegenden Bestimmung des Lebewesens, dass es in seinem Erleben wesentlich das Zeugen von Vorstellungen (Wahrnehmungen usw.) ist, auch die Basis dafür, dass ein denkendes Lebewesen spontan Vorstellungen erzeugen kann, die nicht perzipiert worden sind. Dieser Modus, als Spontaneität sich »bloße Vorstellungen« zu zeugen, wird von Cramer »Imagination« genannt. Damit wird mit dem Terminus »Spontaneität« ein Modus gekennzeichnet, der sowohl Imagination als auch Denken umfasst. Ein Lebewesen, das diesen Modus des Sichbestimmens besitzt, wird »Selbst«, der Modus des spontanen Sichbestimmens »Selbstbestimmen« genannt:330 »Ein Selbst ist Zeitbewußtsein, Raumbewußtsein, Weltbewußtsein, Selbstbewußtsein. – Ein Selbst hat Begriff von sich, hat Begriff vom räumlich-zeitlichen Transzendenten, hat Begriff von seinem Gewesen­ sein, Jetztsein, künftigen Sein. Daher ist ein Selbst nicht seinen Perzep­ tionen und Wahrnehmungen und nicht seiner Selbsterhaltung verhaf­ tet.«331

Dadurch, dass sich ein Selbst seine Verfasstheit noch zu Bewusstsein bringen und diese begrifflich bestimmen kann, kann es auch über die so thematisierten Bedingungen zu einem gewissen Grad verfügen. So wird noch zu zeigen sein, dass das Erzeugen von Gedanken auch eine wesentliche Voraussetzung für zweckgerichtete Handlungen ist, so dass man sagen kann, dass die begriffliche Bestimmung von Wirklichkeit auch eine handlungsrelevante Dimension besitzt. Die Möglichkeit, Wirklichkeit begrifflich zu bestimmen, ist für das Prinzip des Selbstbestimmens (»S´“) konstitutiv: Ein Selbst begreift Wirklichkeit, indem es Gedanken zeugt, die die Verfasstheit des jeweils Bestimmbaren thematisieren. Dadurch, dass für ein Selbst auch alle entwickelten Bestimmungen des Erlebens gelten, muss in dem Prinzip des Selbstbestimmens auch ein Moment konstitutiv sein, 329 330 331

W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 66. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 71. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 71.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

das Nicht-Selbstbestimmen (»non S´“) ist, das also dem Selbstbestim­ men gewissermaßen als Bezugspunkt noch entgegensteht.332 Ähnlich wie das Sichbestimmen des erlebenden Lebewesens zugleich Prinzip und Moment ist, das durch ein anderes Moment als Nicht-Erleben (»non S« = Organismus) bestimmt worden ist, ist auch das Selbst­ bestimmen zugleich Prinzip und Moment. Analog gilt auch hier, dass das Prinzip des Selbstbestimmens die Einheit der Momente von Selbstbestimmen und Nicht-Selbstbestimmen ist, da das Moment »non S´“ eben dasjenige bezeichnet, was durch »S´“ bestimmt wer­ den kann.333 In Falle des Selbstbestimmens gibt es aber eine Besonderheit. Da Selbstbestimmen eine Fähigkeit darstellt, von der das Selbst bestimmen kann, wann und wie sie aktualisiert wird, ist auch das ihr entgegenstehende Moment modal verfasst: Es bezeichnet das durch das Selbstbestimmen Bestimmbare, es bezieht sich also auf dasjenige, was jeweils thematisiert werden kann. Wenn das Prinzip S´ das Selbstbestimmen als dasjenige Sichbestimmen thematisiert, das als spontan gekennzeichnet wurde (Denken, Imagination), dann hat dies einen Bezug zum Bestimmbaren, also zu dem, was möglicherweise zu Bewusstsein gebracht werden kann (»non S´“). Genauso wie das Moment »non S« im Erleben noch ein Moment an sich hatte, das nicht von dem Prinzip beherrscht wurde (»non/S« = Natur), so hat auch das negative Moment des Selbstbestimmens (»non S´“) ein solches Moment (»non/S´“), das nicht mehr Gegenstand eines willkürlichen Bestimmens ist. War dies für das Erleben die bloße Natur, bezieht sich dieses Moment im Prozess der Selbstbestimmung auf einen Subjektivitätsmodus. Denn das Bestimmbare (»non S´“) hat einen modalen Bezug auf das allgemeine Erleben des Lebewesens (z. B. eine Wahrnehmung), das dann gewissermaßen die Grundlage eines begrifflichen Bestimmungsprozesses bildet. Das Bestimmbare ist also selbst nicht Selbstbestimmen (= begriffliches Denken oder bloßes Vorstellen) und bezieht sich in modaler Weise auf einen Aspekt des grundlegenden Erlebensmodus. Das heißt, dem Moment »non S´“ liegt mit dem allgemeinen Erleben immer noch ein Sichbestimmen zugrunde, das selbst unter dem Prinzip S steht und im Selbstbestim­ mungsprozess das Moment »non/S´“ darstellt (z. B. konkrete Wahr­

332 333

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 72. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 73.

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5.10 Das Selbstbestimmen als Prinzip der Freiheit

nehmungen).334 »non/S´“ ist also dasjenige im Moment »non S´“, das selbst nicht mehr unter dem Prinzip des Selbstbestimmens steht, aber als Erlebtes ein Sichbestimmen ist. Man kann prinzipiell willkürlich entscheiden, was man bewusst von dem Erlebten begrifflich thema­ tisiert, aber man kann nicht entscheiden, dass man überhaupt erlebt, noch kann man garantieren, dass man alles Erlebte überhaupt the­ matisieren kann. Damit unterscheidet Cramer den Bereich, den ein denkendes Lebewesen in der jeweiligen Situation überhaupt ins Bewusstsein heben und damit mit Gedanken thematisieren kann, von den Erlebnissen, die beispielsweise zwar erlebt, aber vergessen wor­ den sind. Damit wird in Cramers Theorie der konkreten Subjektivität der subjektphilosophische »Ort« des Unbewussten eingeführt. Mit anderen Worten: Ein denkendes Lebewesen hat die Mög­ lichkeit, in seinem Selbstbestimmen bestimmte Aspekte seines Erlebens denkerisch zu thematisieren. Dieses explizite Ins-Bewusst­ sein-Heben bezieht sich auf das Erleben als den Grundmodus der Subjektivität, aber in einer bestimmten Perspektive: sofern es nämlich in dem jeweiligen Moment überhaupt thematisierbar ist. Damit besteht also eine unaufhebbare Spannung zwischen »S´“, »non S´“ und »non/S´“, weil das möglich Bestimmbare nie ganz bestimmt werden kann oder – z. B. bei Enthaltung des Vollzugs des Selbstbestimmens – auch gar nicht bestimmt werden muss.

5.10 Das Selbstbestimmen als Prinzip der Freiheit Das Selbstbestimmen ist als eine Spontaneität bestimmt worden. Durch es kann sich ein Selbst dazu bestimmen, Gedanken zu denken oder bloße Vorstellungen zu generieren. Damit ist das Selbstbestim­ men derjenige Kontext in einer Theorie der Subjektivität, in dem Freiheit überhaupt expliziert werden kann, weil hier der Modus des Zeugens von nichts anderem abhängt als von dem Ursprung, der sich dadurch frei bestimmen kann. Zwar ist das Erleben ein aktives Zeugen des Lebewesens, das nicht auf eine andere Instanz reduziert werden konnte, aber dem Erle­ ben stand es nicht frei, seine Inhalte zu zeugen. Es steht dem Denken zwar auch nicht frei, Nicht-Denken zu sein, so dass es sich schon 334

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 73.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

als eine Bestimmtheitsform in einem bestimmten Zusammenhang vorfindet, der für das Denken selbst bestimmend sein muss, wenn es ein Denken sein will. Jedoch kann das denkende Selbst prinzipiell bestimmen, was es denkt, und ist fähig, den Gedankengang in eine bestimmte Richtung zu lenken.335 Es ist ja gerade das Grundmerk­ mal des Selbstbestimmens, dass dessen Ursprung in der jeweiligen geistigen Aktivität über den konkreten Vollzug bestimmt. Als grund­ legender Modus der zielgerichteten Spontaneität, Gedanken oder Vorstellungen zu erzeugen, ist Selbstbestimmen somit das Prinzip der Freiheit. Nach Cramer ist diese Verhältnisbestimmung auch daran ersichtlich, dass Freiheit und Unfreiheit nur in den Momenten des Moments »S´“ vorkommen kann.336 Alle anderen Momente, seien dies »non S´“ oder »non/S´“, besitzen die fundamentale Vorausset­ zung zur Freiheit, mögliches und nicht notwendiges Bestimmen zu sein, gar nicht. Damit ist im Selbstbestimmen zunächst das Prinzip der Freiheit beschrieben, indem ein Selbst selbst genuiner Ursprung seiner Gedanken und Vorstellungen ist. Dieser Zusammenhang ist nun auch die Grundlage, um das Selbst in praktischen Handlungskon­ texten als Willensfreiheit bestimmen zu können: »Also ist das Ich ein Ursprung, der sich als Ursprung des Tuns denkt und damit nach denkender Vorwegnahme sein Tun bestim­ men kann.«337

Aufgrund der Möglichkeit eines Selbst, sich Gedanken und Vorstellungen spontan zu bestimmen, die nichts mit den jeweils gegenwärtigen Perzeptionen zu tun haben müssen, ist es einem Selbst möglich, ein Zeitbewusstsein zu sein. Es weiß um seine zeitliche Verfasstheit, sein Jetztsein, sein Gewesensein und sein mögliches zukünftiges Sein und kann so auch zukünftige Handlungen in Gedanken thematisieren und durchspielen. Indem ein Selbst nun handlungsleitende Gedanken erzeugen und sich in praktischer Hinsicht zu Handlungen bestimmen kann, ist es somit ein Wille: Es kann seine Handlungen durch die Antizipation der Zukunft lenken, indem es sich für seine zukünftigen Handlungen Zwecke setzt.338 Die hierfür notwendige begriffliche Antizipation nennt Cramer »Vorsatz«, das 335 336 337 338

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 66. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 73. W. Cramer, »Das Ich und das Gute«, 34. Vgl. W. Cramer, »Das Ich und das Gute«, 34.

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5.10 Das Selbstbestimmen als Prinzip der Freiheit

durch diesen gelenkte Tun »Handlung« und den Entschluss, das so Vorgestellte zu verwirklichen, »Wille«.339 Insofern für gewöhnlich in philosophischen und gesellschaftli­ chen Diskussionen angenommen wird, dass der Wille durch äußer­ liche Faktoren bestimmt wird, ergibt sich in diesem Kontext das Problem der Willensfreiheit. Da der Wille selbst ein Moment des Moments des Selbstbestimmens ist und sich damit immer im Kontext des Sichbestimmens bildet, ist es nach Cramer irreführend, wenn davon gesprochen wird, dass der Wille von etwas anderem als vom Sichbestimmen determiniert sei. Ist diese Vorstellung der absoluten Fremddetermination nach Cramer eine allzu grobe Vereinfachung, weil sie suggeriert, dass Sichbestimmen in einen materiell-kausalen Kontext reduzieren lässt, so spricht Cramer der dahinterstehenden Vorstellung dennoch ein gewisses Recht zu. Da der Wille ein »inte­ grierendes Moment des Gesamtintegrals ›Sichbestimmen‹“340 ist, lässt sich der Gedanke der Unfreiheit des Willens in dem hier ange­ führten Kontext des Selbstbestimmens anders explizieren. Als inte­ grierendes Moment des Gesamtintegrals Selbstbestimmen kann der Wille von sehr unterschiedlichen Motiven geleitet werden: Anlage, Antriebe, Affekte, Emotionen usw. sind mögliche Motive des Willens. Da der Wille aber unter dem Prinzip des Selbstbestimmens steht und Moment des Moments »S´“ ist, muss es einem Selbst möglich sein, sich das Motiv seines Willens noch zu Bewusstsein zu bringen. Damit muss ein Selbst – jedenfalls prinzipiell – fähig sein, sich zu diesem Motiv zu verhalten.341 Somit ist ein Selbst die Möglichkeit zum freien Willen, denn es kann sich (zumindest prinzipiell) die Motive seines Willens bewusst machen und als Selbst prinzipiell durch seine Fähigkeit des Selbstbe­ stimmens noch einmal bestimmen, ob es sich dieses Motiv geben will oder nicht: »Der Wille kann allerdings im Momente der Unfreiheit sein, sofern er durch Momente motiviert ist, die nicht Momente des Selbstbestim­ mens sind. […] Der Wille kann, weil er Wille eines Selbst ist, im Momente der Freiheit sein.«342

339 340 341 342

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 76. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 77. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 78. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 79.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Da also der Wille (auch) von dem Vorsatz abhängig ist, welcher Moment eines Selbstbestimmens ist, kann nach Cramer daher keine Theorie der Willensfreiheit möglich sein, wenn nicht vorher eine Theorie des Denkens geleistet worden ist, die schon das Selbstbestim­ men als Prinzip der Freiheit bestimmt hat: »Freiheit verlangt, daß die Handlung durch uns vollbracht wird, wir, die Handelnden, ihr Ursprung sind und ein solcher, der sich zu diesem oder jenem Handeln bestimmen kann. Freiheit ist ein Sichbestimmen zu …, welches des Könnens mächtig ist. Kraft meines Vorsatzes bestimme ich mich zu diesem und nicht zu jenem. Freiheit verlangt also auch Antizipation des Zuhandelnden, Vorstellung von möglichen Handlun­ gen.«343

Systematisch ergeben sich nach Cramer fünf Bedingungen, die für Freiheit notwendig sind und die in einem Selbst verwirklicht sind:344 1.

Die Qualität des Sichbestimmens, die das grundlegende Merk­ mal des Geistes ist, das Feld der Bestimmbarkeit, das Bestimmen der Bestimmbarkeit als ein mögliches und nicht notwendiges Bestimmen, die Antizipation eines möglichen Bestimmens die Zeit.

2. 3. 4. 5.

Bisher wurde aber die Freiheit des Willens nur negativ als Willkür bestimmt. Soll sie positiv bestimmt werden, dann wäre das nach Cramer nur möglich, wenn das Selbst sich einen Bestimmungsgrund setzen könnte, der notwendig aus einem Prinzip folgte. Dabei kann die Notwendigkeit nicht so verstanden werden, dass der Wille gezwun­ gen ist, sich diesen Bestimmungsgrund zu setzen, denn damit würde die Willensfreiheit gerade wieder aufgehoben. Die Notwendigkeit kann allein in dem Bewusstsein liegen, dass der Bestimmungsgrund gesetzt werden soll.345 Demnach sind drei Anforderungen an solch einen Bestimmungsgrund zu richten: 1.

343 344 345

Da alles, was ein Selbst sich zeugt, aus ihm selbst kommen muss, muss das Selbst Ursprung dieses Gesetzes sein.

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 250. Vgl. für diese Punkte W. Cramer, Die absolute Reflexion, 251. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 80.

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5.10 Das Selbstbestimmen als Prinzip der Freiheit

2. 3.

Es muss zudem aus demselben Grund auch Ursprung der Ver­ bindlichkeit des Gesetzes sein. Das Selbst muss sich diesen Bestimmungsgrund geben, um seinen Willen positiv bestimmen zu können.346

Eine solche Struktur wird nach Cramer »Selbstgesetzgebung« oder auch »Autonomie« genannt. Wie kann nun ein Selbst sich selbst ein Gesetz bzw. eine Gesetzlichkeit geben? Nach Cramer ist dies nur möglich, weil das Selbst in sich selbst ein Gesetz bzw. eine Gesetzlichkeit ist: Die bisher gefundenen Bestimmungen (Ursprung, Sichbestimmen, Selbstbestimmen) sind nach Cramer ein gesetzlicher Zusammenhang. Aber wie kann dieser Zusammenhang zu einer posi­ tiven Bestimmung des Willens führen? Das Selbst ist in seiner Willkür noch frei, mit sich und anderen Selbsten nach Belieben umzugehen, ja es hat sogar die Möglichkeit, dieses Gesetz durch Gewalt an sich oder den anderen noch zu zerstören. In diesem Fall würde ein Moment des Gesetzes (nämlich die Willkür) den gesamten Zusammenhang zerstören. Aus diesem Grund hat ein Selbst nicht nur einzusehen, dass dieses Gesetz nicht nur Bedingung für seine Willkür ist, sondern dass diesem Gesetz auch noch die Willkür unterzuordnen ist.347 Dies folgt nach Cramer daraus, dass ein Lebewesen, das über den Modus der Selbstbestimmung verfügt, diesen auch ausüben soll. Da die Gesetz­ lichkeit des Selbst für alle Selbste gültig sein muss, kann ein konkretes Selbst nun erkennen, dass es die Repräsentation dieses Gesetzes ist, so dass es durch diese Gleichartigkeit mit anderen Selbsten einsehen kann, dass es seinen zunächst nur negativ bestimmten freien Willen durch das Gesetz, das es selbst ist, bestimmen soll. Das bedeutet: Durch die Einsicht, dass das Selbst nur durch das Gesetz ein Selbst sein kann und dies für alle anderen Selbste auch gilt, muss es seine ethische Maxime sein, sich so zu verhalten, dass auch die anderen Selbste ihr Selbst-Sein ausüben können, dass also der gesetzliche Zusammenhang des Selbst-seins zur Geltung kommen kann. Die moralische Gesetzgebung lautet demnach nach Cramer: »[D]as Selbst soll einem Selbst Selbstzweck sein.«348

346 347 348

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 80. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 81. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 81.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Da die Bindung an das moralische Gesetz ein freier Akt ist, kann man mit Cramer sagen, dass zwar durch diese Selbstbindung an das Gesetz die negative Freiheit positiv bestimmt wird, aber durch die Willkür diese freie Bindung erst ermöglicht wird.349 Durch diese Selbstbindung an das moralische Gesetz kann sich nur das jeweilige Selbst Moralität gebieten. Zwar kann ein Selbst ein anderes Selbst auffordern, seine Willkür so einzuschränken, dass diese nicht so gebraucht wird, dass willkürlich die Handlungsfreiheit anderer Frei­ heitswesen eingeschränkt wird. Da aber die Selbstbindung an das moralische Gesetz immer die Einsicht in das Sollen der Selbstbindung voraussetzt, kann diese Forderung im strengen Sinn nicht als mora­ lische Forderung verstanden werden, da diese immer nur von dem jeweiligen Selbst geleistet werden kann. Dadurch entsteht aber zwangsläufig das Problem, dass sich ein Selbst auf diese Einsicht und die damit verbundene Selbstbindung nicht verlassen kann. Aufgrund seines Eingebundenseins in den Kontext der Selbsterhaltung neigt ein Selbst auch dazu, sein Leben auf Kosten anderer zu gestalten bzw. zu erhalten.350 Die Bedürftigkeit, die aus diesem Eingebundensein erwächst, fördert also die Neigung eines Selbst, andere für die eigenen Zwecke zu missbrauchen.351 Da also davon ausgegangen werden muss, dass die Einsicht in die Selbstbindung an das moralische Gesetz nicht immer vollzogen wird, da es sich hier ja um eine freiheitliche und nicht festgelegte Handlung handelt, ist in einer Gemeinschaft von Freiheitswesen ein juristisches Gesetz zu fordern, dass den Handlungsrahmen festlegt. Ein solcher gesetzlicher Rahmen hat im Gegensatz zur Selbstanbin­ dung an das moralische Gesetz den Charakter des Äußerlichen, da hier primär nicht die inneren Einsichten oder die moralische Einstellung gefordert, sondern nur die Handlungen beurteilt werden.352 Durch die bisher entwickelte Struktur des Selbst ist es auch möglich, ein weiteres wesentliches Grundmerkmal von erlebenden Lebewesen zu begreifen: Nur diese sind im Gegensatz zu Dingen, die ausschließlich in einem raumzeitlichen Zusammenhang stehen, in der Lage, sich zu entwickeln. Ein erlebendes Lebewesen wird durch das Erlebte reicher, es bereichert mit den erlebten Inhalten seinen Ursprung. Dies gilt in einem besonderen Maße für geistige 349 350 351 352

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 82. Vgl. W. Cramer, »Das Ich und das Gute«, 39f. Vgl. W. Cramer, »Das Ich und das Gute«, 39. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 85.

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5.11 Die Sozialität des Geistes

Lebewesen: Als Selbste sind sie sich dieser Entwicklung bewusst und können als Denken ihr Gewesensein mit ihrem zukünftigen Sein verknüpfen. Dieser Entwicklungszusammenhang von denken­ den Lebewesen ist damit auch die Grundlage ihrer Geschichtlichkeit. Damit lassen sich mit Cramer die Bestimmungen des Geistes noch einmal prägnant zusammenfassen: »Ein Geist ist eine hochdifferenzierte einfache Zeitlichkeit. Die Momente dieser Differenzierung seien noch einmal durchlaufen. Ein Geist ist: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

Sichbestimmen, das bestimmt wird, Einheit von Sichbestimmen und Nicht-Sichbestimmen, deren Prinzip Sichbestimmen ist, Sichbestimmen als Zeugen mit Bezug auf sein Bestimmtwerden (Perzeption und Sinnesperzeption), Sichbestimmen-zu, Aktivität, Integration seines Gewesenseins, offene Integration, Entwicklung, das Moment ›Sichbestimmen‹, dem das Prinzip ›Sichbestimmen‹ geworden ist, das Begriff von sich hat, Denken, Selbstbestimmen, Erzeugen von Gedanken, Imagination, Selbstbestimmen als Prinzip der Freiheit, Selbstbestimmen-zu, Wille, Willkür, Freiheit des Willens, Selbstgesetzgebung, Moralität, einer äußeren Gesetzgebung unterworfen bzw. sich aus Recht­ lichkeit selbst unterwerfend.«353

5.11 Die Sozialität des Geistes Die vorangegangene Analyse von Subjektivität bezog sich primär auf die Grundstruktur der konkreten Subjektivität und stellte diese als ein in sich differenziertes Zeugen heraus, das zwar ein eigener Realitätsmodus ist, aber durch etwas, das nicht Subjektivitätsleistung sein kann (Organismus), bedingt sein muss. Somit entpuppte sich Subjektivität als bedingtes Sichbestimmen, das auf jeder Ebene der Subjektivität (Erleben, Denken) in sich die Differenz von seinem Prin­ 353

W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 86.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

zip- und Momentsein einschließt. Das Sichbestimmen ist als Prinzip bestimmt worden, weil es sein eigener Zusammenhang ist, und es ist zugleich auch Moment, dem ein anderes Moment entgegensteht. Dabei beherrscht das Prinzip-Sein das Moment-Sein des Sichbestim­ mens. Z. B. bedingt der Organismus noch das Erleben, aber diese Bedingtheit kann nur anhand des Erlebens selbst hergeleitet werden, das somit in seinem eigenen Modus nicht angetastet wird. Eben weil es im Erleben ein Moment gibt, das nicht durch das Prinzip des Erlebens als einfaches Zeugen erklärt werden kann, kann auf etwas geschlossen werden, das nicht Erleben ist. Konnte der Anschein entstehen, dass die gesellschaftliche Ein­ bettung des Subjekts und die daraus folgende Abhängigkeit bislang zu wenig in dem vorgetragenen Subjektivitätskonzept berücksichtigt worden ist, so soll hier kurz skizziert werden, dass gerade dieser Bezug von Prinzip des Selbstbestimmens und Momenten, die nicht Selbstbestimmen sind, nun eine differenzierte Sicht von Intersubjek­ tivität ermöglicht, in der auch der Abhängigkeit des Subjekts von anderen Subjekten ein angemessener Platz eingeräumt werden kann. Dabei geht es nicht um die biologischen Abhängigkeiten, sondern um solche Faktoren, die im Kontext des Selbstbestimmens das cha­ rakteristische Merkmal des Selbst betreffen. Hierbei erweist sich dann die binnendifferenzierte Struktur von Prinzip und Moment als Ermöglichungsgrund, sowohl der Eigenart und Eigendynamik der Subjektivität als auch der Einbettung des Subjekts in Gesellschaft und die sich daraus ergebenden bedingenden Faktoren prinzipiell Rechnung zu tragen. Das konkrete Subjekt ist immer schon in gesellschaftliche Struk­ turen eingebettet und wird in dieser Einbettung auch durch die Beziehung zu anderen Subjekten geprägt. Ausgangspunkt für ein theoretisches Konzept dieses Bestimmtwerdens des einzelnen Sub­ jekts kann aber nur die bereits erarbeitete Subjektstruktur sein, denn durch den Modus des Denkens ist das denkende Subjekt prinzipiell schon immer ein Selbstbestimmen. Das Bestimmtwerden und die daraus resultierende Fremdbestimmung des Subjekts kann also nur im Kontext des Prinzips »Selbstbestimmen« entwickelt werden.354 Zu diesem Zweck soll zunächst die Grundlage für das Konzept der Intersubjektivität am Beispiel der Kommunikation illustriert wer­ den, die sich innerhalb des Ansatzes von Cramer ergibt. Wie ist es 354

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 88 (Nachwort).

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5.11 Die Sozialität des Geistes

möglich, dass ein Subjekt A den Gedanken eines anderen Subjekts B erfassen kann? Da Denken ein In-sich-Sein ist, ist ein unmittelba­ res Erfassen des Gedanken natürlich nicht möglich. Das bedeutet, der Gedanke muss vermittelt werden, und diese Vermittlungsleis­ tung kann nur aufgrund der Einbettungsverhältnisse des Subjekts verstanden werden. Da Subjekte immer schon in sich differenzierte Einheiten sind, in denen Erleben in einem bedingten Zusammenhang mit dem Organismus steht, der wiederum in einen raumzeitlichen Zusammenhang mit Natur eingebettet ist, kann die Vermittlung des Gedankens nur in diesem Zusammenhang expliziert werden. Dabei kommt dem Organismus eine vermittelnde Rolle zu, weil er sowohl das Erleben bedingt als auch diejenige Instanz ist, durch die sich das Subjekt zu Handlungen in seiner Umwelt bestimmen kann. Indem das sprechende Subjekt B sich dazu bestimmt, Laute zu artikulieren, die schon auf ein Symbolsystem bezogen sein müssen, werden die Sinnesorgane des verstehenden Subjekts A durch die Laute affiziert, wodurch A Wahrnehmungen zeugt, die durch die Artikulation von B bedingt sind. Dabei zeugt A aber nicht nur Wahrnehmungen, sondern erzeugt – zumindest im Versuch, das Wahrgenommene zu verstehen – einen Gedanken, der in dieser Wahrnehmung repräsentiert sein könnte.355 Damit ist auch das Verständnis eines fremden Gedankens letzt­ lich ein Selbstbestimmen des verstehenden Subjekts, da die Wahrneh­ mungen der Laute mit Bezug auf ein Symbolsystem noch einmal mit eigenen Gedanken, also in einer Art des Selbstbestimmens, gedeutet werden müssen. Intersubjektivität ist also nur innerhalb des beschrie­ benen Einbettungsverhältnisses verstehbar.356 Somit ist das Konzept des Bestimmtwerdens des Subjekts durch seine gesellschaftlichen Bezüge etwas, das letztlich prinzipiell im Kontext des Modus des Selbstbestimmens verstanden werden muss. Denn alle Handlungen eines Selbst sind ja prinzipiell Formen der Selbstbestimmung, auch wenn der jeweilige Willensentschluss als Form des Selbstbestimmens durch ganz verschiedene Faktoren beeinflusst sein kann und darun­ ter natürlich auch Motive fallen, die von der Gesellschaft vorgege­ ben werden. Es war ja gerade ein Grundmerkmal des Selbstbestimmens, dass es sich seine Motive wenigstens prinzipiell bestimmen kann, also sich 355 356

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 89 (Nachwort). Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 152.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

zu Bewusstsein bringen kann, und somit noch die Möglichkeit besitzt, sich zu diesen zu verhalten. Ebenso kann ein Selbst, weil es Selbst­ bestimmen ist, sich auch kritisch gegenüber dem gesellschaftlichen Bestimmtwerden verhalten, indem es diesen Einfluss als solchen the­ matisiert und dadurch eine gewisse Distanz zu ihm herstellen kann. Diese prinzipielle Möglichkeit der kritischen Distanzierung muss aber von dem Selbst nicht genutzt werden. Es kann sich auch dazu bestimmen, sich seine Motive nicht bewusst zu machen und seine Beeinflussungen unkritisch zu übernehmen. Dann wäre dies noch eine Entscheidung des Selbst, sich als Selbstbestimmen von kontingenten faktischen Motiven und Einflüssen bestimmen zu lassen, die ursprünglich nicht seine eigenen bzw. die unkritisch von anderen übernommen worden sind.357 Dies kann sogar so weit gehen, dass durch diesen Entschluss die prinzipielle Fähigkeit des Selbstbestimmens nicht mehr in angemessener Weise genutzt wird, so dass eine Unfreiheit entsteht. Damit wird deutlich, dass der Vollzug des Selbstbestimmens jeweils unterschiedliche Grade besitzen kann. Dadurch, dass das jeweilige Selbst immer in die Gesellschaft eingebet­ tet ist und sich somit immer wieder Einflüssen ausgesetzt sieht, ist es somit auch aufgefordert, das in ihm angelegte Prinzip immer wieder in kritischer Prüfung gegen äußerliche Einflüsse zur Geltung zu bringen: »Es ist nur noch zu sagen, daß der Geist auch seine eigenen oder ursprünglich erarbeiteten Gedanken konserviert und daß eine defini­ tive Befreiung des Geistes nicht möglich ist. Die Freiheit des Geistes bleibt notwendig die Arbeit der Befreiung aus seiner Unfreiheit.«358

Damit müssen das »Bestimmtwerden« und das »Gebildetwerden« als Aneignung von gesellschaftlichen Vollzugsformen letztlich als eine Form des Selbstbestimmens aufgefasst werden, das prinzipiell in einem dialektischen Spannungsverhältnis zu den Momenten des Nicht-Selbstbestimmens steht. Denn das Selbstbestimmen kann sich, weil es Prinzip ist, ja auch dazu bestimmen, sich von Motiven bestimmen zu lassen, die ihm gegeben sind. Diese Möglichkeit der unkritischen Übernahme – oder zumindest Billigung – der gegebenen Motive bietet die Grundlage, ein Fremdbestimmtsein zu denken, das immer noch unter dem Prinzip des Selbstbestimmens steht. Da sich als Grundstruktur des Geistes das Selbstbestimmen herausgestellt hat, das als Prinzip noch seine ihm entgegengesetzten Momente 357 358

Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 90 (Nachwort). W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 91 (Nachwort).

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5.11 Die Sozialität des Geistes

bestimmt, ist dieses Konzept des Fremdbestimmtseins die Form, die der Struktur des Geistes angemessen ist. Dabei lässt sich dieses Spannungsverhältnis auf verschiedenen Stufen gliedern. Es entstehen so verschiedene Arten des Fremdbe­ stimmtseins, die alle in dem dialektischen Verhältnis zum Selbstbe­ stimmen stehen und von diesem als Prinzip beherrscht werden: 1.

2.

3.

359 360 361

Die fundamentalste Form der Fremdbestimmung liegt darin begründet, dass ein denkendes Lebewesen auch immer Sinnlich­ keit und Wahrnehmung ist und somit schon in diesen Formen des Erlebens durch etwas bestimmt wird, was nicht durch das Prinzip des Erlebens geleistet werden kann. Es hatte sich in der Analyse der Subjektivität herausgestellt, dass diese Instanz, die das Erleben bestimmt, der Organismus ist, der seinerseits wieder in Wechselwirkung mit der bloßen Natur steht.359 Das zweite Fremdbestimmen bezeichnet alle Formen, in denen ein Geist zunächst assoziativ oder intuitiv geprägt wird. Lernen und Konditionierung in der Entwicklung des Geistes gehören ebenso zu dieser Form der Fremdbestimmung. In ihr wird das Übernommene noch nicht als Fremdes bestimmt.360 Erst mit der Unterscheidung des Selbst von anderen Selbsten durch den Ich-Gedanken ist es möglich, das Fremde als Fremdes zu thematisieren, womit eine dritte Form des Fremdbestimmens gegeben ist: Nun kann das Selbst fremde Gedanken als solche verstehen. Dies besagt noch nicht, dass es sich auch kritisch zu diesen fremden Gedanken verhält, weshalb diese Form des Fremdbestimmens sich in zwei Unterarten differenziert: Das Selbst kann die fremden Gedanken als fremde Gedanken nach­ vollziehen und diese dann wieder unkritisch assimilieren oder zu ihnen kritisch Stellung beziehen. Beide Unterarten stehen aber unter dem Prinzip des Selbstbestimmens, wie oben schon ausgeführt worden ist, denn auch in der unkritischen Übernahme bestimmt sich das Selbst selbst dazu, die als fremd identifizierten Motive einfach zu übernehmen, obwohl es zumindest prinzipiell die Möglichkeit hätte, sich kritisch zu verhalten.361

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 153. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 154. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 154.

179 https://doi.org/10.5771/9783495999158 .

5. Cramers Theorie der Subjektivität

4.

Weil ein Selbst als Selbstbestimmen auch die Aufgabe hat, alle seine Formen des Selbstbestimmens wie Gedanken und Entscheidungen zu einem konsistenten Ganzen zu integrieren, muss es damit zugleich eine Sphäre von Fremdem bestimmen, die durch seinen Selbstentwurf definitiv zurückgewiesen wurde. Diese Abgrenzung ist die vierte Form des Fremdbestimmens, weil in ihr etwas als fremd zurückgewiesen wird.362 Da diese kritische Auseinandersetzung mit fremdem Gedanken­ gut ein Sollen ist, das von dem Selbst immer wieder einen Kraftaufwand verlangt, kann die Trägheit des Geistes auch dazu führen, dass nur noch das Geläufige unkritisch übernommen wird. Damit wäre diese Verfremdung des Geistes die fünfte Art der Fremdbestimmung, in der das Grundprinzip der Selbstbe­ stimmung selbstbestimmt suspendiert wird.363

5.

Alle diese Formen der Fremdbestimmung stehen in einem dialekti­ schen Spannungsverhältnis zum Selbstbestimmen, das als Prinzip dieses Verhältnis noch bestimmt. Nur wenn das Verhältnis in dieser Weise gedacht ist, ist es möglich, dass Eigenart und Eigendynamik der Subjektivität als auch der Einbettung des Subjekts in Gesellschaft und die sich daraus ergebenden bedingenden Faktoren sinnvoll vermittelt werden können.

5.12 Subjektivität und Transzendenz und die verschiedenen Arten des Transzendierens In den vorangegangenen Kapiteln sind die Grundbestimmungen von Cramers Subjektphilosophie entwickelt worden. Es wurde anhand des Ich-Gedankens gezeigt, dass Denken in verschiedener Hinsicht ein Transzendieren und damit ein »Wegdenken« von sich ist. Durch die Analyse des Denkens wurde schon deutlich, dass sich das Denken mindestens in zweifacher Weise transzendiert: zum einen, weil das Denken weiß, dass es Bestimmungen denkt, die nicht von seinem Belieben abhängen, es also Bestimmtheitsformen von Seiendem erfasst, die ihm vorgegeben sind, zum anderen, weil das Denken durch 362 363

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 156. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 156f.

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5.12 Subjektivität und Transzendenz

seine transzendentalen Leistungen weiß, dass es etwas gibt, das nicht Denken ist (z. B. Organismus, Natur, Welt).364 Die Unterscheidung dieser zwei Arten des Transzendierens ist für die Struktur der Subjektivität und ihre Einbettung in die Wirk­ lichkeit grundlegend. Die Arten, wie sich Subjektivität transzendiert, lassen sich aber noch weiter differenzieren. Diese Differenzierung ermöglicht es somit auch, das Verhältnis von Denken und Wirklich­ keit noch genauer zu bestimmen und somit auch die Möglichkeit einer Theorie des Absoluten besser auszuloten, die nach Cramer bei den Bedingungen der Bestimmtheitsform »Denken« anzusetzen hat. Denn, wie sich noch zeigen wird, kann eine Theorie der Subjektivität zwar die Eigenart des Denkens entwickeln; es bleibt aber die Frage nach den letzten Bedingungen dieser Bestimmtheitsform offen. Die Frage nach den letzten Bedingungen ist der Ausgangspunkt des Pro­ jekts der Letztbegründung, durch die die Einsichten und Prinzipien der Subjektphilosophie selbst noch begründet werden sollen.

5.12.1 Drei Formen der Transzendenz Da Transzendenz eine Relationsbestimmung ist, die als Resultat der Tranzendierungsleistungen der Subjektivität aufgefasst werden muss, also das Verhältnis von zwei inhaltlich bestimmten Bereichen oder Ebenen beschreibt, sind verschiedene Transzendenzarten möglich, je nachdem, welche konkreten Bereiche und Relationen betrachtet wer­ den. Innerhalb der Subjektphilosophie lassen sich nun die wichtigsten drei Formen der Transzendenz unterscheiden. 1.

364

Der erste Begriff von Transzendenz beschreibt ein Abhängig­ keitsverhältnis zweier Bereiche bzw. Phänomene. Wenn z. B. A ist, auch wenn B nicht ist, dann ist A B transzendent. A benötigt B nicht zu seiner Existenz. In diesem Sinne könnten A und B auch gegenseitig transzendent sein, wenn beide nicht ein konstitutives Moment des anderen darstellen. Oftmals geht diese Transzen­ denz aber mit einer Asymmetrie einher: A ist, wenn auch B nicht ist, aber B kann nicht ohne A sein. In diesem Fall ist B abhängig von A, während A unabhängig von B und damit diesem transzen­ dent ist. Dieses Verhältnis liegt in der Subjektphilosophie in der Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 63.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

Beziehung des erlebenden Lebewesens zur Welt vor: Die Welt als Vereinzelungsordnung ist eine Bedingung für die Monade, aber umgekehrt ist das Lebewesen nicht konstitutiv für die Welt. Somit ist die Welt dem Lebewesen transzendent.365 Der zweite Begriff der Transzendenz thematisiert ein Binnenver­ hältnis innerhalb des Lebewesens: Der Ursprung des Zeugens ist dem Gezeugten transzendent. Denn der Ursprung ist ein Ursprung des Zeugens, kann also nicht darüber bestimmen, ob er von dieser Bestimmtheitsform ist (er findet sich ja als solcher schon vor), aber er muss nicht die konkret gezeugten Inhalte zeugen, er könnte auch andere Inhalte (z. B. andere Gedanken) zeugen. Diese Form der Transzendenz ist schwächer als die erste Form, da es sich hier – wie gesagt – um ein Binnenverhältnis han­ delt.366 Der dritte Begriff von Transzendenz ist nach Cramer der wich­ tigste und grundlegendste, nämlich »die Bestimmtheit, von der ein Bestimmtes ist, ist dem Bestimmten transzendent.«367 Dies wird verständlich, wenn man sich das von Cramer entwickelte Grundverhältnis von Seiendem und Bestimmung vor Augen führt: In der Subjektphilosophie wurde an dem Ich-Gedanken gezeigt, dass der konkrete Denker anhand der Analyse des Gedanke-Seins sich als konkrete Individualisierung einer allge­ meinen Form (»Denken«) verstehen muss.368 Damit ist das denkende Subjekt das Paradigma von Seiendem überhaupt: Ein­ zelnes ist immer die konkrete Realisierung einer bestimmten Bestimmungsform. Dadurch ist die Bestimmung dem einzelnen Bestimmten transzendent, denn sie »erschöpft« sich nicht in einer gewissen Anzahl der Realisierungen und hat so eine ent­ sprechende Unabhängigkeit von den Einzelnen.369

2.

3.

5.12.2 Drei Formen des Transzendierens Diese drei Transzendenzbegriffe sind Cramer zufolge die drei Grund­ formen von Transzendenz im Kontext der Subjektphilosophie. Damit 365 366 367 368 369

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 132. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 132f. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 133. Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 117. Vgl. dazu z. B. W. Cramer, »Das Absolute«, 6f.

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5.12 Subjektivität und Transzendenz

ist aber noch nicht gesagt, wie subjekttheoretisch der Transzendenz­ bezug des erlebenden Lebewesens im Zusammenhang der Transzen­ denzformen gedacht werden muss. Gefragt ist also nach der Tran­ szendenzleistung der erlebenden Lebewesen. Da die Formen der Subjektivität Realitätsmodi sind, die einen eigenen Zusammenhang besitzen und – wie dargelegt – von der Qualität des In-sich-Seins sind, verbieten sich Konzepte, in denen das Transzendieren als Hin­ beziehen auf etwas gedacht wird, das dem jeweiligen Modus der Subjektivität transzendent ist. Da Erleben nichts erleben kann, was nicht schon im Modus des Erlebens ist, muss jedes Transzendieren an einem Moment innerhalb des Erlebens seinen Ausgang finden. So wurde auf das Moment des Nicht-Erlebens im Erleben geschlos­ sen, weil die Inhaltlichkeit des Erlebens selbst nicht mehr als ein Produkt des Erlebens gedacht werden konnte. Ebenso wurde es dem denkenden Subjekt im Gedankenexperiment des radikalen Zweifels gewiss, dass es ein konkretes Einzelnes ist, das von einer bestimmten Bestimmungsform ist, wobei diese das konkrete einzelne Subjekt transzendiert, weil es mehrere mögliche Vereinzelungen gibt bzw. geben kann. Demnach lassen sich Cramer zufolge drei wichtige Formen des Transzendierens unterscheiden: 1.

2.

370 371

Durch seine Struktur »Erleben – Nicht-Erleben (Organismus) – bloße Natur« und seine Einbettung in den Kontext der Selbst­ erhaltung ist das erlebende Lebewesen in sich schon eine diffe­ renzierte Einheit, durch die es sich in seinen Wahrnehmungen und seinem Tun transzendiert: Es transzendiert sich in seinen Wahrnehmungen, weil es »Gegenstände« wahrnimmt, die auch unabhängig von seiner Wahrnehmung existieren (was natürlich nicht heißt, dass die wahrgenommenen Inhalte als erlebte ohne die Wahrnehmung existieren). Damit ist es schon existentiell in einen Transzendierungszusammenhang eingebettet.370 Die zweite Form des Transzendierens ist Cramer zufolge die wichtigste. Sie ist letztlich bezogen auf die dritte Form der Transzendenz, denn in ihr bezieht sich ein denkendes Lebewesen auf die Bestimmung einer bestimmten Sache und transzendiert so zu deren Bestimmtheit. In diesem Transzendieren werden also Bestimmtheitsformen erfasst.371 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 134. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 134f.

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5. Cramers Theorie der Subjektivität

3.

Die dritte Form des Transzendierens vereint nun die beiden ersten Formen: In der Bestimmung von Einzelnem transzen­ diert sich Geist zu Seiendem. Üblicherweise geschieht das mit Bezug auf Wahrnehmung. In der Wahrnehmung bezieht sich das Lebewesen auf Gegenstände, die auch außerhalb seiner Wahrnehmung existieren. Insofern es ein denkendes Lebewesen ist, kann es durch das zweite Transzendieren die Bestimmungen der wahrgenommenen Gegenstände erfassen und transzendiert somit im denkenden Bestimmen des in der Wahrnehmung Gege­ benen zu Seiendem, soweit es sich um äußeres Erfahrungsbe­ wusstsein handelt.372

Der Ursprung des Zeugens bei einem denkenden Lebewesen muss also nach dem bisher Vorgetragenen fähig sein, sich in der angegebe­ nen Weise zu transzendieren. Cramer nennt einen Ursprung, der zu solchen Transzendierungsleistungen fähig ist, einen »transzendenta­ len Ursprung«:373 »Eine Monade, die Denken ist, heißt Geist. Denken ist das Signum des Geistes. Denken ist nach seiner entwickelten Bestimmung Trans­ zendieren zur Bestimmtheit, der Ursprung solchen Transzendierens ist transzendentaler Ursprung. So ist die Bestimmung des Geistes erreicht: der Geist ist transzendentaler Ursprung.«374

Aus dem Konzept des Geistes ergibt sich nun folgende Differenzie­ rung: Zwar ist das Denken frei, sich selbst Gedanken zu zeugen, deren konkrete Ausgestaltung ihm obliegt. Es zeugt damit »bestimmte Gedanken«. Es ist aber nur zu dieser Leistung fähig, weil es selbst von einer bestimmten Bestimmtheitsform ist, durch die es ihm qua zweitem Transzendieren möglich ist, von den bestimmten Dingen zu deren Bestimmtheit überzugehen. Es kann bestimmte Gedanken nur zeugen, weil es von einer bestimmten Bestimmtheitsform ist, die es befähigt, die Bestimmungen der bestimmten Dinge zu denken. Die Gedanken, die diese Bestimmungen erfassen, nennt Cramer »Bestimmtheitsgedanken«. Denken als Bestimmtheitsform zeichnet sich also dadurch aus, dass es frei ist zu bestimmen, was es denkt; aber es ist ein wesentliches Merkmal des Denkens, dass es nicht seinem Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 135. Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 9. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 137. 374 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 137.

372

373

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5.12 Subjektivität und Transzendenz

Belieben untersteht, dass es in Bestimmtheitsgedanken denkt, dass es also die Bestimmtheit von Bestimmtem denkt: »Bestimmtheitsgedanken sind gezeugt, bestimmte Gedanken sind gezeugt. Aber zum Zeugen von Bestimmtheitsgedanken ist der Geist bestimmt, und dieses sein Bestimmtsein ist nicht gezeugt.«375

Das Denken findet sich also notwendig als eine Bestimmtheitsform schon vor, und alle bestimmten Gedanken sind schon immer von ihrer Form her implizit bestimmt von Bestimmtheitsgedanken.376 Diese Unterscheidung lässt sich terminologisch an den Ausdrücken »Denken-in« und »Denken-von« illustrieren, denn jegliches Denken als Denken ist immer schon ein Denken in bestimmten Formen, also in Bestimmtheitsgedanken und kraft dessen ein Denken bestimm­ ter Gedanken: »Die genannte Differenz von Denken-von und Denken-in läßt sich leicht belegen. Das Denken geradehin denkt nicht Kategorien, sondern in Kategorien. Niemand denkt gemeinhin Urteile, sondern Sachen, aber wohl Sachen in Urteilen […] Die Differenz von Denken-in und Denken-von hat mannigfache Formen. Hier kommt es nur an auf die wichtigste aller dieser Formen und die schlechthin unentbehrli­ che dieser Formen, auf die Differenz von Bestimmtheitsgedanken oder Verstandeskategorien und bestimmten Gedanken bzw. bestimm­ tem Gedachten.«377

Das bedeutet, dass auch das alltägliche, nicht-philosophische Denken sich in einer gewisse Bestimmtheitsform des Denkens bewegt, die es aber als solche im alltäglichen Kontext gar nicht thematisiert und gar nicht thematisieren muss. Und gerade weil diese Bestimmtheiten schon immer das Phänomen des Denkens beherrschen, kann sich das philosophische Denken mit Hilfe der »philosophischen Deduktion« daran machen, diese implizit immer schon wirkenden Prinzipien zu explizieren.378 Diese Verfasstheit, dass das Denken schon eine Bestimmtheitsform ist, die von dem konkret Gedachten unabhängig ist, weil sie immer schon jedes Denken bedingt, ist somit auch der Grund der Transzendentalität des Ursprungs und wird später auch der Ausgangspunkt von Cramers Letztbegründungsversuch. 375 376 377 378

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 139. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 75f. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 140. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 60–64.

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6. Die Theorie des Absoluten

6.1 Propädeutische Überlegungen zu einer Theorie des Absoluten Bevor nun die Entwicklung des Cramerschen Denkens hinsichtlich seiner Theorie des Absoluten, die verschiedenen Ansätze zur Begrün­ dung und die konkreten Entwürfe der strukturellen Entfaltung des Absoluten vorgestellt und diskutiert werden, seien hier zunächst einige grundsätzliche Überlegungen Cramers zu einem allgemeinen Rahmen für eine Theorie des Absoluten angeführt, in dem grundle­ gende Konzepte geklärt werden, die auch für das Verständnis von Cramers späteren Entwürfen hilfreich sind.379 Es ist eine wesentliche Aufgabe aller Theorien des Absoluten, dessen Verhältnis zum Kontingenten oder Endlichen zu klären. Da dieses Verhältnis in verschiedenen Ansätzen im Detail sehr unter­ schiedlich ausgestaltet wird, gilt es in einem ersten Schritt Minimalbe­ dingungen des Absolutseins des Absoluten zu eruieren, durch die ein Rahmen geschaffen wird, in dem sinnvoll über das Absolute reflektiert werden kann. Für diese Klärung ist zunächst von der grundlegenden Bestimmung des Absoluten auszugehen, die eine Art des Abgelöst­ seins bezeichnet. Wenn das Absolute A von einem B ablösbar ist, dann besagt das, dass B nicht für A konstitutiv ist, was man beispielsweise daran erkennen kann, dass A noch ist, auch wenn B nicht mehr ist.380 Für dieses Verhältnis verwendet Cramer den Begriff des »außer«: Ist B nicht konstitutiv für A, dann ist A außer B. Alternativ kann auch gesagt werden, dass A in diesem Fall dann B transzendent ist.381 Ist A zugleich die Bedingung von B, dann gilt zudem: A ist B immanent

Vgl. für die nachfolgenden Ausführungen den Handbuchartikel »Das Absolute« von Cramer, in dem er versucht hat, einige Grundeinsichten seiner Theorie des Absoluten kompakt darzustellen. 380 Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 1. 381 Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 8.

379

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6. Die Theorie des Absoluten

oder auch: A ist in B.382 Das bedeutet, dass »A ist außer B« bzw. »A ist B transzendent« nicht kontradiktorisch zu »A ist B immanent« ist. Dies gilt nämlich dann, wenn B nicht für A konstitutiv ist, aber A die Bedingung von B darstellt. Beispielsweise ist die Welt nicht vom Menschen abhängig, sie existiert, auch wenn es den Menschen nicht gibt, allerdings ist die Welt konstitutive Bedingung für den Menschen. Insofern ist die Welt außer dem Menschen und dem Menschen immanent. Es sei darauf hingewiesen, dass sowohl der Begriff »außer« als auch der Begriff »in« bzw. »immanent« bei Cramer Termini technici sind und von ihm ausschließlich in diesem Sinne verwendet werden. Mit dem Begriff »außer« wird somit ausschließlich ein Konstitutions­ verhältnis, mit dem Begriff des »in« bzw. des »immanent« wird ein Bedingungsverhältnis bezeichnet, während andere, mehr assoziative Bedeutungen (z. B. räumliche) in diesem Kontext fernzuhalten sind. Weil der Begriff des Außer-Seins gerade für die Theorie des Absoluten eine wichtige Rolle spielt, seien hier noch einige Erläuterungen ange­ führt. Kann es unter kontingenten Dingen auch ein wechselseitiges Verhältnis des Außer geben, wenn z. B. zwei Dinge nicht für ihre Existenz wechselseitig konstitutiv sind, also A außer B und B außer A ist (z. B. dann, wenn ein Ding A auch ohne Ding B und umgekehrt existieren könnte), so muss im Falle des Absoluten das Verhältnis einseitig gerichtet sein: Das Absolute kann nur dasjenige genannt werden, zu dem es nichts gibt, was außer dem Absoluten ist, das heißt, dass es nichts als das Absolute gibt, das für es konstitutiv wäre. Wäre z. B. das Absolute durch etwas begründet, das nicht es selbst ist, dann wäre dieses gemeinte Absolute nicht mehr das Abso­ lute. Somit ist das Verhältnis des Abgelöstseins im konstitutionstheo­ retischen Sinne asymmetrisch: Das Absolute A kann von einem B abgelöst werden (d.h. B ist nicht konstitutiv für A), umgekehrt gilt aber, dass B nicht von A abgelöst werden kann, weil dann B ebenfalls außer A wäre und damit ein zweites Absolutes darstellen würde. Eine solche Konstellation ist aber deshalb mit dem Konzept des Absoluten inkompatibel, weil für A und B zumindest theoretisch zwei Verhältnisbestimmungen denkbar sind, von denen eine wieder auf ein Konzept des Absoluten führt und das andere logisch nicht möglich ist: 1.

382

Stehen A und B in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis zueinander, sind weder A noch B absolut, sondern die beide in ein Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 8f.

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6.1 Propädeutische Überlegungen zu einer Theorie des Absoluten

2.

Verhältnis setzende Ordnung, die nun dasjenige ist, das sowohl für A als auch für B und ihr Verhältnis zueinander konstitutiv ist. Man hätte fälschlicherweise A und B für das Absolute gehalten und nicht gemerkt, dass es eine Instanz gibt, die beide noch umfasst, so dass das Konzept des Absoluten nur um eine Stufe nach hinten verschoben worden wäre. Als Alternative käme nur die Annahme in Betracht, dass A und B in keinem Verhältnis zueinander ständen. Es wird sich noch im Verlaufe der Darstellung der späten Überlegungen Cramers zur »absoluten Reflexion« ausführlich zeigen, dass eine solche hypothetische Verhältnislosigkeit nicht konsistent ist.383

Damit ist eine wesentliche Bedingung für ein Konzept des Absolu­ ten benannt: »Nur unter einer Bedingung ist das Wort ›das Absolute‹ nicht von vornherein der Unsinn: es muß verlangt werden, daß außer A nichts ist. Ist mit Beziehung auf A ein Außer-ihm nicht möglich, dann und nur dann soll A das Absolute genannt werden.«384

Um schon hier eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, muss darauf hingewiesen werden, dass – wie oben bereits ausgeführt wurde – mit der Relation des Außer-Seins ein Konstitutionsverhältnis zum Ausdruck gebracht werden soll. Somit ist mit der oben genannten Bedingung für ein Konzept des Absoluten nicht gemeint, dass nicht etwas von dem Absoluten Verschiedenes existiert oder existieren könnte. Es ist damit nur gesagt, dass aus logischen Gründen das vom Absoluten Verschiedene nicht konstitutiv für das Absolute sein kann. Daraus folgt, dass das von dem Absoluten Verschiedene nur das Endliche sein kann. Das Endliche wird von Cramer wie folgt definiert: »Endliches wird solches genannt, welches in sich das unsetzbare Moment des Seins hat und dessen Nichtsein möglich ist.«385

Das Endliche zeichnet sich also dadurch aus, dass es kontingent ist, weil sein Nicht-mehr-Sein oder sein Noch-nicht-Sein möglich ist, und dass ihm – dem negativen Seinsbegriff Cramers gemäß – das Moment des Seins unabhängig davon zukommt, ob es gedacht ist oder nicht. Denken kann zwar Bestimmungen denken, die dem 383 384 385

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 203–206. W. Cramer, »Das Absolute«, 1. W. Cramer, »Das Absolute«, 2.

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6. Die Theorie des Absoluten

Seienden oder auch seinen Bedingungen zukommen, aber das Denken kann dadurch nicht bewirken, dass das so Gedachte auch existiert. Dasjenige, was dieses Moment des Seins in sich hat, hat dieses auch, gleichgültig ob es gedacht ist oder nicht.386 Dabei ist in allem, was das Moment des Seins in sich hat, sei es das Endliche oder das Absolute, das Sein immer nur ein Moment, das als Gegenmoment auch seine Bestimmtheit erfordert. Damit lässt sich das Moment des Seins nega­ tiv zum Moment der Bestimmung definieren: Wenn alles Wirkliche bestimmt ist, so geht dieses aber nicht in Bestimmungen auf, sondern erfordert auch etwas, das von Bestimmung ist. Das Moment des Seins ist also das zur Bestimmung erforderliche Gegenmoment, das eben nicht durch Bestimmung erzeugt oder gesetzt werden kann. Somit ist alles Wirkliche weder im Moment des Seins (das Moment, das von Bestimmung ist) noch im Moment der Bestimmung auflösbar, sondern präsentiert sich als eine Einheit von Bestimmung und Sein.387 Das Endliche zeichnet sich im Gegensatz zum Absoluten dadurch aus, dass die Verbindung von Bestimmung und demjenigen, das von Bestimmung ist, nicht notwendig ist, dass sowohl sein Moment des Seins als auch seine Bestimmung nicht sein könnte.388 Nach den bisherigen Überlegungen gilt dann für die Definition des Absoluten: »Das Absolute ist das, welches das unsetzbare Moment des Seins in sich hat und zu welchem etwas, das außer ihm ist, nicht sein kann.«389

Das bisher Gesagte bewegte sich im Bereich des Definitorischen und machte die logischen Implikationen der dabei verwendeten Begriffs­ inhalte klar. Es ist somit als eine Art Propädeutik anzusehen, die in den späteren Überlegungen zum Absoluten eine wichtige Rolle spielen. Über mögliche Begründungsstrategien und Reflexionen über die innere Struktur des Absoluten ist damit natürlich noch nichts gesagt. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellt Cramers Kritik der traditionellen Gottesbeweise dar, durch die sich zugleich ein Rahmen für die philosophische Rede des Absoluten abzeichnet.

Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 2f. Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 6f. 388 Diese Einsichten spielen in Cramers Theorie des Absoluten eine große Rolle und werden deswegen im Laufe der Darstellung ausführlicher zu behandeln sein. 389 W. Cramer, »Das Absolute«, 9. 386

387

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise Die Kritik Cramers an den traditionellen Gottesbeweisen ist in zweifacher Weise für eine philosophische Beschäftigung mit dem Absoluten interessant: 1.

2.

Seine Kritik stellt – ganz im Sinne Kants – die argumentativen Schwachpunkte der traditionellen Gottesbeweise heraus. Cramer belässt es aber nicht bei dieser kritischen Analyse, sondern versucht – über Kant hinausgehend –, durch Modifikationen ihre Beweiskraft zu restituieren bzw. zu stärken. Damit stellen die modifizierten Gottesbeweise, jenseits von Cramers eigenen Begründungsstrategien für das Absolute, jeweils zusätzliche Argumente für die Existenz des Absoluten dar. Aus der strukturellen Kritik an den traditionellen Gottesbewei­ sen erwachsen aber auch zugleich Minimalbedingungen für eine konstruktive Theorie des Absoluten, die eingeholt werden müs­ sen, will diese den klassischen Einwänden gegen die klassischen Gottesbeweise entgehen.

Aus diesem Grund werden im Folgenden Cramers Kritik und seine Modifikationen des kosmologischen und ontologischen Gottesbewei­ ses dargestellt und diskutiert.

6.2.1 Der kosmologische Gottesbeweis Cramers Untersuchung des kosmologischen Gottesbeweises beinhal­ tet eine Erläuterung der verwendeten Konzepte und Voraussetzungen, eine Kritik an der Kantischen Kritik am kosmologischen Beweis sowie die Benennung derjenigen strukturellen Schwächen, die dem Beweis trotz vorgenommener Modifikationen wesentlich bleiben. Für die Darstellung dieses Zusammenhangs scheint es zweck­ mäßig, zunächst die grundlegenden Konzepte dieses Beweistyps zu untersuchen. Das Spezifikum des kosmologischen Gottesbeweises als Beweistyp besteht darin, dass aus einer Analyse des endlichen Seins auf das unbedingte Dasein als seine Ursache geschlossen wird. Der Beweis zielt also auf ein Dasein ab, das keine Ursache hat und für

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6. Die Theorie des Absoluten

das es nicht möglich ist, nicht zu existieren.390 In diesem Argumenta­ tionstypus werden zwei Prämissen verwendet: 1. Der kosmologische Gottesbeweis setzt eine kontradiktorische Konjunktion voraus, nach der alles, was existiert, entweder bedingtes oder unbedingtes Sein ist. 2. Der Beweis setzt aufgrund seines Ansatzes voraus, dass etwas Bedingtes existiert.391 Das unbedingte Dasein wird als das notwendige Dasein aufge­ fasst, das zugleich der Grund des bedingten Daseins sein soll.392 Dabei lässt sich das unbedingte Dasein in zweifacher Weise konzipieren: Zum einen kann die Auffassung, dass das unbedingte Dasein auch Grund für alles Endliche sei, auch dazu führen, dass diese Begrün­ dungsstruktur auf alles Dasein ausgeweitet wird, so dass das unbe­ dingte Dasein als »esse a se« auch als Grund seiner selbst aufgefasst wird. Zum anderen kann das unbedingte Dasein auch als grundloser Grund konzipiert werden, der zwar Grund des endlichen Daseins ist, selbst aber keinen Grund mehr braucht. Natürlich bedarf der Vorzug einer der beiden Konzeptionen einer ausführlichen Begründung. Im vorliegenden Kontext des kosmologischen Gottesbeweises geht es nach Cramer zunächst darum, den Gedankengang des Beweises zu stärken. Dies geschieht dadurch, dass aufgezeigt werden soll, dass ein Teil seiner Prämissen nicht nur willkürlich gesetzt ist, sondern sich apagogisch begründen lässt und ein anderer Teil für den Argumenta­ tionsgang sogar überflüssig ist. Wie sich später noch ausführlicher zeigen wird, ist das unbe­ dingte Dasein als grundloser Grund zu konzipieren, womit die Schwierigkeiten vermieden werden, die mit der Bestimmung des unbedingten Daseins als »esse a se« einhergehen. Die damit bezeich­ nete Aseität des unbedingten Daseins bereitet nämlich in zweifacher Weise konzeptionelle Schwierigkeiten:393 1.

390 391 392 393

Wird das unbedingte Dasein als Grund seiner selbst gedacht, dann kehrt der infinite Regress, der im kosmologischen Gottes­ beweis in der Reihe der endlichen Ursachen vermieden werden sollte, in der Konzeption des »esse a se« als selbstgründender Grund wieder zurück: Wenn das »esse a se« als Grund seiner selbst sich selbst gründet, dann ist der Grund wiederum etwas, Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 14. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 184. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 17. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 20f.

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

2.

das gegründet worden ist, und dieses Gegründete ist wiederum von dem Grund gegründet, der dann selbst wieder gegründet ist usw. Somit zerstört sich dieses Selbstverhältnis in der unendli­ chen Iteration.394 Eine andere Möglichkeit das »esse a se« zu konzipieren bestünde darin, seine Aseität in einem spinozistischen Sinn als causa sui aufzufassen: »Unter der Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.«395 Aber auch diese Konzeption ist fragwürdig, weil die behauptete notwendige Verbindung von Wesen und Existenz nicht einsichtig gemacht werden kann und es somit nicht klar ist, ob einem solchen Begriff überhaupt ein Gegenstand korrespondiert.396

Eine Letztbegründung, wie sie im kosmologischen Beweis angestrebt wird und die das unbedingte Dasein als »esse a se« konzipiert, sieht sich also mit den oben angeführten Problemen konfrontiert. Beide Probleme in der Konzeption des »esse a se« legen es nahe, das unbedingte Dasein nicht durch seine Aseität im oben angeführten Sinn zu definieren. Stattdessen führen die Überlegungen zu folgender Modifikation der ersten Prämisse des kosmologischen Gottesbewei­ ses, die hinsichtlich der Begründungsstruktur des Absoluten das Konzept der Selbstbegründung außen vor lässt und so die Prämisse des kosmologischen Beweises weniger voraussetzungsreich macht: »Was immer existiert, hat einen Grund seiner Existenz oder es hat keinen Grund seiner Existenz, ist grundlos. Kürzer gesagt: Jegliches Dasein ist entweder bedingtes Dasein oder unbedingtes Dasein.«397

Diese Prämisse ist eine kontradiktorische Disjunktion und daher vollständig. In ihr wird weder behauptet, dass es das unbedingte Dasein gibt, noch, dass alles Dasein bedingt ist.398 Für die Schlüssigkeit des Beweises sind noch zwei Dinge zu klä­ ren: 1. Da der kosmologische Beweis seinen Ausgang vom bedingten Dasein nimmt, um auf ein unbedingtes Dasein zu schließen, das als unbedingter Grund für jenes aufgefasst wird, muss noch ausge­ 394 395 396 397 398

Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 23ff. Spinoza, Ethik, Def. 1. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 20f. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 21. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 21.

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6. Die Theorie des Absoluten

schlossen werden, dass es absolut zufälliges Dasein gibt, also solches, das kontingent ist und absolut keinen Grund hat, da es in diesem Fall keine Notwendigkeit gäbe, auf das Unbedingte zu schließen. 2. Darüber hinaus ist zu klären, ob die Identifizierung des unbedingten Daseins mit dem notwendigen Dasein, die der kosmologische Beweis vornimmt, legitim ist. Bezüglich des Ausschlusses der Möglichkeit, dass kontingentes Dasein absolut zufällig ist, muss aufgewiesen werden, dass das kon­ tingente Dasein wesentlich bedingt und auf einen Grund verwiesen ist. Ein solches Vorgehen ist apagogischer Natur: Es soll also aus der Negation der Behauptung, dass alles kontingent Seiende einen Grund haben muss, ein Widerspruch abgeleitet werden. Deshalb ist zunächst hypothetisch ein absolut zufälliges kontingentes Dasein anzuneh­ men. Seine Kontingenz bedeutet, dass es zu einer bestimmten Zeit und in der Zeit existiert und zu einer anderen Zeit nicht mehr ist. Gibt es keine Ursache, die sein Dasein verursacht hat, hieße das, dass es grundlos ins Dasein tritt und ebenso grundlos aufhört zu existieren. Diese Grundlosigkeit bedeutet, dass es nicht aus etwas geworden sein kann, was vor ihm existierte. Dasjenige, das vor ihm existiert hat, ist für es absolut äußerlich, es kann in keiner Beziehung zu anderem zeitlichem Dasein stehen. Insofern es dem zeitlichen Zusammenhang ganz entzogen ist, kann es aber auch nicht geworden sein. Denn Werden setzt eine gewisse Dauer voraus, da nichts in einem ausdeh­ nungslosen Punkt existieren kann und sein Kontingentsein als etwas, das angefangen hat und aufhören wird zu existieren, eine gewisse Dauer voraussetzt. Aber gerade seine Bestimmung als kontingentes Dasein beinhaltet eine Begrenzung seiner Existenz durch etwas außer ihm, was aber nach der Definition ausgeschlossen sein soll. Alle möglichen Begrenzungen könnten keinen wesentlichen Bezug haben, wären also nur äußerlich an es herangetragen und könnten somit nichts zu seiner Begrenzung beitragen.399 Daher lässt sich apagogisch schlussfolgern, dass kontingentes Dasein nicht absolut zufällig, also gänzlich ohne jeglichen Grund sein kann.400 Soll es in irgendeinem zeitlichen Zusammenhang mit anderem stehen, bedarf es neben dem Bezug zu anderem kontingentem Dasein darüber hinaus noch mindestens einer übergeordneten Zeitordnung, die zumindest den

399 400

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 43. Vgl. auch W. Cramer, »Kausalität und Freiheit«, 15f.

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

Rahmen für mögliche Gründe seiner Begrenzung darstellen muss. Somit ist kontingentes Dasein bedingtes Dasein. Nach Cramer ist auch die im kosmologischen Beweis vorgenom­ mene Identifizierung von unbedingtem und notwendigem Dasein legitim.401 Zum Nachweis dieser Identifizierung lässt sich das unbe­ dingte Dasein hinsichtlich der Frage, ob es notwendig oder nicht notwendig ist, vor eine weitere kontradiktorische Disjunktion brin­ gen: Jegliches Dasein existiert entweder notwendig oder es existiert nicht notwendig. Da das nicht notwendige Dasein eben dasjenige Dasein ist, das auch nicht sein kann, ist es als das kontingente Dasein zu qualifizieren. Wie oben dargelegt worden ist, ist ein absolut zufälliges kontingentes Dasein nicht möglich, es ist notwendig auf einen Grund verwiesen. Da das unbedingte Dasein weder auf einen Grund noch auf eine andere Bedingung, die sein Dasein beschränken könnte, angewiesen ist und deshalb auch sein Sein nicht mehr von etwas anderem abhängen kann, ist es somit auch das notwendige Dasein.402 Mit den bisher vorgebrachten Klärungen lässt sich nun nach Cramer der kosmologische Beweis in eine schlüssige Form bringen: Kontingentes Dasein hat – wie die Überlegungen zum absolut zufälli­ gen Dasein gezeigt haben – notwendig Bedingungen, ist also wesent­ lich bedingtes Dasein. Dabei ist es zunächst gleichgültig, ob diese Bedingungen selbst kontingentes Dasein sind, das seinerseits wieder bedingt ist. Auch spielt es für die Argumentation keine Rolle, ob ein bestimmtes bedingtes Dasein unendlich viele bedingte Daseiende zu seiner Bedingung hat oder ob es ein erstes Glied in dieser Reihe gibt. Was für eine schlüssige Reformulierung des kosmologischen Beweises notwendig ist, ist die Thematisierung der qualitativen Verfasstheit der Reihe der kontingenten Seienden. Nur eine solche Perspektive, in der nach Cramer die Betrachtungsweise des Beweises »umgekehrt« wird, bietet die Grundlage dafür, dass vom bedingten auf das unbedingte Sein geschlossen werden kann. Denn nur die Qua­ lität des Kontingenten, nicht seine Quantität (samt der mit ihr ver­ bundenen Problematik, einer möglichen Steigerung ins Unendliche) verweist auf einen Ordnungszusammenhang, in dem ein unbedingtes Moment erforderlich ist. Damit ist aber eine extensionale Betrachtung der Reihe des Kontingenten, die meist in der heutigen Diskussion 401 402

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 47f. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 48.

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6. Die Theorie des Absoluten

des kosmologischen Beweises zugrunde gelegt wird und durch die lediglich der quantitative Überstieg der Anzahl der kontingent Sei­ enden problematisiert wird, als für das Beweisziel unzureichend aufzugeben. Erst in einer qualitativen Thematisierung der Totalität der Bedingungen des Kontingenten wird deutlich, dass zu dieser auch ein unbedingtes Moment gehört. Die Totalität ist also nicht einfach die Summe der kontingent Sei­ enden, insofern sie als Bedingungen auftreten, denn damit wäre von vornherein die Betrachtung auf die Extension der kontingenten Dinge beschränkt, wodurch deren inhaltliche Verfasstheit nicht thematisiert würde. Ist der Blickwinkel von vornherein nur auf die Anzahl der kontingenten Seienden und das Problem, diese rein extensional ins Unendlich zu steigern, beschränkt, führt nach Cramer kein schlüssiger Weg zum unbedingten Sein. Die schon vorausgesetzte Beschränkung der Totalität auf die Quantität der kontingenten Seienden verwehrt diese Möglichkeit schon aus methodischen Gründen. Cramer zufolge muss die Totalität qualitativ in den Blick genommen werden. Zu diesem Zweck ist die Qualität dieser Totalität apagogisch zu sichern. Totalität kann in diesem Kontext nicht auf bestimmte quantitative Untermengen beschränkt werden, sie muss so gedacht werden, dass sie alle möglichen Bedingungen umfasst, denn anderenfalls wäre sie nicht die letzte Totalität, also diejenige, die tatsächlich alles umfasst. Eine rein extensional verstandene Totalität würde also von vornherein nur die Elemente thematisieren, die sich innerhalb der Reihe der kontingenten Seienden befinden, während eine umfassend verstan­ dene Totalität zunächst formal alle Bedingungen erfasst. Es muss nun mit einer weiteren Argumentation gezeigt werden, dass in einer solchen Totalität auch ein unbedingtes Moment enthalten sein muss. Ausgangspunkt für dieses Argument ist die formale Bestimmung dieser Totalität: 1.

403

Für eine so gefasste Totalität gilt, dass sie als letzte Totalität der Bedingungen keine Bedingung außer ihr haben kann, da sie sonst nicht die umfassendste Totalität wäre: »Die Totalität der Bedingungen kann somit nicht mehr bedingt sein.«403 Gleich­ gültig, wie viele bedingte Elemente die Totalität enthält: Als umfassende Totalität der Bedingungen muss sie auch ein unbe­ dingtes Moment in sich haben. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 21.

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

2.

Wenn aber die Totalität so konzipiert wird, dass sie eine bloße Reihung bedingter, also verursachter Seiender ist, also jedes Glied in ihr als verursachtes Dasein aufgefasst wird, dann kann es keine Totalität der Bedingungen geben, weil es gerade das Merkmal der Totalität war, selbst nicht bedingt zu sein.404

Zusammen mit dem Aufweis, dass es kein absolut zufälliges Dasein geben kann, dass es also kein kontingentes Sein geben kann, dessen Entstehung und dessen Vergehen absolut unbedingt ist, kann man nun auf ein unbedingtes Moment schließen, das weder als einzelnes Glied noch als Summe der Reihe der kontingenten Seienden existiert, denn eine so verstandene Totalität als Summe der bedingten Bedin­ gungen wäre selbst noch bedingt und damit eben nicht die Totalität. Dieser Ausschluss lässt sich apagogisch begründen: 1.

2.

Dieses unbedingte Moment lässt sich nicht als Glied der Reihe der kontingent Seienden auffassen, weil durch den Ausschluss des absolut zufälligen kontingenten Daseins gezeigt werden konnte, dass kontingentes Dasein immer bedingt ist. Als Teil dieser Reihe könnte das unbedingte Moment also gerade nicht ein kontingent Seiendes sein, weil es dann wieder bedingt wäre. Auch die Möglichkeit, dass das unbedingte Moment einfach durch die Summe der kontingenten Bedingungen konstituiert wäre, lässt sich ausschließen, denn auch die eine unendliche Anzahl von bedingten Ursachen ergibt nicht die Qualität der Unbedingtheit, ähnlich wie sich ausdehnungslose Punkte nicht zu einer ausgedehnten Struktur summieren können.

Das bedeutet: Da es außer der so verstandenen Totalität der Bedin­ gungen keine Bedingungen geben kann, muss das unbedingte Moment als Grund der bedingten Gründe selbst zu dieser Totalität gehören und kann nur als grundloser Grund konzipiert werden, weil es anderenfalls keine Totalität gäbe, die selbst keinen Grund mehr hat.405 Gibt es eine Totalität von Bedingungen, kann also vom bedingten Dasein auf unbedingtes Dasein apagogisch geschlossen werden. Wenn die Totalität nicht mehr bedingt und somit notwendig

404 405

Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 15. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 22.

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6. Die Theorie des Absoluten

ist, dann kann sie das nur durch etwas sein, was die prinzipielle Verfasstheit ihrer kontingenten Glieder als bedingte transzendiert.406 Ist damit zunächst nur gezeigt, dass das unbedingte Moment in der Totalität enthalten sein muss, so ist damit allerdings noch nicht klar, wie dieses Moment in der Totalität enthalten sein kann. Bisher kann nur ausgeschlossen werden, dass es selbst bedingt ist. Es stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von bedingtem und unbedingtem Dasein genauer zu denken ist.407 Für diese Klärung und zur Stärkung der Beweiskraft ist nun dieses Bedingungsverhältnis weiter zu klären. Nach Cramer liegt die eigentliche Beweiskraft des kosmologischen Beweises gerade nicht in der Analyse der Reihe der bedingten Ursachen, deren möglicher Fortführung ins Unendliche und des dann daran anschließenden Übergangs zum unbedingten Dasein, sondern in der Analyse der ontologischen Verfasstheit und der Bestimmung des Kontingentseins eines beliebigen kontingenten Daseins.408 Nach Cramer lässt sich sogar sagen, dass die ursprüngliche Form des Beweises nicht zu halten ist. Nur in der Analyse des Kontingentseins und nicht erst in der Weiterbestimmung zu der im Beweis vorausgesetzten unendlichen Reihung des kontingenten Daseins wird deutlich, dass dieses einen Grund haben muss. Denn es konnte gezeigt werden, dass es das absolut zufällige kontingente Dasein nicht geben kann, dass also jedes kontingente Dasein bedingt ist und einen Grund haben muss. Das Prinzip des Grundes, dass jegliches, das ist, einen Grund haben muss, bezieht sich also schon auf den grundlosen Grund, denn jeder kontin­ gente Grund – sofern er einzelnes Bestimmtes und somit die Synthese von Unbestimmtem und Bestimmung ist – bezieht sich seinerseits schon auf den grundlosen Grund als Grund der Bestimmungen.409 Verschiebt man den argumentativen Fokus des kosmologischen Beweises in diesem Sinn, dann kann man von einer Umkehrung der Blickrichtung des kosmologischen Beweises sprechen: Anstatt die Reihe der Gründe zu thematisieren, rückt nun das Prinzip dieser Reihe in den Fokus. Das unbedingte Dasein als der grundlose Grund aller Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 184. Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 12. 408 Hierin hat man eine Parallele zu Kants Argumentation in der Transzendentalen Dialektik zu sehen, insofern das Absolute eben nicht einfach ein besonderes Glied in der Kette der bedingten Ursachen sein darf. 409 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 53. 406

407

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

Bestimmtheiten entpuppt sich als die implizite Bedingung jeglichen kontingenten Daseienden.410 Es wird sich später noch zeigen, dass sich durch den Gedanken­ gang in dieser Form zwar apagogisch auf ein unbedingtes Dasein schließen lässt, dass aber wesentliche Elemente, die im Konzept dieses unbedingten Daseins intendiert sind, wie beispielsweise das Verhält­ nis von diesem zur Zeit oder seine Charakterisierung als grundloser Grund des kontingenten Daseins, aufgrund seiner Struktur begrifflich nicht mehr eingeholt werden können. Vor der Behandlung dieser strukturellen Schwächen des Beweises, ist aber noch Cramers Kri­ tik an zentralen Konzepten Kants, nämlich »Dasein«, »Zeit« und »Kausalität«, vorzutragen, die ihrerseits nach Cramer die Basis der Kantischen Gottesbeweiskritik darstellen. Dies sei deswegen der Fall, weil diese Konzepte im kosmologischen Beweis in der ontologischen Analyse des Kontingenten eine tragende Rolle spielen und diese dann im Kantischen Ansatz einbüßen, weil sie dort nicht mehr als ontologische Größen, sondern als Produkt subjektiver Konstitutions­ leistungen der Erkenntnis umgedeutet werden. Diese Umdeutung und die damit verbundene strikte Deontologisierung entpuppen sich aber bei genauerer Analyse als problematisch.411

6.2.1.1 Cramers Kant-Kritik im Kontext der Gottesbeweise 6.2.1.1.1 Kants Begriff des Daseins Meinte Dasein in der vorkantischen Philosophie und damit auch im kosmologischen Beweis etwas vom Bewusstsein unabhängig Exis­ 410 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 53. Vgl. dazu auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 287. 411 Cramers Versuch der Widerlegung der Gottesbeweiskritik Kants wurde von Josef Schmucker kritisch diskutiert. Schmucker bemängelt in seinem Beitrag die summarische Darstellung der Kantischen Philosophie in Cramers »Gottesbeweise und ihre Kritik«, die vor allem den Übergang und die Kontinuität von Kants vorkritischen Schriften hin zu seinem System der Transzendentalphilosophie nicht ausreichend würdige. Dabei ist aber zu bedenken, dass es Cramer in erster Linie nicht um eine detaillierte philosophiehistorische Studie ging, sondern um die Diskussion der Grundkonzepte Kants hinsichtlich seiner Gottesbeweiskritik. Auf die systematische Argumentation Cramers geht Schmucker aber inhaltlich nicht mehr ein, sondern bemüht vielmehr die Kantische Überzeugung, dass alle Versuche, das Absolute begrifflich zu fassen, eine endliche Vernunft übersteigen müsse. Vgl. J. Schmucker, »Wolfgang Cramers Widerlegung der Gottesbeweiskritik Kants«, 287–301.

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6. Die Theorie des Absoluten

tierendes, dessen Grundbestimmung, kontingent zu sein, gewusst werden konnte, entwickelt Kant seinen Begriff des Daseins gemäß seiner kopernikanischen Wende als etwas, das von der Erkenntnisleis­ tung des Subjekts konstituiert wird, wodurch Kants Existenzbegriff aufgrund seiner systematischen Voraussetzungen auf den Bereich der Erscheinung beschränkt ist. Dabei wird zum einen die Kategorie des Daseins aus der Urteilsform der Modalität entwickelt. Damit bezeichnet Dasein als Kategorie die Unterscheidung von hypotheti­ schen, assertorischen und apodiktischen Urteilen, die die subjektiven Bedingungen für die Modalitätsdifferenzen der Urteile darstellen. Zum anderen wird ein weiterer Aspekt des Daseins in Kants Wirklichkeitskonzept abgehandelt. Da für Kant Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung restringiert ist, müssen alle Verstandeskate­ gorien auf Anschauung bezogen werden können. Daher kann auch Wirklichkeit für Kant nur in Verbindung mit Erfahrung konzipiert werden. Demnach reicht eben die bloß begriffliche Verstandesbestim­ mung nicht aus, um etwas Wirkliches zu konstituieren, vielmehr muss noch Wahrnehmung hinzutreten, damit die Wirklichkeit eines Gegenstandes erkannt werden kann. Dies kann entweder direkt durch den Bezug zur Wahrnehmung oder indirekt nach den Analogien der Erfahrung geschehen, denen gemäß man durch Wahrnehmung eines Dinges nach dem Leitfaden der Analogie zu möglichen Wahr­ nehmungen gelangen kann.412 Damit geht es Kant prinzipiell um ein Kriterium dafür, wann gewusst werden kann, ob etwas wirklich ist, und Kant findet dieses Kriterium wesentlich in dem Bezug auf die Wahrnehmung. Nach Cramer ist es unbestreitbar, dass dieses Kriterium sinnvoll für dieje­ nige Wirklichkeit ist, von der wir nur aus Erfahrung wissen können. Allerdings erscheinen zwei Aspekte, die zugleich die Reichweite dieses Kriteriums betreffen, diskussionsbedürftig. Erstens ist die Wirklichkeit desjenigen, das wahrgenommen wird, selbst nicht von Wahrnehmung abhängig. Zum Beispiel weiß ein wahrnehmendes Bewusstsein, dass es einer Wahrnehmung bedarf, damit es um die Wirklichkeit eines Baumes wissen kann. Dies bedeutet umgekehrt aber nicht, dass die Wirklichkeit des Baumes von der Wahrnehmung abhängt.413 Noch deutlicher wird das bei Beschreibungen von Zuständen der Wirklichkeit, von denen prinzipi­ 412 413

Vgl. Kant KrV B 272f. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 24.

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

ell keine Wahrnehmung möglich ist, weil es zu diesen Zeitpunkten keine Lebewesen gab, die diese Zustände hätten wahrnehmen kön­ nen. So schließt die Geologie durch empirische Funde auf Zustände der Erde, in denen noch kein Leben und somit auch kein wahrneh­ mendes Bewusstsein existieren konnte. In diesen wissenschaftlichen Erklärungen bezieht sich das Wirklichkeitskonzept nicht auf die Modalitätsdifferenzen von Urteilen, die sich wiederum auf Wahrneh­ mungen beziehen, sondern auf Zustände, die unabhängig von der Wahrnehmung Realität besitzen sollen. Durch den Kantischen Wirk­ lichkeitsbegriff wird dieser Anspruch, auch unabhängig der möglichen Wahrnehmung Realität zu meinen, prinzipiell aufgehoben.414 Zweitens rückt aber damit abermals der Status des erkennenden Subjekts in den Vordergrund, denn Kants Begriff vom Dasein ist ja von den erkenntniskonstituierenden Leistungen des Subjekts abhängig, insofern eben das und nur das als Wirklichkeit klassifiziert wird, was in einer Wahrnehmung gegeben ist. Somit ist es das Subjekt, das die Erfahrungsgegenstände und damit Wirklichkeit konstituiert in Abhängigkeit von Wahrnehmung. Wie sieht es aber nun mit der Wirklichkeit des Subjekts aus? Wie schon ausführlich im ersten Teil über die Cramerschen Kritik an Kant dargelegt worden ist, lässt sich Kants Konzeption mit der Unterschei­ dung von Bestimmtes-für und Bestimmtes-an-sich in der Konzeption des Subjekts nicht konsistent durchhalten. Kant zufolge muss das Dasein eines Subjekts zwar zugegeben werden, das eben das Subjekt eines jeden Gedankens ist. Allerdings ist es nicht qualifizierbar, denn in der transzendentalen Apperzeption wurde nur ein leerer Gedanke ohne jeglichen Inhalt gedacht, weil diesem, nach Kants Lehre der Zweistämmigkeit der Erkenntnis, der Anschauungscharakter fehlt. In der transzendentalen Apperzeption wird also ein völlig unqualifizier­ bares Dasein gedacht. Wie dargelegt worden ist, sprechen gegen diese Konzeption der Unqualifizierbarkeit aber gewichtige Gründe. Hier sollen zur Erinnerung noch einmal kurz die wichtigsten Einwände genannt werden. Die strikte Unqualifizierbarkeit des transzendentalen Subjekts war schon deswegen unmöglich, weil bereits die notwendige Unter­ scheidung von Gedanke und Denken das Subjekt als Ursprung des Gedanken qualifiziert. Gedanken sind demnach nicht externe, bereits vorhandene Inhalte, die dann ins Denken fallen, sondern werden vom 414

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 24.

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6. Die Theorie des Absoluten

Subjekt produziert und sind als Produkt wiederum für das Subjekt, wodurch dessen Modus als In-sich-Sein und Sichbestimmen charak­ terisiert wurde. Anhand der Analyse des Phänomens der Gedanken wurde also deutlich, dass das Konzept »Gedanke« nur dann sinnvoll ist, wenn es etwas gibt, das Ursprung der Gedanken und damit eben nicht nur Gedanke ist. Das Subjekt wird so gemäß dem negativen Seinsbegriff als nicht nur gedacht ausgewiesen und kann damit gleich­ zeitig mit Bezug auf notwendig gegebene Strukturen hinsichtlich des Denkens qualifiziert werden. Konsequenterweise muss daher die behauptete Uncharakterisierbarkeit der transzendentalen Apperzep­ tion aufgegeben werden. Deutlich wird die Notwendigkeit der inhaltlichen Bestimmtheit auch in Kants Zuschreibung von Erkenntnisvermögen hinsichtlich an das Subjekt. Denn die Differenz der Erkenntnisvermögen »Denken« und »Anschauung« stellt notwendig eine Bestimmung des Subjekts selbst dar. Gerade der Bezug beider Vermögen in der Einheit des Subjekts ist wesentliche Voraussetzung für die Erkenntnisleistungen des Subjekts.415 Das transzendentale Subjekt muss also notwendig eine differenzierte Einheit sein, wenn Denken und Anschauung seine Vermögen sein sollen. Es ist sinnlos, von Vermögen zu sprechen, wenn diese Vermögen nicht schon von vornherein ein und demselben Subjekt zukommen. Ebenso hat sich gezeigt, dass das transzendentale Subjekt im Denken, Vorstellen und Erleben selbst zeitlich ist. Durch den Zusammenhang der Beziehung von Subjekt und Gedanke hat sich das Subjekt als das Erzeugen und Haben der Gedanken herausgestellt. Damit ist das Subjekt in seinem Tätigen notwendig zeitlich verfasst und daher wiederum qualifiziert.416 Das Erkenntnissubjekt muss also in sich bestimmt sein, wenn es als die Instanz beansprucht wird, die für die Differenz von Bestimm­ tes-für und Bestimmtes-an-sich konstitutiv sein soll. Die verlangten Bestimmungen führen aber notwendig zu den oben dargestellten Qualitäten des Subjekts, denn die ganze Sphäre »Bestimmtes-für« setzt ein in sich bestimmtes Subjekt voraus, dessen Qualitäten und Vermögen überhaupt erst diese Differenz ermöglichen. Damit ist aber zugleich, zumindest in einem bestimmten Rahmen, seine Qualifizier­ barkeit gegeben.

415 416

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 25. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 30.

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

Die oben aufgeführten Grundbestimmungen lassen sich dem­ nach alle im Kontext des Gedankenexperiments des radikalen Zwei­ fels herleiten. Die sich in diesem Experiment selbst qualifizierende Subjektivität ist von einer Bestimmtheit (eben denkende Subjektivität zu sein) und steht schon als konkrete Realisierung dieser Bestimmt­ heit unter einer Vereinzelungsordnung, durch die noch mehr gleich­ artig Bestimmte sein können. Somit stellt sich das Erkenntnissubjekt als in sich bestimmte Realität dar, deren Bestimmung zwar im Denken erkannt wird, aber nicht vom Denken abhängt. Aus diesem Grund ist das Subjekt auch eine Instanz von Wirklichkeit, wie sie im kosmolo­ gischen Beweis vorausgesetzt worden ist: »Das Subjekt, das Erfahrungen macht, das Anschauung und Denken ist, was anschaut und denkt, ist ein Dasein in dem Sinne, wie die vorkantische Metaphysik Dasein oder Existenz meinte, wenn sie im kosmologischen Beweise von etwas ausging, das existiert.«417

6.2.1.1.2 Zeit Ebenso wie das Konzept des Daseins ist auch die Realität der Zeit eine wesentliche Voraussetzung des kosmologischen Beweises. Träfe Kants Konzeption der Idealität der Zeit – und damit ihr Status, ausschließlich eine subjektive Form der Anschauung zu sein – zu, dann wäre dem kosmologischen Beweis die Grundlage für seine Behauptung entzogen, dass es zeitlich verfasstes und daher kontin­ gentes Seiendes gibt. Die Zeit wird notwendigerweise im kosmolo­ gischen Beweis als real aufgefasst. Wie schon in der allgemeinen Kant-Kritik Cramers ausführlich dargestellt wurde, ist Kants Konzept der Transzendentalität der Zeit eine Abstraktion. Zwar ist Zeit auch eine Form der Anschauung, allerdings kann sie dies nur sein, weil das Subjekt selbst an sich zeitlich verfasst ist. Denn nicht nur das Vorge­ stellte ist zeitlich geordnet, vielmehr ist jedes Vorstellen, Denken und Anschauen eine Tätigkeit, so dass das Haben von Vorgestelltem usw. und somit das Subjekt selbst zeitlich sein muss. Ohne die zeitliche Verfasstheit des tätigenden Subjekts könnten Erscheinungen und Vorstellungen nicht in der Form der Zeit gegeben sein.418 Damit hat man im Subjekt nicht nur eine in sich zeitlich verfasste Instanz, man gelangt dadurch auch zu einer zeitlichen 417 418

W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 27. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 29.

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6. Die Theorie des Absoluten

Ordnung des Organismus und der Welt, sofern diese Instanzen sind, die das Subjekt noch bestimmen. Denn nach der Affektionstheorie muss die Abfolge der konkreten materialen Erscheinungen ihren Grund in dem affizierenden X haben. Das affizierende X muss also selbst zeitlich sein, denn anderenfalls gäbe es überhaupt keinen Grund für die konkrete Abfolge der Erscheinungen. Dieses Affizierende muss demnach selbst zeitlich verfasst sein, auch wenn sein zeitlicher Modus anders bestimmt ist als der der Subjektivität selbst. Es hat sich in Cramers Theorie der konkreten Subjektivität herausgestellt, dass diese das Erleben affizierende Instanz der Organismus ist, der selbst zeitlich bestimmt sein und wiederum mit anderen Seienden in einer zeitlichen Ordnung stehen muss. Damit steht ein Hauptpfeiler in Kants Kritik an den Gottesbeweisen – die transzendentale Idealität der Zeit –, auf der die transzendentale Dialektik aufbaut, nicht mehr zur Verfügung. 6.2.1.1.3 Kausalität Nach Kants Auffassung ist es die Aufgabe des Verstandes, Vorstellungen zu einer Einheit zu verknüpfen. Die möglichen Arten der Verknüpfung sind daher durch die Kategorientafel gegeben. Somit ist nach Kant auch der Begriff der Kausalität eine Leistung des Verstan­ des, welche die verschiedenen Vorstellungen unter der Hinsicht der Bedingtheit verknüpft. Es ist offensichtlich, dass der kosmologische Beweis mit dem Kantischen Konzept von Kausalität nicht schlüssig ist, denn der Beweis geht von einem Kausalitätskonzept aus, in dem ein Seiendes ein anderes Seiendes hervorbringt. Eine solche Art von Kausalität ist uns nach Kant gar nicht zugänglich, weil sie Dinge an sich betrifft und unsere Erkenntnisse aufgrund der Konstitutions­ leistungen des Subjekts nur auf Erscheinungen restringiert sind, wodurch dem Beweis der Boden entzogen wäre. Die Frage ist aber auch hier, ob sich Kants Konzept der Kausalität als Verbindung von Vorstellungen konsistent innerhalb des Kantischen Ansatzes denken lässt und ob sich ein anderes Konzept der Kausalität aus der Kritik an dem Kausalitätsbegriff Kants legitimieren lässt. In diesem Kontext ist es wichtig, sich noch einmal das Verhält­ nis der apriorischen Formen im Verstand und ihrer Anwendung auf das Mannigfaltige der Anschauung zu verdeutlichen. Zunächst werden die apriorischen Denkformen in der metaphysischen Deduk­

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

tion anhand der Urteile aufgefunden. Als solche stehen sie nicht in Beziehung zu der Materie der Erkenntnis, sondern sind reine Verstan­ desformen und daher Objekt der formalen Logik.419 Insofern enthält auch das hypothetische Urteil zunächst nur den Gedanken, dass etwas durch etwas anderes bedingt ist. Erst wenn dieser Gedanke eine gegenstandsbestimmende Funktion ausübt, sich also auf das Mannig­ faltige der Anschauung bezieht, setzt er Vorstel-lungen im Verhältnis der Bedingtheit zueinander in Beziehung, und erst wenn nachgewie­ sen wird, dass die reinen Verstandesbegriffe eine transzendentale Funktion haben, sich also auf Gegenstände der Erfahrung beziehen, ist gezeigt worden, dass es sich bei ihnen um Kategorien handelt. Bezogen auf die Kategorie der Kausalität bedeutet dies, dass der reine Gedanke der Bedingtheit auf Erscheinungen angewandt wird. Damit wird aus der gegebenen Abfolge von Erscheinungen erst ein objektives zeitliches Verhältnis. War vorher nur eine fakti­ sche Abfolge gegeben, wird diese nun durch die Verstandeskategorie begriffen und damit in eine objektive Zeitfolge gebracht. Für diese Objektivierungsleistungen durch Kategorien bedarf es aber schon vorher einer Affinität des Gegebenen zur Anwendung von Verstan­ deskategorien, denn sonst wäre nicht klar, warum überhaupt Katego­ rien auf das in der Anschauung Gegebene bezogen werden könnten. Während Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Ver­ nunft noch diese Affinität thematisiert, fällt diese in der zweiten Auf­ lage weg, und der Begriff des Mannigfaltigen rückt nun ins Zentrum der Überlegungen Kants. Allerdings kann das Konzept des Mannig­ faltigen die erforderliche Affinität nicht begründen, weil sie schon in der Art und Weise gegeben sein muss, in der dann die Kategorien überhaupt Anwendung finden. Das bedeutet, dass »Erscheinungen nach ihrem empirischen Inhalte Regeln gemäß gegeben«420 sein müssen, sollen Kategorien überhaupt anwendbar sein. Eine solche Affinität könnte aber nur aus dem unbekannten X begründet werden. Dies kann nach Cramer noch deutlicher anhand eines Beispiels illustriert werden, das sich auf den »Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität«421 bezieht, der in der zweiten Analogie der Erfahrung zu finden ist. Dort heißt es zunächst in Ausgabe A: »Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es 419 420 421

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 31. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 37. Kant KrV B 233.

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nach einer Regel folgt«422, und in Ausgabe B heißt es dann: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung«.423 Cramer argumentiert nun wie folgt: Gesetzt den Fall, es gäbe zu der Erscheinung B keine Erscheinung A, wie sie aber durch die Regel der empirischen Assoziation gefordert wird, dann würde der Verstand dennoch eine solche Erscheinung a priori fordern. Es ist innerhalb von Kants Ansatz nicht zu begründen, warum eine solche Suche überhaupt erfolgreich sein sollte.424 Dies wäre doch nur dann der Fall, wenn es dafür einen Anhaltspunkt in dem X gäbe.425 Damit gilt – ähnlich wie bei der in Frage stehenden Begründung der Affinität der Verstandeskategorien zu dem sich in der Anschauung darbietenden Material –, dass die Suche nach einem verursachenden Ereignis nur dann überhaupt erfolgreich sein kann, wenn die in einem Ursache-Wirkung-Verhältnis stehenden Ereignisse nicht nur durch eine Regel des Verstandes verbunden sind, sondern auch unabhängig davon in einem Ursache-Wirkung-Verhältnis stehen.426 Dies lässt sich noch auf einem anderen Weg begründen: Letztlich bezieht sich Kants Kausalverständnis nur auf eine Abfolge von Erscheinungen. Dabei ist das aber nicht so zu verstehen, dass eine Erscheinung die andere Erscheinung bewirkt im Sinne von hervorbringt, denn es ist nicht einzusehen, wie eine Erscheinung eine andere hervorbrin­ gen könnte.427

Kant KrV A 189. Kant KrV B 232. 424 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 37. 425 Für eine ähnliche Kritik siehe P. Sachta, Die Theorie der Kausalität in Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹, 124–136. Für einen Lösungsansatz, der hinsichtlich der Abfolge der Erscheinungen schon ein Kausalitätsverhältnis in den Dingen an sich begründet sieht, vgl. M. Wartenberg, Kants Theorie der Kausalität, mit besonderer Berücksich­ tigung der Grundprincipien seiner Theorie der Erfahrung. Eine historisch-kritische Untersuchung zur Erkenntnisstheorie, 239–251. 426 Cramer zeigt in diesem Zusammenhang auch, dass die in der dritten Analogie, in dem Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetze der Wechselwirkung oder der Gemeinschaft behauptete Wechselwirkung der Substanzen nur dann überhaupt verstehbar ist, wenn es sich bei den in Wechselwirkung stehenden Gegenständen der Erfahrung nicht nur um Erscheinungen, sondern um konkret Seiende handelt, von denen man Wahrnehmungen haben kann. Demnach ist der Grundsatz der Wechselwirkung mit Kants Begriff vom Gegenstand der Erfahrung inkompatibel. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 41. 427 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 39. 422

423

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

Wenn nun aber durch das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels das denkende Subjekt im Rahmen des negativen Seinsbe­ griffs bestimmt worden ist als etwas, das nicht nur gedacht sein kann, dann ist es eben durch den Fakt, dass dieses Gedankenexperiment nur von konkreten Subjekten durchgeführt werden kann, weil nur kon­ krete Subjekte denken können, damit auch als paradigmatischer Fall eines konkret Seienden ausgewiesen. Als solches ist es durch seinen Bezug zu seinem Organismus und dessen Einbettung in die bloße Natur eben schon in Kausalverhältnisse eingebettet, die ebenfalls nicht nur gedacht sind. Damit hat ein Kausalkonzept einen Anhalts­ punkt in der Wirklichkeit, der über eine bloße Regelabfolge von Erscheinungen hinausgeht. Wenn nun zusätzlich das absolut zufällige Dasein ausgeschlos­ sen werden kann428, dann muss es auch für dieses konkrete Subjekt als kontingentes Seiendes eine hervorbringende Ursache geben, was wiederum als konzeptioneller Anhaltspunkt für den kosmologischen Gottesbeweis dienen kann; denn dieser benötigt aufgrund der Dis­ junktion, verbunden mit dem Ausschluss des absolut zufälligen Daseins, nur einen Fall von kontingentem Dasein, um auf das notwen­ dige Dasein zu schließen. Insgesamt zeigt die kurze Analyse des Kausalitätskonzepts, dass es nicht nur innerhalb des transzendentalen Systems Kants hinsicht­ lich des Kausalitätskonzepts einige Probleme bzw. Voraussetzungen gibt (z. B. das der Affinität der Kausalitätskategorie mit dem in der Anschauung Gegebenen), die sich innerhalb des Systems entweder nicht beheben oder nicht begründen lassen, sondern dass auch durch die kritische Diskussion des Status des konkreten Subjekts ein anderes Kausalitätskonzept erforderlich wird, das über die Kantische Konzep­ tion hinausgeht.

6.2.1.2 Die bleibenden Schwächen des kosmologischen Beweises Die Klärungen und Modifikationen der zugrundeliegenden Konzepte, vor allem aber auch die kritische Auseinandersetzung mit der Kan­ tischen Philosophie haben zur Stärkung der Argumentationskraft des kosmologischen Beweises beigetragen. Nach Cramer lässt sich sagen, dass sich durch die Analyse des kontingenten Daseins auf 428

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 43.

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ein unbedingtes Dasein schließen lässt: »Das notwendige Dasein existiert, wenn irgendein kontingentes Dasein existiert, das ist der unanfechtbare Schluss.«429 Allerdings hat der Beweis Cramer zufolge mindestens vier blei­ bende strukturelle Schwächen, die für das Projekt einer Theorie des Absoluten ein Hinausgehen über diesen erforderlich machen: 1.

Zunächst ist zu konstatieren, dass der Beweis die Vorausset­ zung machen muss, dass kontingentes Dasein existiert. Dadurch erreicht der Beweis in seiner Struktur nur eine hypothetische Notwendigkeit: Wenn es kontingentes Dasein gibt, dann muss auch das notwendige Dasein existieren.430 Zwar kann nach der Analyse der konkreten Subjektivität gesagt werden, dass das konkrete Subjekt ein ebensolches kontingentes Dasein ist, so dass die vom Beweis geforderte Bedingung erfüllt ist. Obwohl also die Bedingung erfüllt ist, bleibt der strukturelle Nachteil des Beweises, dass dieser, um zum Absoluten zu gelangen, den argumentativen Umweg über etwas nehmen muss, das nicht das Absolute ist. Dies führt dazu, dass das Konzept des Absoluten und seine Entfaltung nur durch das Kontingente in den Blick kommt, obwohl es als Grund für das bedingte Dasein gerade nicht von diesem abhängig sein soll, was auch in seiner begriffli­ chen Entfaltung deutlich werden sollte. Diese Unabhängigkeit ist auch die Intention des Beweises, die aber durch den Beweis nicht mehr eingesehen, sondern nur behauptet werden kann.431 Es entsteht dadurch folgendes Problem: »Das unbedingte Dasein ist gewiß nicht durch das bedingte Dasein bedingt. Die Bedingung dieser Einsicht aber ist der Ausgang vom bedingten Dasein. Enthält sich der Beweis aber dieses Ausganges, dann fällt er als Beweis. Nimmt er das unbedingte Dasein zum Ausgang, dann setzt er voraus, worauf er erst hinauswill. Rechnet er mit der Möglichkeit, daß nichts existiert, dann fällt alle Bedingung des Daseins.«432 Es liegt also in der Struktur des Beweises, dass das Unbedingte geltungstheoretisch immer nur perspektivisch

W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 50. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 241f. 431 Falk Wagner sieht in diesem Punkt nicht nur eine Übereinstimmung Cramers mit der Kantischen Kritik, sondern auch eine starke Parallele zu Hegels Kritik am kosmologischen Beweis. Vgl. F. Wagner, Religion und Gottesgedanke, 188f. 432 W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 50f. 429

430

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

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durch seine Relation zum Endlichen in den Blick genommen werden kann: »Das notwendige Dasein bleibt an seinem Orte selbst unbegriffen.«433 Diese bedingte Thematisierung hat noch weitere Nachteile. Der kosmologische Beweis muss das unbedingte Dasein auf einer argumentationslogischen Ebene durch seinen Ausgang vom Bedingten als Grund qualifizieren. Diese Qualifikation kann der Beweis dem Unbedingten aber nur zuschreiben, weil sich das Grundsein durch das Bedingte ergibt. Somit wird das unbedingte Dasein eben nicht aus sich heraus als Grund begriffen, was zur Folge hat, dass der Beweis nicht angeben kann, wie das Unbedingte der Grund des Kontingenten sein kann.434 Es mag zwar durchaus richtig sein, das Unbedingte als Grund aufzufas­ sen, allerdings bleibt der Beweis diese Ausführungen schuldig: »Nicht, weil Kontingentes ist, kann ja das notwendige Dasein Grund sein, sondern es muß Grund sein, und, weil es Grund ist, kann nur das Kontingente sein. Aber eben dies, daß es in sich Grund sein muß, dies kann uns der kosmologische Beweis nicht auseinanderlegen.«435 Mit dem Nachweis und der Begründung, dass das Unbedingte von sich aus Grund ist, erwächst für eine Theorie des Absoluten eine weitere Aufgabe. Da das Konzept des Unbedingtseins des unbedingten Seins sich im kosmologischen Beweis im Kontrast zum Konzept des bedingten Daseins ergibt, das durch seine Bedingtheit notwendig zeitlich ist, liegt in der Struktur des kosmologischen Beweises, das unbedingte Sein als zeitlos zu qualifizieren. Trotz der konzep­ tionellen Zeitlosigkeit wird das Unbedingte als Grund des Wer­ dens und des Zeitlichen genommen. Diese Gründung der zeitli­ chen Dimension des Endlichen kann aber selbst nicht gänzlich zeitlos gedacht werden: »Der grundlose Grund kann freilich nicht in der Zeit sein, wie das in der Zeit ist, was anfängt und endet, er kann aber auch nicht aller Zeit entrückt sein, er muß die Zeit sein, qualifizierte Zeit und darin sich das beständige Selbe.«436 Nur wenn das unbedingte Dasein nicht gänzlich zeitlos konzi­

433 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 184. Vgl. auch ders., Die absolute Refle­ xion, 286f. 434 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 51. 435 W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 51. 436 W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 18.

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piert wird, kann eine unüberbrückbare Kluft zwischen seiner Abgrenzung zum bedingten, zeitlichen Dasein einerseits und seinem Grundsein für diese zeitliche Verfasstheit andererseits vermieden werden. Ist das unbedingte Dasein selbst nicht zeitlich verfasst, wird es als Ursache der zeitlichen Dimension unver­ ständlich.437 Wie genau die Zeitlichkeit des unbedingten Daseins zu fassen ist, muss weiteren Ausführungen zu einer Theorie des Absoluten vorbehalten bleiben. Hier bleibt zu konstatieren, dass die genannte Spannung prinzipiell im kosmologischen Beweis nicht gelöst werden kann.438 Nach Cramer ist es unvermeidlich, dass der kosmologische Beweis den Begriff des Daseins oder der Existenz auch auf das Unbedingte bezieht.439 Allerdings ist diese Übertragung des Begriffs auf das Unbedingte misslich, weil das Konzept der Existenz nahelegt, dass das Existierende in Raum und Zeit ist und dass zugleich anderes Gleiches möglich ist. Insofern wird mit der Übertragung des Begriffs der Existenz eventuell sugge­ riert, dass das Unbedingte nur ein besonderes Existierendes ist, wodurch falsche Assoziationen in das Konzept des Absolu­ ten hineingebracht werden. Dadurch, dass der kosmologische Beweis seinen Anfang in der Analyse endlicher Gründe nimmt, läuft man Gefahr, auch das unbedingte Dasein nach Art der endlichen Gründe zu konzipieren, auch wenn dieser Grund als ein spezieller und vorzüglicher aufgefasst wird.440 Diese Tendenz der »Verendlichung« ist wesentlich durch die Struktur des kosmologischen Beweises bedingt, der seinen Ausgang von etwas nimmt, das nicht das Absolute ist. Insofern aber den­ noch aufgrund des verbreiteten Sprachgebrauchs weiterhin vom Begriff »unbedingtes Dasein« gesprochen wird, ist die mögliche limitierende Tendenz dieser Perspektive zu beachten. In einem ganz bestimmten Sinn wird diese Problematik erst in Cramers Durchführung der absoluten Reflexion argumentativ umgangen.

Somit kann nach einer kritischen Analyse und den daraus folgenden Modifikationen über den kosmologischen Beweis gesagt werden, dass Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 15. Dasselbe gilt nach Cramer auch für die Konzeption des Absoluten bei Spinoza. Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 54. 439 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 52. 440 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 287.

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er in seiner modifizierten Form zwar berechtigterweise auf das Unbe­ dingte schließt, dass er darüber hinaus aber wesentliche Probleme bei der Konzeption des Absoluten aufgrund seiner Struktur prinzipiell nicht mehr thematisieren kann.

6.2.2 Der ontologische Gottesbeweis Ebenso wie in der Diskussion des kosmologischen Beweises erörtert Cramer sowohl die grundlegenden Konzepte und Voraussetzungen des ontologischen Gottesbeweises, die verschiedenen Versionen die­ ses Beweises (vor allem bei Descartes, Spinoza und Leibniz) als auch die Kantische Kritik an diesen sowie die Möglichkeit, eine Version des ontologischen Beweises zu konzipieren, die der vorgetragenen Kritik standhalten kann. Ähnlich wie beim kosmologischen Beweis führt die kritische Auseinandersetzung mit dem ontologischen Beweis hinsichtlich seiner Beweiskraft zu einer differenzierten Perspektive: Einerseits stimmt Cramer der Kantischen Kritik an einer Version des ontologischen Beweises zu, dem zufolge die Existenz des notwendi­ gen Wesens allein aus seinem Begriff gefolgert werden soll. Cramer zufolge ist diese Version des Beweises nicht haltbar. Andererseits gilt es hier nach Cramer zu bedenken, dass es sich bei dem kritisierten Gedankengang nicht um das ursprünglich intendierte Argument han­ delt, da es unter der Hand aus seinem platonischen Zusammenhang gerissen worden ist, wodurch es seine gesamte Beweiskraft einbüßt. Berücksichtigt man aber die platonischen Hintergrundannah­ men des ursprünglichen Arguments und gelingt es, diese zu begrün­ den, dann eröffnet dies eine neue Perspektive auf seine Beweiskraft, auch wenn der konkrete Argumentationsgang bei Anselm sich als ein Umweg herausstellt, der die potentielle Beweiskraft des Argu­ mentationsganges auf falsche Bahnen lenkt und damit den Beweis wieder schwächt. Demzufolge ist auch das ursprüngliche Argument problematisch. Dies schließt aber nicht aus, dass es nicht prinzipiell möglich wäre, diesem Argument eine angemessenere Form zu geben. Ausgehend von der Differenz von Bestimmung und dem Moment, das von Bestimmung ist, hat Cramer versucht, das ontolo­ gische Argument in eine verbesserte Form zu bringen, das auch der Kantischen Kritik standhalten soll. Es wird zudem noch zu zeigen sein, dass auch Cramers eigener Letztbegründungsversuch eine struk­ turelle Nähe zum ontologischen Argument hat, insofern hier nicht

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6. Die Theorie des Absoluten

von etwas, das nicht das Absolute ist, ausgegangen und dann von diesem Ausgang auf das Absolute geschlossen wird. Vielmehr geht es in seinem Begründungsansatz darum, das Absolute mit Hilfe der phi­ losophischen Deduktion als das Prinzip zu explizieren, das immer schon für alles konstitutiv und daher notwendig ist.

6.2.2.1 Die Rekonstruktion des Gedankengangs bei Anselm nach Cramer Cramer zufolge basiert Anselms Denken auf neuplatonischen Voraus­ setzungen, die für das Verständnis und die Beweiskraft des ontologi­ schen Beweises wesentlich sind. Nur vor diesem Hintergrund wird dann verständlich, dass sich der Kerngedanke des »aliquid quo nihil maius cogitari potest« nicht nur auf etwas Gedachtes bezieht. Grundlage hierfür ist die Analyse von singulär Existierendem: Jegliches Existierende ist von einer Bestimmung, die es zu dem macht, was es ist. Diese Bestimmung, dieses εἶδος, ist nun etwas, das nicht in der Existenz eines einzelnen Seienden aufgeht. Vielmehr ist diese Bestimmung eine Form, die eine mögliche Bestimmung von vielen möglichen Einzelnen darstellt und deren Sein von daher nicht an die Realisierung in dem jeweiligen einzelnen Existierenden gebunden ist. Insofern diese Form ein konstitutives Moment der einzelnen existierenden Dinge darstellt, ist sie nicht etwas, das von einem Subjekt gebildet worden ist, sie ist nicht nur Begriff in dem Sinne, dass sie damit allein Produkt des Verstandes wäre.441 Der Verstand mag fähig sein, diese Form zu erkennen, aber an sich ist sie etwas, das nicht nur im Verstand ist.442 Damit ergibt sich die Unterscheidung von Form und Existenz eines singulär Existierenden, dessen Bestimmung die jeweilige Form ist. Zudem gehört es zu den Annahmen Anselms, dass jede Form einen gewissen Grad der »perfectio« hat und es deshalb auch eine Hierarchie der Formen gibt. Anselms Anliegen ist es zu zeigen, dass es ein εἶδος aller εἴδη, eine Form aller Formen gibt, die nicht wie die Formen Bestimmungen von möglichem einzelnen Existierendem sind, sondern dass dieses εἶδος die Bestimmung eines notwendig Existierenden ist. Dabei wird dieses εἶδος die »essentia perfectissima« genannt und dasjenige, wovon sie die Bestimmung ist, das »ens 441 442

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 281. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 56f.

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

perfectissimum«. Somit ergibt sich für Anselm folgende Struktur seines Beweises: 1. 2. 3.

4.

Gibt es die Hierarchie der εἴδη, dann gibt es etwas, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Dieses Etwas ist im Verstand. Es kann aber nicht nur im Verstand sein, denn dann wäre es nicht dasjenige, worüber hinaus nicht Größeres gedacht werden könnte. Denn es wäre etwas Größeres möglich, das nicht nur im Verstand, sondern auch außerhalb des Verstandes existierte. Der Gedanke des »aliquid quo nihil maius cogitari potest« wäre also nur dann nicht in sich widersprüchlich, wenn das in ihm Gedachte nicht nur in dem Verstand, sondern auch außerhalb des Verstandes existiert.

Cramer zufolge sind nun zwei Interpretationen dieses Beweises möglich, die von der Differenz von essentia perfectissima und ens perfectissimum abhängen und die für die Beweiskraft des Arguments von entscheidender Bedeutung sind: In der ersten Interpretation werden beide Momente unterschie­ den, und dann ist der Lehre von den εἴδη gemäß die essentia nicht nur im Verstand, weil Formen als mögliche Bestimmungen für etwas Existierendes aufgefasst werden, für das sie bestimmend sind. Unter diesem Gesichtspunkt wäre die entscheidende Frage nicht, ob die essentia auch außerhalb des Verstandes ist (denn das wäre sie nach der obigen Voraussetzung), sondern ob es das »aliud« im Sinne von einem Etwas gibt, das von der Bestimmung der essentia perfectissima ist.443 Ausgehend von der Lehre der εἴδη, die sich aus der Analyse des singulär Existierenden ergeben hat, wäre dann zu untersuchen, ob sich ein Argument entwickeln lässt, das auf den Nachweis der notwendigen Verbindung von essentia und existentia abzielt. Wichtig ist bei dieser Interpretation des ontologischen Arguments, dass man in der Lehre der εἴδη sozusagen schon eine Brücke zum Sein vorfindet, denn die εἴδη sind als Formen Momente des Seienden.444 Im Gegensatz dazu ist eine zweite Interpretation möglich, wel­ che die wesentlichen Elemente der eidetischen Auffassungen nicht berücksichtigt, was dazu führt, dass das ontologische Argument aus seinem platonischen Kontext genommen wird und nun vollständig 443 444

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 58. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 281.

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seine Beweiskraft einbüßt. Denn durch die Negation der eidetischen Elemente wird auch die Grundunterscheidung von εἶδος und demje­ nigen, das von einem εἶδος ist, nicht beachtet, was dazu führt, dass dadurch auch die Unterscheidung von essentia perfectissima und ens perfectissimum fällt. Somit wird die essentia perfectissima nicht als absolute Bestimmung des ens perfectissimum aufgefasst, das die Hie­ rarchie von Formen als Bestimmungen der Seienden gliedert. Viel­ mehr erscheint sie nun als bloßer Gedanke, wobei die Existenz des in ihm Gedachten durch eine begriffliche Bestimmung (eben dasjenige zu sein, worüber hinaus man nichts denken kann) begründet werden soll. Als bloßer Gedanke, ohne die fundierenden ontologischen Bezüge der eidetischen Lehre, kann die essentia perfectissima aber nicht das leisten, was sie in dem Beweis leisten müsste: Aus ihr als rein subjektiv-begrifflicher Bestimmung lässt sich das Sein des ens perfectissimum nicht schlussfolgern.445 Nach Cramer hat Anselm selbst durch die Konstruktion des Argumentes, das seinen Ausgang vom »aliquid quo … in intellectu« nimmt, für die Möglichkeit dieser Interpretation gesorgt, die die Herauslösung des Beweises aus seinem platonischen Kontext gera­ dezu herausfordert.

6.2.2.2 Das »herausgelöste« Argument und die berechtigte Kritik Kants Das ontologische Argument lässt sich gewissermaßen aus seinem pla­ tonischen Zusammenhang herauslösen, indem man den eidetischen Grundgedanken, dass Bestimmungen erfasst werden können, die nicht nur subjektive Formen – in Cramers Worten »Begriffe« –, son­ dern Bestimmungen der konkret Seienden sind, negiert. Damit fällt auch die Unterscheidung von ens perfectissimum und essentia perfec­ tissima, was zur Folge hat, dass sich die Beweiskraft des ontologischen Arguments auflöst.446 Denn nun ist das ens perfectissimum nur ein Gedanke, dessen Wahrheit aus seinen begrifflichen Bestimmungen abgeleitet werden soll. Das so gefasste Argument beruft sich nun darauf, dass die Bestimmung der höchsten Vollkommenheit notwendig das Moment 445 446

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 58. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 71.

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

der Existenz in sich enthält, da es sonst eben nicht vollkommen wäre. Damit wird aber Existenz zu einer Bestimmung gemacht, wodurch das Konzept der Bestimmung überhaupt aufgehoben wird, denn die Bestimmung bestimmt nur dann etwas, wenn der Bestimmung etwas als Moment entgegengesetzt ist, das selbst keine Bestimmung ist, sondern von Bestimmung ist, wenn also das unsetzbare Moment des Unbestimmten gegeben ist. Dies stimmt mit Kants berühmtem Einwand überein, dass Existenz kein reales Prädikat sei. Das, was für die Existenz einer Sache hinzukommen muss, ist selbst keine begriffliche Bestimmung bzw. kann nicht in einer solchen aufgelöst werden. Insofern kann der Gedanke des ens perfectissimum zwar ein sinnvoller Gedanke sein, die Wahrheit des Gedankens, dass es dieses auch wirklich gibt, kann nicht aus dem reinen Begriff abgeleitet werden.447 Dasselbe gilt auch für den Begriff des ens necessarium, den Descartes einführte, um einige Schwierigkeiten, die mit dem Begriff des ens perfectissimum einhergehen, zu vermeiden. Aus diesem Grund konzentrierte er sich in seiner Version des ontologischen Arguments auf die Vollkommenheit der Macht. Unge­ achtet der Frage, welche Vollkommenheiten das ens perfectissimum auch haben mag: Es muss zumindest die Vollkommenheit der Macht haben, und damit muss es mächtig sein, sein eigenes Dasein hervor­ zubringen. Also müsse das vollkommenste Wesen aufgrund seiner Macht notwendig existieren. Auch hier lässt sich als Kritik geltend machen, dass ebenso wie bei dem Begriff der Existenz das beschrie­ bene Phänomen nicht in einer begrifflichen Bestimmung aufgeht, die Bestimmung »Macht« nicht mächtig sein kann, sondern nur ein Existierendes, das mächtig ist, also von der Bestimmung »Macht« ist. Damit nimmt Descartes schon in Anspruch, was er erst beweisen will, denn er setzt die essentia schon in einem ens verwirklicht voraus, das von der Bestimmung »Macht« ist.448 Somit gilt, dass in allen Versionen des ontologischen Argumen­ tes, die den eidetischen Grundgedanken negieren und damit den Beweis aus seinem Kontext herausnehmen, die Beweiskraft des Argu­ ments verlorengeht. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass nicht eine Reformulierung des ontologischen Arguments unter Berück­ sichtigung seines ursprünglichen Kontextes möglich wäre, die die Schwierigkeiten umgehen kann. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 71. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 74. Vgl. auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 185f. 447

448

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6.2.2.3 Eine Reformulierung des Beweises Während also die Herauslösung des ontologischen Beweises aus seinem platonischen Kontext seine Beweiskraft zerstört, stellt sich auch der ursprüngliche Argumentationsgang bei Anselm selbst unter Berücksichtigung der eidetischen Lehre nach Cramer als Umweg dar, da sie die rein »begriffliche« Lesart der essentia perfectissima durch ihren Bezug zur Widersprüchlichkeit, die auf das denkende Subjekt bezogen bleibt, zumindest ermöglicht. Cramer zufolge hätte Anselm selbst gerade aufgrund der Lehre der εἴδη eine stärkere Version des ontologischen Arguments entwickeln können. Diese Version sei im Folgenden kurz skizziert, bevor anschließend Cramers eigene Version des ontologischen Beweises vorgestellt wird. Für die Reformulierung des ontologischen Beweises unter den anselmianischen Voraussetzungen wird von zwei eidetischen Grund­ gedanken Gebrauch gemacht: 1. εἴδη sind bestimmende Formen von singulär Existierendem, 2. die εἴδη sind ihrem Perfektionsgrad gemäß gegliedert.449 Die Reformulierung setzt nun bei der Hierarchie der εἴδη an: Wenn es eine Hierarchie der εἴδη gibt, dann verlangt diese Hierarchie selbst ein Prinzip, durch das die jeweiligen εἴδη ihrem Perfektionsgrad entsprechend bestimmt werden.450 Dieses Prinzip stellt als Ordnung – gewissermaßen als Form aller Formen – an dem die Perfektions­ grade der jeweiligen der εἴδη gemessen werden müssen. Wenn dieses Prinzip existiert, dann ist nun nach seinem Existenzmodus zu fragen: Angenommen, es existierte nicht notwendig, dann muss es – da, wie schon im kosmologischen Beweis besprochen, kontingentes Sein nicht grundlos existieren kann – einen Grund haben. Als Kandidat für einen solchen Grund kann aber nur die ungetrennte Einheit von essentia perfectissima und dem Moment des Unbestimmten in Betracht kommen: »Es kann nur die essentia perfectissima der Grund der Existenz sein, denn weder ein εἶδος von geringerer perfectio noch etwas von solchem εἶδος kann der Grund der Existenz sein. Die essentia perfectissima muß demnach dessen mächtig sein, die Existenz von Etwas von der essentia perfectissima ins Dasein zu bringen. Was aber Macht haben soll, kann nicht die essentia ›Macht‹ sein oder eine essentia, deren 449 450

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 59. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 282.

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Moment die essentia ›Macht‹ ist. Denn die essentia ›Macht‹ hat nicht Macht […] Also muß die essentia perfectissima notwendig ungetrennt sein von dem Moment, dadurch allein etwas von essentia sein kann, sie muß in eins das ens sein. Die essentia perfectissima ist mithin notwendig Moment des ens perfectissimum, essentia und existentia sind ungetrennt.«451

Damit ist die Argumentation des Gedankengangs folgende: Wird die eidetische Lehre zugegeben, dann muss die in ihr auftretende Hierarchie der εἴδη erklärt werden. Hierfür muss die Existenz eines Ordnungsprinzips angenommen werden, dessen Existenzmodus zu diskutieren ist. Da dieses Ordnungsprinzip existiert und es eine Bestimmung darstellt, muss es sich um eine besondere Form eines εἶδος handeln. Nach Cramer stellt sich nun folgende Alternative: Entweder es existiert notwendig oder es ist kontingent. Existiert es notwendig, dann wäre der Beweis am Ziel. Da die Alternative eine vollständige Disjunktion darstellt, würde eine Widerlegung der Behauptung seiner kontingenten Seinsweise nur den Schluss zulassen, dass es notwendig existiert. Aus diesem Grund ist die Möglichkeit zu durchdenken, dass das Prinzip nur kontingenterweise existiert: Wenn es kontingent wäre, dann könnte es nicht grundlos existieren. Als Grund kommt aber weder ein εἶδος mit geringerem Perfektionsgrad in Frage noch ein ens, das von einem εἶδος mit geringerem Perfektionsgrad ist. Denn in beiden Fällen wäre dieser Grund immer noch von dem Prinzip der Perfektion beherrscht. Dieses wäre also in diesem Fall immer noch der Grund für die Einordnung der jeweiligen Perfektionsstufe geringerer εἴδη. Also kommt als Grund für das Dasein der essentia perfectissima nur diese selbst in Frage, was aber wiederum nur dann der Fall sein kann, wenn die essentia perfectissima nicht nur Bestimmung, sondern auch ens ist, wodurch die notwendige Ungetrenntheit von essentia und existentia nachgewiesen wäre. Der Gedankengang stellt somit zwar eine verbesserte Form des Anselmschen Arguments dar, da sich diese Version nicht auf den möglichen Widerspruch einer nur gedachten essentia perfectissima zurückziehen muss. Allerdings steht der Gedankengang noch unter der Prämisse der Hierarchie der εἴδη. Somit steht auch dieses Argument noch unter einer hypothetischen 451

W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 59f.

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Voraussetzung. Sich dieser Voraussetzung noch zu entledigen, ist Cramers Ziel in seiner eigenen Version des ontologischen Arguments.

6.2.2.4 Cramers eigene Version des ontologischen Arguments Der reflexionslogische Mangel der verbesserten Version des Anselm­ schen Arguments besteht Cramer zufolge darin, dass es noch die Hierarchie der εἴδη voraussetzt. Diese Hierarchie könnte zwar noch gerechtfertigt werden, aber Cramer versucht Versionen des ontologi­ schen Arguments vorzulegen, die nicht mehr auf diese Voraussetzung angewiesen und daher argumentationslogisch stärker sind. Nach Cra­ mer ist es verfehlt, den ontologischen Beweis als Versuch aufzufassen, aus dem Gedanken der essentia perfectissima ihr Sein herleiten zu wollen. Vielmehr liegt der richtige Gedanke in dem ontologischen Argument nach Cramer darin, die notwendige Ungetrenntheit von Bestimmung und dem Unbestimmten als dem Moment, das von einer Bestimmung ist, aufweisen zu wollen. In diesem Sinne formuliert Cramer zunächst zwei mögliche Begründungsformen des ontologi­ schen Arguments. Ausgang für diese Versionen ist der Grundgedanke der eideti­ schen Lehre, den Cramer nach eingehender Analyse als ausgewiesen ansetzt: Singulär Existierendes ist immer notwendig die Einheit von Bestimmung (εἶδος) und dem Moment, das von Bestimmung ist, aber nicht in Bestimmungen aufgelöst werden kann. Dabei ist die Bestimmung die Form eines singulär Existierenden, und damit ist es möglich, dass mehrere singulär Existierende von derselben Form existieren.452 Dies wurde in der Subjektphilosophie anhand des Gedankenexperiments des radikalen Zweifels eingesehen. Das denkende Subjekt bestimmt sich notwendig als solches, ist also notwendig von der Bestimmung, denkendes Subjekt zu sein, und weiß aufgrund dessen, dass dieses Gedankenexperiment immer nur konkrete Subjekte durchführen können, dass es ein einzelnes Subjekt von einer allgemeinen Form ist, die auch noch anderweitig realisiert werden kann. Damit ist das konkrete Subjekt das Paradebeispiel für ein ein­ zelnes Existierendes, das von einer allgemeinen Form ist. Es muss Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 15; W. Cramer, Die absolute Reflexion, 142.

452

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also eine Vereinzelungsordnung geben, und die εἴδη können zudem nicht in ihren jeweiligen Realisierungen »aufgehen«, sie besitzen einen gewissen Vorrang vor den Realisierungen in dem konkreten Seienden.453 Diesen Vorrang müssen sie haben, denn sonst wäre nicht klar, wie neue Bestimmungen, die sich nicht auf alte zurückführen lassen, überhaupt realisiert werden könnten. Sie können nicht aus dem Nichts entstehen. In diesem Kontext lassen sich nun zwei Argumente formulieren, die die notwendige Einheit von Bestimmung und dem Moment, das von Bestimmung ist, begründen sollen. Während das erste Argument die Bedingungen der Möglichkeit der Aktualisierung eines εἶδος thematisiert, untersucht das zweite Argument die Bedingungen des Seins der εἴδη. Beide Argumente deuten in verkürzter Form schon an, wie der Argumentationsduktus von Cramers letzter Version der Letztbegründung aussehen wird, was in der Darstellung der absolu­ ten Reflexion noch genauer zu zeigen sein wird. Damit zielen die Argumente auf die Begründung der notwendigen Ungetrenntheit von Bestimmung und Unbestimmtem im notwendigen Sein: 1.

453

Das erste Argument thematisiert die Bedingungen der Möglich­ keit der Aktualisierung eines εἶδος. Als mögliche Bestimmun­ gen für singulär Existierendes ist die konkrete Aktualisierung eines εἶδος kontingent. Daher muss auch diese Aktualisierung des εἶδος ebenso wie das kontingente Seiende, für das es eine Bestimmung ist, etwas Kontingentes sein. Für die Aktualisierung des jeweiligen εἶδος als kontingenten Akt muss es einen Grund geben. Nun können die εἴδη als mögliche Bestimmungen nicht selbst der Grund ihrer Aktualisierung sein, denn eine reine Bestimmung hat nicht die Macht, diese Aktualisierung hervor­ zurufen. Die Bestimmung »Grund« kann nicht der Grund sein, als Grund kann nur ein Seiendes in Frage kommen, das von der Bestimmung »Grund« ist. Dies war schon der Fehler von Descartes, als er aus der Bestimmung des ens necessarium die Existenz begrifflich herleiten wollte. Um Grund zu sein, bedarf es nicht nur der Bestimmung »Grund«, es gehört auch notwendig das Moment des Unbestimmten, das von dieser Bestimmung ist, dazu. Nur dasjenige, was die Einheit der Bestimmung »Grund« und des Moments, das von der Bestimmung »Grund« ist, besitzt, Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 281.

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kann der Grund der Sphäre der εἴδη sein. Sofern es also εἴδη als Bestimmungen von singulär Existierendem gibt, liegt daher die notwendige Einheit von Bestimmung und Unbestimmtem als der Grund dieser Sphäre notwendig voraus.454 Dabei wird zugleich die notwendige Ungetrenntheit von Bestimmung und Unbestimmtem inhaltlich bestimmt: Im notwendigen Sein muss das Moment, das von Bestimmung ist, notwendig als Grund bestimmt sein. Die Einheit beider ist wesentlich als Grund der Sphäre der εἴδη bestimmt. In dem zweiten Argument wird das Sein der εἴδη reflektiert. Das Argument läuft darauf hinaus, dass nicht alle Bestimmungen nur mögliche Formen sein können, sondern dass es eine Bestimmung gibt – Cramer nennt sie an dieser Stelle »Qualität« –, die not­ wendig mit dem Moment des Unbestimmten verbunden ist. Zu diesem Zweck wird nun angenommen, es wären alle Bestimmun­ gen nur εἴδη, also »nur« mögliche Bestimmungen für singulär Existierendes. In diesem Fall wären somit alle Aktualisierungen von Bestimmungen kontingent, wodurch nach Cramer folgende Schwierigkeit entstünde: Als mögliche Bestimmungen müssen die εἴδη nicht notwendig in singulär Existierendem aktualisiert sein. Die damit verbundene Vorgängigkeit der εἴδη könnte zu einer Entgegensetzung, einer Separierung der Sphäre der εἴδη und der Sphäre des Unbestimmten führen, für die die εἴδη ja nur kontingterweise bestimmend sind. Eine absolute Trennung lässt sich aber nicht denken, weil die beiden Sphären schon in der Bestimmung des Unterschiedenseins aufeinander bezogen sein müssen. Dieses Unterschiedensein kann aber selbst nicht nur eine reine Bestimmung ohne Bezug auf das Moment des Unbestimmten sein, denn dann wäre die Bestimmung des Unter­ schiedenseins nur eine mögliche Bestimmung der Sphäre des Unbestimmten, und die beiden Sphären wären gar nicht unter­ schieden. Sind sie es, dann muss die Sphäre des Unbestimmten notwendig als unterschieden bestimmt sein, und damit wäre die notwendige Ungetrenntheit von Bestimmung und Unbestimm­ tem in ihrem Unterschiedensein gesichert, denn ihre Unterschei­ dung ist nur dann möglich, wenn die Sphäre des Unbestimmten notwendig die Bestimmung des Unterschiedenseins hat, womit

2.

454

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 89.

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6.2 Cramers Kritik und seine Modifikationen der Gottesbeweise

die notwendige Einheit von Bestimmung und Unbestimmtem gegeben ist. Damit erweist sich die strikte Trennung beider Sphären als unmöglich, denn in ihrem Unterschiedensein sind beide Sphären notwendig von einem Prinzip des Unterschiedenseins bestimmt, das somit notwen­ dig die Vermittlung der Sphären leistet und damit selbst bestimmt als die absolut notwendige Beziehung von Bestimmtheit und Unbe­ stimmtem.455 Diese äußerst knappen Ausführungen werden von Cramer in seiner absoluten Reflexion ausführlich entwickelt. Cramer bringt diese Argumentationsskizze aber schon im Kontext seiner Auseinan­ dersetzung mit den traditionellen Gottesbeweisen, um zu zeigen, dass man der Stoßrichtung des ontologischen Gottesbeweises durchaus etwas Konstruktives für das Projekt der Letztbegründung abgewinnen kann. Dabei lässt sich die Struktur des Grundgedankens des ontologi­ schen Gottesbeweises wie folgt charakterisieren: »Der ontologische Beweis kann, zu Ende gedacht, nichts anderes sein als die Reflexion auf das, was schon in Anspruch genommen ist, was auch immer der Ausgang sei.«456

Damit ist es Cramers Strategie aufzuzeigen, dass es Unterschied geben muss. Das bedeutet, dass es nichts geben kann, was in sich nicht die Bestimmung des Unterschieds trägt und dass damit notwendig das Prinzip des Unterschiedenseins voraussetzt. Daher kann es für Cramer nur einen methodisch legitimen Weg zur Erkenntnis des Absoluten geben, indem nicht von speziellen oder willkürlich gesetz­ ten Prämissen ausgegangen wird, sondern indem die immer alles beherrschenden letzten Prinzipien expliziert werden: »Das Denken kommt also nicht von etwas erst zu der Einsicht in die Existenz Gottes, sondern es kann allein sich vorführen, daß es selbst schon von ihr beherrscht ist.«457

455 456 457

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 90. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 74. W. Cramer, Die Monade, 239.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten 6.3.1 Die Philosophische Deduktion im Kontext der Letztbegründung Konnten in Cramers Subjektphilosophie bislang in der geforderten apodiktischen Weise die Grundverfasstheit von Subjektivität begrün­ det und damit einhergehend diejenigen Prinzipien eruiert werden, die diese Verfasstheit bestimmen, so kann sich an dieser Stelle die Frage nach der Letztbegründung stellen, durch die diese Einsichten und Prinzipien selbst noch begründet werden sollen.458 Da das Projekt einer Letztbegründung, also das Auffinden und Erkennen von unbedingten Prinzipien, in heutiger Zeit aufgrund der Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens und der damit in Verbin­ dung gebrachten Fallibilität allen Wissens meist als obsolet oder suspekt erscheint, sollen hier nur kurz noch einige Überlegungen zur Sinnhaftigkeit eines solchen Vorhabens angeführt werden. Zu diesem Zweck soll zunächst am Beispiel der Leugnung eines absoluten Wis­ sens dargestellt werden, dass und wie dieses Wissen möglich ist.459 Die Aussage, dass es unbedingtes Wissen geben muss, lässt sich dadurch notwendig einsehen, dass ihre Leugnung einen Widerspruch erzeugt. Das bedeutet, die Aussage »Es gibt kein absolutes Wissen« muss selbst den Wahrheitsanspruch in Anspruch nehmen, den sie letztlich bestreitet, so dass sie selbstwidersprüchlich ist.460 Für diesen Zweck ist es auch zunächst nicht notwendig, eine ausgearbeitete Wahrheitstheorie zu besitzen; der Anspruch, dass der Gehalt der Aussage der Fall ist, gleichgültig ob er gedacht ist oder nicht, reicht für diesen Widerspruch und damit für das absolute Minimalwissen, dass es Wahrheit geben muss, völlig aus. Insofern ist hier Absolutheit und Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 57; W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 94. Zu einer kurzen Rekonstruktion von Cramers Anliegen und Anspruch einer Letztbegründung vgl. R. Litz, »Elemente einer Philosophie des Absoluten – Überlegungen im Anschluss an Wolfgang Cramer«, 249–257. 459 Vgl. zu den folgenden Bemerkungen D. Wandschneider »Letztbegründung unter der Bedingung endlichen Wissens. Eine Hegel’sche Perspektive«. Wandschneider dis­ kutiert hier die Möglichkeiten von Letztbegründungen im Allgemeinen und versucht darzulegen, wie in diesem Kontext Hegels »Wissenschaft der Logik« einzuordnen ist. Für diesen Kontext ist weniger der Hegelsche Bezug wichtig als die Argumente, die für die prinzipielle Möglichkeit eines Letztbegründungsprojekts sprechen. 460 Vgl. D. Wandschneider, »Letztbegründung unter der Bedingung endlichen Wis­ sens. Eine Hegel’sche Perspektive«, 355f. 458

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

endliches Wissen sinnvoll vermittelt, wie Dieter Wandschneider im Letztbegründungskontext feststellt: »Das Beispiel zeigt, dass Absolutheit und Endlichkeit des Wissens sehr wohl zusammengehen können. Dies lässt es gerechtfertigt und sinnvoll erscheinen, auch unter der für Menschen unaufhebbaren Bedingung endlichen Wissens nach absoluter Erkenntnis zu streben […]«461

Das Beispiel rechtfertigt nicht nur die Suche nach einem letztbe­ gründenden Prinzip; es lassen sich darüber hinaus auch schon die Bedingungen einer erfolgreichen Letztbegründung verdeutlichen. Es kann sich beim letztbegründenden Prinzip nicht um ein Wissen kon­ tingenter Sachverhalte handeln, also um ein absolutes Wissen in Form einer Menge kontingenter Propositionen, die eben aufgrund ihrer Kontingenz fallibel sind. Es kann sich bei einem letztbegründenden Prinzip nur um diejenige Struktur handeln, die für alles weitere Wissen schon immer vorausgesetzt werden muss. Das bedeutet, dass für letztbegründetes Wissen nur transzendentale Argumente, die die letzten Bedingungen von Argumentation selbst betreffen, relevant sein können: »In diesem Sinn lässt sich sagen: Der Argumentation liegt eine transzendentale Logik zugrunde, die als solche argumentationslogisch prinzipiell unhintergehbar ist. Und umgekehrt: Argumentationslo­ gisch unhintergehbar können nur Strukturen sein, die selbst funda­ mentale transzendentallogische Bedingungen möglicher Argumenta­ tion sind.«462

Damit ist auch schon der einzige Weg vorgezeichnet, der in der Letztbegründung sinnvoll gangbar ist: Das Wissen um unbedingte Strukturen ist nicht etwas, das zu der Form kontingenten Wissens sozusagen von außen hinzukommen kann, sondern kann allein darin bestehen, die immer schon vorhandenen transzendentallogischen Strukturen, die in einer jeden Erkenntnis implizit gegeben sind, explizit zu machen.463 Dieser Explikationsprozess muss in weiten Teilen apagogischer Natur sein, denn da es sich um die fundamentale transzendentallogische Struktur handelt, die zunächst immer nur D. Wandschneider, »Letztbegründung unter der Bedingung endlichen Wissens. Eine Hegel’sche Perspektive«, 356. 462 D. Wandschneider, »Letztbegründung unter der Bedingung endlichen Wissens. Eine Hegel’sche Perspektive«, 356f. 463 Vgl. D. Wandschneider, »Letztbegründung unter der Bedingung endlichen Wis­ sens. Eine Hegel’sche Perspektive«, 366. 461

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implizit vorhanden ist, kann ihre Notwendigkeit immer nur indirekt durch ein Scheitern ihres behaupteten Gegenteils gezeigt werden. In diesem vorgestellten Sinn versteht auch Cramer sein Projekt der Letztbegründung: Es geht darum, ein unbedingtes Prinzip zu finden, das als der Grund aller eruierten Prinzipien selbst nicht mehr von etwas anderem abhängig ist. Insofern durch diese Letztbe­ gründung ein Prinzip gefunden wird, das ebenfalls im Kontext des negativen Seinsbegriffs als nicht nur gedacht ausgewiesen werden kann, hat man es zugleich mit dem notwendigen Sein zu tun. Dieses weiter zu qualifizieren ist ebenfalls Teil der Letztbegründung, so dass diese nach Cramer eine doppelte Aufgabe besitzt.464 Demnach muss in einem ersten Schritt zunächst das letztbegründende Prinzip aufgefunden werden, bevor dann in einem zweiten Schritt gezeigt werden kann, wie dieses Prinzip die Letztbegründung in konsistenter Weise leisten kann und welche innere Struktur dieses Prinzip hierfür selbst besitzen muss. Werkgeschichtlich beginnt Cramer das Projekt der Letztbegrün­ dung in seinem Werk »Die Monade«, wobei der Schwerpunkt hier primär auf dem Auffinden des letztbegründenden Prinzips liegt, und die Entwicklung der Struktur dieses Prinzips in den Werken »Das Absolute und das Kontingente« weitergeführt wird und schließlich – in gewisser Weise methodisch radikalisiert – in der sogenannten absoluten Reflexion in den Werken »Gottesbeweise und ihre Kritik« und vor allem »Die absolute Reflexion« ihren Höhepunkt findet. Zur Klärung des Anspruchs und der Reichweite dieses Unter­ fangens ist es erforderlich, die von Cramer verwendete Methode in diesem Kontext zu untersuchen, denn von ihr hängt wesentlich die Tragfähigkeit der erarbeiteten Einsichten ab. Zunächst ist hinsichtlich des Anspruchs einer Letztbegründung klar, dass diese – sofern sie wie die Subjektphilosophie nicht hypothetisch, sondern apodiktisch sein soll – ebenfalls in Form einer »philosophischen Deduktion« durchgeführt werden muss. Auch im Kontext der Letztbegründung gilt, dass diese aus den schon dargelegten Gründen nicht als eine for­ male Deduktion durchgeführt werden kann, weil eine solche immer auf Voraussetzungen basiert, die mit einer gewissen Willkür gesetzt worden sind und die nicht mehr durch die formale Deduktion selbst thematisiert und begründet werden können. Ein solcher Versuch, eine Theorie des Absoluten in einer formalen Deduktion zu begründen, 464

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 59.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

bliebe also schon deswegen notwendigerweise hypothetisch, weil sie die Setzung der Prämissen nicht noch einmal selbst kritisch thema­ tisieren oder begründen kann. Während in der Subjektphilosophie die beherrschenden Prinzipien der Phänomene Denken – Erleben – Geist begründet worden sind, stellt sich in der Letztbegründung die Aufgabe, diese Prinzipien ihrerseits noch einmal zu thematisieren und nach einer möglichen Begründung zu fragen. Ebenso wie in der philosophischen Deduktion, die in der Sub­ jektphilosophie zur Anwendung kam, geht es in der philosophischen Deduktion der Letztbegründung nicht darum, hypothetisch andere Prinzipien in die Reflexion einzubringen, sondern das in allem immer schon implizit vorhandene und die Phänomene beherrschende Prin­ zip aufzufinden. Auch hier gelten die spezifischen Bestimmungen der philosophischen Deduktion:465 1. 2. 3. 4.

Die philosophische Deduktion als Rückgang zu den Bedingungen erschließt neue inhaltliche Bestimmungen. Das in der philosophischen Deduktion Deduzierte sind die Bedingungen des Ausgangs. Als Bedingung muss das durch die philosophische Deduktion Bestimmte selbst nicht durch den Ausgang bedingt sein, sondern kann unabhängig von ihm sein.466 Die philosophische Deduktion bringt Bestimmungen hervor, die Cramers negativem Seinsbegriff gemäß nicht nur gedacht sind.

Während in formalen Deduktionen von Voraussetzungen ausgegan­ gen wird, die willkürlich gesetzt sein können, und dann Ableitun­ gen vorgenommen werden, die dann reine Setzungen sind, führte die philosophische Deduktion in der Subjektphilosophie schon zu Bestimmungen, die eben nicht nur gedacht sein können. Diese Bestimmungen entpuppten sich als diejenigen Bedingungen, mit denen überhaupt erst das Konzept des Gedanke-Seins sinnvoll expli­ ziert werden kann. Somit gelangte die philosophische Deduktion zu kategorial Bestimmtem (z. B. im denkenden Ich als Bestimmtheits­ form) und damit zu Seiendem, das unter gewissen Prinzipien steht. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 63. Dies ist eine wichtige Konsequenz der philosophischen Deduktion, wenn es um eine Theorie des Absoluten geht, die den Mangel des kosmologischen Arguments, das Unbedingte nur unter der Bedingung des Bedingten thematisieren zu können, beseitigen will. 465

466

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6. Die Theorie des Absoluten

Die Letztbegründung als Thematisierung des Prinzips, unter dem diese Bestimmungen und die sie bestimmenden Prinzipien noch stehen, hat somit ebenfalls den Status des nicht nur Gedachten, da es um die Bedingungen geht, die für das kategorial Bestimmte notwen­ dig sind. Es wird sich zeigen, dass es auch im Kontext der Letztbe­ gründung nach Cramer möglich ist, durch die philosophische Deduk­ tion als Rückgang auf die immer schon vorausliegenden Bedingungen apodiktisch neue Inhalte zu erschließen.467 Der Status dieser Inhalte wird abschließend in einem Kapitel über die grenzbegriffliche Refle­ xion noch genauer zu bestimmen sein.

6.3.2 Die Bestimmtheit-selbst: der Letztbegründungsansatz in »Die Monade« 6.3.2.1 Motive zum Übergang von der Transzendentalontologie zur spekulativen Philosophie In »Die Monade« legt Cramer schon eine Skizze seiner Subjektphilo­ sophie vor, in der grundlegende Konzepte des Erlebens entwickelt werden. Schon dort wird das Erleben als eigener Modus entwickelt, der durch etwas bedingt ist, was nicht Erleben ist. Durch den Bezug des Erlebens auf den Organismus, der das Erleben bedingt und der sei­ nerseits wiederum in einer Wechselbeziehung zur bloßen Natur steht, stellt sich das erlebende Lebewesen als in Naturzusammenhänge eingebettet dar. Als eine Grundbestimmung, die aus diesem Konzept folgte, wurde herausgearbeitet, dass das Lebewesen somit notwendig Selbsterhaltung ist, es also schon von sich aus darauf angewiesen ist, durch Aktivität für seine Erhaltung zu sorgen. Somit gilt auch für das denkende Lebewesen, für die sogenannte Ich-Monade, dass es prinzipiell ein freies Bestimmen sein kann, das unter der Hinsicht der Selbsterhaltung nicht frei in dem Sinn ist, dass es die hierfür erforderlichen Handlungen unterlassen könnte, zumindest insofern es sich eben erhalten will. Das denkende Lebe­ wesen bleibt Bedingungen unterworfen, über die es nicht verfügen kann, jedenfalls nicht, solange es am Leben ist. Damit lässt sich das Verhältnis von Tun und Widerfahren als Grundverhältnis des Lebens charakterisieren. Damit sind alle Lebewesen in einen »Kreislauf des 467

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 64f.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Tuns«468 eingebunden, der ihnen als lebendigen Lebewesen vorgege­ ben ist. Für eine Theorie der Subjektivität kann diese Einbettung in den Kreislauf des Tuns aber nicht mehr theoretisch hergeleitet werden. Sie ergibt sich zunächst aus der Analyse der konkreten Subjektivität samt ihrem Bezug zu Organismus und Natur. Da diese Einbettung daher nicht notwendig aus dem Grundkon­ zept des Erlebens folgt, gibt es im Kontext des Lebendigseins ein kontingentes Moment, das dem Lebewesen vorgegeben ist und somit auch von einer Theorie der Subjektivität nur noch als kontingentes Faktum beschrieben werden kann.469 Diese kontingente Vorgabe bietet aber nun gerade den möglichen Anknüpfungspunkt für eine Reflexion eines mit Geist begabten Lebewesens, das über diese Ein­ bettung reflektiert. Denn mit der Thematisierung der kontingenten Einbettung stellt sich mit der Einsicht in die Unabänderlichkeit der Einbettung nun die Frage, ob diese Einbettung noch einen Grund hat oder ob sie letztlich als factum brutum einfach hinzunehmen ist. Dasselbe gilt für die Einordnung derjenigen Widerfahrnisse, die für den Erfahrenden Zufall, Glück oder Unglück bedeuten und über die der Handelnde nicht verfügen kann. Somit eröffnet die Thematisierung dieser unverfügbaren Momente nach Cramer die Möglichkeit des glaubenden Vertrauens, dass der Zusammenhang dieser Momente einen Sinn hat, der von einem letzten Grund geschaffen worden ist. Somit kann der Reflektie­ rende im Glauben diese Unverfügbarkeiten in einem Sinnhorizont deuten. Dabei ist die sinndeutende Annahme im Glauben zunächst als Glaube nicht problematisch. Erst in der Entgegensetzung des Glaubens zum Wissen wird diese Verhältnisbestimmung problemati­ siert und insofern die radikale Frage vorbereitet: Ist das im Glauben angenommene auch rational zu begründen? In Cramers Worten: „ […] daß dieser Ursprung, der die Monade ist und damit die Welt, in der die Monade ist und in der sie zur Welt kommt, selbst noch einen ganz anderen, einen letzten Ursprung hat, einen Ursprung, der unseren Sinnen, unseren Anschauungen, unserer Erfahrung ganz und gar entzogen ist, weil er nicht Vereinzelung, sondern einzig und als Einzigkeit von einzigartiger letzter Notwendigkeit ist.«470 468 469 470

W. Cramer, Die Monade, 214. Vgl. J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 186ff. W. Cramer, Die Monade, 215.

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6. Die Theorie des Absoluten

In der Frage nach der Letztbegründung geht es Cramer also um die Erörterung der Frage, ob es rationale Gründe für die Existenz eines solchen letzten Grundes gibt.471 Bevor die Suche nach einem letzten Grund durchgeführt wird, diskutiert Cramer vier mögliche Einwände gegen ein solches Projekt. Durch diese kritische Diskussion soll geklärt werden, ob die radikale Frage nach dem letzten Grund überhaupt sinnvoll gestellt werden kann.

6.3.2.2 Die Diskussion möglicher Zweifelsgründe Die logische Struktur der letzten Frage Jede Frage steht notwendig in einem Spannungsverhältnis von Bekanntem und Unbekanntem. Sie kann sich nicht auf ein radikal Unbestimmtes beziehen, denn dann könnte kein Kriterium angege­ ben werden, ob eine mögliche Antwort überhaupt Bezug zu dem in der Frage thematisierten Inhalt hat. Die einzig sinnvolle Möglichkeit besteht darin anzunehmen, dass in einer Frage etwas Unbekanntes thematisiert wird, das aber schon in einem bestimmten Zusammen­ hang steht. Insofern würde jede Frage etwas »relativ Bestimmtes«472 voraussetzen, das nur in einer bestimmten Perspektive fraglich ist. Diese polare Struktur von Bekanntem und Unbekanntem, die in jeder sinnvollen Frage vorausgesetzt werden muss, könnte wiederum zu einem Einwand gegen die radikale Frage werden: Wenn jede Frage notwendig in dieser polaren Struktur steht, dann setzt man damit voraus, dass sie immer auch in einem schon bestimmten Zusammen­ hang steht. Dann könnte die letzte Frage gar nicht in dem Sinn radikal sein, dass sie alles in Frage stellt. Die logische Struktur von Fragen überhaupt würde scheinbar ihre Möglichkeit negieren. Nun ist aber die in diesem möglichen Einwand zu Recht in Anschlag gebrachte polare Struktur einer jeglichen Frage genau die Voraussetzung der Möglichkeit der letzten Frage: Gerade weil jede Frage immer schon in einem polaren Kontext von Unbekanntem und Bekanntem steht, lässt sich überhaupt nur nach dem relativ Unbe­ kannten fragen, wobei damit das Unbekannte eben in verschiedener Hinsicht fraglich sein kann. 471 472

Vgl. J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 189. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 216.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Ebenso ist es auch bei der letzten Frage, wenn in ihr die Mög­ lichkeit einer rationalen Rekonstruktion der letzten Bedingungen überhaupt thematisiert werden soll. In diesem Fall ist sie eine spezi­ elle Form der philosophischen Deduktion. Wie gezeigt, geht eine philosophische Deduktion zu den Bedingungen eines Phänomens zurück, die das Phänomen implizit immer schon beherrschen. Eine philosophische Deduktion fragt also immer nach den implizit schon vorhandenen Bedingungen eines Phänomens und möchte diese apo­ diktisch explizieren, wobei neue Inhalte erschlossen werden. In diesem Sinne fragt die letzte Frage nach den letzten Bedingun­ gen, unter denen jeglicher Ausgangskontext immer schon steht.473 Damit ist natürlich noch nicht gesagt, dass es diese Bedingungen gibt und wie diese inhaltlich bestimmt sein müssen. Mit der Diskus­ sion dieses Einwandes ist lediglich gezeigt, dass die letzte Frage als kritische Thematisierung der letzten Bedingungen nicht aufgrund der logischen Struktur einer Frage unmöglich ist. Die Descartessche Gewissheit des denkenden Subjekts Ebenso wie bei Descartes führte auch bei Cramer das Gedankenex­ periment des radikalen Zweifels zu der Gewissheit des Seins des denkenden Subjekts. Aus dieser Gewissheit könnte aber wiederum im Kontext der letzten Frage ein Einwand entstehen: Wenn die Selbst­ gewissheit des Denkers dem radikalen Zweifel des methodischen Skeptizismus eine Grenze setzt, dann könnte in der Selbstgewissheit auch eine Begrenzung der letzten Frage gesehen werden: Bestünde nicht die Möglichkeit, dass schon in der Selbstgewissheit des Den­ kers jener Grund gefunden wurde, der durch die letzte Frage erst thematisiert werden sollte?474 Dass dies nicht der Fall ist, lässt sich daran sehen, dass in der Selbstgewissheit des Denkers das Sein des Denkens dem Anspruch des negativen Seinsbegriffs gemäß als etwas beansprucht ist, das nicht nur gedacht ist. Dieser objektive Anspruch – das Sein des Denkens ist, ob es gedacht ist oder nicht – zeigt, dass das Denken als Bestimmtheitsform auch unabhängig von dem konkreten Denkakt zu thematisieren ist, der zu der Selbstgewissheit führt. Anders formuliert: Denken als Zusammenhang steht noch einmal unter Bedingungen, die nicht in der Verfügbarkeit des indivi­ 473 474

Vgl. W. Cramer, Die Monade, 220. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 223.

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6. Die Theorie des Absoluten

duellen Denkers liegen und die somit in der letzten Frage thematisiert werden können. Unwegdenkbarkeit als reiner Bezug zum Denken Insofern der letzte Grund der Grund von allem sein soll und so etwas vom Denken Unabhängiges darstellen soll, weil er nicht nur gedacht ist, ist auch die Qualität der Unbezweifelbarkeit für seine Charakterisierung nicht ausreichend, denn diese könnte sich ja auf etwas beziehen, das nur für ein denkendes Subjekt ist, also letztlich nur gedacht sein könnte.475 Soll der letzte Grund aber der notwendige Grund von allem sein, so wird der Anspruch erhoben, dass seine Existenz nicht mehr in Frage gestellt werden kann und insofern mehr als nur unbezweifelbar sein muss, da Unbezweifelbarkeit sich auch nur auf den Gewissheitszustand des denkenden Subjekts bezieht. Eine solche Qualität charakterisiert Cramer als »unwegdenkbar«. Hier könnte der Einwand entstehen, dass das »Unwegdenkbare« ebenso wie das »Unbezweifelbare« aber unter der Bedingung des Denkens steht, also auch nur als etwas Gedachtes aufzufassen wäre. Dieser Einwand übersieht aber die Struktur des Denkens, die schon in der Selbsterkenntnis innerhalb des Gedankenexperiments des radikalen Zweifels herausgearbeitet wurde: Durch die Analyse des GedankeSeins entpuppte sich das konkrete Denken als seine notwendige, seine unwegdenkbare Bedingung, womit gerade gezeigt wurde, dass das Denken ist, gleichgültig ob es im Gedanken »Denken« gedacht wird oder nicht. Somit wird im Denken etwas als unwegdenkbar erfasst, was nicht nur gedacht ist. Die Unmöglichkeit der Erkenntnis des letzten Grundes Es könnte zudem eingewendet werden, dass die Suche nach einem letzten Grund unsere endliche Erkenntnis überschreitet. Wie kann das endliche Erkenntnissubjekt das Unbedingte als letzten Grund erkennen?476 Diesem Einwand ist dadurch zu begegnen, dass er auf­ grund seiner eigenen Voraussetzungen entkräftet werden kann: Die Behauptung einer Grenze unserer Erkenntnis kann nur meinen, dass 475 476

Vgl. W. Cramer, Die Monade, 224. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 227.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

diese notwendig begrenzt ist. Die Notwendigkeit kann aber nur dann behauptet werden, wenn es für sie Gründe gibt. Durch die Gründe ist aber die Grenze schon positiv bestimmt und aus diesem Grund auch überschritten, denn die Begrenzung würde durch ihre Notwendigkeit und die dafür anzuführenden Gründe selbst wieder unter einer sie noch bestimmenden Bedingung stehen. Somit würde die letzte Frage gerade in der Diskussion dieser letzten Bedingung wieder ins Recht gesetzt. Auch hier gilt, dass damit die letzte Frage noch nicht positiv beantwortet ist; es ist zunächst nur ihre Möglichkeit durch die Expli­ kation der Voraussetzung des Einwandes begründet worden. Alle vier vorgetragenen Einwände erweisen somit nicht die Unmöglichkeit der letzten Frage, sondern bekräftigen aufgrund ihrer Struktur sogar noch ausdrücklich das Projekt der Suche nach einem letzten Prinzip.

6.3.2.3 Die Beantwortung der letzten Frage: Die Bestimmtheit-selbst als letztbegründendes Prinzip Die Frage nach dem letzten Grund muss auch immer die Frage nach einem Prinzip, nach einem Bestimmungszusammenhang sein. Würde der letzte Grund nur als Entität bestimmt, stünde diese aber notwendig durch seine Bestimmung wieder in einem Bestim­ mungszusammenhang. Wenn der letzte Grund nicht selbst auch noch dieser Bestimmungszusammenhang wäre, dann wäre er in diesem Bestimmungsverhältnis von etwas anderem abhängig, das sich damit als der eigentliche letzte Grund erweisen würde. Somit kann das Projekt einer Letztbegründung nur dann gelingen, wenn der letzte Grund auch noch Grund seiner Bestimmtheit und damit ein letztes Prinzip ist. Wie ist nun bei der Behandlung der letzten Frage vorzugehen? Da das Ergebnis dieser Reflexion nicht hypothetisch, sondern apodiktisch sein soll, muss aufgezeigt werden, dass der letzte Grund das alles beherrschende Prinzip ist. Dieses wäre dann im oben beschriebenen Sinn unwegdenkbar und damit als notwendiges Sein bestimmt. Um ein solches Prinzip aufzufinden, geht Cramer nun, ausgehend von dem negativen Seinsbegriff, demzufolge das denkende Subjekt und sein Einbettungszusammenhang als nicht nur gedacht ausgewiesen wurden, verschiedene Instanzen durch, die wegdenkbar sind und damit als kontingent ausgewiesen werden. Die Argumentation im Kontext der Letztbegründung muss also apagogisch sein, denn nur

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6. Die Theorie des Absoluten

wenn ausgewiesen werden kann, dass nicht alles wegdenkbar ist, kann die Argumentation Erfolg haben. Im Zuge dieser Erörterung wird also erprobt, ob alles wegdenk­ bar (und damit kontingent ist) oder ob sich etwas findet, das schlech­ terdings nicht wegdenkbar und somit als absolut notwendig seiend bestimmt werden kann. Cramer beginnt mit dem denkenden Subjekt, denn die Erörterung des zweiten Zweifelsgrundes hinsichtlich der letzten Frage hat schon gezeigt, dass die Selbstgewissheit des Denkers, der das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels durchführt, zwar unbezweifelbar ist, dass aber die Existenz dieses Denkers kontingent ist: Sofern er denkt, kann er nicht nicht sein, aber diese Einsicht verbürgt natürlich nicht seine notwendige Existenz. Somit kann das denkende Subjekt samt allen seinen Leistungen wie z. B. Urteile, Sätze oder Begriffe nicht das letztbegründende Prinzip sein.477 Der nächste Schritt besteht in einer Radikalisierung dieses Vor­ gehens, indem man nun auch den das Subjekt einbettenden Ord­ nungszusammenhang »Welt« wegdenkt. Dies ist insofern eine Radi­ kalisierung, als mit der »Welt« als Inbegriff dessen, was ist, tatsächlich alles weggedacht wird: Subjekte, Dinge, Zusammenhänge usw. Diese Radikalisierung mündet nun bei Cramer in einer Annahme, die sich in dem Satz »es sei Nichts« ausdrücken lässt.478 Diese Formu­ lierung könnte den Verdacht aufkommen lassen, dass Cramer die Negationspartikel »nicht« in unzulässiger Weise substantiviere und somit die Existenz des Nichts behaupte oder zumindest für möglich halte. In diesem Falle würde er für seine Überlegungen hinsichtlich der letzten Frage von einer Behauptung Gebrauch machen, gegen die gute Gründe angeführt werden können. Es lässt sich nämlich geltend machen, dass es sich bei der Substantivierung des »nicht« um einen grammatisch ungerechtfertigten Gebrauch handele, der zu einer sinnlosen Aussage führe.479 Wie noch zu zeigen sein wird, möchte Cramer gerade nicht die Existenz oder die Möglichkeit des Nichts behaupten, sondern aufzei­ gen, dass selbst in einer solchen Behauptung ein notwendiges Prinzip in Anspruch genommen werden müsste, das die behauptete Annahme konterkariert. Wie ist das zu verstehen? Nach Cramer soll in dem Satz »es sei Nichts« der Wahrheitsanspruch der Negation der positiven Existenzbehauptung »es gibt etwas« eigens expliziert werden: 477 478 479

Vgl. W. Cramer, Die Monade, 228. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 228. Vgl. J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 195.

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»Dieser Anspruch ist mit Cramer dahingehend zu explizieren, daß der Gedanke, es gebe nichts, nicht nur ein Gedanke ist, sondern etwas meint, das unabhängig von seinem Gedachtsein Bestand haben soll. Dies bezeichnet Cramer nun als das Sein des Nichts bzw. des Ausschlusses von Allem.«480

Was in dem Satz »es sei Nichts« also ausgedrückt werden soll, ist der Anspruch, dass es die Möglichkeit eines »Zustandes« gibt, in dem alles Bestimmte weggedacht ist, in dem es somit nichts Bestimmtes gibt.481 Dieser Anspruch behauptet, dass dieser Zustand nicht nur ein gedachter ist, sondern dass dieser Zustand ein tatsächlich mögli­ cher ist.482 Somit erhebt der Satz »es sei Nichts« den Anspruch, dass in ihm nicht nur etwas Gedachtes behauptet wird, sondern der Gehalt auch unabhängig von seinem Status als Gedachtes eben einen Bestand haben soll, womit eben gesagt würde, dass es möglich sei, dass etwas absolut Unbestimmtes und insofern Nichts sei. Bestritte man die Möglichkeit dieses Nichts, dann würde implizit wieder ein notwendi­ ges Prinzip vorausgesetzt, das die Unmöglichkeit des Nichts garantie­ ren müsste. Wäre dieses Prinzip selbst wieder kontingent, könnte es die Unmöglichkeit des Nichts eben nicht notwendig garantieren. Könnte gezeigt werden, dass es sich bei der Annahme des Nichts nicht um eine konsistente Möglichkeit handelt, dann wäre gleichzeitig gezeigt, dass es ein notwendiges Sein geben müsste. Die Suche nach dem letzten Grund sieht sich also in dem Satz »es sei Nichts« mit der größtmöglichen Herausforderung konfrontiert. Nur wenn diese notwendig widerlegt werden kann, wäre gleichzeitig der Aufweis eines letzten notwendigen Grundes erbracht. Es ist gerade der Clou der Cramerschen Argumentation, dass sich zwangsläufig zeigt, dass dieser Anspruch des Nichts nicht bestehen kann. Im Rahmen der letz­ ten Frage muss es also um die Widerlegung dieses Anspruchs gehen: »Da diese Widerlegung zum Aufweis des letzten Grundes führen soll, muß es die Pointe dieser Widerlegung sein, daß dasjenige Argument,

J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 195. Vgl. für dieses Gedankenexperiment, dass es ein Nichts als Nicht-Bestimmtes geben könne auch vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 95; W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 26f.; W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 50. 482 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 230. 480 481

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6. Die Theorie des Absoluten

aus dem die Widerlegung begründet wird, auch dasjenige Argument ist, das zu der Einsicht führt, daß es einen letzten Grund gibt.«483

Cramer analysiert nun die Voraussetzungen der Möglichkeit des Satzes »es sei Nichts«. Der erste Schritt besteht nun darin, eine grundlegende Bedingung alles Seienden gemäß der Methode der philosophischen Deduktion zu explizieren, dass nämlich, was auch immer »sei«, immer schon in sich bestimmt sein muss. Wäre dies nicht der Fall, könnte die Instanz, um die es geht, überhaupt nicht von anderen Instanzen abgegrenzt werden. Schon ihre Möglichkeit setzt als Möglichkeit eine gewisse Bestimmtheit in sich voraus, sonst könnte sie überhaupt nicht als solche thematisiert werden. Insofern es also etwas gibt – sei dies ein existierender Gegenstand, eine prin­ zipielle Bedingung, ein Gedanke oder auch nur eine Denkmöglichkeit – ist dieses notwendig in sich bestimmt. Insbesondere gilt dies für etwas, das dem negativen Seinsbegriff gemäß den Anspruch erhebt, nicht nur gedacht zu sein, denn dieses muss notwendigerweise auch in sich bestimmt sein. Ein Nichtbestimmtes wäre nicht nur nicht gegen Anderes abgrenzbar, es wäre zugleich auch noch von der Bestimmung »nicht bestimmt zu sein«. Dieser Analyse folgt nun ein weiterer Schritt, der aus der Vielheit des Bestimmten nun der philosophischen Deduktion gemäß ein »Rückschritt in die Bedingungen der Möglichkeit« bedeutet. Denn wenn alles, was ist, notwendigerweise bestimmt ist – und dies wird ja bis in die Extremposition in der Thematisierung des Nichts deutlich –, dann bedeutet das, dass alles in einem notwendigen Bestimmungs­ zusammenhang steht, also unter einem notwendigen Prinzip stehen muss. Cramer nennt dieses Prinzip die Bestimmtheit-selbst. In ihr ist ein notwendiges und letztes Prinzip gefunden, das selbst nicht mehr bedingt sein kann, da auch die Bedingungen wiederum etwas Bestimmtes wären und somit selbst wiederum von dem Prinzip der Bestimmtheit-selbst beherrscht wären: »Es ist vollkommen gleichgültig, was da Bestimmtes ist, ob Gedanken, Begriffe, Urteile, Sätze, das Denken, die Monade, Dinge, Objekte, die Welt, das Nichts, kein Bestimmtes, von dem Prinzip der Bestimmtheit ist alles beherrscht. Weil das Prinzip der Bestimmtheit alles beherrscht, natürlich auch das Sein des Denkens, natürlich auch das Sein des Nichts oder des X, ist das Prinzip der Bestimmtheit, die Bestimmtheit-selbst, 483

J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 195.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

absolut unwegdenkbar. Absolut unwegdenkbar aber heißt natürlich hier, sie ist das absolut Notwendige, ganz gleichgültig, ob da Denken ist, das ihre Notwendigkeit einsieht.«484

Wie oben in der Erörterung des dritten Zweifelgrundes hinsichtlich der letzten Frage bereits ausgeführt, ist also das Prinzip der Bestimmt­ heit nicht nur unbezweifelbar, sondern auch unwegdenkbar, was bedeutet, dass es als notwendig seiend und damit als notwendig unab­ hängig von seiner Beziehung auf das Denken bestimmt worden ist.485 Somit lässt sich der Argumentationsgang folgendermaßen rekonstru­ ieren:486 1. 2. 3. 4. 5.

Alles, was ist, ist in sich bestimmt. Damit steht alles Bestimmte unter dem Prinzip der Bestimmt­ heit, ist von ihm also beherrscht. Das Prinzip der Bestimmtheit ist unwegdenkbar und damit als absolut notwendig bestimmt. Das unwegdenkbare Prinzip der Bestimmtheit ist die Bestimmt­ heit-selbst, die damit die absolute Bedingung ist und daher auch der Grund von Allem sein muss. Die Bestimmtheit-selbst ist aus diesem Grund das notwendiger­ weise nicht nur gedachte absolute Sein oder das Absolute.

Die Kürze und die Dichte der Argumentation Cramers in der Beant­ wortung der letzten Frage in »Die Monade« erfordern einige Erläu­ terungen. Daher sollen im Folgenden zunächst noch einmal das zentrale Konzept des Prinzips und der Begriff der Bestimmtheit-selbst erläutert werden.487 Anschließend wird dargelegt, warum die von Cramer vorgelegten Strukturcharaktere, mit denen die innere Struktur der Bestimmtheitselbst charakterisiert werden soll, zwar in eine richtige Richtung gehen, insofern sie die Eigenschaften zu fassen versuchen, die sich durch die Einzigartigkeit des Prinzips der Bestimmtheit ergeben, aber in »Die Monade« zunächst nur thetisch behauptet werden und noch nicht aus der Struktur des Absoluten entwickelt worden sind. Dies hat Cramer freilich selbst gesehen und die hierfür erforderliche W. Cramer, Die Monade, 230. Vgl. J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 192. 486 Vgl. J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 196. 487 Auf diesen Erläuterungen beruht dann auch im letzten Kapitel die kritische Diskussion der Kritik, die an Cramers Argumentation geübt worden ist. 484

485

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6. Die Theorie des Absoluten

Theorie des Absoluten schrittweise u.a. in »Das Absolute und das Kontingente« und dann abermals noch einmal radikaler in »Die absolute Reflexion« entfaltet.

6.3.2.4 Das Prinzip der Bestimmtheit-selbst Es lässt sich anhand der vorgebrachten Kritik an der oben ausge­ führten Argumentation Cramers zeigen, dass sowohl die Begrün­ dungsstruktur als auch das Verhältnis von Prinzip und Prinzipiatum bei Cramer die Hauptquellen für Missverständnisse darstellen. Eine genauere Analyse dieses Verhältnisses wird nicht nur die Argumen­ tation Cramers stärken, sie wird auch die Basis sein zu zeigen, dass die geäußerte Kritik die Cramersche Argumentation nicht trifft. Aus diesem Grund ist hier näher auf wesentliche Begründungsschritte und Konzepte einzugehen. Wie bereits in der Subjektphilosophie eingeführt, versteht Cramer unter Prinzip den notwendigen Bestim­ mungszusammenhang, in den ein Seiendes von einer bestimmten Art eingebettet ist: »Alles, was ist (in welchem Sinne immer), ist auf eine gewisse Weise, ist bestimmt in einem gewissen Modus von Zusammenhang. So sind räumlich-zeitliche Realitäten in räumlich-zeitlichem Zusammenhange mit anderen solchen Realitäten bestimmt. Seiendes ist Seiendes von einer bestimmten Artung, solches. Es hat notwendige Bestimmungen, dadurch es ein so Geartetes ist. Diese notwendigen Bestimmungen sind das Sein des Seienden.«488

Das Sein als Bestimmtheit eines nicht nur Gedachten und in diesem Sinne Seienden ist für Cramer das Prinzip, das den Bestimmungszu­ sammenhang bestimmt. Innerhalb der Subjektphilosophie hat sich herausgestellt, dass Erleben nicht auf etwas zurückgeführt werden kann, was nicht Erleben ist. Aus diesem Grund ist es als eigener Modus aufzufassen, der durch sein eigenes Prinzip bestimmt ist. Da Erleben aber durch etwas bedingt ist, was nicht Erleben ist (Organis­ mus), stellte sich Erleben sowohl als Prinzip als auch als Moment eines Zusammenhanges dar. Der Organismus seinerseits steht auch in Wechselwirkung mit der bloßen Natur, die nicht unter dem Prinzip des Erlebens steht. Durch die transzendentalphilosophische Analyse des Bewusstseins ergaben sich so schon notwendig verschiedene 488

W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 32f.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Zusammenhänge (beispielsweise »Erleben« oder »Natur«), die von verschiedenen Prinzipien bestimmt werden. Dabei ist hinsichtlich des Status dieser Prinzipien zu beachten, dass es sich hierbei nicht um reine Denkprinzipien handelt, sondern um Prinzipien, die dem nega­ tiven Seinsbegriff gemäß etwas bestimmen, was nicht nur gedacht ist, und sie deshalb auch selbst diesen Status besitzen müssen. Das denkende Subjekt entpuppte sich im Zuge der Kritik an Kants Konzeption des transzendentalen Subjekts und bezugnehmend auf das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als konkrete Subjektivität, die eben nicht nur gedacht ist und unter bestimmten Prinzipien steht, die für sie in ihrer Eigenart bestimmend sind. Als Bedingungen von konkreter (und damit in einen Naturzusammen­ hang eingebetteter) Subjektivität konnten diese Prinzipien somit als etwas bestimmt werden, das durch eine philosophische Deduktion notwendig hinsichtlich seiner Existenz als unabhängig von seiner Beziehung auf das Denken bestimmt werden konnte.489 Insofern in der letzten Frage nach einem letzten Prinzip gefragt ist, das allen anderen Bestimmungen zugrunde liegt, machen die vorherigen Ausführungen deutlich, dass es sich hierbei ebenfalls nicht um etwas bloß Gedachtes handeln kann, sondern dass gerade diejenigen Bestimmungen thematisiert werden, die noch für alle anderen Bestimmungen konstitutiv sind.490 In diesem Sinn wird in dem Prinzip der Bestimmtheit nun eine Qualität thematisiert, die allem Seienden zukommen muss, unabhängig davon, in welchen spe­ zifischen Zusammenhängen es steht. Um überhaupt als spezifische Zusammenhänge klassifiziert werden zu können, müssen diese schon von der Bestimmtheitsform des Bestimmtseins sein. Insofern mit dem Prinzip der Bestimmtheit die Bestimmtheits­ form des Bestimmtseins und ihre Bedingung thematisiert wird, liegt der entscheidende Argumentationsschritt der Begründung des letzten Prinzips im Übergang von Punkt 1 »Alles, was ist, ist in sich bestimmt« zu Punkt 2 »Alles Bestimmte steht unter dem Prinzip der Bestimmt­ heit«. Für diesen Zweck wird durch einen apagogischen Gedanken­ gang gezeigt, dass alles, was den Anspruch erhebt, unabhängig vom Denken einen Bestand zu haben (also nicht nur gedacht zu sein), notwendig bestimmt sein muss. Sogar für den Extremfall, in dem 489 490

Vgl. J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 192. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 95.

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6. Die Theorie des Absoluten

alles negiert werden soll (»es sei Nichts«), zeigt sich, dass selbst der Anspruch dieses »Nichts«, dass es sich von dem Bestimmten als Unbestimmtes absetzt, schon immer bestimmt sein muss und somit immer schon notwendig unter dem Prinzip der Bestimmtheit steht. Dies ist deswegen der Fall, weil das Prinzip der Bestimmtheit besagt, dass jegliches in sich bestimmt sein muss, und dies auch unabhängig von seinem Gedachtsein. Dass alles in sich bestimmt sein muss und daher von dem Prinzip der Bestimmtheit beherrscht sein muss, sieht man eben an der apagogischen Argumentation, in der mit der Aussage »es sei Nichts« angenommen wird, es gebe etwas, das sich der Bestimmtheit entziehen könnte. Der in diesem Gedanken behauptete Anspruch entpuppt sich als unhaltbar, weil es schon durch seine Unterscheidung vom Bestimmten unterschieden und daher selbst bestimmt sein muss. Damit ist dem Prinzip der Bestimmtheit nicht zu entgehen. Dadurch wird das Prinzip der Bestimmtheit auch die Bedingung der Wahrheit eines Gedankens, denn der Gedanke kann nur dann wahr sein, wenn die in ihm gefasste Bestimmung auch die Bestimmung eines in sich bestimmten Seienden ist. Dies gilt eben auch im Falle der Thematisierung des Nichts: »Darin ist denn auch Cramers These begründet, daß die Annahme ›Es sei Nichts‹ ›absurd‹ ist. Absurd ist sie, weil gerade in dem Anspruch, daß die Annahme, es gebe nichts, wahr sei, das Prinzip der An-sichBestimmtheit vorausgesetzt ist.«491

Damit ist dem Prinzip der Bestimmtheit nicht zu entkommen, weil es für jeglichen Ist-Anspruch, dass etwas in sich bestimmt sein müsse, unabhängig, ob es gedacht ist oder nicht – eben auch in der größtmöglichen Negation in Form des »Nichts« – schon in Anspruch genommen werden muss. Dabei ist zu beachten, dass in der Diskussion um das Prinzip der Bestimmtheit nicht die einzelnen Bestimmten im Blickpunkt der Argumentation stehen, sondern die ihnen zukommende Qualität, an sich bestimmt zu sein.492 Damit ist sie nicht eine Qualität neben ande­ ren, die den bestimmten Dingen zugesprochen wird, sie ist vielmehr die letzte und universale Bedingung dafür, dass den Dingen durch ihr

491 492

J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 201. Vgl. J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 200.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Bestimmtsein an sich »deskriptive Bestimmungen mit Anspruch auf Wahrheit zu- oder abgesprochen werden können.«493 Im Auffinden des Prinzips der Bestimmtheit handelt es sich um eine philosophische Deduktion, denn in ihr wird die Bedingung der Bestimmtheitsform des Bestimmtseins jeglicher Seiender als abso­ lut notwendige Bestimmtheitsform thematisiert und benannt. Die Bedingung dieser Bestimmtheitsform muss nun ein letzter Bestim­ mungszusammenhang und damit ein letztes Prinzip sein, nicht nur weil jedes Seiende bestimmt ist, sondern (aufgezeigt durch die apa­ gogische Thematisierung des »Nichts«) weil jedes mögliche Seiende notwendig bestimmt sein muss. Damit steht alles notwendig in einem Bestimmungszusammenhang, der nicht mehr hintergehbar ist. Die so vorgetragene Argumentation kann Cramer zufolge Got­ tesbeweis genannt werden.494 Auch wenn Cramer seine eigene Argu­ mentation »Gottesbeweis« nennt, weist er selbst darauf hin, dass es sich in diesem Kontext um eine philosophische Thematisierung des Absoluten handelt, das nicht ohne weiteres mit einem religiösen Gotteskonzept gleichzusetzen ist, das eine kontingente und perspek­ tivische Konkretisierung des Absoluten darstellt.495 Zudem ist zu beachten, dass sich Cramers Argumentation argu­ mentationslogisch wesentlich von den traditionellen Gottesbeweisen unterscheidet, die von ihrer Struktur her Beweise aus Voraussetzun­ gen sind und damit Schlüsse darstellen. Diese Struktur, aus gemach­ ten Voraussetzungen zu beweisen, ist nach Cramer die Grundschwä­ che aller Gottesbeweise. Im Gegensatz dazu setzt die Argumentation, die zum Prinzip der Bestimmtheit führt, eben keine gemachten und damit willkürlich gesetzten Bedingungen voraus, sondern expliziert als besondere philosophische Deduktion die letzten Bedingungen überhaupt, die gar nicht nur gesetzt sein können, sondern implizit in jedem Bestimmten immer schon vorliegen. Mit dem Aufweis, dass alles, sogar das vermeintlich nicht Bestimmte – das »Nichts« – immer schon bestimmt sein muss, erweist sich das Prinzip der Bestimmtheit als der Rückgang zu der absoluten Bedingung, ohne hypothetisch gesetzte Annahmen in Anspruch zu nehmen. Umgekehrt kann gerade gezeigt werden, dass auch noch willkürlich gesetzte Annahmen – bis hin zum »Nichts« – auch noch unter dem Prinzip der Bestimmtheit stehen müssen: 493 494 495

J. Stolzenberg, »Die Bestimmtheit-selbst«, 200. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 238. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 280.

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6. Die Theorie des Absoluten

»Ist Nichts als Ausschluß von Allem bestimmt, dann ist es nicht Nichts. Ist das Nichts durch sich selbst bestimmt, dann ist es nicht Nichts; denn dann hat es Struktur. Es ist alles über das Nichts gesagt, radikal alles, wenn man sagt: es ist allein möglich, »Nichts« zu sagen. [...] Also ist dieses Prinzip oder die Bestimmtheit-selbst keine Voraussetzung, son­ dern geht durchgreifend, radikal durchgreifend voraus.«496

Genau aus diesem Grund setzt sich Cramers Argumentation von den klassischen Gottesbeweisen, zumindest von der Form, in der sie rezipiert worden sind, ab: Während der kosmologische Beweis von Kontingentem und damit von gewissen Bestimmungen (Ursache) ausgeht, geht der ontologische Beweis von einem Begriff Gottes aus, um seine Existenz zu beweisen. In beiden Formen des Beweises besteht die Schwäche darin, von etwas Gesetztem auszugehen, das erst dann zu dem Absoluten führen soll. Insofern haben beide Beweise Ähnlichkeit mit einer formalen Deduktion.497 In Cramers Argumen­ tation werden im Gegensatz dazu keine Annahmen vorausgesetzt, sondern es wird gezeigt, dass alles bestimmt sein muss und dass das Prinzip der Bestimmtheit schon immer die letzte und notwendige Bedingung des Bestimmten ist: »Das Denken kommt also nicht von etwas erst zu der Einsicht in die Existenz Gottes, sondern es kann allein sich vorführen, daß es selbst schon von ihr beherrscht ist.«498

Diese Struktur des Prinzips der Bestimmtheit verleiht der Cramer­ schen Argumentation ihre große Stärke, denn dadurch, dass alles notwendig von dem Prinzip der Bestimmtheit beherrscht ist, muss auch eine mögliche Kritik das Prinzip wieder voraussetzen. Denn das in ihr Behauptete ist selbst bestimmt und untersteht damit wiederum notwendig dem Prinzip der Bestimmtheit, das sich dadurch als letztbestimmendes Prinzip erweist.

6.3.2.5 Die Strukturcharaktere des Absoluten Eine Letztbegründung muss nach Cramer immer in zwei Schritten erfolgen: Zum einen muss das letztbegründende Prinzip aufgefunden werden, zum anderen muss die Struktur, die innere Bestimmtheit 496 497 498

W. Cramer, Die Monade, 239. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 61f. W. Cramer, Die Monade, 239.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

dieses Prinzips entwickelt werden.499 Dies muss schon deswegen der Fall sein, weil das letztbegründende Prinzip einen Selbstbezug impliziert, wenn es nicht von etwas Anderem außer ihm abhängig sein soll und damit gar nicht letztbegründend wäre. Auch in seinem ersten Letztbegründungsversuch in »Die Monade« hat Cramer schon versucht, eine Charakterisierung der inneren Struktur des Absoluten vorzulegen, indem er sechs Struk­ turmerkmale nennt, die das Absolute charakterisieren sollen. Dabei werden diese Strukturmerkmale nicht notwendig aus dem Prinzip der Bestimmtheit entwickelt, sondern eher assoziativ mit diesem in Verbindung gebracht bzw. thetisch behauptet. Dies liegt wohl auch an der damaligen Auffassung Cramers, dass das in dem Prinzip der Bestimmtheit implizite Sichbestimmen des Absoluten von einer solchen Einzigartigkeit und damit Andersheit ist, dass man die innere Struktur durch endliches Denken gar nicht in dem Maße notwendig weiterentwickeln kann.500 Im Folgenden werden die Strukturmerk­ male kurz genannt und anschließend gezeigt, warum über ihre theti­ sche Behauptung hinauszugehen ist.501 1.

2.

3.

Die Bestimmtheit-selbst ist Koinzidenz von Essenz und Existenz. Als notwendiges Sein fallen in der Bestimmtheit-selbst nach Cramer Essenz und Existenz zusammen. Denn als letztbegrün­ dendes Prinzip ist das notwendige Sein und gleichzeitig ist dadurch seine Essenz als Letztbegründendes notwendig mitge­ geben.502 Die Bestimmtheit-selbst ist Beziehung auf sich. Als letztbegrün­ dendes Prinzip beherrscht es alles, also auch sich selbst. Somit ist es notwendig Bezug auf sich und damit Grund und Gegründe­ tes zugleich.503 Die Bestimmtheit-selbst ist selbst ein Begreifen durch sich selbst. Da die Bestimmtheit-selbst der Zusammenhang von Grund und Gegründetem ist, ist es in diesem Zusammenhang ein Beziehen,

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 59. Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, (Nachwort) 97. Diese Haltung ändert sich dann aber ab dem Werk »Das Absolute und das Kontingente«, in der apagogisch versucht wird, noch Minimalbestimmungen des Absoluten zu begrün­ den. 501 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 237f. 502 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 237. 503 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 237. 499

500

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ein Zeugen, das sich selbst ist und das nur von sich abhängt. Da die Bestimmtheit-selbst sich selbst als das bestimmt, was sie schon immer ist, ist dieses Zeugen als Denken zu bestimmen.504 Die Bestimmtheit-selbst ist alles beherrschend. Da die Bestimmt­ heit-selbst alles beherrscht, beherrscht sie auch alles, was sie nicht ist (Kontingentes). Insofern ist alles Kontingente relativ zur Bestimmtheit-selbst und könnte auch nicht sein.505 Die Bestimmtheit-selbst ist das alles beherrschende Prinzip und deshalb als Prinzip einzig. Die Monade ist vereinzeltes Prinzip und deshalb vielfach in der Welt möglich. Die Welt ist zwar als Prinzip der Möglichkeit der Vereinzelung einzig, ist aber nicht alles beherrschend, weil auch sie durch das Prinzip der Bestimmtheit-selbst noch beherrscht ist, ebenso wie die Monade und alles Seiende. Aus diesem Grund ist die Bestimmtheit-selbst in einem einzigartigen Sinn einzig.506 Das notwendige Sein ist Ruhen in sich, Koinzidenz von Denken und Gedachtem: Während das endliche Subjekt etwas Wahres denken kann, ist das notwendige Sein die Instanz, in der Den­ ken und Gedachtes notwendig zusammenfallen. Damit ist das notwendige Sein die Wahrheit.507

4.

5.

6.

Schon die Kürze der Ausführungen und das eher assoziative Ver­ binden einiger Eigenschaften in der Charakterisierung der inneren Struktur machen deutlich, dass die Schlussfolgerungen nicht als systematische Herleitungen aus der Struktur der Bestimmtheit-selbst gelten können, sondern eher als thetische Charakterisierungen gel­ ten müssen.508 Wie bereits angedeutet, ist dieser reflexionslogische Mangel bei Cramer zum Anlass zu einer erweiterten Theorie des Absoluten geworden. Bevor diese weiteren Entwicklungen dargestellt werden, soll noch eine weitere Bestimmung des Absoluten kurz erörtert werden, die sich später als ein wichtiges Leitmotiv innerhalb der Theorie des Absoluten herausstellen wird. Es ist die Frage nach dem Verhältnis des Absoluten zum Kontingenten. Nach dem bisher Gesagten ist klar, dass das Prinzip der Bestimmtheit alles Bestimmte bestimmt. Das 504 505 506 507 508

Vgl. W. Cramer, Die Monade, 237. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 238. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 238. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 243. Vgl. F. Wagner, Religion und Gottesgedanke, 195f.

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bedeutet, dass es sowohl sich selbst als das Absolute als auch dasjenige bestimmt, was nicht das Absolute ist. Hieran schließt sich nun die Frage nach dem Verhältnis des Absoluten zum Kontingenten an. Wäre das Kontingente notwendig aus dem Absoluten, dann wäre durch diese Notwendigkeit auch das Absolute durch das Kontingente als notwendige Ursache bestimmt, die die Welt eben notwendig hervorbringt. Damit wäre das Absolute selbst durch das bestimmt, was es hervorbringt. Der Aufweis der Letztheit des Prinzips der Bestimmtheit verbietet aber eine solche Möglichkeit nach Cramer. Denn die Bestimmtheit-selbst kann als letztes Prinzip nur durch sich selbst bestimmt sein.509 Daher kann die Welt nicht notwendige Folge des Absoluten, sondern nur freie Folge, Schöpfung sein.510 Diese Bestimmung der Welt als freie Schöpfung des Absoluten bildet die letzte Bestimmung im Kontext der Charakterisierung des Absoluten und schließt diese ab. Wie schon angedeutet wurde, ergeben sich durch diese thetische Charakterisierung aber Folgeprobleme, die Cramer auch in der wei­ teren Entwicklung seiner Theorie des Absoluten gesehen hat und mit einer konzeptionellen Weiterentwicklung beheben wollte. Dabei kristallisieren sich zunächst – noch vor der absoluten Reflexion – zwei wesentliche Aufgaben heraus: Zum einen scheint die Struktur des letztbegründenden Prinzips als Grund und Begründetes, als Einheit von Essenz und Existenz Gefahr zu laufen, zirkulär zu sein. Zumin­ dest bedarf diese Struktur einer näheren Erläuterung.511 Zum anderen bleibt aber in der Behauptung, dass die Bestimmt­ heit-selbst als freier Grund des Kontingenten sei, ungeklärt, wie dieses freie Anderssein durch das Konzept des Absoluten begründet werden kann.512 Beide Punkte führen in »Das Absolute und das Kontingente« zu einer erweiterten Konzeption des Absoluten, die genau diese Punkte klären soll.

Vgl. W. Cramer, Die Monade, 243. Vgl. W. Cramer, Die Monade, 244. 511 Vgl. F. Wagner »Theo-logie«, 233. Dasselbe Bedenken hat schon H. Kuhn in seiner Besprechung von »Die Monade« geäußert. Vgl. H. Kuhn, »Besprechung von: W. Cramer, Die Monade,“, 222. 512 Vgl. F. Wagner »Theo-logie«, 233. 509

510

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6.3.3 Das erweiterte Konzept des Absoluten in »Das Absolute und das Kontingente« In »Das Absolute und das Kontingente« wird nicht nur an dem Zweischritt des Letztbegründungsversuchs festgehalten, es wird auch von Cramer der Versuch unternommen, die innere Struktur des Absoluten aus dem Prinzip der Bestimmtheit abzuleiten und diese Struktur als Basis für eine Verhältnisbestimmung von Absolutem und Kontingentem auszuweisen. Wie in »Die Monade« steht am Anfang der Letztbegründung der Aufweis des Prinzips der Bestimmtheit als des letztbegründenden Prinzips. Der zweite Schritt, die Bestimmung der inneren Struktur des Absoluten, muss zwar nun im Kontext des Prinzips der Bestimmtheitselbst hergeleitet und nicht nur thetisch behauptet werden; allerdings ist für diese Reflexion zunächst die Verhältnisbestimmung von Abso­ lutem und Kontingentem konstitutiv. Es wird sich später zeigen, dass im Ergebnis zwar eine differenzierte Struktur des Absoluten gefun­ den worden ist, mit welcher die geforderten Vermittlungen geleistet werden können. Allerdings hat das Ausgehen dieser Reflexion von dem Verhältnis des Absoluten zum Kontingenten den Nachteil, dass die Entwicklung der inneren Struktur des Absoluten im Zusammen­ hang des Kontingenten von etwas abhängt, was nicht das Absolute ist.513 Cramer hat versucht, diesen reflexionslogischen Mangel in der »absoluten Reflexion« zu beheben, wie später noch gezeigt werden wird. Zunächst ist hier aber zurückzukommen zum zweiten Schritt der Letztbegründung in »Das Absolute und das Kontingente«. Ausgangspunkt ist hier zunächst die Besonderheit des Prinzips der Bestimmtheit, dass es als letztbegründendes Prinzip alles, und somit auch das kontingente Seiende, beherrscht.514 Ungeklärt ist aber das Verhältnis des Kontingenten zum Absoluten in dem Sinn, dass hier prinzipiell mindestens zwei Modi möglich sind: 1.

Das Kontingente könnte notwendige Folge des Absoluten sein und wäre damit letztlich genauso notwendig wie das Absolute, womit auch gesagt wäre, dass das Absolute seinerseits noch durch das Kontingente als sein notwendiges Moment bestimmt sein müsste. Insofern würden die einzelnen kontingent Seienden

513 Vgl. dazu auch F. Wagner, »Vernunft ist die Bedingung der Offenbarung. Zur theologischen Bedeutung von Wolfgang Cramers Theorie des Absoluten«, 110f. 514 Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 67.

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2.

entstehen und vergehen, das Entstehen und Vergehen der kon­ kreten einzelnen Seienden wäre aber selbst notwendig. Das Kontingente könnte die freie Schöpfung des Absoluten sein, es wäre damit nicht ein notwendiges Moment des Absoluten, sondern das Andere des Absoluten, das auch nicht hätte sein kön­ nen.

Es ist klar, dass die Bestimmung dieses Verhältnisses auch wesentli­ chen Einfluss auf das Konzept der inneren Struktur des Absoluten hat, denn im zweiten Fall muss es das Moment der Freiheit im Absoluten geben, das es ihm ermöglicht, das Kontingente in einer freien Hand­ lung zu schaffen. Zu fragen wäre dann, wie das Absolute strukturiert sein muss, wenn es so etwas wie »wirkliches« Kontingentes gibt, dessen Nichtsein auch möglich gewesen wäre. Zu diesem Zweck spielt Cramer nun zunächst den ersten Modus durch und versucht zu zeigen, dass dieser Ansatz unbefriedigend ist. In einem ersten Versuch, den ersten Modus theoretisch zu durch­ denken, steht sozusagen als mögliche Motivation für diesen Modus die Annahme, dass das Absolute als das alles beherrschende Prinzip nicht von dem Beherrschten losgelöst werden kann. Demnach wäre es sinnlos, das Prinzip und das Prinzipiatum auseinanderzureißen.515 Diese Position charakterisiert nach Cramer dementsprechend das Verhältnis von Absolutem und Kontingentem als ursprüngliche Kor­ relation, wobei diese Charakterisierung den gemeinten Sachverhalt nicht trifft. Denn wenn diese Korrelation eine notwendige ist, dann handelt es sich hierbei um eine Einheit, die sich in zwei Momente differenziert und die zugleich ein Prinzip für diese Differenzierung sein müsste.516 In diesem Fall der Verhältnisbestimmung der Bestimmtheitselbst und des Bestimmten (als eines »Viel« des Kontingenten517) hieße dies, dass die Bestimmtheit nicht nur als ein Moment die­ ses Verhältnisses zu nehmen wäre, sondern auch als Prinzip der Differenzierung. Weil das Bestimmte aber Folge der notwendigen Differenzierung wäre, wäre es zugleich ein notwendiges Moment der Einheit und damit gleichursprünglich. Damit wäre alles, auch die einzelnen Seienden, Momente des Absoluten. 515 516 517

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 68. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 69. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 83f.

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Diese Annahme führt aber nach Cramer zu theoretischen Schwierigkeiten: Denn es wäre in diesem Fall von dem Prinzip zu fordern, dass aus ihm ersichtlich wird, warum es sich zu dem Viel des Kontingenten bestimmt. Zudem müsste gefragt werden, ob dieses Viel numerisch durch das Prinzip festgelegt ist. Beides kann aber nach Cramer durch das Prinzip nicht geleistet werden, da aus ihm nicht hergeleitet werden kann, dass es das Kontingente notwendig hervorbringt und in welcher Anzahl dies zu geschehen hat. Denn gesteht man zu, dass die Anzahl variabel ist und nicht durch das bestimmende Prinzip festgelegt wird, dann gibt es keinen offensicht­ lichen Grund, warum die Anzahl des Kontingenten nicht auch auf null reduziert werden kann, womit die Notwendigkeit seiner Schaffung wieder aufgehoben wäre.518 Auch eine andere mögliche Version dieser Art von Korrelations­ ansatz ist nach Cramer auszuschließen: Setzte man das Prinzip der Bestimmtheit gegen das Prinzip der Unbestimmtheit und hält diese Korrelation für eine ursprüngliche, dann übersieht man nach Cramer, dass die Unbestimmtheit als Negation der Bestimmtheit schon von dieser beherrscht ist, womit eben nicht ein rein korrelatives, sondern ein asymmetrisches Verhältnis angenommen werden muss, in dem das Prinzip der Bestimmtheit das beherrschende Prinzip ist. Wie gleich dargelegt wird, ist diese Interpretation des Verhältnisses der Momente Bestimmtheit und Unbestimmtheit ein vielversprechender Ansatz, sofern er eben nicht als reine Korrelation bestimmt wird.519 Wenn also diese »pantheistische« Version der Verhältnisbestim­ mung von Absolutem und Kontingentem, vor allem in der Annahme einer ursprünglichen Korrelation beider Instanzen, sich mit prinzi­ piellen Schwierigkeiten konfrontiert sieht, muss nun nach einem Konzept des Absoluten gesucht werden, das das Kontingente eben nicht als notwendiges Moment des Absoluten, sondern als Folge eines freien Schaffens begreift. Dazu ist nun zunächst wieder vom Prinzip der Bestimmtheit auszugehen und zu versuchen, die innere Struktur so zu entwickeln, dass aus ihr das Kontingente als freie Folge verstanden werden kann. Dies entspricht der Zweistufigkeit der Letztbegründung, der zufolge zunächst das letzte Prinzip gefunden werden muss, um anschließend die Letztbegründung aus der Verfasst­ 518 Zu einer ausführlicheren Kritik dieser Position siehe auch W. Cramer, Die absolute Reflexion, 230–241. 519 Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 74.

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heit des Prinzips herzuleiten, was auch eine genaue Bestimmung des Verhältnisses zum Kontingenten impliziert.520 Die Aufgabe besteht nun also darin, das Prinzip der Bestimmt­ heit (»S«) so zu fassen, dass das Kontingente nicht als notwendiges Moment des Absoluten, sondern als das Andere des Absoluten (»non S«) bestimmt werden kann, das nur Mögliches ist. Daraus folgt, dass »S« ein Können sein muss, wodurch nicht »non S« im Absoluten ist, aber doch die Möglichkeit von »non S«. Mit der Möglichkeit von »non S«, also der Möglichkeit des Anderen des Absoluten, muss aber die mögliche Negation des Absoluten im Absoluten selbst sein. Wie ist nun diese Überlegung mit dem Prinzip der Bestimmtheit so in Verbindung zu bringen, dass sich beide Momente als Resultat der Entfaltung von »S« verstehen lassen? Zunächst ist zu diesem Zweck die Selbstbezüglichkeit von »S« genauer zu explizieren, die ja schon in den formalen Bestimmungen des Absoluten hergelei­ tet worden ist. Die Bestimmtheit selbst als das Absolute muss in einem Selbstverhältnis stehen, weil es anderenfalls wieder von etwas abhängig wäre, das nicht es selbst ist, womit gerade seine Letztheit aufgehoben würde.521 Deshalb kann die Bestimmtheit-selbst als Prinzip der Bestimmt­ heit im Letztbegründungskontext nur ein Sichbestimmen sein, so dass aufgrund ihres Selbstbezugs gefordert werden muss, dass sie sich notwendig selbst bestimmt. Da sich das Absolute nicht erst zum Absoluten machen kann, sondern diese Qualität immer schon voraus­ gesetzt werden muss, kann diese Selbstbestimmung nur ein denke­ risches Sichbestimmen sein: Das Absolute bestimmt sich diejenige Qualität, von der es immer schon ist, wodurch dieses Sichbestimmen eben als Denken des Absoluten aufzufassen ist. Das Absolute ist daher als Geist zu qualifizieren. Strukturell bedeutet dies nach Cramer, dass sich die Bestimmtheit-selbst in ihrem Sichbestimmen immer schon in die bestimmende Bestimmtheit und bestimmte Bestimmtheit dif­ ferenziert haben muss.522 Wie ist dieses Verhältnis genau zu denken? Als bestimmende Bestimmtheit ist die Bestimmtheit-selbst ein Prinzip, das sich not­ wendig selbst bestimmt. Das bedeutet, dass sich die Bestimmt­ heit-selbst im Akt des Sichbestimmens als Prinzip »bestimmende 520 521 522

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 59. Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 1. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 76.

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Bestimmtheit« ist, die sich bestimmt und in diesem Sichbestim­ men differenziert: Die Bestimmtheit als »bestimmte Bestimmtheit« (»Sm«) ist ein Moment der Bestimmtheit, das sich mit diesem Bestimmen zum Unbestimmten (»Non S(m)«) absetzt. Warum muss sich die Bestimmtheit als »bestimmte Bestimmtheit« von der Unbe­ stimmtheit absetzen? Dies wird verständlich, wenn man sich das von Cramer entwi­ ckelte Grundverhältnis von Seiendem und Bestimmung vor Augen führt: In der Subjektphilosophie wurde an dem Ich-Gedanken gezeigt, dass der konkrete Denker anhand der Analyse des Gedanke-seins sich als konkrete Individualisierung einer allgemeinen Form (»Den­ ken«) verstehen muss. Damit ist das denkende Subjekt das Para­ digma von Seiendem überhaupt: Konkret Seiendes ist immer eine konkrete Realisierung einer bestimmten Bestimmungsform. Damit ist aber gesagt, dass ein konkretes Seiendes nie in einer allgemeinen Bestimmungsform aufgeht, denn dadurch wäre sein Konkretsein eben nicht erschöpft. Zum Moment der gedachten allgemeinen Form muss auch das unsetzbare Moment des Seins als nicht nur Gedachtes hinzutreten, damit es das konkrete, einzelne Seiende sein kann. Damit ist ein konkretes Einzelding immer die Einheit zweier Momente:523 Ein Moment ist die Bestimmtheitsform (seine Bestimmung, die angibt, welcher Art das Seiende ist), das andere Moment ist dasjenige seinshafte Moment, das nicht in Bestimmungen aufzulösen und notwendig ist, damit ein konkretes Seiendes von einer Bestimmung sein kann. Insofern ist dieses zweite Moment gegen das Moment der Bestimmung gesetzt, aber immer noch von dem Prinzip der Bestimmtheit beherrscht, weil es eben von der Bestimmung ist, nicht nur Bestimmung zu sein.524 Wenn also mit der Suche nach einem letzten Prinzip die Bestimmtheit-selbst als solches aufgefunden worden ist, dann muss sie als Prinzip der Bestimmtheit eben auch sich bestimmen, was gleichzeitig bedeutet, dass auch das Prinzip der Bestimmtheit diffe­ renziert ist in das Moment der »Bestimmung« (im vorliegenden Fall: »bestimmte Bestimmtheit«) und das Moment, das von einer Bestimmung ist. Weil dieses Moment des Absoluten – nicht das Vgl. dazu W. Cramer, »Das Absolute«, 6f. Cramer hat diese Konzeption ausführlicher in »Gottesbeweise und ihre Kritik« und »Die absolute Reflexion« entwickelt. 523

524

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Absolute selbst – das Gegenmoment der Bestimmung und insofern »unbestimmt« ist, nennt Cramer es auch das »Nichts« innerhalb dieses Bestimmungskontextes:525 »Daher ist die uralte Zweiheit von Form und Materie, von bestim­ mendem Prinzip und bestimmbaren Prinzip, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, eine letzte Wahrheit. Nur sind die beiden Prinzipien nicht derart zwei, daß eines und das andere wäre, sondern sie sind schon in Einem. Sie sind als Gegensätze Momente des Einen. Das Nichts ist die Materie, die materia prima. Nun ist das Nichts nur Moment, weshalb es sich erübrigt, vom Nichts als Moment zu sprechen. Aber das Sein ist Prinzip und Moment.«526

Damit stellt sich das Prinzip der Bestimmtheit als differenzierte Einheit der Momente »Sein« und »Nichts« dar, wobei beide Momente noch von dem Prinzip beherrscht werden. Somit ist die Bestimmtheit (als Positivität, als Sein) Prinzip und Moment zugleich. Während ihr als Moment »bestimmte Bestimmtheit« (»Sm«) das Moment des Nichts (Unbestimmtheit; »NonS(m)«) entgegengesetzt ist, beherrscht das Prinzip der Bestimmtheit als bestimmende Bestimmt­ heit beide Momente, da eben die Unbestimmtheit nur als Negation der Bestimmtheit verstanden werden kann und somit von dieser als Prinzip abhängig ist. Das Nichts als Moment (die Unbestimmt­ heit) wird noch von dem Prinzip der Bestimmtheit als Positivi­ tät beherrscht. Diese differenzierte Einheit charakterisiert Cramer wie folgt: »Vielmehr ist das Eine, indem es sich durch das sichnegierende Sichbe­ stimmen in den Gegensatz von Sein und Nichts differenziert hat, sich hervorgetreten und in Ruhe bei sich.«527

Insofern die Bestimmtheit-selbst eben das notwendige Sein ist, ist es auch in seiner inneren Struktur notwendig, und darum ist es notwendig immer schon in dieser Struktur und insofern ein Ruhen, das eine Spannung von Positivität und Negation, von Sein und Nichts beinhaltet. Eine Spannung ist dieses Verhältnis deshalb, weil das Unbestimmte zugleich auch das Bestimmbare ist. Da aber die Bestimmtheit als Prinzip beide Momente und damit auch das Nichts Dadurch setzt sich dieses »Nichts« von dem radikalen Nichts ab, denn jenes ist nur innerhalb eines Bestimmungskontextes das Gegenmoment der Bestimmung. 526 W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 77. 527 W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 79. 525

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noch beherrscht, besteht also die Möglichkeit für die Bestimmtheit als Prinzip, das Unbestimmte in seiner Eigenschaft des Noch-nichtBestimmtseins weiter zu bestimmen. Damit ist diese Spannung zugleich auch ein Können für die Bestimmtheit-selbst. Die Bestimmt­ heit-selbst hat also die Möglichkeit, das Unbestimmte weiter zu bestimmen, und zwar in einem Sinn, der nicht mehr ihr eigenes Sein betrifft. Diese Möglichkeit ist die Schaffung des Kontingenten: »Das Moment des Seins muß sich in das Nichts hinein differenzieren können. Diese Differenzierung ist nicht die der Momente Sein und Nichts, die das Nichts unberührt läßt, sondern Differenzierung des Nichts selbst. Für diese Differenzierung des Seins in das Nichts hinein ist nun das Nichts selbst noch ein Prinzip geworden, das nur bestimm­ bare Prinzip (die Materie). Es wird gesagt: das Moment des Seins kann sich in das bestimmbare Feld des Nichts differenzieren. Diese zweite Differenzierung ist nicht für das Absolute konstitutiv. Das Absolute ist nicht notwendig Bewegung, sondern nur notwendig mögliche Bewegung. Das Absolute ist die Möglichkeit, seine Spannung zu entspannen.«528

Als ein Können ist im Absoluten damit das Moment der Freiheit kon­ stitutiv, wodurch die Schaffung des Kontingenten als freie und nicht notwendige Folge des Absoluten zu begreifen ist. Damit gibt es zwei Differenzierungen im Kontext des Absoluten: Während die erste die notwendige Selbstdifferenzierung des Absoluten in seine Momente Sein und Nichts darstellt und damit das Sein des Absoluten betrifft, ist die zweite Differenzierung in der Schaffung des Kontingenten eine mögliche, weitere Differenzierung, die nicht die innere Verfasstheit des Absoluten betrifft. Allerdings impliziert das Können des Absoluten schon eine gewisse Art des Zeitbezugs. Denn wenn die Möglichkeit der Schaf­ fung des Kontingenten realisiert wird, ist diese Realisierung nur durch einen Zeitbezug des Absoluten möglich, indem das Absolute sich zu dieser zweiten Differenzierung bestimmt. Dieses Bestimmen-zu kann aber nicht zeitlos gedacht werden, da sonst der Übergang zur Schaffung des Kontingenten nicht verstanden werden könnte.529 Es muss also schon eine Art zeitliche Dimension vorausgesetzt werden, die zwei Modi hat: Während die erste Differenzierung nach Cramer ein Ruhen ist, das aber schon die Möglichkeit zum Übergang zur 528 529

Das Absolute und das Kontingente, 79. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 80.

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zweiten Differenzierung in sich trägt und damit auch schon das Moment des Werdens und somit auch der Zeit in sich hat, ist die zweite Differenzierung ein Schaffen, in dem auch der Zeitmodus der endlichen Zeit geschaffen wird. Mit dieser Konzeption des Absoluten in »Das Absolute und das Kontingente« gelingt es Cramer, die Struktur des Prinzips der Bestimmtheit im Vergleich zu der Konzeption in »Die Monade« syste­ matisch weiterzuentwickeln und seinen Bezug zum Kontingenten als freie Folge des Absoluten als Möglichkeit im Kontext seiner inneren Bestimmtheit zu begreifen. Allerdings weist auch diese Weiterent­ wicklung einige Besonderheiten auf: I. Die Reflexion über die innere Struktur des Absoluten hängt von der Struktur des Kontingenten als freier Folge ab.530 Erst von dieser Voraussetzung aus wird gefragt, wie dann die innere Verfasstheit des Absoluten konzipiert sein muss, wenn das kon­ tingente Sein als nicht notwendiges Moment des Absoluten aufgefasst wird.531 II. Die Struktur des Absoluten als des letztbegründenden Grun­ des, der sich selbst begründet, birgt die Gefahr in sich, dass das Verhältnis von Grund und Begründetem in dem Absoluten letzt­ lich ein korrelatives Verhältnis ist, das in einen Zirkel mündet. III. Cramer spricht dem Absoluten zwar schon einen zeitlichen Bezug zu, da anderenfalls das Sichbestimmen-zu hinsichtlich der Schaffung des Kontingenten nicht mehr zu begreifen wäre. Allerdings bleiben die Aspekte der Ruhe und der tatsächlichen Zeit eher assoziativ aufeinander bezogen. Cramer hat vor allem die ersten beiden Punkte gesehen und seit den frühen 1960er Jahren versucht, diese reflexionslogischen Mängel durch eine Radikalisierung der methodischen Voraussetzungen, die in der sogenannten absoluten Reflexion mündeten, zu beheben.

Vgl. für diese Problematik in Cramers Konzeption des Absoluten in »Das Absolute und das Kontingente« vgl. auch F. Wagner, Religion und Gottesgedanke, 205f. 531 Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 76.

530

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6.3.4 Das Absolute in »Die absolute Reflexion« Die Letztbegründung in »Das Absolute und das Kontingente« ging für die Qualifizierung der Struktur des Absoluten vom Endlichen aus: Wie muss die Struktur des Absoluten gedacht werden, wenn es das Kontingente gibt? Das Resultat dieser Reflexion war eine Konzeption des Absoluten, in der dem Absoluten zwei Momente zugesprochen worden sind. Neben dem alles beherrschenden Moment des Seins stellte sich angesichts des faktischen Vorhandenseins des kontingen­ ten Daseins das Nichts als notwendiges Moment des Absoluten heraus. So stringent dieser Gedankengang auch sein mag, letztlich ist jedoch als Mangel festzuhalten, dass mit dem Moment des Nichts als des Unbestimmten und somit des Noch-nicht-Bestimmten ein Moment in die Reflexion über das Absolute hereingebracht worden ist, das nicht aus der Struktur des Absoluten selbst entwickelt wurde, sondern aufgrund des Endlichen und der Reflexion auf seine Mög­ lichkeitsbedingungen gewonnen worden ist. Damit kommt diese Reflexion – wie oben gezeigt worden ist – zwar über die Letztbegrün­ dungsversuche der Tradition hinaus, aber sie bleibt in der Charakteri­ sierung des Absoluten vom Endlichen aus von etwas abhängig, das gewissermaßen von »außen« in die Reflexion eingegangen ist.532 Mag dieser Argumentationsgang im Ergebnis auch richtig sein: Der reflexionslogische Mangel, die Momente des Absoluten nicht aus sich heraus zu begreifen, führte Cramer zu dem Versuch, eine Bestim­ mung des Absoluten zu entwickeln, die absolut voraussetzungslos ist und die er daher »die absolute Reflexion« genannt hat.533 Dabei ist absolute Voraussetzungslosigkeit – wie weiter unten noch ausführlicher zu entwickeln ist – nicht so zu verstehen, dass diese Reflexion überhaupt keine Voraussetzungen macht (auf der Ebene der Genese); vielmehr muss sie so entwickelt werden, dass sie keine besonderen geltungstheoretischen Voraussetzungen macht, die einfach hypothetisch gesetzt sind: »Daß die absolute Reflexion voraussetzungslos sein muß, sagt, daß es für sie gleichgültig sein muß, wovon sie ausgeht, und daß diese Gleichgültigkeit in ihren Ausgang mit hineingenommen werden muß. Vgl. F. Wagner, Theo-logie, 238. Eine kurze systematische Rekonstruktion des Gedankengangs der absoluten Reflexion, wie sie in »Gottesbeweise und ihre Kritik« von Cramer vorgelegt wurde, bietet F. Wagner, Religion und Gottesgedanke, 205–212. 532

533

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Sie enthält sich also jeder besonderen Qualifikation und jeden beson­ deren Unterschiedes.«534

Damit ist es das für die absolute Reflexion spezifische Charakteristi­ kum, dass sie nicht eine Reflexion »auf« das Absolute ist in dem Sinne, dass das Absolute einfach vorausgesetzt oder das Absolute gewissermaßen von »außen« charakterisiert oder etwas als absolut gesetzt wird. Sie kann also prinzipiell nicht von etwas in irgendeiner Weise willkürlich Vorausgesetztem als Prämisse ausgehen, sondern muss aufzeigen, dass sich ihr Inhalt notwendig aus einer apagogischen Argumentation ergibt, dass also eine Alternative zu dem in ihr Behaupteten nicht sinnvollerweise behauptet werden kann. Somit ergibt sich die Möglichkeit, dass wichtige Eckpunkte der absoluten Reflexion schon in der kritischen Auseinandersetzung mit wichtigen Positionen der Philosophiegeschichte gewonnen werden können. Diese Überlegungen hatten Einfluss auf Cramers ursprüngliche Kon­ zeption der absoluten Reflexion, die als eine Werkreihe von fünf Bänden angelegt worden war, wie er in dem ersten Band dieser Reihe mit dem Titel »Spinozas Philosophie des Absoluten« ankündigt. Dort heißt es, dass nach diesem ersten Band, in dem eine kritische Ausein­ andersetzung mit Spinoza geboten wird, die bestimmte Einsichten für das Projekt einer Philosophie des Absoluten hervorgebracht hat, vier weitere Bände erscheinen sollten: »Gottesbeweise und ihre Kritik«, »Das transzendentale Subjekt«, »Die absolute Reflexion in der Phi­ losophie des Deutschen Idealismus« und »Die absolute Reflexion«. 1967 erschien der Band »Gottesbeweise und ihre Kritik«, in dem nicht nur eine kritische Diskussion der traditionellen Gottesbeweise enthalten ist; in ihm wird auch auf wenigen Seiten schon eine Skizze des wesentlichen Gedankenganges der absoluten Reflexion geliefert, die Cramer als das Zentrum des Buches bezeichnet.535 Die weiteren geplanten Bände erschienen nicht mehr zu Cramers Lebzeiten. In seinem 2012 erschienen Nachlass sind Texte enthalten, die ursprünglich für Band 3 und Band 5 gedacht waren. Während also eine intensive Auseinandersetzung mit der absoluten Reflexion in der Philosophie des Deutschen Idealismus ausblieb, sind die Texte, die im Nachlass aufgefunden und im Nachlassband veröffentlicht worden sind, hauptsächlich als Entfaltung der Subjektphilosophie und 534 535

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 204. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 85.

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6. Die Theorie des Absoluten

der an diese anschließenden Durchführung der absoluten Reflexion zu verstehen.536 Die in der absoluten Reflexion beanspruchte Voraussetzungs­ losigkeit ist letztlich schon in der philosophischen Deduktion als Methode der Cramerschen Philosophie angelegt, die auch für die absolute Reflexion Geltung behält. Demnach soll Philosophie in der philosophischen Deduktion gerade nicht aus willkürlich gesetzten Prämissen eine Schlussfolgerung ableiten, sondern die unhintergeh­ baren Voraussetzungen eines Phänomens explizieren. So ist auch am Paradebeispiel der Analyse des Denkens nicht von etwas auszu­ gehen, das an das Denken durch irgendeine willkürliche oder äußer­ liche Reflexion herangetragen würde. Wenn Denken Bestimmen ist, das durch Gedanken vollzogen wird, dann sind die notwendigen Bedingungen der Gedanken durch eine philosophische Deduktion gewissermaßen von dem konkreten Phänomen der Gedanken »rück­ zuerschließen«, wodurch das konkrete Denken als nicht nur gedacht ausgewiesen wird. Das bedeutet, es sollen und können solche Inhalte durch die philosophische Deduktion thematisiert und erschlossen werden, die immer schon implizit für das Ausgangsphänomen konsti­ tutiv sind. Ebenso verhält es sich mit der absoluten Reflexion als besondere Form der philosophischen Deduktion: Sie muss als besonderer Form der Letztbegründung aufgefasst werden, in der die letzten Bedingun­ gen des transzendentalontologisch erschlossenen Subjekts in seinem Weltbezug expliziert werden. Und eben hier muss nach Cramer – wie bei jeder anderen philosophischen Deduktion – auf willkürlich gesetzte Prämissen geltungstheoretisch verzichtet werden.537 Wenn dem aber so ist, wie ist dann der Anfang der absoluten Reflexion zu machen? Dieser kann unter der Vorgabe der Voraus­ setzungslosigkeit nur so gemacht werden, dass nicht etwas positiv 536 Vgl. K. Cramer, »Vorbemerkungen des Herausgebers«, in: W. Cramer, Die abso­ lute Reflexion, 11. 537 Im Kontext der Letztbegründung ist dies schon in »Die Monade« eine leitende Maxime, die – wie dargelegt worden ist – durch eine Kritik der klassischen Gottesbe­ weise und ihrer strukturellen Schwächen als Beweise aus gesetzten Voraussetzungen motiviert ist. Allerdings gilt dies zunächst bis »Das Absolute und das Kontingente« nur für den Hinweg zum Absoluten. Die Charakterisierung seiner inneren Verfasstheit – als der zweite Schritt der Letztbegründung – ist bis zu diesem Werk noch aus der Struktur des Absoluten unbegriffen und hängt von der Konzeption des Kontingenten als freie Folge des Absoluten ab.

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als apodiktisch gegeben, sondern zunächst als problematisch gesetzt ist. Erst wenn auf diese Art etwas aufgezeigt wird, was sich als »unwegdenkbar«538 und deshalb als absolut notwendig für jede Art der Bestimmtheit herausstellt, ist etwas gefunden, das als einziger »Gegenstand« der absoluten Reflexion in Frage kommen kann. Dabei wird ihr dieser Gegenstand nicht extern gegeben, sondern der Gegen­ stand muss sich unter der Voraussetzung der Voraussetzungslosigkeit – eben im oben dargelegten Sinne, dass sie von bestimmten will­ kürlichen inhaltlichen Voraussetzungen absehen muss – entwickelt werden. In diesem Sinne beginnt die absolute Reflexion mit einem Durchdenken der prinzipiellen Begrenztheit und Unbegrenztheit unseres Denkens. Gibt es fundamentale Prinzipien, die unser Denken in dem Sinne begrenzen, dass sie dieses notwendig beherrschen und nicht wegzudenken sind? Dabei könnte hier das Missverständnis entstehen, dass sich diese Prinzipien eben nur auf Gedachtes, nicht aber auf Seiendes beziehen. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass eine solche Restriktion einem Rückfall hinter schon erarbeitete Einsichten gleichkäme: Sowohl die kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie als auch die Durchführung des Gedankenexperiments des radikalen Zweifels führen beide zu einem minimal bestimmten Seinsbegriff und einer minimalen Bestimmung des Subjekts. Diesem muss aufgrund der notwendigen Unterscheidung von Gedanken und Denken ein Sein zugesprochen werden, denn es ist nicht nur gedacht. In diesem Gedankenexperiment transzendiert sich also das Selbstbewusstsein zum Sein, indem es in dem Gedanken »Ich« etwas denkt, dessen Realität auch unabhängig von der Thematisierung des Ich-Gedankens gegeben sein muss, die also auch ist, gleichgültig ob »Ich« gedacht wird oder nicht.539 Denn als Ursprung des Gedankens ist das mit dem Gedanken »Ich« Bezeichnete, das Gedanken hervorbringende Sub­ jekt, auch dann, wenn es nicht eigens in einer Reflexion des Denkens auf seine eigenen Bedingungen hin gedacht wird. Da Denken immer auch Denken des Denkens (also mögliches Selbstbewusstsein) sein können muss, also nicht nur die Bestimmungen von Dingen, sondern Es ist in diesem Kontext noch einmal zu betonen, dass mit »unwegdenkbar« nicht ein Prinzip gemeint sein kann, das gewissermaßen »unbezweifelbar, aber nur gedacht« ist. Durch den Nachweis der Verschränkung von Denken und Sein im Gedankenexperiment des radikalen Zweifels bezieht sich ein solches Prinzip auf Konkretes und Konkret-sein-Könnendes. 539 Vgl. z. B. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 110. 538

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auch seine eigenen Bestimmungen denken können muss, muss es deshalb auch damit notwendig immer den Ursprung des Denkens im Ich-Gedanken selbst thematisieren und sich damit explizit als Selbstbewusstsein bzw. Geist bestimmen können. In der Struktur des Geistes als Denken des Denkens zeigt sich nun ein doppelter Verweis auf etwas, das nicht nur gedacht sein kann: 1.

2.

Im Gedankenexperiment des radikalen Zweifels erkennt das denkende Subjekt, dass es ein konkretes einzelnes Subjekt ist. Dies liegt an der unbezweifelbaren Erkenntnis, dass das zwei­ felnde Subjekt nicht nichts sein kann, sondern etwas ist. In der konkreten Durchführung des radikalen Zweifels kann nicht etwa ein abstrakter Verstand, sondern nur ein mit Verstand begabtes einzelnes Subjekt zur Gewissheit seiner Existenz gelangen. Inso­ fern dieses sich aber nicht selbst verdankt, sich nicht selbst in die Existenz gesetzt hat, ist es auf eine Ordnung, einen es transzendierenden Zusammenhang angewiesen, der dieses Subjekt als vereinzeltes konkretes Denken übersteigt. Somit weiß sich das Subjekt schon durch das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als individuelles und vereinzeltes Denken und ist somit Singuläres von einer bestimmten Bestimmung (Geist). Eben weil es Einzelnes ist, das von einer bestimmten Form ist, und weil es selbst nicht über die Bedingungen seiner Verfasstheit verfügt, sondern diese notwendig vorfindet, weiß es sich zudem in eine Ordnung integriert, die diese Vereinzelung erst ermöglicht. Das Denken bestimmt aber auch – wie oben schon ausgeführt worden ist – den Einbettungszusammenhang des Erlebens als nicht nur gedacht. Insofern sich das Denken nicht mit seiner eigenen Struktur beschäftigt, bezieht es sich auf Erleben, indem es etwas bestimmt, was ihm durch Anschauung gegeben ist. Wie gezeigt worden ist, beinhaltet aber Erleben seinerseits ein Moment, das Nicht-Erleben ist, denn die konkrete Inhaltlichkeit des Erlebten kann nicht auf Erleben im Sinne einer rein subjekti­ ven Produktionsleistung zurückgeführt werden. Zwar kann sich das Lebewesen durch Aktionen Wahrnehmungen verschaffen; jede konkrete Wahrnehmung beinhaltet aber auch Momente, die nicht in der Willkür des wahrnehmenden Subjekts liegen. Es ergab sich eine differenzierte Einheit: Erleben ist Erleben unter der Bedingung einer Instanz, die Nicht-Erleben ist, d.h. die nicht auf das Erleben als Modus zurückgeführt werden kann. Dieses zunächst nur negativ charakterisierte Moment (Nicht-Erleben)

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stellte sich als der Organismus heraus, der das Erleben zwar nicht als Modus, wohl aber inhaltlich bestimmt. Ferner stellte sich heraus, dass der Organismus eine entscheidende Schnittstelle ist: Er ist zwar vom Erleben beherrscht, steht aber zugleich auch in einem Naturzusammenhang. Somit ergibt sich, beginnend mit dem Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als einer unumstößlichen Basis der Selbstgewiss­ heit und gleichzeitig als eines unhintergehbaren Ankerpunktes für die Individuierung des einzelnen, konkreten Denkens, letztlich eine Konzeption der konkreten Subjektivität, in der sich das Erleben (und damit auch das Denken als spezifische Form des Erlebens) und der Organismus als zwei in sich verschränkte und untrennbare Momente einer Einheit, nämlich des lebendigen Lebewesens, erweisen. Gilt die Verschränkung von Erleben und Organismus prinzipiell für alle Lebewesen, ist es nur einem geistbegabten, also zum Denken fähigen Lebewesen, prinzipiell möglich, diese Bestimmungen begrifflich zu erfassen und zudem auch noch die Bedingungen seines Denkens zu thematisieren. Durch das Gedankenexperiment des radikalen Zwei­ fels kommt die konkrete Subjektivität zunächst zu dem minimal bestimmten Seinsbegriff: Sie erkennt, dass sie als Subjekt nicht nur gedacht sein kann und kann sich aufgrund der Unterscheidung von Gedanke und Denken weiter als zeitlich verfasst und als Ursprung der Gedanken qualifizieren. Dieser zunächst negative bzw. minimal bestimmte Seinsbegriff (»nicht nur gedacht«) erhält eine positive Erweiterung erst durch die Erkenntnis der Einbettungsstruktur der konkreten Subjektivität. Denn durch diese erkennt das Subjekt notwendig seine ontologische Einbettung auf zweifache Weise: Durch die Determination des Erle­ bens durch das Nicht-Erleben erkennt es zum einen seinen notwendi­ gen Bezug zu seinem Organismus und erkennt sich so als konkrete Subjektivität, die durch den Organismusbezug gleichzeitig in einem Naturzusammenhang steht. Zum anderen erkennt es an seiner Indi­ viduierung seine Einbettung in eine umfassende Individuationsund Weltordnung. Beide Schritte entsprechen als Analyse in der Durchführung Cramers Methode der philosophischen Deduktion. Diese zeichnete sich ja dadurch aus, dass sie im Unterschied zur formalen Deduktion, die von Prämissen ausgeht und dann zu der Konklusion als zu dem durch sie Bedingten vorangeht, zurück zu den Bedingungen der

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Prämissen geht, wodurch diese auf eine Weise thematisiert werden, die das Erschließen neuer Inhalte zulässt: »So ist das philosophische Denken ein apodiktischer Fortgang, der ein Rückgang ist in die Bedingungen der Möglichkeit und ein Übergang von Gesetztem zu Nichtgesetztem, der das Gesetzte um inhaltliche Bestimmungen bereichert.«540

Dies kann – wie gezeigt worden ist – nur durch eine apagogische Argumentation erreicht werden. Im Fall der Theorie der konkreten Subjektivität wird durch die Durchführung des Gedankenexperiments des radikalen Zweifels die Basis für eine Transzendentalontologie gelegt, die anhand einer philosophischen Deduktion, nämlich durch eine Analyse des Subjekts und den sich dadurch ergebenden Welt­ bezug, die Explikation einer ontologischen Ordnung ermöglicht. In dieser philosophischen Deduktion erfasst das konkrete Denken schrittweise Bestimmtheiten an sich: 1.

Das Denken muss dem Selbstexperiment des radikalen Zweifels gemäß notwendig konkretes Denken sein. Es muss durch den Charakter des Gedankenexperiments notwendig vereinzeltes Denken sein. Das Denken kann Bestimmungen seiner eigenen Struktur erken­ nen, die sich apodiktisch aus der Relation Gedanke-Denken herleiten lassen. In der Erkenntnis, vereinzeltes Denken zu sein, erkennt es sich als Instantiierung einer Individuierungsordnung und transzen­ diert so, da diese Ordnung nicht Teil der konkreten Subjektivität sein kann, seine Vereinzelung. Dieser Schritt ist eine notwendige Voraussetzung, wenn Intersubjektivität theoretisch eingeholt werden soll: Wenn andere Subjekte nicht nur Erscheinungen sein sollen, sondern Seiende der gleichen Art, dann ist eine Indi­ viduierungsordnung Voraussetzung, nach der Gleiche von einer bestimmten Bestimmung sein können müssen. Die Pluralität der Subjekte setzt eine solche Ordnung voraus. Durch seine inhaltliche Determination in seinem Erleben wird nicht nur der Organismus als eine Instanz notwendig, die nicht auf Erleben zurückgeführt werden kann; gleichzeitig steht der Organismus in einem Zusammenhang mit der Natur.

2. 3.

4.

540

W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 65.

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5.

Am Fall der konkreten Subjektivität erkennt das Subjekt, dass es selbst nur ein besonderer Fall von Einzeldingen ist. Diese erweisen sich als durch zwei Momente bestimmt: Konkrete Einzeldinge sind Instantiierungen einer bestimmten Form und haben das Moment desjenigen, was von Bestimmung ist und sich nicht in Bestimmungen auflösen lässt (»das Unbestimmte«, das »Es«) in sich.

Durch diese Zusammenhänge wird der zunächst negative Seinsbegriff positiv in minimaler Weise erweitert: Er beinhaltet nicht nur das Sein und die Struktur des denkenden Subjekts, sondern umfasst auch die Seinsbezüge, in die das Subjekt eingebettet ist und durch die diejenigen Momente notwendigerweise miteinbezogen werden müssen, die die konkrete einzelne Subjektivität bedingen und die nicht als Produkt oder Teil des Erlebens aufgefasst werden können. Zu diesen Momenten gehört der Organismus als Bedingung der Inhaltlichkeit des Erlebens bzw. die Welt als Individuierungsordnung. Damit vollzieht sich diese positive Erweiterung des Seinsbe­ griffs, der transzendentalphilosophischen Methode Cramers gemäß, in einem bestimmten Rahmen, der nicht überschritten werden kann. Die aus ihr resultierende Transzendentalontologie ist von der Methode und vom Umfang her nicht mit unkritischer Metaphysik gleichzusetzen. Erstens nimmt sie die Kantische Kritik und mit ihr die zentrale Rolle des Subjekts ernst, geht aber aufgrund einer kritischen Auseinandersetzung mit Kants Philosophie über diese hinaus. Zwei­ tens wird durch die positive Erweiterung des Seinsbegriffs nicht etwas in dem Sinne universalisiert, dass damit Metaphysik oder Ontologie ohne Bezug auf das Subjekt betrieben werden könnte. Die ontolo­ gische Erweiterung hält sich an die transzendentalphilosophische Vorgabe, diese Erweiterung nur im Kontext einer Subjektphilosophie machen zu können. In ihr stellt sich das Subjekt als Seiendes von bestimmter Qualität dar. Als singuläre Einheit von Erleben und Orga­ nismus steht es in einer bestimmten Ordnung, und seine Verfasstheit als Seiendes von bestimmter Form erweist sich als exemplarisch für singulär Existierendes.541 Diese Einordnung des Geistes ist das Ergebnis einer transzen­ dentalphilosophischen Reflexion, durch die sich das geistbegabte Vgl. z. B. W. Cramer, Die Monade, 64–72; W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 15.

541

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Lebewesen als Geist begreift. In ihr wird also der transzendentalon­ tologische Zusammenhang von Erleben, Organismus und Welt auf­ gezeigt und durch die Unvermeidlichkeit des negativen Seinsbegriffs nachgewiesen, dass diese Bestimmungen nicht nur gedacht sind: Die Bestimmtheitsformen von Erleben und Geist sind, ob sie gedacht wer­ den oder nicht. Das bedeutet: In der transzendentalphilosophischen Reflexion wird festgestellt, dass Erleben und Geist Bestimmtheitsfor­ men sind, die vielfach realisiert werden können (und es auch sind). Da dieser Sachverhalt gerade unabhängig von dem erkennenden Geist besteht, dieser also nicht für die ontologische Ordnung verantwortlich gemacht werden kann, schließt sich an die transzendentalphilosophi­ sche Reflexion die Frage an, wie diese Bestimmtheitsformen selbst möglich sind. Insofern hier die Bestimmtheit von Bestimmtheitsfor­ men thematisiert wird, muss auch die transzendentalphilosophische Reflexion überschritten werden, wenn noch nach den Bedingungen der Bestimmtheitsformen gefragt wird.542 Cramer nennt dies den Übergang zur spekulativen Philosophie, wobei auch diese Aufgabe eine, wenn auch besondere philosophische Deduktion ist, denn in ihr werden die letzten Bedingungen thematisiert und expliziert, die alles Seiende schon latent beherrschen. Als Ausgangspunkt hierfür bietet sich ein Rückblick auf das bisher Erreichte an: Der Geist erkennt seine Struktur und durch das sich daraus ergebende Konzept der konkreten Subjektivität seine Einbettung in die Welt. Dies führt zwangsläufig auch zu einer Refle­ xion über prinzipielle Grenzen seiner Erkenntnis. Da die Transzen­ dentalontologie »nur« die ontologischen Implikationen der konkreten Subjektivität entfaltet, sollte es nicht verwundern, dass es hinsichtlich der Erkenntnis Beschränkungen gibt.543 Dies ergibt sich ganz natür­ lich und besonders in extensionaler Hinsicht: Während die empiri­ schen Zusammenhänge eines einzelnen Seienden nicht vollkommen erkannt werden können (weder formaliter in empirischen Wissen­ schaften noch materialiter als Summe der geschichtlichen Bezüge), kann das Subjekt aufgrund seiner eigenen Verfasstheit als eines Singulären von bestimmter Form aber die prinzipielle Verfasstheit der Einzeldinge als Instanzen erkennen: Die singulär Existierenden sind in sich die Einheit von Bestimmung und dem Moment, das von Bestimmung ist, aber nicht in einer Bestimmung aufgeht. Letzteres 542 543

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 158. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 199.

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wird von Cramer auch das Moment des Unbestimmten (im dem Sinne, dass es selbst nicht nur Bestimmung ist) oder auch das Moment des unsetzbaren Seins genannt.544 Ist also das Wissen eines Subjekts extensional notwendig limitiert – denn ein endliches Subjekt kann unmöglich alle möglichen Propositionen mit empirischen Inhalten wissen –, so lässt sich die Frage nach den prinzipiellen Grenzen unseres Wissens auf intensionaler Ebene noch radikalisieren: Gibt es etwas, von dem wir prinzipiell nichts wissen können? In den Worten Cramers: »Gemeint kann nur sein, ob nicht ein Sein sein könnte, von dem wir schlechterdings nichts wissen können, das uns also prinzipiell verborgen bleiben muß.«545

Bezogen auf die Welt mag es Dinge geben, die für uns unbekannt oder unzugänglich sein mögen; insofern sie aber Teil der Welt sind, unter­ stehen sie bestimmten Bedingungen (z. B. kontingent und endlich zu sein), die unserem Wissen zugänglich sind.546 Es kann also legitimer­ weise nicht behauptet werden, dass wir gar nichts über diese Dinge wissen können. Die Frage lässt sich aber abermals radikalisieren: Könnte nicht ein Sein (auch jenseits der Welt und ihrer Bedingungen) sein, das absolut unerkennbar ist? Diese Frage führt also zu der Mög­ lichkeit einer prinzipiellen Grenze unserer Erkenntnis, und sie kann nicht dogmatisch entschieden werden, indem Prämissen einfach als gültig gesetzt werden. Aus diesem Grund muss die Möglichkeit dieser Begrenzung durchdacht werden. Dies wird dadurch erreicht, dass zunächst das der Unerkennbarkeit zugrundeliegende Konzept eruiert und dann geprüft wird, ob dieses konsistent gedacht werden kann. Eine prinzipiell unerkennbare Sphäre würde sich demnach dadurch auszeichnen, dass sie keine Beziehung zu dem Bereich des Erkennbaren hat. Die Position der Begrenzung unserer Erkenntnis durch die prinzipiell unerkennbare Sphäre müsste also, da ja die Berei­ che der Erkenntnis und die unerkennbare Sphäre getrennt, aber bezie­ hungslos sein sollen, behaupten, dass es einen absolut beziehungslo­ sen Unterschied geben müsse. Dabei kann für die Argumentation ganz davon abgesehen werden, was die Unterschiedenen sonst noch

544 545 546

Vgl. z. B. W. Cramer, »Das Absolute«, 9. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 199. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 199.

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sein mögen: Wichtig sind allein die jeweiligen Grundbestimmungen der Sphären und ihre behauptete Relation der Beziehungslosigkeit.547 Eine solche Reflexion ist nun in Cramers Sinn absolute Reflexion geworden, denn es werden in ihr die letzten Bedingungen unserer Erkenntnis reflektiert, und gleichzeitig dürfen keine willkürlich oder hypothetisch gesetzten Prämissen in Anspruch genommen werden. Die absolute Reflexion setzt also keine besonderen Bestimmtheiten voraus, sondern durchdenkt nur das problematisch gesetzte Kon­ zept des beziehungslosen Unterschieds, das eine solche prinzipielle Begrenztheit voraussetzen müsste. Somit ist es die Aufgabe dieser Reflexion, diese mögliche Grenze zu durchdenken, indem das Kon­ zept des beziehungslosen Unterschieds problematisch gesetzt wird. Insofern es in der absoluten Reflexion um die absoluten Prinzi­ pien und damit auch um das Absolute geht, könnten sich laut Cramer noch zwei mögliche Einwände vor der Durchführung der absoluten Reflexion ergeben, die Cramer zuvor entkräften möchte. Der erste mögliche Einwand besagt, dass mit dem Anheben der absoluten Reflexion schon vorausgesetzt werde, dass es absolute Prinzipien und mithin das Absolute gebe. Die absolute Reflexion setze also das voraus, auf das sie abzielt.548 Dieser Einwand übersieht nach Cramer, dass in jeder Frage bereits eine Art Wissen vorausgesetzt wird in dem Sinn, dass sie schon in ihrer Fragerichtung bestimmt sein muss, weil sie sonst keine spezifische Frage sein könnte. Sie setzt also eine minimale inhaltliche Bestimmung als zu problematisierende voraus. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass damit auch gleichzeitig der Gegenstand, der durch die Frage in Frage steht, schon als existierend vorausgesetzt werden müsse. Dies gilt es ja erst zu reflektieren, aber die Thematik der Reflexion muss aus diesem Grund schon festgesetzt werden, ohne dass damit schon irgendwelche Vorentscheidungen getroffen worden sind. Der zweite mögliche Einwand stellt die Charakterisierung der absoluten Reflexion als absolut in Frage. Ihm zufolge muss jede Reflexion einen Ausgang haben, so auch die absolute Reflexion. Weil aber dieser Ausgang – dem Einwand gemäß – nicht das Absolute sein kann, weil dann die Reflexion überflüssig wäre, stünde die absolute

547 548

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 201. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 203.

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Reflexion unter Bedingungen, die dem Absoluten äußerlich sind, sie käme dadurch nur zu hypothetischen Resultaten.549 Auch dieser Einwand ist nach Cramer nicht stichhaltig, denn wie sich auch schon in der transzendentalphilosophischen Reflexion der Subjektivität erwiesen hat, ist das durch diese Reflexion Erkannte zwar durch das Denken einer konkreten Subjektivität erkannt worden; in dieser Erkenntnis lag aber schon durch die Unhintergehbarkeit des negativen Seinsbegriffs der Anspruch, dass der in dieser Erkenntnis erkannte Sachverhalt auch unabhängig vom Denken ist, das heißt, gleichgültig, ob dieser von einem Denken erkannt wird oder nicht. Ebenso verhält es sich mit der absoluten Reflexion: Es ist zwar unser Denken, das die absolute Reflexion durchführt, aber das darin Erkannte hat eine Realität auch unabhängig von unserer Erkennt­ nis.550 Sollte der Einwand dahingehend geändert werden, dass nun eingewandt wird, die erkannten Strukturen seien nur gedacht, dann würde wieder übersehen, dass die transzendentale Reflexion nach dem Aufweis des negativen Seinsbegriffs für das Dasein des Subjekts zu einer ontologischen Erweiterung gelangte, die sich durch die notwendige Einbettung des Subjekts in die Welt ergab. Die hierauf aufbauende absolute Reflexion thematisiert nun noch einmal die Bedingungen für die bereits eruierte Seinsstruktur, und sie tut dies radikal, indem sie eine prinzipielle Beschränkung im beziehungslosen Unterschied problematisch setzt und untersucht.

6.3.4.1 Zur Unmöglichkeit des beziehungslosen Unterschieds Wenn eine prinzipielle Unerkennbarkeit behauptet wird, wird damit zugleich behauptet, dass es zwei Sphären gibt: Die Sphäre der Erkenntnis bzw. der Erkennbarkeit und die Sphäre der Unerkennbar­ keit. Erstere ist bereits durch die transzendentale Reflexion abgesi­ chert: Wie gezeigt worden ist, ist durch das Selbstexperiment des radi­ kalen Zweifels das Fundament für einen Seinsbegriff gelegt worden, der seine wesentliche Bestimmung in dem »Nicht-nur-gedacht-Sein« gefunden hatte. Die entscheidende Frage ist nun, ob es etwas geben kann, was gänzlich jenseits dieser Sphäre anzusiedeln ist, das also von dieser ersten Sphäre unterschieden, aber zu dieser beziehungslos ist. 549 550

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 203. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 204.

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Diese Möglichkeit gilt es nun auszuloten. Somit müssen zwei Voraussetzungen für das Konzept des beziehungslosen Unterschieds erfüllt sein: Beide Sphären müssen erstens unterschieden sein, sonst ergäbe die Behauptung der prinzipiellen Unerkennbarkeit keinen Sinn, und zweitens dürfen sie in keiner Beziehung zueinander stehen, denn aufgrund dieser Beziehung könnte keine prinzipielle und gänz­ liche Unerkennbarkeit mehr behauptet werden. Es wird also mit der absoluten Unerkennbarkeit notwendig behauptet, dass es einen beziehungslosen Unterschied gebe. Dieser ist wesentlich für die Behauptung der Unerkennbarkeit. Damit wird der beziehungslose Unterschied als Voraussetzung für die Unerkennbar­ keit in der absoluten Reflexion als problematisch gesetzt. Seine Mög­ lichkeit gilt es nun zu untersuchen, indem die Implikationen dieses Konzepts durchdacht werden. Ausgangspunkt hierfür ist die Explika­ tion der Grundbestimmung des beziehungslosen Unterschieds: Der beziehungslose Unterschied muss das schlechthin Unterschiedslose, die absolute Leere sein, denn durch einen Unterschied hätte er unmit­ telbar eine Beziehung zu dem Unterschiedenen. Der beziehungslose Unterschied muss daher als Nichts bzw. als Negation allen Unter­ schieds aufgefasst werden, wenn er die Voraussetzung, beziehungslos zu sein, erfüllen soll.551 Dies ist eine ähnliche Argumentationsfigur, wie sie schon in den Letztbegründungsversuchen in »Die Monade« und »Das Absolute und das Kontingente« mit der Behauptung »es sei nichts« in Anschlag gebracht worden ist. Der Unterschied zu der Argumentation in den beiden früheren Werken besteht darin, dass sich im Kontext der absoluten Reflexion die Möglichkeit dieses »Nichts« als Unterschiedsloses sozusagen organisch aus einer Skepsis bezüglich unserer Erkenntnisgrenzen ergibt. Es wird hier zunächst gar nicht nach dem letzten Grund gefragt, sondern nach unseren Erkennt­ nisgrenzen, wobei dann das »Durchdenken« der Argumentation zeigt, dass sie letztlich in die Erkenntnis eines letzten Grundes mündet. Ähnlich wie in den früheren Letztbegründungsversuchen schei­ tert die Annahme eines X, das sich der Bestimmtheit bzw. in diesem Fall einer bezogenen Differenz entzieht. Als Negation allen Unter­ schieds entpuppt sich der beziehungslose Unterschied aus verschie­ denen Gründen als unhaltbar: Zwar soll dieser seinen Voraussetzun­ gen zufolge sein (denn er ist als etwas konzipiert, das jenseits der Bestimmtheitssphäre ist), aber als »Nichts« wäre das ihm zugespro­ 551

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 208.

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chene Sein eine Qualifikation, die seine Beziehungslosigkeit aufhe­ ben würde. Auch kann das Nichts nicht einfach Negation jeglichen Unterschieds sein, denn als universelle Negation von Unterschieden bezieht das Nichts sich auf dasjenige, was es negiert, setzt dieses also voraus und stünde mit ihm in Beziehung.552 Somit ist der beziehungslose Unterschied in sich widersprüch­ lich. Aus der apagogischen Argumentation folgt zunächst, dass es nichts geben kann, das nicht (wenigstens minimal) bestimmt ist und dass damit auch eine minimale Erkennbarkeit aller Dinge gewähr­ leistet sein muss, denn die Unterschiedenen stehen durch ihr Unter­ schiedensein in einer Beziehung zueinander, die – um wieder den negativen Seinsbegriff zu bemühen – eben nicht nur gedacht sein kann, da die Unterschiedenen auch unabhängig von der Erkenntnis als Unterschiedene bestimmt sind. Daher kann man als Ergebnis dieser Argumentation festhalten: 1. 2. 3.

Alles, was als unterschieden behauptet wird, muss durch die Bestimmung des Unterschiedenseins schon bestimmt und in einer Relation zueinander stehen. Daraus folgt, dass es nichts geben kann, was völlig bestimmungs­ los ist; alles ist zumindest minimal bestimmt. Damit ist das Prinzip der Bestimmtheit nochmals legitimiert. Für das Bestimmungsverhältnis der Unterschiedenen ergibt sich, dass sie durch die Bestimmung des Unterschiedenseins unterschieden, aber dadurch zugleich auch verbunden sind. Im Unterschiedensein gibt es demnach eine differenzierte Einheit: Die Unterschiedenen sind unterschieden und verbunden. Das Unterschiedensein ist Prinzip der Möglichkeit jeglichen Unter­ schieds.553

6.3.4.2 Der absolute Unterschied Mit diesem Ergebnis ergeben sich auch für die Struktur des Absoluten Konsequenzen: Wie oben gezeigt, führt auch der beziehungslose Unterschied als radikalste Möglichkeit, Bestimmungslosigkeit zu denken, auf das Prinzip der Bestimmtheit. Denn das Nichts als 552 Vgl. dazu auch W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealis­ mus«, 26f. 553 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 206.

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Bestimmungslosigkeit, als Negation allen Unterschieds setzt gerade die Positivität in Form des dieses Nichts noch beherrschenden Prin­ zips notwendig voraus. Somit ist das Prinzip des Unterschiedenseins (bzw. als logische Kehrseite: das Prinzip der Bestimmtheit)554 das alles beherrschende Prinzip und damit das Absolute. Dieses Prinzip der Positivität bzw. das Prinzip der Bestimmtheit muss nun aber in der Selbstbezüglichkeit, die das Absolute erfordert, selbst in sich bestimmt sein. Wäre es dies nicht, dann ergäbe sich wiederum das Problem des beziehungslosen Unterschieds: Wäre das Absolute als beziehungsloser Unterschied bzw. als unbestimmt gedacht, dann müsste wiederum vorausgesetzt werden, dass es dadurch bestimmt, dass es sich vom Bestimmten absetzt, und wäre damit selbst doch wieder bestimmt. Das Absolute muss also in sich bestimmt sein, und das bedeutet, es muss in sich Unterschied sein. Denn als nicht nur Gedachtes hat es den Unterschied von Bestimmung und dem Moment, das von Bestimmung ist, was im Laufe der Ausführungen noch ausführlich erläutert wird. Da dieser Unterschied nicht mehr von etwas außer dem Absoluten abhängen kann555, ist es berechtigt, diesen Unterschied als den absoluten Unterschied zu bezeichnen.556 Es ist Aufgabe der absoluten Reflexion, diesen Gedanken des absoluten Unterschieds weiterzuentwickeln, und zwar unter ihrer wesentlichen Maßgabe, hierfür keine willkürlich gesetzten oder hypothetischen Prämissen in Anspruch zu nehmen. Aus dem bisher Gesagten können zunächst zwei Optionen ausgeschlossen werden, wie das Absolute zu bestim­ men ist:557 1.

Das Absolute kann keine einfache Qualität in dem Sinne einer reinen Identität ohne Differenz sein, denn dadurch, dass es bestimmt und nicht nur gedacht ist, muss ihm zumindest die Grunddifferenz von Bestimmung und Bestimmtem zukom­

554 Die Bestimmungen des Absoluten als »Prinzip der Bestimmtheit« und »Prinzip des Unterschiedenseins« sind letztlich logisch äquivalent. Beide thematisieren jeweils eine Qualität, die die andere impliziert: Alles, was bestimmt ist, setzt die Qualität des Unterschiedenseins voraus. Umgekehrt gilt, dass das Unterschiedensein auch das Bestimmtsein impliziert. 555 Vgl. die propädeutischen Überlegungen zum Verhältnis von Absolutem und Kontingentem in W. Cramers Artikel »Das Absolute«. 556 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 209. 557 Vgl. dazu W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 29.

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2.

men.558 Die Ausführungen zum beziehungslosen Unterschied haben deutlich gemacht, dass es nichts geben kann, was in diesem Sinne als undifferenziert charakterisiert werden könnte. Damit muss das Absolute in sich differenziert sein.559 Das Absolute kann nicht aufgefasst werden als ein Außereinan­ der von Qualitäten. Denn damit stünden die Qualitäten des Absoluten nicht in einem notwendigen Zusammenhang. Eine Qualität, die außer dem Absoluten wäre, wäre ihm äußerlich, damit kontingent und somit gerade nicht absolut. Das Absolute kann also in seiner Differenziertheit nur als differenzierte Einheit seiner Momente gedacht werden.560

Eine dritte, ebenfalls auszuschließende Option bestünde darin, die Qualitäten als reines Korrelativsystem aufzufassen. Es ist aber nicht möglich, die Qualitäten als rein relational definiert zu bestimmen, da dadurch der Unterschied in der unendlichen Oszillation untergehen würde. Dies lässt sich allgemein an dem vereinfachten Beispiel der Abhängigkeit zweier Qualitäten A und B demonstrieren. Gesetzt den Fall, die Qualität A wäre durch die Qualität B bestimmt und diese wäre somit Moment von A, dann müsste in einem rein relationalen System von Qualitäten gelten, dass B durch A bestimmt wäre und somit A Moment von B wäre. Wenn – was ein rein relationales Bestimmungsverhältnis voraussetzen muss – die Qualitäten A und B jeweils und ausschließlich wechselseitig bestimmt werden, dann können sie keinen Inhalt haben, denn unter dieser Bedingung wäre erstens keine Qualität von einer anderen unterschieden, und zweitens würde es überhaupt keine bestimmte Qualität geben, weil sich jede Qualität nur rein formal als Verweis auf eine andere darstellen würde, die nirgends einen »qualitativen Ankerpunkt« vorweisen könnte. Ein so verstandenes System von Qualitäten wäre absolut inhaltsleer.561 Dasselbe gilt dementsprechend auch für ein komplexeres System von einer größeren Anzahl von Qualitäten, die jeweils immer nur durch andere bestimmt sind. Denn insofern sich dies als reine Potenzierung der Grundstruktur darstellt, wiederholt sich hier lediglich das Grund­ problem des rein relationalen Bestimmtseins. Zu umgehen ist das Problem nur, wenn es letztlich eine Qualität gibt, die in sich bestimmt 558 559 560 561

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 208. Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 29. Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 29. Vgl. W. Cramer, »Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus«, 27.

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6. Die Theorie des Absoluten

ist. Damit ergibt sich für die Bestimmung des Absoluten als absoluter Unterschied, dass es weder als einfache Qualität noch als von etwas außer ihm wesentlich bestimmt noch als reines Korrelativsystem von Bestimmungen aufgefasst werden kann. Wie ist die Struktur des absoluten Unterschieds nun weiter zu entwickeln? Bisher wurde zunächst nur festgestellt, dass das Absolute selbst bestimmt ist und deshalb einen Unterschied in sich haben muss. Aus diesem Grund ist der absolute Unterschied bislang nur formal bestimmt worden. Die Frage ist nun aber, wie die Unter­ schiedenen des absoluten Unterschiedes inhaltlich bestimmt sein müssen. Für diese inhaltliche Entwicklung kann nur die Struktur des absoluten Unterschiedes selbst herangezogen werden, wenn nicht – der absoluten Reflexion gemäß – äußere oder hypothetische Inhalte an diese Reflexion herangetragen werden sollen. Demnach kann also nur gesagt werden, dass sich in dem absoluten Unterschied zunächst eine Differenz konstatieren lässt. Es ist die Grunddifferenz jeglichen Unterschiedes von Unterschiedenen und ihrem Unterschie­ densein:562 »Es war der Unterschied zwischen den Unterschiedenen und dem Unterschiedensein. Das Unterschiedensein ist keines der Unterschie­ denen. Das Unterschiedensein ist eine Bestimmung, die Unterschiede­ nen sind die durch die Bestimmung Bestimmten.«563

Damit ist der Grundunterschied von Bestimmung und demjenigen, was von Bestimmung ist und von Cramer als »Es« bezeichnet wird, benannt. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alles, was ist, nicht in reine Bestimmungen aufgelöst werden kann. Wenn etwas ist, dann muss es – der apagogischen Argumentation des beziehungslosen Unterschieds gemäß – bestimmt sein, muss Bestimmungen haben. Allerdings geht das bestimmte Etwas nicht in den Bestimmungen auf. In seiner Existenz muss es außer den Bestimmungen noch ein Moment geben, das aus Sicht des Bestimmens zunächst negativ bestimmt werden muss: Es ist selbst keine Bestimmung, sondern dasjenige, was von Bestimmung ist. Wieder kann man den negativen Seinsbegriff heranziehen: In einem nicht nur Gedachten als konkret Existierendem muss es immer ein Moment geben, das nicht in den Bestimmungen aufgeht. Dieses Grundverhältnis hatte sich schon in 562 563

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 211. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 211.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Cramers Theorie der Subjektivität ergeben: Das denkende Subjekt hatte in dem Ich-Gedanken erkannt, dass es etwas von dieser Bestim­ mung ist. Es konnte aber nicht in diese Bestimmung aufgelöst werden, es war eben nicht der Gedanke »ich«, sondern ein Seiendes, das durch diesen Gedanken bestimmt worden ist. Zusammen mit der Einsicht, dass die konkrete Subjektivität eine Vereinzelungsordnung verlangt, nach der weitere, gleichartige Seiende sind oder zumindest sein können, wurde somit die konkrete Subjektivität zur paradigma­ tischen Instanz von Seiendem überhaupt, nämlich als Einheit von Bestimmung und demjenigen, das von dieser Bestimmung ist.564 Damit ist alles Seiende die Einheit der Differenz von Bestimmung und demjenigen, was von dieser Bestimmung ist und von Cramer das »Unbestimmte« oder das »Es« genannt wird.565 Diese Grunddifferenz von Bestimmung und Es ist Cramer zufolge nun auch die erste qualitative Differenz des absoluten Unter­ schieds, die es nun weiter zu analysieren gilt.566 Als grundlegende Differenz bezeichnet sie die Notwendigkeit des Unterschieds von Es und Bestimmung und damit zugleich die notwendige Einheit der Unterschiedenen.567 Das interne Bestimmungsverhältnis muss nun so weiterentwickelt werden, dass es den oben gemachten Vorgaben entspricht, dass also die nicht gangbaren Optionen vermieden wer­ den. Dazu ist nun der inhaltliche Charakter der Bestimmung im absoluten Unterschied zu bestimmen. Bisher wurde ja nur festgestellt, dass es eine Bestimmung geben, nicht aber, wie diese Bestimmung inhaltlich gedacht werden muss. Eine inhaltliche Charakterisierung ist aber notwendig, wenn die Bestimmung nicht formal bleiben soll, und sie kann nicht formal bleiben, weil eine Bestimmung einen bestimmten Inhalt voraussetzt. Die absolute Reflexion steht also nun vor der Aufgabe, den »absoluten Inhalt« zu entwickeln. Da das Es nur negativ bzw. minimal als das Moment bestimmt ist, dasjenige zu sein, was von Bestimmung ist, kann aus ihm allein kein Inhalt abgeleitet werden. Dies ist nur aus der Einheit von Bestim­ 564 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 99; W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, vor allem 23–25. 565 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 62–66. 566 Diese Differenz von Bestimmung und Es gilt natürlich auch bei jedem kontingent Existierenden, mit dem Unterschied, dass eben die Existenz des Kontingenten nicht sein muss. 567 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 211.

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6. Die Theorie des Absoluten

mung und Es möglich, die Cramer das »bestimmte Es« nennt.568 Das bestimmte Es ist also die notwendige Einheit der Unterschiedenen im absoluten Unterschied. Das Absolute stellt sich notwendig in einer differenzierten Einheit der Unterschiedenen dar, wobei das Verhältnis von Bestimmung und Es bislang formal geblieben ist. Das bestimmte Es muss also Inhalt sein; dieser Inhalt kann aber nicht von außen an den absoluten Unterschied herangetragen werden. Dies ist nicht möglich, weil dies implizierte, dass es jenseits des absoluten Verhältnisses im absoluten Unterschied eine Qualität gibt, die im Verhältnis des »Außer« zum absoluten Unterschied steht und die dennoch für ihn notwendig konstitutiv wäre. Somit wäre das Absolute für seine wesentlichen Qualitäten von etwas Kontingentem abhängig, das es selbst nicht ist.569 Das Verhältnis von Es und Bestimmung hatte sich als absolut erwiesen und so den absoluten Unterschied konstituiert. Wenn Inhalt nicht von »außen«, von etwas Kontingentem an das Absolute her­ angetragen werden kann und auch nicht bereits in dem absoluten Verhältnis von Bestimmung und Es im absoluten Unterschied vorge­ funden wird, besteht die einzige Möglichkeit, zu einem Inhalt zu kommen, darin, dass der Inhalt aus dem bestimmten Es kommt.570 Da dieses absolut ist, also nichts mehr außer sich haben kann in dem Sinn, dass es konstitutive Momente oder Qualitäten geben könnte, die nicht in den absoluten Unterschied fallen, kann inhaltliche Qualität eben nur aus der Einheit von Es und Bestimmung im absoluten Unterschied als der absoluten Instanz kommen, von der alles andere abhängt.571 Die Qualifizierung, die inhaltliche Weiterbestimmung kann also nur so gedacht werden, dass sich das Absolute selbst qualifizieren muss. Es kann dabei nicht auf etwas außer ihm zurückgegriffen werden. Da diese Qualifizierung nicht aus den bisher entwickelten Inhal­ ten des absoluten Unterschieds hergeleitet werden kann – denn dieser besteht ja nur in dem bisher abstrakt gehaltenen notwendigen Bezogensein der Momente »Bestimmung« und »Es« –, muss diese Qualifizierung aus dem Absoluten selbst erfolgen. Damit wird aus der formalen Verfasstheit des Absoluten, dass es zu ihm nichts geben kann, das »außer« ihm ist, und der bisher gewonnenen Struktur 568 569 570 571

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 212. Vgl. W. Cramer, »Das Absolute«, 1. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 91. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 154.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

des Absoluten als absoluten Unterschieds apagogisch geschlossen, dass alle Qualität nur aus dem Absoluten selbst kommen kann. Das bedeutet, aus der formalen Bestimmung des Absoluten, dass es nichts außer ihm geben kann, das konstitutiv für es wäre572, kann gefolgert werden, dass es der absolute konstitutive Grund sein und daher als solcher die Qualität des »Aus« besitzen muss; denn alle Bestimmungen des Absoluten müssen letztlich ihren Grund in ihm selbst haben, aus dem sie sind. Und dieses »Erfolgen-aus« bestimmt nun das Absolute als das­ jenige, das die eigene Qualifizierung hervorbringt.573 Dieses »Aus­ gangsein« ist somit die Grundqualität des bestimmten Es, es muss somit ein »Ausgang-von«, ein Zeugendes sein.574 Die grundlegende Qualität des bestimmten Es ist es, als Ausgang-von Zeugendes zu sein.575 Damit ist die Differenz von Unbestimmtem und Es nicht aufgehoben; vielmehr ist die notwendige Ungetrenntheit inhaltlich weiter bestimmt worden, wobei die Unterscheidung der Momente beibehalten wird: Das bestimmte Es ist nicht einfach nur Bestim­ mung, sondern ist von der Bestimmung, Zeugen zu sein. Damit ist das bestimmte Es die notwendige Ungetrenntheit von Bestimmung und dem Es.576 Dieses Zeugen ist nun näher zu bestimmen. Zunächst kann ausgeschlossen werden, dass das Gezeugte etwas ist, das ein selbstän­ diges Sein erhielte, das vom Zeugen unabhängig sei. Dies war auch im Zeugen der endlichen Subjektivität der Fall.577 Schon dort ließ sich Zeugen nur als ein nicht reduzierbares Verhältnis von »Ursprung des Zeugens – Zeugen – Gezeugtes« begreifen, wobei alle drei Momente einer differenzierten Einheit, eben des Prinzips des Sichbestimmens sind. Da das Zeugen nicht etwas zeugen kann, das außer dem Abso­ luten ist, muss das Gezeugte für das Absolute sein. Das Zeugen muss also notwendig eine reflexive Struktur besitzen, es muss ein Für-Sein sein. Durch das aufgespannte Verhältnis ist schon in der Tätigkeit des Zeugens das Gezeugte durch und für den Ursprung. Das Gezeugte »Das Absolute ist das, welches das unsetzbare Moment des Seins in sich hat und zu welchem etwas, das außer ihm ist, nicht sein kann.« (W. Cramer, »Das Absolute«, 9). 573 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 91. 574 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 213; vgl. W. Cramer, Spinozas Philoso­ phie des Absoluten, 49f. 575 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 91. 576 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 92. 577 Vgl. z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 38f. 572

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6. Die Theorie des Absoluten

ist im Zeugen schon immer bezogen auf den Ursprung, hat also immer schon die Struktur des Für-Seins.578 Aus der selbstreflexiven Struktur des Zeugens im absoluten Verhältnis folgt, dass das Absolute ein In-sich-Sein sein muss. Das von ihm in diesem ersten Zeugen Gezeugte ist notwendig für es: »Das Gezeugte ist demnach ihm, dem Zeugenden, für das Zeugende, das Zeugende hat es für sich. Das Zeugen ist ein Haben des Gezeugten. Das absolute Verhältnis ist demnach die Einheit von Zeugendem und Gezeugtem als ein Haben des Gezeugten. Es ist Sein-für und In-sich-Sein. Das absolute Verhältnis ist absolute Subjektivität.«579

Damit ist das Absolute als ein spezifisch bestimmtes Zeugendes, als In-sich-Sein bestimmt. Die Struktur des In-sich-Seins hatte sich in Cramers Theorie der Subjektivität schon für die allgemeinste Form der Subjektivität, für das Erleben ergeben. Schon das Erleben als Modus der Wirklichkeit war demnach ein In-sich-Sein. Da dieser Modus von reflexiver Selbstbezüglichkeit nur von dem Zeugen als Grundstruktur endlicher Subjektivität bekannt ist, ist es im Rahmen dieser Denkbewegung im Kontext der Letztbegründung die einzig sinnvolle Möglichkeit, das Zeugen im Absoluten als Subjektivität auf­ zufassen.580 Die Frage, die sich hier anschließt, ist nun, ob das In-sich-Sein des Absoluten weiter bestimmt werden muss zu einem Sich-Sein, womit ein Bestimmen seiner selbst gemeint ist. Ist das Absolute in seinem In-sich-Sein auch ein Denken seiner selbst und damit ein Sich-Sein?581 Für diesen Zweck gilt es, sich erneut dem Zeugen des Absoluten zuzuwenden. Auf die Frage, was das Absolute zeugt, kann nur mit »sich« geantwortet werden, denn es steht ihm im absoluten Verhältnis kein anderer Inhalt zur Verfügung, und es kann eben auch kein Inhalt von »außen« an das Zeugen herangetragen werden. Mit dem »sich« kann zunächst nur die Selbstbezüglichkeit der Tätigkeit des Zeugens gemeint sein; es darf somit dieses »Sich-Zeugen« nicht ontologisch verstanden werden in dem Sinn, dass sich das Absolute erst zeugen muss, denn dann drohte ein ähnlicher infiniter Regress, wie er schon im kosmologischen Beweis thematisiert worden war.582 578 579 580 581 582

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 214. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 214f. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 215. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 223. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 217.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Mit dem Konzept des »Sich-Zeugen« ist also nur die Selbst­ bezüglichkeit in dem Gesetztsein gemeint: In seinem Zeugen als Gesetztsein bezieht sich das Absolute auf sich selbst.583 Es kann kei­ nen anderen Inhalt haben, weil in diesem notwendigen ersten Zeugen nichts in dieses Zeugen »hereinfallen« kann, das außerhalb des Abso­ luten, des absoluten Unterschieds steht. Das Zeugen muss notwendig auf das Moment des Seins, also die Beziehung von Bestimmung und Es, bezogen sein. Und eben darin ist auch der Grund zu sehen, warum das Zeugen als Bestimmen, also als Denken und – weil es seine eigenen Strukturen denkt – auch als Geist aufzufassen ist: Wenn dieses hier thematisierte Zeugen keinen anderen Inhalt aufweisen kann als die Struktur des Verhältnisses von Bestimmung und Es, dann muss dieses Zeugen ebenfalls vom Range des Bestimmens sein. Denn indem sich das Absolute in seinem Zeugen auf seine eigene Struktur bezieht, kann es ja nur in Bezug auf seine Bestimmung und das Es etwas zeugen: »Das Sich-Sein ist Bestimmung zeugend und Es zeugend. Es zeugt die Bestimmung und den Bezugspunkt der Bestimmung, welcher nicht Bestimmung ist. Das Sich-Sein ist durch Bestimmen Sich-Sein. In diesem Bestimmen ist es in eins Zeugen der Bestimmung und Zeugen dessen, was nicht Bestimmung ist, es ist Denken und Geben in eins.«584

Das bedeutet, dass das Absolute sich in dem Sich-Sein nicht nur bestimmt, sondern dass in ihm mit dem Bezug auf das Es auch ein »vermeinen« enthalten ist, das Cramer hier »geben« nennt. Diese Doppelstruktur von Bestimmen und Meinen ist schon in der tran­ szendentalphilosophischen Analyse des Ich-Gedankens begegnet.585 Dort bestimmte sich die konkrete Subjektivität als ein Ich, als ein Ursprung des Denkens, und verwies in der Hervorbringung dieses Gedankens gleichzeitig auf die jeweilige konkrete Subjektivität, die durch diesen Gedanken gemeint war. Das Denken bezieht sich also im Aktus des Meinens nach Cramer nicht auf etwas, das z. B. schon unabhängig von dem Aktus durch äußere Anschauung gegeben wäre, weshalb Cramer dieses Denken auch »gebendes Denken« oder »Intui­ tion« nennt.586 583 584 585 586

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 92. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 227. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 227. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 227.

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6. Die Theorie des Absoluten

Dieser einzig mögliche Bezug auf seine eigene Struktur im Bestimmen des Absoluten ist auch der Grund, warum andere Inhalte – zumindest in diesem ersten, notwendigen Zeugen – ausgeschlossen werden können. Gesetzt den Fall, das Absolute bestimmte sich nicht seine eigene Struktur, sondern löste im Bestimmungsprozess z. B. sein Moment der Unbestimmtheit, sein Es, aus dem absoluten Ver­ hältnis heraus und fasste es als inhaltsloses Es auf. Damit zeugte sich das Absolute mit Bezug auf diesen Inhalt die absolute Unterschieds­ losigkeit, das Absolute bestimmte sich selbst als bestimmungslos. Es würde sich also absolute Unterschiedslosigkeit (ein inhaltloses Es) als Selbstbestimmung zeugen.587 So wäre es zwar selbst ontologisch differenziert, wäre also damit am Ort des Seins die geforderte differen­ zierte Einheit, hätte sich aber im Zeugen am Ort des Gesetztseins eine falsche Selbstbestimmung gezeugt. Ist diese Möglichkeit, dass das Absolute sich selbst falsch bestimmt, auszuschließen? Cramer zufolge lässt sich das unbe­ stimmte Es aber nur durch Abstraktion von der konkreten Einheit des bestimmten Es gewinnen. Das inhaltslose Es wäre ein rein Gesetztes, das von der notwendigen Einheit von Bestimmung und Es abstrahiert. Aber um diese Abstraktion zu gewinnen, müsste das Absolute gerade schon von der untrennbaren Einheit des bestimmten Es ausgehen, es müsste sich für diese Abstraktion also zuvor schon als das bestimmt haben, was es ist, um eine falsche Selbstzuschreibung vornehmen zu können.588 In dem Sich-Sein des Absoluten setzt es sich (begrifflich) seine eigene Bestimmung, von der es ursprünglich schon ist. Somit hat die Sphäre des Gesetztseins die Sphäre des Seins zur Bedingung. Allerdings kann die Sphäre des Seins nicht allein »existieren«; der logische Übergang von ihr zur Sphäre des Gesetztseins ist notwendig, weil das absolute Verhältnis von Bestimmung und Es immer schon Inhalt gehabt haben muss, der – wie oben gezeigt – nur aus dem absoluten Verhältnis selbst seinen Ausgang genommen haben kann. Das bedeutet, das Absolute muss als Zeugen bestimmt werden, und als Zeugen muss es einen Inhalt haben. Dieser Inhalt kann dann aber nur aus dem »Aus« des absoluten Unterschieds kommen; die verlangte Struktur kann also nur durch ein selbstbezügliches

587 588

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 223f. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 226.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Zeugen, als ein Selbstbestimmen realisiert werden.589 Dieses Zeugen kann aufgrund der genuinen Struktur des absoluten Unterschieds nichts zeugen, was dann im Verhältnis des »Außer« zum absoluten Unterschied stünde und somit eine auch nur relative Unabhängigkeit erlangte. Das Zeugen muss also notwendigerweise eine reflexive Struktur aufweisen. Das Gezeugte geht im Zeugen vom Absoluten aus und ist zugleich für das Absolute. Dabei muss das Absolute als Geist aufgefasst werden, weil sein Zeugen nur ein Bestimmen der Bestimmtheit des Absoluten sein kann. Mag die Charakterisierung des Absoluten als Zeugendes viel­ leicht zunächst als sonderbar erscheinen, so erweist sich diese aber im Kontext des Absoluten unter Berücksichtigung des bisher Erarbei­ teten nur als folgerichtig. Das Absolute hatte sich als das Prinzip der Bestimmtheit erwiesen. Da alles notwendig bestimmt sein muss, ist das Absolute jenes letztbegründende Prinzip. Als solches ist es nicht nur gedacht und muss selbst bestimmt sein. Es gilt daher zu begrün­ den, wie seine eigene Bestimmtheit zu denken ist, um die Aufgabe der Letztbegründung zu vollenden, indem die Begründungstruktur so gedacht wird, dass sie die Aufgabe der Letztbegründung in der Weise erfüllt, dass sie ihre eigene Bestimmtheit begründen kann. Gesucht ist also die interne Struktur des Absoluten, durch die es als sich selbst bestimmend gedacht werden kann. Nur wenn das Prinzip der Bestimmtheit aus sich selbst bestimmt werden kann, kann die Letztbegründung als gelungen gelten. Bei der Suche nach der internen Struktur erwies sich innerhalb der Bestimmtheit der Unterschied von Bestimmung und Unbestimm­ tem als notwendige interne Differenzierung, eben auch für den abso­ luten Unterschied. Damit stand zunächst fest, dass das Absolute eine intern differenzierte Einheit von Bestimmung und Es ist. Wenn das Absolute als Prinzip der Bestimmtheit auch sich selbst bestimmen muss, dann kann dies Cramer zufolge eben nur so gedacht werden, dass diese Qualifizierung notwendig aus dem Absoluten erfolgen muss. In diesem Tätigen der Qualifizierung differenziert sich das Absolute gleichzeitig. Die Qualifizierung ist ein (begriffliches) Zeugen des Absoluten. Die Struktur der Letztbegründung ist so zu denken, dass sich das Absolute als Prinzip der Bestimmtheit seine eigene Bestimmtheit bestimmt. Es bestimmt sich also als das, was es ursprünglich immer 589

Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 153.

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6. Die Theorie des Absoluten

schon ist: In der Qualifizierung seiner selbst bestimmt es sich, ursprünglich Zeugen zu sein. Dabei ist das Zeugen des Absoluten nicht so zu verstehen, dass es sich als Absolutes selbst zeugt. Dann würde das Zeugen des Absoluten sich selbst voraussetzen und es käme zu einem infiniten Regress. Vielmehr qualifiziert es sich selbst, indem es sich seine Bestimmung zeugt. Somit differenziert sich das Absolute im Zeugen in ein unge­ zeugtes und ein gezeugtes Moment, die notwendig im Letztbegrün­ dungsprinzip zusammengehören. Es erfüllt somit die durch es selbst vorgegebene Bedingung, in sich Unterschied zu sein. Gleichzeitig ist der Unterschied so strukturiert, dass das Prinzip der Bestimmtheit in der Selbstanwendung als Letztbegründung konsistent gedacht werden kann: In seinem ungezeugten Moment des bestimmten Es ist es Zeugen, und durch dieses Zeugen bestimmt es sich in seinem gezeugten Moment als absolutes Zeugen. Dadurch, dass das absolute Zeugen eben nichts zeugen kann, das dann außerhalb des absoluten Unterschieds wäre, kann dieses Zeugen nur reflexiv für das Absolute sein. Damit ist dieses Zeugen zugleich immer ein »Sich-Zeugen«. Somit gehört neben dem Moment des ungesetzten bestimmten Es, das auch als Moment des Seins bezeichnet werden kann, da es nicht gezeugt ist, ein gezeugtes Moment, das als absolutes Gesetztsein bezeichnet werden kann. In dem Gesetztsein erfasst das Absolute seine eigene Bestimmung, und somit setzt es sich notwendig die Sphäre des Gesetztseins. Beide Momente, das Moment des Seins und das Moment des Gesetztseins, gehören damit notwendig zum Absoluten, das sich somit als absolute Subjektivität herausgestellt hat. Damit hat sich in der absoluten Reflexion erwiesen, dass das Absolute nicht nur am Orte des Seins sein kann. Dadurch, dass ihm notwendig Inhalt zukommen muss, es diesen Inhalt aber nur aus sich haben kann, ist mit der dadurch notwendigen Qualität des Zeugens als In-sich-Sein auch der Ort des Gesetztseins gegeben. Gleichgültig welche Qualitäten dem Absoluten noch zugespro­ chen werden: Diese Qualitäten können letztlich entweder nur aus dem absoluten Verhältnis und seiner Qualität des bestimmten Es als Zeugendes kommen bzw. hergeleitet werden.590 Die absolute Refle­ xion steht nun vor der Aufgabe, weitere Qualitäten des Absoluten zu bestimmen. 590

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 214.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

6.3.4.3 Der Bezug zum Kontingenten: das Agere als zweite Art des Zeugens und der Modus des Außer-sich-Seins Cramer zufolge muss es auch Aufgabe einer Theorie des Absoluten sein, das Verhältnis von Absolutem und Kontingtem zu durchdenken. Schon in »Das Absolute und das Kontingente« versuchte Cramer eine Konzeption vorzulegen, in der die Momente des Absoluten gerade so bestimmt sein müssen, dass es ein mögliches Außer, also das kontingent Seiende geben können muss. Dabei stellt sich heraus, dass das Kontingente selbst nicht Moment des Absoluten sein kann, da es sonst notwendig sein müsste. Dies führte schließlich zu einer Konzeption, in der das Absolute als mögliche Potenz zu begreifen war, die in einem freiheitlichen Akt das Kontingente erschafft. Mag diese Konzeption des Absoluten als Potenz im Ergebnis eine adäquate Bestimmung sein, so haften dieser Konzeption, wie Cramer im Rah­ men der absoluten Reflexion auch selbstkritisch anmerkt, immer noch zwei reflexionslogische Mängel an:591 1.

2.

591

Es wurde die Möglichkeit, das Absolute als Potenz zu bestimmen, nicht aus dem Absoluten selbst hergeleitet, wie dies die absolute Reflexion eigentlich erfordert. Vielmehr nahm die Reflexion, die zum Potenz-Gedanken führte, ihren Ausgang beim Kontingen­ ten. Eben weil es das Kontingente gibt und weil das Absolute auch der Grund des Kontingenten sein muss, muss das Konzept des Absoluten so gefasst werden, dass aus ihm das Endliche möglich ist, ohne dass dies zu einem notwendigen Moment wird. Damit war diese Reflexion eine vom Kontingenten ausgehende und auf das Absolute schließende Argumentation, und die innere Struktur des Absoluten kam somit nur durch die hypothetische Bedingung, dass es Endliches gibt, in den Blick. Dieser reflexi­ onslogische Mangel, von einer hypothetischen Bedingung aus­ zugehen, war schon in der Kritik des kosmologischen Beweises von Cramer als wesentliche Schwäche erkannt worden. In dieser Reflexion wurde also nur die Möglichkeit des Kontin­ genten als Moment des Absoluten bestimmt, nicht aber das Kontingente selbst als Moment des Absoluten, so dass dieses als das Andere des Absoluten bestimmt wurde. Diese Differenz zwischen dem Absoluten und seinem Anderem wurde aber nicht Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 235.

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6. Die Theorie des Absoluten

so bestimmt, dass aus der inneren Struktur des Absoluten seine Möglichkeit, Kontingentes zu schaffen, begriffen worden wäre. Die Möglichkeit wurde lediglich formal bestimmt, indem das Absolute als »Potenz« begriffen wurde.592 Beide Mängel sind nun innerhalb der absoluten Reflexion zu beheben, und zwar unter der schon oben genannten Prämisse, dass im Rahmen der absoluten Reflexion keine von außen an das absolute Verhält­ nis herangetragenen Inhalte verwendet werden. Deshalb kommt als Ausgangspunkt für diesen Zweck nur eine erneute Zuwendung zum absoluten Verhältnis in Frage. Im absoluten Unterschied besteht das absolute Verhältnis in der Differenz und Einheit von Qualität und Es. Das Verhältnis der Unterschiedenen stellte sich als notwendige Einheit heraus, wobei diese die Qualität des »Aus« besitzen muss.593 Es kann im absoluten Verhältnis, am Orte des Seins, kein anderer Inhalt sein, der dem »Aus« gleichberechtigt zugeordnet werden kann, weil in dem Fall dieser Inhalt im Modus des »Außer« für das absolute Verhältnis kon­ stitutiv wäre und dann diesem Unterschied zwischen diesem Inhalt und dem absoluten Unterschied wiederum der absolute Unterschied als bestimmendes Prinzip zugrunde liegen müsste. Daher kann das absolute Verhältnis von Bestimmung und Es keine andere Qualität als das ungezeugte »Aus« enthalten und alle anderen Qualitäten können nur aus dem Aus gezeugt sein. Das Es als das Unbestimmte besagte in diesem Kontext, dass es nicht nur Bestimmung ist. Die Negation »Un« im Unbestimmten meint also, dass das Es nicht in Bestimmungen aufgeht, sondern dass das Es als dasjenige bestimmt werden muss, das aller Bestimmung zugrunde liegt.594 Das Es ist demnach so bestimmt, dass es dasjenige Moment im absoluten Verhältnis ist, das von einer Bestimmung ist. Damit fallen die Bestimmung und das Unbestimmte im absoluten Verhältnis in einer differenzierten Einheit, dem bestimmten Es, notwendig zusammen.595 Aus diesem Grund ist das Es als das Unbestimmte auch notwen­ dig der Bezugspunkt für mögliche andere Bestimmungen. Denn die Negation »Un« besagt ja nur, dass das Es das aller Bestimmung Zugrundeliegende und selbst eben nicht nur Bestimmung ist. Wenn 592 593 594 595

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 235. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 91f. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 229. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 92.

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nun keine andere Bestimmung als das »Aus« vorhanden ist, das Es also zunächst das der Bestimmung des »Aus« Zugrundeliegende ist und aus dem Aus neue Qualitäten gezeugt werden können, dann muss das Es als das Unbestimmte auch für die anderen Qualitäten das Zugrundeliegende sein. Werden somit neue Qualitäten gezeugt, dann muss das Es der Bezugspunkt für diese Qualitäten sein. Insofern muss das Unbestimmte auch das Bestimmbare sein: »Es ist also im absoluten Verhältnis das Unbestimmte, das Moment des Es am Orte des Seins, das Bestimmbare. ›Das Bestimmbare‹ wird gesagt, weil Es das noch weiteren Bestimmungen Zugrundeliegende sein muß.«596

Während das erste Zeugen das notwendige begriffliche Bestimmen des absoluten Verhältnisses für es selbst gewesen ist und somit onto­ logisch nichts Neues darstellt, sondern in der Qualifizierung seiner selbst erst den Ort des Gesetztseins gezeugt hat, geht es im Kontext des Es als des Bestimmbaren um eine neue Art des Zeugens.597 Das neue Zeugen ist somit nicht nur Gesetztes, und damit ist dieses Zeugen ein Zeugen am Ort des Seins:598 »Es ist ein Hervorbringen von Bestimmtem im Felde der Bestimmbar­ keit. Das Gezeugte des zweiten Zeugens werde ›Seiendes‹ genannt. Das Seiende ist an sich selbst durch die Möglichkeit des Nichtseins qualifiziert. Es ist nur faktisch, durch eine Handlung, welche es ins Sein gebracht hat, und nicht durch eine notwendige Handlung. Es ist das Endliche, Kontingente, Singuläre, das Viele bzw. das, was vielem Anderen oder anderem Möglichen gleichen kann.«599

Dieses Zeugen wird von Cramer in Anlehnung an Spinoza als »Agere« bezeichnet, wobei es der Sache nach wesentliche Unterschiede in den Konzeptionen gibt, wie noch ausgeführt werden wird. Das zweite Zeugen ist jedenfalls der systematische Ort, durch den das Verhältnis des Absoluten zum Kontingenten aus der Struktur des Absoluten

596 597 598 599

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 229. Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 51. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 229. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 232.

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bestimmt werden kann. Zunächst ergeben sich im Verhältnis von erstem und zweitem Zeugen folgende Unterschiede:600 1.

2.

3.

4.

Während das erste Zeugen ein begriffliches Bestimmen ist, ist das zweite Zeugen, das Agere, ein mögliches »seinhaftes« Zeu­ gen, also ein mögliches Schaffen von kontingentem Seiendem, weil es sich bei diesem Zeugen um ein Zeugen mit Bezug auf das Moment des Bestimmbaren handelt.601 Das erste Zeugen geht dem zweiten Zeugen notwendig voraus. Wie dargelegt, kann es im absoluten Verhältnis keinen weite­ ren Inhalt als das ungezeugte »Aus« geben, da alles andere zu dem oben aufgezeigten Widerspruch führte, dass es einen Inhalt außer dem absoluten Verhältnis geben könnte, der für es konstitutiv wäre. Diese Qualität des »Aus« kann aufgrund der Struktur des Absolutseins nur als Sichbestimmen und In-sichSein bestimmt werden, und deshalb müssen alle weiteren Arten des Zeugens, die sich dann auf das Es als das Bestimmbare bezie­ hen, dem ersten Zeugen nachgeordnet sein. Aus der Struktur des Absoluten folgt, dass der Ort des Gesetztseins notwendig gezeugt sein muss, bevor es zu einem Zeugen kommt, das auch noch Anderes, nämlich kontingentes Seiendes produziert. Das erste Zeugen ist notwendig, denn das Sichbestimmen des Absoluten ist der notwendige Inhalt des absoluten Verhältnisses, während das zweite Zeugen nur ein mögliches Zeugen ist, denn im Es als dem Unbestimmten und damit als dem Bestimmbaren ist zunächst nur die Möglichkeit enthalten, dass auch ontolo­ gisch, also hinsichtlich des »ungesetzten Moments des Seins« Neues gezeugt wird.602 Während das erste Zeugen als Sichbestimmen ein In-sich-Sein ist, dessen Resultat getrennt von seiner Aktivität keinen Eigen­ stand haben kann, wie es schon von der endlichen Subjektivität und deren »Produkten« wie Gedanken, Vorstellungen und erleb­ ten Inhalten gilt, bekommt das Gezeugte des zweiten Zeugens einen relativen Eigenstand. Das kontingente Seiende ist zwar in mehrfacher Weise auf das Absolute bezogen (z. B. Zeitordnung,

600 Cramer selbst nennt nur drei Unterschiede und zielt damit auf Unterschiede, die hier unter 1., 3. und 4. aufgeführt sind. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 230, 232, 238. 601 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 230. 602 Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 51.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Bestimmungen), es hat aber zugleich eine bestimmte Art der Eigengesetzlichkeit und ist nicht mehr im strengen Sinn im In-sich-Sein des Absoluten. Damit hat die absolute Reflexion auch das Verhältnis von Absolu­ tem und Kontingentem, das nach Cramer eine zentrale Aufgabe einer jeden Theorie des Absoluten ist, aus der inneren Struktur des Absoluten entwickelt und konnte so die reflexionslogischen Mängel des Ansatzes in »Das Absolute und das Kontingente« beseitigen: Denn erstens nahm die Reflexion, die die Möglichkeit, Endliches zu schaffen, in der Struktur des Absoluten aufweist, geltungstheoretisch ihren Anfang nicht mehr bei der Faktizität des Kontingenten, sondern im Es als dem Unbestimmten und damit als dem Bestimmbaren. Und zweitens wird mit dem Aufweis des Unbestimmten als dem Bestimmbaren, das damit die Grundlage für ein mögliches, zweites Zeugen ist, die Potenz zur Schaffung des Anderen des Absoluten aus seiner internen Verfasstheit, das bedeutet, aus seinen Momenten selbst, begriffen. Somit erweist sich das Unbestimmte als das Bestimmbare als zentrales Scharnier in der Verhältnisbestimmung von Absolutem und Endlichem. Hieran schließt sich nun eine Frage an, die auch für die Klassifikation des Verhältnisses von Absolutem und Kontin­ gentem von Bedeutung ist: Ist das Bestimmbare ein offener Raum für Bestimmtes?603 Ist also das, was im zweiten Zeugen bestimmt wird, schon durch Faktoren im oder außerhalb des Absoluten festge­ legt? Wäre dies der Fall, dann wäre die Bestimmbarkeit selbst schon etwas Bestimmtes. Diese Problematik lässt sich auch anhand der Unterscheidung von Pantheismus und Theismus illustrieren: Der Pantheismus – und hier denkt Cramer an Varianten spinozistischer Provenienz – muss die Bestimmbarkeit als Bestimmtes auffassen, da das Bestimmen selbst mit Notwendigkeit einhergeht. Damit wird das Endliche als etwas aufgefasst, das notwendig aus dem Absoluten folgt. Auch wenn in einem solchen Ansatz das Absolute und das Kontingente nicht identifiziert werden (in Spinozas Ansatz werden ja natura naturata und natura naturans unterschieden), so stehen sie doch im Verhältnis der Notwendigkeit zueinander.604 Damit wird die Freiheit, wie sie in 603 604

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 230. Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 52.

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6. Die Theorie des Absoluten

Punkt 6.3.3 entwickelt wurde, negiert. Es bleibt einem solchen Ansatz nur die Möglichkeit, Freiheit mit Notwendigkeit zu identifizieren.605 Dadurch wäre das Absolute durch das Endliche wesentlich selbst bestimmt, weil dieses noch notwendiges Moment des Absoluten sein muss. Auch wenn in einer solchen Konzeption das Werden und Vergehen nicht geleugnet werden können, so sind diese doch als notwendige Folge aus dem Absoluten aufzufassen. Auf der anderen Seite denkt der Theismus die Bestimmbarkeit als offenen Raum, der durch freiheitliche Handlungen des Absoluten nicht erschöpft werden kann. Das Agere wird als Bestimmen aus Freiheit aufgefasst. Im Theismus wird demnach die Schöpfung des Kontingenten als freiheitlicher Akt bestimmt. Was kann im Rahmen der absoluten Reflexion zu dieser Pro­ blematik gesagt werden? Angenommen, das Bestimmbare sei defini­ tiv bestimmt. Das würde zwar nicht das zweite Zeugen negieren, aber das, was gezeugt wird, wäre schon ein vorbestimmtes Moment des Bestimmbaren, das damit zur abgeschlossenen und perfekten Bestimmtheit würde. In dieser gäbe es keine echte Möglichkeit mehr, denn in ihr sind schon alle Zeugungsakte notwendig bestimmt und enthalten. Es ginge hier nur noch – wie im spinozistischen Ansatz – um die Konkretisierung der schon enthaltenen Momente. Somit wäre die Bestimmbarkeit erschöpft, und dem Agere wäre somit eine Grenze auferlegt. Diese Grenze könnte aber nur selbst vom Absoluten gezeugt sein, und da sie gezeugt ist, müsste sie wieder durch ein anderes Zeugen überschritten werden können, weil dem Absoluten von außen keine Grenzen auferlegt werden können, da es im absolu­ ten Verhältnis kein »außen« gibt. Ebenso kann durch das zeugende Unbestimmte, das bestimmte Es, keine Grenze gesetzt sein, da es sonst noch eine andere Qualität als zeugend zu sein hätte haben müssen, was sich aber als unmöglich herausgestellt hat.606 Damit folgt aus der in der absoluten Reflexion entwickelten Struktur des Absoluten, dass dieses zweite Zeugen sich nicht auf eine perfekte Bestimmtheit beziehen kann, weil ihm dann eine Grenze gesetzt wäre, die mit der Struktur des absoluten Verhältnisses inkom­ patibel wäre. Somit bezieht sich das zweite Zeugen auf das Bestimm­ bare, das seiner Natur nach unerschöpflich ist. Dadurch ergibt sich eine weitere Konkretisierung für das Verhältnis von Absolutem und 605 606

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 231. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 232.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Kontingentem: Sofern sich das Absolute, das ja in sich ein mögliches Entäußern zum Kontingenten ist, tatsächlich entäußert, ist das Kon­ tingente durch das zweite Zeugen »in den Ort des Seins«607 gezeugt. Somit ist es im Gegensatz zu dem Gezeugten des ersten Zeugens nicht mehr in dem In-sich-Sein des Absoluten. Das zweite Zeugen führt somit zu einem Außer-Sich-Sein des Absoluten, das aber nicht als Sein-Außer, also als etwas, das für das Absolute konstitutiv wäre, missverstanden werden darf. Dieses Außer-sich-Sein des Absoluten bedeutet also ein Außerhalb-Sein des In-sich-Seins des Absoluten.608 Da das Kontingente allerdings in das Es, den Ort des Seins, der selbst Moment des In-sich-Seins ist, hineingezeugt wurde, kann sein Außerhalb-sein bezüglich des Absoluten nicht so gedacht werden, wie es im Verhältnis von endlicher Subjektivität und Welt gedacht ist. Dort wird die Welt ja als unabhängig von der Subjektivität aufgefasst. Eine so gedachte Unabhängigkeit kann es aus Gründen der Letztheit des Absoluten und der daraus resultierenden Bezogenheit des Kontingenten zum Absoluten nicht geben. Durch die Beziehung des Gezeugtseins wird auch das relativ selbständige Kontingente von dem Absoluten als Prinzip der Bestimmtheit umfasst, ohne seine relative Selbständigkeit aufzugeben. Insofern in diesem Verhältnis der Modus des Außer-sich-Seins des Absoluten noch für das Absolute ist, weil es selbst Grund und Ursache dieses Gezeugten ist, kann das Kontingente als eine bestimmte Art des In-sich-Seins des Absoluten charakterisiert werden, wenn das Konzept des In-sich-Seins erweitert wird. Wird mit dem In-sich-Sein im strengen Sinn der Modus der Rückbezogenheit der absoluten Subjektivität bezeichnet, dann wird mit einem erweiterten Begriff des In-sich-Seins gesagt, das es nichts geben kann, das vom Absoluten absolut unabhängig wäre. Somit ist das Gezeugte des ersten Zeugens dadurch gekennzeichnet, dass das Absolute sich ist, während das Gezeugte des zweiten Zeugens dem Absoluten als Grund des Zeugens ist, womit es ein In-sich-Sein bezeichnet, das für das Absolute nicht konstitutiv ist.609 Das erste Zeugen als Sich-Sein bezeichnet also die absolute Subjektivität und damit dasjenige Zeugen, das notwendig mit dem absoluten Verhältnis verbunden ist, wohingegen das Absolute nur die Potenz zum zweiten Zeugen als einem Agere ist, das eben nicht 607 608 609

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 236. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 232. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 232.

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6. Die Theorie des Absoluten

notwendig ist, sondern aus einem freiheitlichen Akt hervorgeht. Somit ist das Unbestimmte als Feld möglicher Hervorbringungen von Kontingentem die Bedingung der Freiheit im Absoluten.610 Wäre das Bestimmbare nur die perfekte Bestimmtheit, wie sie bei Spinoza gedacht ist, wäre keine Freiheit möglich. Wie oben gezeigt worden ist, ist diese Art der Begrenzung nicht konsistent zu denken.611

6.3.4.4 Die Seinsmodalitäten und die göttliche Visio Im Kontext der bisherigen Entwicklung der absoluten Reflexion ist ein möglicher Einwand zu diskutieren. Diese Diskussion führt zugleich durch die absolute Reflexion zu einer Letztbegründung der Modalitäten des Seins und stellt daher die Basis für eine weitere Bestimmung des Absoluten bereit. Es könnte demnach eingewandt werden, dass die absolute Reflexion nicht die erforderliche Voraus­ setzungslosigkeit besitze, sondern mindestens das Prinzip der Iden­ tität voraussetze, das seinerseits in dem formallogischen Satz vom Widerspruch Anwendung findet und somit eine für dieses Prinzip fundamentale Voraussetzung darstellt. Der Satz vom Widerspruch muss deshalb das Prinzip der Identität voraussetzen, weil die Instanz, der die widersprechenden Prädikate zugesprochen werden sollen, schon dieselbe sein muss. Dem Prinzip der Identität käme also eine grundlegende Bedeu­ tung zu, und es könnte der Eindruck entstehen, als wäre das Prinzip der Identität eine von außen an die absolute Reflexion herangetragene Norm, die sie selbst nicht legitimiert hat und sie dennoch zu erfül­ len hätte.612 Damit wäre die in Cramers Sinn geforderte Vorausset­ zungslosigkeit der absoluten Reflexion, die nicht von hypothetischen Bedingungen ausgehen darf, nicht gegeben. Dies ist aber deswegen nicht der Fall, weil dieses Prinzip der Identität in der absoluten Reflexion selbst gerechtfertigt wird und zudem die Nichtidentität schon den absoluten Unterschied voraussetzt. Dass das Prinzip der Identität nicht ein hypothetisches Prinzip ist, ist daran zu erkennen, dass sein Gegenteil Identität schon voraussetzt, denn eine postulierte Nichtidentität, die dazu führte, dass einer Instanz widersprüchliche 610 611 612

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 239. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 231f. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 242.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Eigenschaften zugesprochen werden könnten, setzte damit das Prin­ zip der Identität implizit wieder voraus, denn die Nichtidentität z. B. in der Aussage »A ist nicht A« muss schon die Selbigkeit des A in der Negation »nicht A« in Anspruch nehmen. Anderenfalls gäbe es überhaupt keine Instanz, auf die sich die Negation beziehen könnte. Um also die Nichtidentität zu behaupten, ist schon Identität voraus­ gesetzt, und somit ist das Prinzip der Identität das grundlegendere Prinzip. Damit ist das Prinzip der Identität durch einen apagogischen Gedankengang gerechtfertigt und kann nicht mehr einen hypotheti­ schen oder nur gesetzten Charakter haben.613 Außerdem steht die Nichtidentität schon unter der Bedingung des absoluten Unterschieds, denn dadurch, dass einer Instanz wider­ sprüchliche Eigenschaften sollen zugesprochen werden können, muss mit der Nichtidentität als möglichem Gegensatz zum Prinzip der Identität notwendig wieder das absolut Unterschiedslose behauptet werden. Denn nur einem absolut Unterschiedslosen könnten wider­ sprüchliche Eigenschaften zukommen. Dieses hatte sich aber als nicht konsistent erwiesen. Zudem müsste auch das absolut Unter­ schiedslose selbst wieder den Unterschied von Es und Bestimmung in Anspruch nehmen, denn es soll sich ja gerade von demjenigen unterscheiden, was bestimmt und unterschieden ist, was es nur kann, wenn es ist und zugleich von dem Bestimmten unterschieden ist. Dem absoluten Unterschied ist also nach Cramer nicht zu entkommen. Sind das Prinzip der Identität und der Satz vom Widerspruch damit gerechtfertigt, so besagt letzterer aber nichts über die Moda­ litäten des Seins. Denn wenn etwas widerspruchsfrei ist, besagt es noch nicht, dass es existiert. Lediglich die Existenz des formal Unmög­ lichen, also des Widersprüchlichen, kann ausgeschlossen werden. Ob aber das formal Mögliche existiert, kann weder durch den Satz vom Widerspruch noch durch ein anderes formales Prinzip entschie­ den werden. Die Modalitäten des Seins – notwendig Existierendes, möglich Existierendes und faktisch Existierendes – lassen sich formal­ logisch nicht begründen. Dies ist letztlich nach Cramer nur durch die absolute Reflexion möglich, denn schließlich steht das Prinzip der Identität unter der Bedingung des absoluten Unterschieds. Und dieser ermöglicht nun auch eine ontologische Begründung der Seinsmodalitäten: Das abso­ lute Verhältnis hatte sich als absolut notwendiges Sein herausgestellt. 613

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 242.

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6. Die Theorie des Absoluten

Mit ihm ist zugleich die Sphäre des Gesetztseins gegeben, die neben dem notwendig Gesetzten (der Qualifizierung des Absolutseins durch das Absolute) auch das nur möglich Gesetzte beinhaltet. In dem absoluten Verhältnis hatte sich das Es in seiner Funktion als Bestimmbarkeit als die Potenz zum Agere, also zur Schaffung des Anderen des Absoluten erwiesen. Dieses ist nun die Basis, um zwischen dem Möglichen, das nicht ist, und dem Existierenden, das ist, aber nicht sein muss, zu unterscheiden. Denn das de facto exis­ tierende Kontingente kann nicht notwendig sein und war vor seiner Schaffung das Mögliche in Zusammenhang mit der Potenz des Agere. Da sich aber das Bestimmbare als unerschöpflich erwiesen hat, muss es immer auch Mögliches geben, das (noch) nicht realisiert ist. Damit ist die Differenz zwischen notwendigem Sein, möglichem Sein und faktischem, kontingentem Sein selbst notwendig aus dem absoluten Verhältnis entwickelt worden und ist daher ontologisch fundiert.614 Dieses entwickelte Verhältnis hat nun aber seinerseits wieder Konsequenzen für die Weiterentwicklung der absoluten Reflexion. Das absolute Verhältnis stellte sich als das notwendige Sein heraus, dessen notwendige Qualität es war, ein begriffliches Zeugen, ein Sichbestimmen zu sein. Das Es als das Bestimmbare wurde zudem als die Grundlage für das zweite Zeugen, das Agere, bestimmt. Damit war das Absolute als Potenz zum Agere begriffen worden. Das Bestimmbare kann demnach als die Möglichkeit des Gebens (also als mögliches zweites Zeugen) aufgefasst werden. Da das Es als das Bestimmbare Moment des absoluten Verhältnisses ist, das durch das Absolute selbst begrifflich bestimmt worden ist, hat das Absolute also auch einen Begriff davon, dass es selbst diese Potenz des Agere besitzt. Das Bestimmbare als Möglichkeit des zweiten Zeugens ist also in der Selbstbestimmung des Absoluten selbst gesetzt. Da sich das Absolute also selbst die Möglichkeit, das Andere des Absoluten zu schaffen, in seinem ersten Zeugen gesetzt hat und es sein Moment des Bestimmbaren begrifflich gesetzt haben muss, muss das Absolute auch Mögliches (also Kontingentes, das sein kann) begrifflich setzen. Diese Setzung von Möglichem, das dem Agere vorauslaufen muss, nennt Cramer »Visio«.615 Die Visio hat die Qualität einer Vorstellung, und in ihr bestimmt das Absolute Mögliches, das durch das Agere verwirklicht werden kann. Somit 614 615

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 243. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 244.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

kann die Visio charakterisiert werden als »das Außer-sich-Sein am Orte des Gesetzten«616, denn es bestimmt ja mögliches Existierendes zunächst in der Sphäre des Gesetztseins.

6.3.4.5 Das Absolute als einfaches Unendliches und seine Unterscheidung vom mathematisch Unendlichen Das Absolute hatte sich in seinem Es als das Bestimmbare als nicht erschöpfbare Potenz erwiesen. Das durch das Agere zur Existenz Gebrachte wurde als das Kontingente bestimmt, das in sich ein Viel des Singulären ist. Es ist das wesentliche Merkmal des Singulären, dass es ein Viel derselben Form sein kann. Diese Möglichkeit, dass viele Gleichartige sein können, setzt nach Cramer den sogenannten »qualitätslosen Unterschied« voraus. Der qualitätslose Unterschied besagt demnach, dass es Dinge geben kann, die trotz gleicher Qualität unterschieden sind. Damit wird numerische Differenz und zugleich gleiche Bestimmtheitsform ausgesagt. Hierbei sind die Unterschie­ denen gleich bestimmt und dennoch unterschieden, was einerseits wieder einmal Cramers Analyse folgt, dass Individualität nicht durch Bestimmung allein konstituiert wird, und andererseits den qualitäts­ losen Unterschied vom absolut Unterschiedslosen unterscheidet, weil die Unterschiedenen ja in sich bestimmt sind, aber die Bestimmung jedem Element einer Klasse zukommt. Cramer sieht in dem qualitäts­ losen Unterschied die notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit der exakten Naturwissenschaften und die mit ihr vorausgesetzte Mathematisierung der Natur. Denn die exakten Naturwissenschaften zielen in ihren Generalisierungen schon auf ein Viel von Gleicharti­ gem.617 Damit ist die formale Qualität des Singulären die Quantität, die sich in den Grundbestimmungen »eines«, »viele« und »alle« ausdrückt. Da der Quantität in theoretischer Perspektive keine nume­ rische Grenze gesetzt sein kann, kann durch die Möglichkeit einer immer weiter voranschreitenden Addition – mit einem »Nochmehr« – der Gedanke des mathematisch Unendlichen entwickelt werden. Ein wichtiges Charakteristikum dieser Zahlenreihe ist die Beziehungslo­ sigkeit ihrer Elemente: Das singuläre Eine als Element hat keine 616 617

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 245. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 246.

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6. Die Theorie des Absoluten

notwendige Beziehung auf anderes Singuläres. Somit setzt eine 1 (als Element, nicht als Zahl) nicht eine andere 1 voraus. Dieser bezie­ hungslose Unterschied ermöglicht es erst auf einer abstrakten Ebene, das Viel der Singulären in einem »Nochmehr« beliebig zu steigern. Damit ist auch klar, dass das mathematisch Unendliche auf einer Abstraktion beruht: Indem von anderen Qualitäten abgesehen wird und somit nur die Quantität als Qualität thematisiert wird, können mathematische Relationen hergestellt werden, die eben auch durch ein theoretisches »Nochmehr« zu einer Unendlichkeit führen kön­ nen.618 In welchem Verhältnis steht nun das mathematisch Unendliche zur Unendlichkeit des Absoluten? Zunächst scheint klar, dass die mathematische Unendlichkeit nicht mit der Unendlichkeit des Abso­ luten identisch sein kann. Denn ein ins Unendliche gehende Viel setzt eine abstrahierende Perspektive voraus, ist also in der Sphäre des Gesetztseins und besteht aus unendlich vielen Elementen, deren Grundcharakteristikum darin besteht, dass sie in einer Beziehungslo­ sigkeit zueinander stehen. Im Unterschied dazu hat das Absolute eben keine Teile, sondern Momente, deren Anzahl nicht beliebig ist und die notwendig miteinander verbunden sind. Betrachtet man die Abhän­ gigkeitsverhältnisse zwischen beiden Konzepten der Unendlichkeit, dann steht die Potenz des Absoluten durch sein mögliches Agere als unerschöpfliche Quelle des möglichen Kontingenten in Verbindung mit der Quantität des Singulären. Das Absolute ist somit in seinem Moment des Es die Quelle des Singulären und damit Ursprung der realen Quantität, wodurch die Unendlichkeit des Absoluten auch noch Grund der mathematischen Unendlichkeit ist. Damit ist das Absolute als differenzierte Einheit die einfache Unendlichkeit, die keine Teile hat.619

6.3.4.6 Die Freiheit des Absoluten und die Freiheit des Kontingenten Das Es als das Bestimmbare ist dasjenige Moment im Absoluten, das die Bedingung für ein mögliches Agere, ein mögliches zweites Zeugen darstellt. Da das Absolute hinsichtlich des Agere durch nichts begrenzt ist, ist das zweite Zeugen als freiheitliches Zeugen 618 619

Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 247. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 172f.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

klassifiziert worden.620 Um die Freiheit des Absoluten adäquater bestimmen zu können, fasst Cramer noch einmal einige grundlegende Bedingungen von Freiheit zusammen, wie sie schon in der Theorie des Geistes entwickelt worden ist:621 »Freiheit verlangt, daß die Handlung durch uns vollbracht wird, wir, die Handelnden, ihr Ursprung sind und ein solcher, der sich zu diesem oder jenem Handeln bestimmen kann. Freiheit ist ein Sichbestimmen zu …, welches des Könnens mächtig ist. Kraft meines Vorsatzes bestimme ich mich zu diesem und nicht zu jenem. Freiheit verlangt also auch Antizipation des Zuhandelnden, Vorstellung von möglichen Handlun­ gen.«622

Systematisch ergeben sich nach Cramer fünf Bedingungen, die für Freiheit notwendig sind:623 1. 2. 3. 4. 5.

die Qualität des Sichbestimmens, die das grundlegende Merkmal des Geistes ist, das Feld der Bestimmbarkeit, das Bestimmen der Bestimmbarkeit als ein mögliches und nicht notwendiges Bestimmen, die Antizipation eines möglichen Bestimmens, die Zeit.

Diese notwendigen Bedingungen für Freiheit sind bis auf die Zeit, die im Kontext des absoluten Verhältnisses im nächsten Punkt entfaltet werden soll, entwickelt worden: (1) Das Sichbestimmen folgte aus der Entwicklung des absoluten Unterschieds zur absoluten Subjektivität, indem begründet werden konnte, dass das Es von der Qualität des »Aus« sein muss, und dieses zu der notwendigen Sphäre des Gesetztseins führte, wodurch das Absolute notwendig als Geist bestimmt worden ist. (2) Eine erneute Reflexion auf das Es als das Unbestimmte entpuppte dieses zugleich als das Bestimmbare, das damit die Grundlage für die Schaffung von neuen Qualitäten war, wodurch ein Moment im Abso­ luten benannt worden ist, das ein Feld des Bestimmbaren darstellt.

620 Zu der kritischen Absetzung zu Spinozas Freiheitsbegriff vgl. W. Cramer, Spino­ zas Philosophie des Absoluten, 47ff. 621 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 73–79. 622 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 250. 623 Vgl. für diese Punkte W. Cramer, Die absolute Reflexion, 251.

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6. Die Theorie des Absoluten

(3) Damit wurde die Qualität des Aus im Es differenziert zu einem neuen Zeugen, dem Agere, das nur ein mögliches und nicht notwen­ diges Zeugen war. (4) Da das Es als das Bestimmbare die Potenz zum Agere darstellt, und das Es aber zudem notwendig Gegenstand des begrifflichen Sichbestimmens des Absoluten ist, musste sich das Absolute seine Möglichkeit zu schaffen auch begrifflich bestimmen, was Cramer die »Visio« nannte und was die Antizipation des Absoluten bezüglich seines möglichen Agere darstellt. (5) Die Entfaltung dieser Aktivitäten setzt notwendig auch einen Zeit­ bezug voraus, der aber erst im nächsten Kapitel weiter entwickelt wird. Es ist damit aber schon gezeigt, dass die anderen notwendigen Bedingungen für Freiheit schon in der absoluten Reflexion entwickelt worden sind, so dass das Absolute als absolute Freiheit aufzufassen ist. Dementsprechend kann auch unsere endliche Freiheit aufgefasst werden als etwas, das aus dem Absoluten durch sein Agere analog zur göttlichen Freiheit gezeugt wird.

6.3.4.7 Zeit und Ewigkeit des Absoluten Die Frage nach einem Zeitbezug Gottes war nach Cramer schon ein Problem des kosmologischen Gottesbeweises, demzufolge das Absolute ja einerseits in Absetzung von den kontingenten und damit zeitlichen Ursachen konzipiert werden musste. Andererseits war nicht einzusehen, wie ein absolut zeitloser Grund als letzte Ursache des zeitlich verfassten Kontingenten selbst gar keinen Bezug zur Zeit aufweisen kann.624 Cramer zufolge ist das Konzept der Zeitlichkeit Gottes in the­ istischen Traditionen, und besonders in der christlichen Theologie, unvermeidbar, denn dort wird angenommen, dass Gott sich zur Schöpfung der Welt bestimmt, also schon vor der Schöpfung war und auch nach der Schöpfung sein wird, dass aber Gott vor allem als der Grund der endlichen Zeitlichkeit gedacht werden soll.625 Dieselbe Problematik stellt sich auch im Rahmen der absoluten Reflexion, denn die Bestimmung des Agere als mögliche Handlung des Absoluten zur Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 52. Vgl. zu einer ähnlichen Problematik bei Spinoza W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 54. 625 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 253.

624

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Schaffung des Kontingenten und die hierfür schon vorauszusetzende Freiheit des Absoluten haben nur dann Sinn, wenn es eine zeitliche Dimension im Absoluten gibt.626 Die Frage, die sich hier stellt, ist aber dann, wie diese zeitliche Dimension in das absolute Verhältnis integriert werden kann bzw. mit welcher Qualität sie im absoluten Verhältnis verbunden werden muss. Einen möglichen Anknüpfungspunkt bietet, wie oben schon angedeutet, der Bezug zur Freiheit des Absoluten: Wenn Freiheit eine konstitutive Qualität des Absoluten ist und Freiheit nur mit einer Art Zeit möglich ist, dann muss das Absolute auch eine zeitliche Dimension besitzen.627 Auch wenn diese Argumentation etwas Richtiges trifft, so bleibt doch nach Cramer eine missliche Folge dieser Interpretation: Dieser Auffassung gemäß kommt die zeitliche Dimension des Absoluten erst mit dem Gebrauch seiner Freiheit in Ausübung des Agere ins Spiel, was wiederum bedeuten könnte, dass das Absolute vor der Schaffung des Kontingenten vollkommen zeitlos war. Diese Trennung vom »zeitlichen Leben« des Absoluten und seiner »unzeitlichen Natur« kann sich aber deswegen nicht durchhalten, weil das Absolute schon vor der Schaffung des Kontingenten sich selbst Freiheit ist und ihm daher schon ein Horizont von Zeit sein muss.628 Diese Überlegung deutet schon darauf hin, dass die zeitliche Dimension des Absoluten nicht erst durch es erschaffen wird, weil jede Art des Schaffens als Aktualisierung der Freiheit schon den Zeithorizont voraussetzt. Die zeitliche Dimension des Absoluten ist also nicht in der Sphäre des Gesetztseins, sondern in seinem Moment des Seins zu suchen.629 Das führt zu dem Gedanken, die Ewigkeit des Absoluten nicht als Zeitlosigkeit zu konzipieren, sondern als bestimmte Art der Dauer: Insofern das Absolute ist, ist es immer schon gewesen. Dabei ist diese Art von Ewigkeit gerade nicht als dieselbe Form der Zeitlichkeit zu denken, wie sie sich für kontingente Seiende darbietet. Auch die endlichen Entitäten partizipieren dank ihres Erlebens an der Zeit als einer Dauer. Allerdings zeichnet sich die Zeitlichkeit des Kontingen­ ten auch dadurch aus, dass das Kontingente sich in einem Entstehen und Vergehen erfährt. Die Konzeption der Zeitlichkeit des Absoluten hat diesen Unterschied zu berücksichtigen: 626 627 628 629

Vgl. W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten, 75. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 253. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 253. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 141.

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6. Die Theorie des Absoluten

»Sie [die Ewigkeit als Zeitlichkeit des Absoluten, T.M.] müßte aller­ dings von allem Entstehen und Vergehen abgesetzt sein, wäre aber gerade ein Immerwährendes, ein immer Gewesenes und solches, das immer sein wird, immer gewesen und immer kommend, anfangslos und endlos.«630

Diese Überlegung ist aber zunächst nur als eine Art Vermutung eingeführt worden. Sie muss daher noch im Rahmen der absoluten Reflexion entwickelt werden. Zu diesem Zweck muss sich erneut der Qualität des Unbestimmten als Zeugen zugewandt werden. Denn schon das Zeugen im absoluten In-sich-Sein muss einen zeitlichen Bezug haben.631 Cramer zufolge hat die Vorstellung der Zeitlosigkeit ihre Wur­ zeln in dem aristotelischen Gedanken, dass das Absolute als das sich selbst Denkende keinen anderen Inhalt denke und damit unverän­ derlich und demzufolge zeitlos sei. Weil es keinen Wechsel in den gedachten Inhalten gebe, sei das Absolute eine zeitlose Identität. Allerdings greift hier nach Cramer die Schlussfolgerung zu kurz: Zwar gibt es in diesem Konzept keinen Wechsel der Inhalte, aber dennoch ist das Denken desselben Inhalts ein Zeugen im In-sich-Sein und Sich-Sein des Absoluten. Das Zeugen kann selbst – wie schon herausgearbeitet worden ist – keine abstrakte Zuordnung sein in dem Sinn, dass der Inhalt schon vorher da war und das Zeugen einfach als die zeitlose Relation des Zeugenden und des Inhalts gedacht werden kann. Das Zeugen als In-sich-Sein muss ein Hervorbringen sein, das gleichzeitig ein Haben von Inhalt ist. Und erst durch dieses Zeugen und Haben wird die Identität des Inhalts hergestellt. Denn wenn der Inhalt des Zeugens identisch sein soll, dann muss im Zeugen die Identität des Gezeugten konstituiert werden. In der Identifizierung des gezeugten Inhalts wird dieser auf sich selbst bezogen. Dies lässt sich an einem Beispiel erläutern: Ein gezeugtes A wird in der Identifizierung auf sich selbst bezogen, und da beide zu identifizierende Inhalte nur gezeugte Inhalte sein können, kann dies aber nur heißen, dass die Identitätsbeziehung von dem gezeugten A, welches schon war, zu dem zu identifizierenden A übergehen muss. Die Identifikation kann also nur so gedacht werden, dass im Zeugen von A auf das schon gezeugte A zurückgekommen werden muss.

630 631

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 254. Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 254.

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6.3 Cramers Theorie des Absoluten

Dies bedeutet, dass auch für das Absolute, selbst wenn es aus­ schließlich sich selbst dächte, eine zeitliche Dimension vorausgesetzt werden muss. Das Haben von gedachtem Inhalt kann nur als ein Zeugen konzipiert werden, das in seiner Rückläufigkeit, die ja das Zeugen wesentlich charakterisiert, da es durch und für den Ursprung des Zeugens gezeugt wird, zeitlich ist. Diese Rückläufigkeit ist die notwendige Bedingung dafür, dass auch der als zeitlos gedachte Inhalt als identisch identifiziert werden kann: »Das Zeugende kommt im Zeugen auf sein Gezeugthaben zurück kraft seiner Rückläufigkeit. Dieses Auf-sich-zurück-Kommen ist die Zeit. Das Haben ist die Zeit, gleichgültig, ob Zeitloses gehabt ist oder nicht. Damit ist aber notwendig auch das Zeugende selbst zeitlich. Denn um schon auf Schongezeugtes zurückkommen zu können, muß das Zeugende selbst Zeit sein. Es muß gewesen sein. Zugleich muß es, sofern es ist – und es muß schlechterdings sein – auch kommend sein. Der Ort des Seins ist also immer gewesen und immer kommend.«632

Der absoluten Reflexion folgend lässt sich also über die zeitliche Verfasstheit des Absoluten Folgendes sagen: Die absolute Reflexion hatte herausgestellt, dass das Absolute auch notwendig ein Zeugen ist. Das bestimmte Es musste die Qualität des Zeugens sein. Wenn das Absolute notwendig auch Zeugen ist, dann liegt in diesem Zeugen, auch wenn es sich immer nur denselben Inhalt zeugte, schon aufgrund der behaupteten Identität des Inhalts die zeitliche Dimension des Absoluten. Damit ist die zeitliche Verfasstheit des Absoluten nicht erst durch es gesetzt oder erst gezeugt, sondern im Zeugen als unge­ setztem Moment des bestimmten Es bereits wesentlich gegeben.633 Es muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass die Zeitlichkeit als Dauer zwar bestimmte Merkmale der endlichen Dauer teilt: Beide grenzen sich von Zeitlosigkeit in Form von ausdehnungs­ losen Zeitpunkten ab, beide sind im Zeugen auf bereits Gewesenes bezogen. Allerdings gibt es auch bedeutende Unterschiede: Für das Absolute gibt es in seinem Zeugen zwar auch einen Bezug auf Gewesenes; denn anders lässt sich die Identität des gezeugten Inhalts Cramer zufolge gar nicht denken. Aber der Unterschied zur Kon­ zeption der endlichen Dauer besteht darin, dass dieser Bezug sich nicht mit den für die endliche Dauer konstitutiven Bestimmungen 632 633

W. Cramer, Die absolute Reflexion, 255. Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 141.

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6. Die Theorie des Absoluten

von »Entstehen« und »Vergehen«, also mit Nicht-mehr-Sein und möglichem Noch-nicht-Sein explizieren lässt, zumindest, was den Inhalt des ersten Zeugens als Selbstdenken des Absoluten betrifft.634 Damit ist die Behauptung, das Absolute sei in der Zeit, irrefüh­ rend. Denn dies könnte zum einen bedeuten, dass das Absolute und die Zeit zwei unterschiedliche Sphären sind, die nur in äußerlicher Relation stehen. Zum anderen könnte es auch bedeuten, dass ange­ nommen wird, dass für das Absolute ebenso wie für die kontingenten Entitäten Zeit vergeht, so dass die Ewigkeit des Absoluten nur exten­ sional als das nie endende Übergehen in immer neue Zeitmomente zu deuten wäre. Beide Charakterisierungen können durch die in der absoluten Reflexion gefundenen Grundbestimmung des Zeugens apagogisch ausgeschlossen werden. Insofern kann der Behauptung, dass das Absolute in der Zeit sei, nur der Sinn abgewonnen werden, dass das Absolute eine zeitliche Dimension in seinem ungesetzten Moment des Zeugens seiner eigenen Bestimmung besitzt und dass dieser absolute Zeitmodus auch noch der Grund des endlichen Zeit­ modus ist.635 Das Absolute ist somit Zeit, und zwar nicht eine leere Zeit, sondern im Zeugen von Inhalt immer schon eine inhaltlich gefüllte Zeit, die ohne Anfang und ohne Ende ist. Da auch das durch das Agere geschaffene kontingente Sein am Ort des Seins gezeugt ist (es hat ja auch das Sein als Moment in sich) und dieser Ort in sich zeitlich ist, muss auch das kontingente Dasein notwendig eine zeitliche Verfasstheit aufweisen. Diese Zeitlichkeit des Kontingenten setzt aber schon die zeitliche Dimension des Absoluten voraus, die auch ohne die Schaffung des Kontingenten schon in seiner Grundbestimmung als Zeugendes gegeben ist: »Da das Absolute nicht nur Potenz ist, sondern sich Potenz ist, muß ihm die Zeit eine mögliche zu verzeitlichende sein.«636

Nur wenn das Absolute in sich Zeit ist, kann diese Zeit auch in der besonderen Form der endlichen Zeitlichkeit durch das Agere verzeitlicht werden. Damit ist die zeitliche Relation zu dem Kontingenten noch nicht zureichend bestimmt, was Cramer auch ausdrücklich zugibt: »(Hier ist vom Agere abgesehen und auch die Visio nicht berücksichtigt.)«. (W. Cramer, Die absolute Reflexion, 255). 635 Vgl. W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, 141. 636 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 255. 634

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

Die bisherigen Darlegungen haben die Cramersche Philosophie kri­ tisch rekonstruiert. Es konnte dadurch gezeigt werden, dass Cramers Grundanliegen berechtigt und seine Durchführung einen hohen Grad an Stringenz besitzt. Dies resultiert daraus, dass Cramer die berechtigten Motive der jeweiligen Gegenpositionen (die des nai­ ven Realismus, der Kantischen Transzendentalphilosophie sowie der Skepsis gegenüber der Durchführbarkeit einer Theorie des Absolu­ ten) so stark wie möglich zu machen versucht, ihnen aber in der konkreten Durchführung durch apagogische Argumentationen nach­ weisen kann, dass die dort zur Geltung kommenden Argumente auf Voraussetzungen beruhen, die sie selbst theoretisch nicht mehr einzuholen vermögen. Hatte sich schon bei der Rekonstruktion der Cramerschen Sub­ jektphilosophie gezeigt, dass die gegen sie vorgebrachten Einwände nicht stichhaltig waren, werden nun auch im Kontext der Theorie des Absoluten einige Besonderheiten kritisch zu diskutieren sein. Denn es ergibt sich bei Cramer wie bei vielen Philosophen, die an einer Theorie des Absoluten arbeiten, eine methodische Schwierigkeit, wenn es um den Status der inhaltlichen Charakterisierungen des Absoluten geht. Es entsteht allgemein, nicht nur in Cramers Ansatz, notwendi­ gerweise eine Spannung zwischen der Bedeutung der Konzepte, die für den Bereich des kontingenten Seienden entwickelt worden sind, und der Übertragung dieser Konzepte auf das Absolute. Denn als letztbegründende Bedingung wird das Absolute gerade durch ein Verhältnis eingeführt, das sowohl positive als auch negative Momente enthält: Wird das Absolute als Grund des Kontingenten eingeführt, dann es ist gerade darin positiv bestimmt. Zugleich wird es aber als letzter Grund notwendig negativ charakterisiert: Es ist das NichtBedingte (das Unbedingte, Absolute), das Nicht-Kontingente (das Notwendige), von dem gerade gelten muss, dass es nicht wie das Bedingte und Kontingente beschrieben werden kann. Damit steht das Absolute schon durch seinen Begründungskon­ text in folgender Grundspannung: Wird es als Grund des Bedingten

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

eingeführt, müssen ihm einerseits gewisse positive Eigenschaften zugesprochen werden. Mit Cramer zu sprechen: Es muss selbst bestimmt und differenziert sein. Andererseits stehen diese positiven Eigenschaften in einer gewissen Klammer, denn für ihre inhaltliche Füllung können keine positiven Kriterien aus dem Absoluten selbst angegeben werden. Dass auch bei Cramer diese Spannung zutage tritt, lässt sich an zwei Punkten deutlich machen: 1.

Einerseits wird schon durch die Methode der philosophischen Deduktion deutlich, dass die durch sie gefundenen Bedingun­ gen der Ausgangsphänomene zwar selbst inhaltlich bestimmt sein und durch ihre Rolle als Bedingungen eine inhaltliche Anbindung an den Ausgangskontext besitzen müssen, dass die Bedingungen in ihrer Bestimmtheit aber selbst unabhängig von (zumindest manchen) Bestimmungen des Ausgangs sein kön­ nen.637 Andererseits müssen aber für die Charakterisierung des Absolu­ ten wieder Konzepte benutzt werden (z. B. »Zeugen«), die ihre Bedeutung gerade in dem Ausgangskontext gewonnen haben und nun in der Übertragung modifiziert werden müssen.

2.

Wird die Übertragung der in der Subjektphilosophie gewonnenen Konzepte und die damit verbundene Bedeutungsverschiebung nicht explizit methodisch legitimiert, führt die daraus entstehende Span­ nung zu einer Begriffsverwendung, die sich dem Verdacht ausgesetzt sieht, äquivok zu sein, und damit den Status der entwickelten Einsicht zu untergraben. Daraus erwächst die Aufgabe, die von Cramer nicht geleistete Analyse dieser Begriffsverwendung und die damit ver­ bundene Bedeutungsverschiebung auf methodisch nachvollziehbare Weise nachzuholen und somit den Status der erreichten Einsichten genauer zu bestimmen. Zu diesem Zweck wird das Konzept der Grenzbegriffe zur Rekon­ struktion der Cramerschen Charakterisierung des Absoluten heran­ gezogen, das es erlauben soll, die prinzipielle Tragfähigkeit seiner Einsichten besser zu legitimieren.

637

Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 63.

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7.1 Die grenzbegriffliche Struktur in der Charakterisierung des Absoluten

7.1 Die grenzbegriffliche Struktur in der Charakterisierung des Absoluten Die oben beschriebene Spannung im Konzept des Absoluten bei Cra­ mer besteht also darin, dass das Absolute einerseits der philosophi­ schen Deduktion gemäß als Bedingung des Kontingenten nicht durch dieses bedingt ist und insofern auch nicht die Bestimmungen des Kontingenten als Ausgangsbereich teilt. Seine formale Qualifikation erhält es durch eine inhaltliche Negation: es ist das Nicht-Bedingte, das Nicht-Kontingente. Dies ist aber nur die eine Seite der Letztbe­ gründung. Die andere Seite besteht darin, die innere Struktur des Absoluten herzuleiten, und zwar so, dass durch dessen Bestimmun­ gen auch das Kontingente als freie Folge des Absoluten zu begreifen ist. Damit ist also eine inhaltliche Charakterisierung des Absoluten erforderlich, die unter der oben beschriebenen Spannung steht. Denn wenn das Gedankenexperiment der absoluten Bestimmungslosigkeit (»es sei X«) zeigt, dass es nichts geben kann, was absolut ohne Bestim­ mung ist, dann muss auch das Absolute als solches bestimmt sein. Bei der erforderlichen inhaltlichen Qualifizierung des Absoluten müssen diesem Bestimmungen zugeschrieben werden, die über die negative Bestimmung der formalen Qualifizierung (das »Nicht-Bedingte«, das »Nicht-Endliche«) hinausgehen. Dann entsteht aber die Spannung, dass die Bestimmungen einer­ seits eine inhaltliche Anbindung an den Ausgangsbereich haben (»Welt«, »Endliches«), andererseits aber die Bestimmungen des Ausgangskontextes schon der Methode der philosophischen Deduk­ tion gemäß nicht in derselben Weise für das Absolute konstitutiv sein sollen bzw. können. Diese Grundspannung in der inhaltlichen Bestimmung des Absoluten ist unumgänglich, da es sich hierbei um einen Bestimmungsversuch handelt, der eine begriffliche Beziehung zwischen zwei inhaltlich unterschiedlich bestimmten Gesprächsbe­ reichen beinhaltet. Dabei wird der erste Gesprächsbereich (»Welt«, »das Kontingente«) auf einen zweiten hin begrifflich überschritten (»das Absolute«), wobei diese Überschreitung eben auch für die inhaltliche Bestimmung des zweiten eine Relevanz haben soll. So wird beispielsweise im konkreten Fall das Absolute dann als Grund des Kontingenten qualifiziert. Das bedeutet, dass die Qualifizierung des Absoluten inhaltlich an den Ausgangsgesprächsbereich rückgebun­ den bleibt, weil nun Inhalte relevant werden, die nur in Verbindung mit dem Ausgangsgesprächsbereich bestimmt werden können.

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

Insofern die inhaltlichen Bestimmungen des zweiten Gesprächs­ bereichs in einer ganz bestimmten und noch näher zu qualifizieren­ den Weise von dem ersten Gesprächsbereich abhängen, ist es in diesem Kontext angemessen, von einem »Grenzbegriff« zu sprechen, da die notwendige inhaltliche Charakterisierung erkenntnistheore­ tisch nur indirekt – eben mit Bezug auf einen und ausgehend von einem vorausgesetzten Gesprächsbereich – geleistet werden kann. Insofern ist auch die inhaltliche Charakterisierung des Absoluten eine grenzbegriffliche Leistung und die Tragfähigkeit der inhaltlichen Zuschreibungen lässt sich nur dann angemessen bestimmen, wenn die grenzbegriffliche Struktur begründet dargelegt werden kann.638 Auschlaggebend bei der philosophischen Analyse von Grenzbe­ griffen ist ihre logisch strukturierte Vermittlungsleistung zwischen zwei Gesprächsbereichen. Hierbei finden sich schon etymologische Hinweise, die für die Konzeption der Grenzbegriffe erhellend sind. Bedeutete der Begriff »Grenze« ursprünglich Vermittlung, da er »auf der vorstellung eines raumes diesseits und jenseits der scheidelinie fuszt«639, so wandelte sich die Bedeutung des Begriffs ab dem 18. Jahrhundert mehr und mehr zu »Schranke«, die den Abschluss eines Bereichs bezeichnet. In diesem Kontext ist die erste Bedeutung von Interesse, da es um einen Ausgangsbereich geht, der auf einen anderen Bereich hin überschritten werden soll. Der Grenzbegriff hat dementsprechend einen relational-vermittelnden Charakter. Aufgabe der Philosophie ist es zum einen, die Struktur der Grenzbegriffe zu beschreiben, zum anderen aber auch, deren Vermittlungsleistung zu bestimmen. Durch Letzteres sollte es dann möglich werden, Kriterien zu entwickeln, durch die die Grenzüberschreitung rational begründet werden kann und somit nicht nur auf intuitive und appellative Momente angewie­ sen ist. Das bedeutet, es geht darum, die »bereichs- bzw. kontext­ überschreitenden Denkschritte logisch-argumentativ zu erhellen«.640 Dies wird weiter unten durch Beispiele verdeutlicht werden.

638 Die nachfolgenden Erörterungen der intensionalen Grundstruktur von Grenzbe­ griffen basieren im Wesentlichen auf einem Kapitel meines Buches »Gott, Welt, Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads«. Vgl. T. Müller, Gott, Welt, Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 237–252. 639 J. Grimm / W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Spalte 124. 640 H. Schrödter, »Zur religionsphilosophischen Bedeutung von Grenzbegriffen. Ein Versuch als Diskussionsgrundlage«, 1.

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7.1 Die grenzbegriffliche Struktur in der Charakterisierung des Absoluten

Grenzbegriffe treten in Argumentationskontexten auf, in denen die wesentliche Bestimmtheit der Ausgangskontexte thematisiert wird. Da diese Thematisierung die inhaltliche Bestimmtheit des Ausgangsgesprächsbereichs und ihr Verhältnis zu einem anderen Gesprächsbereich beinhaltet, muss die hier verwendete Logik eine intensionale Logik bzw. Begriffslogik sein, da hier eine extensionale Logik zu Paradoxien führen würde.641 Es wird somit die charakteristi­ sche Bestimmtheit eines ganzen Gesprächskreises thematisiert, was extensionallogisch nicht möglich ist, setzt doch der extensionallogi­ sche Ansatz diese Bestimmtheit als ein vorlogisches Moment voraus und kann es deshalb nicht mehr eigens thematisieren. Insofern ein Grenzbegriff also auf die Verhältnisbestimmung zweier inhaltlich aufeinander bezogener Gesprächskreise abzielt, bedeutet die Bildung eines Grenzbegriffs daher, einen Gesprächskreis so zu überschreiten, dass seine Bestimmtheit zum Thema und somit problematisiert wird. Die Überschreitung des Ausgangsgesprächsbe­ reichs meint daher zugleich die Negation eines seiner wesentlichen Charakteristika. Somit wird der Ausgangsgesprächsbereich in eine Differenz zu dem Bereich gesetzt, auf den hin jener überschritten wird, wobei beide Bereiche durch ein strukturiertes Negationsverhältnis verbunden bleiben.642 Bei dieser intensionalen Negation handelt sich um die modale Lesart des sogenannten privativen Negationsver­ hältnisses, das den Übergang von einem inhaltsreicheren Begriff (Negiertes) zu einem im Negierten enthaltenen, weniger inhaltsrei­ chen Begriff (Negat) besagt.643 Das bedeutet, dass ein konstitutives Merkmal eines themati­ schen Ausgangsbereichs (z. B. »Welt«) aufgrund einer Fragestellung negiert und auf einen weiteren (inhaltlich weniger bestimmten) Bereich (z. B. das Absolute als das Nicht-Kontingente) überschrit­ ten wird. Grenzbegriffliche Bestimmung ist also immer relational und vermittelt somit zwei Gesprächskreise, die in einer inhaltlichen Beziehung stehen, die aber keine gemeinsamen Teilmengen besit­ zen. Mit Hilfe der intensionalen Logik, die zur Thematisierung der Bestimmtheit eines Gesprächsbereichs herangezogen werden muss, können nun die Abgrenzung des Ausgangsbereichs sowie 641 Vgl. H. Schrödter, »Zur religionsphilosophischen Bedeutung von Grenzbegriffen. Ein Versuch als Diskussionsgrundlage«, 2. 642 Vgl. H. Schrödter, »Zur religionsphilosophischen Bedeutung von Grenzbegriffen. Ein Versuch als Diskussionsgrundlage«, 2f. 643 Vgl. B. v. Freytag-Löringhoff, Logik I, 22, 27, 83f.

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

die Charakterisierung des zu überschreitenden Gesprächsbereichs in Angriff genommen werden. Anzumerken bleibt, dass die weiterfüh­ rende Betrachtung dieser Grenzüberschreitung zwar auf intensional­ logische Strukturen und Operationen zurückgreift (bzw. zurückgrei­ fen muss), sie selbst aber keine rein logische Operation ist. Es gehört vielmehr zur philosophischen Reflexion im Allgemeinen, begriffliche Verhältnisse von Bereichen untereinander zu bestimmen. Damit kommt bei grenzbegrifflichen Reflexionen ein pragmatisches Moment ins Spiel. Dabei lässt sich durch den Status als Grenzbegriff das prinzipielle Begründungsverhältnis eines thematisierten Gesprächsbereichs (z. B. »Welt« in metaphysischer Perspektive) und der in den Blick kommenden Instanz (das Absolute) zusammenhän­ gend thematisieren. Ziel dieses Kapitels ist es, die fundierte Skizze einer Philosophie der Grenzbegriffe zu geben, die es ermöglicht, die oben genannte Spannung in Cramers inhaltlicher Bestimmung des Absoluten mit dem grenzbegrifflichen Instrumentarium so zu bearbeiten, dass der Status dieser Bestimmung deutlich herausgearbeitet werden kann. Da es sich bei Grenzbegriffen um intensionallogische (inhaltslogische, begriffslogische) Strukturen handelt, werden zunächst einige grund­ legende Strukturen der intensionalen Logik dargestellt. Anschließend wird anhand dieser Grundlagen die Struktur von Grenzbegriffen erläutert, bevor die Besonderheiten des absoluten Grenzbegriffs the­ matisiert werden.644

7.2 Merkmale einer Begriffslogik Wie sich noch konkreter zeigen wird, setzt die inhaltliche Charakte­ risierung von Grenzbegriffen eine intensionale Logik voraus, die im Vergleich zur extensionalen Logik philosophisch wenig beachtet und bearbeitet worden ist. Aus diesem Grund werden hier kurz einige grundlegende Bestimmungen einer intensionalen Logik genannt, die für die Erörterung der Grenzbegriffe relevant sind. Bei der intensiona­ len Logik handelt es sich um eine Begriffstheorie, mit der logische 644 Eine Skizze der der logischen Struktur der Grenzbegriffe findet sich in H. Schrödter, »Zur religionsphilosophischen Bedeutung von Grenzbegriffen. Ein Versuch als Diskussionsgrundlage«.

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7.3 Grundanliegen einer intensionalen Logik

Begriffszusammenhänge analysiert werden können.645 Dabei lässt sich mit Hermann Schrödter sagen, dass es sich bei »Begriffen« um einen gerichteten Zusammenhang vom Subjekt über Sprache zur Welt handelt, wobei der Begriff die Einheit unterschiedener inhaltli­ cher Bestimmungen darstellt.646 Diese inhaltlichen Bestimmungen eines Begriffs werden »Intension« genannt, während man die Klasse derjenigen Elemente, denen der Begriff zukommt, »Extension« nennt.647

7.3 Grundanliegen einer intensionalen Logik Um Missverständnisse zu vermeiden, sei hier noch einmal betont, dass es einer intensionalen Logik nicht darum geht, die Extension nicht mehr zu berücksichtigen.648 Das Hauptaugenmerk einer inten­ sionalen Logik gilt vielmehr in erster Linie der Untersuchung und formalen Darstellung der inhaltlichen Bestimmungen von Begriffen und deren Relationen. Dabei ist sie relativ einfach aufzubauen und voraussetzungsärmer als eine extensionale Logik.649 Die intensionale Logik kommt dementsprechend vor allem dann ins Spiel, wenn es Vgl. H. Schrödter, Analytische Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme, 284. 646 Die hier zugrundeliegenden Begriffsverhältnisse lassen sich prinzipiell auf drei Ebenen beziehen. Es handelt sich 1. um den Bezug des Begriffs zu seinem sprachlichen Symbol, 2. um den Bezug auf den Inhalt des Begriffs und 3. um den Bezug auf das Subjekt (vgl. H. Schrödter, Analytische Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme, 284). Als Beispiel für eine philosophisch anspruchsvolle Begriffs­ theorie ist nach Schrödter Hegels Philosophie zu nennen. 647 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 241f. 648 Vgl. dazu P. Weingartner, »Die Fraglichkeit der Extensionalitätsthese und die Probleme der intensionalen Logik«, 132. 649 Zu den Möglichkeiten der Konzeption einer intensionalen Logik vgl. die drei Entwürfe von R. Kauppi, Einführung in die Theorie der Begriffssysteme; B. von Freytag-Löringhoff, Logik. Ihr System und ihr Verhältnis zur Logistik; L. Geldsetzer, Logik. Die drei Konzeptionen haben je verschiedene Vorteile: Kauppi stellt ein formalisiertes Begriffskalkül vor, das sich aus einer Grundrelation (»Enthaltensein«) ableiten lässt. Bei von Freytag-Löringhoff ist es die weitreichende Ausarbeitung des Ansatzes sowie der Rückgriff auf graphische Darstellung der Begriffsinhalte. Der Ansatz von Geldsetzer bietet durch die pyramidale Notation der Begriffe eine anschauliche Darstellung. Abgesehen von den jeweiligen Vorteilen der Konzeptionen lassen sich prinzipiell die inhaltlichen Systematisierungen ineinander übersetzen. Für einen Entwurf, der die verschiedenen Ansätze vereinheitlicht und weiterführt, 645

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

darum geht, die begrifflichen Bestimmungen und deren Relationen zu thematisieren, die bei der extensionalen Logik nur vorausgesetzt werden. Denn um extensionallogisch arbeiten zu können, muss der betrachtete Gesprächsbereich bereits inhaltlich bestimmt sein, und diese inhaltlichen Bestimmungen erscheinen unter Verwendung einer extensionallogischen Methode als vorlogische Momente. Daher ist es auch nicht möglich, die intensionale Logik einfach auf eine extensionale Logik zu reduzieren, was sich an einem konkre­ ten Beispiel relativ einfach veranschaulichen lässt: Zwei Dinge sind intensional nicht schon allein deswegen identisch, weil ihre Extensio­ nen identisch sind. Denn wenn der Begriffsumfang identisch ist, dann muss es der Begriffsinhalt nicht notwendigerweise sein. Die begriffli­ chen Bestimmungen »Vater der Logik« und »Lehrer Alexanders des Großen« sind zwar extensional identisch, weil sie sich auf Aristoteles beziehen, aber die Bestimmung »Vater der Logik« ist inhaltlich nicht in »Lehrer Alexanders des Großen« enthalten.650 Aus der Perspektive der extensionalen Logik lassen sich aber hinsichtlich eines Vergleichs der beiden begrifflichen Bestimmungen keine anderen Bezugspunkte als die Extensionen angeben, womit die intensionalen Momente nicht innerhalb ihres Kalküls thematisiert werden können. Im Kontext der Grenzbegriffe sind drei wichtige Bestimmungen der intensionalen Logik – »Enthaltensein«, »intensionale Negation« und »genereller Begriff« – relevant, die nun kurz erläutert werden sollen.651 Die Grundrelation der intensionalen Logik bildet das »Ent­ haltensein«. Sie stellt eine zweistellige Relation dar, die zwischen zwei Begriffen a und b genau dann besteht, wenn die Intension von b Teil vgl. H.-J. Müller, Logik neu denken. Pragmatisch-philosophische Systematik des Vernetzens von Begriffen. Einführung in die Begriffslogik. Müller entwickelt hierzu einen Maschenquadrupel, das als Minimalstruktur von Bestimmtheit (Gattung, Art, Nebenart und die Verschmelzung aller Intensionen des Quadrupels zum »Spielmate­ rial«) analog zu der einfachen Gruppe in Mathematik konzipiert ist. 650 Vgl. dazu P. Weingartner, »Die Fraglichkeit der Extensionalitätsthese und die Probleme der intensionalen Logik«, 132. Für eine detaillierte Kritik siehe M. Wolff, Abhandlungen über die Prinzipien der Logik. Wolff möchte zeigen, dass es einen »begrenzten, übergeordneten Teil der deduktiven Logik gibt – ich werde ihn als ›Syllogistik‹ bezeichnen –, der im Unterschied zur mathematischen Logik nicht von Wahrheits- oder Aussagenfunktionen handelt, in dem aber Regeln aus Prinzipien abgeleitet werden, von denen (auch) die mathematische Logik Gebrauch machen muss.« (M. Wolff, Abhandlungen über die Prinzipien der Logik, XIV). 651 Vgl. für die nachfolgende Argumentation vor allem T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A. N. Whiteheads, 243f.

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7.3 Grundanliegen einer intensionalen Logik

der Intension von a ist. So ist in dem Begriff a »tierisches Lebewesen« das Merkmal (also der Begriff) b »Lebewesen« enthalten, was zugleich bedeutet, dass der Begriff b somit intensional weniger bestimmt ist als sein Spezifikat a.652 In der intensionalen Logik sind zwei Begriffe dann miteinander vergleichbar, wenn sie mindestens einen eigentlichen Begriff als ihr gemeinsames Merkmal enthalten.653 Die Begriffe »rot« und »gelb« sind also deswegen vergleichbar, weil sie beide das gemeinsame Merkmal der Farbigkeit besitzen.654 Wichtig im Kontext der Grenz­ begriffe ist, dass die intensionale Logik – im Gegensatz zur extensio­ nalen Logik – über verschiedene Arten der Negation verfügt. Dies ist eine grundlegende Voraussetzung, wenn es um eine Verhältnis­ bestimmung inhaltlich unterschiedener Gesprächsbereiche geht, die aber aufeinander bezogen sind. Denn es wird sich zeigen, dass Unter­ schiedenheit nicht mit absoluter begrifflicher Beziehungslosigkeit gleichzusetzen ist. Für diese begriffliche Verhältnisbestimmung ist die sogenannte intensionale Negation von großer Bedeutung. Sie kann definiert werden als das größte gemeinsame Merkmal aller mit einem Begriff unvereinbaren Begriffe. Mit anderen Worten: Die in der Relation der intensionalen Negation stehenden Begriffe besitzen keinen gemein­ samen Inhalt außer dem gemeinsamen generellen Begriff des jeweili­ gen Gesprächsbereichs, dem sie angehören. Generell handelt sich bei allen Arten von intensionallogischen Negationen um die modale Les­ art des sogenannten privativen Negatverhältnisses, das den Übergang von einem inhaltsreicheren Begriff (Negiertes) zu einem im Negierten enthaltenen weniger inhaltsreichen Begriff (Negat) besagt.655 Durch die intensionale Negation ist es möglich, Unterschieden­ heit ohne Getrenntheit zu denken, weil durch die intensionale Nega­ tion nur bestimmte begriffliche Gemeinsamkeiten negiert werden, was aber nicht heißt, dass die in Beziehung stehenden Gegenstände bzw. Bereiche nicht andere gemeinsame inhaltliche Bestimmungen teilen könnten. Welche biologischen Unterschiede es z. B. auch zwi­ Vgl. R. Kauppi, Einführung in die Theorie der Begriffssysteme, 35f. »Als das eigentümliche Merkmal der eigentlichen Begriffe wird angesehen, daß sie wenigstens prinzipiell irgendeinem denkbaren Gegenstand beigelegt werden können, während ein nichteigentlicher Begriff keinem Gegenstand zukommen kann.« (R. Kauppi, Einführung in die Theorie der Begriffssysteme, 12). 654 Vgl. R. Kauppi, Einführung in die Theorie der Begriffssysteme, 38f. 655 Vgl. B. v. Freytag-Löringhoff, Logik I, 22, 27, 83f. 652

653

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

schen Menschen und Delphinen geben mag: Beiden ist u. a. gemein­ sam, dass sie zur Gattung der Säugetiere gehören. Diese Möglich­ keit, Unterschiedenheit ohne Getrenntheit denken zu können, ist gerade im Bereich der Grenzbegriffe von entscheidender Bedeutung, wenn man das Verhältnis zweier Bereiche begriffslogisch thematisie­ ren möchte.656 Für eine intensionale Negation gilt der »Satz des ausgeschlosse­ nen Dritten« nicht von vornherein, da hier nur eine bestimmte inhalt­ liche Bestimmung negiert wird. Das bedeutet, dass man begriffslo­ gisch durch die Negation eines Spezifikums auf eine allgemeinere begriffslogische Ebene gelangt, die immer noch inhaltlich bestimmt ist. Daraus folgt, dass die doppelte intensionale Negation nicht ohne Weiteres mit dem Ausgangsbegriff zusammenfällt, weil man durch die intensionale Negation nicht einfach den Begriff und sein Negat gewinnt. Denn die doppelte Negation führt zwar wieder vom allge­ meineren Begriff zu einem Spezifikat, allerdings wird rein logisch dadurch noch nicht festgelegt, welche der inhaltlichen Bestimmungen für dieses Spezifikat relevant sind. Diese Entscheidung hängt von pragmatischen Aspekten ab, so dass die doppelte Negation in der intensionalen Logik die logische Struktur der Bewegung zwischen Ebenen begrifflichen Thematisierens beschreibt. Damit ergibt sich für die doppelte Negation in der intensionalen Logik eine dreigliedrige Struktur: ursprünglicher Begriff, das Negat und die doppelte Nega­ tion.657 Im Kontext der Grenzbegriffe spielt zudem – vor allem für die erste intensionallogische Negation – der »generelle Begriff« eines Gesprächsbereichs eine besondere Rolle, der in der intensiona­ len Logik auch »Generalisat« genannt wird.658 Das Generalisat ist die allgemeinste begriffliche Bestimmung des jeweilig thematisier­ ten Gesprächsbereichs und somit in allen anderen Begriffen dieses Bereichs enthalten. Das bedeutet, es ist damit der einzig gemeinsame

Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 243. 657 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 244. 658 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 244. 656

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7.4 Philosophische Betrachtungen der Struktur von Grenzbegriffen

Inhalt zweier in Negatrelation stehender Begriffe eines thematisierten Gesprächsbereichs und innerhalb von diesem nicht-negierbar.659 Das Generalisat spielt auch bei der Abgrenzung und dem InBeziehung-Setzen von Gesprächsbereichen eine wesentliche Rolle, denn durch die Negation des Generalisats kann ein Gesprächsbereich auf einen anderen Bereich hin überschritten werden. Intensionallo­ gisch bedeutet dies zunächst, dass für die einzelnen Gesprächsberei­ che spezifische Generalisate angegeben werden müssen. Dabei kann es sich je nach Fragestellung um sehr allgemeine Bestimmungen handeln (z. B. das auszeichnende Merkmal der Kontingenz für den Gesprächsbereich »Welt«). Es kann sich aber auch um eine inhaltliche Bestimmung handeln, die durch eine bestimmte Fragestellung und die Verwendung der dazugehörigen Methoden festgelegt wird (wie beispielsweise die kausal-funktionale Beschreibung der naturwissen­ schaftlichen Thematisierungen der Wirklichkeit). So ist der Bereich des Physikalischen beispielsweise derjenige Aspekt der Wirklichkeit, der durch die in der Objektsprache der Physik verwendeten Methoden thematisiert werden kann, wobei in diesem Fall auch die experimen­ telle Überprüfbarkeit als konstitutives Merkmal eingebunden ist.660 Damit steht das notwendige begriffslogische Instrumentarium zur Verfügung, mit dem die logischen Bedingungen und das methodische Verfahren einer inhaltlichen Charakterisierung von Grenzbegriffen angegeben werden können.

7.4 Philosophische Betrachtungen der intensionallogischen Struktur von Grenzbegriffen Aufgrund der philosophischen Analyse der Grenzbegriffe lassen sich insgesamt vier Besonderheiten des Grenzbegriffs angeben: 1.

Grenzbegriffe sind immer standpunktgebunden, weil durch die Thematisierung einer charakteristischen Bestimmung eines

659 Vgl. R. Kauppi, Einführung in die Theorie der Begriffssysteme, 60 f. Für weitere Bestimmungen des intensionallogischen Begriffskalküls siehe H. Schrödter, Analyti­ sche Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme, 293. 660 Hier ist anzumerken, dass eine solche Verwendung nicht unmittelbar eine Eintei­ lung in ontologische Bereiche zur Folge haben muss, denn durch die Verwendung der naturwissenschaftlichen Methoden werden zunächst nur die Aspekte der Wirklichkeit thematisiert, die sich durch die jeweiligen Methoden beschreiben lassen.

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

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Gesprächsbereichs dieser immer den Ausgang der grenzbegriff­ lichen Reflexion bilden muss.661 Es muss also zunächst ein gewisser Gesprächsbereich inhaltlich bestimmt werden, was dadurch geschieht, dass man ein für diesen Gesprächsbereich konstitutives inhaltliches Charakteristikum findet. Somit setzen Grenzbegriffe immer schon einen strukturierten und bestimm­ ten Ausgangsbereich voraus, der dann auf einen anderen Bereich hin überschritten bzw. bezogen wird.662 Grenzbegriffe erlangen ihre vermittelnde Funktion dadurch, dass sie durch ein Negationsverhältnis entstehen, das aus metho­ dischen Gründen für die inhaltliche Qualifizierung des Grenz­ begriff selbst und für die Neuqualifizierung des Ausgangsbe­ reichs immer erhalten bleibt und deshalb konstitutiv ist.663 Der Grund für diese Negation des Ausgangsbereichs und die damit verbundene Überschreitung in einen neuen Bereich kann z. B. darin zu suchen sein, dass sich innerhalb des Ausgangs­ bereichs als ganzen Funktionen zeigen, die ein Zurückgehen auf einen weniger bestimmten, einbettenden Kontext erfordern. Gibt es z. B. Qualitäten, die zwar eine Relevanz für diesen ersten Gesprächskreis haben, aber prinzipiell nicht mehr aus diesem erklärt werden können? Zur Charakterisierung des zweiten, den ersten Bereich einbettenden Bereichs gelangt man nur durch eine zweite intensionale Negation, die – wie oben ausgeführt – in anderer Perspektive wieder in den Ausgangsbereich zurück­ führt.664 Das bedeutet, der Grenzbegriff ist inhaltlich nicht direkt durch den Ausgangsbereich zu charakterisieren. Seine inhaltli­ che Charakterisierung kann ihm nur dadurch zukommen, dass seine Bestimmungen eine gewisse Relevanz für den Ausgangs­ bereich haben und eben dadurch indirekt beurteilbar werden,

Vgl. H. Schrödter, »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«, 183. 662 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 246. 663 Vgl. H. Schrödter, »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«, 183. 664 Vgl. H. Schrödter, »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«, 185f; ders. »Zur religionsphiloso­ phischen Bedeutung von Grenzbegriffen. Ein Versuch als Diskussionsgrundlage«, 3. Allgemein zur doppelten intensionalen Negation: R. Kauppi, Einführung in die Theorie der Begriffssysteme, 56f. 661

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7.4 Philosophische Betrachtungen der Struktur von Grenzbegriffen

3.

4.

weil sich diese im Ausgangsbereich zu bewähren haben. Von großer Wichtigkeit für die Gewinnung der inhaltlichen Charak­ terisierung der Grenzbegriffe ist somit die Beibehaltung der Reihenfolge dieser Schrittfolge – und damit die pragmatische Dimension der grenzbegrifflichen Reflexion –, da es sich bei der verwendeten doppelten intensionalen Negation, die für die inhaltliche Charakterisierung des Grenzbegriffs unentbehrlich ist, um ein strukturiertes Durchlaufen von Begriffs- und Reflexi­ onsebenen handelt.665 Durch einen Grenzbegriff kann der Ausgangsbereich nicht extensional erweitert werden, da er die intensionale Negation eines strukturierten Bereichs als ganzen voraussetzt.666 Es wer­ den dem Ausgangsbereich durch den Grenzbegriff also keine neuen Elemente hinzugefügt. Vielmehr wird der Ausgangsbe­ reich auf einer anderen Ebene um intensionale Bestimmungen erweitert. Somit werden alle im Ausgangsbereich vorkommen­ den Elemente durch eine grenzbegriffliche Bestimmung neu qualifiziert. Grenzbegriffe betreffen so immer schon anderweitig Bestimmtes, indem sie es intensional weiterbestimmen. Mit anderen Worten: Sie erlauben eine Neuqualifizierung des Aus­ gangskontextes bzw. seiner Elemente, ohne eine eigenständige Extension bzw. extensionale Gliederung zu generieren.667 Dadurch, dass jeder Grenzbegriff immer schon einen intensional negierten Ausgangsbereich voraussetzt, ist er nur über dieses negative Verhältnis zum Ausgangsbereich charakterisierbar, da ihm anders keine begründete Intension zugesprochen werden kann.668 Er ist somit kein Begriff des Ausgangsbereichs, denn dann könnte man ihn wie die Begriffe in diesem gewinnen und der Grenzbegriff wäre in derselben Art wie die Begriffe innerhalb des ursprünglichen Gesprächsbereichs zu behandeln. Dies würde beinhalten, dass für den Grenzbegriff genau die

Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 246. 666 Vgl. H. Schrödter, »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«, 185. 667 Vgl. H. Schrödter, »Zur religionsphilosophischen Bedeutung von Grenzbegriffen. Ein Versuch als Diskussionsgrundlage«, 4; T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 247. 668 Vgl. H. Schrödter, »Zur religionsphilosophischen Bedeutung von Grenzbegriffen. Ein Versuch als Diskussionsgrundlage«, 4. 665

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

gleichen Kriterien und Prinzipien gelten müssten, wie sie für die im Ausgangsbereich gewonnenen Begriffe gelten. Dies verbietet aber schon aus methodischen Gründen die Art und Weise, wie der Grenzbegriff gewonnen wird, der ja überhaupt nur in den Blick kommt, wenn man den Ausgangsbereich als ganzen (inklusive der dort geltenden Prinzipien) intensional negiert. Der Grenzbegriff muss also, wenn er inhaltlich charakterisiert werden soll, eine Relevanz für den jeweiligen Ausgangsbereich besitzen, die unter Beibehaltung seiner negativen Relation wei­ ter zu bestimmen ist. Er ist aber nicht in derselben Art und Weise beurteilbar wie die Begriffe innerhalb des Ausgangsbereichs.669 Es ist hier noch anzumerken, dass Grenzbegriffe, da sie immer nur relational gewonnen werden können, neben den üblichen begriffs­ logischen auch relationslogische Bestimmungen besitzen wie z. B. »Bereichsbestimmung«, »Bereichsbeschränkung« oder »Unterrela­ tion«.670 Durch die logisch-philosophische Reflexion wird die Struktur eines intensionallogischen Grenzbegriffs deutlich, wodurch er von Grenzbegriffen abgesetzt werden kann, die mit der mathematischen Limesbildung assoziiert werden. Denn eine solche setzt einen exten­ sionallogisch bestimmten Kontext voraus und bewegt sich nur inner­ halb eines Ausgangskontextes, weil man sich bei mathematischen Limesbildungen an einen Wert annähert, aber diesen nie überschrei­ tet.671 Bei der Bestimmung des Status von Grenzbegriffen ist die Struktur der zugrundeliegenden Negationsverhältnisse von höchster Wichtigkeit. Denn diese beinhaltet einerseits durch die intensionale Negation eine inhaltliche Überschreitung des Ausgangsbereichs, andererseits durch eine zweite intensionale Negation aber auch eine gewisse Rückbindung an diesen. Dieses Zugleich von inhaltlicher Unterschiedenheit und Bezogenheit ist auf das nicht-reduzierbare doppelte Negationsverhältnis zurückzuführen.

Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 247. 670 Vgl. R. Kauppi, Einführung in die Theorie der Begriffssysteme, 97–100. 671 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 247. 669

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7.5 Beispiele von Grenzbegriffen

7.5 Beispiele von Grenzbegriffen Welche Begriffe nun konkret als Grenzbegriffe zu betrachten sind, hängt zunächst von gewissen Annahmen ab, welche die jeweiligen Generalisate des Ausgangsbereichs betreffen. Werden in dem jewei­ ligen Gesprächsbereich konstitutive Merkmale intensional negiert und somit der ursprüngliche Gesprächsbereich auf einen einbettenden Gesprächsbereich hin überschritten, so dass es nach wie vor eine inhaltliche Anbindung gibt, handelt es sich um relative Grenzbegriffe, wie nun kurz illustriert werden soll. Zunächst wird mit dem Verhältnis von physikalischer Kosmologie und »eigentlicher« Physik ein Beispiel für einen relativen Grenzbegriff aus dem Bereich der Naturwissen­ schaften angeführt, bevor der »absolute« Grenzbegriff thematisiert werden soll.

7.5.1 Relative Grenzbegriffe Ein Beispiel für relative Grenzbegriffe findet sich in der Verhält­ nisbestimmung von physikalisch-kosmologischen Hypothesen zur »eigentlichen« Physik. Während die Rationalität der »eigentlichen« Physik (auch in ihren theoretischen Überlegungen) letztlich immer an die experimentelle Bestätigung ihrer Ergebnisse im Labor gebunden ist, ist eine solche experimentelle Prüfung, in der die Ausgangsbedin­ gungen künstlich reproduziert werden, bei physikalisch-kosmologi­ schen Theorien aus methodischen Gründen nicht möglich. Vielmehr setzen diese Theorien die physikalische Bestimmtheit des Univer­ sums samt aller durch Experimente überprüfbaren Gesetzmäßigkei­ ten prinzipiell schon voraus.672 Das bedeutet: Während es ein charakteristisches Merkmal der »eigentlichen« Physik ist, ihre Ergebnisse im Labor zu überprüfen, muss die physikalische Kosmologie notwendig diese allgemeine Bestimmung der laborgemäßen Reproduzierbarkeit negieren, wenn sie die Entwicklungsgeschichte des Universums und die damit ver­ bundenen Gesetzmäßigkeiten thematisieren will. Bei der Formulie­ rung der physikalischen »Weltmodelle« kann und muss die physi­ kalische Kosmologie sich zwar auf die eigentliche Physik stützen Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 249.

672

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

und versuchen, die kosmologischen Beobachtungsdaten mit ihren Modellen abzugleichen. Dieses Verfahren ersetzt gewissermaßen den Laborbezug, liegt aber begründungstheoretisch auf einer anderen Ebene, weil die Annahmen der physikalischen Kosmologie nicht mehr direkt geprüft werden können. Als mögliches Kriterium für die Plau­ sibilität der jeweiligen Modelle lässt sich nur noch die Kompatibilität mit Annahmen aus anderen Bereichen angeben. Damit lässt sich die physikalische Kosmologie als grenzbegriff­ liche Struktur auffassen. Bei der Bestimmung der experimentellen Überprüfbarkeit im strengen Sinne setzt die erste intensionale Nega­ tion ein. Der Bereich, auf den hin der Ausgangsbereich überschritten wird, ist dadurch charakterisiert, dass es in ihm zwar physikalische Gesetzmäßigkeiten geben soll, aber nach Erklärungen für Bestimmt­ heiten gesucht wird, die im Ausgangsbereich nur vorausgesetzt werden können (z. B. die Bestimmtheit der physikalischen Konstan­ ten, die Ausdehnung des Universums, die Verteilung der Materie innerhalb des Universums, das Vorhandensein und die Verteilung der Hintergrundstrahlung usw.) und deren Zustandekommen nicht mehr im physikalisch üblichen Sinne experimentell unter Laborbe­ dingungen überprüfbar ist. Der Ausgangsbereich wäre demnach der physikalische Kosmos, insofern er experimentell überprüfbar ist. Nun geht es in der physikalischen Kosmologie gerade darum, Theorien über frühere Zustände des Kosmos zu entwickeln, die den heutigen Zustand (samt aller experimentell überprüfbaren Sachver­ halte) erklären sollen. Dabei sollen die früheren Zustände inhaltlich mit dem heutigen Zustand zusammenhängen, aber jene können nicht in derselben Weise überprüft werden und müssen von daher schon einen anderen Status innerhalb der physikalischen Forschung besit­ zen. Es wird also noch innerhalb der Physik danach gefragt, welche Entwicklungsstadien der Kosmos durchlaufen hat und welche Gesetz­ mäßigkeiten dafür anzusetzen sind, damit die jetzt geltenden physi­ kalischen Gesetze entstehen konnten. Diese Verhältnisbestimmung lässt sich nun grenzbegrifflich fassen, denn die Rechtfertigung von Annahmen einer physikalischen Kosmologie bekommt man somit durch eine zweite intensionale Negation dieses – aus physikalischer Sicht – grenzbegrifflichen Bereichs. Diese zweite intensionale Nega­ tion führt wieder in den Ausgangskontext zurück, denn die im grenzbegrifflichen Bereich gemachten Überlegungen müssen eine Relevanz für ihren Ausgangskontext besitzen, indem sie bestimmte

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7.5 Beispiele von Grenzbegriffen

vorausgesetzte Ergebnisse bzw. Phänomene erklären, ohne selbst in der gleichen Weise experimentell überprüfbar zu sein.673 Dies führt in der physikalischen Kosmologie zu einer ungeheuren Anzahl von kon­ kurrierenden, scheinbar gleichwertigen Modellen der Weltentste­ hung, wodurch der grenzbegriffliche Status dieser Theorien illustriert werden kann. Diese Pluralität kosmologischer Modelle ist eine Folge der ersten intensionalen Negation in diesem Bereich, die die experi­ mentelle Überprüfbarkeit im Labor suspendiert, so dass nun experi­ mentell keine direkte Entscheidung über ihre Richtigkeit herbeige­ führt werden kann. Ob ein Modell in der physikalischen Kosmologie satisfaktionsfähig ist, orientiert sich dann an seiner Fähigkeit, die vorausgesetzten Phänomene im Ausgangsbereich zu erklären. Die hohe Anzahl dieser Modelle resultiert also daraus, dass es im weniger bestimmten (weil experimentell nicht mehr direkt überprüfbaren) Grenzbereich aus logischen Gründen immer mehrere Möglichkeiten gibt, die Phänomene konsistent zu erklären.674

7.5.2 Der absolute Grenzbegriff Grenzbegriffe, bei denen die erste intensionale Negation in einen umfassenderen, aber doch in sich bestimmten Kontext führt, werden relative Grenzbegriffe genannt. So sollen ja in dem physikalisch-kos­ mologischen Bereich auch die in der »eigentlichen« Physik eruierten physikalischen Gesetzmäßigkeiten gelten, wodurch der neue Bereich schon gewisse Bestimmungen enthält. Zudem werden aber grenzbe­ grifflich zusätzliche Gesetzmäßigkeiten eingeführt, die Phänomene des Ausgangsbereichs erklären sollen. 673 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A. N. Whiteheads, 250. Man sollte sich in diesem Kontext nicht von der Rhetorik einiger Wissenschafts­ journalisten täuschen lassen: Auch Hochenergie-Experimente der Physik simulieren weder den Urknall noch können sie dazu dienen, innerhalb der physikalischen Kosmologie die eine oder andere kosmologische These zu verifizieren, sie untersuchen vielmehr nur das Verhalten isolierter Teilchen bei hohen Energien. Das Explanandum der physikalisch-kosmologischen Thesen liegt auf einer allgemeineren Ebene, die mit all den Ergebnissen kompatibel sein muss. 674 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 250.

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

Wenn es sich aber bei dem negierten Gesprächsbereich schon um den begriffslogisch umfassendsten Kontext überhaupt handelt (»Welt«, »Universum«, »das Ganze des Seins«), so kann jenseits der formalen Bestimmungen (das »Un-Bedingte«, das »Nicht-Kon­ tingente« usw.), die schon allein durch die reine Negation gegeben sind, nicht auf ein schon bestimmtes Repertoire inhaltlicher Charak­ terisierungen zurückgegriffen werden. Es geht in diesem Fall also um einen Grenzbegriff, der außer vom Ausgangskontext her von sich aus überhaupt nicht bestimmbar ist.675 In diesem Fall ist nicht nur die Beurteilbarkeit des Negats mit den Kriterien des Ausgangskontex­ tes ausgeschlossen, sondern auch jegliche inhaltliche Bestimmtheit unabhängig vom grenzbegrifflichen Bestimmungsversuch. Deshalb kann dieser Grenzbegriff als »absolut« gekennzeichnet werden.676 Sind relative Grenzbegriffe dadurch gekennzeichnet, dass der grenzbegriffliche Bereich immer noch eine vorgängige Bestimmtheit voraussetzt, so gestaltet sich eine inhaltliche Charakterisierung des absoluten Grenzbegriffs komplexer, da hier inhaltliche Bestimmun­ gen nur aspekthaft aus der Perspektive des negierten Gesprächskrei­ ses heraus – unter Berücksichtigung der doppelten intensionalen Negation – gewonnen werden können.677 Der absolute Grenzbegriff (»Gott« oder »das Absolute«) lässt sich also nur durch Rückbeziehung auf den ursprünglichen Gesprächskreis inhaltlich charakterisieren.678 So beziehen sich Charakterisierungen wie z. B. »Schöpfer«, »Erhalter« usw. auf generelle Bestimmungen des Ausgangsbereichs (z. B. eine bestimmte Auffassung über die Kontingenz der Welt), durch die dieser zusätzlich intensional qualifiziert wird. Im Falle der Bestimmung »Schöpfer« wird dann z. B. die Welt inklusive all ihrer internen Differenziertheit als Schöpfung Gottes betrachtet. Somit kommt der Gottesbegriff als Grenzbegriff systematisch dann in den

675 Vgl. H. Schrödter, »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«, 185. 676 Vgl. H. Schrödter, »Zur religionsphilosophischen Bedeutung von Grenzbegriffen. Ein Versuch als Diskussionsgrundlage«, 5; ders., »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«, 186. 677 Vgl. H. Schrödter, »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«, 185f. 678 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A. N. Whiteheads, 250f.; H. Schrödter, »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«, 186.

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7.7 Eine grenzbegriffliche Rekonstruktion der Theorie des Absoluten bei Cramer

Blick, wenn der ursprüngliche Gesprächsbereich aus prinzipiellen Gründen intensional negiert und somit überschritten wird.679 Die grenzbegriffliche Bestimmung vereint den negativen inhalt­ lichen Aspekt (das »Unbedingte«), durch den der absolute Grenzbe­ griff überhaupt in den Blick kommt, und die durch die zweite Negation über die Relevanz für das intensionallogische Negat gewonnenen weiteren Qualifizierungen. Damit ist klar, dass sich eine solche »par­ tielle Definition« prinzipiell durch weitere Bestimmungen spezifizie­ ren lässt.

7.6 Der Nutzen der grenzbegrifflichen Struktur hinsichtlich des Gottesbegriffs Die grenzbegriffliche Struktur der Rede über das Absolute erlaubt es, beiden Momenten des Spannungsverhältnisses dieser Rede – Andersheit und inhaltliche Relevanz für den Ausgangsbereich – methodisch nachvollziehbar zu ihrem Recht zu verhelfen, indem die logischen Bedingungen einer aspekthaften inhaltlichen Charakteri­ sierung aufgezeigt werden können, auch wenn diese aus logischen Gründen immer nur eine Charakterisierung über ein Negationsver­ hältnis sein kann. Für den Gottesbegriff als absoluten Grenzbegriff bedeutet dies, dass logisch gesehen jegliche inhaltliche Bestimmtheit über seine Gewinnung hinaus nur über die doppelt negative Rückbe­ stimmung als partielle Definitionen aus der Perspektive des negierten Gesprächsbereichs unter Beibehaltung der negativen Beziehung mög­ lich ist.

7.7 Eine grenzbegriffliche Rekonstruktion der Theorie des Absoluten bei Cramer Cramers Projekt einer Letztbegründung besitzt schon aufgrund ihrer zweigliedrigen Aufgabe, zunächst ein letztbegründendes Prinzip zu finden und anschließend die Struktur dieses Prinzips zu entfalten, eine Doppelstruktur, die sich nun mit Hilfe der grenzbegrifflichen 679 Vgl. T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A.N. Whiteheads, 251.

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

Struktur so rekonstruieren und weiterentwickeln lässt, dass 1. die ver­ schiedenen Begründungsebenen und der damit zusammenhängende Status der jeweiligen Aussagen im Letztbegründungsprojekt besser rekonstruiert werden können und 2. die vermeintlichen Schwierigkei­ ten, die mit den Konzepten verbunden sind, die für die Beschreibung des Absoluten herangezogen werden, vermieden werden können. Da es bei einem Letztbegründungsprojekt um das Auffinden und die Charakterisierung des Absoluten geht, ist grenzbegrifflich die Struktur des absoluten Grenzbegriffs relevant. Wie oben dargestellt worden ist, lässt sich das Absolute durch ein doppeltes intensionales Negationsverhältnis im Rückbezug zum Ausgangsbereich charakte­ risieren, wobei dieser Charakterisierungsprozess nur unter Beibehal­ tung der Rangfolge der Negationen zu verstehen ist. Es wird also in der grenzbegrifflichen Rekonstruktion der Cra­ merschen Letztbegründung darum gehen, wie die Charakterisierun­ gen des Absoluten diesen Vorgaben entsprechen und welchen Status sie dadurch erhalten. Mit dem Auffinden des Prinzips der Bestimmt­ heit als des alles beherrschenden Prinzips wird der Bereich des Kon­ tingenten negiert und auf das notwendige Sein hin überschritten. Durch den apagogischen Teil der Argumentation wird durch das Gedankenexperiment »es sei nichts« ausgeschlossen, dass es etwas geben kann, das nicht vom Prinzip der Bestimmtheit beherrscht wird. Durch das Scheitern dieses Experiments wird also die Notwendig­ keit des Prinzips eben dadurch nachgewiesen, dass sich auch noch die Behauptung der Gegenposition als von dem Prinzip beherrscht herausstellt. Zugleich wird dadurch zugleich nachgewiesen, dass auch das Absolute bestimmt sein muss. In dem Prinzip der Bestimmtheit ist also das absolut letztbe­ gründende Prinzip gefunden, und es entsteht im Kontext der Letzt­ begründung notwendig die Frage, in welchem Bedingungsverhältnis dieses Prinzip steht und somit, wie dieses Prinzip in dieser Hinsicht bestimmt ist. Es kann – wie bereits in der propädeutischen Erörterung des Konzepts des Absoluten dargelegt worden ist – ausgeschlossen werden, dass es als absolutes Sein durch etwas anderes als es selbst bestimmt wird, denn dann wäre das, was zunächst als das Absolute aufgefasst wurde, durch etwas bestimmt und bedingt, was es nicht ist, und somit wäre das zunächst als Absolutes Aufgefasste nicht das Absolute, sondern die vermittelnde Ordnung, in der die Momente (vormaliges Absolutes und Bedingung) stehen.

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7.7 Eine grenzbegriffliche Rekonstruktion der Theorie des Absoluten bei Cramer

Ist die Unbedingtheit zunächst nur eine formale Bestimmung des Absoluten, so ist das Prinzip der Bestimmtheit aber nun konkret als das absolute Sein aufgewiesen worden. Da nun die formale Bestim­ mung für das konkret ausgewiesen Absolute gelten muss, bedeutet das, dass das Prinzip der Bestimmtheit als solches nicht mehr durch etwas von ihm Verschiedenes bedingt sein kann. Im konkreten Kontext des Bestimmtseins würde die Annahme, dass das Absolute durch etwas anderes bestimmt sei, immer wieder dazu führen, dass auch dieses Andere notwendig als ein Bestimmtes aufzufassen ist und somit wiederum von dem Prinzip der Bestimmt­ heit beherrscht wäre. Damit bleibt das Prinzip der Bestimmtheit also immer notwendig das letzte Prinzip. Die Struktur des Absoluten lässt sich nun aufgrund der formalen Bestimmung, dass das Absolute nicht konstitutiv durch etwas von ihm Verschiedenen bedingt sein kann, zusammen mit dem inhaltlichen Bezug, der das Prinzip an den Ausgangsbereich bindet, weiterentwickeln: Das Absolute muss ein unbedingtes Sichbestimmen sein, da der Grund seiner Bestimmtheit nicht mehr von etwas anderem abhängig sein kann. Das bisher Gesagte bewegte sich grenzbegrifflich gesehen immer noch im Bereich der ersten Negation: Das Kontingente wurde im Letztbegründungsprojekt mit Hilfe der philosophischen Deduktion auf das absolute Sein hin überschritten. Mit diesem Überschritt wird also die Bedingung des Bestimmtseins in den Blick genommen, so dass über das Absolute gesagt werden kann, dass es die Bedingung des Bestimmtseins ist und aufgrund des notwendigen Selbstverhält­ nisses, das sich aus dem Konzept des Absolutseins ergibt, auch ein Sichbestimmen sein muss. Diese Bestimmung des Absoluten ist aber zunächst formal. Wie kann dieses Sichbestimmen inhaltlich näher bestimmt werden? Aufgrund der Struktur des absoluten Grenzbegriffs ist die weitere inhaltliche Qualifizierung des Absoluten nur durch einen Bezug auf den Ausgangsbereich durchführbar. Es muss also zunächst eine zweite Negation durchgeführt werden, die von dem Absoluten wieder zurück in den Ausgangsbereich führt. Findet sich nun eine inhaltliche Beziehung des Absoluten zum Ausgangskontext, so kann diese zur weiteren Qualifikation des Absoluten genutzt werden, womit eine dritte Negation (wieder hin zum Absoluten) verbunden ist, in der der gefundene Inhalt nun auf das Absolute übertragen wird. Die zweite Negation führt also zunächst zum Ausgangsbereich, um einen inhaltlichen Anhaltspunkt für die weitere Qualifikation des

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

Absoluten zu finden. Die Frage ist also, wie lässt sich die formale Bestimmung des Sichbestimmens inhaltlich weiter konkretisieren? Folgt man Cramers Analyse, kann dieser Anhaltspunkt für eine weitere inhaltliche Qualifikation nur im Kontext von Bestimmungen der Subjektphilosophie gesucht werden, denn nur hier findet sich eine inhaltliche Bestimmung der selbstbezüglichen Struktur des Sich­ bestimmens, das aufgrund des Gedankenexperiments des radikalen Zweifels als Grundform von Subjektivität ausgewiesen worden ist. Damit stellt Subjektivität die Konkretisierung der formalen Struktur des Sichbestimmens dar, die wiederum als Grundlage für die Konkre­ tisierung der formalen Struktur des Absoluten dient. Somit liefert der erste Schritt einer weiterführenden inhaltlichen Bestimmung des Absoluten mit der Übertragung des Konzepts des Sichbestimmens aus dem Kontext der Subjektphilosophie die Bestim­ mung des Absoluten als eines absoluten Subjekts, das sich in dem Akt des Sichbestimmens selbst bestimmt, Sichbestimmen zu sein.680 Das Sichbestimmen des Absoluten muss also eine Art Sichbestimmen im Sinne des Selbstbestimmens der Subjektphilosophie sein, denn ein Konzept, in dem das Sichbestimmen ontologisch verstanden würde, in dem das Absolute sich erst zu dem Absoluten machte, wäre zirkulär. Es bleibt also nur die Möglichkeit, das Sichbestimmen als geistiges Sichbestimmen aufzufassen, in dem das Absolute sich seiner Verfasstheit bewusst ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass sich diese inhaltliche Charakterisie­ rung des Absoluten methodisch korrekt nur in einer grenzbegriffli­ chen Struktur durchführen lässt. Das bedeutet, dass sich das absolute Sichbestimmen durchaus an einigen Punkten von dem Konzept des Sichbestimmens in der Subjektphilosophie unterscheiden kann. Die Übertragung der inhaltlichen Bestimmung des Konzepts des Sichbe­ stimmens besagt vielmehr nur, dass auch das Absolute von seiner Struktur her Subjekt sein muss. Damit ist aber der Bestimmungsprozess des Absoluten innerhalb der Letztbegründung noch nicht abgeschlossen. In einem zweiten Schritt wird dann – ebenfalls unter Beibehaltung der Negationsver­ hältnisse und damit wiederum mit Bezug auf den Ausgangskontext – eine weitere Bestimmung gefunden, die auch ihrerseits einen weiteren Modus des Sichbestimmens darstellt: Ist die Welt als kontingentes 680

Vgl. dazu W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 66.

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7.7 Eine grenzbegriffliche Rekonstruktion der Theorie des Absoluten bei Cramer

Sein erwiesen, ist also das Entstehen und Vergehen ihrer konkreten Elemente nicht notwendig, so stellt sie sich als Schöpfung bzw. als freie Folge des Absoluten dar. Somit muss also, ausgehend von dem Charakteristikum der Kontingenz der Welt, das Konzept des Absoluten so weiterbestimmt werden, dass in ihm die Möglichkeit der Schaffung der Welt angelegt ist. Das Absolute wird also qualifiziert als Potenz, die in dem Moment des Nichts als dem Moment des Unbestimmten verankert ist.681 Auch hier wird die Bestimmung des Absoluten über den Rück­ bezug des Ausgangsbereichs erschlossen. Im Falle der inhaltlichen Qualifizierung des Absoluten als Potenz wird dieser grenzbegriffli­ che Zyklus des Rückbezugs aber zum zweiten Mal durchlaufen: Zunächst wird das Absolute als Subjekt qualifiziert, anschließend in einem erneuten grenzbegrifflichen »Durchlauf« auf der Grundlage des Aufweises der Kontingenz der Welt dann als Potenz zur Schaffung des Kontingenten. Dabei ist hier nochmals zu betonen, dass bei dieser inhaltlichen Charakterisierung des Absoluten die jeweiligen Negationsverhält­ nisse konstitutiver Teil des grenzbegrifflichen Bestimmens sind und niemals aufgehoben werden können. Sie sind somit in einer intern zusammenhängenden Struktur verbunden. Ein unmittelbarer reflexi­ ver Sprung in die Qualitäten des Absoluten ist aus methodischen Gründen nicht möglich, eben weil das Absolute sich gerade durch die Negation von Hauptmerkmalen des Ausgangsbereichs »kontingentes Seiendes« wesentlich von diesem unterscheidet, und daher können die Bestimmungen des Kontingenten nicht unmittelbar auf das Abso­ lute übertragen werden. Für eine inhaltliche Charakterisierung ist methodisch immer der »Umweg« über die Negationsverhältnisse not­ wendig. Wie schon dargelegt worden ist, hat Cramer diese zweite Quali­ fizierung des Absoluten als Potenz zur Schaffung des Kontingenten als reflexionslogischen Mangel aufgefasst, da diese das Kontingente voraussetze und somit diese Potenz nicht allein aus dem Konzept des Absoluten selbst herleitbar sei. Es war der Anspruch der absoluten Reflexion, diesen Mangel zu beheben und die Potenz schon aus einem ursprünglichen Konzept des Absoluten herzuleiten. Durch eine grenzbegriffliche Analyse kann nun nachvollzogen werden, dass dieser »Mangel« in der absoluten Reflexion zwar beho­ 681

Vgl. Punkt 6.3.4.3.

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

ben worden ist, dass aber die inhaltliche Qualifizierung des Absolu­ ten dennoch in einem ersten Durchgang auf den Ausgangsbereich angewiesen bleibt. Somit wird mit der absoluten Reflexion erreicht, dass die zweite Qualifizierung aus der ersten, ohne eine nochmalige Rückbindung an den Ausgangsbereich durchgeführt werden kann, die Gesamtqualifikation aber nach wie vor auf diesen Rückbezug in methodisch nachvollziehbarer Weise angewiesen bleibt. Wie sieht nun die grenzbegriffliche Betrachtung der absoluten Reflexion aus? Ähnlich wie im Auffinden des Prinzips der Bestimmt­ heit wird zu Beginn der absoluten Reflexion in einem Gedankenexpe­ riment nachgewiesen, dass nichts ohne Unterschied sein kann, dass also die Bestimmung des Unterschiedenseins notwendig ist und dass auch das Prinzip der Bestimmtheit notwendig in sich differenziert sein muss. Als absolutes Sein ist es somit zugleich der absolute Unter­ schied, der aus der Bestimmtheit und dem Es, das von Bestimmung ist, besteht. Die Frage, wie dieser Unterschied inhaltlich bestimmt sein muss, führte auf die Bestimmung des »Aus«, die die grundlegende Qualität des absoluten Verhältnisses ist. Dabei ist wieder die formale Bestimmung des Absoluten als des Unbedingten in Anschlag zu brin­ gen: Weil an das absolute Verhältnis nichts von außen herangetragen werden kann, muss alle inhaltliche Qualität aus dem Absoluten selbst kommen, so dass dem Absoluten notwendig die Qualität des »Aus« zugesprochen werden muss. Dieses »Kommen-aus« kann wiederum formal als Zeugen, als ein Hervorbringen qualifiziert werden, und zwar als eines, das notwendig eine selbstbezügliche Struktur sein muss, denn anderenfalls hätte das absolute Verhältnis einen Bezug zu einer Instanz, die nicht das Absolute ist, so dass hier wieder die formale Grundbestimmung des Absoluten nicht erfüllt wäre. Nun stellt sich auch hier wieder die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung des Zeugens, und auch hier führt der Weg wieder zurück auf den Ausgangsbereich, in dem Zeugen eben das Sichbestimmen der Subjektivität ist. Dieses erste Zeugen ist also eines, das durch das Grundmerkmal der Subjektivität charakterisiert ist. Durch das Grundkonzept des Absoluten in seinen Momenten »Bestimmung« und »Es« als dasjenige, das nicht Bestimmung, sondern von Bestim­ mung und insofern das Unbestimmte ist, ist es nun möglich, ein mögliches zweites Zeugen aus dem Konzept des Absoluten herzulei­ ten: Wenn das Es als Unbestimmtes auch das Bestimmbare ist, dann ist es dem Absoluten schon aufgrund dieser Konzeption möglich, das Moment des Bestimmbaren weiter zu bestimmen, sprich das

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7.7 Eine grenzbegriffliche Rekonstruktion der Theorie des Absoluten bei Cramer

Kontingente zu schaffen. Dieses zweite Zeugen als Möglichkeit zur Schaffung des Kontingenten ist also in dem Grundkonzept des Abso­ luten gegeben, so dass der reflexionslogische »Mangel«, den Cramers Theorie des Absoluten vor der absoluten Reflexion hatte, behoben werden konnte. Das zweite Zeugen wird als Möglichkeit nicht mehr durch einen zweiten Rückbezug zum Ausgangsbereich »kontingentes Sein« hergeleitet, sondern ist bereits in der Grundstruktur des abso­ luten Verhältnisses verankert. Freilich darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies nur möglich ist, weil die inhaltliche Entwicklung des Konzepts des ersten Zeugens schon mit Bezug auf den Ausgangsbereich geleistet wurde. Die absolute Reflexion erspart sich somit einen zweiten Rückbezug für das Konzept des zweiten Zeugens und ist insofern reflexionslo­ gisch stärker, weil sie für ihr Ergebnis nicht ein zweites Mal den grenzbegrifflichen Reflexionszyklus durchlaufen muss, sondern die Bestimmungen der ersten grenzbegrifflichen Reflexion weiter entfal­ tet. Und damit bleibt eben auch die inhaltliche Entfaltung des Absolu­ ten in der absoluten Reflexion auf den prinzipiellen Rückbezug zum Ausgangskontext angewiesen. Dieser Rückbezug, der methodisch für die inhaltliche Qualifizierung des Absoluten (zweite Aufgabe einer Letztbegründung) aus logischen Gründen unumgehbar ist, wird also in beiden Ansätzen von Cramers Letztbegründung auf einer operativen Ebene geleistet, wobei in der absoluten Reflexion ein zweiter grenzbegrifflicher Durchgang für das Konzept des zweiten Zeugens vermieden werden kann. Mit dieser Anbindung der grenzbegrifflichen Reflexion an den Ausgangsbereich (Subjektphilosophie) ist zugleich auch die Möglich­ keit gegeben, diejenigen Bestimmungen des Absoluten weiter zu entfalten, die mit dem Sichbestimmen als Grundstruktur der Subjek­ tivität zusammenhängen, wie z. B. die göttliche Visio, die Freiheit und die zeitliche Dimension des Absoluten. Alle diese Konzepte können nur innerhalb einer grenzbegrifflichen Reflexion mit Bezug auf einen Ausgangskontext und dort gewonnenen Bestimmungen hergeleitet werden. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass schon die grenzbe­ grifflich bestimmte Subjektivität des Absoluten in Verbindung zu bringen ist mit der Möglichkeit, Kontingentes zu schaffen, um weitere Bestimmungen der absoluten Subjektivität zu erhalten. Aus der Nicht-Notwendigkeit des zweiten Zeugens wird die Freiheit des Absoluten und – falls von dieser Freiheit Gebrauch

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

gemacht wird – der hierfür notwendige Vorsatz in der göttlichen Visio hergeleitet. Die für das Absolute in Anschlag gebrachte zeitliche Dimension soll nun aber noch einmal genauer unter expliziter Einbeziehung der grenzbegrifflichen Struktur rekonstruiert werden. Denn an ihr kann beispielhaft die dynamische Struktur der Negationsverhältnisse und deren notwendige Zusammengehörigkeit genau rekonstruiert werden, so dass die Eigenarten des daraus resultierenden Zeitkon­ zepts erklärt werden können. Ausgangspunkt für die Bestimmung der zeitlichen Dimension des Absoluten ist die erste Negation, die aus dem Bereich des Kontingenten in den Bereich des Unbedingten führt. Eine inhaltliche Bestimmung, die über die formalen Bestim­ mungen hinausgeht, kann nach der grenzbegrifflichen Bestimmung nur durch eine zweite Negation gewonnen werden, die wieder zum Ausgangsbereich führt, um Anhaltspunkte für eine weitere inhaltliche Charakterisierung des Absoluten zu finden. Die zeitliche Verfasstheit des Kontingenten, die ein wesentliches Merkmal von diesem darstellt, wirft nun die Frage auf, in welchem Verhältnis das Absolute zur Zeit steht. Es wird also eine weitere Negation erforderlich, die von dem Ausgangsbereich, durch den ein möglicher neuer inhaltlicher Bezug thematisiert werden kann (im konkreten Fall die zeitliche Dimension des Absoluten), wieder zu dem grenzbegrifflichen Bereich führt. Bevor nun die zeitliche Dimension des Absoluten positiv charak­ terisiert werden kann, können zunächst durch den Bezug des grenzbe­ grifflichen Bereichs auf den Ausgangsbereich durch das aufgespannte Negationsverhältnis zwei formale Bestimmungen gefunden werden, durch die zunächst negativ gewisse Bestimmungen hinsichtlich des Absoluten ausgeschlossen werden können. Damit wird gewisserma­ ßen ein Rahmen aufgespannt, innerhalb dessen ein Konzept der Zeitlichkeit des Absoluten entwickelt werden kann: 1.

2.

Wenn das Absolute als der Grund des Kontingenten bestimmt werden kann und das Kontingente wesentlich zeitlich ist, dann kann das Absolute nicht zeitlos gedacht werden, weil aus einer absoluten Zeitlosigkeit ein zeitlicher Anfang nicht verstehbar ist. Wenn ein wesentliches Charakteristikum der zeitlichen Verfasst­ heit des Kontingenten gerade darin besteht, dass es entsteht und vergeht, dann muss die zeitliche Verfasstheit des Absoluten, weil es das schlechthin notwendige Sein ist, gerade so gedacht werden, dass es nicht die Möglichkeit des Nicht-mehr-Seins besitzt. Wie

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7.7 Eine grenzbegriffliche Rekonstruktion der Theorie des Absoluten bei Cramer

auch immer die Zeitlichkeit des Absoluten gefasst werden kann: Diese ist jedenfalls nicht so zu konzipieren, dass es Zeiten gibt, an denen das Absolute nicht existiert hat oder nicht existieren wird. Damit werden also zunächst für die inhaltliche Entfaltung der zeit­ lichen Verfasstheit des Absoluten zwei mögliche Bestimmungen ausgeschlossen: Das Absolute kann weder als Grund der Zeitlichkeit zeitlos sein noch können die zeitlichen Bestimmungen des Entstehens und Vergehens als Modi auf das Absolute selbst übertragen werden. Wie kann nun also der Bezug des Absoluten zu einer zeitlichen Dimension positiv charakterisiert werden? Für die positive Charak­ terisierung kann ein inhaltlicher Anhaltspunkt nur wieder durch Konzepte erfolgen, die ihre inhaltliche Charakterisierung durch eine Rückwendung zum Ausgangsbereich gewonnen haben. Ausgangs­ punkt kann hier nur die Konzeption des ersten Zeugens sein, das sich als Grundqualität des Absoluten erwiesen hat und das mit dem Zeu­ gen der Subjektivität in Verbindung gebracht wurde. Ist dieses Zeugen schon im Ausgangsbereich als Dauer bestimmt worden, so wird diese Bestimmung auch hier in der grenzbegrifflichen Übertragung des Konzepts auf das Absolute deshalb übernommen, weil auch das immer gleiche Zeugen des Absoluten (die begriffliche Bestimmung seiner ontologischen Verfasstheit) eben nicht als zeitlos gedacht werden kann und als In-sich-Sein einen Rückbezug des Gezeugten beinhaltet, der nur durch eine Art Dauer beschrieben werden kann. Das Haben von gedachtem Inhalt kann auch im Kontext des Absolu­ ten nur als ein Zeugen konzipiert werden, das in seiner Rückläufigkeit zeitlich ist. Das führt zu dem Gedanken, die Ewigkeit des Absoluten nicht als Zeitlosigkeit zu konzipieren, sondern als bestimmte Art der Dauer. Dieses Konzept wird nun durch die zweite formale Bestim­ mung der Zeitlichkeit noch modifiziert: Wenn das Absolute in sich als Zeugen Dauer ist und das Absolute das notwendige Sein ist, dann muss das Konzept der Dauer dahingehend modifiziert werden, dass die zeitlichen Charaktersierungen des Gewesenseins und des Nochnicht-Seins zumindest hinsichtlich der Existenz des Absoluten keine Bedeutung haben können. Aus diesem Grund kann das Absolute als eine Art unvergängliche Dauer charakterisiert werden. Dies bedeutet, dass das Konzept der zeitlichen Dimension des Absoluten innerhalb des aufgespannten Negationsverhältnisses durch zeitliche Grundaspekte des Zeugens charakterisiert wurde, die durch die zwei formalen Bestimmungen des Absoluten modifiziert wurden, so dass damit in grenzbegrifflicher Weise eine spezielle

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7. Ein kritischer Rück- und Ausblick

Form der Dauer bestimmt worden ist, die einerseits Grundmerkale der endlichen Dauer teilt, andererseits spezifische Bestimmungen im Kontext des Absoluten aufweist. Damit wird mit der Einbettung von Cramers Theorie des Abso­ luten in einen grenzbegrifflichen Rahmen die eingangs erwähnte Grundspannung methodisch sinnvoll und nachvollziehbar vermit­ telt. Durch die grenzbegriffliche Analyse wird deutlich, dass diese Spannung sinnvoll durch ein Durchlaufen von intensionallogischen Negationsverhältnissen so rekonstruiert werden kann, dass beide Momente logisch sinnvoll vermittelt werden können: Einerseits die Einsicht, dass die mit der Methode der philosophischen Deduktion gefundenen Bedingungen inhaltlich nicht in derselben Art und Weise bestimmt sein müssen wie das Bedingte, und andererseits aber die Erkenntnis, dass im Falle der inhaltlichen Charakterisierung des Absoluten auf Konzepte zurückgegriffen werden muss, die einen Bezug zum Ausgangskontext haben.

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8. Ein abschließendes Fazit

Die vorangegangene Darlegung und Diskussion haben die Grund­ struktur und die Voraussetzungen des Argumentationsgangs in Cra­ mers Ansatz kritisch nachgezeichnet, wodurch seine Attraktivität und Aktualität verdeutlicht werden konnten. Es ist gerade die grundle­ gende Kennzeichnung des Cramerschen Ansatzes, dass nicht einfach hypothetisch oder willkürlich gesetzte Prämissen vorausgesetzt wer­ den können und auf diesen aufbauend dann anschließend ein philoso­ phisches Konzept entfaltet wird, sondern dass es sein Anspruch ist, die immer schon in Anspruch genommenen Minimalbedingungen des jeweiligen Phänomens zu explizieren. Die Stärke liegt also erstens darin, geltungstheoretisch nicht auf externe Vorgaben rekurrieren zu müssen, sondern die immer schon implizit gegebenen Minimalbe­ stimmungen herauszuarbeiten. Zweitens erlangt der Ansatz Cramers eine gewisse Stärke dadurch, dass die Herausforderung einer skep­ tischen Grundhaltung mitreflektiert wird, deren Überwindung nur durch apagogische Argumentationsstrukturen möglich ist. Die so eruierten Minimalbedingungen für eine Theorie der kon­ kreten Subjektivität führen so in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes, Leibniz, Husserl und vor allem Kant zu einer Theorie der Subjektivität, in der sowohl die Eigenart und Struktur von Erleben und Denken gefasst werden können als auch der notwendige Bezug zum Leib und seiner Umwelt transzendentalphilosophisch (in Cramers Sinn) ausgewiesen wird. Wie gezeigt, geht es Cramer dabei um die unhintergehbaren Bedingungen für eine Theorie der Subjektivität, die neben den transzendentalphilosophischen auch phänomenologische Momente beinhaltet. Ausgangspunkt dafür ist die Selbstgewissheit des den­ kenden Individuums, anhand derer auch die allgemeine Struktur von Subjektivität entfaltet wird. Anhand des Ich-Gedankens ließ sich paradigmatisch das Verhältnis von Denken und Realität als not­ wendige und legitime Verschränkung ausweisen. Davon ausgehend wurde die Grundstruktur der Subjektivität als Sichbestimmen bzw. als bedingtes Zeugen weiter entfaltet.

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8. Ein abschließendes Fazit

Durch die weitere Analyse des Einbettungszusammenhangs des konkreten Subjekts konnte daran anschließend ein Konzept ent­ wickelt werden, in dem das erlebende Lebewesen als psychophysische Einheit gefasst wird, wobei sich das Verhältnis von Geist bzw. Erleben und Körper logisch gesehen als ein internes Bedingungsverhältnis erwiesen hat. Dadurch wird eine Position begründet, mit der sowohl die problematischen Positionen eines Substanzdualismus als auch eines reduktionistischen Monismus vermieden werden können. Als zentrale Momente erwiesen sich in Cramers Ansatz dabei die Konzepte der transzendentalen Realität der Zeit und die mini­ male Bestimmbarkeit des Subjekts im Kontext eines negativen Seins­ begriffs, durch den das denkende Subjekt anhand des radikalen Gedankenexperiments des radikalen Zweifels als »nicht nur gedacht« ausgewiesen und die Verschränkung von Gedanken- und Wirklich­ keitsbestimmungen legitimiert wurde. Somit bietet der negative Seinsbegriff des »Nicht-nur-Gedachten« eine Basis, sowohl eine Gegenüberstellung der Bereiche von »Denken« und »Sein«, die als rein externe Relation gedacht ist, als auch eine voraussetzungsreiche Seinsmetaphysik bzw. Ontologie zu vermeiden. Damit bietet die Subjektphilosophie in der Erkenntnis der Ver­ fasstheit des konkreten Subjekts als eines konkret Seienden den Anknüpfungspunkt für eine Prinzipientheorie, die ihrerseits Aus­ gangspunkt für eine Letztbegründung ist. Denn nur durch eine solche können die letzten Bedingungen thematisiert und expliziert werden, die alles Seiende schon latent beherrschen. Aus diesem Grund stellt die Subjektphilosophie gewissermaßen auch den Drehund Angelpunkt für eine Theorie des Absoluten dar, insofern hier letzte Prinzipien begründet werden sollen, die in der Subjektphiloso­ phie zunächst nur als konstitutiv für die konkrete Subjektivität und deren Einbettungszusammenhänge herausgestellt worden sind. Die Subjektphilosophie stellt damit auch den möglichen Anknüpfungs­ punkt für eine Theorie des Absoluten dar, in welcher die letzten Bedingungen aller endlichen Bedingungen noch einmal reflektiert werden. Cramers Theorie des Absoluten lässt sich daher organisch an eine Theorie der konkreten Subjektivität anschließen, in der eben schon die Verschränkung von Denken und Sein legitimiert worden ist. Diese Anbindung hat den großen Vorteil, dass auch die inhaltlichen Minimalbestimmungen des Absoluten nicht einfach hypothetisch gesetzt werden, sondern sich aus Bestimmungen des bereits legitimierten Ausgangskontextes des konkreten Subjekts und

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8. Ein abschließendes Fazit

seines Einbettungszusammenhangs ergeben und sich somit ebenfalls apagogisch im Kontext des negativen Seinsbegriffs begründen lassen. In diesem Zusammenhang lässt sich daher durch apagogische Argumentation auch die reflexive Selbstbezüglichkeit des Absoluten in der absoluten Reflexion als ein Zeugen charakterisieren, das im Rahmen dieser Denkbewegung im Kontext der Letztbegründung ein­ zig sinnvoll als Subjektivität qualifiziert werden kann. An die Grund­ bestimmungen der absoluten Subjektivität anschließend lassen sich weitere inhaltliche Charaktersierungen des Absoluten entwickeln, die – wie gezeigt worden ist – dann aber als ein grenzbegriffliches Bestim­ men sinnvoll gedeutet werden können. Mit diesem grenzbegrifflichen Bestimmungsvorgang kann die allgemeine und speziell auch in der absoluten Reflexion auftretende Spannung so vermittelt werden, dass einerseits die mit der Methode der philosophischen Deduktion gefun­ denen unbedingten Bedingungen inhaltlich nicht in exakt derselben Art und Weise bestimmt sein müssen wie das Bedingte und dass andererseits für die inhaltliche Charakterisierung des Absoluten auf Konzepte zurückgegriffen werden muss, die notwendig einen Bezug zum Ausgangskontext haben. Berücksichtigt man diese logische Vermittlungsleistung des grenzbegrifflichen Begreifens, dann bietet Cramers Theorie des Abso­ luten ein differenziertes Vermittlungsmodell für die Verhältnisbe­ stimmung von Absolutem und Kontingentem, wodurch zugleich Anknüpfungspunkte für die aktuelle Gott-Welt-Debatte gegeben sind. Indem das Absolute als eine in sich differenzierte Einheit von Bestimmung und dem Es, das von Bestimmung ist, aufgewiesen worden ist, konnte das Absolute zugleich als Potenz zur Schaffung des Kontingenten charakterisiert werden. Damit bietet das Konzept die Möglichkeit, sowohl die Freiheit des Absoluten als auch seine prinzipielle Bezogenheit zum Kontingenten als Prinzip der Bestimmt­ heit miteinander zu vermitteln. Dies ist nur möglich, weil das zweite Zeugen als mögliche Schaffung des Kontingenten als Strukturmerk­ mal des Absoluten ausgewiesen werden konnte, wodurch sowohl eine pantheistische als auch eine von rein externen Relationen geprägte dualistische Position vermieden werden kann. Der Versuch, die Minimalbestimmungen von Subjektivität und die daran anschließende Theorie des Absoluten durch apagogische Argumentationen zu legitimieren, sollte ein nicht unerheblicher Anreiz dazu sein, Cramers Ansatz zukünftig mehr in die aktuellen Debatten einfließen zu lassen.

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