Kleine Schriften II: Herausgegeben von Stefan Talmon [1 ed.] 9783428582730, 9783428182732

Die »Kleine Schriften II« des Tübinger Staatsrechtslehrers, herausgegeben von Stefan Talmon (Bonn / Oxford), kreisen um

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Kleine Schriften II: Herausgegeben von Stefan Talmon [1 ed.]
 9783428582730, 9783428182732

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 103

WOLFGANG GRAF VITZTHUM

Kleine Schriften II Herausgegeben von Stefan Talmon

Duncker & Humblot · Berlin

WOLFGANG GRAF VITZTHUM

Kleine Schriften II

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 103

WOLFGANG GRAF VITZTHUM

Kleine Schriften II Herausgegeben von Stefan Talmon

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-18273-2 (Print) ISBN 978-3-428-58273-0 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort „Kleine Schriften II“ versammelt zwölf ausgewählte Aufsätze und Originalbeiträge meines Tübinger Lehrers Wolfgang Graf Vitzthum. Damit werden seine „Kleinen Schriften“ ergänzt, die mein ehemaliger Assistentenkollege Alexander Proelß 2017 herausgegeben hat. Zusammen zeichnen die beiden Bücher ein eindrückliches „Selbstportrait“ des Gelehrten. Zugleich ist der zweite Band ein erneutes Zeichen der glücklichen Verbundenheit unseres Lehrers mit seinen zahlreichen Schülerinnen und Schülern. Die Beiträge beschäftigen sich, dem Schwerpunkt von Graf Vitzthums Lehr- und Forschungstätigkeit entsprechend, in erster Linie mit dem Völkerrecht und dem Verfassungsrecht. Aufsätze wie der über „Befindlichkeiten im Völkerrecht“ vervollständigen die rechtliche Analyse durch das Einbeziehen historisch-soziologisch-politischer Betrachtungsweisen, etwa des Arsenals nationaler Bedingtheiten oder des fehlenden „Willens zum Recht“. Frei von positivistischer Verengung erinnern diese Beiträge an die Breite und Farbigkeit der alten Staatswissenschaften. Der erste nachfolgend abgedruckte Aufsatz über die „Terranisierung des Meeres“ brachte den stürmischen seerechtspolitischen Umbruch der 1970er Jahre frühzeitig auf den Punkt. Der nachfolgend breit rezipierte Begriff der „Terranisierung“ ist ein Beispiel für Graf Vitzthums bewundernswerte Gabe der begrifflichen Verdichtung und Begriffsprägung. Als „expert adviser“ der Delegation der Bundesrepublik Deutschland nahm er an der Dritten UNO-Seerechtskonferenz teil, die die heute 168 Staaten bindende „Verfassung der Meere“ ausarbeitete. Das macht den „Meeres-Vitzthum“ zum gesuchten Zeitzeugen. Das engagierte Referat vor der Akademie von Aix-en-Provence – mehr als nur rechtshistorisch und rechtsvergleichend interessant – widmet sich um der erkennbaren Notwendigkeit willen dem antinazistischen deutschen Widerstand. Dieses Thema, wie auch der umstrittene Komplex „Kollaboration und Widerstand in Frankreich“, besitzt weiterhin Spreng-

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Vorwort

kraft innerhalb des gesellschaftlichen Gedenkens jenseits und diesseits des Rheins. Im Streit um die Wiedergutmachung der Vermögensverluste in der ehemaligen DDR und der SBZ ergriff Graf Vitzthum in Bundestagsanhörungen wiederholt das Wort. Er kritisierte die nur dem Allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip entsprechende gesetzliche Regelung als Schwächung der Eigentumsgarantie, die auch in Zeiten begrenzter finanzieller Ressourcen nicht zur Disposition stehen sollte. 1963 bereits hatte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft der Türkei einen Beitritt in Aussicht gestellt. So drängte sich die Frage nach der Stellung der Türken im Rahmen der europäischen Völkerfamilie und der fortschreitenden Vergemeinschaftung auf. Über dem Fremden, mahnt Graf Vitzthum, ist das Eigene nicht zu vergessen, und durch Hinwendung zu jenem ist dieses zu kultivieren. Rechtszeitgeschichte ist immer auch persönliche Geschichte. So skizziert Graf Vitzthum im Abschnitt „Personen und Positionen“ Menschen, die sein Lernen und Schaffen inspiriert haben: der überragende Günter Dürig, dessen Nachfolger er in Tübingen wurde, der große Europäer Werner von Simson, sein Freiburger Lehrer, sowie die „Sekretäre des Weltgeistes“ Erich von Kahler und Elisabeth Mann Borgese. Wie glücklich er sich schätzen darf, diesen herausragenden Menschen persönlich begegnet zu sein! Aus Raumgründen wurden einige Beiträge geringfügig gekürzt. Den Verlagen, bei denen die jeweiligen Originalbeiträge erschienen sind, ist für die Erteilung der Abdruckberechtigung zu danken, ebenso Herrn Dr. Florian R. Simon, LL.M. (Cornell) für die Aufnahme des Bandes in sein Verlagsprogramm. Bei Duncker & Humblot ist vor fast fünfzig Jahren bereits „Der Rechtsstatus des Meeresbodens“, Graf Vitzthums Dissertation, erschienen, die zu Recht bis heute als erster Titel die im Anhang abgedruckte Bibliographie schmückt. Bonn / Oxford, im Februar 2021

Stefan Talmon

Inhaltsverzeichnis Völkerrecht und Verfassungsrecht Terranisierung des Meeres. Die Tendenz zu einem rohstoffbezogenen Seerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 „Mein Eigentum und mir unendlich fern“. Restitutionsverweigerung im wiedervereinigten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 L’État de droit dans la pensée politique de la Résistance allemande . . . . 49 Exterritoriale Grundrechtsgeltung. Zu Bedingungen nachrichtendienstlicher Auslandsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Befindlichkeiten im Völkerrecht. Das Beispiel des Russland-UkraineKonfliktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Demokratie und Europa Hermann Brochs demokratie- und völkerbundtheoretische Schriften . . . 111 Kultureller Sonderfall. Die Türkei in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 „Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde“. Europas Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Personen und Positionen Europa und Demokratie denken: Werner von Simson . . . . . . . . . . . . . . 171 „Die Spur zu verfolgen, wo er seinen Weg nahm“: Günter Dürig . . . . . . 183 „Auf den Schultern von Riesen“: Peter Häberle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Sekretäre des Weltgeistes: Erich von Kahler und Elisabeth Mann Borgese 221 Anhang Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Völkerrecht und Verfassungsrecht

Terranisierung des Meeres. Die Tendenz zu einem rohstoffbezogenen Seerecht* Seerechtliche Verteilungsprinzipien Als sich in den sechziger Jahren der rohstofforientierte Vorstoß in die Tiefsee abzeichnete, entstand gleichzeitig die Hoffnung, dass für die Zuordnung und Nutzung dieses submarinen Niemandslandes ein neues Verteilungsprinzip angewandt werden würde. Die jüngere seevölkerrechtliche Entwicklung hatte sich im Rahmen der Ersten und Zweiten SeerechtsKonferenz der Vereinten Nationen (Genf 1958 und 1960) 1 im Schnittpunkt von Meeresfreiheit und küstenstaatlicher Souveränität abgespielt. Die mit der Meeresboden-Frage auftretenden neuen Aufgaben und Gegenstände erschienen als zu global und als für einzelne Industrie- oder Küstenländer zu groß, als dass diese überkommene Regelungsalternative noch befriedigen konnte. War nicht die Tiefsee den Interessen der gesamten Staatengemeinschaft zuzuordnen? Konnte hier nicht das alle Länder gemeinsam und gleichermaßen Angehende als Ansatzpunkt der künftigen Regelung benutzt werden? Ja, man hoffte sogar, auf diese Weise ein neuartiges Beziehungsmuster zwischen Industrie- und Entwicklungsländern aufzubauen, das Hilfe, Abhängigkeit und Paternalismus aus sich selbst heraus entbehrlich machte. Einen bewundernswerten Ausdruck fand dieses neue Verteilungsprinzip in dem Vorschlag des maltesischen Botschafters bei den Vereinten Nationen Arvid Pardo vom Jahre 1967, den küstenfernen Meeresboden zum international zu verwaltenden „gemeinsamen Erbe der Menschheit“ (common heritage of mankind) zu erklären,2 sowie in Elisabeth Mann Borgeses *

Aus: Europa-Archiv 31 (1976), S. 129 – 138. Günter Hoog, Die Genfer Seerechtskonferenzen von 1958 und 1960. Sammlung Dokumente, Bd. XXXVI, Frankfurt/M. 1961. 2 Dieses Konzept sei „a new legal principle which we wish to introduce into international law“ (A/AC. 1/PV. 1589, S. 27). Anfang der sechziger Jahre war bereits der Weltraum als province of mankind bezeichnet worden. 1

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Pacem-in-Maribus-Konvokationen.3 Die Meeresbodengrundsätze-Deklaration der UN-Generalversammlung vom 17. Dezember 1970 schrieb dieses Common-Heritage-Prinzip erstmals fest. Die seewärts nationaler Jurisdiktion gelegenen Unterwassergebiete und ihre Ressourcen wurden zum nicht appropriierbaren Menschheitserbe erklärt. Der für die nächste Zukunft erwartete Tiefseebergbau sollte einem „internationalen Rechtssystem, das eine geeignete internationale Organisation einschließt“, unterstellt werden, das auf die automatische Bereitstellung von Mitteln für Entwicklungshilfe abzielte.4 Lag hiermit nicht eine Rechts- und Organisationsform von prinzipieller Bedeutung und großer Überzeugungskraft vor? Ließ sich dieser moralisch-politisch-juristische Gedanke eines gemeinsamen und gemeinsam zu verwaltenden Menschheitserbes nicht auch für die Neuordnung des gesamten Meeresvölkerrechts verwenden, nicht nur für das MeeresbodenProblem, ja selbst für die Lösung nicht maritimer, aber ähnlich gelagerter internationaler Fragen? Trend der Seerechtsdebatte seit 1970 Die sich seit Ende der sechziger Jahre überstürzende Meeresboden- und Seerechtsentwicklung5 führte nach jahrelangem vorbereitendem Ringen 1973 zu der in einzelnen Sessionen tagenden Dritten UN-Seerechts-Konferenz (New York 1973, Caracas 1974, Genf 1975, New York 15. März bis 7. Mai 1976). Bisher eher eine Illustration des Niedergangs der multilateralen Konferenzdiplomatie und der Unfähigkeit, die nationalen Seerechtspolitiken verfahrensmäßig einzubinden, nähert sie sich mittlerweile im3 Vgl. Elisabeth Mann Borgese, The Ocean Regime, in: Shigeru Oda, The International Law of the Ocean Development, Leiden 1972, S. 280 ff. Die Tagungen finden seit 1970 allsommerlich statt, meist auf Malta. 4 UN Gen.Ass.Res. 2749 (XXV). Ziff. 9: „The régime shall, inter alia, provide for the orderly and safe development and rational management of the area and its resources and for expanding opportunities in the use thereof and ensure the equitable sharing by States in the benefits derived therefrom, taking into particular consideration the interests and needs of the developing countries.“ Vgl. auch die Erklärung von Cocoyoc, in: EA 14/1975, S. D 357 ff., hier S. D 362. 5 Vgl. die Dokumentensammlung von Oda, S. 44 ff., 73 ff., 237 ff., 327 ff., 343 ff., 360 ff. Zur jüngeren Entwicklung Uwe Jenisch, Tendenzen im internationalen Seerecht: post Caracas 1974, in: EA 23/1974, S. 799 ff.; ders., Seerecht und deutsche Meeresinteressen, in: Außenpolitik 1/1976, S. 3 ff.

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merhin ihrem Abschluss. Es zeigte sich auf der Konferenz bald, dass die mancherorts an das neue Verteilungsprinzip geknüpften Erwartungen zu hoch gesteckt waren. Ja, das Konzept vom Meeresboden als Erbteil der Menschheit und von der Staatenwelt als maritimer Erbengemeinschaft diente Ozeananrainern und Mineralienexporteuren geradezu als Hebel, um die überkommene Meeresordnung aus den Angeln zu heben. Das neue Prinzip selbst aber ignorierten sie. Fast niemand suchte nach einem internationalistischen und integrative Züge aufweisenden Ocean Regime6 oder nach einem in entwicklungspolitischer Sicht billigen weltweiten Vorteilsausgleich. Regeln, die über den aktuellen Raum- und Rohstoffhunger hinaus auch die Interessen der „künftigen Generationen“7 berücksichtigten,8 standen keineswegs im Mittelpunkt des Interesses. Gleiches gilt für internationale Instanzen, die – als Schutzorgane der gemeinsamen Interessen der „Gesamtheit der Menschheit“9 – unzweifelhaft repräsentativ und funktionsfähig anzulegen wären. Die gebiets- und umweltpolitischen Konsequenzen der Ausgangsprämisse, „dass die Probleme des Meeresraumes eng miteinander zusammenhängen“,10 wurden nie ernsthaft diskutiert. Hinter einer Nebelwand von rhetorischen Bezugnahmen auf das umfassende und neuartige Common-Heritage-Konzept wurden die Verhandlungen und Aktionen vielmehr bestimmt von traditionellen nationalen Eigeninteressen. Die einzelnen Länder bestimmten ihren seerechtspolitischen Kurs, zu Recht oder zu Unrecht, nach ganz anderen Kompasszahlen. 6

Mann Borgeses entsprechendes Draft Statute bei Oda, S. 280 ff. Vgl. Art. 91 Abs. 2 von Pardos Draft Ocean Space Treaty, 23. 8. 1971, A/AC. 138/53, nach dem die zu gründenden Meeresinstitutionen u. a. die Aufgabe haben sollen, „to safeguard the quality of the marine environment for all mankind so that it can be transmitted unimpaired to future generations“. Dieses Bewahrungselement des Common-Heritage-Prinzips ist im Zusammenhang mit der Tatsache zu sehen, dass auch die marinen Vorkommen nicht unerschöpflich sind. 8 Zu denken wäre hier an den Schutz der „Erbmasse“ gegen irreparable Gefährdungen, z. B. gegen die Verschleuderung der Substanz durch fischereilichen Raubbau, also an das Bewahren von permanenten Werten und Gütern gegenüber bloßen Tagesinteressen, gegenüber einer Vernutzung der Meere und einer „Nachuns-die-Sintflut“-Haltung. 9 UN Gen.Ass.Res. 2749 (XXV), Abs. 4 des Vorspruchs. 10 UN Gen.Ass.Res. 2750C (XXV), 17. 12. 1970, Abs. 4 des Vorspruchs. Die äußerste Konsequenz bestünde darin, ökologisch unteilbare Räume auch juristisch als Einheit zu behandeln. 7

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Raum und Rohstoffe standen im Vordergrund. Die weiteren Parolen hießen Seemacht, nationale Sicherheit und Selbstständigkeit, Wirtschaftsrivalität, Technologie und Fortschritt, Umweltschutz und Umverteilung. Die Konsequenzen für die internationale Macht-, Wohlstands- und Wissensverteilung werden tiefgreifend sein. Die Staaten mit langen Küsten und die Rohstoff-Exportländer erhalten den Löwenanteil. Der Rest der Welt, darunter die Bundesrepublik Deutschland, wird nicht nur geografisch benachteiligt sein. Die Einzelheiten dieser Pardos Gliederungs- und Verteilungsprinzip beiseite schiebenden Entwicklung haben sich auf der Genfer Tagung der Seerechts-Konferenz in einem Informal Single Negotiating Text niedergeschlagen.11 Dieser vereinheitlichte offiziöse Verhandlungsrahmen dürfte die Grundlage der abschließenden Beratungen bilden. Sein Zustandekommen und sein Inhalt sind verschiedentlich erläutert worden.12 Hier sollen deshalb nur zwei Schwerpunkte13 herausgegriffen werden: die nicht auszuschließende Gefahr einer Blockierung des Tiefseebergbaus und die bereits nahezu irreversible Entscheidung für eine Transformation aller Rand- und Mittelmeere sowie breiter Streifen der Ozeane in Monopolzonen der Küstenstaaten, jedenfalls soweit es um deren Naturvorkommen geht. Vom Festlandsockel zur Wirtschaftszone und zum Kontinentalrand Für die an das Küstenmeer angrenzende, 188 Seemeilen breite exklusive Wirtschaftszone (Küstenmeer + Wirtschaftszone = 200 Seemeilen Breite) soll der Uferstaat die Ressourcenhoheit erhalten. Zahlreiche weitere abgestufte wirtschafts-, forschungs- und umweltbezogene Exklusiv11 A/CONF.62/WP. 8, 7. 5. 1975; abgedruckt auch in: International Legal Materials, Bd. 14 (1975), S. 682 ff. 12 Vgl. etwa John R. Stevenson / Bernhard H. Oxman, The Third United Nations Conference on the Law of the Sea: the 1975 Geneva Session, in: American Journal of International Law, Bd. 69 (1975), S. 736 ff.; Karl Hermann Knoke, III. Seerechtskonferenz – Session Genf, in: Außenpolitik, 4/1975, S. 407 ff.; Wilhelm H. Lampe / Max Ivers Kehden, Die Dritte Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen – Verlauf und Ergebnisse der Beratungen in Genf, in: Hansa, 13/ 1975, S. 1021 ff. 13 Andere Schwerpunkte: Küstenmeer-Ausweitung auf 12 Seemeilen, Archipelstaaten-Sonderregime, Transitpassage durch die meisten Meerengen, mariner Umweltschutz, Meeresforschung, Transfer mariner Technologie, Streiterledigung.

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bzw. Gerichtsbarkeitsrechte der Küstenstaaten kommen hinzu.14 Immerhin dürften die traditionellen Meeresfreiheiten der Schifffahrt, des Überflugs und der Verlegung von Kabeln und Rohrleitungen aufrechterhalten und verfahrensrechtlich einigermaßen geschützt werden. Wichtige Ausflüsse des hier bisher geltenden Regimes der Hohen See werden also bestehen bleiben. Sie waren – wie früher die Dreimeilenzone – der Grundbestand, um den gekämpft werden musste, um die Substanz der Meeresfreiheit in die neue Seerechtsepoche hinüberzuretten.15 Andererseits ist in diesem riesigen, fast 400 km breiten Gebiet der räumliche Bezug zur Küste, die angebliche Legitimationsgrundlage dieser Maßnahme, nahezu schon eine Fiktion. In Wirklichkeit findet in diesem „Küsten“-Raum nichts anderes statt als ein revolutionärer Umschlag zugunsten der Anrainerstaaten. Dieser Durchbruch fällt zusammen mit dem dreißigjährigen Jubiläum der ersten kombinierten und jahrelang leidenschaftlich bekämpften Inanspruchnahme von Festlandsockel und epikontinentalem Meer.16 Auch die sich abzeichnende seewärtige Begrenzung des Festlandsockels wird eine Staatenminderheit unverhältnismäßig begünstigen. Die zunächst nur allmählich seewärts abfallende Übergangszone vom Land zum Meer (Schelf ), seit längerem bereits als „Festlandsockel“ unter uferstaatlicher Ressourcenhoheit, soll trotz der neuen Konzeption der Wirtschaftszone ihren eigenen Status behalten. Künftig soll sie ozeanwärts bis zur 200-Seemeilen-Linie bzw. bis zu dem durchschnittlich in 3000 bis 4000 Meter Wassertiefe und in 100 bis 600 Seemeilen Küstenentfernung gelegenen äußeren Ende des Kontinentalrandes (Schelf + Kontinentalabhang + -anstieg = Kontinentalrand) vorgeschoben werden. Zwar dürfte es noch zu gewissen Verpflichtungen der beati possidentes kommen, Bruchteile ihrer Konzessionseinnahmen an die von der Natur benachteiligten Staaten abzuführen. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen,

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Einzelheiten bei Stevenson / Oxman, S. 747 ff. Die Untersuchung des Rechtsstatus der Wirtschaftszone (sui-generis-Zone oder summarisch „Wirtschaftszone“ genannter Bereich mehrerer gebiets- und nutzungsrechtlich heterogener Einzelzonen?) ist das z. Z. wichtigste seerechtsdogmatische Desiderat. Für die exportabhängige und sicherheitspolitisch auf die atlantische Rollbahn angewiesene Bundesrepublik Deutschland kommt es vor allem auf die Schifffahrtsfreiheit an. Vgl. dazu Rudolf Bernhardt / Walter Rudolf (Hrsg.), Die Schifffahrtsfreiheit im gegenwärtigen Völkerrecht, Karlsruhe 1975. 16 Vgl. Hoog, S. 47 f. 15

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dass die neue Außengrenze das ursprünglich land- und flachwasserbezogene Festlandsockel-Prinzip in ozeanische Weiten und Tiefen überdehnt. Die Frage nach dem dieser unterseeischen Landnahme zugrundeliegenden Verteilungs- und Rechtfertigungsprinzip führt zu der schon in der Truman-Proklamation vom 28. September 1945 anklingenden These vom Festlandsockel, der zu betrachten sei als Ausdehnung der Landmasse des Küstenstaates „and thus naturally appurtenant to it“.17 Im Nordsee-Festlandsockel-Urteil von 1969 hat der Internationale Gerichtshof diese – schon für den Schelf zweifelhafte – Begründung ausgebaut.18 Bei dem steil seewärts abfallenden Kontinentalabhang und jedenfalls bei dem zum Teil bereits auf nicht kontinentalem Gestein ruhenden Kontinentalanstieg kann man kaum noch von einer derartigen natürlichen Verlängerung des Küstenstaats-Territoriums unter Wasser sprechen.19 Konsequent wäre allenfalls eine Kontinentalisierung, d. h. eine regionale Verwaltung und Ausbeutung dieser Unterwassergebiete.20 Kurz: Der Festlandsockel-Begriff und die Theorie von der natürlichen Verlängerung des Gebietes des Uferstaates – letztlich Ausflüsse der umstrittenen Kontiguitätstheorie – sind für die küstenferneren Gebiete nur vor17

Abgedruckt bei Oda, S. 341 f. North Sea Continental Shelf, Judgment C. J. Reports 1969, Ziff. 43: Nicht räumliche Nähe sei der Erwerbsgrund, sondern die Tatsache, „that the submarine areas concerned may be deemed to be actually part of the territory over which the coastal State already has dominion – in the sense that, although covered with water, they are a prolongation or continuation of that territory, an extension of it under the sea“. 19 Nach Auffassung des IGH (ebd. Ziff. 45) bricht die natürliche Verlängerung schon ab, wenn der Festlandsockel von einem markanten Graben durchzogen wird. 20 Ende der sechziger / Anfang der siebziger Jahre hatten verschiedene afrikanische und karibische Staaten vorgeschlagen, das Küstenvorfeld und seine Naturvorkommen nicht nur den jeweiligen Küstenstaaten, sondern als Regional oder Patrimonial Sea allen Staaten der jeweiligen Region (z. B. Karibik, Nordsee, u. U. sogar Nordatlantik) gemeinsam zuzuordnen. Dieses Regionalzonen-Konzept hätte auch der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Gemeinschaft gewisse Ansatzpunkte geboten. Es wurde aber von seinen Urhebern weitgehend zugunsten des Wirtschaftszonen- und Kontinentalrand-Konzeptes fallengelassen und von den geografisch benachteiligten Ländern nicht nachdrücklich genug aufgegriffen. Im günstigsten Falle hätte das Regionalzonen-Konzept zu einem dem Common-Heritage-Prinzip verwandten Verteilungsprinzip fortentwickelt werden können. 18

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geschobene Formeln. Hinter ihnen stehen rohstoffpolitische, ja geradezu geopolitische Forderungen nach einer prinzipiellen Bevorzugung des Anrainers einer öffentlichen Sache. Diese Ansprüche betreffen den wesentlichen Rohstoffbestand und behalten ihn den Anrainern vor. Seewärts der Kontinentalrandlinie liegen keine nennenswerten Erdöl- und Erdgasvorkommen, und die erlaubnisfreie Nutzung der gewaltigen landwärts dieser Linie entdeckten Ressourcen durch Nichtanrainer soll verhindert werden. Das Ergebnis ist die nahezu entschädigungslose Einsetzung des gesamten Kontinentalrandes (und im Falle von Steilküsten sogar von erheblichen Teilen des Tiefseebodens) in die Stelle seines landwärtigen Drittels, des Festlandsockels.21 Die Länder mit langen Küsten teilen die Reichtümer des Meeres unter sich auf. An die Stelle einer allgemeinen Aufsuchungs- und Gewinnungsfreiheit tritt das Zugriffsmonopol von zwei Dutzend Langküstenstaaten – das ist das neue Teilungsprinzip. Und während es in keinem Lande für gerechtfertigt angesehen würde, wenn die Anlieger eines Sees diesen unter sich aufteilten, scheint dies in Meeresverhältnissen akzeptiert zu werden. Internationalisierung oder Blockierung des Meeresbodens? Größere Hoffnungen auf eine entwicklungs-, rohstoff- und gebietspolitisch billige Verteilung richteten sich anfangs auf den Meeresboden jenseits der nationalen Jurisdiktion. Der Abbau seiner Metallvorkommen – sie sind mindestens doppelt so groß wie die entsprechenden Landressourcen – könnte bereits in den achtziger Jahren in Angriff genommen werden. Die Industrieländer versprechen sich vom Tiefseebergbau nicht so sehr Gewinne als vielmehr eine Linderung ihrer Abhängigkeit von einigen marktbeherrschenden Rohstoff-Exportländern. Diese wiederum fürchten 21 Als Verteilungs- und Rechtfertigungsprinzipien wurden in den Vereinigten Staaten in den sechziger Jahren diesbezüglich Pufferzonen- und TreuhänderKonzepte (der Uferstaat als sowohl schutzbedürftiger als auch ordnungsstiftender Treuhänder der vorerst handlungsunfähigen Völkergemeinschaft) entwickelt. Sie hätten jenseits der 200-m-Tiefenlinie die küstenstaatliche Monopolisierung der unterseeischen Vorkommen wohl verhindert und den Egoismus der Uferstaaten u. U. so eingefangen und gebunden, dass er der seerechtlichen Neuordnung und dem allgemeinen Nutzen u. U. gedient hätte. Angesichts heftiger innenpolitischer Widerstände und mangels positiver außenpolitischer Resonanz wurden diese interessanten Vorschläge Anfang der siebziger Jahre fallengelassen.

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– wahrscheinlich zu Unrecht – die maritime Konkurrenz. Die Dritte Welt insgesamt verspricht sich keine oder nur geringe Vorteile von der Manganknollen-Gewinnung. Gestärkt durch die UN-Beschlüsse über eine neue Weltwirtschaftsordnung sieht sie die Meeresboden-Frage nahezu ausschließlich im Licht des West-Süd-Problems. Niemand macht Ernst mit dem Res omnium-Gedanken. So drohen der Tiefseeboden und seine Ressourcen, obschon weiterhin als gemeinsames Erbe der Menschheit bezeichnet,22 praktisch blockiert zu werden. Zumindest strebt die in dieser Frage bisher äußerst geschlossen operierende Gruppe der 77 ihre eigene Überrepräsentation in der künftigen internationalen Meeresboden-Behörde sowie den Einbau von Sperrvorrichtungen gegen den Tiefseebergbau in den Bergbau-Code an. Der direkte und gesicherte Zugang zur Manganknollen-Gewinnung soll abgeschnitten, das Eingehen von joint ventures oder anderen Assoziierungsformen mit der Behörde zur Pflicht gemacht werden.23 Hier liegen zwar noch verschiedene Kompromissvorschläge auf dem Tisch.24 Ein Beharren der Industrieländer auf weitestgehender Bergbau-Freiheit wäre angesichts ihrer eigenen Bergrechts-Ordnungen aber auch kaum konsequent.25 Zu denken wäre schließlich an ein Herauslösen der Meeresboden-Frage aus dem allgemeinen Seerechts-Paket, also an eine Aufteilung und Minimalisierung des Verhandlungskomplexes. Sollten die Verhandlungen jedoch trotz ernstlichen Bemühens aller Beteiligten eines Tages in die Sackgasse eines faktischen permanenten Abbaumoratoriums geraten, so könnten sich die der Vorkommen bedürftigen „Erben“, insbesondere die allein den Abbauproblemen gewachsenen Industrieländer, ehe sie sich mit einem solchen Zustand abfänden, selbst 22

A/ACONF.62/WP.8/Part. I Art. 3. Vgl. Knoke, S. 409 ff. 24 Vgl. Stevenson / Oxman, S. 765 ff. 25 So beabsichtigt etwa die Bundesregierung, das Konzessionssystem im Bergrecht der Bundesrepublik Deutschland im Ergebnis in Richtung auf den eingriffserleichternden echten Staatsvorbehalt, der die im öffentlichen Interesse erforderlichen materiellen Gestaltungsmöglichkeiten (Umweltschutz, Regional- und Verkehrsplanung) verstärkt, zu vereinheitlichen und fortzuentwickeln. Vgl. Entwurf eines Bundesberggesetzes (EBBergG), Bundesrats-Drucks. 350/75, 5. 10. 1975, §§ 5 ff. Auch das Bundes-Immissionsschutzgesetz und das WasserhaushaltsGesetz weisen die Tendenz auf, die Bestandskraft behördlicher Genehmigungen zu beschneiden. 23

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auf das Common-Heritage-Prinzip und auf den Treuhandgedanken stützen und unter Umständen mit dem Abbau beginnen. Die politischen Kosten eines derartigen konzertierten Vorgehens26 einiger Mächte und selbsternannter Treuhänder wären hoch. In eine spätere universale Meeresboden-Regelung könnten solche Übergangs- und Teilverabredungen und die gewonnenen Bergbauerfahrungen aber immerhin als allgemeinnützende Bausteine eingebracht werden.27 Schwächen des Grundsatzes der Meeresfreiheit In Abwandlung eines auf das Prinzip der Meeresfreiheit geprägten Wortes28 kann man heute bereits feststellen: Das Konzept vom Meeresboden als gemeinsamem und gemeinsam zu verwaltendem Menschheitserbe wurde auf der Dritten UN-Seerechts-Konferenz an Haupt und Gliedern amputiert und schließlich mit viel Lobreden zu Grabe getragen. Es taugte gerade, die Schwächen des Grundsatzes der Meeresfreiheit bloßzustellen, zunächst nur für die Meeresboden-Frage,29 bald auch für das gesamte Seevölkerrecht. Das Ergebnis ist eine ernstliche Erschütterung der überkommenen seerechtlichen Grundnorm. Die Entscheidung für eine Wirtschaftszone etwa – erfolgte sie nun zu Recht oder zu Unrecht – markiert das Ende des wichtigsten Teils der Fischereifreiheit. Diese bildet ihrerseits – mit der Schifffahrtsfreiheit – den traditionellen Kernbestand der Freiheit der Meere. Noch einige weitere derartige Amputationen, und der Grundsatz der Meeresfreiheit wird zu einem leeren Rechtstitel.

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Beispiele bei Oda, S. 299 ff., 343 f. Möglicherweise entschärft die enorme Ausweitung der Wirtschaftszonenund Kontinentalrand-Regime die Manganknollen-Frage etwas – allerdings in einer international gesehen ähnlich unbilligen Weise. Denn es wird vermutet, dass innerhalb einiger dieser Zonen, z. B. vor Mexiko oder vor französischen Kolonialinseln, so günstige hot spots vorhanden sind, dass der erste großangelegte Meeresbergbau ohnehin unter nationaler (küstenstaatlicher) Kontrolle stattfinden könnte. 28 Vgl. H. Knackstedt, Die Internationale Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen 1958 (Sonderdruck aus der Marine-Rundschau, 1958, S. 61). 29 In Abs. 3 des Vorspruchs der Deklaration über die Grundsätze für den Meeresboden hieß es bereits hinsichtlich des Meeresbergbaus: „Recognizing that the existing legal régime of the high seas does not provide substantive rules for regulating …“; Wortlaut in: EA 5/1971, S. D 119 ff. 27

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Dennoch sollte man nicht alarmierend von einem Zerfall der Meeresordnung bei wachsender, drückender Interdependenz ihrer Probleme oder gar nostalgisch von einem „Verlust der maritimen Mitte“ sprechen.30 Man muss schon zweifeln, ob eine solche Mitte überhaupt je bestand und ob die Summe der Einzelvorteile stets den allgemeinen Vorteil erbrachte. Als oberstes Gliederungs- und Verteilungsprinzip weist das auf einer verfeinerten Art von Eigennutz beruhende Konzept des „freien Spieles der Kräfte“ im Meer jedenfalls heute erhebliche Mängel auf. Es ist steuerungs- und ausgleichsschwach gegenüber den modernen technischen Entwicklungen (Raubbau, Meeresverschmutzung, Tiefseebergbau, Atomversuche) und gegenüber den entwicklungs-, rohstoff- und sicherheitspolitischen Bedürfnissen zahlreicher Staaten. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als sich das Prinzip der Freiheit der Hohen See im Hinblick auf die Schifffahrts- und Fischereibedürfnisse durchgesetzt hatte. Dies waren Nutzungsmöglichkeiten, „die unter den damaligen Verhältnissen unerschöpflich schienen, das Meer in seiner Substanz nicht berührten und allen Interessenten in gleicher Weise ohne gegenseitige Beeinträchtigung zugänglich waren“, während den modernen Nutzungsmöglichkeiten demgegenüber gemeinsam ist, dass sie „bei ungeregelter Ausübung die Substanz des Meeres und seinen natürlichen Reichtum angreifen“.31 Heute ist das Meer „nicht mehr imstande, sich mittels seiner Unendlichkeit und seiner Unerschöpflichkeit gegen den Menschen zu verteidigen … (Deshalb muss) die Menschheit dem Meer zu Hilfe eilen, um dieses Gemeingut für jedermann zu erhalten“.32 Diese Hilfe kann nicht in einem starren Festhalten an der so rücksichtslos ausgenutzten Freiheit der Meere bestehen. Zur Erhaltung seiner Substanz und zur Sicherung seiner ungeschmälerten Nutzung zum Wohle der gesamten Menschheit müssen der Nutzung des Meeres heute vielmehr „klare Schranken“33 gesetzt werden. Das sich abzeichnende neue Seerecht tut dies zweifellos in

30 Erinnert sei an die „Parallelaktion“ in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, die grandios-leerlaufende Suche nach einem neuen geistigen Konzept zur Wiederherstellung der Ordnung. 31 Günther Jaenicke, Rechtliche Probleme der Meeresnutzung und Meeresforschung, in: Eckart Böhme / Max Ivers Kehden (Hrsg.), From the Law of the Sea towards an Ocean Space Regime, Hamburg 1972, S. 29 ff. 32 Herbert Krüger, Vorbemerkung, in: Böhme / Kehden, S. 7. 33 Jaenicke, S. 30.

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gewissem Maße. Es versagt aber, wie erwähnt, als Prinzip einer gerechten, ja auch nur einer zweckgerechten Verteilung. Kern und Konsequenz des neuen Seerechts Abschließend ist die Frage aufzuwerfen, worin das Grundprinzip dieser „neuen Weltordnung im Meeresraum“34 besteht. Wir sahen bereits, dass die Seerechtsreform weder das Common-Heritage-Konzept verwirklicht, noch die Meeresfreiheit ungeschmälert lässt. Aus der Geschichte des Völkerrechts wissen wir, dass das in der Neuzeit mühsam errungene Prinzip der Freiheit der Meere in den Rang einer völkerrechtlichen Grundnorm aufstieg, ja dass das auf diese Weise festgeschriebene Gegenüber von staatlicherseits aufgeteiltem Land und zwingend staatsfreiem Meer zu einem spezifischen Grundzug der europazentrischen Ordnung wurde. Weltkriege, Entkolonisierung und Rohstoffabhängigkeit entthronten Europa. Im Seerecht bewirkte dies die Forderung, die neue Grundordnung (das „Meeresvölkerrecht“) müsse „die Rechte und Interessen aller Staaten“ schützen, sie müsse sich deshalb unterscheiden „von den traditionellen Systemen, die zum Schutze der Interessen der industrialisierten westlichen Staaten errichtet wurden“.35 Dies führt rechtspolitisch zum Übergang auf eine neue Ebene. Völkerrechtliche Prinzipien und Normen, die nur der Ausdruck durchschnittlicher Kollektivinteressen sind, ändern sich mit dem außerrechtlichen Gefüge, innerhalb dessen sie bestehen und welches Ausgangs- und Anknüpfungspunkt ihrer Wirksamkeit ist.36 Recht ist weniger willkürliche Dezision der Rechtsetzenden als Antwort auf spezifische Herausforderungen und Lagen. Insbesondere das Völkerrecht ist insofern Situationsrecht, das sich gegenüber bestimmten Gegebenheiten und Bedürfnissen herausbildet.37 34 Ausdruck bei A. O. Adede, Settlement of Disputes Arising Under the Law of the Sea Convention, in: American Journal of International Law, Bd. 69 (1975), S. 798 ff. 35 Adede, S. 818 (Hervorhebung hinzugefügt). 36 Dietrich Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 3. Aufl., Zürich 1950, nannte die das Recht ergänzende, tragende und balancierende Umgebung „Ambiance“. 37 Ohne das Interesse an Seehandel und Seekriegführung etwa hätte sich das Prinzip der Meeresfreiheit nicht durchgesetzt.

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Offenbar befinden wir uns im Bereich des Seerechts heute in einem solchen – verwirrenden und vielleicht schmerzhaften, aber darum doch noch nicht krisenhaften – Situationswandel. Die gar nicht bewusst lenkbaren Schubkräfte der Geschichte (technische Entwicklungen, wissenschaftliche Entdeckungen, Bevölkerungsvermehrung, Naturereignisse) haben die alte außerrechtliche Basis des Seerechts erschüttert. Das gemeinsame Interesse der europäischen Mächte am Meer als freiem Nutzungsraum und an der Aufrechterhaltung der entsprechenden Regeln hätte heute, selbst wenn es fortbestünde, keinen ausschließlichen Rang mehr. Die meisten Entwicklungsländer, aber auch die geografisch bevorzugten Industriestaaten definieren ihre maritimen Interessen anders. Im Unterschied zur Erwartung von Pardo und Mann Borgese verbindet die Staatengemeinschaft, die noch keine übernationale Gemeinschaftsgesinnung und noch keine übereinstimmende Gefahrenperzeption entwickelt hat, kein gemeinsames Interesse, sei es an Frieden und Freiheit, sei es an der Hege des Meeres und seiner Ressourcen im Interesse kommender Generationen. Nur wenige Länder haben heute schon, oder haben noch, eine maritim-globale Perspektive. Wenige nur können es sich erlauben, sich über ihr eigenes Überleben oder die nächsten politischen Ziele hinaus über die Umwelt und über die nächste Generation Gedanken zu machen oder wenigstens über den Tellerrand ihres jeweiligen Küstenvorfeldes hinauszublicken. Führungsschwäche der alten Seemächte und ein weitgehendes Abdanken Europas kommen hinzu. Fast nur noch in Fragen wie Schifffahrt, Überflug, Hochseefischerei und Seekriegführung knüpft die rechtliche Ordnung weiterhin an die Natur des Meeres und seiner Ressourcen an, an die Besonderheiten, die das Meer vom Land unterscheiden und die das Meer zum unentbehrlichen Medium der Fortbewegung und der militärischen Nutzung machen: an seine Weite, seine Unerschöpflichkeit und Unveränderbarkeit. Es war diese spezifische Natur des Meeres, die keiner ausschließlichen Herrschaft zugängliche Gestalt von Wind und Woge, auf die sich die noch naturrechtlich-scholastisch argumentierenden Begründer der Freiheit der Meere gestützt hatten und deretwegen sie einen universalistischen Ordnungsrahmen formulieren konnten. Heute ist das anders. Wissenschaft und Technik ermöglichen, Übervölkerung und Rohstoffhunger erzwingen die Ausbeutung, ja Kolonisierung des Kontinentalrandes und des Meeresbodens. Dort unten hat der vorwiegend an Energie und Rohstoffen, an Kommunikation und Rohrleitungen Interessierte und vielleicht auch einmal der

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Bewohner eines neuen Atlantis wie am Land selbst festen Boden unter den Füßen. Dort unten kann er weitgehend die Abwesenheit des Meeres fingieren. Er benützt das Meer nicht wie der Seemann wegen seiner Besonderheit. Er schiebt es als zufällig vorhanden, als störend beiseite, um an das vom Meer Bedeckte vorzudringen: an die submarinen Vorkommen. Sie sind für ihn das essentielle, nicht mehr nur das akzidentielle Merkmal des Meeres, und die Meeresfreiheit ist deshalb für ihn nicht das nächstliegende Gliederungsprinzip. Während früher die Bewegungsmöglichkeit auf dem Meere den überwiegenden Gesichtspunkt darstellte, sind es heute der Inhalt des Meeres und die vom Meer bedeckten Vorkommen, welche das Interesse an der Meeresordnung bestimmen. Dieser terrane Kern, nicht jenes Spezifikum des Meeres ist der Anknüpfungspunkt des neueren Völkerrechtsdenkens. Es tritt also eine geologische Vorstellung in den Vordergrund, wie sie bisher dem auf das Meer bezogenen Denken fremd war. Insofern transplantiert der heutige Seerechtsreformer seine terrestrischen Erfahrungen und Wünsche, sein Land- und Landkartendenken. Er überträgt seine traditionellen berg- und wasserrechtlichen Kategorien und seine terranen zivil- und verwaltungsrechtlichen Vorstellungen auf den Meeresbergbau – eine Konsequenz des sich dramatisch in seinem Bezugsobjekt verlagernden Interesses am Meer. Es kommt zu einem Neubau des seerechtlichen Gesamtgebäudes von seinen Fundamenten – dem Meeresboden – und seinen Seitenwänden – dem Kontinentalrand – her, aber vorerst eben nicht mit einer internationalistisch-maritimen,38 sondern mit einer nationalistisch-terranen Perspektive.

Ausblick Für die Frage nach der neuen, die Meeresfreiheit ablösenden seerechtlichen Grundnorm bedeutet dies, dass mit der zunehmend rohstoffbezogenen und terranen Denkweise nicht allein jenes alte Grundprinzip in den Hintergrund tritt. Vielmehr tritt an seine Stelle, langfristig gesehen, keine neue spezifisch seerechtliche Grundnorm. Mit jenem überkommenen Gliederungs- und Verteilungsprinzip endet vielmehr die Geschichte des Meeres als eines vom festen Land qualitativ unterschiedenen Sonderund Sonderrechtsgebiets. Das Seerecht wird zu einem Unterfall des Wasser-, Berg- und Verkehrsrechts. Die Nutzung des Festlandsockels wird im 38

So die Hoffnung der Anhänger des Common-Heritage-Gedankens.

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Entwurf eines Bundesberggesetzes geregelt.39 Die internationale Verwaltung des Ozeanbergbaus unterscheidet sich nur noch graduell von der des europäischen Agrarmarktes. Das Meer wird vom letzten freien Raum zum kolonisierbaren Siebten Kontinent. Das Gegenüber von eigenständiger maritimer und eigenständiger terraner Ordnung weicht einem einheitlich land- und rohstoffbezogenen Regime. Wichtige Nutzungsarten und -gebiete dürften weiterhin frei bleiben, jedenfalls soweit für sie das Meer das eigentliche Medium, seine besondere Natur der Ansatzpunkt für die Regelung ist (Schifffahrt, Handel, Überflug, Kommunikation, Seekrieg, zum Teil Forschung und Fischerei). Diese Spezifika des Meeres sind – „Barrieredenken“ hin, „fishfarming“ her – auch auf absehbare Zeit nicht ersetzbar. Sie werden gerade für an der Schwelle zur Industrialisierung stehende Länder wie Argentinien, Brasilien und Mexiko immer wichtiger werden, ja später möglicherweise zu einem Überdenken ihrer heute eingenommenen Position führen. Als Ergebnis der Dritten UN-Seerechts-Konferenz wird es im Meer also künftig eine Pluralität der Regime geben, anknüpfend an einer Pluralität von Interessen, Blickrichtungen, Verhaltensweisen. Aber man kann nicht übersehen, dass auf die Dauer die Terranisierung der Meere den Abschied von der Eigenständigkeit und Universalität der Meeresordnung bedeuten muss. Es bleibt zu hoffen, dass diese Entwicklung und der sie auslösende Vorstoß zum Meeresboden für die Völkergemeinschaft insgesamt letztlich ähnlich vorteilhafte Auswirkungen haben wird wie das zu Beginn der Neuzeit zu verzeichnende Ausgreifen des Menschen vom festen Land und einer bloßen Küstenkultur auf die damals unendlich und unerschöpflich erscheinenden Weltozeane. Der große, diese Hoffnung belebende weltpolitische Ansatz allerdings ist einstweilen einer beschränkteren Vorstellung gewichen.

39 EBBergG §§ 1 Abs. 3, 2 Abs. 1 und Abs. 4 Ziff. 9, 3 Abs. 2, 153 ff., 184 Ziff. 7.

„Mein Eigentum und mir unendlich fern“ Restitutionsverweigerung im wiedervereinigten Deutschland* Ein Festschriftbeitrag sollte an den wissenschaftlichen Arbeiten des Jubilars seinen Ausgang nehmen. Bei einer Gabe zu Ehren von HermannWilfried Bayer hat das, neben dem von anderen Autoren gewürdigten verfassungs- und steuerrechtlichen Œuvre,1 die vertikale und die horizontale Rechtsvergleichung zu sein, also die historische und die grenzüberschreitende Dimension des Rechts. Dabei sollten möglichst, den Interessen des Jubilars entsprechend, die preußisch-deutsche und die französische Geschichte, die Wiedervereinigung Deutschlands und das Aufarbeiten der DDR-Erblasten im Vordergrund stehen. Kaum ein Staatsrechtslehrer hat sich für den Wiederaufbau Ostdeutschlands so eingesetzt wie Hermann-Wilfried Bayer. Seine temperamentvolle, erfolgreiche Hörsaalpräsenz an vielen Universitäten ist bekannt. Kaum einer hat zudem, wie der Jubilar im Kreis um den Unternehmer Hans-Helmut Kuhnke, so engagiert für den Dialog zwischen Industrie, Verwaltung und Politik einerseits und Geschichts-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften andererseits geworben. Im Gespräch mit dem jüngeren Fakultätskollegen, der seinerseits sächsisch-thüringische Wurzeln hat, umkreiste der im Westfälischen heimisch Gewordene immer wieder rechtsethische Grundfragen, historische Parallelen sowie politische Aporien der Unrechtsbereinigung, die seit 1990 in Deutschland durchzuführen ist.2 Vor diesem Hintergrund ist zu * Aus: Wirtschafts- und Steuerordnung auf dem Prüfstand. FS für H.-W. Bayer, hrsg. von Th. Birtel u. a., Baden-Baden 1998, S. 323 – 343. 1 Vgl. Bayer, H.-W., „Die Bundestreue“, 1961; ders., „Die Aufhebung völkerrechtlicher Verträge im deutschen parlamentarischen Regierungssystem“, 1969; ders., „Steuerlehre – Steuerverfassung – Steuergesetz – Steuergericht“, Berlin 1997. 2 Vgl. von Arnim, H.-H., „Entzug der Grundrechte aus Opportunität“, FAZ v. 6. 9. 1990; Blumenwitz, D., „Die besatzungsrechtlichen Konfiskationen in der SBZ“, Bayerische Verwaltungsblätter (BayVBl) 1993, S. 705 ff.; Drobnig, K., „Anwendung und Auslegung von DDR-Recht heute“, Deutsch-deutsche Rechts-

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hoffen, dass das hier angeschnittene Grundsatzthema künftig auch sein wissenschaftliches Interesse findet. Die deutsche Staatsrechtslehre hat den Gegenstand bisher eher vernachlässigt.3 Packt ein Thema demgegenüber den Jubilar, dann erforscht und lehrt er es mit heißem Herzen. Dazu will ihn nachfolgende Skizze anregen. I. Restitution – Nichtrestitution, Entschädigung – Ausgleichsleistung als Regelungselemente Als nach dem großen historischen Umbruch die nahezu 200.000 Gegner und Opfer des nun verjagten, einst revolutionären Regimes in ihre Heimat zurückkehren konnten, stießen sie auf dramatisch veränderte Eigentumsverhältnisse. Viele Betriebe, Grundstücke und Gebäude waren während der vergangenen Jahrzehnte im Gefolge der gewaltsamen Umwälzungen entschädigungslos enteignet worden. Ein Teil der konfiszierten Besitze, einschließlich umfangreichen Kirchenvermögens, befand sich noch in Staatshand. Das Gros war an Begünstigte des mittlerweile gestürzten Systems gelangt. Was lag für die früheren Eigentümer näher, als Restitution zu verlangen? Die neue Staatsleitung reagierte umgehend. Bereits Zeitschrift (DtZ) 1994, S. 86 ff.; Forsthoff, E., „Ist die Bodenreform in der DDR im Fall einer Wiedervereinigung als rechtswirksam anzunehmen?“, 1954; Herzog, R., „Das Bodenreform-Urteil des Bundesverfassungsgerichts“, in: Sobotka, B. (Hrsg.), „Burgen, Schlösser, Gutshäuser in Mecklenburg-Vorpommern“, 1993, S. 141 ff.; Horn, N., „Das Zivil- und Wirtschaftsrecht in den neuen Bundesländern“, 2. Aufl. 1993; Schäuble, W., „Der Vertrag“, 1991. 3 S. o. Anm. 2 sowie Biehler, G., „Die Bodenkonfiskationen in der SBZ 1945 nach Wiederherstellung der gesamtstaatlichen Rechtsordnung 1990“, 1994; Fieberg, G. / Reichenbach, H., „Enteignung und offene Vermögensfragen in der DDR“, Bd. I, 2. Aufl. 1992; Höch, Th., „Die Forderungen der DDR und der Sowjetunion als sachliche Gründe für den Restitutionsausschluss“, DtZ 1995, S. 76 ff.; Krüger, H., „Die Rechtsnatur des sog. Siedlungseigentums der Neubauern der kommunistischen Bodenreform in der ehemaligen SBZ / DDR“, DtZ 1991, S. 385 ff.; Maurer, H., „Die Eigentumsregelungen im Einigungsvertrag“, Juristenzeitung ( JZ) 1992, S. 183 ff.; Motsch, R., „Wider die Irrlehre von der Verfassungswidrigkeit des Restitutionsausschlusses bei besatzungsrechtlichen Enteignungen“, Vermögens- und Investitionszeitschrift (VIZ) 1994, S. 279 ff.; Papier, H.-J., „Verfassungsrechtliche Probleme der Eigentumsregelung im Einigungsvertrag“, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1991, S. 193 ff.; Sendler, H., „Restitutionsausschluss verfassungswidrig?“, Die öffentliche Verwaltung (DÖV) 1994, S. 401 ff.

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wenige Wochen nach der Wende entschied sie: Die Betroffenen erhalten die noch in der Hand des Staates befindlichen Gebäude, Grundstücke, Wälder und Betriebe zurück. Hinsichtlich der übrigen, bereits veräußerten und insofern nicht mehr ohne weiteres restituierbaren Vermögenswerte – es hatte nahezu eine halbe Million Verkaufsvorgänge gegeben – erfolgte neun Jahre später eine gesetzliche Entschädigungsregelung. Zügige Restitution der noch in Staatshand befindlichen Konfiskationsgüter sowie zureichende Entschädigung bezüglich des Restes lautete die Antwort auf die Grundfrage: „Rückgabe oder Entschädigung?“ Ort und Zeit der Handlung ist natürlich nicht Deutschland, ist auch nicht das Mittel- und Osteuropa der späten achtziger und frühen neunziger Jahre dieses Jahrhunderts. Ort der Vergangenheitsbewältigung ist Frankreich – nicht das „Nach-Vichy“ General de Gaulles, das auch seine Rückgabe- und Entschädigungsprobleme hatte, sondern die konstitutionelle Monarchie der Bourbonen. Konkret ging es um die Ära Ludwigs XVIII. und Karls X., also um die kurze Zeitspanne zwischen dem Ende des Napoleonischen Kaiserreichs (1814/1815) und der bürgerlichen Revolution von 1830. Die Restitutions- und Entschädigungsregelung dieser Restaurationsära bestand, wie angedeutet, aus mehreren Elementen. Kernpunkte waren das Gesetz vom 5. Dezember 1814, das die „biens invendus“ restituierte,4 sowie das Gesetz vom 25. April 1825, das die Entschädigung („payée par l’État“, durch eine 3-Prozent-Staatsanleihe) für die übrigen

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„Tous les biens immeubles séquestrés ou confisqués par cause d’émigration, ainsi que ceux devenus à l’État par suite de partages de successions ou présuccessions, qui n’ont pas été vendus et font actuellement partie du domaine de l’État, seront rendus en nature à ceux qui en étaient propriétaires ou à leurs héritiers ou ayants cause.“ – Dieses Gesetz wurde noch während der „première Restauration“ erlassen, die durch Napoleons Rückkehr aus Elba abrupt beendet wurde. Die Zahl der unter ihm noch nicht veräußerten Emigrantengüter war relativ klein, wenn sich unter ihnen allerdings auch einige besonders große Besitzungen befanden. Gleich zu Beginn der Cent-Jours, am 13. 3. 1815, hob Napoleon das bourbonische Rückgabegesetz auf – eine populäre Maßnahme. Restitutionsfragen nach politischsozialen Umwälzungen waren im Übrigen zu allen Zeiten zu beantworten: von Athen und Rom (Cicero) ebenso wie vom Vertrag von Utrecht, nach dem Dreißigjährigen Krieg ebenso wie nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, in England ebenso wie in Spanien. Die Geschichte lehrt, dass zwischen der (z. B. gesetzlichen) Regelung und ihrem vollständigen Vollzug häufig erhebliche Zeitspannen liegen; so auch im französischen Beispielsfall.

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Güter auf insgesamt fast eine Milliarde Francs festsetzte.5 Integration und Eigentumsschutz waren die Schlüsselmotive hinter diesen Regelungen, der Wunsch, die „deux peuples“ (Ludwig XVIII.), die es seit der Revolution in Frankreich gab, wieder zu einem einzigen zusammenwachsen zu lassen. Nimmt man die Regelungen von 1814/1816 (Rückgabe der Staatsund der Kirchengüter: „la restitution des biens non vendus à leur anciens possesseurs“) und 1825 (Gesetz der „Milliarde der Emigranten“; „loi de justice, loi de propriété“ in den Worten Chateaubriands) zusammen, so lässt sich das französische Modell als Teilrestitution plus Teilentschädigung bezeichnen. Eines der an Leidenschaften und Härten reichsten Kapitel der neueren französischen Geschichte fand in diesem Kompromiss seinen Abschluss. Der weitestgehende Verzicht auf die Wiederherstellung der vorrevolutionären Eigentums- und Gesellschaftsverhältnisse („restitution en nature“ nur derjenigen „domaines nationaux“, die zwischen Revolution und Restauration nicht veräußert worden waren) 6 wurde verbunden mit der Versöhnung zwischen Frankreich und Europa auf der Basis des Legitimitätsprinzips (Rückkehr der Bourbonen). 5

Für damalige Verhältnisse war „le Milliard des émigrés“ viel Geld, nahezu die Hälfte des Wertes der durch die Revolutions-Enteignungen geschaffenen „Nationalgüter“ („biens nationaux“). Deren Gros bestand aus Kirchengütern, die etwa ein Zehntel des gesamten Grundbesitzes im vorrevolutionären Frankreich ausgemacht hatten. Diese „biens du clergé“ wurden 1816 restituiert. Damals, zu Beginn der „seconde Restauration“ (Napoleon war auf St. Helena festgesetzt), verfügten die kirchenfreundlichen Royalisten über nahezu 90 % der Sitze in der Deputiertenkammer – die Opposition hatte sich 1815 an den Wahlen praktisch nicht beteiligt („la Chambre introuvable“). In den Wahlen von 1824 triumphierte die Rechte erneut. 6 Anders formuliert: Die „ratification“ der zwischenzeitlich erfolgten „ventes nationales“ (also der Veräußerung der Emigrantengüter) bildete den von den Emigranten und den Ultras bekämpften Kern der Lösung: „la Restauration du Roi“, „La France plébéienne et patriote“ wurde in ihrem Empfinden und Revolutionsgewinn geschont, die Unverletzbarkeit des (Neu-) Eigentums bekräftigt: ein weiser königlicher „pas dans la voie de la conciliation“. Die Emigranten waren konsterniert. Ihre Strategie – „l’enfer ou la restitution“– hatte versagt. Erst 1825 erlangten sie, nach nicht nachlassenden, die Neueigentümer immer wieder beunruhigenden Vorstößen („la conquète de l’indemnité“), einen Teilerfolg, allerdings nur noch auf dem Nebenkriegsschauplatz „Entschädigung“. Die Schlacht „Restitution ja oder nein“ war bereits 1814/1816 endgültig geschlagen; sie endete wie regelmäßig in den historischen Beispielsfällen mit einem Sieg der Neueigentümer. Viele von ihnen arrangierten sich mit den Alteigentümern, auch zur Besänftigung eigener Skrupel. „La monarchie restaurée“ hatte die Royalisten nicht bevorzugt; deshalb stimmte die extreme Rechte gegen die Entschädigungsregelung.

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Inwiefern, fragen wir in Deutschland nach der Epochenwende 1989/ 90, war die skizzierte Form der Wiedergutmachung jenseits des Rheins ein „Erfolg“ (unten II.)? Wie haben wir demgegenüber die Restitutionsund Entschädigungsfrage diesseits des Rheins nach der Wiedervereinigung beantwortet (unten III.)? Welche Akzeptanzprobleme, welche Integrationserfolge weist unsere bisherige Lösung auf (unten IV.)? Im Gegenlicht der historischen und rechtsvergleichenden Betrachtung gewinnen die eigenen Fragen und Antworten schärfere Konturen. II. Teilrestitution plus Teilentschädigung im nachrevolutionären Frankreich – ein „Erfolg“? Beginnen wir mit dem legislativen Endpunkt der französischen Regelung und ihrer gesellschaftspolitischen Wirkung! Die pauschale finanzielle Abfindung der früheren Eigentümer, die ihre konfiszierten Güter wegen zwischenzeitlicher Veräußerung seitens des Staates nicht hatten zurückerlangen können – es handelte sich um annähernd 25.000 Entschädigungsfälle –, besiegelte (nicht: begründete) vielfach den endgültigen wirtschaftlich-sozialen Abstieg des alten bourbonischen Adels. Das, was die Einzelnen seit 1825 nun als finanziellen Ausgleich erhielten für das Einziehen ihrer Vermögenswerte (im Zuge von Revolution und Vertreibung) und für deren Zuordnung zu den dann per Veräußerung nach und nach ,privatisierten‘ „biens nationaux“, war zu wenig, um den Neueigentümern – etwa Napoleons „noblesse impériale“– die nicht selten kostengünstig erworbenen Güter abkaufen zu können. Verarmt, ermüdet von den Emigrations- und Restitutionsauseinandersetzungen und dem Landleben zunehmend entfremdet, musste der überwiegende Teil des niederen französischen Adels, soweit er auf seinen Teil aus der „Emigranten-Milliarde“ beschränkt war, die Stadt dem Land vorziehen. Das wohlhabende städtische Bürgertum seinerseits (Kaufleute und Großhändler, Angehörige freier Berufe, „rentiers“) setzte sich – zusätzlich zu den Marschällen des vertriebenen Kaisers, deren Namen heute noch die Boulevards und Brücken von Paris tragen – auf dem Lande fest, nicht selten mittels des Erwerbs eines jener Emigrantengüter. Außer den unmittelbar Betroffenen interessierte das wenige, zumal in den Städten. Die neuen Grundherren durften ihre Besitzungen unter der Flagge des frühkonstitutionellen Eigentumsschutzes behalten, seit 1817 auch mit of-

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fener politischer und publizistischer Unterstützung der Liberalen und der Linken. Zugunsten der „acquéreurs“, die teilweise Gewissensbisse hatten, trat eine umfassende soziale Befriedigung erst ganz allmählich ein. Die neuadligen oder großbürgerlichen Gutsherren – die „roten Barone“ der nachnapoleonischen Ära – spielten zwar eine Rolle in der Gesellschaft. Sie galten aber gewissermaßen als „enfants de l’illégitimité“. Waren sie nicht zumindest moralisch zweifelhafte Profiteure7 sowohl der ursprünglichen, nun besiegten egalitären Revolution von 1789, als auch der liberalkonservativen, sich zeitweise klerikalisierenden Restauration? 8 Spuren dieser durch die Ermordung des Herzogs von Berry am 13. Februar 1820 zeitweilig noch vertieften Spaltung finden sich bis heute. Der vom König proklamierten Verfassung (Charte) vom 4. Juni 1814, der ersten geschriebenen Konstitution der Welt mit frühliberalem (Zwei-Kammer-) Parlamentarismus, bescherten die Regelungen von 1814/1816/1825 nur einen partiellen Legitimationsgewinn. Immerhin: Art. 9 der Charte, die Schlüsselgewährleistung für die verunsicherten Käufer von Emigrantengütern, hatte die Unverletzlichkeit jener nachrevolutionären Veräußerungen proklamiert. Das galt und wurde auch 1830 bei der Neuverkündung der Charte ausdrücklich bekräftigt. Die „innere Vereinigung“, wie wir heute formulieren, kam schrittweise voran, nicht zuletzt dank der schließlich unter Charles X. verabschiedeten Entschädigungsregelung von 1825.9 7 E. Burke etwa, der große englische Verfechter der Eigentumsgarantie, sah in ihnen bloße ,,Abenteurer“, Spekulanten. Für eine umfassende Entschädigungsregelung bzgl. der nichtrestituierbaren Güter sprachen sich etwa auch Guizot, de Maistre, Bonald und der Dichter-Staatsmann Chateaubriand aus, letzterer u. a. in seinem 88-seitigen „Lettre à un pair de France“, 1824. Sie alle definierten entsprechende Rechtsansprüche (unterschiedlicher Provenienz), sahen in Restitution bzw. Entschädigung also keine bloße „mesure de grâce“. Die diesbezüglichen Redeschlachten, etwa mit dem Liberalen Benjamin Constant, gehören zu den Sternstunden des französischen Parlamentarismus. 8 Vgl. von Thadden, R.: „Restauration und napoleonisches Erbe“, 1972, S. 223 f.; Siedler, W. J., „Sozialistische Latifundien“, FAZ v. 28. 4. 1997. Die durch die Charte von 1814 garantierte Gleichstellung von bourbonischem Altund napoleonischem Neuadel stand nur auf dem Papier; die gesellschaftliche Realität sah anders aus. Vgl. Sieburg, H.-O., „Geschichte Frankreichs“, 5. Aufl. 1995, S. 250; Erbe, M., „Geschichte Frankreichs von der großen Revolution bis zur Dritten Republik“, 1982, S. 48 ff., S. 120 ff. 9 Eine positive Bewertung der „Emigranten-Milliarde“ findet sich bei Gain, A., „La Restauration et les biens des émigrés“, 2 Bde. 1929, u. a. Bd. II, S. 442, sowie bei Erbe (Anm. 8), S. 51: „Die Adelsentschädigung … hat keineswegs zu den vom Bürgertum befürchteten Eigentumsverschiebungen geführt, dafür aber einigen

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Die 1789 entstandenen deux Frances wuchsen allmählich zusammen. Der Ansatz Ludwigs XVIII., „fermer les dernières plaies de la Révolution“, hatte letztlich Erfolg. Dass bereits die Revolution Frankreich zu einem „désert intellectuel“ gemacht hatte (E. Renan), dass in Frankreich dann ,,,Provinz‘ die Bezeichnung von Geistesarmut, blinder Nachahmung und Unselbstständigkeit geworden“ war (R. von Mohl), wurde zwar vielfach beklagt. Die nachnapoleonische Lage10 war freilich wenig geeignet, den Kräften des flachen Landes,11 die schon im 18. Jahrhundert geschwächt worden waren, aufzuhelfen – sieht man von der positiven Rolle verschiedener Großgrundbesitzer für den land- und viehwirtschaftlichen Fortschritt ab. Der Wiedergutmachungsstreit, einschließlich der Gleichheitsverstöße bei der Entschädisozialen Zündstoff beseitigt, weil z. T. erlittenes Unrecht wiedergutgemacht wurde.“ Vgl. auch Siedler (Anm. 8): „In den Jahrzehnten nach der Restauration gab es dann immer zwei verschiedene Aristokratien in Frankreich: den alten bourbonischen Adel und den hochgekommenen bonapartistischen Neuadel, die zwar einigermaßen miteinander umgingen, sich aber bis in die Zeiten der Republik zum Beispiel nicht wechselseitig heirateten.“ 10 Die, die im Gefolge von Louis VIII. nach 25-jähriger Abwesenheit zurückkehrten, bewiesen teilweise durch törichtes Verhalten, dass sie, wie es damals hieß, „n’ont rien appris et n’ont rien oublié“, Gain (Anm. 9), Bd. I, S. 131. Ebd., S. 314, ein Hinweis auf die insgesamt überraschend große Zahl der Neueigentümer nebst Familien etc.: „entre 1815 et 1825, un million de gens en France – et probablement plus – étaient intéressés à la stabilité des ventes nationales.“ Der alte Adel habe demgegenüber aus ca. 90.000 Personen bestanden, von denen weniger als die Hälfte emigriert seien (ebd., S. 506); die insgesamt wohl bis zu 200.000 Emigranten bestanden also keineswegs nur aus Adligen. Frankreich hatte damals gut 30 Millionen Einwohner. Die Zahl der restitutionsberechtigten „Alteigentümer“ schwankt (ebd., S. 512, ist von mindestens 20.000 die Rede, später – Bd. II, S. 178 – von 25.000; 20.000 Entschädigungsfälle waren allein bis 1830 bereits abgeschlossen); ebenso schwankt die Zahl der „Neueigentümer“ (mit Angehörigen waren es wohl gut 1 Million). Unbestritten ist die enorme quantitative Differenz: „Wenige, die keine Ruhe geben, gefährden das neue Glück vieler“ – so wurde diese Differenz zu Lasten der Emigranten publizistisch ausgebeutet. 11 Nach dem endgültigen Sturz Napoleons (Abdankung am 22. 6. 1815), also mit der erneuten Rückkehr der Bourbonen und ihres z. T. hochfahrenden Emigrantengefolges Anfang Juli 1815, begann auf diversen Feldern der Politik auch „la Terreur blanche“, die bis 1820 andauerte: „Nicht selten bemächtigten sich dabei zurückgekehrte Emigranten, ohne sich um gesetzliche Regelungen zu kümmern, unter Berufung auf ihre alten Rechte aus der Zeit vor 1789 wieder ihrer von der Revolution enteigneten Güter, führten Leibeigenschaft und Frondienste aufs Neue ein und verweigerten dem Staat die Steuerzahlung“, Sieburg (Anm. 8), S. 259.

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gung, stellte Rechtsbewusstsein und Rechtspolitik auf eine harte Probe. Diejenigen, die Gerechtigkeit wollten (die Emigranten, deren Güter veräußert worden waren, aber auch die Neueigentümer, die „ihr“ Emigrantengut, das zudem in den ersten Restaurationsjahren stetig an Wert verlor, behalten wollten),12 bekamen – um ein unbehagliches Wort der ostdeutschen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley zu variieren – in ihren Augen „nicht genug“ von dem hohen Gut Gerechtigkeit, geschweige denn den Rechtsstaat im heutigen Sinn.13 Im Dreieck Alteigentümer-Staat-Neueigentümer trat erst mit Verzögerung Rechtsfrieden ein. Das Gros der früheren Eigentümer, primär Mitglieder des Landadels oder des Offiziercorps, erhielt nur eine jährliche Aus12 Die Charte von 1814 anerkannte die zwischenzeitlichen Verkäufe der konfiszierten Emigrantengüter – das war die letztlich entscheidende Weichenstellung. Im Ergebnis stellte sie eine politisch umstrittene, den Emigranten schlechterdings unverständliche königliche Bestätigung der durch die Revolution geschaffenen „illegitimen“ neuen Besitz- und Eigentumsverhältnisse dar. Die Entschädigungsregelung von 1825 „hätte die Leidenschaften besänftigen müssen, doch verwandelte sich die Diskussion auf der Linken in einen Prozess gegen die Emigration, während man auf der Rechten der Revolution den Prozess machte“, Tulard, J., „Frankreich im Zeitalter der Revolution 1789 – 1851“, 1989, S. 334. – Beide Lager trafen (und übertrafen) sich im Schutz des Eigentums, insbesondere des Grundeigentums, „cette pierre angulaire de la société française au dix-neuvième siècle“, Gain (Anm. 9), Bd. I, S. 563. In den Worten Chateaubriands (ebd., Bd. II, S. 25): „si le droit de propriété n’est pas sacré la liberté est volée, car c’est la propriété qui est le rempart de la liberté“. Das änderte freilich nichts daran, dass mit Gesetz vom 5. 1. 1831 die neue Mehrheit den „fonds commun“, aus dem die Restentschädigungen zu bezahlen waren, auflöste (ebd., S. 356 ff.) – die Emigranten zahlten einen Teil des Preises für die Julimonarchie. 13 Kann man vom Rechtsstaat überhaupt Gerechtigkeit verlangen? Sendler, H., „Rechtsstaat im Defizit?“, in: FS für K. Stern, 1997, S. 297 ff. (S. 300 f.), verneint diese Frage in großer Skepsis: „Wer eine Utopie erwartet, muss von der Wirklichkeit notwendig enttäuscht werden. Diese Utopie verkennt die alte … Weisheit, dass die Gerechtigkeit auf dieser Erde nun einmal nicht zu verwirklichen ist, dass Recht sich vielmehr darauf beschränken muss, die ärgsten Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Recht kann eben nur dazu beitragen, dass das Leben in der Gesellschaft für die Menschen nicht ganz so unerträglich ist, wie es ohne eine rechtliche Ordnung wäre.“ – Über die Notwendigkeit, Gerechtigkeit anzustreben, sind sich freilich alle einig, auch die Zweifler an der Existenz einer objektiven Gerechtigkeitsvorstellung. In seinem monumentalen Werk begründet Gain (Anm. 9) seine Einschätzung, dass die Kombination von Teilrestitution (1814/1816) und Teilentschädigung (1825) gerechtigkeits- und damit integrationsfördernd war: „un pas immense … dans la vie de la réconciliation nationale“ (Bd. II; S. 442).

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gleichsrente von ca. 300 Francs.14 Einige wenige – Angehörige des Hochadels zumeist, besonders die Herzöge von Orléans und von Luxemburg – profitierten demgegenüber exzessiv von der „Emigrantenmilliarde“. Der Löwenanteil der alten Güter ging in die Hände städtischer Notabeln, der „grande bourgeoisie“, über.15 Nach der Juli-Revolution von 1830 verlor der Adel dann auch seine politischen Vorrechte. Eine Entschädigungsregelung wie fünf Jahre zuvor, einschließlich der damit verbundenen symbolischen Stigmatisierung der Konfiskationen, wäre nun nicht mehr durchsetzbar gewesen. Die parlamentarische Minderheit von 1825 war jetzt die Mehrheit. Zu einem politisch-wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Emigranten und des Adels hatte die Entschädigungsregelung ohnehin

14 Vgl. Gain (Anm. 9), Bd. II, S. 195 ff.; Überblick auch bei Biehler (Anm. 3), S. 151 ff.; vielschichtig Schnur, R., „Wiedergutmachung: Benjamin Constant und die Emigranten (1825)“, Der Staat 1980, S. 161 ff. – Napoleon, der die Emigrantengüter als legitimen Teil der „domaine de l’État“ ansah, hatte vielen Emigranten ab 1802 die Rückkehr erlaubt (Wiedergutmachungs- und Amnestiebeschlüsse des Senats). Nicht wenigen gelang der Wiederankauf ihrer zwischenzeitlich privatisierten eigenen oder gleichwertiger Besitzungen (Waldbesitz über 150 ha Größe sowie besonders ausgedehnte Grundbesitze durften freilich weiterhin nicht veräußert oder zurückgegeben werden); das Vermögen des Adels erlebte also schon während des Direktoriums Restituierungen. Eine Rückgabe des Eigentums (50.000 Namen hatte Napoleon im Oktober 1800 von der Liste der „verbannten“ Emigranten gestrichen) „kam allerdings nur in Frage, sofern es sich um nichtverkaufte Ländereien handelte. Damit begann eine diskrete Rückkehr der Emigranten“, Ziebura, G., „Frankreich 1781 – 1870“, 1979, S. 86. – Rückgabe oder Rückkauf erfolgten je nach Departement und Einzelfall höchst unterschiedlich. Vorgetäuschte Scheidungen und Erwerb durch Strohmänner hatten es vielen Emigranten bereits zwischen 1790 und 1800 ermöglicht, ihre Besitze zu behalten oder zurückzubekommen. Materiell gesehen blieb so auch nach 1789 ein gewisser Teil der früheren Aristokratie in einer sozio-ökonomisch starken Position. Dies erfolgte nicht zuletzt dank der (integrationspolitisch motivierten) Avancen Napoleons, die dieser später – im Jahre 1809 – als einen seiner größten politischen Fehler bezeichnete. 15 Vgl. aber Mager, W., „Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne“, 1980, S. 186: „Bisweilen haben sich Bauern zu Käufergruppen zusammengetan, um bei Versteigerungen (von Kirchen- und Emigrantengütern) mithalten zu können; oftmals haben sie auch städtische Konkurrenten durch Gewalt oder Gewaltandrohung vom Kauf zurückgehalten.“ Derartige „Handgemenge“ liegen offenbar, denkt man an die Situation in einigen ländlichen Teilen Ostdeutschlands seit 1990, geradezu in der Natur der Sache. – Zur faktischen Nichtrückkehr der „petite noblesse“ auf ihre Güter bzw. aufs Land s. auch Gain (Anm. 9), Bd. II, S. 417 ff. (426).

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nicht geführt, auch nicht zu einer dauerhaften Befestigung der Bourbonen-Monarchie. Als Zwischenbilanz ist festzuhalten: Unrecht unter einem anderen politisch-rechtlichen System wird offenbar meist nur begrenzt ausgeglichen; je größer der Zeitabstand, desto kleiner die Chance, den status quo ante wiederherzustellen. Zwar erhielten die früheren Eigentümer, einschließlich der Kirche, zügig ihre noch unveräußerten Besitzungen zurück, und diese partielle Restitution erwies sich als „une véritable pacification“ (einige Streitigkeiten zogen sich allerdings noch bis in unser Jahrhundert hinein). Aber die Entschädigungsregelung, mit der ab 1825 das Gros der Alteigentümer abgefunden wurde, war kein sofort wirkender Befreiungsschlag. Zu tief war nach wie vor die Kluft zwischen Altfrankreich und Neufrankreich, zu unpopulär die Emigration, zu groß das Misstrauen der „rentiers“, letztlich die Zeche für die Emigrantenentschädigung zahlen zu müssen. Erst die Kombination von Teilrestitution plus Teilentschädigung plus Zeitablauf (verbunden mit den Chancen, die sich – auch für die Emigranten – durch neue Entwicklungen im industriellen Bereich abzeichneten) induzierte „la réconciliation et la paix“. Den allgemeinen Zug vom Land in die Stadt, die zunehmende Parzellierung des Großgrundbesitzes und die Fortsetzung des Niedergangs des Adels (und damit letztlich der Monarchie) konnten die politischen Regelungen nicht aufhalten. Kann man für Deutschland im Jahr acht nach der Wende eine ähnliche Zwischenbilanz ziehen? Welche eigentums- und akzeptanzpolitischen Schritte sind bei uns unternommen worden, welche sind noch angezeigt? Was lässt sich aus der französischen Erfahrung, die in unserer Skizze im Vordergrund steht, lernen, was also aus diesem Restitutionsvergleich? III. Nichtrestitution plus Ausgleichsleistung im wiedervereinigten Deutschland – ein Verfassungsverstoß? Sechs Generationen nach jener frühliberalen Vergangenheitsbewältigung jenseits des Rheins wurde mit dem Wiedererlangen der staatlichen Einheit Deutschlands die öffentliche Hand Eigentümerin von fast zwei Dritteln des zwischen 1945 und 1949 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Zuge der „demokratischen Bodenreform“ konfiszierten und so-

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zialisierten Grundbesitzes von über 100 Hektar.16 Anders als 1814/1816 wurden diese „Nationalgüter“ – nun hießen sie „Volkseigene Güter (VEG)“ und „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG)“ – nicht restituiert. Für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage wurde eine Rückgabe ausgeschlossen (§ 1 Abs. 8 Vermögensgesetz [VermG]). Dies gilt auch dann, wenn sich die Vermögenswerte noch in öffentlicher Hand befinden. „Nichtrestitution“ der Konfiskationsgüter war die deutsche Antwort ausgangs des 20. Jahrhunderts auf die eingangs des 19. Jahrhunderts in Frankreich mit „Teilrestitution“ der „Nationalgüter“ beantwortete Frage nach dem Pfad der Unrechtsbereinigung. Von der SBZ-Bodenreform in der Land- und Forstwirtschaft waren über 14.000 Fälle mit fast 3,3 Millionen Hektar betroffen. Einschließlich der Industriereform 1945/49 handelt es sich um ca. 40.000 Opfer. Der von den Kommunisten verschleiernd „volkseigen“ genannte Staatsbesitz muss auch nach den beiden Bodenreform-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts17 nicht an die aus dem Land gejagten früheren Berechtig16

Überblick neben den Nachweisen in Anm. 2 und 3 bei Kimminich, O., „Bemerkungen zur Überleitung der Eigentumsordnung der ehemaligen DDR“, in: Stern, K. (Hrsg.): „Eigentum – Neue Verfassung – Finanzverfassung“, Bd. I der Reihe „Deutsche Wiedervereinigung“, 1991, S. 3 ff. Der viel zu früh verstorbene Regensburger Kollege, ein nobler, aufopferungsvoller Kämpfer für Recht (der anderen) und Gerechtigkeit (auf nationaler, supranationaler wie internationaler Ebene), war der erste deutsche Staats- und Völkerrechtslehrer, der sich zentral – und kritisch – mit dem gesamtdeutschen „Nichtrückgängig-Machen“ der Bodenreform befasste. Er verortete den Restitutionsanspruch primär in Art. 14 GG. Erst die Bodenreform I-Entscheidung rückte – mit dem Wiedergutmachungsansatz – das Rechts- und Sozialstaatsprinzip (sowie damit das Gleichheitsgebot) in den Vordergrund; die Staatsrechtslehre ist dieser Abkehr von der Eigentumsgarantie als ,,Anspruchsgrundlage“ nahezu einhellig gefolgt, gewiss zu schnell. Die französische Restitutions- und Entschädigungsregelung der Restaurationsära erfolgte gänzlich in den Bahnen des Eigentumsschutzes, ja sie wurde geradezu als von der Eigentumsgarantie geboten angesehen. Auf dieser Basis wurde dann – im Laufe von Jahrzehnten – ein integrationspolitischer Mehrwert erzielt. 17 BVerfGE 84, 90 ff. („Bodenreform I“). – Die Erwartung eines US-amerikanischen Kommentators, mit diesem Urteil sei „one of the greatest obstacles for significant investment in the former German Democratic Republic“ beseitigt (Stewart, Ch. E., „,Land Reform‘ Decision“, American Journal of International Law [AJIL] 1991, S. 690 ff.), hat sich nicht bewahrheitet. Auch die verfassungsgerichtlich bekräftigte Restitutionsverweigerung beschleunigte nicht den „Aufschwung Ost“, der aus anderen Gründen zu lahmen begann. – BVerfGE 94, 12 ff. („Bodenreform II“) bestätigte die frühere Entscheidung: keine verfassungsrechtli-

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ten – die „Emigranten“ des deutschen Parallelfalles – rückübertragen werden. Die iustitia restitutiva wird – hier liegt der entscheidende Unterschied zum französischen Vorläufer – auch nicht bezüglich der noch in Staatshand befindlichen Teile verwirklicht. „Mein eigentum und mir unendlich fern“ – in dieser vor 90 Jahren vom rheinischen Dichter Stefan George (im Band „Der Siebente Ring“) in ganz anderem Kontext geprägten Zeile mag mancher „Alteigentümer“ seine Lage treffend zusammengefasst sehen. „Vierzig Jahre Rechtswirklichkeit“, formuliert die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, „lassen sich nicht rückabwickeln“.18 Der Rechtsche Beanstandung des letztlich in Art. 143 Abs. 3 GG für bestandskräftig erklärten Restitutionsausschlusses. – Vgl. die die deutschen Regierungsangaben zur „Unumkehrbarkeit“ der Bodenreform „bestätigenden“ Äußerungen des früheren sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow; auch im Rückblick und aus größerem Abstand betrachtet, zitiert ihn die Bundesregierung, sei die UnumkehrbarkeitsEntscheidung richtig gewesen, um die demokratische Entwicklung in der früheren DDR zu fördern, Bull. Nr. 81 vom 9. 9. 1994, S. 768. „Demokratieförderung“ auf Kosten des Rechtsstaates?, werden frühere Eigentümer angesichts dieser nachgeschobenen Begründung fragen. Korreliert wenigstens der Zulauf zu den demokratischen Parteien in den neuen Bundesländern mit der Bodenreformgeographie? Oder liegen die Dinge in den hauptsächlichen Regionen ehemaliger LPGs und VEGs nicht eher umgekehrt? 18 Limbach, J., „Rechts- und Verfassungspolitik im sozialen Wandel“, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP) 1997, Beiheft 71, S. 1 ff. (S. 17). – Mit Recht weist sie darauf hin, dass die Staaten des ehemaligen Ostblocks aufmerksam verfolgen, „wie uns der Systemwechsel und das Zusammenwachsen gelingen, ob wir im Innern Solidarität zu üben und zu teilen wissen“. Dies beantwortet freilich nicht die Frage, ob bzgl. der Bodenreform-Flächen, die nun an Dritte veräußert oder (mit Ankaufsrecht) verpachtet werden, „Solidarität und Teilen“ darin bestehen, dass die früheren Eigentümer an der Verwertung nicht beteiligt werden. – Das nachrevolutionäre Frankreich sah das bzgl. der nicht versteigerten Emigrantengüter anders: Restitution war insoweit so selbstverständlich, dass das Restitutionsgesetz vom 5. 12. 1814, anders als das Entschädigungsgesetz vom 27. 4. 1825, nicht umstritten war; vgl. Gain (Anm. 9), Bd. I, S. 137 ff. In letzterem sahen die Liberalen die Privilegierung einer einzigen Kategorie der Revolutionsopfer des Landadels, ging es doch primär um dessen Verluste. Zu Protesten „au nom des prolétaires et des bourgeois émigrés, en un mot au nom des non-nobles dépouillés révolutionnairement“, vgl. Gain (Anm. 9), Bd. I, S. 484. – Zu Gleichbehandlung/ Ungleichbehandlung der diversen Opferkategorien s. u. Anm. 37. Während sich in Frankreich die Forderung „que l’indemnité soit étendue à toutes les pertes causées par l’émigration ou les condamnations révolutionnaires“ nicht durchsetzte (Gain, ebd., S. 484 ff.), setzt die deutsche Wiedergutmachungsregelung breiter an, mögen Haftentschädigungen, Ausgleichsleistungen, Rehabilitierungsregelungen im Einzelnen auch bedrückend eng gefasst sein.

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staat, heißt es vielerorts, stoße bei der Bewältigung der Hinterlassenschaft des sozialistischen Unrechtsregimes an seine Grenzen. Aber erfolgte zwischen Atlantik und Rhein nicht zumindest die prompte Rückgabe der noch nicht verkauften Konfiskationsgüter? Wäre zwischen Elbe und Oder solches nicht auch möglich? Möglich schon, sagt das Bundesverfassungsgericht, aber nicht vom Grundgesetz geboten. Nur ein „Ausgleich“ müsse eingerichtet werden. Bei der Abwicklung der Bodenreform gehe es um Wiedergutmachung.19 Dieses Rechtsinstitut hat allenfalls flache Wurzeln in der Garantie des Eigentums. Weit tiefer ist es im Rechts- und Sozialstaatsgedanken verankert. Zwischen einer an der Eigentumsgarantie orientierten Rückgabe zum vollen Wert (für die Vermögensentziehungen 1933/1945 und 1949/1989) einerseits und einer nach sozialstaatlichen Grundsätzen bemessenen Ausgleichsleistung (für die Konfiskationen 1945/1949) andererseits liegen Welten. Schon französische Revolutionsopfer hatten das, soweit nicht sofortige Restitution erfolgte, erfahren müssen. Die „Milliarde der Emigranten“ korrespondierte schwerlich mit dem Marktwert der nichtrestituierten „Nationalgüter“, wenn sie auch nicht eine bloß politisch „gegriffene“ Zahl war, sondern sich im Prinzip am Eigentumsverlust zu orientieren suchte.20 „Dem Bedürfnis nach materieller Gerechtigkeit“, erläutert Josef Isensee, könne der Rechtsstaat nach tiefgreifenden Umbrüchen, „wenn überhaupt, nur unzulänglich abhelfen“. Gerade in solchem Gezeitenwechsel, halten wir dagegen, gibt es zum Rechtsstaat keine Alternativen – oder nur solche, die uns schaudern lassen. Man muss sich nur der Unvollkommenheit jeder Regelung bewusst sein. Durch politische Unrechtsurteile des totalitären Sozialismus erlittene Haft etwa lässt sich weder mit Geld noch mit gerichtlicher Kassation oder politischer Rehabilitierung ungeschehen machen.21 19

BVerfGE 84, 90 (122 ff.): Die Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland habe sich auf das damalige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beschränkt. Eine Verantwortlichkeit des wiedervereinigten Deutschlands i. S. e. Einstehenmüssens für ihr nicht zurechenbare Handlungen bestehe nicht. Daher sei Art. 14 GG auch nicht Maßstab für Maßnahmen der DDR. 20 Vgl. Gain (Anm. 9), Bd. I, S. 563 ff. 21 Vgl. Heitmann, St., „Sechs Jahre Deutsche Einheit“, in: FS für K. Stern (Anm. 13), S. 1383 ff. (1392 ff.): Auch die Rehabilitierungsregelungen blieben „hinter dem Erhofften weit zurück“: „So richtig es ist, dass sich Lebensschicksale auch durch einen demokratischen Rechtsstaat nicht mehr rückgängig machen lassen und Wiedergutmachung immer nur einen teilweisen Ausgleich von Nach-

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Wie hat ein Rechtsstaat zu reagieren, wenn Teile der „Beute“ noch vorhanden sind, wenn einige der konfiszierten Güter noch restituiert werden können? Ein „Roll Back“ der Sozialisierungen der unmittelbaren Nachkriegszeit erfolgte bei uns nicht – im Unterschied zu denen ab 1949. Dabei waren jene früheren Konfiskationen, anders als im französischen Fall, weniger revolutionären als machtpolitischen Charakters. Die „sozialistische Bodenreform“ wurde von sowjetischen Funktionären angeordnet und vor Ort von deutschen Kommunisten – häufig mit Brutalität – exekutiert. Die Klassenkämpfer propagierten, hier käme „Junkerland in Bauernhand“. Einer „reaktionären Herrenschicht“ müsse ihre sozio-ökonomische Basis entzogen werden. Faktisch handelte es sich freilich um Willkürmaßnahmen, die primär den bäuerlichen und gewerblichen Mittelstand sowie die Intelligenz vernichten sollten und auch vernichteten. Vergleichbares gab es vorher und nachher auch in den anderen Ländern des sowjetischen Machtbereichs. Wie im französischen Fall wurden nach der Wende bei uns dann die Neueigentümer, konkret: die landwirtschaftlichen Gesellschaften und die Pächter, in ihrer Rechtsstellung nicht angetastet, sondern gesichert. Der Unterschied zwischen der Regelung von 1814/1825 einerseits und der von 1990/1994 (Entschädigungs- und Ausgleichleistungsgesetz [EALG]) 22 andererseits ist im zentralen Punkt dramatisch. Selbst die riesigen Flächen,23 die sich seit den Nachkriegskonfiskationen in öffentlicher

teilen leisten kann: Die gewährten Entschädigungen sind gering, die Voraussetzungen für eine Rehabilitierung sind eng gefasst.“ – Das „rechtsethische“ Argument, dass, weil nicht alle Arten von Unrecht des Vorgängerregimes korrigiert werden könnten, auf Entschädigung insgesamt, zumindest auf Restitution verzichtet werden sollte, spielte in der Bodenreform I-Entscheidung eine Rolle. Es fand sich schon in der Ära der Restauration, vgl. Gain (Anm. 9), Bd. I, S. 127, damals aber ohne Wirkung. 22 Nach langwierigen Auseinandersetzungen kam 1994 eine komplizierte, äußerst restriktive Regelung zustande: das Ausgleichleistungsgesetz = Art. 2 des EALG vom 30. 9. 1994, BGBl. I, S. 2624. Zu ihm Graf Vitzthum, W. / März, W., „Restitutionsausschluss“, 1995, S. 191 ff. 23 „Man muss ja heute nur über das Land und durch die Kleinstädte zwischen Elbe und Oder fahren, um auf Schritt und Tritt zu spüren und zu sehen, dass dies nicht mehr das adlig, bäuerlich und bürgerlich geprägte Land ist, das 1945 von der Roten Armee erobert wurde. Die Gutsbesitzer, die ,Junker‘ in der Terminologie der ,Bodenreform‘, wurden zu Zehntausenden aus ihren Häusern getrieben und meist aus dem Land gejagt. Insgesamt 150.000 Bauern haben die Zone Ulbrichts in den

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Hand (seit 1990 primär in der der Bundesrepublik Deutschland) befinden, werden nicht zurückgegeben.24 Bzgl. dieser Flächen bleibt es beim 1990 zwischen der DDR und der Bundesrepublik verabredeten Restitutionsausschluss für „Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage“.25 Begünstigt werden damit primär nicht neue Kleinbauern – sie hatte man nicht auf Dauer an die Stelle der aus dem Land Gejagten angesiedelt –, sondern „industrieähnliche Großgebilde, deren Größenordnung weit über die Verhältnisse auch der größten aristokratischen Güter hinausgehen“.26 fünfziger Jahren verlassen, und in vielerlei Hinsicht kam die Bodenreform der Auswechslung einer ganzen Bevölkerung nahe“, Siedler (Anm. 8). 24 Zur gesetzlichen Regelung vgl. Heller, R. / Quandt, O. / Sannwald, R., „Entschädigungs- und Ausgleichleistungsgesetz (EALG)“, Kommentar, 1995, S. 1: Das EALG „bildet den Schlussstein der gesetzgeberischen Bemühungen um die Regelung der offenen Vermögensfragen, die im Zusammenhang mit der Vereinigung Deutschlands aufgetreten sind“. Kritik am Gesetzentwurf bei Graf Vitzthum, W., „Wiedergutmachungsregelung und Willkürverbot“, Deutsche Zeitung für Wirtschaftsrecht 1994, S. 1 ff. – Um Gleichheitsfragen war es schon in Frankreich gegangen: um Gleichbehandlung derjenigen, die restituiert worden waren, mit denjenigen, bei denen dies (wegen zwischenzeitlicher Veräußerung ihrer konfiszierten Güter) nicht erfolgte. Vgl. Gain (Anm. 9), Bd. I, S. 310: „L’inégalité de traitement et d’infortune paraissait insupportable à des hommes qui, d’habitude, faisaient meilleur marché du principe d’égalité.“ Bei einer Entschädigungsregelung geht es stets auch um Fragen der Gleichheit unter den Entschädigten (Degressionsaspekte etc.; s. u. bei Anm. 42). 25 Eine bei der EU-Kommission in Brüssel im Januar 1996 eingelegte Beschwerde rügt, dass das EALG-Flächenerwerbsprogramm mit dem Subventionsverbot des EG-Vertrages insoweit nicht übereinstimmt, als staatliche Flächen begünstigt auch an Personen veräußert werden, die keinen Wiedergutmachungsanspruch haben. 26 Siedler (Anm. 8), der ergänzt: „Selbst in Frankreich oder Italien sieht man staunend auf die Rieseneinheiten, die sich anschicken, die alteuropäischen Verhältnisse umzukehren. Mit einiger Ironie erinnert man sich an die Polemik, die nicht nur von den ostdeutschen Kommunisten, sondern auch von den Liberalen kam, gegen die Herrschaft der Junker in Ostelbien. Kaum ein Junker hat derart riesige Gutsbetriebe besessen, wie sie der Sozialismus hinterlassen hat.“ – Der umfangreichste Restitutionsfall, die Ansprüche von Franz zu Putbus auf Rügen, ist ein sprechendes Beispiel. Auf 60 % des 1944 und 1945 enteigneten Grundvermögens des Fürsten erheben Bund, Land und Kommunen Anspruch – eine klassische Staat-Bürger-Konstellation mit fiskalischem Hintergrund also. – Im Übrigen geht es regelmäßig nicht um kleinbäuerliche Parzellen; diese sind längst als nicht von Restitutionsansprüchen erfasst allseits anerkannt: kein nennenswerter Konflikt zwischen Alteigentümer und Kleinbauer/-pächter. Anspruchsgegner der

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Der Bund verfügt heute noch über 1,1 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Fläche und 700.000 Hektar Wald aus sowjetisch enteignetem Besitz. Das französische Beispiel der zügigen Teilrestitution von 1814 machte bei uns demnach nicht Schule.27 Die finanziellen Kosten der DDR-Erblasten für die gesamtdeutschen Haushalte waren ein Schlüsselaspekt.28 Aus dem Restitutionsvergleich – wurde er überhaupt angestellt? – wurde kein eigentums-, struktur- oder akzeptanzpolitischer Erkenntnisgewinn gezogen. Das Bundesverfassungsgericht gab der Restitutionsverweigerung Flankenschutz. Es qualifizierte den entschädigungslosen Eigentumsentzug nicht als unheilbar nichtige, weil menschenunwürdige Straf- und Verfolgungsmaßnahme. Dem grundsätzlich anerkannten „Menschenrechtsgehalt des Eigentums“ schenkte es wenig Bedeutung.29 Die Abwehr von politisch motivierter, diskriminierender Entziehung von Eigentum wird damit künftig erschwert.30 Mit Art. 46 der Haager Landkriegsordnung, der das Privateigentum im kriegerisch besetzten Gebiet als unverletzlich erklärt,31 lassen sich die beiden Karlsruher Judikate ebenfalls schwerlich vereinbaren.32 Wie wird diese Nichtrestitution beAlteigentümer sind vielmehr vor allem (mit primär fiskalischen Interessen) die öffentlichen Hände und die LPG-Nachfolger; letztere die vielzitierten „roten Barone“ i. S. v. „gewendeten Latifundienbesitzern“. 27 Bzgl. einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Rückgabe der Objekte, die jetzt noch der öffentlichen Hand zustehen, bei denen es also keine in ihrem Vertrauen schutzwürdige Neueigentümer gibt, hatten sich bejahend zuvor u. a. geäußert: Badura, P., „Der Verfassungsauftrag der Eigentumsgarantie im wiedervereinigten Deutschland“, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 1990, S. 1266 ff.; Scholz, R., Die Welt v. 30. 10. 1990. 28 Die „Kosten der Wiedervereinigung“ (genauer: die Kosten der DDR-Erblasten) sollten, hieß es 1989 in Bonner Regierungskreisen, u. a. aus der Veräußerung der Bodenreformgüter bezahlt werden. Dieser Ansatz hat sich in vielfacher Hinsicht als irrtümlich erwiesen. Eine Korrektur erfolgte gleichwohl bisher nicht. S. u. Anm. 37. 29 Vgl. (Erstes) Zusatzprotokoll v. 20. 3. 1952 zur (Europäischen) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4. 11. 1950. 30 Die Bodenreform zielte auf Depossedierung einer ganzen „Klasse“. Das schloss die persönliche Verfolgung der Betroffenen ein. Stewart (Anm. 17), S. 691 spricht treffend von der Absicht, „to liquidate the large feudal and Junker landholdings“. 31 Einschränkungen erleidet das Prinzip durch das hier nicht einschlägige Requisitions-, Kontributions- und Sequesterrecht (Art. 57, 49 – 51, 53 HLKO). 32 Zum ordre-public-Vorbehalt vgl. Graf Vitzthum, W., „Das Bodenreformurteil des Bundesverfassungsgerichts: Analyse und Kritik“, in: Stern, K. (Hrsg.): „Zur

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gründet? Was sind, soweit bereits absehbar, ihre integrationspolitischen Folgen? Gibt es Korrekturbedarf und ggfs. noch Korrekturchancen? IV. Begründungs- und Akzeptanzprobleme sowie Korrekturbedarf der Nichtrestitution Um mit der verfassungsrechtlichen Begründung zu beginnen: Die Konfiskationen werden im Kern nicht an Art. 14 GG geprüft, der zur fraglichen (Wegnahme-) Zeit noch nicht existierte. Auch im Gleichheitsgebot (lag nicht ein faktisches Sonderopfer der Alteigentümer für die Wiedervereinigung vor? 33) sah das Gericht keinen entscheidenden Hebel. Der Vorgeschichte des Einigungsvertrages (EV) – also der Aufrechterhaltung der Ergebnisse der Konfiskationen in der SBZ als (angeblicher) sowjetischer und ostdeutscher conditio sine qua non für die Wiedervereinigung34 – entnahm das Gericht auch beim Nachfassen35 hinreichende sachliche Gründe für die Differenzierung zwischen Entrechtungen bis 1949 (keine Rückgabe; nur Ausgleichsleistung) und solchen bis 1945 (NS-Enteignungen) bzw. ab 1949 (Rückgabe; wo dies nicht möglich: Entschädigung).

Wiederherstellung der inneren Einheit“, Bd. II der Reihe, Teil 1, 1992, S. 3 ff. (S. 16 ff.): Nach bisher h. L. verstieß eine ohne Verfahren und Einzelfallprüfung vorgenommene entschädigungslose Enteignung stets gegen diesen Vorbehalt; dazu auch Stewart (Anm. 17), S. 696, Fn. 27. 33 Vgl. aber von Münch, I., „Rechtsstaat versus Gerechtigkeit“, Der Staat 1994, S. 165 ff. (S. 179): „Wenn es eine Regelung gibt, die den Menschen in den neuen Bundesländern an der Gerechtigkeit im Rechtsstaat zweifeln lässt, dann ist es das Prinzip der Rückübertragung des früheren Eigentums auf die Alt-Eigentümer im Westen.“ – Die früheren Eigentümer sehen es umgekehrt – Menschen haben eben unterschiedliche Vorstellungen der Gerechtigkeit: Relativität der Gerechtigkeitsvorstellungen. Außerdem gibt es durchaus auch Alt-Eigentümer im Osten, Bodenreformopfer, die lange auf eine Korrektur der Nachkriegsungerechtigkeit warten mussten; sie sehen sich nun als Opfer einer „zweiten Enteignung“. Ähnliches gilt von ausländischen Bodenreformopfern; auch hier wird der deutsche Gesetzund Verordnungsgeber nachbessern müssen – mit Gefahren für die Gleichheitsund Systemgerechtigkeitsstatik des gesamten EALG-Gebäudes. 34 Vgl. bereits die Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 15. 6. 1990, später als Anlage III Bestandteil des Einigungsvertrages (BGBl. 1990 II, S. 1337 f.). 35 Vgl. BVerfGE 94, 12 (34 ff.).

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Immerhin: Der Rückerwerb des früheren Eigentums, unter Verrechnung mit einem solchen Ausgleich, darf zugelassen werden.36 In nennenswertem Umfang kam er bisher nicht zustande. Die deutschen Alteigentümer sind durchweg ähnlich kapitalarm, wie es die französischen Emigranten waren, und viele sind der Land- und Forstwirtschaft nach einem halben Jahrhundert so weit entfremdet wie jene nach einem Vierteljahrhundert. Den durch die Konfiskationen Betroffenen versagt das Bundesverfassungsgericht einen verfassungsgestützten Restitutionsanspruch.37 Dies soll auch dann gelten, wenn das „Volkseigentum“ noch nicht privatisiert,38 ein in seinem Vertrauen Schutzbedürftiger also gar nicht vorhanden ist.

36 BVerfGE 84, 90. – Mittlerweile bietet die TLG Treuhand Liegenschaftsgesellschaft in einer Art „Sommer-Schlussverkauf 1997“ im Immobilienteil überregionaler Tageszeitungen 50 Objekte in den neuen Bundesländern an, mit dem Untertitel „Auf gutem Grund“. Die Anpreisungen sind eher geschmacklos. 37 In der mündlichen Verhandlung am 22. 1. 1991 war die Rede von der „blutigen Beute“ in der Hand des Staates. FAZ-Leserbriefe variierten frühzeitig das böse Wort „Staatshehlerei“. Mittlerweile weist dieses offenbar eine erschreckend große („augenzwinkernde“) Verbreitung auf, über den Kreis der Betroffenen hinaus. Einem gewissen „resignierenden Zynismus in politicis“ ist das leider nicht hinderlich. – Das BVerfG betonte, der Umstand, dass diese Objekte noch vorhanden und insofern an sich rückgabefähig seien, stelle eine „Zufälligkeit“ dar; sie verlange keinerlei „wertmäßige Bevorzugung bei der Wiedergutmachung vor anderen Enteigneten oder vor Opfern von Unrechtsmaßnahmen, die Schäden anderer Art erlitten haben“. Aber läge in einer Restitution eine „Bevorzugung“? Im Vordergrund steht eher das Gegenteil, steht die Forderung nach Gleichbehandlung: Die Opfer der Konfiskationen von 1945/49 wollen in der Restitutions- und Entschädigungsfrage so behandelt werden wie die, die vor 1945, und die, die nach 1949 enteignet worden waren. Spräche der im Ergebnis eher antiegalitäre Ansatz des Gerichts nicht auch gegen die Rückgabe der vor 1945 und der nach 1949 enteigneten, aber „zufällig“ noch vorhandenen „Vermögenswerte“? Oder schlüge hier der Einwand „keine Gleichheit im Unrecht“ durch? – Vergleichbare Fragen stellte man sich auch in Frankreich: „pourquoi indemniser les seuls émigrés, quand tous les Français ont souffert dans leur fortune? Les incendies, les pillages, les dévastations …“ – all diese Verlustvorgänge referiert Gain (Anm. 9), Bd. I, S. 487: Es sei kein Gleichheitsvorstoß, gerade die Emigrantengüter herauszugeben – der „trésor public“ (das Schatzamt) und mit ihm die ganze Nation habe ja auch jahrzehntelang die Früchte dieser Enteignung geerntet. 38 Vgl. Badura, P., „Staatsrecht“, 2. Aufl. 1996, S. 746: „Soweit jegliche Rückgabe ausgeschlossen ist, wenn die Objekte jetzt der öffentlichen Hand zustehen, ist die Verfassungsmäßigkeit des (Ausgleichsleistungs-) Gesetzes zu bezweifeln (Art. 14 GG)“. Die Forderung der Opfer nach Restitution sollte also nur insoweit erfüllt werden, als nicht Rechte von Personen verkürzt werden, die die

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Art. 143 Abs. 3 GG, durch das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag vom 23. September 1990 i. V. m. Art. 5 EV in das Grundgesetz eingefügt, wird bestätigt: Vereinbarkeit mit Art. 79 Abs. 3 GG. Es habe sich, so das Bodenreform-Judikat I, um „Enteignungsmaßnahmen einer fremden Staatsgewalt“ gehandelt. Sie seien „für den dem Grundgesetz verpflichteten Gesetzgeber“ hinzunehmen.39 Im Moment der Wiedervereinigung habe eine Rechtsposition der früheren Eigentümer nicht mehr bestanden. Soweit eine solche etwa aus völkerrechtlichen Grundsätzen hergeleitet werden könne, sei sie jedenfalls nicht durchsetzbar und damit praktisch wertlos gewesen. Art. 3 Abs. 1 GG gebiete allerdings, dass der Gesetzgeber für die Eigentumsentziehungen von 1945 bis 1949 eine Ausgleichsregelung schafft,40 habe er doch für die Enteignungen ab 1949 Rückgabe (bzw. Entschädigung) vorgesehen. Das Bodenreform-Judikat II änderte an dieser grundsätzlichen Weichenstellung nichts.41 Ausgleichsleistungsgesetz, Flächenerwerbsprogramm (für land- und forstwirtschaftliche Betriebe) und -verordnung sowie das von der Treuhand, ihren Nachfolgeeinrichtungen und den Landesämtern zur Regelung offener Vermögensfragen praktizierte Verfahren ermöglichen Alteigentümern durch Pachten, wenn sie mit ihrem Antrag zum Zuge kommen, eine partielle Wiederansiedelung. Selbst diese Seitentür ist bisher freilich weniger weit geöffnet, als es nach den restriktiven Karlsruher Entscheidungen möglich wäre. Früheren Eigentümern wird zwar ein vergünstigter Kauf, auf der Grundlage des dreifachen Einheitswertes von 1935, ermöglicht; diese Chance besteht aber nur für umfangmäßig stark begrenzte FläWerte, die zurückgewährt werden, rechtmäßig erworben haben. Nur das in Staatshand verfügbare Eigentum wäre demnach zurückzugeben. 39 Gemeinsame Erklärung vom 15. 6. 1990, Einigungsvertrag vom 31. 8. 1990, Vermögensgesetz vom 18. 4. 1991 bzw. 2. 12. 1994 hindern den Gesetzgeber freilich nicht, für bestimmte Tatbestände eine Restitution vorzusehen. 40 Zum Gesamtkomplex Bieler (Anm. 3), S. 77 ff., 102 ff.; Badura, P., „Der Ausgleich für sozialistisches Unrecht als Wiedergutmachung nach den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaats“, in: FS für W. Remmers, 1995, S. 383 ff. 41 Angriffspunkt war die mittlerweile vom Faktischen her zumindest partiell erschütterte Behauptung, die Sowjetunion und die DDR hätten bei den Verhandlungen, die zur Herstellung der deutschen Einheit führten, auf dem Rückgabeverbot bestanden. Demgegenüber, auf die enge Prüfungsfrage beschränkt, BVerfGE 94, 12 ff. (35): ,,[Diese] von der Bundesregierung vorgenommenen und bis heute aufrechterhaltenen Einschätzungen, … können nach wie vor nicht als pflichtwidrig angesehen werden.“

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chen. Soweit die Alteigentümer ihre Güter nicht selbst bewirtschaften, werden die Chancen des Rückerwerbs weiter beschnitten (Art. 2 EALG). Im Konkurrenzverhältnis zwischen Pächter (meist „Ost“) und Alteigentümer (regelmäßig „West“) hat grundsätzlich ersterer Vorrang. Der spätere Erwerb der Flächen durch den Pächter ist privilegiert. Im Ergebnis bevorteilt das die LPG-Nachfolgebetriebe gegenüber den meist gewaltsam Enteigneten (aus EU-rechtlicher Sicht mag darin eine unzulässige Subvention der umgewandelten LPGs liegen).42 Der frühere Eigentümer ist außerdem zur langfristigen Weiterverpachtung verpflichtet (Art. 2 EALG). Darüber hinaus sind – hier schlägt eine als „sozial“ bezeichnete Komponente der Gesamtregelung besonders durch – große Degressionsschritte vorgesehen. Der vormals wohlhabende Eigentümer erhält eine verhältnismäßig noch geringere Ausgleichsleistung als der, der einst weniger begütert war. Für alle diese Regelungselemente lassen sich im Prinzip jeweils Gründe aufführen. Aber wurden diese Elemente willkürfrei ausgestaltet? Wurden sie „fair“ i. S. v. akzeptanzfördernd zusammengesetzt? Auf wessen „Akzeptanz“-Vorstellung kommt es an, und wie soll sie im demokratischen Rechtsstaat ggfs. politisch umgesetzt werden? Die Ausgleichsleistung für die Konfiskationsopfer dürfte de lege lata dereinst im Ergebnis jeweils nicht mehr als ein bis drei Prozent des Verkehrswertes betragen – sieht so eine „gerechtigkeitsorientierte“ Regelung aus? Berücksichtigt sie die objektive Schutzdimension des Verfassungsinstituts „Privateigentum“, oder droht hier ein eigentumspolitischer Dammbruch? Ist aus Gleichheitsperspektive die Wertschere in Hinblick auf die vollständige Rückgabe des vor 1945 und nach 1949 Enteigneten nicht zu weit gespreizt? Der Schweriner Ministerpräsident Berndt Seite warnt demgegenüber: Zweifel an der Bestandskraft der Bodenreform „erleichtern nicht die wachsende Identifikation mit der neuen staatlichen Ordnung“.43 Rechtsvergleichung wie Rechtsgeschichte zeigen, dass andere Lösungen denkbar sind und in ihrem Kontext die Integration auch tatsächlich förderten. Neben der Teilrestitution der Güter gemäß dem französischen Beispiel (1814/1816) wäre etwa zu denken an die Wiederzuordnung auch und 42 Die Europäische Kommission wird demnächst möglicherweise ein Hauptprüfungsverfahren nach Art. 93 EG-Vertrag einleiten und das Flächenerwerbsprogramm vorerst stoppen. 43 FAZ v. 16. 4. 1997 („Es gibt nicht für jeden Gerechtigkeit“).

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gerade der (Familien-)Häuser zu den Personen bzw. deren Rechtsnachfolgern, denen sie vor der Bodenreform gehört hatten.44 Nach der Wende wurde freilich ein ganz anderer Kurs eingeschlagen. Für die früheren Berechtigten sind ihre Güter nun offenbar endgültig verloren.45 Die politischen Kosten dieser Versteinerung der Bodenreform werden allmählich deutlich. Die Kreation „sozialistischer Latifundien“, die Vernichtung eines bäuerlich-gutsherrlichen Mittelstandes, war eine „Sünde wider den Geist des alten Deutschlands, im Grunde des alten Europas“.46 Trägt das zur „Vollendung der inneren Einheit“,47 einschließlich der kulturellen Integration, bei? Ist das das Ergebnis unseres Restitutionsvergleiches? 48 44

Frühere Eigentümer werden von der Treuhand Liegenschaftsgesellschaft regelmäßig erst dann angesprochen, wenn sich eine „Vermarktung“ auf anderem Wege als nicht möglich oder als zu mühsam erwiesen hat. Dies ist zunehmend der Fall, erfolgt aber mittlerweile wohl überwiegend soz. „post mortem“: Nicht wenige Schlösser sind seit der Wende massiv verfallen. Die erforderlichen Investitionen dürften regelmäßig das Vermögen der Betroffenen übersteigen. Ökonomisch wenig Sinn macht der Rückkauf allein der Herrenhäuser, also ohne die ursprünglich dazugehörenden Flächen, aus deren Bewirtschaftung einst die Unterhaltung und Pflege der Gebäude bezahlt wurden. Wie soll der frühere Eigentümer die Denkmalschutzauflagen erfüllen, selbst wenn er sein Schloss für einen symbolischen Preis zurückkaufen kann? Das systematische Zerschlagen (häufig erst nach 1990) der einstigen Wirtschaftseinheit Schloss/Landwirtschaft erweist sich als verhängnisvoll. Hier rächt sich u. a. die nach 1989 z. T. künstlich reanimierte AntiJunker-Ideologie. 45 Soweit nicht ein Rückkauf erfolgt, vgl. die Nachweise in Feldmeyer, K., „Schwierige Heimkehr. Neusiedler auf altem Boden“, 1997. Die hier beschriebenen Rückwanderer sind nur eine kleine Gruppe innerhalb der ostdeutschen Landwirtschaft. Insofern kann von ihnen weder eine (adels-) restaurative noch eine integrations- und kulturpolitische Wirkung ausgehen. – Die Rückkehrer konnten bisher lediglich sechs Prozent der Treuhand-Flächen pachten. 46 Siedler (Anm. 8), der ergänzt: „Im Nachhinein dämmert den Nachgeborenen, dass die einstigen Gutsbetriebe eigentlich mittelständischer Natur waren, vor allem, wenn man sie mit den heutigen GmbHs vergleicht, die gestern noch LPGs hießen.“ 47 Vgl. Hettlage, R. / Lenz, K. (Hrsg.): „Deutschland nach der Wende“, 1995. 48 Ein weiteres Problem ist die (faktische Nicht-)Reaktion der Bundesregierung und der Vermögensämter auf die Tausende von Rehabilitierungsbescheinigungen zuständiger russischer Stellen, mit denen diese wenigstens die Ehre von Enteigneten durch Annulierung von Unrechtsurteilen wiederherstellen. Vgl. BT-Drs. 13/ 7343 vom April 1997: Es bleibe im Einzelfall zu prüfen, schränkt die Bundesregierung ein, ob, erstens, ein Zusammenhang bestehe zwischen der aufgehobenen rechtsstaatswidrigen Entscheidung und der seinerzeitigen Vermögensentziehung, und ob, zweitens, einer Restitution Ausschlussgründe nach dem VermG entge-

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V. Aus der Geschichte und dem Restitutionsvergleich lernen? In Zeiten des Umbruchs „wird das Recht nicht durch Gerechtigkeit in der Gesellschaft verwurzelt, auch nicht durch Klagen über Ungerechtigkeit, sondern durch Takt, Höflichkeit und Distanz“.49 Wer wollte das bestreiten? Wer könnte die Aporien der skizzierten Restitutionskomplexe beiderseits des Rheins übersehen? Aber hilft bei der Radizierung von Gerechtigkeit in der Gesellschaft und bei der Sicherung des „Bestmöglichen“ im komplexen Alteigentümer-Staat-Neueigentümer-Verhältnis nicht auch das Studium historischer und ausländischer Präzedenzfälle? Empfiehlt sich für uns im Jahre 1997 angesichts mancher Kalamitäten der skizzierten Bodenreform-Petrifizierung50 nicht ein fragender Blick auf die andere Rheinseite, auf die insgesamt gelungene Restitutions- und Entschädigungsregelung zwischen 1814 und 1825? Der Jubilar, dem diese Betrachtung gewidmet ist, wird sich hierüber bereits seine eigenen Gedanken gemacht haben. Wie lautet seine Antwort? genstünden. Jener ursächliche, der Restitution also förderliche Zusammenhang läge etwa vor, wenn eine Kreisbodenkommission die Konfiskation unter Bezugnahme auf ein sowjetisches Strafurteil ausgesprochen habe. – Ein solch ausdrücklicher Konnex dürfte der extreme Ausnahmefall sein. Mittlerweile ist die offene Flanke „russische Restitutionsbescheide“, wohl nicht gegen den Willen der Bundesregierung, „geschlossen“ worden: Es werden praktisch keine Bescheide mehr ausgestellt. 49 Roellecke, G., „Stabilisierung des Rechtes in Zeiten des Umbruchs“, ARSP 1997, Beiheft 71, S. 68 ff. (S. 82). „In Zeiten des Umbruchs lässt sich Individualgerechtigkeit nicht begründen“, ebd., S. 77. Ähnlich auch Seite (Anm. 43). Heitmann (Anm. 20), S. 1396, Fn. 38 vertritt mit R. Motsch die Auffassung, „dass sich eine Entschädigungslösung umso mehr anbietet, je länger die Umgestaltung der Vermögensverhältnisse zurückliegt.“ – Das französische Beispiel belegt das Gegenteil. Es illustriert die rechtspolitischen Vorzüge einer (modifizierten, eben: Neueigentum respektierenden) Restitutionslösung, obwohl damals zwischen Vermögensentzug und Rückgabe ein Vierteljahrhundert lag. Die integrationshinderliche Komplexität nimmt zu, wenn auf Restitution verzichtet und eine Entschädigungslösung gewählt wird. 50 Nicht nur im Vermögensbereich bestehen noch immer Regelungs- und Vollzugsdefizite. Viele Mängel (etwa im Bereich der öffentlichen Finanzen) waren bei der Schnelligkeit des Wiedervereinigungsprogramms wohl unvermeidbar. Andere wurden, quälend langsam, partiell behoben (vgl. etwa das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz). Ist nicht auch eine Korrektur im Bodenreformbereich, ein „Ruck“, der die Dinge endlich voranbringt, überfällig?

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Noch ist bei uns eine vergleichbare Teilrestitution möglich, und auch an eine Nachbesserung der dürftigen Regelung der Ausgleichsleistungen ist zu denken. Lehrt nicht das französische Beispiel, dass solches integrationsund eigentumspolitisch auch geboten ist? Oder lässt sich aus Geschichte und Rechtsvergleichung nichts lernen?

L’État de droit dans la pensée politique de la Résistance allemande* Monsieur le Président, Monsieur le Consul général, chers collègues, Mesdames, Messieurs, Je vais vous parler de la Résistance allemande sous le IIIe Reich. Veuillez m’excuser de revenir sur cette période douloureuse, mais je considère comme un devoir de porter témoignage sur un aspect mal connu de notre histoire. Comme je n’oublie pas ma spécialité, je me bornerai à parler de l’État de droit dans la pensée politique de la Résistance allemande. I. Trois semaines avant l’agression allemande contre l’Union soviétique, il y a 56 ans, deux ordres furent communiqués au groupe d’armées Centre. Le premier stipulait que, lors de la guerre de conquête qui allait s’engager, il fallait réduire les actions de justice militaire et que les soldats de la Wehrmacht qui commettraient des crimes contre la population civile russe ne seraient pas automatiquement déférés au conseil de guerre ; cela revenait pratiquement à livrer la population russe à l’arbitraire. Le deuxième ordre concernait les commissaires politiques de l’Armée rouge : tout commissaire qui tomberait aux mains de l’armée allemande serait passé par les armes. Ces deux ordres furent transmis, à Poznan, au Baron von Gersdorff, officier d’état-major du groupe d’armées Centre. Dans les Mémoires de ce dernier (Berlin, 1977) on lit ceci :

* Aus: Liber amicorum G. Jaenicke, hrsg. von V. Götz/P. Selmer/R. Wolfrum, Berlin u. a. 1998, S. 1013 – 1038; dass. in: Bulletin de l’Académie des Sciences, Agriculture, Arts & Belles-Lettres d’Aix, Aix-en-Provence 1999, S. 41 – 63 (Vortrag am 25. 11. 1997).

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L’État de droit J’ai aussitôt pris conscience du caractère monstrueux de ces deux ordres. C’était la première fois que l’armée allemande recevait l’ordre de commettre des crimes.

Avec le colonel von Tresckow, qui allait devenir la figure de proue de la Résistance allemande, Gersdorff se rendit sur-le-champ auprès du maréchal von Bock, commandant en chef du groupe d’armées et cousin de Tresckow. Les deux jeunes officiers voulaient inciter le maréchal à se rendre à Berlin et à protester énergiquement auprès du « Führer ». En chemin, ils traversèrent un petit jardin public. Tout à coup Tresckow s’arrêta et dit : Gersdorff, si nous ne réussissons pas à convaincre le maréchal qu’il doit se rendre immédiatement auprès de Hitler et qu’il doit faire révoquer ces ordres, le peuple allemand sera chargé d’une culpabilité que le monde n’oubliera jamais. Cette culpabilité ne concerne pas seulement Hitler, Himmler, Göring et consorts, mais également vous et moi, votre femme et ma femme, vos enfants et mes enfants, la vieille femme qui, là-bas, entre dans le magasin, l’homme qui, ici, passe sur sa bicyclette, et le petit enfant qui joue là-bas avec son ballon.

Hélas, le maréchal von Bock, ainsi que le haut état-major, s’inclinèrent finalement devant ces deux ordres contraires aux lois de la guerre. Gersdorff commenta cet échec en ces termes : Cela violait l’honneur de l’armée allemande et la rendait complice de ces crimes. Cela signifiait un renforcement de prestige pour Hitler. Désormais il savait qu’il pouvait pratiquement tout se permettre avec les officiers supérieurs de l’armée.

La Résistance allemande (Widerstand), pas plus que les tentatives d’attentat de Tresckow, de Gersdorff et autres, ou le coup d’État manqué du colonel von Stauffenberg le 20 Juillet 1944, ne purent ni stopper ni endiguer la barbarie totale. Ces deux ordres, tout comme les meurtres commis par les groupes d’action spéciaux SS et les Einsatzgruppen, unités spéciales de la police opérant derrière les lignes allemandes, mettaient en évidence le caractère criminel de cette guerre d’anéantissement menée contre la Russie. Trop nombreux étaient les Allemands qui se firent complices de ces crimes, même si la majeure partie de la Wehrmacht et du peuple allemand n’était pas impliquée dans ces actes meurtriers. Sur le fond de cet épisode, qui se situe à la veille de l’attaque de l’Union soviétique par l’Allemagne hitlérienne, j’aimerais faire part de deux observations : la première est que la Résistance au nazisme

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répondait avant tout à une conception et à une tradition spécifiquement allemandes de l’État de droit ; la seconde est que, pour la plupart des conjurés, c’étaient la nation, l’unité de leur patrie, l’honneur du peuple allemand qui importaient avant tout. Ce que les résistants voulaient servir, c’était l’Allemagne et non Hitler, croyant que l’on pouvait et devait distinguer entre les deux. Les résistants voulaient mettre fin aux horreurs nazies, pour la défense du droit, pour l’honneur de l’Allemagne et, comme nous le verrons, pour la protection de l’humanité. II. Premier point : qu’en fut-il du rétablissement de l’État de droit ? Certes, les racines de la démocratie et surtout du parlementarisme ne sont pas très profondes chez nous. Elles ont été longtemps fragiles, elles ont besoin d’être renforcées. Et pourtant l’Allemagne est depuis longtemps un État de droit. Voltaire et Rousseau louaient et enviaient déjà le niveau de légalité de notre pays au XVIIIe. L’État de droit était la fierté de toute l’Allemagne, en Prusse, en Saxe ou au Wurtemberg. Et puis, en 1933, avec la prise de pouvoir de l’Hitler, la chute qui conduisit à l’abandon total de la grande tradition de l’État de droit ! Comment expliquer l’absence, pendant des années, de protestations et de révoltes importantes contre le despotisme qui se dévoila dès le début ? Je ne peux citer toutes les théories qui tentent d’expliquer cette chute dans la barbarie, depuis celle de Theodor W. Adorno en 1950 jusqu’à celle de David J. Goldhagen en 1996, le dernier à avoir essayé de comprendre et de résoudre cette sombre énigme de l’histoire allemande. En tant que juriste, je ne suis pas qualifié pour juger ces explications d’ordre historique, sociologique et psychologique. Ce qui intéresse le professeur de droit que je suis, c’est que ni le droit ni les juristes n’ont su assurer leur fonction de contrôle et maintenir l’État de droit. On a d’abord essayé, comme le fit en 1947 Gustav Radbruch, ancien ministre de la Justice sous la république de Weimar et spécialiste de philosophie du droit, d’expliquer cette chute dans la barbarie par l’influence du positivisme. L’idée directrice de cette méthode juridique est, si l’on simplifie : la loi est la loi, quel que soit son contenu, l’ordre est l’ordre, Befehl ist Befehl. Le positivisme des spécialistes de droit constitutionnel se limitait, à l’époque, à la légalité formelle des lois et ne tenait

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compte ni de leur légitimité matérielle ni de leur conformité au droit. Dans l’optique positiviste, tout acte de résistance était illégal, même s’il était conforme à la morale. Au début du XIXe siècle, la bourgeoisie allemande commença à ressentir un grand désir non seulement d’unité nationale, mais surtout aussi de libertés politiques, désir qui déclencha la Révolution de 1848/49. L’échec de cette révolution balaya tous les rêves et paralysa pour longtemps les Allemands. En effet, pendant la deuxième moitié du XIXe siècle, l’esprit de résistance s’était quelque peu émoussé dans la société allemande. Et les principes du droit naturel et des droits de l’Homme ne jouaient plus un très grand rôle ni dans la pensée des juristes, ni dans les conflits politiques. Face à l’État, les Allemands, pour lesquels l’unité du pays prévalait sur la démocratie, se sentaient avant tout obligés d’obéir. Rappelons le roman de Heinrich Mann Der Untertan, le Sujet, interdit en 1914 pour ses critiques à l’égard de l’autoritarisme prussien. Après la mort du vieux maréchal von Hindenburg, en août 1934, les membres de la Reichswehr prêtèrent serment à la personne du Führer und Reichskanzler, chef suprême des armées. C’est sur ce serment d’allégeance, qui les liait personnellement à leur chef, que beaucoup d’officiers fondaient leur fidélité à la personne de Hitler. Il leur paraissait impossible de concilier leur honneur d’officier et une quelconque opposition à leur chef. Le maréchal von Kluge, chef du front de l’ouest depuis juillet 1944, est un exemple de cette attitude. Invoquant son serment d’allégeance, Kluge refusa d’aider les conjurés du 20 juillet. Les opportunistes pouvaient se réfugier derrière leur serment. Stauffenberg et ses amis, par contre, considéraient l’attentat comme un acte de légitime défense et comme un devoir. Aujourd’hui on sait, surtout grâce aux recherches entreprises dans les années 60 par Bernd Rüthers, professeur de droit civil, que l’explication par le positivisme ne touche pas au cœur de notre problème. Au contraire, c’est plutôt un manque d’attitude positiviste qui fut l’une des causes de l’écroulement de l’État de droit. Le positivisme exige l’obéissance aux qualité formelles du droit : à la règle nullum crimen sine lege, c’est-à-dire à la fameuse interdiction des lois rétroactives, à la règle selon laquelle les pouvoirs exécutif et judiciaire sont soumis à la loi, et à la règle de l’indépendance des magistrats. Nous savons tous que ces règles n’étaient nullement observées sous le régime nazi. Un tel mépris pour les

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qualités formelles du droit est caractéristique de tous les systèmes totalitaires. Le positivisme, avons-nous dit, exige le respect des règles, mais de quelles règles ? Des règles imposées par les lois, par exemple par le Code civil, ou de celles imposées par les ordres du Führer (Führerbefehl), comme, par exemple, l’ordre concernant les commissaires de l’Armée rouge (Kommissarsbefehl), l’ordre que j’ai évoqué au début de mon exposé ? Nous touchans là au problème du « double État » pour reprendre une expression de Ernst Fraenkel, politologue allemand en exil dans les années 40 : en effet, le IIIe Reich était à la fois un État de droit, comme l’était la « République allemande » de 1919 et, dans de nombreux domaines d’une importance décisive, un régime totalitaire dans lequel les directives et les ordres de Hitler tenaient lieu de loi. Le Führer incarnait l’État national-socialiste. Il possédait des pouvoirs illimités et devint de plus en plus l’unique source du droit et de la loi. Seuls les membres de la soi-disant « communauté nationale allemande » étaient égaux devant la loi. Par contre, les opposants politiques et les personnes dites « de race non aryenne » étaient soumis à une législation spéciale, fortement discriminatrice. De nombreux juristes allemands prirent une position anti-positiviste en essayant d’harmoniser la nouvelle idéologie nazie, la « volonté du Führer » – pour reprendre l’expression officielle –, avec les principes de l’État de droit traditionnel. Les juristes qui agissaient comme serviteurs de la justice au service de l’injustice, n’étaient donc point trop positivistes; au contraire ils étaient trop peu positivistes. La méthode juridique, que ce soit le positivisme ou l’antipositivisme, ne jouait qu’un rôle subalterne. Elle n’explique pas les raisons de la chute dans la barbarie en 1933/34, ni pourquoi un régime, qui était la négation du droit, pouvait se servir d’hommes censés incarner le droit. Ainsi d’éminents juristes se sont mis au service de Hitler et ont consacré leur talent juridique à justifier l’injustifiable. Les raisons de cette chute dans la barbarie sont à chercher ailleurs. Comme de nombreux Allemands, la majorité des juristes était influencée par les idées antiparlementaires, antidémocratiques et antisémites, qui étaient alors largement répandues non seulement en Allemagne mais dans presque toute l’Europe continentale. Tout le monde était pour l’État de droit, bien sûr, mais une grande partie de la société allemande n’avait, par

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exemple, jamais reconnu la légitimité de la république de Weimar. Cette « république sans républicains » vivait d’ailleurs sous la constante menace d’une guerre civile. La restructuration de l’appareil judiciaire fut l’une des premières mesures prises par les nazis : les hommes de loi juifs, les sociauxdémocrates et leurs amis furent écartés. Pourtant ces mesures discriminatoires ne suscitèrent pas de protestations ouvertes. Le droit pénal devint un moyen d’oppression politique. Les mouchards étaient partout et le moindre mouvement d’opposition pouvait avoir des conséquences mortelles pour les opposants et leurs familles. Les premières victimes des camps de concentration furent des Allemands. Un tel effondrement de l’État de droit explique la priorité donnée par les résistants au rétablissement de la légalité. Pour illustrer cette priorité, je cite le Projet de la déclaration du gouvernement Ludwig Beck / Carl Friedrich Goerdeler, rédigé en été 1944. J’ai apporté ce texte avec moi et vous le trouverez à l’issue de cette communication. Beck, qui était ancien général d’armée, devait devenir chef d’État après la réussite du coup d’État. Goerdeler, ancien bourgmestre de Leipzig, chef des cercles de l’opposition civile, dévait devenir chancelier. Voici donc le début de ce texte-clé qui ne fut évidemment pas publié à l’époque, et qui est en quelque sorte la charte de la Résistance allemande : « Notre tâche première réside dans le rétablissement de l’absolue primauté du droit (vollkommene Majestät des Rechts). Il incombe au gouvernement lui-même d’éviter tout acte arbitraire et donc de se soumettre au contrôle régulier exercé par le peuple … Aucune communauté d’être humains ne peut exister en l’absence du droit ; personne, pas même celui qui croit pouvoir le mépriser, ne peut s’en passer. »

Aux yeux des conjurés, ce « rétablissement de l’absolue primauté du droit » devait entrainer de nombreuses conséquences. Je cite quelques exemples, en m’appuyant sur la dite déclaration : - retour « à l’ancien statut d’indépendance des magistrats » ; - épuration du droit ; - garantie de « la sécurité de l’individu et de la propriété » ; - suppression des camps de concentration ; - rétablissement de « la liberté intellectuelle, de la liberté de conscience, de la liberté religieuse et de la liberté d’opinion » ;

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- possibilité pour les Églises de « retrouver le droit d’exercer librement leur religion » ; - retour à la liberté de la presse. Pour tous les opposants, le rétablissement des garanties individuelles était la première priorité. Tous avaient en commun la volonté de mettre un terme à l’arbitraire de l’État. C’est pourquoi ils pensaient qu’après la fin de la dictature, les nazis qui avaient « souillé la loi » devraient répondre de leurs actes dans des procès en bonne et due forme. « Les coupables », lit-on dans la déclaration Beck-Goerdeler, seraient « soumis à une procédure de droit commun. » En donnant la priorité au « rétablissement de l’absolue primauté du droit » plutôt qu’au rétablissement de la démocratie parlementaire type république de Weimar, les conjurés s’inscrivaient dans une tradition républicaine spécifiquement allemande qui remonte en particulier à Kant. Dans son « Projet de paix perpétuelle » (Zum ewigen Frieden), publié en 1795, ce philosophe, qui n’était pas un jacobin, a mis tout spécialement l’accent sur l’opposition despotisme – républicanisme. La lutte contre le despotisme était, pour lui, primordiale. Le républicanisme, c’est-à-dire l’État de droit, avant tout la séparation des pouvoirs est, pour citer Kant, « la seule forme de gouvernement qui répond parfaitement aux droits de 1’Homme … La forme de gouvernement » – despotisme ou républicanisme, c’est-à-dire la nature du régime – « est bien plus importante pour un peuple que la forme du souverain », c’est-à-dire que la source de la souveraineté, qu’elle soit l’autocratie, l’aristocratie ou la démocratie. Bien sûr, les résistants étaient, pour reprendre une phrase de la déclaration Beck-Goerdeler, pour un « contrôle régulier exercé par le peuple » sur le gouvernement ; pourtant la priorité n’était pas accordée à la démocratie mais à l’État de droit. III. Si rétablir l’État de droit était la première des priorités, sauver l’Allemagne, sauver la patrie était la deuxième de ces priorités, et j’en arrive à ma seconde observation. Comme la majorité des Allemands, presque tous ceux qui passèrent dans la Résistance avaient d’abord cru en Hitler. Beck, par exemple, chef

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d’État-major de l’armée de terre jusqu’en 1938 et plus tard coauteur de la déclaration gouvernementale de la Résistance, a appelé le jour de la « prise de pouvoir » par le Führer « le plus beau jour de ma vie depuis 1918 ». Certains objectifs de Hitler, en particulier la révision fondamentale de l’humiliant traité de Versailles et le réarmement de l’Allemagne, correspondaient aux vœux de la plupart des officiers allemands. Et nous savons que Hitler, dans un temps étonnamment court, a obtenu en effet la révision du traité de Versailles, a rétabli la conscription obligatoire et a remilitarisé la Rhénanie. L’Allemagne nazie signa des traités avec le Vatican, la Pologne, la Grande-Bretagne, l’Italie et le Japon. Ces derniers aboutirent au « pacte anti-Komintern » ; l’Allemagne semblait dès lors être en Europe le fer de lance de la lutte contre l’empire de Staline, situation difficile pour les résistants, bien sûr. La Résistance allemande pouvait se sentir engagée dans une tragique impasse. Nous aurons encore l’occasion d’évoquer d’autres exemples de cette insoluble contradiction. Tous les partis politiques allemands avaient, dès le début, réclamé la révision du traité de Versailles. Et lorsqu’il fut clair que le gouvernement national-socialiste visait à la destruction définitive de l’État de droit, Hitler disposait déjà des moyens décisifs qui lui permettaient d’instaurer une dictature et de faire régner la terreur. L’Allemagne était à la botte du Führer. Le parti nazi et l’État ne faisaient plus qu’un. Les opposants au parti étaient déclarés ennemis de l’État et combattus. La mise au pas de la justice, de l’administration, de la culture et de l’opinion publique eut comme conséquence la rupture avec les principes constitutionnels libéraux. En l’espace de quelques mois, la séparation des pouvoirs, la protection des minorités, l’égalité devant la loi, ainsi que les libertés individuelles furent supprimées. De nombreux communistes, socialistes, sociaux-démocrates et syndicalistes furent arrêtés et persécutés dès février 1933, donc quelques jours après la « prise de pouvoir » par Hitler, au vu et au su de tout le monde. Des ouvriers, des pasteurs et des curés, des évêques, des fonctionnaires ministériels et des professeurs furent emprisonnés, menacés ou chassés de leurs postes. Peu après, les Juifs, victimes prioritaires de la folie raciale des nazis, furent privés de leurs droits. Des personnalités totalement étrangères aux sections d’assauts (SA) furent victimes de la répression générale qui accompagna la « Nuit des longs couteaux » durant l’été 1934. Hitler avait ordonné lui-même ces assassinats et il les justifia a

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posteriori, pseudo-juridiquement soutenu par Carl Schmitt, professeur et conseiller d’État à Berlin. Certains membres de la bourgeoisie libérale et conservatrice prirent alors leurs distances par rapport aux buts et aux moyens d’une telle politique nationale-socialiste. À partir de ce moment-là, dès 1934, la Résistance gagna véritablement de l’ampleur et commença à se structurer autour de plusieurs personnalités et de plusieurs centres. Au Grand Quartier Général de la Wehrmacht, un cercle se forma autour de Hans Oster et de Hans von Dohnanyi, regroupant des collaborateurs de l’amiral Canaris, chef des services de contre-espionnage. Des fonctionnaires du ministère des Affaires étrangères se joignirent à eux. Mais tous les plans visant à l’élimination de Hitler subirent un grave revers lorsque, en septembre 1938, Hitler obtint, par les accords de Munich, que les principales personnalités politiques européennes reconnaissent ses revendications territoriales envers la Tchécoslovaquie. La Résistance allemande ne fut jamais considérée à l’étranger comme une force autonome, ni comme un partenaire de négociations sérieux. Entre l’opposition allemande et les gouvernements de Londres. Washington et Moscou régnait une incompréhension réciproque totale. Les Alliés s’étaient fixé comme objectif prioritaire – et peut-être peut-on le comprendre – la capitulation sans condition (l’unconditional surrender) de l’Allemagne, de toute l’Allemagne sans vouloir tenir compte de l’existence d’une Résistance. Les résistants allemands étaient donc absolument seuls dans leur combat contre la dictature, alors que dans les pays occupés les résistants, par exemple les maquisards français, les « hommes de la nuit » comme les appelait André Malraux, bénéficiaient du soutien des Alliés, certes, parfois bien lointain. Bien sûr, il y avait une différence essentielle : les résistants des pays occupés luttaient contre un envahisseur étranger, les résistants allemands contre un ennemi intérieur. De plus, ces derniers se trouvaient depuis 1939 dans une position spécialement tragique : pouvaient-ils encore souhaiter gagner la guerre ? Nouvel exemple de cette situation d’impasse que nous avons déjà citée, en même temps exemple de cas de conscience : pour sauver leur vraie patrie, il leur fallait, dans cette guerre mondiale – dans cette lutte à mort –, souhaiter que l’Allemagne perde la guerre. Dans quelle armée en guerre a-t-on jamais fait de tels souhaits ? Si l’on ignore la

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tragique contradiction de leur situation, il est impossible de comprendre les objectifs politiques et le drame de conscience des résistants allemands. Pour cette catégorie de résistants imprégnés de traditions libérale, nationaliste et conservatrice, la vraie patrie, celle pour laquelle ils luttaient, était une Allemagne pure, juste et intègre. « Es lebe unser heiliges Deutschland ! », « Vive notre sainte Allemagne ! », s’est écrié Stauffenberg au moment de son exécution. Cette exclamation d’un ardent patriote et d’un chrétien romantique était peut-être une allusion au mythe du Sacrum Imperium, du Saint-Empire romain germanique. Certainement, au moment de sa mort, Stauffenberg se référait, comme il l’avait fait souvent durant sa courte vie, à l’ « autre Allemagne », cet État idéal qui s’opposait radicalement au IIIe Reich : celui d’une Allemagne porteuse de la grande tradition de l’État de droit, de la liberté individuelle, inspirée par les lois de la tolérance et ouverte à toutes les croyances, liée aux valeurs fondamentales de la philosophie antique. C’était cela, « la vraie Allemagne », pour utiliser une expression de la déclaration Beck-Goerdeler. Il fallait, je cite ce texte, « laver le nom de l’Allemagne qui avait été si souvent souillé » par l’État totalitaire, par 1’Anti-Allemagne. Comme nous le voyons, le patriotisme, le souci de l’honneur de l’Allemagne, était une motivation supplémentaire qui s’ajoutait à la volonté évoquée au début de la déclaration Beck-Goerdeler : « Notre tâche première réside dans le rétablissement de l’absolue primauté du droit. »

Dans cette lutte patriotique pour une Allemagne pure, pour l’honneur du peuple allemand, il y avait en même temps une lutte pour la défense des droits de l’Homme, de chaque homme, quelles que soient sa race, sa patrie, sa croyance. C’étaient moins des principes abstraits qui inspiraient de nombreux résistants, que le désespoir de voir le nom de l’Allemagne souillé par les atrocités de l’Holocauste. Pour ces patriotes et humanistes, il était inadmissible que les Juifs soient dépouillés de leur dignité humaine, voire physiquement éliminés par l’Allemagne. Le désir de faire entendre, coûte que coûte, la voix de l’ « autre Allemagne, celle qui est meilleure », fut le motif décisif qui aboutit au coup d’État fallait « abattre Hitler comme un chien enragé » : Le complot contre Hitler doit être exécuté à tout prix. Même s’il échoue, le coup d’État doit être tenté. Il faut que la Résistance allemande, devant

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l’opinion mondiale et l’Histoire, passe à l’acte, risque le tout pour le tout. Tout le reste est sans importance.

Ce coup d’État, qui pouvait le tenter ? Le colonel Stauffenberg, né en Souabe et catholique de tradition, était, en juillet 1944, l’une des rares personnes à avoir accès à Hitler. Nous savons qu’il était, dès sa jeunesse, un admirateur du poète Stefan George, poète symboliste, disciple et traducteur de Mallarmé. Déjà au début de notre siècle, ce poète de sang rhénan et lorrain avait chanté l’autre Allemagne, « l’Allemagne secrète », « Geheimes Deutschland », pour citer le titre de l’un de ses poèmes hermétiques et incantatoires. En Stefan George, Stauffenberg admirait ses visions prophétiques, sa conception du poète-phare. Fait symptomatique, c’est une commune ferveur pour ce poète qui fut à l’origine de l’amitié entre Tresckow et Stauffenberg ; à la lecture du poème Der Widerchrist, L’Antéchrist,1 tous deux ont vibré de la même émotion en découvrant que cet Antéchrist, c’était Hitler. Le poème Der Täter, l’Exécutant, est un hymne à l’homme qui se rebelle et qui passe à l’acte. J’aimerais citer ce poème-clé, qui confirma Stauffenberg dans sa décision, si difficile à prendre. Ich lasse mich hin vorm vergessenen fenster: nun tu Die flügel wie immer mir auf und hülle hienieden Du stets mir ersehnte du segnende dämmrung mich zu Heut will ich noch ganz mich ergeben dem lindernden frieden. Denn morgen beim schrägen der strahlen ist es geschehn Was unentrinnbar in hemmenden stunden mich peinigt Dann werden verfolger als schatten hinter mir stehn Und suchen wird mich die wahllose menge die steinigt. Wer niemals am bruder den fleck für den dolchstoss bemass Wie leicht ist sein leben und wie dünn das gedachte Dem der von des schierlings betäubenden körnern nicht ass! O wüsstet ihr wie ich euch alle ein wenig verachte! 1 Le prince de la vermine étend son empire. Pas un trésor qui lui manque, pas un bonheur qui lui échappe ! Anéantissons ce qui reste de révoltés ! Vous exultez, séduits par l’apparence diabolique. Vous dilapidez ce qui persistait de l’ancienne semence, Et vous ne sentez la détresse qu’au moment de la fin. Alors vous restez la langue perdue devant l’écuelle qui se sèche ; Vous errez, désorientés comme des bêtes, à travers la ferme en flammes. Et la trompette du Jugement fait entendre des sons terribles.

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L’État de droit Denn auch ihr freunde redet morgen: so schwand Ein ganzes leben voll hoffnung und ehre hienieden … Wie wiegt mich heute so mild das entschlummernde land Wie fühl ich sanft um mich des abends frieden!

Je cite une traduction française de 1936 : FENÊTRE, rouvre-toi, douce consolatrice, Pardonne mon oubli… Voici le soir qui vient… Ô crépuscule gris, ô ciel, profond calice De paix, accordez-moi votre dernier soutien ! Car demain, j’aurai fait, quand les ombres approchent, Ce qu’un terrible Dieu m’impose incessamment… Je vois la foule qui, vile et lâche, s’accroche Au coupable pour lui cracher son jugement… Ô destin bien léger de celui dont la haine Ne médita jamais où placer le poignard… Âme sans profondeur, intelligence vaine… Je vous méprise tous un peu, penseurs blafards ! Car vous aussi, demain, direz comme les juges : ‹ Ainsi – qui l’aurait cru ! – croule l’espoir, l’honneur › … Longuement le pays s’endort, berceau, refuge… La nuit, la grande nuit, se pose sur mon cœur…

Claus von Stauffenberg, âgé de 36 ans, passa seul avec son frère aîné Berthold la soirée du 19 juillet 1944. De quoi les frères parlèrent-ils ? Certainement de l’acte que Claus devait commettre le lendemain. Le poème l’Exécutant, que je viens de lire, s’applique exactement à cette dernière veillée. Lui aussi, Claus von Stauffenberg, pouvait encore, comme l’exécutant s’abandonner au « profond calice / De paix ». Le lendemain, il pourrait, lui aussi, voir « la foule qui, vile et lâche, s’accroche ». Et ses camarades résistants eux aussi, diraient peut-être le lendemain : « Ainsi – qui l’aurait cru ! – croule l’espoir, l’honneur… ». Et quand même, comme l’exécutant dans le poème de Stefan George, Stauffenberg, l’âme et l’épée de la Résistance, a « placé le poignard ». Son poignard était, bien sûr, une bombe. Le 20 juillet 1944, Stauffenberg parvint à l’introduire au Grand quartier général du Führer, la « tanière du loup » (Wolfsschanze), un lieu particulièrement bien gardé en Prusse orientale. La bombe explosa, alors que Hitler et ses collaborateurs étaient réunis pour analyser la situation du front. Nous savons tous que l’attentat et le coup d’État, pourtant si minutieusement

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préparés, échouèrent. Dans le courant de la nuit, Stauffenberg et trois de ses camarades, reconnus comme les principaux responsables de l’attentat, furent passés par les armes. Beck, quant à lui, fut contraint au suicide. Tresckow se suicida également sur le front russe.2 Plusieurs centaines de femmes et d’hommes parmi lesquels Goerdeler furent assassinés à cause de leur implication dans l’attentat du 20 juillet. Plusieurs milliers furent tués à cause de leur implication dans la Résistance allemande. Voilà donc quels étaient les buts des résistants allemands que, un demisiècle plus tard, j’aimerais résumer : renverser les dirigeants nazis pour mettre un terme à la catastrophe qui risquait d’anéantir l’Allemagne, sauver « l’honneur du nom allemand », rétablir la souveraineté du droit, restaurer l’Allemagne des valeurs, que le régime hitlérien avait souillée, raser Buchenwald, cette fabrique de mort, symbole de la mauvaise Allemagne, et faire revivre Weimar, symbole de la bonne Allemagne, haut lieu de la culture allemande, lieu où avaient résidé Goethe et Schiller, géographiquement si proche du camp de concentration. Les résistants voulaient à la fois réinscrire l’Allemagne dans la grande tradition de l’État de droit qui était la sienne et rattacher leur patrie au mouvement moderne des droits de l’Homme. Pour le droit, pour l’Allemagne, pour l’humanité : voilà pourquoi ils voulaient abattre le régime nazi. Cette modernité et cette universalité, enracinées dans la tradition d’une « autre Allemagne », une Allemagne fidèle à la prééminence du droit, méritent que la Résistance allemande et sa pensée politique restent présentes dans nos esprits. De plus, le courage exemplaire dont firent preuve ces héros de la Résistance allemande ne représente-t-il pas un trésor précieux à conserver pour l’Allemagne et pour l’Europe ? Excusez-moi d’avoir évoqué ces souvenirs douloureux pour vous et pour nous, mais n’est-ce pas un devoir d’en porter témoignage ? Je vous remercie.

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Tresckow laissa un testament : « Je suis convaincu que nous avons bien agi… Hitler est l’ennemi juré non seulement de l’Allemagne, mais de l’univers. Dans peu d’heures, lorsque je paraîtrai devant Dieu qui me jugera…, je crois pouvoir exposer mes actes…, la conscience pure… Dieu a promis à Abraham de ne pas détruire Sodome quand bien même il n’y vivrait plus que dix justes… J’espère que Dieu, grâce à nous, n’anéantira pas l’Allemagne ».

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Annexe* Maintenant que les affaires du gouvernement du Reich nous ont été confiées, il est de notre devoir de rendre publics les principes selon lesquels nous conduirons le gouvernement et les objectifs que nous poursuivrons. 1) Notre tâche première réside dans le rétablissement de l’absolue primauté du droit. Il incombe au gouvernement lui-même d’éviter tout acte arbitraire et donc de se soumettre au contrôle régulier exercé par le peuple. Pendant la guerre, ce contrôle ne peut être organisé qu’à titre provisoire. Des hommes intègres et compétents appartenant à tous les états de la société seront provisoirement nommés, à qui nous rendrons compte de notre action et demanderons conseil. Mais nous les chargerons surtout de faire un bilan exact de l’héritage qui nous a été légué, dans tous les domaines. Chaque Allemand partagera plus ou moins avec nous la conscience du poids de cet héritage. Nous refusons de traiter de la responsabilité d’Hitler en l’accablant d’injures comme il avait l’habitude de faire avec ses ennemis. À nos yeux, il est bien plus important de faire preuve de morale et de bonne foi dans la détermination des faits dont découlera cette responsabilité. Pour autant que la guerre le permette, le rapport que rédigeront ces hommes sera rendu public immédiatement et, dans la mesure du possible, publié dans l’intégralité dès que la situation le permettra. Autrefois, nous étions fiers de l’intégrité et de la droiture de notre peuple, de la sécurité et de la qualité de la justice allemande. Notre douleur à tous doit donc être d’autant plus grande de les voir aujourd’hui pratiquement anéanties. Aucune communauté d’êtres humains ne peut exister en l’absence du droit ; personne, pas même celui qui croit pouvoir le mépriser, ne peut s’en passer. Chacun, dans sa vie, connaît des moments où il réclame le respect du droit. Dans l’ordre qu’il a conçu pour l’univers, dans la création de l’homme et dans ses * Source : Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1995. – Ludwig Beck devait devenir chef de l’État, Carl Friedrich Goerdeler chancelier du Reich après la réussite du coup d’État.

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commandements. Dieu a fait apparaître la nécessité du droit et de son application équitable et impartiale. Il nous a donné l’intelligence et la force de créer sur terre les institutions destinées à garantir ce droit. C’est un crime que de ne pas respecter cet ordre établi. Pour cela, il faut en revenir à l’ancien statut d’indépendance des magistrats qui ne pouvaient être ni mutés ni révoqués. Nous savons bien que beaucoup d’entre eux ont agi uniquement sous la pression d’une terreur extrême mais nous userons d’une rigueur inflexible pour contrôler si, par ailleurs, des juges ont commis le crime de rendre la justice contrairement à la loi et à leur conscience. Dans ce cas, ils seront écartés ; pour rétablir la confiance du peuple dans la justice, nous ferons appel à des juges non professionnels qui participeront au jugement de toutes les affaires pénales. Ceci est également valable pour les cours martiales instituées à titre provisoire. Le droit sera épuré. Ce n’est pas au magistrat qu’il appartient de définir un droit nouveau ; son devoir est d’appliquer la loi, et ce, avec une rigueur extrême. Le magistrat n’a pas à tenir compte d’une idéologie qui ignore elle-même ce qu’elle veut et qui voit son programme manipulé par ses dirigeants au point d’en devenir méconnaissable. Il est inadmissible que des êtres humains soient condamnés pour des actes dont ils ne pouvaient pas savoir qu’ils étaient punissables. Dans la mesure où l’État aura légalisé a posteriori, par exemple en promulguant une loi, l’action en réalité répréhensible de ses organes, ces exemptions seront annulées pour incompatibilité avec la nature du droit, et les responsables contraints à répondre de leurs actes. Le droit sera appliqué envers toute personne qui l’aura violé. Tous ceux qui l’auront enfreint se verront infliger la peine qu’ils ont méritée. La sécurité de l’individu et de la propriété sera de nouveau protégée contre l’arbitraire. Seul le juge a le droit d’intervenir au nom de la loi dans les droits personnels de l’individu qui garantissent l’existence de l’État et le bonheur des hommes. Les camps de concentration seront dissous, les innocents relâchés et les coupables soumis à une procédure de droit commun. Mais nous exigeons également que personne n’ait recours à la justice sommaire. En effet, si nous voulons rétablir la primauté du droit, nous devons nous employer avec toute notre énergie à lutter contre la vengeance personnelle, même si celle-ci est fort compréhensible au plan humain et s’explique par les passions qu’ont déchaînées les violations du droit et les blessures qui ont été infligées jusqu’au tréfonds de l’âme. Que celui qui a quelque chose sur le cœur porte plainte auprès de l’administration publique de son choix ! Sa plainte sera transmise au service compétent. Mais cette plainte devra être authentique. Les plaintes non conformes à la vérité seront punies, et les plaintes anonymes iront au panier. 2) Nous voulons rétablir la morale dans tous les domaines de la vie privée et de la vie publique. Dans notre peuple autrefois si pur, la corruption a été nourrie par les hauts et les plus hauts dignitaires dans une mesure jusque-là inconnue dans le

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monde entier. Tandis que nos soldats se battent au front, sont blessés, tombent ou doivent se faire amputer, des hommes comme Göring et ses semblables mènent une vie de luxe, font main basse sur des pierres précieuses, des tableaux ou autres objets de valeur, remplissent de provisions leurs caves et leurs greniers, tout en invitant le peuple à tenir bon et en se dérobant lâchement, eux et leurs comparses, aux sacrifices infligés par la guerre. Chaque criminel sera puni avec toute la rigueur de la loi et tout bien acquis de façon malhonnête sera confisqué et rendu aux personnes qui en ont été dépossédées. Les affectations spéciales (exemptions du service militaire) pour raisons politiques sont supprimées. Tout homme en âge de porter les armes peut prouver au front de quel bois il est fait et jusqu’à quel point il est prêt à tenir bon. Nous ne supporterons plus les appels à la persévérance lancés par des individus qui ne sont que forts en gueule. Pour garantir le droit et la morale, il faut traiter tous les hommes avec décence. Il sera mis un terme immédiat à la persécution des Juifs qui a été perpétrée sous les formes les plus inhumaines et les plus cruelles, des formes profondément honteuses et définitivement irréparables. Celui qui a cru pouvoir s’enrichir sur le patrimoine juif apprendra que c’est une honte pour tout Allemand que de chercher à s’approprier quelque chose par des moyens malhonnêtes. En vérité, le peuple allemand rejette catégoriquement ces maraudeurs et ces hyènes venus se mêler aux créatures de Dieu. Le nom de l’Allemagne a été gravement entaché par les crimes de toute nature commis dans les territoires occupés en retrait du front et en abusant de sa protection. L’honneur de nos soldats morts s’en trouve souillé. Quiconque a profité de cette guerre pour se remplir à l’étranger les poches ou s’est écarté, de toute autre manière, ne serait-ce que d’un millimètre des règles de l’honneur devra rendre compte de ses actes. Une peine particulièrement sévère sera infligée à ceux qui, désormais, seront surpris en train de commettre un délit quel qu’il soit contre les règles universelles du droit international ainsi que contre les lois de l’humanité. C’est au sein de la famille que l’individu apprend les premières règles de l’humanité. Refaire de la famille la cellule de base de la communauté nationale est l’une des tâches premières de l’État. Pour y parvenir, il a besoin de l’aide des parents, de la force de la religion et du concours de toutes les Églises. Seul le mariage en tant que communauté fondée sur un engagement sérieux et responsable est susceptible de garantir une vie de famille honnête et saine. Il faut lutter contre l’hypocrisie si nous voulons éviter à nos enfants de tomber dans la déchéance ; en effet, comment des parents peuvent-ils exiger de leurs enfants qu’ils se conduisent proprement alors qu’eux-mêmes ne s’imposent pas une discipline rigoureuse et ne montrent pas le meilleur exemple ? Le salut de notre peuple réside dans le retour à l’intégrité de la famille.

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Nous ne voulons pas que notre peuple soit divisé. Nous savons que bon nombre de personnes ont rejoint les rangs du Parti nazi par idéalisme, en proie à un profond sentiment d’amertume dû au diktat de Versailles et à ses conséquences, ou face à maint affront infligé à la nation allemande, et que d’autres s’y sont laissé contraindre notamment par d’énormes pressions économiques ou autres. Nous ne voulons pas que notre peuple soit classé selon ces catégories et nous espérons être tous bien d’accord que la seule distinction à faire est celle entre le crime et l’absence de scrupules, d’une part, et la morale et l’intégrité, de l’autre. C’est sur cette base que nous entendons œuvrer de toutes nos forces à la réconciliation à l’intérieur de notre peuple. En effet, nous ne pourrons sortir vainqueurs du combat fatal que Dieu nous impose que si nous restons unis, dans le droit et la morale. 3) Nous lutterons contre le mensonge dont le soleil de la vérité doit dissiper les épais nuages. Notre peuple a été dupé de la manière la plus honteuse qui soit sur sa situation économique, financière et politique ainsi que sur les événements militaires. Nous ferons le constat de la véracité des faits et nous les rendrons publics de façon à ce que chacun puisse les vérifier. C’est une grossière erreur que de croire qu’un gouvernement est autorisé à user du mensonge pour gagner le peuple à sa cause. Dans l’ordre qu’il a établi, Dieu ne connaît pas l’hypocrisie. Les mensonges proférés par les gouvernements ne mènent pas loin eux non plus et sont toujours inspirés par la lâcheté ou par la soif de puissance. Le prestige national, le bonheur du peuple et la paix de l’âme de l’individu ne s’obtiennent que par le respect de la vérité. C’est pourquoi nous ferons tout ce qui est nécessaire pour que cette honnêteté soit respectée dans l’information du peuple. Souvent, la vérité fait mal à entendre ; mais le peuple qui ne la supporte plus du tout est déjà perdu de toute façon. L’individu ne peut fournir l’effort adéquat que s’il apprécie la situation telle qu’elle est. L’alpiniste qui sous-estime l’altitude du sommet à atteindre, le nageur qui n’évalue pas correctement la distance à parcourir verra sa force épuisée avant d’arriver au but. Pour cette raison, nous supprimerons tout ce qui a trait à la propagande gratuite ; ceci s’applique aussi bien au ministère de la Propagande du Reich qu’aux unités de propagande de la Wehrmacht contraintes de s’abaisser à jouer la comédie et encouragées à n’avoir ni foi ni loi. La vie et la mort de nos soldats n’ont nul besoin de propagande ; ils sont profondément gravés dans le cœur de chaque épouse et de chaque mère allemande, dans le cœur de chaque Allemand resté au pays. 4) La liberté intellectuelle ainsi que la liberté de conscience, la liberté religieuse et la liberté d’opinion qui ont été bafouées seront rétablies. Les Églises retrouveront le droit d’exercer librement leur religion. À l’avenir, elles seront séparées de l’État car elles ne peuvent remplir leur mission qu’en étant autonomes et en se tenant à l’écart de toute activité politique. La pensée chrétienne inspirera l’État dans ses paroles et ses actes ; en effet, c’est le christianisme qui a permis l’ascension des peuples de race blanche, c’est lui qui nous a rendus capables de combattre en nous les mauvais instincts. Aucun peuple ni aucun État ne peut se

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soustraire à ce combat. Mais être un vrai chrétien signifie également faire preuve de tolérance envers les autres croyances, et même envers chaque libre penseur. L’État donnera en outre à l’Église la possibilité de pratiquer de nouveau activement la vraie religion chrétienne, notamment dans les domaines de l’action sociale et de l’éducation. La presse doit redevenir libre. En période de guerre, elle doit certes respecter les restrictions qui s’imposent à tout pays. Quiconque lit un journal doit savoir qui est responsable de sa publication. La presse ne sera plus autorisée à diffuser de mensonges, que ce soit intentionnellement ou par négligence. Les rédacteurs seront soumis à une juridiction disciplinaire professionnelle sévère et veilleront à ce que la presse respecte les principes de la décence à l’égard de chacun et le devoir de servir la patrie. 5) C’est surtout la jeunesse allemande qui réclame la sincérité. S’il était nécessaire d’apporter la preuve de la nature divine de l’homme, la voilà. Même les enfants qui possèdent la faculté naturelle de distinguer le vrai du faux se détournent, en proie à la honte et à l’indignation, des mensonges que l’idéologie et les discours ont voulu leur faire avaler. Le plus grand crime a consisté à ne pas tenir compte de ce sens de la vérité et donc de l’idéalisme de nos jeunes, et à en abuser. C’est pourquoi nous entendons désormais protéger et renforcer cet idéalisme – car la jeunesse et son éducation sont l’une de nos préoccupations essentielles. La responsabilité de l’éducation sera confiée en premier lieu aux parents. L’école doit semer chez l’enfant, avec simplicité, loyauté et assurance, les graines du savoir élémentaire. L’éducation doit redevenir la plus générale possible et englober le cœur et la raison. Nous supprimerons la spécialisation de l’éducation à un stade précoce, qui est responsable de tant de maux. En effet, comment pourrait-on en prendre la responsabilité alors que personne ne peut prévoir la façon dont se développeront en grandissant les dons et les capacités d’un enfant ? Il faut replacer résolument l’éducation sur des fondements chrétiens tout en respectant les lois chrétiennes qui prescrivent la plus grande tolérance envers les autres croyances. L’éducation et l’enseignement pourront ensuite être dispensés de nouveau sur cette base dans le calme et la continuité, à l’abri des changements et des désordres perpétuels. 6) Il convient de réorganiser l’administration. Nous ne supprimerons pas ce qui a fait ses preuves. Mais il est nécessaire de redéfinir immédiatement les responsabilités et de rétablir la liberté et l’autonomie des décisions. Notre administration, autrefois si fière, s’est transformée en un tas de machines et de rouages qui travaillent sans but utile. Plus personne n’ose prendre de décision autonome et appropriée. Nous exigerons le contraire des fonctionnaires qui devront fournir un travail correct avec un maximum de simplicité et un minimum de paperasserie.

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Le fonctionnaire doit redevenir un exemple à suivre dans l’ensemble de sa vie professionnelle et privée ; en effet, c’est à lui que le peuple a conféré le pouvoir de souveraineté sur les affaires publiques, pouvoir que seul peut exercer un homme intègre qui a acquis des compétences professionnelles, endurci son caractère et prouvé ses capacités. Nous en avons fini avec le fonctionnaire nommé uniquement sur présentation de sa carte du parti. Le fonctionnaire sera de nouveau lié et soumis uniquement à la loi et à sa conscience. Il devra se montrer conscient et digne de l’honneur que lui fait le peuple en lui permettant de vivre dans la sécurité alors que d’autres doivent lutter pour disposer du strict nécessaire. Conforté dans son prestige et dans ses droits, il devra s’adonner à la réalisation de son idéal, c’est-àdire se montrer à la hauteur de son statut particulier en se consacrant entièrement à l’accomplissement de son devoir. Afin de permettre à nouveau aux fonctionnaires de fournir un travail irréprochable et d’éviter au peuple que la puissance publique ne soit exercée par des personnes qui en sont indignes, toutes les nominations et toutes les promotions prononcées depuis le 1er janvier 1933 sont déclarées provisoires. Le cas de chaque fonctionnaire sera étudié pour savoir s’il a enfreint la loi, le droit disciplinaire ou la morale exigée de lui. Si tel est le cas, les conséquences qui s’imposent seront tirées et les personnes concernées seront punies, révoquées ou mutées. Il sera fait appel à des conseils de discipline. Les fonctionnaires nommés à titre provisoire et dont le travail ne correspond pas aux exigences de leur poste seront mutés à des postes à leur niveau ou, si cela ne s’avère pas possible, congédiés. Par ailleurs, le luxe n’a pas sa place dans les bureaux publics, le confort est réservé à la sphère privée de l’individu. Les chefs des administrations sont tenus dans ce domaine de prendre immédiatement les mesures requises. 7) Le bon fonctionnement de l’administration, la juste répartition des tâches communes et leur exécution ne sont possibles que sur la base d’une Constitution. Or, une Constitution définitive ne pourra être arrêtée avec l’approbation du peuple qu’une fois la guerre terminée. En effet, il faut donner aux soldats du front la possibilité d’y apporter leur contribution particulière. Nous devons donc actuellement nous contenter tous d’une Constitution provisoire que nous proclamons par la présente déclaration et que nous serons nous aussi tenus de respecter. La Prusse se fondra dans le Reich allemand. Les provinces prussiennes seront en partie regroupées, tout comme les autres Länder allemands, sous forme de Reichsgaue. Ces provinces du Reich, ainsi que les arrondissements (Kreise) et les communes jouiront d’une autonomie administrative et se verront confier des tâches publiques dans une mesure compatible avec l’unité du Reich allemand et avec une conduite responsable de ses destinées. La véritable autonomie administrative sera rétablie en accord avec le peuple dès que des élections seront possibles. Pour le moment, des mesures provisoires seront prises pour veiller à ce des

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hommes intègres soient affectés aux organes administratifs et consultatifs et à ce que l’administration puisse fonctionner de façon autonome. Dans toutes les provinces du Reich allemand, des gouverneurs (Reichsstatthalter), qui seront nommés sous peu, exerceront un contrôle au nom de l’État. Ces gouverneurs s’efforceront de faire preuve de la plus grande retenue vis-à-vis des organes de l’administration autonome tout en œuvrant énergiquement à l’unité de notre pays. 8) En temps de guerre, on ne peut pratiquer qu’une économie dirigée, ce qui implique la surveillance des milieux économiques. Tant qu’il y a pénurie de biens de première nécessité, nous ne pouvons pas – chacun en conviendra – pratiquer une économie plus libre à moins de vouloir, insensibles, passer aux affaires courantes sans se préoccuper des intérêts vitaux des personnes démunies. Nous savons très bien combien ce système économique est répugnant et qu’il ne sert pas, en dépit de ce que l’on prétend souvent, les véritables intérêts du plus petit consommateur. Actuellement, nous ne pouvons que simplifier ce système et la débarrasser de la confusion, du chaos des compétences et du manque de sens des responsabilités qui le caractérisent. Nous supprimerons également toutes les mesures qui ont trop empiété sur les libertés individuelles et qui, sans réfléchir et en l’absence de toute nécessité impérative, ont réduit à néant tant d’exploitations dans les secteurs du commerce, de l’artisanat, des petites et moyennes entreprises, de l’industrie et de l’agriculture. Bien que ces restrictions soient inévitables en temps de guerre, également d’ailleurs dans tous les autres pays belligérants, il reste vrai que nous poursuivons sans équivoque l’objectif du rétablissement de l’entière liberté économique et de l’accès aux marchés mondiaux. Cet accès ne doit pas être entravé par des interventions de l’État qui étouffent tout engagement et tout génie créateur. La liberté économique ne doit être freinée que par le droit, par une concurrence loyale et par les principes de la morale. Eu égard à la pauvreté de notre pays en matières premières et au fait que nous ne pouvons pas nous nourrir uniquement à partir des ressources de notre sol, vivre en autarcie signifie renoncer lâchement à la possibilité de participer, par le biais de l’échange, au commerce des produits et des services du monde entier. Un ordre économique équitable vise à ce que chacun reçoive la part de biens économiques qui lui revient en fonction du travail qu’il fournit. Il ne s’agit pas uniquement d’instaurer la libre initiative du capitaliste à relever le défi de la concurrence. Non, l’ouvrier allemand doit avoir lui aussi la possibilité – et il l’aura – de prendre part aux responsabilités en déployant ses capacités d’innovation. Seulement, nous ne pouvons pas non plus le soustraire aux lois naturelles qui régissent l’économie. La propriété est la base de tout progrès économique et culturel ; sinon, l’homme se voit réduit progressivement à l’état sauvage. C’est pourquoi la

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propriété sera protégée, pas seulement celle des gros propriétaires mais aussi des plus petits propriétaires qui ne possèdent pour toute richesse que les biens de leur ménage. Nous lutterons contre l’abus de propriété, de même que contre l’accumulation de capitaux qui est superflue et qui ne fait que rendre les hommes encore plus dépendants. L’activité économique sera organisée selon les principes de l’autonomie administrative. La tutelle qui était exercée d’en haut jusqu’à présent sera supprimée. Il faut que l’autonomie en matière de décision et, par-là, la prise de responsabilités aient de nouveau un effet bienfaisant ; il s’agit de rétablir au mieux la confiance de tous, aussi celle des ouvriers, dans la justice de l’ordre économique. Là aussi, nous ferons appel à des conseils de discipline qui veilleront au respect de la morale. 9) C’est ainsi que nous définirons l’esprit de la politique de notre gouvernement qui sera axée sur la conciliation équitable des intérêts, la politique sociale. Son objectif sera de protéger les faibles, victimes du destin, et de leur donner la possibilité de se prémunir solidairement contre les aléas de la vie. Elle interviendra là où le souci de préserver l’épargne (en capital) s’oppose au souci de garantir la capacité de travail de ceux qui vivent actuellement. De tels conflits d’intérêt peuvent surgir en période de fortes tensions politiques et économiques. On serait très imprudent de les résoudre en réduisant tout simplement à néant le capital, c’est-a-dire l’épargne. Ceci ne serait pas pour convenir aux petits épargnants tout comme ce serait aller à l’encontre des intérêts du peuple tout entier que de priver par exemple du jour au lendemain toutes les exploitations agricoles et industrielles de leurs machines. D’un autre côté, tous ces biens en capital n’ont plus aucune valeur s’ils ne peuvent plus servir à garantir l’existence de la population. Nous devons donc faire preuve de sens des responsabilités et d’une grande rigueur pour trouver un juste équilibre dans lequel chacun sache dès le départ qu’il devra faire des sacrifices au même titre que les autres. Si l’engagement et le sens des responsabilités des différents secteurs professionnels et économiques ne suffisent pas à créer un tel équilibre, l’ensemble de la population active devra intervenir et c’est à l’État qu’il incombera en dernière éventualité de garantir un juste équilibre en répartissant le fardeau sur les épaules du peuple tout entier. Les organismes sociaux qui servent les intérêts des ouvriers jouiront d’une entière autonomie de gestion. Mais chacun d’entre nous doit savoir que les moyens de l’État ne sont pas inépuisables. Lui aussi il ne vit que du travail de ses citoyens et des prestations qu’ils lui versent. Il ne peut donc pas distribuer à chacun davantage que le produit du travail de ses citoyens. Pour cette raison, nous refusons catégoriquement de faire des promesses de prospérité économique. Chacun de nous sait bien que celui qui a gaspillé ses économies doit redoubler d’efforts pour retrouver le niveau de vie auquel il était habitué. Il en est ainsi au sein d’une famille, d’une association et également de l’État. Toutes les autres conceptions sont dénuées de sens. Les

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promesses gratuites qui prétendent que l’État est capable de résoudre tous les problèmes témoignent d’une démagogie sans scrupules. L’État, c’est vous avec les forces qui vous animent. Les organes de l’État et nous-mêmes ne sommes que les gérants de vos affaires. Chacun doit activer ses forces. Il est bien évident qu’après les ravages effroyables qu’a faits cette guerre, nous devons tous accomplir un travail énorme pour remplacer ce qui a disparu : vêtements, logements, lieux de production ou équipements domestiques. Et enfin, nous voulons redonner à nos enfants la possibilité de connaître une vie meilleure. Nous sommes convaincus de pouvoir y arriver, à condition que le droit, la morale et la liberté reprennent leur place. 10) Le bon ordre des budgets publics est la base essentielle de toute économie saine. Les dépenses doivent rester dans la limite des recettes effectivement versées par les citoyens à l’État, aux provinces, aux arrondissements et aux communes. Efforts, force de caractère, abnégation et esprit combatif s’imposent pour rétablir cet ordre qui est la base essentielle et indispensable d’une monnaie sûre et de toute activité économique. De cet ordre dépend la valeur de l’épargne. Sans lui, les échanges commerciaux dont nous sommes tributaires depuis plus d’un siècle sont également paralysés. Les impôts seront considérables, une raison de plus pour nous de veiller avec une rigueur extrême à ce qu’ils soient employés avec parcimonie. Il est plus important de laisser au citoyen ce dont il a besoin pour vivre que de voir les administrations se doter d’établissements prestigieux et engager des dépenses incompatibles avec la simplicité du mode de vie de chacun. Cette prise de conscience, nous l’exigeons également des milieux économiques qui doivent se rendre compte à nouveau que la propension d’une administration à dépenser de l’argent ne sert que la prospérité de certains ou leur besoin de se mettre en valeur et que les conséquences, en revanche, doivent en être supportées par tous par une augmentation des prix ou par les ouvriers par une baisse des salaires. La suppression des dépenses énormes du parti marquera déjà une amélioration de la situation. Depuis 1933, le gaspillage continu et sans scrupules des moyens financiers et l’augmentation des dettes ont privé les budgets publics de leur équilibre. Il était commode de faire croire au peuple que le gaspillage avait permis d’augmenter le niveau de vie général. En réalité, cette pratique était déplorable puisqu’elle consistait à faire des dettes sans aucune retenue. C’est pourquoi, précisément en période de guerre où chaque État est contraint de faire des dépenses énormes, nous appliquerons dans tous les services publics la plus grande simplicité et la plus grande rigueur financière. Nous ne pourrons cependant nous mettre au travail et parvenir à une conciliation équitable des intérêts qu’une fois la guerre terminée. À nos yeux, l’endettement grandissant de tous les pays belligérants et des pays neutres constitue un danger des plus graves. En effet, l’endettement menace les monnaies. Au lendemain de cette guerre, chaque État devra faire face à une tâche extrêmement difficile. Nous espérons pouvoir trouver des solutions permettant de

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rembourser les dettes si nous réussissons à rétablir une coopération confiante entre les peuples. 11) Mais la guerre n’est pas encore terminée. Dans cette situation, nous devons tous dédier notre travail, nos sacrifices et notre amour aux hommes qui défendent la patrie. Nous devons les faire bénéficier de toutes les valeurs morales et matérielles que nous sommes capables de créer. Nous leur sommes solidaires mais chacun sait désormais que seuls seront exigés les sacrifices nécessaires pour défendre la patrie et le bien du peuple, et non pas ceux destinés à satisfaire la soif de conquête et de prestige d’un fou ; chacun sait aussi que nous mènerons cette guerre proprement, dans le respect de la morale et avec tout l’honneur qui caractérise un soldat loyal. Nous nous devons de prêter assistance à toutes les victimes que cette guerre a faites jusqu’à maintenant. Elles ne veulent pas être dorlotées mais escomptent qu’on leur témoigne de l’amour et qu’on leur donne la possibilité de faire de leur vie encore quelque chose d’utile. Préoccupés par la situation qui règne sur le front, nous devons faire le nécessaire avec le maximum de clarté et de simplicité. Nous voulons mettre fin aux tiraillements engendrés par des ordres contraires donnés avec emphase et impossibles à exécuter, des ordres qui exigent de l’industrie qu’elle produise des quantités inimaginables aujourd’hui de blindés, demain d’avions et après-demain d’autres armes et matériels. Nous n’exigeons que ce qui est nécessaire et utile. Contrairement à la tyrannie despotique pratiqué jusqu’à maintenant, nous attendons de chaque personne appelée à exécuter des ordres qu’elle dénonce ellemême en temps utile les erreurs commises et les divergences d’opinions. 12) Ayant mis en garde contre cette guerre qui a déversé tant de souffrances sur l’humanité tout entière, nous pouvons parler en toute franchise. Nous sommes d’avis, et nous l’avons toujours été, qu’il y avait d’autres possibilités de garantir nos intérêts vitaux. Si la dignité nationale exige de nous actuellement que nous renoncions à formuler des plaintes amères, nous n’en veillerons pas moins à ce que toute la lumière soit faite sur les responsabilités et à ce que des comptes soient demandés aux responsables, pour autant qu’il s’agisse d’Allemands. Aussi nécessaire que soit cette tâche, il est encore plus important que nous poursuivions l’objectif de la paix. Il est évident que nous ne sommes pas maîtres de décider de la paix et de la guerre et que nous dépendons des autres. Nous le savons certes, mais il serait indigne de notre part de nous en plaindre. Nous devons persévérer et ne pas nous étonner qu’on nous rende la monnaie de notre pièce. En tout cas, nous voulons enfin faire entendre la voix de la vraie Allemagne. Le Chancelier fera connaître à la radio nos conceptions sur la paix. Le monde se trouve confronté à l’une des décisions les plus graves que les peuples et leurs dirigeants aient jamais été amenés à prendre en toute conscience. Nous en sommes intimement convaincus. C’est Dieu lui-même qui nous demande si nous voulons ou non respecter l’ordre de justice qu’il a lui-même défini ainsi que ses commandements qui nous amènent à respecter la liberté et la dignité de l’homme

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et à nous aider les uns les autres. Nous savons que cet ordre et ces commandements ont été enfreints d’une manière terrible depuis que les peuples se sont égarés du chemin béni de la paix en 1914. Aujourd’hui, il nous faut savoir si nous voulons mettre à profit les expériences amères que nous avons été contraints de faire et si nous voulons nous consacrer ensemble à la réconciliation, à la conciliation équitable des intérêts et à la réparation des dommages terribles qui ont été causés. En ce moment présent, nous proclamons que notre tâche première consiste à laver le nom de l’Allemagne qui a été si souvent souillé. Nous nous y attacherons avec bravoure et patience. Nous seuls, Allemands, sommes en effet en mesure de nous acquitter de cette tâche et en avons le devoir. Indépendamment de l’aspect matériel, notre avenir dépendra en premier lieu de notre faculté à remplir cette mission avec une grande persévérance, avec gravité et avec honnêteté. Dieu n’est pas là pour être invoqué à chaque occasion facile comme la Providence ; au contraire, il exige de nous que nous respections l’ordre qu’il a établi et ses commandements, et il y veille. Cela a été une erreur fatale, liée au funeste diktat de Versailles – et entretemps nourrie par certains Allemands d’une manière irresponsable que de croire pouvoir construire notre avenir sur le malheur d’autres peuples, sur l’oppression et sur le mépris de la dignité humaine. Nous avons lutté contre cette erreur et nous regrettons d’avoir dû attendre si longtemps pour pouvoir la dénoncer publiquement. Nous voulons tous éviter de blesser d’autres peuples dans leur honneur. Ce que nous revendiquons pour nous, nous devons nous voulons le concéder à tous les autres. Nous pensons qu’il est dans l’intérêt de tous les peuples que la paix soit durable. Or, ceci ne sera possible que s’il s’agit d’une paix juste qui ouvre une large voie à la collaboration des bras, des têtes et des cœurs. On ne peut forcer la confiance des hommes, ni par les actes, ni par les paroles. Mais, quoi qu’il arrive, nous haïssons cette façon d’agonir lâchement l’adversaire d’injures. Nous sommes convaincus que tous les gouvernants ne veulent pas seulement le bien de leur peuple, mais qu’ils veulent également mettre un terme utile à cette lutte et qu’ils sont prêts avec nous à soulager rapidement les injustices inhumaines engendrées par cette guerre totale et irréfléchie, qui se répercutent finalement sur tous les peuples. (Devait être inséré à cet endroit un passage écrit en fonction de la situation.) C’est dans cet esprit et animés de la confiance en la force morale de notre peuple que nous accomplirons, sans nous laisser déconcerter et sans nuire à notre peuple, les pas qui nous mèneront à la paix. Nous savons que tel est le désir du peuple allemand. Reprenons le chemin du droit, de la morale et du respect mutuel ! Ces principes nous guideront tous dans l’accomplissement de notre devoir. Observons scrupuleusement, dans toutes nos paroles et nos actes, les commandements que Dieu a inscrits dans notre conscience, même si cela nous paraît parfois difficile, et faisons tout pour panser les cœurs blessés et atténuer la souffrance. Alors seulement, nous pourrons créer les bases d’un avenir sûr pour notre peuple au sein d’une communauté internationale remplie à nouveau de confiance, d’une saine

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ardeur au travail et de sentiments de paix. Nous devons nous employer à cette tâche avec toute l’énergie et toute la sainte gravité possibles ; c’est une dette que nous avons envers nos soldats tombés, ces soldats dont le patriotisme et le sens du sacrifice ont été violés de manière impardonnable. Combien d’entre eux, conscients de ce mensonge, ont dû néanmoins accomplir leur devoir dans la plus profonde détresse morale et combien de beaux destins ont été ainsi détruits de par le monde ! Que Dieu nous donne l’intelligence et la force de tirer les leçons de ces horribles sacrifices pour le bien des générations à venir !

Exterritoriale Grundrechtsgeltung Zu Bedingungen nachrichtendienstlicher Auslandsaufklärung* Wegen des Territorialitätsprinzips bildet das Staatsgebiet die räumliche Grundlage der staatlichen Herrschaftsentfaltung über die sich dort aufhaltenden Menschen sowie den Kernbereich der Geltung der Grundrechte.1 Als „Personeneinheit auf territorialer Grundlage“ hat der Staat zwar ein Gebiet und ist er ein Gebiet (Georg Jellinek); aber was bedeutet dieser Gebietsbezug für die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes (BND)? Für die Auslandsaufklärung, auf die dieser Dienst beschränkt ist (§ 1 Abs. 2 BNDG), besagt die enge Verbindung zwischen den Elementen „Gebiet“ und „Volk“ wenig. Bei der Überwachung von Auslandsvorgängen bewegt sich der BND außerhalb des Zentrums der staatlichen Herrschaftsentfaltung und der korrespondierenden Grundrechtsbindung. Freilich operiert der in diesem Sinne exzentrische Dienst nicht im rechtsfreien Raum. Er übt vielmehr, als Teil der vollziehenden Gewalt, auch extraterritorial deutsche, an Gesetz und Recht gebundene Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 3 GG) aus. Der Wirkungsbereich deutscher Staatsgewalt deckt sich mit dem Geltungsbereich der Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG).2 Inwieweit der BND bei seiner Auslandsaufklärung in Grundrechte eingreifen darf – das ist unser Thema. Es ist, wie die Notwendigkeit von Nachrichtendiensten überhaupt, ein von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit wenig geliebtes Sujet. Für dieses gerne verdrängte Thema gilt geradezu, was Voltaire über den Tod gesagt hat: Er wisse davon, glaube * Aus: A. Fischer-Lescano / H.-P. Gasser / Th. Marauhn / N. Ronzitti (Hrsg.), Frieden in Freiheit. Festschrift für Michael Bothe, Baden-Baden 2008, S. 1213 – 1228. 1 Isensee, in: HStR V, 1992, § 115 Rn. 83. Vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 1229; Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 404; Badura, FS Leisner, 1999, S. 403/409. 2 Vgl. Yousif, Die extraterritoriale Geltung der Grundrechte bei der Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland, 2007, S. 74 ff.

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aber nicht daran. Nichts anderes gilt vom Kriegsrecht und vom humanitären Völkerrecht, also von nicht weniger existentiellen Gebieten des Völkerrechts. Ihnen widmet sich der Jubilar3 als einer der wenigen weltweit anerkannten, wirkungsstarken Experten seit Jahrzehnten in rechtsdogmatischer, rechtspolitischer und politikberatender Hinsicht. Nachfolgende Skizze zielt auf sein Interesse. I. Die grenzüberschreitende Geltung der Grundrechte ist nicht unumstritten. Die einschlägige, restriktive Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eher ein Abarbeiten von Fällen denn ein Argumentieren im Horizont eines Systems. Auch in seiner Entscheidung zum G 10 i. d. F. des Verbrechensbekämpfungsgesetzes von 19944 hielt sich das Gericht zurück. Zwar heißt es im Leitsatz, der räumliche Geltungsbereich des Fernmeldegesetzes sei nicht auf das Inland beschränkt; begründet wird dies letztlich jedoch mit dem Bezug zum deutschen Staatsgebiet. Der Gebietskontakt entstehe durch Erfassung und Auswertung der Daten im Inland. Ob ein derartiger Anknüpfungspunkt entbehrlich oder zwingend notwendig ist, lässt das Urteil offen.5 Art. 1 Abs. 3 GG enthalte „keine abschließende Festlegung der räumlichen Geltungsreichweite der Grundrechte“; vielmehr müsse die Verfassung jeweils mit dem Völkerrecht abgestimmt werden. „Dabei können je nach den einschlägigen Verfassungsnormen Modifikationen und Differenzierungen zulässig oder geboten sein.“6 Ähnlich, also eher fallbezogen differenzierend als dogmatisch systematisierend, äußerte sich das Gericht schon im Spanier-Beschluss: „Eine uneingeschränkte Durchsetzung in ganz oder überwiegend auslandsbezogenen Sachverhalten (würde) den Sinn des Grundrechtsschutzes verfehlen.“7 Die Bindungswirkung von Art. 1 Abs. 3 GG endet nicht an den deutschen Staatsgrenzen.8 Schon die diplomatischen und konsularischen Ver3 Vgl. nur Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, S. 637 ff. n.w.N. 4 BVerfGE 100, 313. 5 Vgl. Arndt, NJW 2000, 47/48 f.; Huber, NVwZ 2000, 393/394 f. 6 BVerfGE 100, 313/363. 7 BVerfGE 31, 58/77. 8 Vgl. Kronke, in: Coester-Waltjen / Kronke / Kokott, Die Wirkkraft der Grundrechte bei Fällen mit Auslandsbezug, 1997, S. 40 f.

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tretungen der Bundesrepublik Deutschland sind offensichtlich grundrechtsgebunden. Da ihr jeweiliges Gelände völkerrechtlich nicht zum deutschen Staatsgebiet gehört,9 lässt sich diese Bindung nur mit einer extraterritorialen Geltung begründen. Auch im Übrigen wäre eine introvertierte Sichtweise, die die Anwendbarkeit des Grundgesetzes auf grenzüberschreitende Sachverhalte schematisch ausschlösse, diesem fremd. Art. 16a GG etwa zeigt, dass problematische Zustände im Ausland der deutschen Rechtsordnung nicht gleichgültig sind. Deutschlands internationale Verflechtung hat im Übrigen mehrfach Niederschlag im Grundgesetz gefunden. Die Art. 23, Art. 26 GG sowie der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit stehen für eine Ordnung, die sich europäischen und internationalen Einwirkungen weit geöffnet hat, die aber auch ihrerseits grenzübergreifend wirken will. Die meisten Autoren machen die Anwendung der Grundrechte auf Sachverhalte mit Auslandsbezug von einer hinreichenden Anknüpfung (genuine link) abhängig.10 Teilweise wird ein territorialer (über das Staatsgebiet) oder ein personeller (via Staatsangehörigkeit) Bezug gefordert, teilweise werden darüber hinaus Schutz- oder Wirkungsprinzipien oder gar – obwohl das eines besonderen Kompetenztitels bedürfte – das Weltrechtsprinzip herangezogen.11 Erstere Auffassung schließt eine Anwendung der Grundrechte auf Ausländer im Ausland prinzipiell aus; nur wo ein Kontakt zum deutschen Staatsgebiet besteht, könnten die Grundrechte Wirkung entfalten.12 Dieses Schema würde die extraterritoriale Geltung der Grundrechte weitgehend auf die deutschen Staatsangehörigen reduzieren. Der BND hätte aus dieser Sicht bezüglich diverser Aktionstechniken nahezu carte blanche. Dies wird niemand ernsthaft vertreten wollen. Ein Auslandsnachrichtendienst ohne umfassende, auch die Ausländer und Staatenlosen einbeziehende Grundrechtsbindung würde die Legitimität des ei9 Die gegenteilige Auffassung hat sich, obwohl auf Grotius zurückgehend, nicht durchgesetzt. 10 Etwa Heintzen, DVBl. 1988, 621; Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994; Schröder, FS Schlochauer, 1981, S. 137; Wolter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; Koch (Hrsg.), Terrorismus, 2002. 11 So etwa Badura, in: HGrR II, 2006, S. 1061/1062. 12 Isensee (Fn. 1), Rn. 85. Für Art. 14 GG etwa sieht er einen solchen Gebietskontakt bzw. sinnvollen Anknüpfungspunkt durch ein Grundstück, ein Bankkonto oder eine Sozialversicherungsanwartschaft vermittelt bzw. gegeben.

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genen Staates aushöhlen, auch international. In Frage gestellt sähe sich zudem das Prinzip umfassender gerichtlicher Kontrolle der Exekutive (Art. 1 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Schon nach dem Willen des historischen Verfassungsgebers sollte es grundrechtsfreie Räume nicht geben.13 Manche Autoren verknüpfen das Problem der Auslandsgeltung der Grundrechte mit der völkerrechtlichen Zulässigkeit der extraterritorialen Maßnahmen. Dahinter steht der Gedanke, dass hoheitliche Maßnahmen eines Staates auf dem Gebiet eines anderen Staates (oder auch nur ein entsprechender extraterritorialer Geltungsanspruch des Rechts eines Staates) potentiell mit der Souveränität bzw. der Gebiets- und Personalhoheit des anderen Staates in Konflikt geraten.14 Während das Bundesverfassungsgericht insofern nur von der Notwendigkeit eines Abstimmens spricht,15 sehen Isensee und Heintzen in der Völkerrechtsmäßigkeit gleichsam die äußerste Grenze der möglichen Reichweite der Grundrechte.16 Für eine solche Begrenzung findet sich freilich kein Anhalt. Zwar öffnen Art. 25 GG und der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit die nationale Rechtsordnung pointiert der internationalen; sie ordnen jene aber keineswegs dieser i.S.e. völkerrechtlichen Primats unter.17 Die Achtung fremder Rechtsordnungen und Rechtsanschauungen, vom Bundesverfassungsgericht zu Recht gefordert,18 verlangt nicht den Ausschluss einer extraterritorialen Grundrechtsgeltung. Für das Völkerrecht ist die konkurrierende Anwendbarkeit verschiedener Rechtsordnungen auf denselben Sachverhalt vielmehr eine vertraute Konstellation. Aufgrund der staatlichen Souveränität kann der territorial radizierte Gesetzgeber seinen Normen extraterritoriale Geltung beimessen. Die Realisierung dieser Befugnis ist ihrerseits zwar durch die fremde Gebiets- und Personalhoheit bzw. Souveränität begrenzt; prinzipiell ist die Ausübung von Hoheitsgewalt auf fremdem 13 Werner, Die Grundrechtsbindung der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen, 2006, S. 71. 14 Hailbronner, in: Graf Vitzthum (Fn. 3), 3. Abschnitt, Rn. 121 ff. 15 BVerfGE 100, 313/362. 16 Isensee (Fn. 1), Rn. 79; Heintzen, Auswärtige Beziehungen privater Verbände, 1988, S. 112. 17 Aus diesem Grund argumentiert Hofmann mit einer bloßen „Selbstbeschränkung“ des deutschen Verfassungsrechts, abgeleitet u. a. aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, vgl. Hofmann (Fn. 10), S. 69 f. 18 BVerfGE 108, 238/247 f.

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Staatsgebiet ja unzulässig. „Das schließt jedoch die grenzüberschreitende Geltung von Rechtssätzen für Ausländer nicht aus.“19 Auch völkerrechtswidriges grenzüberschreitendes staatliches Handeln ist grundrechtsgebunden (Art. 1 Abs. 3 GG).20 Nicht das Völkerrecht bestimmt die Geltungsreichweite der Grundrechte, sondern die Verfassung. Nachrichtendienstliche Aufklärung ist prinzipiell eine verfassungsrechtlich erlaubte Tätigkeit. Sie ist dies selbst dann, wenn sie sich final und ausschließlich auf Vorgänge außerhalb des Staatsgebiets bezieht. Die BNDAbhör-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt das. Danach regelt Art. 73 Nr. 1 GG („Auswärtige Angelegenheiten“) nur die Zuständigkeit zur gesamtstaatlichen Regelung der Erfassung, Verwertung und Weitergabe von Telekommunikationsdaten durch den BND. Dem Dienst Befugnisse einzuräumen, die auf die Verhinderung und Verfolgung von Straftaten als solche gerichtet sind, ist von dieser Zuständigkeit nicht gedeckt.21 Die Dinge sind freilich kompliziert. Die Entscheidung benötigt für ihre Klärung nicht weniger als 90 Seiten. Schon das (damals freilich innovative) Volkszählungsurteil von 198322 kam auf 71 Seiten. Spionage wird vom Völkerrecht nicht verboten.23 Etwas anderes kann für Modalitäten der Spionage gelten, etwa wenn sie unter Missbrauch diplomatischer Privilegien erfolgt.24 Das wirft erneut die Frage auf, ob Auslandsspionage per se – zumindest in Friedenszeiten – wirklich nicht gegen das Interventionsverbot verstößt.25 Die schon verneinte Frage braucht bereits aus praktischen Gründen nicht vertieft zu werden. Nachrichtendienstliche Tätigkeit erfordert bei Anwendung moderner Kommunika19

Quaritsch (Fn. 42), Rn. 72. Elbing, Zur Anwendbarkeit der Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezug, 1992, S. 202 f.; Yousif (Fn. 2), S. 82 ff. 21 E 100, 313/368 ff. 22 E 65, 1. 23 Unumstritten ist dies freilich nicht, vgl. Frowein / Wolfrum / Gunnar, Völkerrechtliche Fragen der Strafbarkeit von Spionen aus der ehemaligen DDR, 1995, S. 8. Demgegenüber BGH, Beschl. v. 30. 1. 1991, NJW 1991, 929/930: „Die Spionage stellt sich … als kein völkerrechtliches Unrecht dar, sie ist im Krieg und Frieden eine völkerrechtlich ,legale Handlung‘.“ 24 Rausch, Espionage, in: Bernhardt (Hrsg.), EPIL, Vol. II (1995), S. 116. 25 Ein vergleichbares Problem wird für die völkerrechtliche Zulässigkeit grenzübergreifender Online-Durchsuchungen diskutiert, vgl. Volz, Extraterritoriale Terrorismusbekämpfung, 2007. 20

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tionstechniken nicht mehr notwendigerweise die Anwesenheit staatlicher Organwalter auf fremdem Territorium. Die Stationierung eines Aufklärungssatelliten im Weltraum etwa verletzt nicht die fremde Souveränität oder Gebietshoheit; ob dies auch für die gezielte Ausforschung fremden Staatsgebiets durch Spionagesatelliten gilt, mag zweifelhaft sein.26 Staaten betrachten ihre Auslandsaufklärung als ein legales Mittel, um Erkenntnisse für die politische Lagebeurteilung und Entscheidungsfindung zu erlangen. Für den aufklärenden Staat sind Spionagehandlungen eine erlaubte Tätigkeit,27 „ohne dass er an dieser Bewertung durch allgemeine, international anerkannte Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit oder der Menschenrechte gehindert wird“.28 Der „ausspionierte“ Staat kann seinerseits zum Schutz wichtiger öffentlicher Belange Vorschriften gegen gefährdendes Verhalten erlassen, auch bezogen auf ein solches außerhalb seines Staatsgebiets. „Hier sind die Staaten in der Verhängung von Sanktionen frei.“29 Hinsichtlich der nachrichtendienstlichen Telekommunikationsüberwachung liegen die Dinge meistens ohnehin einfacher. Ein im Völkerrecht begründetes Verbot, den außerhalb des eigenen Staatsgebiets stattfindenden Funkverkehr abzuhören, besteht nicht. Zwar läuft die den BND interessierende Kommunikation überwiegend im Ausland ab; seine strategische Fernmeldeaufklärung erfolgt freilich im Wesentlichen mit Hilfe von auf deutschem Boden installierten Einrichtungen. So lässt sich bereits bezweifeln, ob deutsche Hoheitsgewalt insofern überhaupt extraterritorial ausgeübt wird. Jedenfalls besteht bei dieser Konstellation ein zweifelsfreier Bezug zum deutschen Staatsgebiet. Im Kern geht es daher, wie gesagt, weniger um die Frage, ob die Grundrechte im Ausland gelten – auch extraterritorial ist die deutsche Staatsgewalt absolut und umfassend30 an die Grundrechte gebunden –, als darum, inwieweit die deutsche Staatsgewalt 26

Vgl. Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Fn. 3), 5. Abschnitt, Rn. 77. Kunig, in: Graf Vitzthum, 2. Abschnitt, Rn. 150. 28 BVerfGE 92, 277/328 f. – DDR-Spione. 29 Herdegen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2006, S. 190; BGH, a.a.O., S. 930: „Dem einzelnen Staat ist völkerrechtlich nicht untersagt, die Spionagetätigkeit durch nationale Regelungen mit Strafe zu bewehren.“ 30 Deutsche Sicherheitsbehörden dürfen deshalb auch durch andere geschaffene grundrechtswidrige Situationen nicht ausnutzen, also z. B. nicht einen ohne Gerichtsverhandlung in einem ausländischen Foltergefängnis Inhaftierten verhören. 27

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dort ihre Grundrechtsbindung i.S.e. geringeren Schutzintensität modifizieren kann. Hat die Bindung bei Auslandssachverhalten also dieselbe Intensität wie bei Inlandssachverhalten? 31 II. Die Gewährleistung von Grundrechtsschutz kompensiert das Unterworfensein unter die Staatsgewalt (status passivus). Grundrechte sind in erster Linie Freiheitsrechte, Abwehrrechte im status negativus, negative Kompetenzbestimmungen. Verschaffen sich deutsche Nachrichtendienste gezielt außerhalb des deutschen Staatsgebiets „Kenntnis vom Inhalt des über Fernmeldeanlagen abgewickelten mündlichen oder schriftlichen Informations- und Gedankenaustauschs“32, ist dies mehr als eine nur faktische Nebenwirkung inländischen Staatshandelns: Es ist eine finale auslandsbezogene Hoheitsmaßnahme, ihrer Wirkung nach ein Eingriff in Freiheitsbereiche. Ein solcher verlangt nach kompensierendem Schutz, bei Jedermann-Grundrechten auch nach Schutz für die Nicht-Deutschen, und dies, nicht anders als bezüglich der Deutschen, selbst im Ausland. In der Ordnung des Grundgesetzes ist die deutsche Staatsgewalt überall dort an die Grundrechte gebunden, wo sie tätig ist oder Wirkungen zeitigt.33 Art. 1 Abs. 3 GG differenziert nicht nach In- oder Ausland.34 Nirgends können sich deutsche Behörden von der Pflicht, die Grundrechte zu beachten, dispensieren.35 Die räumliche Reichweite von Art. 10 GG etwa ist nicht auf das Inland beschränkt, die personelle nicht auf Deutsche (Art. 116 GG). Auch der nicht-deutsche Kommunikationsteilnehmer im Ausland (oder im staatsfreien Raum, z. B. auf Hoher See oder im Weltraum) kann sich, soweit Überwachungsziel deutscher Dienste, zur Eingriffsabwehr auf Art. 10 GG berufen.36 31 Vgl. dazu BVerfGE 31, 58/77 – Spanier-Beschluss; Hofmann, a.a.O., S. 30 ff.; Röben, S. 386 ff. 32 BVerfGE 100, 313/358. 33 Jarass / Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl. 2007, Art. 1 Rn. 43 ( Jarass). 34 OLG Düsseldorf, MDR 1994, 90/91. 35 Tomuschat, IPRax 1996, 83; Elbing (Fn. 20); Yousif (Fn. 2). 36 Vgl. Müller-Terpitz, Jura 2000, 296/302. Offen gelassen in BVerfGE 100, 313/364 und von dem erwähnten – gewichtigen – Teil der Literatur, der stets eine konkrete Inlandsanknüpfung verlangt.

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Grundrechte sind Rechte des Individuums. Sie verpflichten den Staat, verlangen ihm Rechtfertigung ab. Weitestgehend dem Staat vorausliegend sind sie legitimierende Bedingung für seine Entstehung, seine Existenz und sein Handeln, und zugleich sind sie limitierende Bedingung für seine Gewaltausübung. In der deutschen geschichtlichen Entwicklung wurden die Grundrechte primär als Rechte verstanden, die dem Individuum nicht schon als Menschen, sondern erst als Glied des Staates zukommen, die also von diesem „gewährt“ werden. Auch in dieser – überholten – Sichtweise sind die Grundrechte subjektive Rechte. Das Schema der Selbstbindung verpflichtet die Staatsgewalt auf die Grundrechte: Eingriffe in Freiheit und Eigentum bedürfen – eine der Errungenschaften der Staatsrechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts – zu ihrer Rechtfertigung des Gesetzes. Vorstaatlich ist an den Grundrechten, die aus jener traditionellen Perspektive positivierte überpositive Rechte sind, dass ihr Gebrauch gegenüber dem Staat, selbst bei diesem veralteten Ansatz, keiner Legitimierung bedarf. Der Staat hingegen muss seine Beschränkung der Grundrechte rechtfertigen.37 Dieses Schema ist bekanntlich in Art. 2 Abs. 1 GG verankert: Eingriffe in die Grundrechtssphäre bedürfen einer formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtsgrundlage.38 Diese Grundlage muss sich in einem parlamentsverabschiedeten Gesetz finden, wenn sich dieses Gebot aus dem speziellen Gesetzesvorbehalt ergibt oder der Eingriff „wesentlich“39 ist. Ersteres ist etwa bei Art. 10 Abs. 2 GG der Fall. Eingriffe müssen hier also durch ein Parlamentsgesetz legitimiert sein, unabhängig davon, wer wo wie warum am Fernmeldeverkehr beteiligt ist. Auch die entsprechende Überwachung von Ausländern im Ausland ist nur aufgrund Gesetzes zulässig (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG – ein schlichter, nicht qualifizierter Gesetzesvorbehalt). Eine gezielte BND-Erfassung von Anschlüssen von Deutschen im Ausland ist ausgeschlossen; für die gezielte Erfassung von 37 Anders als die nordamerikanische oder die französische Entwicklung wurde in Deutschland lange Zeit hindurch zwar die Verwaltung an die Grundrechte gebunden (Vorbehalt des Gesetzes), nicht aber auch die Gesetzgebung, Das Erste Amendment der US-Verfassung lautet demgegenüber schon seit mehr als zwei Jahrhunderten: „Congress shall make no law …“. Erst das Grundgesetz, Art. 1 Abs. 2 und Abs. 3, macht die Grundrechte zur Grundlage für die Ausübung aller Staatsgewalt und zu ihrem Maßstab, erstreckt also den Rechtfertigungsbedarf bei Grundrechtseingriff ausdrücklich auch auf die Erste und die Dritte Gewalt. 38 BVerfGE 6, 32 – Elfes. 39 BVerfGE 33, 1 – Strafvollzug; ebd., 125 – Facharzt.

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Anschlüssen von Ausländern im Ausland gilt das nicht (§ 5 Abs. 2 Satz 3 G 10).40 Der Gesetzgeber verwendet hier offensichtlich unterschiedliche Grundrechtsstandards. Verfassungsrechtlich begründen lässt sich dies für ausländische juristische Personen, die wegen Art. 19 Abs. 3 GG nicht den Schutz des Art. 10 GG genießen. Soweit hingegen ausländische Individuen überwacht werden, ist dies verfassungsrechtlich bedenklich.41 Für Leistungs-, Förderungs- und Schutzansprüche, ebenfalls abgeleitet aus den Grundrechten (etwa i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), gilt das dann nicht in gleichem Maße, wenn es um Nicht-Deutsche im Ausland geht. Das Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums gemäß Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG etwa kommt gewiss nicht nur Deutschen zugute, handelt es sich doch um ein Menschen-, nicht um ein (bloßes) Bürgerrecht. „Gleichwohl steht einem Ausländer dieser grundrechtliche Jedermann-Anspruch nur auf deutschem Staatsgebiet zu, nicht einem hungernden Inder gegenüber der deutschen Botschaft in Neu-Delhi.“42 Das folgt aus der grundsätzlichen Unzuständigkeit Deutschlands für Ausländer im Ausland – freilich ohne dass der Begründung eines entsprechenden Leistungsanspruchs ein völker-43 oder verfassungsrechtliches Hindernis entgegenstünde. Faktisch folgt die Leistungsverweigerung gegenüber dem hilfesuchenden Inder – heute würde Quaritsch sein Beispiel, da Südindien prosperierende IT-Hochburg geworden ist, wohl eher mit einem verdurstenden Bewohner der sudanesischen Provinz Darfur bilden – „aus der Unmöglichkeit, allen hungernden Menschen dieser Welt helfen zu können oder mit einem individuellen Rechtsanspruch helfen zu wollen“.44 Im Ergebnis schrumpft der Grundrechtsschutz in seiner leistungsrechtlichen Dimension im Ausland damit zu einem Deutschengrundrecht. Greift die deutsche Hoheitsgewalt demgegenüber in die Freiheitssphäre des Ausländers im Ausland ein, kommt, wie gesagt, das entsprechende – 40 Die gleichlautende Vorgängervorschrift in § 3 Abs. 2 G 10 a.F. wurde vom BVerfG nicht geprüft. Die einschlägige Verfassungsbeschwerde eines im Ausland ansässigen uruguayischen Staatsbürgers wurde aufgrund unzureichender Darlegung der Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung verworfen, BVerfGE 100, 313/ 357. 41 Vgl. Arndt, NJW 2000, 47/49; Möstl, DVBl. 1999, 1394/1397. 42 Quaritsch, in: HStR V, 1992, § 120 Rn. 76. 43 Zweifelnd Yousif (Fn. 2), S. 88. 44 Quaritsch (Fn. 42), Rn. 77.

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eingriffsabwehrende – Jedermann-Grundrecht zum Zuge: „Tritt die Bundesrepublik dem Ausländer im Ausland so gegenüber wie im Inland, nämlich als Staat und Hoheitsträger, ist zwischen ihr und dem betroffenen Ausländer eine sachlich-persönliche Beziehung entstanden, die rechtfertigt, dem Ausländer dieselbe grundrechtliche Rechtsstellung einzuräumen, die er in der Bundesrepublik gegenüber dem eingreifenden Staat hätte.“45 Am Beispiel der nachrichtendienstlichen Überwachung des Telekommunikationsverkehrs lässt sich diese ubiquitäre und umfassende abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte – im Unterschied zu jener personellen und damit auch sachlichen Reduktion ihrer leistungsrechtlichen Dimension – erläutern. Ziel der Überwachung ist es, über bestimmte, Deutschland womöglich drohende schwere Gefahren Kenntnisse zu erlangen. Für den BND geht es dabei nur um die Gefahrenlagen, die ihren Herd im Ausland haben. Aufgabe dieses Dienstes ist es ja, die Bundesregierung bei der Wahrnehmung ihrer Staatsleitungsaufgabe durch die Information über außen- und sicherheitspolitisch bedeutsame Auslandsvorgänge zu unterstützen.46 Vom BND final überwachte Nicht-Deutsche im Ausland sind insoweit, wie gesagt, der deutschen Staatsgewalt unterworfen. Der für die Eingriffsabwehr relevante „status negativus wird ihnen aufgenötigt“; die grundrechtliehe Konsequenz – selbst im Ausland sind abgehörte Ausländer Träger der Jedermann-Freiheitsrechte – ist, wie erörtert, unabhängig von der völkerrechtlichen Qualifizierung der Aktion. „Die Grundrechtsbindung tritt ein, gleich, ob die Hoheitsmaßnahme sich auf eine Ermächtigung des Gebietsstaates stützt oder ob sie eigenmächtig erfolgt und seine Gebietshoheit verletzt.“47 Soweit die Aufklärungsarbeit in erster Linie auf Tätigkeiten ausländischer Unternehmen zielt, können sich diese – im Unterschied zu natürlichen Personen – nicht auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 3 GG) berufen. Ausländische juristische Personen genießen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG nicht den Schutz der Grundrechte des Grundgesetzes.48 Das Gleiche gilt für ausländische Hoheitsträger. 45

Quaritsch (Fn. 42), Rn. 81. An der Regierung im materiellen Sinne sind freilich auch andere oberste Staatsorgane beteiligt, besonders der Deutsche Bundestag. Auch dies rechtfertigt die starken parlamentarischen Kontrollbefugnisse gegenüber den Diensten. 47 Isensee (Fn. 1), Rn. 90. 48 Auf die Justizgrundrechte, Art. 101 ff. GG, können auch sie sich indes berufen. 46

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Mit der Bindungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG ist die deutsche staatliche Gewalt gemeint. Akte ausländischer Staatsgewalt sind nicht am Grundgesetz zu messen.49 Sie dürfen von der deutschen Staatsgewalt freilich nicht um- und durchgesetzt werden, wenn dies unseren ordre public verletzen würde. Die deutsche Staatsgewalt ist auch nicht verpflichtet, grundrechtsbeeinträchtigende ausländische Akte gegenüber Deutschen zu kompensieren. Art. 14 GG z. B. verlangt nicht, die Konfiskationen durch die sowjetische Besatzungsmacht rückgängig zu machen oder zu entschädigen.50 Außenpolitische Belange Deutschlands können zu einer Einschränkung der Schutzintensität der Grundrechte führen.51 Bei Sachverhalten mit Auslandsbezug ist das Bundesverfassungsgericht generell bereit, eine Minderung des Grundrechtsstandards in Kauf zu nehmen, wenn anders die Grundrechte noch weniger verwirklicht würden. Man mag insofern von einer Distanz- bzw. Nähetheorie sprechen, von einem „näher am“ oder „ferner vom“ Grundgesetz. Bei Schiffen unter deutscher Flagge etwa, die mit ausländischer Mannschaft fahren, durfte der deutsche Gesetzgeber den Grundrechtsstandard (Art. 9 Abs. 3 GG) reduzieren; andernfalls hätten die deutschen Reeder, angesichts des scharfen Windes der internationalen Konkurrenz, ihre Schiffe „ausgeflaggt“, d. h., im konkreten Fall, mit noch stärker reduziertem Grundrechtsschutz fahren lassen.52 Ein Flaggenwechsel hätte zu einer Lage „weiter entfernt vom“ Grundgesetz geführt. Dies war deshalb von Verfassung wegen zu vermei49

BVerfGE 1, 10/11; 58, 1/26 f.; 66, 39/57; Jarass / Pieroth (Hrsg.), Art. 1 Rn. 43 ( Jarass). – Der ausländische Staat ist freilich, neben seinem eigenen Recht, an das Völkerrecht gebunden, etwa an die Internationalen Menschenrechtspakte von 1966 oder, soweit er sich in Europa befindet, an die EMRK von 1950. Dabei ist allerdings wiederum umstritten, ob und ggf. inwieweit sich diese Bindung auch auf extraterritoriale Maßnahmen bezieht, vgl. Volz, a.a.O. 50 BVerfGE 102, 254/297 – Bodenreform. Soweit es seinerzeit freilich um die radikale Verfolgung der „Feudalklasse“, gar um die „Liquidierung“ der „Junker“ als solcher ging, um einen offensichtlichen Verstoß gegen ius cogens-Normen also, ist die Hinnahme dieser Rechtsbrüche (durch BVerwG, BVerfG, ja auch EGMR) unzulässig: sie ist „näher am“ Unrecht als am Recht. – Zum „Kompensationsargument“ allgemein, also zur Rücknahme des Geltungsanspruchs der deutschen Grundrechte im Fall des Schutzes durch ein anderes Rechtssystem, Elbing, (Fn. 20), S. 287 ff. 51 BVerfGE 72, 66 – Flughafen Salzburg. 52 BVerfGE 92, 26/42 – Zweitregister; Erbguth, JuS 1996, 18 ff. Zur „Annäherungstheorie“ bereits Lerche, DÖV 1971, 721 ff.

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den: „Das Schlechte darf dem Besseren nicht weichen, weil das Beste … nicht erreichbar ist.“53 Hinsichtlich der Auslandsaufklärung greift diese ratio, Einbußen im Grundrechtsschutz hinzunehmen, wenn dies zur Wahrung eines Mindeststandards unumgänglich ist, nicht. Anders als ein Bremer Reeder kann der Berliner BND – mochte dieser seine Mobilität auch insofern beweisen, als er von Pullach nach Berlin umzog – nicht die Flagge wechseln. Der Dienst verkörpert stets und überall deutsche Staatsgewalt. Bei Auslandssachverhalten darf die staatliche Gewalt zwar „die zwischenstaatlichen Beziehungen und […] die Rahmenbedingungen internationaler Märkte“ berücksichtigen; sie bleibt aber verpflichtet, den Grundrechten „größtmögliche Anwendung“ zu sichern.54 Dies leuchtet auch aus praktischen Gründen ein. Durch die Geheimhaltung entzieht sich die BND-Tätigkeit weitestgehend der Regelungsfähigkeit fremder Staatsgewalt, so dass primär eine Regelung durch deutsches Recht in Frage kommt. Die Auslandsaufklärung ist eine Belastung für die auswärtigen Beziehungen, nicht die Erstreckung der Geltungsreichweite der (Abwehr-) Grundrechte auf diese Tätigkeit.55 Die Grundrechtsbindung des Dienstes bestätigt und schützt hier im Ergebnis die Souveränität der betroffenen Staaten, zumindest mittelbar.56 Die Möglichkeit der Berufung auf die Jedermann-Grundrechte des Grundgesetzes verschafft dem Nicht-Deutschen kein Recht auf Einreise und Aufenthalt.57 Dieses Recht hat nur derjenige, der sich auf Art. 16a GG berufen kann. Umgekehrt kann die Bundesrepublik Deutschland nicht auf fremdem Territorium ihre grundrechtssichernden Verfahren ohne Zustimmung des dortigen Staates durchführen. Der durch BNDMaßnahmen in seinen Grundrechten betroffene Ausländer im Ausland 53

BVerfGE 4, 157/170 – Saarabkommen. BVerfGE 92, 26/42. Vgl. auch Yousif (Fn. 2), S. 110: „Eine ,Näherungstendenz‘ an den verfassungsmäßigen Zustand kann es im Zusammenhang mit Exekutivakten nicht geben.“ 55 Bzgl. der leistungsrechtlichen Dimension von Grundrechten mag das anders sein. Grundrechtliche Leistungsansprüche zielen letztlich ja auf die Vornahme deutscher Hoheitsakte auf fremdem Staatsgebiet. 56 Die Erstreckung der Geltungsreichweite der deutschen Grundrechte über das Bundesgebiet hinaus verletzt aufgrund ihres „Angebotscharakters“ nicht die Souveränität oder Gebietshoheit anderer Staaten, Yousif (Fn. 2), S. 88. 57 BVerfGE 49, 168/183 f.; BVerfGE 76, 1/7. 54

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kann nicht sicher sein, vor deutschen Gerichten problemlos und persönlich die Verletzung in seinen Grundrechten geltend machen zu können. Inwieweit er ein entsprechendes Verfahren wenigstens in seinem Heimatland durchführen kann, entzieht sich weitgehend deutschem Einfluss. Man darf insofern den faktischen Mehrwert der vorstehend skizzierten – ausgedehnten – normativen Gewährleistung nicht überschätzen:58 keine Kongruenz von Reichweite und Realisierbarkeit der Grundrechtsbindung. III. Die extraterritoriale Grundrechtsgeltung interessiert besonders hinsichtlich der informationellen Vorfeldbefugnisse des BND. Im Vordergrund steht hier das erwähnte neuere Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum G 10. Es befasst sich vor allem mit der strategischen Fernmeldeüberwachung durch den BND, einschließlich, im Hinblick auf die BNDÜbermittlung von Daten an Polizei und Staatsanwaltschaft, der informationellen Eingriffsbefugnis zu Zwecken der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Diese Befugnis setzt das Gericht59 weit im Vorfeld einer konkreten Rechtsgutverletzung an. § 3 Abs. 3 G 10 in der früheren Fassung hatte insofern Ähnlichkeit mit den polizeilichen Eingriffsbefugnissen im Rahmen der vorbeugenden Deliktsbekämpfung aufgewiesen. Dabei war es im Kern auch um eine Gefährdung des Trennungsgebots Polizei / Nachrichtendienst (ein Problem auch für eine Antiterrordatei) gegangen. Grundsätzlich hält das BND-Abhör-Urteil die Beschränkung der Fernmeldefreiheit und des Kommunikations-geheimnisses durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 für zulässig. Es handelt sich ja, bei Gefahren wie dem internationalen Kriegswaffenhandel, dem grenzüberschreitenden

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Von der Geltung der Grundrechte ist die des einfachen Rechts zu unterscheiden. Ein Beispiel: Gem. Art. 11 EMRK und gem. § 1 Abs. 1 Versammlungsgesetz bzw. § 1 Vereinsgesetz genießen auch Ausländer Versammlungs- und Vereinsfreiheit. Art. 8 und 9 GG sind demgegenüber Deutschengrundrechte. §§ 14 f. Vereinsgesetz können deshalb für Ausländer- und ausländische Vereine Verbotsgründe über die Schranken des Art. 9 Abs. 2 GG hinaus vorsehen, ohne dass dies gegen Art. 9 Abs. 1 GG verstoßen würde. Im Übrigen haben die allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) im deutschen Recht bisher keinen wesentlichen Einfluss erlangt. 59 E 100, 313/394.

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Terrorismus (einem asymmetrischen, „unsichtbaren Gegner“),60 der Geldwäsche und dem Drogenhandel, um existentielle Bedrohungen der staatlichen Sicherheit. Mafiöse Geldwäsche etwa kann sich rasch zum Staat im Staate auswachsen. Diese Tatbestände sind so schwerwiegend, dass sie der Gesetzgeber in den Beobachtungsbereich des BND im Rahmen der bisher allein zulässigen strategischen Fernmeldeüberwachung einbeziehen durfte. Solche Eingriffe sind – die Probleme liegen freilich auch hier im Detail – selbst ohne konkreten Verdacht zulässig: „Der Staat muss nicht blind und wehrlos zusehen, wenn höchst gemeingefährliche Handlungen verabredet oder vorgenommen werden.“61 Insofern ist diese Entscheidung, aller erhöhter Schranken für BND-Operationen zum Trotz, die Magna Charta der Auslandsaufklärung: die gesetzliche Ausdehnung der Aufklärung weit ins Vorfeld der Gefahr hinein bleibt prinzipiell unbeanstandet. Im Gegenzug verlangt das Bundesverfassungsgericht für die G 10Kommission eine umfassende, entsprechend ausgestaltete Kontrollzuständigkeit. Das Gremium muss die benannten sachlichen und formalen Suchbegriffe effektiv prüfen können:62 Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren. Selbst wenn sich die intensivierte parlamentarische Kontrolle, wie der ehemalige BND-Vizepräsident Adam kritisiert, nachteilig auf die Effizienz des Nachrichtendienstes auswirken sollte,63 sind dies die (etwaigen) sicherheitspolitischen Kosten, die der Verfassungsstaat zur Wahrung seines Wesens zu tragen hat. Konsequenterweise fand ein Großteil der Verfahrensregeln in der damaligen gesetzlichen Fassung keine Gnade vor dem Gericht. Globale und pauschale Überwachungen sind in der Tat so wenig BND-Aufgabe wie die gezielte Überwachung individueller Anschlüsse. Benötigt werden vor allem Befugnisnormen für die einschlägigen Grundrechtseingriffe. Diese Normen können nicht einfach bei den klassischen Polizeirechtsbegriffen „Gefahr“ oder „Störer“ ansetzen, vom konkreten Tatverdacht ganz zu schweigen. Gleichwohl: Informationseingriffe bleiben zulässig, soweit 60 Vgl. Graf Vitzthum, Das Völkerrecht angesichts der „Neuen Kriege“, in: Richter (Hrsg.), Transnationale Menschenrechte, 2008, S. 223 ff. 61 Arndt, NJW 2000, 47/48; vgl. ders., DÖV 1996, 459. 62 Sachliche Suchbegriffe sind die Bezeichnungen von Substanzen oder Gegenständen, formale die Kennungen von Fernmeldeanschlüssen. 63 Adam, IP, Mai 2007, S. 47.

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sie zur Erfüllung der BND-Aufgabe geboten sind.64 Hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit geht es also um den Verhältnismäßigkeitszusammenhang von Zweck und Mittel, hier bezogen auf die Kernaufgabe des Staates: Gewährleistung der Sicherheit der Bürger in Freiheit. Die durch BVerfGE 100, 313 nötig gewordene – und zügig erfolgte – Überarbeitung des G 10 hat die Befugnisse des BND nicht nur beschnitten. Vielmehr wurden auch „zwischenzeitlich erkannte Lücken des bisherigen Gesetzes“ geschlossen.65 So konnte der Dienst nach § 3 Abs. 1 Satz 1 G 10 a. F. lediglich „internationale nicht leitungsgebundene Telekommunikationsbeziehungen“ überwachen. Diese Schranke ist in § 5 Abs. 1 Satz 1 G 10 gefallen; so ist jetzt auch die Überwachung von Kabelsystemen zulässig.66 Darüber hinaus initiierte der erweiterte § 3 Abs. 1 Nr. 6 G 10 neue Überwachungstatbestände zur Bekämpfung verfassungsfeindlicher und rechtsextremistischer Bestrebungen.67 Die für die Dienste typische Erhebung, Verarbeitung und Weitergabe auch personenbezogener Daten68 64

So auch § 3 Abs. 1 BDSG. – Eingriffe in grundrechtliche Schutzbegriffe lassen sich nicht auf die „Staatsleitungskompetenz“ stützen. Die informelle Hilfe bei der verantwortlichen Leitung des Ganzen der inneren und äußeren Politik ist keine legitimierende Absicherung. Gleiches gilt vom Ansatz „Schutzpflicht aus Grundrechten“. Jener Staatsleitungsansatz schließt unzulässigerweise von der Aufgabe auf die Befugnis, vom Unterstützen der Staatsleitung also auf das Recht zu Grundrechtseingriffen. Der Gesetzesvorbehalt etwa bezüglich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kann nicht einfach ausgehebelt werden, indem man eine Eingriffsbefugnis aus der allgemeinen Regierungsaufgabe ableitet. Auch Schutzpflichten sind keine Eingriffswerkzeuge. Sie machen eine gesetzliche Grundlage nicht entbehrlich. Gerade die Volksvertretung ist berufen, Konflikte zwischen kollidierenden Rechtsgütern auszugleichen, etwa zwischen Freiheit und Sicherheit im konkreten Fall. 65 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf der Neufassung des G 10, BR-Drucksachen 54/01, S. 19. 66 Huber (Fn. 5), 397. 67 Wollweber, ZRP 2001, 213. 68 Die nachrichtendienstliche Sicherheitsgewährleistung erfolgt durch organisatorisch und, trotz partieller schutzgegenständlicher Überschneidungen, funktional unterschiedene Dienste. Der BND ist nur einer dieser Dienste. Auch ihm stehen keine polizeilichen Befugnisse zu (§ 2 Abs. 3 BNDG). Der BND erfüllt vielmehr, institutionell verselbständigt (§ 1 Abs. 1 BNDG), rein informationelle, im Gefahrenvorfeld ansetzende Hilfsfunktionen zum Schutz besonderer Rechtsgüter. Seine Zuständigkeit betrifft zudem nicht Aspekte der inneren Sicherheit (§ 1 Abs. 2 BNDG). Die ihm nun durch § 5 G 10 zugewiesene Aufgabe der Kriminalitätsbeobachtung ist nicht auf Straftaten gegen die Schutzgüter Staat und

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greifen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieser Eingriff bedarf einer dem Bestimmtheitsgebot entsprechenden, bereichsspezifischen gesetzlichen Ermächtigung. Eine allgemeine Aufgabennorm reicht nicht aus.69 Über einige Prämissen dieser aus dem seinerzeitigen Volkszählungsurteil entwickelten h.M. lässt sich streiten. Ihre restriktive Linie hat sich in der Praxis freilich durchgesetzt. Sie ist im BND-Abhörurteil nun auf Art. 10 GG sozusagen 1:1 übertragen worden. Insofern geht es nur noch um die Frage: Wie lässt sich eine effiziente nachrichtendienstliche Sicherheitsgewährleistung in diesem engen Rahmen konkret und im Detail gestalten? Polizeiliche Befugnisse stehen den Nachrichtendiensten, wie gesagt, nicht zu. Verfassungsrechtlich folgt das aus dem Rechtsstaatsprinzip (nicht aus dem „Polizeibrief“ der Alliierten aus dem Jahr 1949), genauer: aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Es gilt die Gefahr zu verhindern, „die sich daraus ergäbe, wenn eine im Schwerpunkt heimlich operierende, mit umfangreichem Wissen ausgestattete Behörde selbst die Konsequenzen aus ihrem Wissen ziehen und unmittelbar zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung schreiten dürfte“.70 Deshalb sind alle Dienste auf den informationellen Bereich beschränkt. Sie geben die gesammelten Informationen an die zum Ergreifen der gebotenen Maßnahmen zuständigen Stellen weiter, dürfen aber weder die Entscheidung über die Maßnahmen treffen noch selbst zur Tat schreiten. Sie dienen der Sicherheitsaufgabe nicht als Organe der Strafverfolgung oder der unmittelbaren Gefahrenabwehr, sondern als Träger von Hilfsfunktionen. Deshalb haben sie z. B. kein Durchsuchungsrecht. Andererseits dürfen die Nachrichtendienste weiter und tiefer im Vorfeld ansetzen als die Polizei. Die auf Lagebilder abzielende Ausrichtung erfordert ja ein weiter vorgelagertes Beobachten. Derartige Maßnahmen sind umso akzeptabler, je klarer es an polizeilichen Befugnissen fehlt, je eindeutiger die Dienste selbst also keine entsprechenden Konsequenzen aus ihren Erkenntnissen ziehen dürfen.71

Verfassung beschränkt. Sie bleibt freilich im Rahmen der allgemeinen BND-Aufgabe (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2 G 10), angesiedelt im Überschneidungsbereich äußere/ innere Sicherheit. 69 Vgl. auch BVerfGE 100, 313/359 f. 70 Möstl, DVBl. 1999, 1394/1400. 71 Vgl. Zöller, Informationssysteme und Vorfeldmaßnahmen von Polizei, Staatsanwaltschaften und Nachrichtendiensten, 2002.

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Die überkommene Aufgabenverteilung Nachrichtendienste / Polizei ist in jüngerer Zeit unsicher geworden. Schlagwörter wie „Vernachrichtendienstlichung der Polizei“, „Verpolizeilichung der Nachrichtendienste“ und „Neue Sicherheitsarchitektur“ machen die Runde. Hintergrund ist das – legitime – zunehmende Tätigwerden der Polizei im Vorfeldbereich mit Hilfe nachrichtendienstlicher Mittel, also die vernetzte polizeiliche Informations- und Gefahrenvorsorge. Die landläufige Unterscheidung: die Polizei arbeitet an der Schwelle der Gefahr, die Nachrichtendienste dagegen in deren Vorfeld, trifft nicht mehr zu. Ein Vorfeldmonopol der Dienste kennt das Grundgesetz nicht, im Unterschied zum Zwangsbefugnismonopol von Polizei und Staatsanwaltschaft. Konkret geht es angesichts tendenzieller Überschneidungen um die Frage, inwieweit, wie nun in §§ 5 ff. G 10 geregelt, die Auslandsaufklärung auch für die Bekämpfung der internationalen Kriminalität – als einer Bedrohung letztlich auch der nationalen Sicherheit – genutzt werden darf. Mit einer Kaskade von Normen hat der Gesetzgeber die schwierigen Abgrenzungs-, Zuordnungs- und Abwägungsfragen zu beantworten versucht, erst recht nach dem „11. September“. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt Korrekturen verlangt. Die Legislative musste mehrfach nachbessern. Diverse Landesverfassungsgerichte haben besonders die in den jeweiligen Polizeigesetzen vorgesehenen informationellen Vorfeldbefugnisse unter die Lupe genommen. Die Vorverlagerung von polizeilichen Eingriffsbefugnissen hat die Abgrenzung zu den davon getrennten BND-Befugnissen sowie das Recht der Dienste und der Sicherheit insgesamt zu einer hochkomplexen Materie werden lassen. Es geht neben der Grundrechtsgeltung auch um Fragen der föderalen und der exekutivinternen Kompetenzverteilung.72 Selbst „die Staatsrechtslehrerprofis und ihre Spielkameraden in Karlsruhe“ (Günter Dürig), selbst Komparatisten des Bundesstaatsrechts wie der Jubilar können sich angesichts der raschen – zumal technischen – Veränderung der Gesamtmaterie nur mit begrenzter Autorität äußern.73 72

Vgl. König, Trennung und Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 2005; Kretschmer, Jura 2006, 336; Lepsius, Leviathan 2004, 66. 73 Es gibt in der Zunft nur wenige sicherheitsrechtliche Experten. Sie stammen vornehmlich aus den Schulen von Peter Badura und Josef Isensee: Michael Brenner, Markus Heintzen, Markus Möstl, Otto Depenheuer. Darüber hinaus sind zumal Manfred Baldus, Christoph Gusy, Rainer Pitschas und Rolf Stober zu nennen, von Badura und lsensee selbst ganz zu schweigen. Möstls Habilitationsschrift, „Die

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In ähnlicher Weise drohen bei der organisierten Kriminalität Aspekte der allgemeinen Verbrechensbekämpfung und des spezifischen Verfassungs- und Staatsschutzes zu verschwimmen. Insofern fragt sich: Darf die Beobachtung der organisierten Kriminalität auch eine Aufgabe der Nachrichtendienste sein? Dürfen sie also für die Kriminalitätsbekämpfung in Dienst genommen werden? Ist nicht jedenfalls der politisch motivierte Terrorismus bereits seit Längerem eine Gefahr für die Sicherheit des Staates und der Verfassung? 74 In die Bekämpfung des internationalen Terrorismus (durch strategische Fernmeldeaufklärung) war der BND ohnehin bereits durch § 3 G 10 in der Fassung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes, jetzt also durch § 5 G 10, eingebunden. BVerfGE 100, 313 ist auch hier einschlägig. Das Urteil hat sich einer polizeilichen Nutzbarmachung der BND-Erkenntnisse über den Bereich der internationalen Kriminalität, wie gesagt, nicht grundsätzlich entgegen gestellt.75 Das Gericht hat aber die Einbindung des BND in einen polizeilichen Verwendungszusammenhang strikt begrenzt. So bleibt verboten, dem Dienst Befugnisse einzuräumen, die auf die Verhütung, Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten als solche gerichtet sind. Darüber hinaus muss die Beobachtung der jeweiligen Kriminalitätsbereiche einen hinreichenden Bezug zur primären Aufklärungsaufgabe der Dienste aufweisen. Die Primärfunktion der Dienste darf vom polizeilichen Verwendungszusammenhang nicht überlagert werden. Hintergrund ist auch hier das Verbot organisatorischer Zusammenlegung, also der Ausschluss polizeilicher Befugnisse für die Nachrichtendienste. IV. Die freiheitsgewährleistende Sicherung von Staat und Verfassung, bei der der BND eine wichtige Rolle spielt, ist eine Daueraufgabe. Die große Idee des Staates, die historisch-kulturelle Erfindung im Verlauf gesellschaftlicher Rationalisierung, ist nicht verblasst. Wir befinden uns zwar staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (2002), ist ein Standardwerk. 74 Vgl. die Aufgabenerweiterung des Verfassungsschutzes in § 3 Abs. 1 BVerfSchG durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz. Zum Kontext Bothe, a.a.O., Rn. 9 ff., 18 ff., 40 ff. 75 Anders noch E 67, 158/180 ff., damals aus grundrechtlichen Erwägungen.

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in einer hochinterdependenten Welt, aber bis auf weiteres keineswegs in einer post-etatistischen, umhegt von einem „kommunitären Völkerrecht“, einem „Weltrecht“ oder einer „Verfassung jenseits des Staates“. Deutschland hat sich weder im EU-Staatenverbund noch in der „Menschheitsgemeinschaft“ aufgelöst wie ein Stück Zucker in einer Tasse Kaffee. Auch die regionale europäische Integrationsgemeinschaft ist, bei aller Relativierung mitgliedstaatlicher Eigenständigkeit, deutlich weniger als eine Schicksalsgemeinschaft. Daran wird der Reformvertrag von Lissabon so wenig ändern wie die etwaige gemeinsame Bewältigung der Herausforderung „Kosovo“. „Europäische Identität“ suggeriert eine dem Nationalen vergleichbare Intensität der Gemeinsamkeit, die trotz aller entgrenzenden Entwicklungen real nicht existiert. Für Brüssel lässt sich niemand totschießen. Es ist vielmehr umgekehrt: Die EU ist auf fortbestehende Mitgliedstaaten als ihre Halt gebenden Grundeinheiten angewiesen – der Wald hat keine Wurzeln, nur die Bäume haben sie. Insofern darf der Staat sich nicht aufgeben. Das gilt auch für die trans-, inter- und supranational stark eingebundene Mittelmacht Bundesrepublik Deutschland. Zu unübersehbar sind die ausgedehnten, in großer Schnelligkeit sich ändernden Verhältnisse, zu gefährdet ist die offene verfassungsstaatliche Ordnung.76 Der Staat bleibt das zentrale „Bauelement der internationalen Ordnung“ (Daniel Thürer). Die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen demokratisch und solidarisch im Rahmen des Rechts zu bewältigen und Überleben, Stabilität und Legitimität zu sichern, kurz: unsere freiheitliche Lebensform auch in den gewachsenen Größenverhältnissen und den komplexen Gefährdungslagen der Gegenwart zu erhalten, ist weiterhin nur „im Staat“ und nur „durch den Staat möglich“,77 mag es dabei auch zentral, wie der Jubilar nicht müde wird zu betonen, auf

76 Das Verstandes- und Vernunftfundament ist kein acquis, kein „auf ewig“ Gesichertes. Denkbar sind auch periodische Rückschläge, rätselhafte Rückfälle hinter das Reflexionsniveau der Aufklärung, der Menschenrechte, des Verfassungsstaates. Ein Absturz in tragisch rauschhafte Lagen, in denen wieder wie im 15. Jahrhundert der Rauch der Scheiterhaufen über der Landschaft steht, ist nicht auf Dauer ausgeschlossen. Der mögliche Einbruch eines vorrationalen, womöglich barbarischen Verhaltens, einer dämonischen Welt ist stets mit zu bedenken. 77 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1967, S. 6.

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das kollektive sicherheitspolitische Zusammenwirken der Staaten ankommen.78 Für den Staat des Grundgesetzes gilt somit Suizidverbot. Schon wegen der Wahrnehmung seiner Schutzfunktion darf er sich nicht „gehen lassen“. Schließt er aufgedeckte Sicherheitslücken nicht, vernachlässigt er also seine Aufklärungs- und Schutzaufgabe, brechen ihm die Loyalität und die Folgebereitschaft seiner Bürger weg. Thomas Hobbes brachte diesen Zusammenhang in seinem „Leviathan“ (1651) auf die Formel von der mutual relationship between protection and obedience. Bei aller Übertragung von Hoheitsrechten an supra- und internationale Institutionen (Art. 23, 24 GG) hat sich insofern auch der deutsche Verfassungsstaat funktions- und überlebensfähig zu halten. Er muss, obwohl es eine absolute Sicherheit nicht gibt, seine Bürger zumal gegenüber gefährlichen äußeren Lagen zu schützen suchen. Die Rechtlichkeit bleibt die entscheidende Leistung, die demokratische Rückbindung die primäre Legitimation des in diesem Sinne unabweisbar notwendigen Staates. Das ist der Horizont, vor dem der BND innerhalb seiner rechtlichen Bedingungen und Grenzen seine Aufgaben erfüllt – unverzichtbar für den vorgelagerten Schutz des freiheitlichen demokratischen Staates, dem die Verantwortung für die Schicksalsgemeinschaft seiner Bürger obliegt, unentbehrlich damit aber auch und gerade für die Garantie der individuellen Existenz in Selbstbestimmung und Freiheit.

78 Zum System der kollektiven Sicherheit und den Kompetenzen des Sicherheitsrates Bothe, a.a.O., Rn. 32 ff., 40 ff.

Befindlichkeiten im Völkerrecht. Das Beispiel des Russland-Ukraine-Konfliktes* Mein Beitrag zu Ehren von Daniel Thürer konzentriert sich auf sieben Punkte: Nach einem Begriffshinweis behandle ich völkerrechtliche Aspekte des Russland-Ukraine-Konfliktes und abschließend rechtspolitische Fragen: Was ist die Perspektive, und was ist zu tun? Schon einmal habe ich darüber diskutiert: beim Petersburger Dialog in der überdimensionierten, zubetonierten, fast menschenleeren Olympiastadt Sotschi, kurz vor Weihnachten 2014. Seither ist der Sturm der Gewalt noch stärker, der Blutzoll noch höher, die Gesamtlage noch gefährlicher geworden. Im Horizont dieser tiefschwarzen Schatten über Europa spreche ich. Zum ersten Punkt: Befindlichkeit! Juristen können mit diesem Begriff nichts anfangen. In den Registern ihrer Werke fehlt er. Demgegenüber ist Befindlichkeit als Fachausdruck in der Medizin und in den Geistes- und Sozialwissenschaften verbreitet. In Heideggers „Sein und Zeit“ zum Beispiel bezeichnet er eine Weise des intuitiven Weltverständnisses, eine Gestimmtheit. Unterscheidet sich nicht in der Tat die Stimmung kleiner Nationen existentiell von der von großen? Auf einschlägige Unterschiede zwischen Land- und Seemächten wies bereits Carl Schmitt hin. Im Frühjahr 1939 „legitimierte“ der Parteigänger der NS-Diktatur mit seiner Großraumtheorie hegemoniales Ausgreifen auf einen erweiterten „Lebensraum“ – ein im 19. und 20. Jahrhundert verbreitetes Schema des Denkens in Einflusszonen. Daran erinnern manche aktuelle geopolitische Konzepte: „Neurussland“, die postsowjetischen Gebiete als „nahes Ausland“ und als „exklusive“ Einflusssphäre Russlands sowie die Kreml-geführte ethno-kulturelle „Russische Welt“ mit der Ukraine als einem ihrer zentralen Bestandteile. In eine ähnliche Richtung zielt die Putin-Doktrin. Sie „erlaubt“ Moskau, zum „Schutz der russischspra* Aus: G. Biaggini u. a. (Hrsg.), FS für Daniel Thürer, Zürich 2015, S. 765 – 777. – Der Text basiert auf einem Vortrag vor dem Diskussionsforum Haus Rissen in Hamburg am 3. Februar 2015.

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chigen Bevölkerung“ – „unsere Landsleute“ – in benachbarte souveräne Staaten zu intervenieren. Als handlungsleitende Mentalitäten und emotionale Tatsachen sind etwa kollektive Ängste vor Einflussverlust oder Einkreisung derartige Befindlichkeiten. Auch Empathie und Stolz, Vaterlandsliebe, Verzweiflung, Russophobie oder Germanophilie sind politisch relevante Gefühle. Sie legen Kenntnis-, ja Rücksichtnahme nahe. Soweit die Rechtsordnung das vorsieht, sind sie von Rechts wegen zu beachten. Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel bestimmen derartige Richtbegriffe die „Neugliederung des Bundesgebietes“: „landsmannschaftliche Verbundenheit“ sowie „geschichtliche und kulturelle Zusammenhänge“. Als emotionales Substrat und impulsgebende ambiance beeinflussen solche Befindlichkeiten die Interpretation des Rechts auch mittelbar und ebenso die Richtung seiner Entwicklung. Mein erstes Zwischenergebnis lautet demnach: Bei nachfolgender Analyse und Bewertung von Motiven und Fällen, von Modellen und Rechtsfolgen sind Befindlichkeiten zu beachten. Zum zweiten Punkt, dem Krim-Komplex, konkret: zum Selbstbestimmungsrecht der Bewohner der Schwarzmeer-Halbinsel! Anders als bei jener Neugliederungsnorm des Grundgesetzes geht es bei diesem Konflikt nicht um das interne, sondern um das äußere Recht auf Selbstbestimmung. In der damit angesprochenen völkerrechtlichen Dimension bedeutet Selbstbestimmung: Die „Völker“ entscheiden, wie etwa die UN-Menschenrechtspakte von 1966 formulieren, „frei über ihren politischen Status“ – in den Grenzen des Rechts. Kein Element der Rechtsordnung existiert isoliert, keines darf verabsolutiert werden. Einander bedingend und begrenzend stehen alle, auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie gerade der Jubilar nicht müde wird zu betonen, unter dem generellen Vorbehalt: „keine Gewalt“. Das Völkerrecht entwickelt sich im Wesentlichen aus der Staatenpraxis. Gemäß Völkergewohnheitsrecht, bestätigt etwa in der Friendly Relations Declaration der UNO aus dem Jahr 1970, kann Selbstbestimmung in (aller-) letzter Konsequenz Abspaltung bedeuten. Die einvernehmliche Auflösung eines Staates und die Entstehung zweier Nachfolgestaaten, Beispiel Tschechoslowakei 1992, ist die eine, freilich extrem seltene Variante. Die andere ist die Eingliederung eines vormals zu einem anderen Staat gehörenden Gebiets in einen anderen Staat. Auf der Krim kam im März

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2014 Letzteres zur Anwendung: Abspaltung von der Ukraine mit anschließender Inkorporation in die Russische Föderation. Mögen einzelne Kriterien auch umstritten sein, besteht doch Konsens über die Einstiegsfrage der Legalitätsprüfung: Waren die Bewohner der Krim als „Volk“ zu qualifizieren und damit Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechts? Wird diese Frage verneint, bricht die Prüfung bereits hier ab. Um eine Bevölkerungsgruppe als „Volk“ einzustufen, sind objektive und subjektive Kriterien heranzuziehen. Zu ersteren zählen eine weitgehend gemeinsame Sprache, Religion, Kultur und Geschichte. Zu den wichtigeren subjektiven Faktoren – Befindlichkeiten – gehören das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem „Volk“ sowie die daraus gespeiste Bereitschaft, diese Eigenart und Gemeinschaft als „ein Volk“ zu bewahren. Ich bin Jurist, kein Geistes- oder Sozialwissenschaftler, zumal kein Kulturanatom oder Ethnologe. Nach allem aber, was ich über die Geschichte hinter der Gegenwart gelesen habe, über Einheits- und Überlagerungserfahrung, Zusammenhalt und Unverwechselbarkeit der Bewohner, ist „Krim“ mehr als eine geographisch-administrative Chiffre. Gewiss, die russische Bevölkerung stellt auf der Krim die Mehrheit. Aber neben dieser „landsmannschaftlichen Verbundenheit“ – die russischen und ukrainischen „Brudervölker“ waren meist miteinander verflochten – weist die Halbinsel eigene, tief in der Historie des Schwarzmeer-Raumes wurzelnde Besonderheiten auf, in kultureller, ethnischer und politischer Hinsicht. Vielerlei Kulturen haben sich vermischend den an Rückschlägen reichen Prozess der Identitätsbildung befördert, auch nach der Eroberung der Krim durch Katharina die Große im Jahr 1783. Historische Prägungen und kulturelle Faktoren machten die Halbinsel fast zu einem Europa im Kleinen. Ihre Bevölkerung verfügte mehrheitlich und zeitweise über ein ausgeprägtes Krim-Eigenbewusstsein – Anhaltspunkt für ihr „Volk“Sein. Ich beeile mich hinzuzufügen: Die weitaus meisten Autoritäten verneinen mit besseren Gründen eine denkbare „Subjekt“-Qualität der Krimbewohner. Verwiesen wird auf die Unklarheiten bei den Kriterien für den „Volks“-Begriff und auf die Unterschiede zwischen den wichtigsten Bevölkerungsgruppen: den Russen, Ukrainern und Tataren. Letztere könnten sich, heißt es, schon wegen der Deportationen durch Stalin 1944 nicht als eine Gemeinschaft mit den anderen fühlen. Ihnen fehle der Wille zur Zugehörigkeit zu „einem Volk“. Wandern die während der Perestroika

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in großer Zahl wieder zurückgekehrten und nun erneut unterdrückten Krimtataren nicht in der Tat in Scharen ab? Mein zweites Zwischenergebnis ist damit wenig befriedigend. Bezüglich der „Volks“-Qualität der Krimbewohner halten die Proargumente den Contragründen fast die Waage. Über diese Frage, einschließlich mancher semantic confusion, lässt sich legitimer Weise streiten. So bleiben Zweifel, auch bezüglich des ius cogensCharakters des Selbstbestimmungsrechts. Mangels Konsenses über den Schlüsselbegriff „Volk“ ist die Lehre von der „zwingenden Rechtsnatur“ des Selbstbestimmungsrechts der Völker nahezu bloß rhetorischer Natur. Unter dem dritten Punkt überprüfe ich die Sezessionsentscheidung der Krim vom 17. März 2014. Primär schützt das Völkerrecht, niedergelegt in Art. 2 Nr. 4 UN-Charta, die Souveränität und die territoriale Integrität der Staaten. Das liegt nahe, sind doch sie selbst, die Staaten, die originären Schöpfer und Geschöpfe dieses Zwischen-Staaten-Rechts. Befürworteten sie ein grenzenloses Sezessionsrecht, begingen sie Suizid. Allein in Afrika gibt es Hunderte potentiell berechtigter „Völker“. Ein Zerfall der Staatenwelt wäre die Folge, dürften sie alle unbeschränkt, gar gewaltsam mit dem Sprengsatz „Sezession“ hantieren. Auch die zwischen Europa und Alaska ungeheuer ausgedehnte Russische Föderation beherbergt fast einhundert Nationalitäten, darunter in diversen autonomen Gebieten diverse „Völker“. Gefährdet Russland nicht seinen eigenen Besitzstand, indem es Sezessionen etwa in Moldawien (Transnistrien) und Georgien (Abchasien, Süd-Ossetien) unterstützt? Sind nicht die Unterschiede zwischen Russen und Tschetschenen größer als zum Beispiel die zwischen Weißrussen und Russen? Nach dem Ende der Ära der Dekolonisierung erweist sich das Selbstbestimmungsrecht als Droge für die „Völker“ und Gift für die Staaten. Das Völkerrecht zieht ihm deshalb enge Grenzen. Zu unterlassen sind insbesondere alle auf die Zerstörung der territorialen Integrität gerichteten Handlungen, wie die Friendly Relations Declaration unterstreicht. Zulässig ist lediglich die gewaltfreie Selbstbestimmung, und selbst dann ist die Abspaltung nur die ultissima ratio. Diese seltene Ausnahme, das Sezessionsrecht, ist nur gegeben, wenn, so auch jene zentrale Deklaration der UNO, ein „Volk“ vom bisherigen Mutterstaat massiv diskriminiert wird. Das ist der Fall, wenn die staatlichen Organe ein „Volk“ nicht repräsentieren, sondern massakrieren, wie es etwa die Politik der „ethnischen Säuberungen“ in der jugoslawischen Autonomen Republik Kosovo tat. Auf unseren Fall bezogen: Gegenüber der Sezession der Krim könnte sich die Ukraine nicht

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auf ihre territoriale Integrität berufen, wenn sie die Bewohner grob misshandelt und systematisch verfolgt hätte. Keinem existentiell gefährdeten „Volk“ mutet das Völkerrecht ein Verbleiben im Mutterstaat zu. Als eine Art Not- oder Widerstandsrecht legitimiert Unzumutbarkeit, eine Befindlichkeit, eine „abhelfende“ Ablösung, eine remedial secession. Als Hochschullehrer verfüge ich nur über die allgemein zugänglichen Informationen. Auf dieser Grundlage folgere ich: Die Befürworter einer Legalität der Sezessionsentscheidung haben keine verwertbaren Anhaltspunkte für Willkür oder Gewalt der Ukraine gegenüber der Bevölkerung der Krim vorgelegt. Auch die staatlich kontrollierten russischen Medien enthielten keine belastbaren Nachrichten über eine etwaige vom Euromajdan ausgehende Unterdrückung, geschweige denn Beweise für Verletzte und Opfer. Gewiss, die Revolution – primär wohl ein Armutsaufstand – und manche ihrer Parolen und Akteure beunruhigten, auch auf der Krim. Ein irritierendes Signal war am 23. Februar 2014 die dann freilich nicht vollzogene Rücknahme des Sprachgesetzes von 2012, das das Russische zur offiziellen Regionalsprache erklärt hatte. Aber von all dem gingen für die Bewohner der Krim keine massiven Gefahren aus. Ohne ein Vorliegen dieser Sezessionsvoraussetzung – mein drittes Zwischenergebnis – handelte es sich nicht um eine „remediale“, sondern um eine illegale Abspaltung. Im Krim-Kontext wurden, mein vierter Punkt, weitere Völkerrechtsverstöße begangen. Ich beginne mit dem gravierendsten: der Präsenz russischer paramilitärischer Einheiten vor, bei und nach dem Referendum am 16. März 2014. Hinter einer Nebelwand von Falschinformationen tat Russland etwas, was im heutigen Europa niemand mehr für möglich gehalten hatte. Im Handstreich wurde die Krim gegenüber der übrigen Ukraine abgeriegelt – von straff geführten, modern ausgerüsteten Verbänden in Kampfanzügen ohne Hoheitsabzeichen. Diese maskierten, schnell als Russen identifizierten Kräfte – wochenlang leugnete der Kreml das Offensichtliche – blockierten die Stützpunkte, Flugplätze und Häfen der ukrainischen Armee auf der Krim und übernahmen die Kontrolle der Regierungsgebäude. Das war keine lässliche Sünde, keine innerstaatliche Krise neben anderen, sondern der Beginn eines bis heute brennenden zwischenstaatlichen Großkonflikts. Der Kreml exekutierte einen offensichtlich vorbereiteten eklatanten Verstoß gegen das Interventions- und das allgemeine Gewaltverbot des Völkerrechts. Das war keine befreiende Selbstbestimmung, wie sie unterdrückte Kolonialvölker in Anspruch nehmen

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konnten. Das war ein Akt der Fremdbestimmung im Stil einer längst vergangen geglaubten rücksichtslosen, unkalkulierbaren Einfluss-, Droh-, Raub- und Hegemonialpolitik. Ebenfalls illegal war die Unabhängigkeitserklärung seitens des dafür unzuständigen Regionalparlaments der Krim am 17. März 2014. Das Referendum, die prätendierte Rechtsgrundlage, war weder fair und friedlich noch international kontrolliert. Es war, so auch das Urteil von Europarat und OSZE, eine Farce, die Karikatur eines herrschaftsfreien Gebietsreferendums. Die Spuren der Manipulation waren nicht zu verwischen. Einschüchternde fremde Soldaten hatten das Abstimmungsgebiet okkupiert. Demokratische Mindeststandards wurden verfehlt, wie auch die UN-Generalversammlung feststellte. Ungültig war zudem die „Anerkennung“ der Krim durch Russland, erfolgt nur wenige Stunden nach jener Proklamation. Dies war eine illegale Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine, nicht anders als der längst vorbereitete Vertrag über die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation vom 18. März 2014. Anerkennungsfähig sind diese Akte nicht. Gewiss, die EU hatte die nach dem Machtwechsel in Kiew am 22. Februar 2014 eingesetzte, mit umstrittener, angesichts der instabilen Gesamtlage aber wohl hinreichender Legitimität ausgestattete Regierung umgehend akzeptiert. Dies kann aber Russlands völkerrechtswidrige Akte der „Anerkennung“ nicht rechtfertigen. Es gibt keine Gleichheit im Unrecht. In einem chirurgisch präzise ausgeführten, nichtprovozierten militärischen Angriff raubte Russland der Ukraine einen Teil ihres Staatsgebiets – eine als friedliche Sezession camouflierte gewaltsame Annexion. Rechtswirkungen entfalten diese Akte, wie gesagt, nicht. Die Völkergemeinschaft darf, auch gemäß der Stimpson-Doktrin, die gewaltsame Abtrennung von Gebieten nicht anerkennen. Gewiss, die tatsächliche Kontrolle über die Krim liegt momentan beim Kreml. Das ist aber kein Grund, den „Dreizack“, das ukrainische Nationalsymbol, zu senken oder die Fahne des Rechts einzurollen. Wer die Macht hat, hat deshalb nicht Recht. Faktische Lagen beurteilt das Völkerrecht nach Effektivität und Legitimität. Bedingung der Legitimität ist Legalität, die Einhaltung des Rechts. Dessen Bruch machte die Annexion illegal und damit illegitim. Befindlichkeiten, etwa das unter Russen und Krimbewohnern offensichtlich verbreitete Gefühl, eine „Wiedervereinigung“ und die „Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit“ erlebt zu haben, ändern

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daran nichts. Emotionen, völkische oder geopolitische Stimmungen, perzipierte Nöte orthodox-ostslawischer „Brüder“, irrationale Unter- oder Überlegenheitsgefühle, historische Traumata und spirituelle oder imperiale Träume – sie alle können Rechtsverstöße weder kaschieren noch korrigieren. Befindlichkeiten erklären manches und legitimieren nichts. Russland hat kein Recht auf die Krim. Alle Rechtfertigungsversuche scheitern, die Argumente sind unhaltbar. Gefühlte Legitimität kompensiert nicht fehlende Legalität. Die „Türkische Republik Nord-Zypern“ ist ein Parallelfall. Deren proklamierte Unabhängigkeit erklärte der UN-Sicherheitsrat für illegal: Sie war erfolgt unter völkerrechtswidriger militärischer Okkupation durch die Türkei. Daraus folgt das strikte Verbot der Anerkennung. Das ist keine kraftlose Konsequenz. Das Völkerrecht kennt Lagen, die über längere Zeit unübersichtlich sind. Die baltischen Staaten zum Beispiel erlangten erst 50 Jahre nach ihrer Annexion, die im Gefolge des Hitler-StalinPaktes von 1939 erfolgt war, ihre Unabhängigkeit wieder. Sie hatten sich nie aufgegeben. Die wie in Beton gegossenen Fakten hielten dem „Softpower“-Druck des Völkerrechts nicht stand. „Wasser besiegt den Stein“, heißt es bei Bertold Brecht. Auch im Baltikum besiegte am Ende die Normativität die Faktizität. Kollektive Nichtanerkennung ist die völkerrechtsgebotene Reaktion. Die überwältigende Mehrheit der Staaten befolgt dieses Gebot. Mehr als drei Jahrzehnte nach jener Unabhängigkeitsproklamation von Ankaras Gnaden ist „Nord-Zypern“ völkerrechtlich weiterhin Teil Zyperns. Auch die Annexionen Osttimors durch Indonesien und Kuwaits durch den Irak, um nur diese zu nennen, hatten keinen Bestand. Vergleichbares – viertes Zwischenergebnis – wird das Schicksal der „russischen“ Krim sein. Moskau wird sich seiner aktuellen Beute nicht ungeschmälert erfreuen können. Zu meinem fünften Punkt, der Lage des Völkerrechts. Wie mein Lehrer Wolfgang Friedmann bin ich überzeugt: Letztlich lässt sich jeder Konflikt, auch der blutige Krieg in der Ostukraine, mit den Mitteln des Rechts einhegen. In seinen überfüllten New Yorker Vorlesungen Ende der 1960er Jahre ging Friedmann freilich einen Schritt weiter – mit seiner berühmten These vom Fortschritt der Rechtsentwicklung. Neben dem alten „Recht der Koexistenz“, so Friedmann, entstehe ein neues „Völkerrecht der Kooperation“. Dessen Durchsetzungsdegen sei die sanction of non-participa-

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tion: der Ausschluss des Rechtsbrechers von den Vorteilen der globalen Kooperation, etwa den Hilfen der Weltbank und des IWF. Die heutige Situation des Völkerrechts entspricht nicht Friedmanns Fortschrittsoptimismus. Allenfalls die Vereinheitlichung des Weltmarktes, die Entnationalisierung Westeuropas und die Komplettierung der wirtschaftlich-finanziellen Sanktionen kamen voran. In wichtigen Bereichen blieb es beim Völkerrecht des bloßen Nebeneinanders. Teilweise fiel die Entwicklung gar hinter dieses Minimum zurück, etwa bei der Zunahme von Failed States in Afrika und Frozen Conflicts an Russlands Grenzen. Statt eines „Vorwärts zum neuen Völkerrecht“ wäre also erst einmal das „alte“ zu beachten und durchzusetzen: das Völkerrecht der Unverletzlichkeit der Grenzen und das allgemeine Gewalt- und Annexionsverbot. Auf vereinbarten, respektierten Grenzen ruht zumal die Sicherheit Europas. Die international anerkannten Grenzen der Ukraine wurden im Budapester Memorandum von 1994, gegen den Verzicht Kiews auf Atomwaffen, noch einmal explizit garantiert, von Russland, den USA und dem Vereinigten Königreich. Die russische Zusage war das Papier nicht wert, auf dem sie stand. Die Wiederkehr des Krieges im Südosten der Ukraine und der Versuch neuer, gewaltsamer Grenzziehung in Europa setzen Kontext und Regeln der auch in der KSZE-Schlussakte von Helsinki festgeschriebenen kontinentalen Friedensordnung außer Kraft. Dem Völkerrecht fehlt eine übergeordnete Hoheitsgewalt. Das ist freilich keine Fehlfunktion, sondern Programm: Die Staaten selbst wollen es nicht anders. Eine effektive Hoheitsgewalt müsste die Kontrahenten in schiedsgerichtliche oder gerichtliche Verfahren zwingen können, mit der Verpflichtung, den richterlichen Spruch zu befolgen. Auch das Völkerrecht will verteidigt werden. Die Kraft des Rechts muss sich zeigen, muss durch begleitende Maßnahmen – etwa schmerzhafte, kollektiv angewandte Instrumente der Wirtschafts- und Finanzpolitik – durchgesetzt werden. Selbst Vetomächte im UN-Sicherheitsrat müssen erkennen, dass letztlich das Recht, nicht die Macht herrscht. Diesbezüglich befindet sich die Staatengemeinschaft noch in einer Lern- und Transformationsphase. Zudem hat auch der Westen als Verteidiger des Völkerrechts keine reine Weste. Das tu quoque-Argument, der Verweis auf Rechtsbrüche der Gegenseite, hilft aber, wie gesagt, nicht weiter. Der Verstoß der einen Konfliktpartei legitimiert nicht den der anderen. Sollte das Völkerrecht zu einem bloßen Faktor unter anderen, ja zu einem

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profillosen Diskurselement absinken, sollten seine Vertreter ihre Reputation verlieren, ja, wie Immanuel Kant formuliert, zu „leidigen Tröstern“ verkommen, ist die internationale Rechts-, Sanktions- und Friedensordnung insgesamt gefährdet. Beim Russland-Ukraine-Konflikt würde es dann nicht bleiben. Nun, sechstens, zu Rechtsinstrumenten für ein Entschärfen des konkreten Konfliktes, einschließlich eines Verhinderns zusätzlicher gewaltsamer Annexionen, wie sie seitens der Balten und Polen, die Sudetenkrise des Herbstes 1938 vor Augen, befürchtet werden! Es gibt prozedurale, institutionelle und materiale Ansatzpunkte, zum Beispiel Kontaktgruppen, Verhandlungsforen, Internationale Organisationen. Letztere, etwa die OSZE, erledigen Factfinding und Monitoring. Die ebenfalls relativ schwache UNO führt ausnahmsweise gar, so derzeit im Ost-Kongo, robustes Peaceenforcing durch. Ich beschränke mich auf inhaltliche Modelle, auf denkbare Regime für die Gesamtukraine. Beginnen wir mit Extrembeispielen! Eine künftige Eigenstaatlichkeit der Krim ist ebenso wenig in Sicht wie ihre vereinbarte Zugehörigkeit zu Russland. Ein ukrainisch-russisches Gemeinschaftsregime – ein CoImperium oder ein Kondominium – wäre eine Kopfgeburt, undenkbar wie auch eine Konföderation oder eine Internationalisierung der Krim. Alle weniger radikalen Varianten operieren, nach wiederhergestellter territorialer Unversehrtheit der Ukraine, mit Formen substanzieller Dezentralisation oder Autonomie. Das überrascht nicht. Immer wieder hatten Krimvertreter mehr interne Selbstbestimmung gefordert, mehrmals sogar versucht, eine reale Machtaufteilung eigenmächtig durchzusetzen. Aus ihrer Sicht haben die zentralen Organe der Ukraine nie ausreichend Staatsgewalt abgegeben. Für autonomiepolitische Gestaltungen gibt es Referenzfälle, der Baukasten ist gut bestückt. Die Regime für Grönland und Sansibar etwa sind trotz ihrer Unterschiede relevant. Die Selbstgestaltungsrechte der tansanischen Gewürzinsel sind bisher begrenzt. Demgegenüber lässt sich fast von „geteilter Staatlichkeit“ zwischen der riesigen Nordatlantikinsel und Kopenhagen sprechen, mit der EU als Mitspieler – ein Modell? Südtirol besitzt erweiterte Selbstständigkeit im Exekutivbereich, einschließlich wichtiger Legislativkompetenzen. „Passfähig“ dürfte auch die Kompetenzfülle der kanadischen Provinz Quebec sein. Die überwiegend von Personen schwedischer Abstammung bewohnten Åland-Inseln sind so autonom,

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dass sie aus der Rechtsordnung Finnlands praktisch herausgelöst sind. Wegen seiner ganz anderen Zweckbestimmung wäre das vor 90 Jahren in Kraft getretene Spitzbergen-Regime demgegenüber weit weniger relevant. Administrativ-territoriale Autonomie hat die Krim stets genossen. Neben finanzieller, wirtschaftlicher und kultureller Selbstverwaltung dürfte es künftig um eindrucksvollere Kompetenzen der Rechtsetzung und Rechtsprechung gehen. Im Endstadium liefe dies auf eine autonome nicht-souveräne Staatlichkeit hinaus. Der Teufel steckt freilich im Telos und im Detail. Nichts geht schnell in der Ukraine, gewiss. Dass autonome Gestaltungen bisher aber nicht vorankommen, hat primär einen anderen Grund: Derartige Gefüge könnten sich, je nach Gestimmtheit und Strategie, als bloße Zwischenschritte in Richtung Abspaltung erweisen. Sezessionistische Tendenzen gab es auf der Krim immer, vermehrt dann seit 1992. Und droht nicht etwa Tansania in zwei Teile zu zerfallen, in das primär christliche Festland und das überwiegend muslimische Sansibar? Die Stadt Sewastopol am Südwestrand der Krim, Marinestützpunkt mit vertraglich geregeltem Spezialstatus, wird sich die Ukraine – ich spekuliere – kaum „zurückholen“ können. Schon angesichts der russischen Mehrheitsbevölkerung der Krim, von der Schwarzmeerflotte als Instrument der strategischen Verbindung Russlands zum Mittelmeer und zum Nahen Osten ganz zu schweigen, hat Moskau hier gravierende Interessen. War „die Übernahme“ der Krim für Russland aber „überlebensnotwendig“ (F.A.Z.)? Die Sehnsuchtshalbinsel besitzt für Russen gewiss hohe emotionale Bedeutung. Aber damit war ihre Annexion so wenig ein Schritt der Selbstverteidigung wie es die aggressive Destabilisierung der Ostukraine ist. Auch im Völkerrecht heiligt der Zweck nicht die Mittel. Ließe sich für Sewastopol dereinst an das Modell Kaliningrad denken, an eine russische Exklave auf der ukrainischen Halbinsel? Dem Kreml ist das alles vertraut. Der Russischen Föderation gehören Dutzende gleichberechtigter Subjekte an. Den Republiken unter ihnen kommt eigene nicht-souveräne Staatlichkeit zu, ohne Austrittsrecht aus der Föderation. Könnten diese Strukturen beim Krim- und OstukraineKomplex anschlussfähig sein, nach einem Ende des verdeckten russischen Feldzuges? Was sagen jene normativen Strukturen aber aus über die real existierenden föderalen oder dezentralen Gestaltungsmöglichkeiten der

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Gliederungen? Wer wählt oder ernennt zum Beispiel die Gouverneure, wer kontrolliert sie, und wer beruft sie ab? Die ultimative russische Dauerforderung lautet „Verfassungsreform“, vor allem Föderalisierung der Ukraine! Im Euromajdan-Kontext wurde dies erstmals am 21. Februar 2014 verlangt, unmittelbar vor der überstürzten Flucht von Präsident Viktor Janukowitsch. Vielleicht schwebt dem Kreml vor – militärisch werden dafür derzeit „claims“ abgesteckt –, dass die beiden selbsternannten „Volksrepubliken“ dereinst als Gliedstaaten mit Sonderrechten in eine künftige „Bundesrepublik Ukraine“ eingepasst werden? Die Ukraine wiese dann womöglich ein Dutzend weiterer Bundesländer auf. Vielleicht, spekulieren manche, könnte auch die Krim als ein „besonders selbstständiger“ Gliedstaat reintegriert werden? Bisher verweigert sich die traditionell zentralstaatliche Ukraine jeglicher Föderalisierung. Sie sieht die Gefahr eines Auseinanderbrechens in mehrere auf Dauer von Moskau dominierte Teile einerseits und eine fragmentierte „Restukraine“ andererseits. Werden dereinst, fragt Kiew, gar „sezessionsberechtigte Völker“ im Donbass, dem derzeitigen Epizentrum des Konflikts, „entdeckt“ und damit letztlich die Einheit des Landes zerbrochen werden? Die bei dem demokratischen Aufbruch auf dem Majdan seit November 2013 in vier opferreichen Wintermonaten geborene „neue Ukraine“ versteht sich als „Bürgernation“ ohne markante ethnische, sprachliche oder religiöse Bruchlinien. Im Übrigen ist Verfassungspolitik kein Wunschkonzert hochgerüsteter Nachbarn. Über seinen inneren Aufbau entscheidet jeder Staat selbst, sei er wirtschaftlich, administrativ und militärisch noch so schlecht gerüstet. Dem Völkerrecht, fasse ich diesen sechsten Punkt zusammen, mangelt es nicht an Formen, Verfahren, Institutionen, Regimen. Ich erinnere an die Beispiele Quebec und Südtirol ebenso wie an Überlegungen, das Recht mit neuen, wirksameren Sanktionsinstrumenten durchzusetzen. Eine knappe Ressource bleibt indes die Bereitschaft der Völkerrechtssubjekte – eine Befindlichkeit –, die Instrumente effektiv einzusetzen. Dieser fehlende Wille zum Recht ist kein Versagen des Rechts, sondern der Politik, der angeblich kühl-logischen Realpolitik. Was ist, siebtens, die Perspektive? Die Flucht nach vorn, vielleicht sogar die Erwartung, den Konflikt „kurzer Hand“ militärisch zu beenden, hat sich als zermürbende Illusion erwiesen. Die Sicherheits- und Rechtsfragen des riesigen post-sowjetischen Raumes lassen sich nicht mit Gewalt lösen,

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zumal nicht dieser Konflikt zwischen den beiden flächenmäßig größten Staaten Europas. Experten, die das Geschehen in langfristiger, globaler Perspektive analysieren, rechnen mit einem strukturell abnehmenden Einfluss Moskaus – und Berlins –, und mit zunehmenden Gefahren aus der islamischen Welt. Kennern gilt das geopolitisch ambitionierte Russland als Fortschrittsverlierer, auch in der offensichtlichen Angst vor einem demokratisierenden „Majdan in Moskau“. Von imperialer Ebenbürtigkeit mit den USA oder mit China, heißt es, könne nicht die Rede sein. In Russland leben, um nur dies herauszugreifen, nur 143 Millionen Menschen. Von ihnen sind annähernd 30 Millionen keine ethnischen Russen. In manchen Regionen des Riesenreiches kommt auf einen Quadratkilometer kaum ein Hundertstel Mensch. Das wegen seiner territorialen Tiefe traditionell machtvolle, aber überbürokratisierte und strukturell unterentwickelte Russland laufe im globalen Zeitalter Gefahr, meinen Experten, dereinst von den USA totgerüstet oder von China aufgesogen zu werden. Müsste das Russland der veralteten Produktionsanlagen, der politisch instrumentalisierten Justiz und der massiv eingeschränkten Meinungsfreiheit sein Selbstschädigen nicht schon aus Eigeninteresse beenden? Müsste das überanstrengte, autoritäre Russland nicht zum Völkerrecht zurückkehren und das zerstörte internationale Vertrauen wieder aufbauen? Aber was nimmt der Kreml wahr, welches Kosten-Nutzen-Kalkül herrscht dort? Und die Ukraine? Sie wurde 1991, als sich die Sowjetunion auflöste, zum zweiten Mal vom Objekt zum Subjekt der Geschichte, erneut verdeutlicht nun im Zuge des Euromajdan. Die Ukraine will nicht wieder in den Sog imperialer Machtprojektion geraten. Sein dominierendes Interesse an einem regelorientierten internationalen System und an guter Regierungsführung muss Kiew freilich nachhaltiger als bisher unter Beweis stellen. Das gilt zumal bei der Bekämpfung der „inneren Feinde“: Korruption, oligarchischer Quasi-Feudalismus, lückenhaftes staatliches Gewaltmonopol. Was immer ihre Befindlichkeit ist – die Ukraine hat bei ihrer militärischen Verteidigung das humanitäre Völkerrecht einzuhalten: Waffen dürfen nur auf spezifisch militärische Ziele gerichtet werden. Auch Aggressionsopfer dürfen sich nicht über das Recht hinwegsetzen. Die ukrainischen Verfassungspolitiker müssen sich nachhaltiger als bisher über die skizzierten Dezentralisations-, Autonomie- und Föderalismusmodelle beugen. Neben der De-Okkupierung des Staatsgebietes ist

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eine lebendige ukrainische Zivilgesellschaft anzustreben, ein modernes multiethnisches, zweisprachiges Gemeinwesen. Dem könnte auch eine normativ kraftvollere Verfassung aufhelfen. Zu Recht hoffen UNO und OSZE auf eine Ukraine, die nicht Schlachtfeld, sondern Brücke ist zwischen einem modernisierten Russland und einem stützenden Westen. Schließlich der leichtgläubige, selbstgerechte, konfliktscheue Westen! Auch er hat Geopolitik betrieben, die Nato und die EU mit ihrer forcierten Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik ebenso wie die forschen USA. Selbstkritisch muss sich der Westen seiner eskalierenden Signale bewusst sein. Humanitäre, wirtschaftliche, finanzielle, administrative und demokratiepolitische Hilfe ist nun verstärkt zu leisten. Weiterhin darf der wirtschaftsmächtige, verwundbare Westen weder den Dialogfaden mit Moskau reißen noch Grenz- und Vertragsverletzungen durchgehen lassen. Mahnende Hinweise auf Völkerrechts- und Vertrauensbrüche reichen nicht aus. Angepasste, zupackende, freilich dann auch dem Westen schadende Sanktionsregime müssen das Rechtsbeharren bis auf weiteres begleiten. Die Grundsympathie für Russland, für seine Menschen und seine Kultur, die gerade in Deutschland traditionell verbreitet ist, darf nicht zu einem deutsch-russischen Sonderverhältnis auf Kosten des Rechts und der unmittelbar bedrohten osteuropäischen Staaten verklärt werden. Auch wenn sich eine vollständige Rückkehr zum status quo ante nicht erreichen lassen sollte, bleibt eine selbstbestimmte Ukraine an der Seite Russlands und des übrigen Europas das Ziel – außer „Frieden“ bedeutet Mir ja auch Welt. Vor zweitausend Jahren zeichnete Marc Aurel sein Bild einer Welt in Frieden: „Die Staaten werden sich zueinander verhalten wie die Häuser einer Stadt.“ Die Realisierung dieser Vision, unser aller Wunsch, ist die Mission des Völkerrechts und zumal Daniel Thürers, eines – um eine Formulierung des Statuts des Internationalen Gerichtshofs aufzugreifen – der weltweit „fähigsten Völkerrechtler“.

Demokratie und Europa

Hermann Brochs demokratie- und völkerbundtheoretische Schriften* Der Dichter und der Staat Man kann im Öffentlichen Recht Grundprobleme eine Zeitlang unbearbeitet liegen lassen – verschwunden sind sie damit nicht. Sie treten, wenn die Lage entsprechend ist, unwiderstehlich wieder in den Vordergrund. Zu diesen Kernfragen gehören im Verfassungsrecht die Legitimität der parlamentarischen Demokratie, der Zusammenhalt des Gemeinwesens sowie der Schutz der Verfassung. Das Verhältnis von nationaler Souveränität und übernationaler Integration, der zwischenstaatliche Schutz der Menschenrechte sowie der Ausbau der internationalen Gerichtsbarkeit sind Grundprobleme des Völkerrechts. Die Krise des Völkerbundes, das Ende der Weimarer Republik, das zeitweilige Zurückweichen der demokratischen vor den faschistischen Staaten, dann die Gründung der Vereinten Nationen, die Hoffnung auf eine Weltfriedensordnung – die 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts brachten Erschütterungen und Erwartungen mit sich, die diese Grundfragen des Staates und der Staatengemeinschaft nachdrücklich stellten. Intensiver als die meisten Rechtsdenker, die am „Welt-Alltag seiner Epoche“ teilhatten, nahm sich ein Dichter dieser Grundprobleme an: der 1951verstorbene Hermann Broch. Anders als bei Kafka, dessen Romane mit juristischen Begriffen und Bildern durchsetzt sind, erfolgte dies bei Broch weniger im schriftstellerischen Werk selbst als vor allem – darin Thomas Mann vergleichbar – in davon abgesetzten politischen (KW 11) und massenpsychologischen Studien (KW 12). In der „aufgewühlten Zeit“ (KW 11, S. 195) zwischen 1935 und 1950 glaubte Broch nicht „die Sünde der geistigen Arbeiter und Intellektuellen“ fortsetzen zu dürfen, „die Sünde des ivory tower und seine Verantwortungslosig* Aus: Hermann Broch, hrsg. von P. M. Lützeler, Frankfurt a. M. 1986, S. 289 – 307.

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keit“ (ebd., S. 233). Broch sah sich gezwungen, Politik zu wollen und zu betreiben. Die Schriften, mit denen Broch Beiträge zur „konstruktiven Politik“ (ebd., S. 24) bzw. zur „Psychologie der Politik“ (KW 12, S. 67) leistete, sind nach Fragestellung, Methode und Terminologie vielgestaltig und eigenständig. Ihre Zuordnung zu der einen oder anderen wissenschaftlichen Disziplin fällt schwer. Broch wollte nicht als Autodidakt in die einzelnen Fachwissenschaften eintreten, sondern hielt an seiner Rolle als Schriftsteller fest und bediente sich nach Belieben der Ergebnisse der verschiedenen Wissenschaftszweige. Indem er Dichtung als „Ungeduld der Erkenntnis“ (KW 4/2, S. 49) verstand, verband er bei seinen theoretischen Schriften dichterische und rationale Erkenntnis ebenso wie er gelegentlich wissenschaftliche Essays mit fiktional Erzähltem verschränkte, eine Vorgehensweise, die ihm im Denkerischen wie im Dichterischen einen Erkenntnisvorsprung sicherte. Richtet man unter Vernachlässigung der wissenschaftlichen Zuordnungsaufgabe das Augenmerk auf das für den Dichter und unsere Zeit Wesentliche, und beschränkt man sich zugleich auf das, was Gegenstand der Professionalisierung des Staats- und Völkerrechtslehrers ist, so kreiste Brochs politisches Denken um zwei Themen: um eine Theorie der Demokratie und um eine Theorie des Völkerbundes. Während die Studien zur „Staatstheorie der Demokratie“ im Frühjahr 1939 in das Propagieren einer „Totaldemokratie“ (KW 11, S. 24, 28) mündeten, verfasste Broch zwischen 1936 und 1950 völkerrechtstheoretische Studien, die Funktionsgewinne für den Völkerbund bzw. die Vereinten Nationen befürworteten und im Ergebnis auf eine Ideologisierung des Völkerrechts hinausliefen. Brochs politische Schriften fanden, soweit sie überhaupt einem größeren Personenkreis zugänglich gemacht wurden, weit weniger Resonanz als seine Romane. Zu Recht. Stärker als in diesen erweist sich der Dichter in jenen als bloßes Kind seiner Zeit, beeinflusst von Strömungen und Kategorien, deren Herkunft und Richtung, Realitätsgehalt und Konsequenz ihm wie den meisten Intellektuellen dieser wilden, unübersichtlichen Epoche nur undeutlich vor Augen standen. Brochs politisches Werk ist deshalb ein Paradigma des Scheiterns des Dichters im Staat.1 Bedenkt man indes 1 Zum Verhältnis von Dichter und Staat siehe auch das Gespräch zwischen Augustus und Vergil in Der Tod des Vergil, KW 4, S. 284 ff., 313 f. Es sei Pflicht der Dichtung, das Irrationale (Unheil wie Heil) aufzugreifen und sinnfällig zu

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die unendliche, wahrhaft opfervolle Mühe, die er auf sich genommen hat, um sich auf dem Weg „durch die Dingrealität“ und mittels „neuer Realitätserkenntnisse“ (ebd., S. 233) mit Theorie und Praxis des politischen Aufgabenkreises bekannt zu machen, so gewinnt sein Engagement für Demokratie und „Menschenrecht“ eine eigene Größe. Es wird zum Modell für Verantwortungsbereitschaft und Würde des Intellektuellen in „einer zerfallenden Welt“ (KW 10/2, S. 156). Wertzerfall und Parlamentarismuskritik „Herrn Professor Dr. Carl Schmitt / in Ergebenheit / Hermann Broch / Februar 1932“ – mit dieser handschriftlichen Widmung übermittelte der österreichische Dichter dem geistreichsten, wegen seiner „Wendung zum Führerstaat“ aber auch umstrittensten deutschen Staatsrechtslehrer seiner Zeit die Logik einer zerfallenden Welt (ebd.).2 Der hochabstrakt formulierte Essay konstatierte das Zersprengen des als bergend empfundenen – idealisierten – mittelalterlich-religiösen Wertgebäudes, das Auflösen des Gesamtsystems im Partialgebilde, die nun entfesselte Konkurrenz der autonom gewordenen Einzelwerte sowie wachsende Irrationalität bei gleichzeitiger Verwissenschaftlichung. Im Jahr 1933 führte Broch diesen Gedanken in einer kunstphilosophischen Studie fort (KW 9/2, S. 124): „der Zusammenbruch aller Werte (war Ausgangs des Weltkrieges) offenbar, die Angst um den Verlust aller Lebenswerte senkte sich auf die Menschheit, die bange Frage nach der Möglichkeit eines neuen Wertaufbaues wurde unabweisbar.“ Angesichts dieser Entwicklung sei die parlamentarische Demokratie, „verkleinertes Abbild dieser komplexen Wertvorgänge“ und ohnehin voller „technischer Mängel“ (KW 11, S. 42, 24), in eine Krise geraten, formulierte Broch, nun schon im amerikanischen Exil, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Krise der Demokratie sei „zugleich“ eine Krise „des Völkerbundes geworden“ (ebd., S. 196). machen (ebd., S. 22 f.). Augustus’ These: „Staat und Geist sind ein und dasselbe“ (ebd., S. 344), teilt der Dichter (der Äneis wie des Vergil) nicht. 2 Der Essay bildete den Anhang des von Frank Thiess herausgegebenen Buches Wiedergeburt der Liebe. Die unsichtbare Revolution, Berlin: 1931, S. 361 – 380. Er ging dann teilweise in den Hugenau-Teil der 1932 veröffentlichten Schlafwandler-Trilogie ein (KW 1, S. 418 ff.), war aber nicht mit dem fiktional Erzählten verschränkt, sondern eine eigenständige wissenschaftlich-theoretische Abhandlung.

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Der einflussreiche Intellektuelle mit dem Beruf des Staatsrechtslehrers, dem der Dichter 1932 sein Separatum über den Wertzerfall zuleitete, Carl Schmitt, warf sich nach der „Machtübernahme“ mehrere Jahre lang den neuen Machthabern in die Arme. Ein Jahrzehnt zuvor hatte dieser schillernde, bedeutende Jurist den 1918 erworbenen Parlamentarismus seiner Zeit einer geistesgeschichtlichen Ortsbestimmung unterzogen,3 die die positivistischen Bahnen der damaligen Staatsrechtslehre verließ. Die 1926 in 2. Auflage erschienene Schrift war eine an deutsche antiparlamentarische Tradition anknüpfende, radikale Kritik am Weimarer Parlamentarismus. Schmitts These lautete: Dem Parlamentarismus als einer Regierungsweise, die von der Vorstellung lebe, aus der öffentlichen Diskussion freier Repräsentanten ergebe sich zwangsläufig das Richtige und Gemeinwohl-Taugliche, fehle es an der realen Grundlage.4 Das parlamentarische Prinzip sei zu einer „leeren Formalität“ herabgesunken, „das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament“ erscheine als eine „künstliche Maschine“.5 In der Konsequenz dieser Kritik löste Schmitt die Demokratie vom Parlamentarismus ab – womit er beider Niedergang förderte – und suchte in einer Wendung zu autoritären Regierungsformen die legitime Staatsgewalt bei plebiszitär bestätigter Führung.6 Indem Broch (KW 11, S. 44) den Parlamentarismus mit „dem Problem der politischen Wahrheitsfindung durch Majorität“ identifizierte, blieb er hier im Banne der breitgefächerten zeitgenössischen Parlamentarismuskritik (Oswald Spengler, Othmar Spann usw.), insbesondere der Carl Schmitts. Der Dichter nahm beim Staatsrechtler, einem Stilisten hohen Ranges, gar sprachliche Anleihen, wenn er (ebd., S. 46) vor einer 3 In seiner Untersuchung Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München / Leipzig 1923. 4 Vgl. Friedrich Karl Fromme, Der Mann, der den lebenden Parlamentarismus sezierte. Carl Schmitt wird 85, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 7. 1973; Joseph W. Bendersky, Carl Schmitt. Theorist for the [Third] Reich, Princeton 1983, S. 64 ff.; Klaus von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, München 1970, S. 278 ff. 5 Die geistesgeschichtliche Lage, S. 10, 21. 6 Insbesondere beim Reichspräsidenten, dessen Kabinettsbildungsrecht und Notverordnungsgewalt Schmitt herausstrich, womit er einer am Ende verhängnisvollen Entwicklung interpretatorisch Flankenschutz gab: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt.“ Dazu Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied / Berlin 1964, S. 62 ff.

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Täuschung darüber warnte, „dass diese ins Gigantische angewachsene, demokratische Maschinerie sich weitgehend im luftleeren Raum bewegt, dass die professionelle parlamentarische Politik nur durch die sehr dünnen Wahlfäden und die etwas stärkeren Korruptionsfäden mit dem Volke verbunden ist“. Und so übernahm Broch auch das Verdikt: „Überlebtheit der parlamentarischen Maschinerie“ (ebd., S. 60). Brochs Position von der Sinnentleertheit des Parlamentarismus, einschließlich seiner Thematisierung der „korrupten Republik“, war stark zeitgeprägt. Die Politiker und die Parteien versagten damals, nicht das Parlament als solches. Intellektuelle mit elitärer Kritik an den glanzlosen Gehversuchen der Ersten Republik und mit frühzeitigen, permanenten Untergangsprognosen verschärften die Krise. Der Parlamentarismus musste nur dann als „überlebt“ angesehen werden, wenn man im Gefolge Carl Schmitts von falschen Prämissen ausging. Die „totalitäre Demokratie“ in ihrer Zeit Der Ausgangspunkt für Brochs parlamentsskeptische und demokratietheoretische Überlegungen war zweifellos ein anderer als der Schmitts: „Werttheorie“ dort, „Geistesgeschichte“ hier. Auch der Zielpunkt des Dichters (Verteidigung der „ewigen Prinzipien der Humanität, der Gerechtigkeit und der menschlichen Freiheit“, ebd., S. 25) war inhaltlich bestimmter und wertgebundener als der des „Dezisionisten“.7 In ihrer Diagnose, Terminologie und Therapie ähnelten sich die so unterschiedlichen Altersgenossen freilich in verblüffender Weise. So stellte Broch im Frühjahr 1939 fest: Die „modernen Diktatoren“ hätten die „tiefe Sehnsucht“ der „Massen“ erfasst, ein „neues Wertgebäude“ zu erhalten, „das eine sichtbare wertstiftende Spitze besitzt“. Sie hätten dieses Wertgebäude mit dem totalen Staat geschaffen, an dessen Spitze sie selbst in cäsarisch vergöttlichter Omnipotenz als Identifikationszentrum stünden (KW 11, S. 57). Angesichts dieser Lage könne die Demokratie nur überleben, „wenn sie ihr liberalistisches laissez-aller aufgibt und versucht, in ihrem eigenen Rahmen den von den Massen benötigten Halt zu errichten“ (ebd., S. 25). Dies aber 7 Vgl. Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958, S. 54 ff.; José María Beneyto, Politische Theologie als politische Theorie. Eine Untersuchung zur Rechts- und Staatstheorie Carl Schmitts und zu ihrer Wirkungsgeschichte in Spanien, Berlin 1983, S. 62 ff.

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könne sie lediglich als „totale“ oder „totalitäre Demokratie“ (ebd., S. 24, 26), als eine „Totaldemokratie“ (ebd., S. 28), die „zu dem notwendigen Umbau ihres technisch-parlamentarischen Apparates bis eben zur intensivsten Propaganda für ihre Humanitätsgrundprinzipien […] das gesamte Rüstzeug des Staates in Stellung zu bringen hat“, einschließlich der „Neuerrichtung eines regenerierten Völkerbundes“ (ebd., S. 29). Mit der Formel „Diktatur der Humanität durch eine totale Demokratie“ (ebd., S. 30) brachte Broch die ihm vorschwebende Ziel-Mittel-Relation auf den (verunglückten) Begriff. Der Dichter leitete diese weitreichenden Folgerungen und Forderungen primär aus seinem wertphilosophischen Credo und seiner massenpsychologischen Theorie (der „Massenmensch“ sei kreatürlich triebverhaftet und panikanfällig) ab, gewiss. Die missverständliche Martialität seiner Formeln („Humanitätsdiktatur“, „totalitäre Demokratie“, „Volksaufklärung“, „Demokratien im Kriegszustand“, „Totaldemokratie“) indes hing vor allem mit der deplorablen Lage der zentraleuropäischen Demokratien zusammen, einschließlich des schroffen Tones der damaligen wissenschaftlichen und publizistischen Auseinandersetzung. Vor diesem Hintergrund, einschließlich der Saalschlachten und Straßenkämpfe, erschließen sich Begriff und Eigenart der „Totaldemokratie“.8 Nicht um eine geschlossene, politisch totalitär disziplinierte Gesellschaft ging es Broch, sondern um eine Demokratie, die ihre humanistische Substanz nicht über ihrer Toleranz und ihrem Pluralismus preisgibt. Die Republik von Weimar war mit der außen- und innenpolitischen Hypothek der „Versailler Ungerechtigkeit“ (KW 11, S. 37) belastet, die ihr schwerste finanzielle Lasten und politische Diskriminierungen auferlegte. Die bürgerlich-liberale Verfassung sah sich von wachsendem politischem Radikalismus herausgefordert. Extremisten von rechts und links 8

Begriffsgeschichtlich: „Total“ bei Broch weist Verwandtschaft zum Begriff des „totalen Staates“ bei Carl Schmitt und Ernst Forsthoff (Die Verwaltung als Leistungsträger, 1938) auf. „Total“ ist nicht ohne weiteres mit „totalitär“ gleichzusetzen. „Total“ soll der Staat nicht im Sinne eines prinzipiellen Freiheitsverlustes für seine Bürger sein, sondern in dem Sinne, dass es eine eigene staatliche Wertordnung gibt, die der Staat, ausgestattet mit einem technologisch hochentwickelten Instrumentarium, zu schützen hat. Zusammenfassend Carl Schmitt, Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland, in: Europäische Revue 9 (1933), S. 65 ff. Auch die verstärkte staatliche Einflussnahme auf die Wirtschaft, zu der etwa Roosevelts New Deal Ansätze enthielt (die Broch begrüßte), gehört in diesen Kontext.

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diskreditierten Rechtsstaat, Demokratie und Parlamentarismus. Sie legten diese Errungenschaften schließlich lahm. Zunehmend verbreitet waren Hass auf die Aufklärung, Abkehr vom rationalen Individualismus der liberalen Gesellschaft, Widerstand gegen Utilitarismus und Materialismus, die Suche nach „organischen“ Welterklärungen. Bei den „Massen“ stellte Broch „Freiheits-“, „Demokratie-“ und „Sittlichkeitsekel“ (ebd., S. 57) fest. Der durch Wertrelativismus und -neutralität desorientierte, zunehmend angsterfüllte Bürger – Broch „agnoszierte“ eine „außerordentlich empfindliche, an Panik grenzende Labilität der Massenseele“ (ebd., S. 57) 9 – riefe immer lauter nach neuen Autoritäten und Ordnungen. Der Liberalismus, diagnostizierte seinerseits Schmitt, habe „den Feind von der Geschäftsseite her in einen Konkurrenten, von der Geistseite her in einen Diskussionsgegner aufzulösen versucht“.10 Schmitts Reduktion des Politischen auf ein „Freund-Feind-Verhältnis“ fand sich bei Broch in abgewandelter Form für die „Totaldemokratie“ wieder, die in ihrem ideologischen Kampf mit der Diktatur „das volle Verfügungsrecht über den gesamten Waffenbestand sowohl in physischer, wie in geistiger Beziehung für sich in Anspruch nehmen muss (da solches zu den ersten Erfordernissen eines Kriegszustandes gehört)“ (KW 11, S. 29). „Die Demokratien“ müssten endlich einsehen, dass sie „sich bereits im Kriegszustand befinden, dass ein Kriegszustand besondere Maßnahmen erfordert, und dass sie dafür […] die Wendung zur totalen Demokratie werden nehmen müssen“ (ebd., S. 66). Wogegen richtete sich diese „Wendung zur totalen Demokratie“? Was sollte die Aufgabe der „Totaldemokratie“ sein? Im Kern ging es Broch nicht um eine allgemeine Demokratietheorie, sondern um die Bekämpfung spezieller Schwächen der Republik von Weimar. Erst die Kenntnis

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Der Mensch in der Masse, erkenntnis- und entscheidungsunfähig, sei von der Angst befreit: „Ach, eingefügt in die Masse und in das Gefüge ihrer Bewegung gab es da nichts mehr zu entscheiden, und die Stimme, welche zur Entscheidung aufrufen wollte, löste sich nicht mehr aus dem Atem; die Stimme blieb blind!“, heißt es im Tod des Vergil (KW 4, S. 49). 10 Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 28 (zuerst 1927). Nach Schmitt, ebd., S. 67 „bewähren sich“ politisches Denken und politischer Instinkt „an der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird“.

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dieses situationsbedingten Anknüpfungspunktes gibt Brochs eigenwillig, ja verstiegen formulierter Demokratietheorie Konturen. Probleme der Änderung und des Schutzes der Verfassung In der liberalen Wertneutralität der Weimarer Verfassung, im Glauben, sich alle Möglichkeiten offen lassen zu können, lag für Broch die primäre Schwäche der Ersten Republik. Diese kam zunächst darin zum Ausdruck, dass einer Verfassungsänderung nach damals herrschender Lehre keine materielle Grenze, etwa im Bereich der „Humanitätsgrundprinzipien“ (ebd., S. 29), gezogen war. Die Republik hätte durch ein mit qualifizierter Mehrheit beschlossenes Gesetz „legal“ etwa in eine Monarchie umgewandelt werden können.11 In der radikal-demokratischen Deutung der herrschenden Lehre wurde die Verfassung „auf ein substanzloses Verfahren reduziert, in dem eine … Mehrheit alles erreichen konnte“,12 und zwar auch dann, wenn sie eine „Gangstermajorität“ war, wenn es also darum ging, „die Volksminorität durch eine Narrenmajorität zum Selbstmord“ zu zwingen (ebd., S. 45). Während Broch glaubte, niemand habe daran gedacht, „die Verfassung und damit auch die Minorität gegen die unausweichlichen Verfassungslücken zu schützen“ (ebd.), hatte Schmitt bereits 1928 die Lehre vom unantastbaren Kern der Verfassung aufgestellt.13 Nach Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 194914 sind derartige materiale Grenzen der Verfassungsänderung heute jedenfalls geltendes Recht. Unsere Demokratie ist insofern kein entscheidungs- und prinzipienloses „Zwittergebilde“ (ebd., S. 41). Die Weimarer Republik war – hier lag ihre zweite Schwäche – ziemlich wehrlos gegenüber ihren Gegnern. Die Verfassung, so wie sie von der 11

Anderer Ansicht Schmitt, Verfassungslehre, München / Leipzig 1928, S. 104. Ernst Friesenhahn, Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, in: Weimar, Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, hrsg. v. Karl Dietrich Erdmann und Hagen Schulze, Düsseldorf 1980, S. 81 ff. (93); Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 7: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart u. a. 1984, S. 1266 ff. 13 Verfassungslehre, S. 25 ff., 102 ff. 14 Art. 79 Abs. 3 GG wurde erst relativ spät in dieser fundamentalen Bedeutung erkannt. 12

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Mehrheit der Staatsrechtslehrer interpretiert und von der überwiegenden Staatspraxis gehandhabt wurde, gab ihren Feinden die Freiheit, die Freiheit zum Sturz der Verfassung zu missbrauchen. Broch (ebd., S. 66) sprach treffend von der „Irrsinnsantinomie einer Freiheit, die sich aus Freiheitsgründen selber aufheben lässt, einer Humanität, die sich aus Humanitätsgründen selber vernichten lassen will“. Der Staat sei demgegenüber „verpflichtet, Betätigungen, die sich gegen seinen Bestand richten, zu verbieten und, wenn nötig, schon im Keime zu ersticken“ (ebd., S. 202). Schmitt erklärte jene Haltung der Wehrlosigkeit mit dem „Legalitätssystem des Gesetzgebungsstaates“, mit dessen „wertneutral“ funktionierenden legalen Verfahren.15 Das Bonner Grundgesetz schlug nach der Lektion von Weimar mit den aus Art. 79 Abs. 3 GG zu rechtfertigenden Bestimmungen über das Verbot verfassungswidriger Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG) und Vereinen (Art. 9 Abs. 2 GG), über die Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) sowie mit der Forderung nach Verfassungstreue der Beamten bewusst den Weg zur verteidigungsbereiten Demokratie16 ein: keine Freiheit zur Beseitigung der Freiheit. Probleme der Integration des Gemeinwesens Eine zentrale Schwäche der Weimarer Republik war das vorherrschende politische Klima, das der parlamentarischen Demokratie zunehmend feindlich gesonnen war. Es fehlte an der Integration des republikanischen Gemeinwesens, an seiner zureichenden Fundierung in Herz und Verstand der Bürger. Die Deutschen – teils monarchischer Tradition nachtrauernd, teils durch NSDAP oder KPD radikalisiert – identifizierten sich in ihrer Mehrheit schließlich nicht mehr mit dem Staat in dieser Verfassung. Es fehlte an „Staatspflege“. In ihrer Angst, mit der Monarchie verglichen zu werden, verzichtete die Republik auf nahezu jegliche Selbstdarstellung. Die Notwendigkeit legitimationsfördernder Werbung für die Republik 15

Legalität und Legitimität, München / Leipzig 1932, S. 14 f. Vgl. Andreas Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, Baden-Baden 1982, S. 93 ff. Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 39 (1976), S. 334 ff.: Das Grundgesetz habe „die Bundesrepublik Deutschland aus der bitteren Erfahrung mit dem Schicksal der Weimarer Demokratie als eine streitbare, wehrhafte Demokratie konstituiert“. Diese Rechtsprechung wird auch vom Bundesverwaltungsgericht fortgeführt, vgl. Urt. v. 10. 5. 1984, in: Neue Juristische Wochenschrift 1985, S. 503 ff. 16

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wurde kaum erkannt. Zudem schieden die Grundrechte als Element der politischen Erziehung und Gemeinsamkeitsstiftung und der damit verbundenen Aneignung und Legitimierung der Verfassung weitgehend aus.17 Zu gering war nach Ansicht der führenden Kommentatoren die rechtliche Bedeutung des (Zweiten) Teils der Verfassung über „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“. Nicht einmal dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 109 Abs. 1 WRV) wurde eine den Gesetzgeber bindende Wirkung zuerkannt. Unter dem Grundgesetz wurden die Grundrechte, mittlerweile von einer umfassenden, selbstbewussten Gerichtsbarkeit geschützt, dagegen „zu einer legitimierenden und konsensbegründenden Grundlage der Staatlichkeit“.18 Gegenüber dieser „freien Zustimmung einer möglichst großen Zahl von Bürgern, auf deren Gewinnung und Erhaltung es stets von neuem ankommt“,19 wollte sich Broch offenbar mit einem „Gesetz zum Schutze der Menschenwürde“ begnügen sowie mit humanitäts-, also demokratiebejahender „Propaganda“, einschließlich „einer Abriegelung der staatsgefährdenden Gegenpropaganda“ (KW 11, S. 27 f.). Hier wurde der Dichter Opfer seines Eindrucks von Massenjubel und intensiver Massenführung im „Dritten Reich“. Eine „Totaldemokratie“ verlange, erklärte Broch, „durchaus nach dem Muster der Diktaturen, nach dem Aufbau einer zentral geleiteten, mit allen Mitteln der Presse, des Radios und des Films arbeitenden propagandistischen Volksaufklärung (ebd., S. 28). Die „Masse“ sei durch ein „mit Neuheitsreiz ausgestattetes Bild“ verführbar, „vor allem dann, wenn es mit dem Bilde eines bekämpfbaren Feindes verbunden ist und hierdurch eine Aggressionsbefriedigung versprochen wird“ (ebd.). Man habe, heißt es 1945 im Tod des Vergil (KW 4, S. 343), „blinde Riesenmassen“ vor sich, „und diese folgen urteilslos einem jeden, der es versteht, sich in dem schillernd verführerischen Gewand der Freiheit aufzuspielen und solcherart mit grüblerisch geschicktem Faltenwurf zu vertuschen, wie arg es aus überlebten und nichtssagenden Formelfetzen zusammengestückt und zusammengeflickt ist“. Aufgabe des Staates sei es, „den Men17 Vgl. demgegenüber für die Bundesrepublik Deutschland Rudolf Smend, Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 26. Januar 1962, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 581 ff., 586 ff. 18 Konrad Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 1978, S. 427 ff., 438. 19 Ebd.

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schen wieder jene leibliche und seelische Sicherheit zu bieten, welche sie verloren haben“ (KW 11, S. 344). Hier öffnet sich der Kreis zu Brochs Völkerbund- und Menschenrechtsstudien (ebd., S. 195 ff., 233 ff., 243 ff.). Der „Wertzerfall“ führte zur „massenpsychischen Labilität“ (ebd., S. 25), zu einer „Hoffnung auf Halt“, die der „überlebte“ Parlamentarismus nicht befriedigen könne.20 Die zum Schutz der Humanität weiterhin unentbehrlichen Demokratien müssten „total“ werden, oder sie müssten „zerfallen“ (ebd., S. 63). Praktisch verlange dies nach einem „Gesetz zum Schutz der Grundprinzipien des Staates“. Aus „diesem Hauptgesetz ergäben sich die übrigen Gesetze zum Schutze der demokratischen Einrichtungen“ und der menschlichen Würde, flankiert von einer „Propaganda der Humanität“ (ebd., S. 65).21 Angesichts des „sehr innigen Zusammenhangs“ von „Friede und Menschenwürde“ (ebd., S. 198) bedürfe es auch einer „propagandistischen“ Stärkung des Völkerbundes (ebd., S. 229). Brochs diesbezügliche, im Jahre 1936 intensiv aufgenommene Arbeiten, die nach dem Weltkrieg in die Forderung nach „Errichtung einer einheitlichen Weltdemokratie“ mündeten (ebd., S. 247), erschienen ihm „als ein Beweis für die praktische Anwendbarkeit seiner Werttheorie“ (ebd., S. 237). Völkerbund und Weltdemokratie Eine „ethische Minimalbasis“ (ebd., S. 235), ein gemeinsames rechtliches Ordnungsprinzip, eine substanzielle Homogenität besaß der Völkerbund, auf dessen Erneuerungskraft Broch so weitgespannte Hoffnungen setzte, nicht. Ebenso wenig lag dem Völkerrecht der Zwischenkriegsepoche eine „allgemein verbindliche Wertordnung zugrunde“.22 Der Mythos der nationalen Idee war noch ähnlich ungebrochen wie der Fetisch der staatlichen Souveränität. Mochten Theoretiker des Völkerbundrechts 20 Ausgangs des Ersten Weltkrieges hatte Broch im österreichischen Kontext gar mit einem „demokratischen Rätesystem“ (KW 11, S. 11) sympathisiert. Vgl. Paul Michael Lützeler, Hermann Broch – Ethik und Politik, München 1973, S. 51 – 59. 21 Hier wirkt sich Brochs psychologisierende Betrachtungsweise negativ aus, da sie nur einen schmalen Ausschnitt der Gesamtproblematik der Integration des Gemeinwesens zu erfassen vermag. Zu weit hat er sich zudem auch hier in die Begrifflichkeit und tagespolitische Argumentation des Gegners eingelassen. 22 Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 686 ff.

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eine allgemeine Interventionskompetenz des Bundes zum Schutze von individuellem Leben und Eigentum entwickeln, ja eine quasi-föderale Weltordnung konstruieren,23 mochten menschenrechtliche Forderungen die überkommene Undurchdringlichkeit der souveränen Staaten durchlöchern – die wesentlichen Schritte, auch im Bereich der Rechtsprechung (Schiedsgerichtsbarkeit, Ständiger Internationaler Gerichtshof ), blieben nach wie vor „der Entscheidung und der Aktion der Staaten vorbehalten“.24 Wie andere Intellektuelle seiner Zeit weigerte sich Broch, diesen Befund hinzunehmen. Statt sich mit den Funktionsbedingungen internationaler Organisationen in einer zerklüfteten, von tiefen ideologischen, materiellen und machtpolitischen Gegensätzen zerrissenen Staatenwelt und den faktischen Voraussetzungen für eine Verbesserung dieser Situation zu befassen, erhob Broch immer höher gegriffene normative Forderungen. Gegenüber dem machtstaatlichen Handeln rückte er den Gedanken der Humanität in den Vordergrund, auch in seinen internationalen Ordnungsvorstellungen. So wies Broch dem Völkerbund bzw. einem „neuen Völkerbund“ (ebd., S. 235) die zentrale Stellung bei der Errichtung einer neuen, humanitätsfreundlichen Staatengemeinschaft zu. In „Fragen, welche die menschliche Würde berühren“, solle es für den Völkerbund „keine innerstaatliche Autonomie“ (ebd., S. 199), „keine ,reine Souveränität‘ mehr geben“ (ebd., S. 236). Jeder Staatsmann solle bei Zuwiderhandeln gegen die „akzeptierten Grundprinzipien“ als „,Verbrecher‘ an der Menschenwürde vom Bund strafverfolgt werden“ (ebd.). Wenn Broch schließlich verlangte: Die „Mitgliedstaaten geben demnach gewisse Souveränitätsteile, zu denen nicht zuletzt auch das Rüstungsrecht gehört, an den Bund ab“ (ebd.), überspannte er den Gedanken der Befriedung der Staatengemeinschaft so stark, dass dieser ins Utopische umschlug. Das galt erst recht von Brochs Wunsch nach einem Weltzustand, „in welchem ein wirklicher Bund der Völker kraft der in ihm vereinigten Exekutivgewalt und 23

Ebd., S. 699 ff., 711 ff. Ulrich Scheuner, Naturrechtliche Strömungen im heutigen Völkerrecht, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 13 (I950), S. 556 ff. (614). – Italiens Krieg zur Eroberung Abessiniens (1935/36) enthüllte die effektive Schwäche des Völkerbundsystems (dem Japan und Deutschland bereits 1933 den Rücken gekehrt hatten), die ein äußerer Anlass für Brochs „völkerbundstärkende“ Schriften war. 24

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Herrschaftsbefugnis als ein wahrer primus inter pares, ausgestattet mit sämtlichen Hoheitsrechten einer Großmacht, berufen sein wird, die Geschicke des zivilisierten Erdkreises zu lenken“ (ebd., S. 208). In dem kurzen weltgeschichtlichen Augenblick zwischen 1945 (Ende des Zweiten Weltkriegs, Gründung der Vereinten Nationen) und 1947/ 48 (endgültiger Bruch der Kriegskoalition, Beginn des Kalten Krieges) mochten die Chancen für den Bau einer humanen Welt etwas weniger klein gewesen sein als in jener nationalstaatsbestimmten Zwischenkriegszeit. Es war jedenfalls die hohe Zeit internationalistischer Entwürfe.25 Broch beteiligte sich an diesen Visionen einer „one world“. Angesichts der „Souveränitätsempfindlichkeit“ der Staaten (ebd., S. 247) stellte er seine Vorschläge nun „mit aller Bewusstheit auf utopischen Boden“ (ebd., S. 245). Er dachte an „die Errichtung einer einheitlichen Weltdemokratie“ und „ein internationales Strafgesetz, in dem eine neue Weltmoral ihren kodifizierten Ausdruck finden“ würde (ebd., S. 247). Außerdem zielte er auf die „Installierung eines zweckmäßigen Schiedsgerichtsverfahrens“, einschließlich eines effektiven Enforcements der Schiedssprüche (ebd., S. 251 f.). Anklagen wegen „Verbrechens gegen die Menschenwürde“ sollten „unmittelbar beim oder vom Internationalen Gerichtshof erhoben werden“ können (ebd., S. 263).26 Gewiss im Bereich des Individualschutzes (Garantie der Menschenrechte, Schutz gegen Diskriminierung) wurden in der Nachkriegszeit gewisse Fortschritte gemacht.27 Rechtsfragen der Beziehungen zwischen ein25 Vgl. etwa Ist eine Weltregierung möglich? Vorentwurf einer Weltverfassung, vorgeschlagen und unterzeichnet von Robert M. Hutchins u. a., Frankfurt I951. Es handelt sich hierbei um die deutsche Fassung des Entwurfs einer Weltverfassung, der in den USA privat erarbeitet worden war. Zu den Autoren gehörte u. a. Erich Kahler. Wenn es in jenem Entwurf heißt: „Die vier Elemente des Lebens: Erde, Wasser, Luft und Energie, werden zu Gemeineigentum des Menschengeschlechts erklärt“, dann klingen hier weltplanwirtschaftliche und weltsozialpolitische Vorstellungen an, die in der UNO-Formel vom Mond und Tiefseeboden als „gemeinsamem Erbe der Menschheit“ erneute Aktualität erlangten. Vgl. Paul Michael Lützeler, The City of Man. Ein Demokratiebuch amerikanischer und emigrierter europäischer Intellektueller, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 2 (1984), S. 299 – 309. 26 Die Hoffnungen und Erwartungen, die auch Broch auf die Internationalen Militärtribunale von Nürnberg und Tokyo setzte, erwiesen sich als weitgehend illusionär. Zugespitzt Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 777 f. 27 Die UN-Charta spricht an 7 Stellen vom Schutz der Menschenrechte. 1948 nahm die UN-Vollversammlung die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“

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zelnen Bürgern und ihrer Staatsgewalt (traditionell Gegenstände des domaine réservé) wurden Gegenstand völkerrechtlicher Schutzbestimmungen und Gewährleistungen. Aber ein gemeinsames geistiges Band verknüpft die Nationen bis heute nicht. Auf ein Fundament allgemein anerkannter sittlicher Normen und Werte kann sich die Völkerrechtsgemeinschaft, trotz hochgegriffener Formeln in der UN-Charta,28 nach wie vor nicht stützen. Menschenrechte, politische Grundfreiheiten, Rechte auf Selbstregierung und nationale Selbstbestimmung sind in freiheitlichen und totalitären, reichen und armen, starken und schwachen Staaten nicht dasselbe. Eine Theorie, die eine world public order der human dignity verficht, läuft auf eine Ideologisierung des Völkerrechts hinaus und stellt daher „die Möglichkeit eines universalen Völkerrechts in Frage“.29 Brochs internationalistische Vorschläge hätten vielleicht eine humanitäre Weltgesellschaft von Gebildeten und eine Völkerrechtsordnung, die sich wenigstens auf ein Mindestmaß struktureller Homogenität ihrer Glieder stützen kann, prägen können – die „wirkliche Welt“ erreichten sie nie. Der Dichter kannte nur das Reich der Freiheit, nicht das der Notwendigkeit. Mit den Verbindungen zwischen beiden, dem entscheidenden Aspekt, befasste er sich nicht. Er überspannte den Weltorganisations- und Humanitätsgedanken so stark, dass seine frohe Botschaft keine Wirksamkeit erreichen konnte. Broch sah nicht, dass kein Weltkonzept tauglich ist, bei dem zwischen den verschiedenen Grundvorstellungen, die sich nicht an. Sie wurde 1966 ergänzt durch zwei Menschenrechtspakte. Die Bestimmungen beider Pakte sind allerdings mit vielen Ausnahmen, Vorbehalten und Ermessensklauseln versehen. Ihre Kontrollmechanismen sind rudimentär. Um eine Art institutionalisierte Humanitätsintervention handelt es sich dabei nicht. 28 So spricht ihre Präambel vom „Glauben an grundlegende Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, an gleiches Recht der großen und kleinen Nationen“, von Gerechtigkeit und Achtung der Verträge, von sozialem Fortschritt, von Toleranz, guter Nachbarschaft, Gewaltverzicht und internationaler Zusammenarbeit. 29 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 759 (gegen die Theorie des einflussreichen Hauptes der New Haven-Schule des Völkerrechts, Myres S. McDougal). Grewe (ebd.) summiert treffend, die universale Völkerrechtsordnung sei „durch den ideologischen Zwiespalt und die machtpolitische Teilung der Welt in gegensätzliche Lager geschwächt“, sie sei „labil und einer Intensivierung nicht zugänglich“ und „die zunehmende Universalität (sei) mit einer Reduzierung des Inhalts der von allen Teilnehmern anerkannten Regeln des Völkerrechts erkauft worden“.

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auf einen Nenner bringen lassen, eine Entscheidung getroffen werden müsste. Zeitgebundenheit und Überzeitlichkeit der „Politischen Schriften“ Brochs demokratie- und völkerbundtheoretische Schriften sind auf bestimmte politische Lagen hin verfasst. Der Dichter suchte nach Erklärungen und Theorien für konkrete Situationen. Das ist so bei vielen politischen Schriftstellern. Ihre Erkenntnisse sind oft viel zeit- und situationsbezogener als spätere Kanonisierungen erkennen lassen: „auch das Denken trägt den Stil seiner Epoche“ (KW 10/2, S. 164). Broch verfasste seine politischen Schriften zudem nicht in einer Normallage, sondern in der speziellen Situation der Agonie des „grundsatzlosen“ Völkerbundes und der ihre eigenen Grundsätze zur Disposition stellenden Weimarer Republik, außerdem in der Ausnahmelage des Zweiten Weltkriegs und der kurzen Phase moralischer Euphorie während der frühen Nachkriegszeit. Diese Situationsgebundenheit ist in Brochs politischem Werk deutlich zu erkennen. Brochs „Politische Schriften“ behandeln nationale und internationale Themen. In letzterem Bereich erweist sich der Universalist als Anhänger der alten Völkerbund- und der neuen UNO-Ideologie. Er ist hier von bedrückender Weltfremdheit, starkem Idealismus und radikalem Moralismus. Brochs Weltdemokratiepostulat ist vom Zeitgeist zu tief eingefärbt, als dass es überzeitlich wirken könnte.30 Die Frage etwa, ob das innerstaatliche demokratische Legitimationsprinzip – schematisch auf die internationalen Beziehungen angewandt – die Völkerrechtsgemeinschaft nicht eher gefährdet als stabilisiert, hat sich Broch offenbar ebenso wenig gestellt wie die Frage nach der Verallgemeinerungsfähigkeit des abendländischen Menschenbildes. 30 Ein Beispiel für die Änderungen im Realen: Während die UNO 1945 nur 51 Gründungsmitglieder aufwies, gehören ihr zur Zeit 160 Staaten an; hinzukommen etwa 15 sonstige Staaten. Diese Entwicklung geht vor allem auf den Prozess der Entkolonialisierung zurück. Der damit verbundene zwischenstaatliche Verkehr hat auch zu zahlreichen neuen rechtlichen Verfahren und Institutionen geführt, die dem früheren Völkerrecht weitgehend fehlten. Es kam zudem zu politisch-psychologischen (z. B. Entstehung einer kommunikativen Weltgesellschaft) und wirtschaftspolitischen Entwicklungen (z. B. Nord-Süd-Konflikt), die Broch noch verborgen waren.

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Im innerstaatlichen Bereich gelingen dem Dichter dagegen über seine Zeit hinausreichende Aussagen. Broch hat hier die weitverbreiteten Demokratie- und Parlamentarismuszweifel seiner Epoche aufgegriffen und als überzeugter, engagierter Demokrat „umgeschrieben“. Er ist dabei zu einer eigenständigen materialen Demokratietheorie vorgedrungen. Die Gefahr einer Preisgabe des substanziellen Inhalts der Demokratie findet sich bei ihm weitsichtig erkannt und bekämpft. Von der kernlos gewordenen politischen Mitte wendet er sich weder nach links noch nach rechts. Er erliegt weder der autoritär-totalitären noch der pazifistischen, weder der kollektivistischen noch der antirationalistischen Versuchung. Broch will vielmehr der demokratischen Mitte wieder Halt geben: mit dem „regulativen Prinzip“ der Menschenwürde. Er propagiert eine streitbare, sich am Schutz der Menschenwürde und damit an der Effektuierung der Grundund Freiheitsrechte legitimierende Demokratie. In Auseinandersetzung mit dem Schicksal der freiheitlichen Demokratien seiner Zeit wurde Broch zum zeitüberdauernd gültigen Denker wertund wehrhafter demokratischer Ordnung. Er erfüllte damit zugleich die Aufgabe des Denkers wie des Dichters: „der Begriff des Menschen, die Würde des Menschen ist das letzte Ziel, dem alles philosophische Denken, dem alles dichterische Schauen, kurzum dem jedes ethische Tun zuzustreben hat.“31

31 Hermann Broch, Pamphlet gegen die Hochschätzung des Menschen, in: Philosophische Schriften I: Kritik (KW 10/1, S. 34).

Kultureller Sonderfall. Die Türkei in Europa* Am 16. Dezember 1999 gab Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag eine europapolitische Regierungserklärung ab. Die vom damaligen Oppositionsführer Wolfgang Schäuble polemisch zugespitzte und sogleich reflexhaft verneinte Frage nach der „Zugehörigkeit Anatoliens zu Europa“ beantwortete er nicht. Der Kanzler beschränkte sich auf einen Bericht über Weichenstellungen beim Europäischen Rat (ER) in Helsinki. Für die vielen unter uns lebenden Menschen türkischer Herkunft sei es entscheidend zu wissen, ob das Land ihrer Väter auf eine demokratische Zukunft als Teil Europas hoffen darf. Eine solche Perspektive [betrifft] die Zukunft [auch] unserer Demokratie. Durch die Verleihung des Kandidatenstatus [seitens des ER vom 10./11. Dezember 1999] 1 wird […] klargestellt: Die Türkei wird nicht diskriminiert. [Vor ihr liegt] ein langer, auch beschwerlicher Weg. [Mit dem neuen Status ist] kein Automatismus […] verbunden. Über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen wird erst und nur dann zu reden sein, wenn das Land die politischen Kriterien für eine Mitgliedschaft […] samt und sonders erfüllt […]. Unsere 14 Partner in der Europäischen Union [EU] und mit ihnen die Bundesregierung sowie eine klare Mehrheit in diesem Land [Deutschland] begreifen die EU eben nicht als Club des christlichen Abendlandes, sondern als eine Wertegemeinschaft, die auf der Achtung des Rechts, der Demokratie, der Toleranz, der Humanität und der Solidarität gründet.2 Eine Türkei, die sich zu diesen Grundsät*

Aus: Konfliktherd Toleranz?, hrsg. von M. Kessler u. a., Tübingen 2002, S. 193 – 214. 1 Die Schlussfolgerungen des ER-Vorsitzes am 19./20. 6. 2000 in Feira (Portugal) bekräftigten dies. Der ER nehme „die Initiativen zur Kenntnis, die [die Türkei] ergreift, um die Beitrittskriterien zu erfüllen. Im Einklang mit den Schlussfolgerungen von Helsinki erwartet der ER konkrete Fortschritte v. a. in Fragen der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und des Gerichtssystems“, Internationale Politik 55 (2000), S. 118. 2 1993, auf dem Gipfel in Kopenhagen, hatte der ER die Kriterien für einen Beitritt der mittel-und osteuropäischen Länder (MOEL) formuliert. Sobald ein Land in der Lage sei, die Bedingungen zu erfüllen (insbes. den erreichten ge-

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zen nicht nur bekennt, sondern sie auch real anwendet, wird […] willkommen sein. Einen Ausschluss […] aus religiösen Gründen gibt es nicht. […] Europa hat ein eigenes Interesse daran, dass [die Türkei] nicht in einen islamischen Fundamentalismus abrutscht.3

I. Diverse Diskurse, doppelte Identitätsfrage Wie lässt sich das damit angeschnittene Thema „Die Türkei in Europa“ im Kontext der übergreifenden Frage „Konfliktherd Toleranz“ erörtern? Über Ankara als „kulturellen Sonderfall“, über einen EU-Beitritt der Türkei gar als – wie behauptet wird – „Anschlag auf die Identität Europas“ lassen sich so viele Diskurse führen, wie sich wissenschaftliche Disziplinen daran beteiligen: Diskurse aus juristischer, ethnologischer, soziologischer, philologischer, aus historischer, theologischer, geografischer, strategischer oder ökonomischer Sicht. Der Bundeskanzler benannte bereits Schlüsselbegriffe: „christliches Abendland“, „islamischer Fundamentalismus“, „Wertegemeinschaft“.4 meinschaftlichen Bestand [den acquis] zu übernehmen), könne sein Beitritt erfolgen. Erforderlich sei institutionelle Stabilität als Garantie für die demokratische, rechtsstaatliche Ordnung; der Kandidat müsse die Wahrung der Menschenrechte sowie den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben (politisches Kriterium) und über eine funktionsfähige Marktwirtschaft verfügen, verbunden mit der Fähigkeit, dem EU-internen Wettbewerbsdruck standzuhalten (wirtschaftliches Kriterium). 3 Davon rückt auch der Post-Nizza-Prozess bisher nicht ab: kein „Rabatt“. Das halbherzige am 19. 3. 2001 vorgelegte „Nationale Programm für die Annahme des Besitzstandes der EU“ genügt den EU-Standards nicht. Niemand erwartet die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU vor 2004. Bereits jetzt kommt der Türkei im Rahmen des EU-Erweiterungskonzepts eine finanzwirksame Heranführungsstrategie, Beitrittspartnerschaft genannt, zugute. Zudem wird in jenem „Nationalen Programm“ immerhin festgehalten, dass die Türkei die gleichen Werte mit Europa teile. 4 Die in Nizza (Dezember 2000) beschlossene Charta der Grundrechte der EU, die auch durch die EMRK geprägt sind, stellt u. a. eine Selbstvergewisserung über diese Werte dar, einschließlich des Versuchs, die Ökonomie, die zur europäischen Hauptsache zu werden drohte, mit einer sozial-humanistischen Verfassungsidee zu relativieren, insbesondere die freiheitlichen Fundamente Europas zu verdeutlichen. Aus dieser Perspektive soll die nicht rechtsverbindliche, die Judikatur des EuGH künftig (nämlich als Bekräftigung eines auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 EUV gewonnenen Ergebnisses) aber gewiss beeinflussende Charta zum Baustein eines europäischen Verfassungsvertrages werden.

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Vor dem Horizont des islamischen Antilaizismus, der kurdischen und alevitischen Frage, der überkommenen Sozialstrukturen und der Militarisierung der Türkei zielen diese Stichworte – erstens – auf die Frage nach unserer Zukunft, nach dem Kulturbewusstsein, dem Integrationswillen und dem kollektiven Selbstverständnis der Deutschen.5 Pluralismus und Toleranz, Liberalität und Internationalität beweisen sich nicht durch Missachtung des Eigenen oder den Verzicht auf Bindung an die heimische, überwiegend abendländische Kultur6 – mögen unserem Land auch viele Sinndeutungen, Symbole und Rituale, die über den Tag hinausweisen, abhandengekommen sein.7

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Dazu gehören die deutsche Sprache (auch als Demokratie- und Rechtsstaatsvoraussetzung), die Freiheit der Meinungsäußerung und Lebensgestaltung, das geistige Erbe deutscher Dichter und Philosophen, die Gleichheit der Geschlechter und die Gleichheit vor dem Gesetz, der hohe Rang von Ehe und Familie, der Schutz des Eigentums, die politische Mitbestimmung, die Leistungsorientierung, die Erinnerung an die deutsche Geschichte sowie die Bereitschaft, aus ihr Lehren zu ziehen. 6 Der postkoloniale Kontext betont statt Diversität des Nebeneinanders die Differenz des Sichausschließenden, Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Die von Europäern gestellte Frage nach ihren Wurzeln, nach ihrer eigenen Kultur ist auch als Reaktion auf Prozesse der Amerikanisierung und Globalisierung, einschließlich der Herausforderung durch nicht-judäochristliche Weltreligionen zu verstehen. Nur ein Europa, das sich seiner Maßstäbe gewiss ist, kann offen sein für andere Lebensweisen, ohne zum Spielball unterschiedlicher Normen zu werden. In diesem Freilegen und Vorweisen eines Teils der eigenen Identität liegt die Bedeutung der Grundrechte-Charta der EU. Die Überzeugung, dass „der Schlüssel zum Europa von heute seine Kultur ist“ – Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, Baden-Baden 1999 –, bekräftigt die Gewissheit: „Eine Union, die nicht mehr durchgängig auf einem gemeinsamen kulturellen Erbe und kultureller Identität ruht, würde zum reinen Zweckverband degenerieren“ (Günter Hirsch). Die Kultur ist unser Schicksal. 7 Auch vor dem Horizont von Europäisierung und Globalisierung ist die Frage nach der nationalen Identität nicht überholt. Eine Antwort, die über den Rechtsrahmen hinausreichen und etwa mit Begriffen der „Leit-“ oder „Nationalkultur“ arbeiten will, stößt im vielgestaltigen Deutschland freilich schnell an Grenzen – oder bleibt das banale Echo modischer Phrasen. Selbst der Zentralstaat Frankreich sieht sich mittlerweile als „République plurielle“. Die EU-Grundrechtecharta beschränkt sich auf überkommene Verfassungswerte. Bereits ihre nüchterne Präambel, zumal das (umstrittene) Absehen von einer invocatio dei, hängt Identitäts- und Kulturaspekte niedrig. Mauern gegen Diversität der Kulturen oder Multikulturalismus errichtet die Charta nicht.

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Die Themenfrage bezieht sich – zweitens – auf die Integrationsidee und das Selbstverständnis Europas. Bewertet man einige der in den europäischtürkischen Unterschieden liegenden Probleme als Sprengsätze, müsste ein EU-Beitritt der Türkei zu einem Identitätskonflikt Europas führen. So oder so kann man sich jedenfalls nicht mit der Feststellung begnügen, dass wir etwa gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 im Ansatz doch alle „gemeinsame Werte“ haben. Die Frage „Europa oder kultureller Sonderfall“ stellt sich – drittens – aus der Perspektive der Türkei.8 Seit wann, wieso eigentlich und wie „nachhaltig“ sehen „die“ Türken (gewiss eine unzulässige Kollektivschablone nicht anders als „die“ Deutschen oder „die“ Europäer) ihre Zukunft in Europa? Warum nicht z. B. in einem nahöstlichen Staatenbund, in einer islamisch geprägten ostmediterranen Allianz, die über Syrien und Jordanien bis einschließlich Ägypten reichen könnte? Auch in einem Verbund mit den von Turkvölkern besiedelten Ländern um das Schwarze und das Kaspische Meer würde die in manchem noch ganz vormoderne Türkei Elemente ihrer politischen, sozioökonomischen und kulturellen9 Besonderheit besser wahren können als im postmodernen, kulturrelativistischen, aufklärerischen und säkularen, ethnisch und ethisch aufgesplitterten EU-Europa.10 Baku und Bagdad liegen dem Bosporus näher als Barcelona, Brüssel oder gar Belfast.11 8 Nachfolgend ist primär von Türkei/EU die Rede. Den Kern des Problems bildet freilich das Verhältnis Islam/Europa. Insofern sind Erfahrungen anderer Länder einzubeziehen. Sind nicht gegenwärtig ähnlich viele Muslime (z. B. Pakistanis) in Großbritannien wie in Deutschland? Historisch gesehen (16.–18. Jahrhundert) hatten die Engländer weltweit besonders wichtige „osmanische“ Begegnungen. Aktueller sind die Beziehungen Frankreich/Nordafrika, Italien/Albanien. Kulturwissenschaftliche Aspekte bei David Lowenthal, The Heritage Crusade and the Spoils of History, 2. Aufl. Cambridge 1998. 9 Im engeren Sinn bedeutet Kultur ein Leben mit dem, was Menschen geschaffen haben: Musik, Bilder, Bauten, Schriften, Brauchtum. Kulturelle Identität ist mehr als Identifizierung mit Mozart, Goethe, Kant oder Rembrandt. Im weiteren Sinne bedeutet sie, dass wir in einem sozialen Gefüge leben und mit dessen Regeln und Gewohnheiten verbunden sind. Allen Kulturen ist ein gewisser Kanon an Bedürfnissen gemeinsam. Je nach Kultur werden diese unterschiedlich ausgedrückt: die Spielarten des Lebens. 10 Evident sind etwa die aktuellen europäischen Selbstzweifel hinsichtlich des „gescheiterten“ Projekts „Aufklärung“. Andererseits zeigt etwa Lessings „Nathan“, dass Hass, Ausgrenzung und Religionsfanatismus zwar nicht auszumerzen, wohl

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Soll der Platz Ankaras nicht nur an der Seite Europas, sondern „in Europa“ sein, bedarf es umfangreicher Reformen an Haupt und Gliedern, und zwar auf fast allen Feldern in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der Türkei. Bis zur Beitrittsreife dürfte insofern noch viel Zeit vergehen, und zugleich wird das teuer (für Europa) werden. Die Teilhabe der Türkei an der europäischen Integration, die keine christliche Veranstaltung ist,12 wirft demnach eine doppelte Identitätsfrage auf: die nach dem Selbstverständnis Europas und die nach dem Selbstverständnis der Türkei. Wäre – erstens – eine um „Anatolien“13 erweiterte EU noch „europäisch“? Würde eine Groß-EU Unterschiede übergehen, auf die es für die eigene Identität und Stabilität maßgeblich ankommt? 14 aber durch Vernunft zu temperieren sind. Vgl. Karl-Josef Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Düsseldorf 1998. 11 Die Frage, ob die Türkei Baku „näher“ ist als Brügge, hängt vom Standort ab. Istanbul gehört mehr zu Innsbruck, Diyarbakir mehr zu Damaskus. Die Türkei ist (darin etwa Mexiko oder auch der Schweiz vergleichbar) in sich äußerst uneinheitlich. Zwischen einem Angestellten aus der städtischen oberen Mittelschicht im Westen und einem ostanatolischen Bauern liegen Welten. 12 Die europäische Föderation, von den sechs kerneuropäischen Staaten in Messina (1955) zu Programm und Ziel erklärt, war noch christlich bewegt, der Reichsidee näher als nationalstaatlichen oder universalistischen Konzepten. Heute ist demgegenüber ein Rückgang des Einflusses der institutionalisierten Kirchen auf die Öffentlichkeit in Europa zu verzeichnen. Insofern könnten die Kirchen nun Europa nicht als „christlichen Club“, als „geschlossene christliche Veranstaltung“ organisieren. 13 Die innere Stabilität der Türkei erscheint wenig gesichert: besorgniserregend das Gefälle zwischen Reich und Arm, die „Feudalverhältnisse“ in Ost- und Südostanatolien, der teure Etatismus und byzantinische Nepotismus („der Staat als Beute“). Die traditionell israel- und türkeizentrierte US-Nahostpolitik, des sicherheitspolitischen Stellenwerts Ankaras im Zentrum der wichtigsten Krisenherde bewusst, drängt auf eine noch engere Verschränkung Europa/Türkei. Ankara profitiert von der Gnade der geostrategischen Lage. 14 Die Expansion von Institutionen garantiert selten ihr Gedeihen: „Habsburg, das zaristische wie das sowjetische Imperium fielen der Überdehnung zum Opfer. Die Kraft rann aus. Aber auch dort, wo nicht Zwang, sondern freier Wille die Dimension vergrößert, schlägt Synergie ins Gegenteil um“, Die Welt v. 3. 3. 2001. Würde eine immer weiter ausgreifende EU Wurzeln ausreißen, die sie selbst nicht schlagen kann? Überschritte eine Ankara einbeziehende Integration die Grenzen ihrer Nützlichkeit und damit ihrer Legitimation? Inwieweit könnten andererseits Differenzierungen im Integrationsprozess einen Contrapunkt setzen, die im An-

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Wäre – zweitens – eine Türkei noch „sie selbst“, wenn sie sich unumkehrbar den europäischen Werten verschriebe, Werten, die von dem christlichen Fundament überwiegend eben doch kaum ablösbar sind: der Wahrung der Bürger- und Minderheitenrechte also, der offenen Gesellschaft, der Toleranz? 15 Wäre eine „europäisierte“ Türkei noch in der eigenen Kultur und Geschichte verortet, oder litte sie bereits an „Hybridität“ und Identitätsverlust? Und ist aus türkischer Sicht „Europa“ bzw. die „europäische Identität“ das Gleiche wie etwa aus irischer oder italienischer Sicht? Erste Antwortelemente lassen sich, wählt man einen primär geistesund kulturwissenschaftlichen Ansatz,16 der Geschichte der europäisch-türkischen Beziehungen entnehmen, einschließlich der identitätspolitischen Dimension der Religion. Dieser damit zunächst interessierende Aspekt bezieht sich auf das vertraute Bild der Konfrontation, der Abwehr des „ganz Anderen“, und auf das weniger bekannte Bild der fruchtbaren Begegnung, der Kooperation. Welche dieser beiden Linien künftig dominiert, wird

schluss an Titel VII EUV als „verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU“ bezeichnet werden? Bei diesem Instrument greift ein Teil der Mitgliedstaaten auf die Organe und Verfahren der EU / EG zurück, um erweiterte Vertragskompetenzen zu begründen oder die bestehenden umfassender auszuschöpfen. Für die übrigen Mitgliedstaaten gilt das hierbei entstehende EG- und EU-Recht nur im Falle ihres späteren Beitritts. 15 Diesen von den Kirchen z. T. erst spät anerkannten Werten (Beispiel: Menschenrechte) hat sich auch die Nato verschrieben. Gemäß der Präambel des NatoVertrages v. 1949 verfolgt das Bündnis das Ziel, „die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“ sowie „die innere Festigkeit und das Wohlergehen im atlantischen Gebiet zu fördern“. 16 Nachfolgende Skizze stützt sich auf Hagen Schulze / Ina Ulrike Paul, Europäische Geschichte, München 1994; Albert Hourani, Die Geschichte der arabischen Völker, Frankfurt a. M. 2000; Anette Völker-Rasor (Hrsg.), Frühe Neuzeit, München 2000; Klaus Kreiser, Der Osmanische Staat 1300 – 1922, München 2001; Friedrich Prinz, Von Konstantin zu Karl dem Großen, Düsseldorf/Zürich 2000; Paul Michael Lützeler, Europäische Identität und Multikultur, Tübingen 1997; Stefan Kimm / Dieter Zerlin (Hrsg.), Die Begegnung mit dem Islamischen Kulturraum in Geschichte und Gegenwart, München 1992; Udo Steinbach, Europa und die Türkei, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.): Europa-Handbuch, Gütersloh 1999, S. 681 ff.; Hans-Lukas Kieser, Der verpasste Friede, Zürich 2000.

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über die türkische EU-Mitgliedschaft bestimmen17 – so oder so. Ankara, bereits im Pre-Accession-Status, ist am Zug. Wird der Weg „integrierte Wertegemeinschaft plus tolerante Zivilgesellschaft“ gewählt, entscheidet sich Ankara also, den traditionellen kemalistischen Fundamentalismus18 sprengend, für mehr Demokratie, mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Autonomie19, kommt dem Freund-Feind-Schema Schäubles, wonach eine EU-Kompatibilität der Türkei20 a limine und offenbar ad infinitum als unmöglich anzusehen ist, der Gegenstand abhanden.21 17 Auf Einzelnachweise wird weitestgehend verzichtet, ebenso auf ein Eingehen auf den Reformislam, auf die Türkei als Regionalmacht, auf Atatürks Autoritarismus (einschließlich der offenbar nachlassenden Legitimationskraft seiner Staatsideologie) und auf die Spezialprobleme Zyperns (ein geteiltes Land mit einer von UN-Soldaten bewachten, die Hauptstadt Nikosia durchschneidenden Demarkationslinie). 18 Vgl. etwa Dankwart A. Rüstow, Die Türkei, Göttingen 1990, S. 32 f., 43 ff. (unter Betonung der Demokratiefortschritte in der Ära Turgut Özal). Das breiter angelegte Werk des Vaters, Alexander Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, 3 Bde., Zürich/Stuttgart 1950, 1952, 1957, verdiente eine Wiederveröffentlichung. 19 Der Schutz der Kurden in der (bis ins 20. Jahrhundert hinein mehrheitlich armenisch und kurdisch besiedelten) Südosttürkei verlangt – vom Militär als „Gefährdung der territorialen Einheit des türkischen Staates“ bisher abgelehnte – garantierte Selbstverwaltungsstrukturen. Der Kampf um Selbstbestimmung bildet wohl nicht den Kern des Konflikts. „Kurdistan“ war ein Schlüsselthema der Linken nach 1968. Einsatz für Kurdistan bedeutete überwiegend, soweit man trotz der Richtungsstreite im PKK-Lager (und trotz der Konflikte mit den Kurden im Nordirak) eine generelle Aussage wagen konnte, ein Bekenntnis zu linksextremen Positionen. Aus der Perspektive der Forderung nach demokratischen und kulturellen Rechten für die kurdische Minderheit begrüßt ein PKK-Flügel nun Ankaras EU-Aspirationen: „Wenn sich die Türkei demokratisiert, indem sie der EU beitritt“, zitiert NZZ v. 28. 2. 2001 ein ehemaliges Mitglied des PKK-Zentralkomitees, „dann kann das kurdische Volk nur gewinnen“ (ähnlich die Erwartung der russischen Volksgruppe Lettlands: von einer EU-Mitgliedschaft Rigas verspricht sie sich eine Garantie ihrer Rechte als nationale Minderheit). 20 Vier Fünftel der kurdischen Stämme haben stabile Beziehungen zum türkischen Staat. Im Parlament sitzen kurdische Stammeschefs. Viele Kurden – insgesamt gibt es etwa zehn Millionen im Land – sind ohnehin in den Westen gezogen. Schätzungsweise 40 % der Einwohner Izmirs sind Kurden, in der Regel sunnitische Muslime. Als Mittel zur Deeskalation wäre Wirtschaftsentwicklung wichtiger als Autonomie. Kurdisch wäre als regionale Amtssprache anzuerkennen, kurdischsprachige Schulen wären zuzulassen. 21 Zum Kontext der Menschenrechtsprobleme Emilio Mikunda Franco, Das Menschenrechtsverständnis in den islamischen Staaten, in: Jahrbuch des öffentli-

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II. Bezugsgeschichte: Konfrontation und Inspiration Sieht man vom „Professorenimport“ im Jahre 193322 und vergleichbaren älteren Episoden der Kooperation ab, ist die türkisch-europäische Bezugsgeschichte primär eine solche der Konfrontation. Das zentralasiatische Reitervolk, das im 11. Jahrhundert nach Kleinasien vordrang, erschien den Europäern von Anfang an als fremd und bedrohlich. Nicht erst seit 1453, seit dem Fall Konstantinopels (also der europäischen Seite des heutigen Istanbul), ist die riesige anatolische Halbinsel unter osmanischer bzw. türkischer Herrschaft (der Stadtteil auf der anatolischen Seite Istanbuls war schon früher osmanisch). Anatolien war vielmehr schon länger von zahlreichen turkstämmigen Kleinfürstentümern „belegt“. Die Osmanen waren eines von ihnen. Sie fingen um 1300 ihren Aufstieg an. Weit entfernt von der Urheimat gibt es seit 650 Jahren ein großes türkisches Kernland. Bis zum heutigen Tag hat es seine Unabhängigkeit bewahrt – eine seltene historische Leistung, zugleich ein Grund für sein aktuelles Zögern gegenüber jeder Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU oder, in der Ägäisfrage, einer Unterwerfung unter internationale Streitbeilegung, gar (Schieds-) Gerichtsbarkeit. Seit dem 14. Jahrhundert griffen die Türken, die frühzeitig Muslime geworden waren, Europa an. Die Gefahr war besonders groß, weil auf dem Höhepunkt des Ansturms die Reformation das Fundament des Abendlandes spaltete. So eroberten die Türken seit dem 15. Jahrhundert den südöstlichen Rand Europas, einschließlich des Donaubeckens. Dann zielten sie auf Venedig, Polen und das Reich. 1529 standen sie vor Wien, am Tor zum Herzen Europas. Die Seeschlacht von Lepanto (1571) stoppte sie. Unter Don Juan d’Austria siegte das damalige maritime „Eurocorps“: chen Rechts der Gegenwart 44 (1996), S. 205 ff. (die Türkei ist freilich ein muslimischer, kein islamischer Staat). 22 Dargestellt in meiner Skizze: „Gehört Anatolien zu Europa?“, in: Dagmar Ottmann / Markus Synmmank (Hrsg.), Poesie als Auftrag. Festschrift fiir Alexander von Bormann, Würzburg 2001, S. 321 – 336 [ jetzt auch in meinen Kleinen Schriften (Bd. 1), hrsg. v. Alexander Proelß, Berlin 2017, S. 129 – 141]. Deutsche Stadtplaner und Architekten (Bonatz, Taut, Wagner) spielten in den 30-er / 40-er Jahren eine wichtige Rolle. Zusammen mit den Medizinern, Künstlern und Sozialund Naturwissenschaftlern, die ebenfalls vor dem NS-Regime geflohen waren, trugen sie zur europäischen Perspektive ihres Gastlandes bei.

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die vereinigte Flotte von Venedig, Kirchenstaat und Spanien. Ein Jahrhundert später (1683) misslang die türkische Eroberung Wiens erneut. Die von Prinz Eugen geführte Gegenoffensive vertrieb die Türken aus Ungarn, Kroatien und Serbien. Ab dem späten 18. Jahrhundert mutierte der vom Westen und vom Norden her bedrohte Osmanenstaat zum „kranken Mann am Bosporus“. Selbst die Durchfahrt durch die Meerengen konnte er nicht mehr verbieten.23 Zwischen den wissenschaftlich-technischen Leistungen der meisten west-und nordeuropäischen Länder und den Idealen der Französischen Revolution einerseits und der Welt des Islam andererseits hatte sich eine breite Kluft aufgetan. Diese versuchten die Sultane in der Ära des Tanzimat (1839 – 1876) unter Druck und nach Muster des Westens zu überwinden: durch Zentralisierung der Verwaltung, Aufbau eines modernen Heeres, Säkularisierung des Staates. Die Reformära endete im Wesentlichen 1876, als Abdülhamid an die Macht gelangte (seine unspektakulären Reformen entfalten freilich ebenfalls Wirkung). Um ein Überschwappen der südosteuropäischen Freiheitsbewegungen zu verhindern, reaktivierte er die Gemeinschaft der Muslime als staatstragendes Element. 1895 kam es zu ersten Pogromen. Ihnen fielen ca. 100.000 Armenier, soweit sie sich nicht durch Übertritt zum Islam retten konnten, zum Opfer. Andererseits war noch 1912 der Außenminister des osmanischen Staates ein Armenier. Das Ende des auf einen europäischen Brückenkopf nördlich des Bosporus und das kleinasiatische Anatolien geschrumpfte Osmanische Reich besiegelte der Vertrag von Lausanne (1923). Die nach wie vor riesige Türkei blieb auch nach der jungtürkischen Revolution von 1908 – sie war getragen von der vor allem durch Offiziere dominierten „Union et Progrès“ –, nach dem Massaker an den Armeniern (1915),24 nach der militä23

Russland rückte nach Süden vor, das Schwarze Meer und die Meerengen waren nicht mehr Teil der türkischen Binnengewässer. Der interkontinentale Handel ging in europäische Hände über. Im 19. Jahrhundert beherrschte Europa die Welt, mit Nordamerika als seinem Ableger. Die europäischen Großmächte teilten die früheren osmanischen Eroberungen unter sich auf, Stück für Stück. 24 Die Auslöschung der Armenier (meist armenisch-apostolischen [gregorianischen] Glaubens), unter Beteiligung von Kurden, ist in der Türkei nach wie vor ein Unthema, negiert von Politik und Öffentlichkeit, die Erwähnung fast ein Staatsverbrechen. Wird „Armenien“ im Ausland angesprochen, wie im Februar 2001 seitens der Französischen Nationalversammlung, reagiert Ankara allergisch –

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risch induzierten, vom Nationalismus inspirierten Modernisierung durch den Republikgründer Mustafa Kemal Pascha (genannt Atatürk) in den 20er und 30-er Jahren25 sowie nach dem Zweiten Weltkrieg, der in bewaffneter Neutralität unbeschadet überstanden wurde, in Europa präsent:26 als traditioneller Exporteur von „Gastarbeitern“ (nahezu 500.000 derzeit allein in Berlin: Kreuzberg als „Klein-Istanbul“), als gelehriger Importeur von Rechtsmodellen (unter Abschaffung des islamischen Systems wurden u. a. das Schweizer Zivil-, das italienische Straf- und das deutsche Strafprozessrecht übernommen), als zahlungskräftiger Einkäufer von Industrieund Rüstungsgütern, als preisgünstiger Gastgeber von immer mehr sonnenhungrigen Touristen – und als häufig Verurteilter vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EMRGH),27 als wiederholtes Opfer von Erdbebenkatastrophen, als Land spektakulärer Korruptionsskandale, Gefängnisrevolten und Bankenkrisen. Trotzdem oder deshalb: Das Gesicht der Türkei ist nach Westen gewandt, Europa zu. Der Drang in die EG/EU – Beitrittsantrag von 1987, Beitrittspartnerschaft wirksam seit März 2001 – ist insofern ein Stück Kontinuität.

auch das einer der Flüsse der Vergangenheit, der vor einem EU-Beitritt begradigt werden müsste. 25 Das Ende des Ersten Weltkrieges hatte die Auflösung des Osmanischen Reiches gebracht. Aus den Ruinen entstand die Türkei, eine neue Republik (das Sultanat wurde abgeschafft). Die arabischen Provinzen gerieten unter britische und französische Kontrolle. Ankara wurde Hauptstadt. 26 Atatürks Werk steht in einer Linie mit dem der Reformer seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Mahmud II. (1778 – 1839) hatte durch die Auflösung der Janitscharen den Weg für militärische und dann auch politische Reformen geöffnet. Die Jungosmanen und später die Jungtürken initiierten vielfältige, am Westen orientierte Reformen. Im 20. Jahrhundert betonten manche Nationalisten dann die Vorherrschaft des Islam; ihr Ziel war ein Staat, dem nur die Türken (d. h. Muslime, die Türkisch sprechen) angehören sollten. Entscheidend freilich bleibt der Umstand, dass der Laizismus ein Kernprinzip der Republik ist. – Der nach wie vor gültige Vertrag von Montreux v. 1936 öffnet die Meerengen allen Handelsschiffen; die Durchfahrt von Kriegsschiffen ist schon im Frieden beschränkt. Bei Kriegsbeteiligung der Türkei kann sie die Durchfahrt allgemein sperren. 27 Die Türkei anerkannte die Individualbeschwerde erst mit Erklärung v. 28. 1. 1987; am 22. 1. 1990 folgte die Erklärung nach Art. 46 EMRK (a.F.). Vgl. Walter Kälin, Die Vorbehalte der Türkei in ihrer Erklärung gem. Art. 25 EMRK, Europäische Grundrechtezeitschrift 14 (1987) S. 427 ff. – Überblick in: European Court of Human Rights: Survey. Fourty Years of Activity 1959 – 1998, Strasbourg 1999, S. 25 ff.; EP, Bericht v. 19. 10. 2000, EP-Dok. A 5 – 0297/2000.

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III. Türkengefahr als fédérateur Europas Die Antwort des christlichen Europa auf jene jahrhundertelange türkische Bedrohung hatte in einer Propaganda bestanden, die den Gegner als „Antichrist“ stigmatisierte. Auch Luther wählte in seiner „Heerpredigt wider den Türken“ (1529) das apokalyptische Deutungsmuster (im Anschluss an das Buch Daniel). Noch das 17. Jahrhundert ventilierte die Idee eines Kreuzzugs. Einzelne Päpste und katholische Mächte setzten auf die „Solidarität der Christenheit“. Die meisten Völker waren freilich längst im Stich gelassen worden, am tragischsten die Südslaven: 1389, in der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje),28 hatte der serbische Adel sein Leben gelassen. Noch die heutige post-jugoslawische Tragödie ist vom Türkentrauma gezeichnet – Gegenwart der Vergangenheit. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina, der einzigen Region in Europa, in der das Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen die Jahrhunderte überdauert hat, erregte die muslimische Welt in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts besonders. Die den muslimischen Bosniaken lange Zeit wenig förderliche Haltung des Westens wurde geradezu als Zeichen dafür angesehen, dass „die“ Christen „die“ Muslime am liebsten vom Erdboden verschwinden lassen würden.29 Europa, so wie es seit den 50-er Jahren des 20. Jahrhunderts in Europarat, EG, EU, WEU und OSZE institutionalisiert wurde, diese gewachsene, spezifische Wertegemeinschaft („Demokratie, Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz“30 in der einleitend 28

Heute wird „Kosovo“ einerseits als „Wiege des serbischen Volkes“ in Anspruch genommen, andererseits als historischer Beweis für die frühe „albanische“ Besiedlung des Balkans – obwohl es dort ja nicht nur diese orthodox-muslimische Polarität gibt, sondern auch kroatische, ,,ägyptische“ (= Sinti und Roma) und katholisch-albanische Bevölkerungsteile. Vgl. Gerlachus Duijzings, Religion and the Polities of Identity in Kosovo, London 2000. 29 Die Abwehr jener frühneuzeitlichen Türkengefahr hatte nicht zu einem europäischen Staat geführt. Zu tiefgreifend waren die konfessionellen, zu vital bereits die nationalen Unterschiede. Noch heute prägt der katholisch-protestantische Dualismus z. T. unseren Kontinent. Bestätigt wurde in den Türkenkriegen aber jenes „christliche Abendland“, von dem in Schröders Regierungserklärung die Rede war: Christianitas als Leitkultur des Mittelalters. Für den muslimischen Teil der Welt ist dies der Islam bis heute. 30 Die gemeinsamen Werte der EU listet Art. 6 EUV auf; vgl. Frank Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union, Berlin 2000. Zur Selbstverunsicherung Bassam Tibi, Europa ohne Identität?, München 2000. Vgl. auch Heiko Walken-

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zitierten Aufzählung des Bundeskanzlers) – dieses Europa verdankt sein Selbstverständnis auch der Auseinandersetzung mit dem Islam. Türkenbedrohung bzw. Widerchrist als fédérateur: Die Abgrenzung gegen den Islam und die Türken formte Europa zur Kultur- und Schicksalsgemeinschaft.31 Vom Mittelalter an hat „Europäische Identität“ insofern einen antiislamischen Beigeschmack. Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich eine nahezu analoge Konstellation. Vor dem Hintergrund überstandener NS-Verbrechen und aktueller kommunistischer Bedrohung rückte „der Westen“ in einem „antitotalitären Konsens“ zusammen: Europa weniger als geographischer Begriff denn als politische Idee, als Demokratie- und Freiheitsprojekt. Diesmal war die Türkei dabei, von Anfang an, bei Nato und Europarat. Konfliktherd hin, Toleranz her – für die Eindämmung der Sowjetunion und die Linderung des Arbeitskräftemangels der Industrieländer war die hochgerüstete, bevölkerungsreiche Türkei unentbehrlich. Ein halbes Jahrhundert hat das funktioniert, auch zum Nutzen der Türkei.32 horst, Europäischer Integrationsprozess und europäische Identität, Baden-Baden 1999. Die neuen Art. 6 und 7 EUV sollen die Identität der Union als Verfassungsverbund stärken – auf dem Schlüsselgebiet der gegenseitigen Versicherung ihrer freiheitlich-demokratischen Grundlagen. Wichtig für das Selbstverständnis Europas können auch die „Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit“ des Titels VII EUV werden, Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, Berlin 2000. Durch den Vertrag von Nizza wurde die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in ihren Anwendungsbereich einbezogen (Art. 27a bis 27e EUV n.F.). 31 Nach Henri Pirenne, Mohammed und Karl der Große, 2. Aufl. 1985 (Nachdruck) konnte sich das karolingische Europa nur in Auseinandersetzung mit der islamischen Welt bilden. Franco Cardini, Europa und der Islam, München 2000, bestreitet dies. Und in der Tat: Seit dem Beginn der Begegnung mit dem Islam gab es in den verschiedenen europäischen Regionen unterschiedliche Reaktionen: von abwartend-militant bis zu bündnisbereit-handelsoffen. Der religiöse Faktor kam offenbar erst mit dem 11. Jahrhundert ins Spiel, im Zusammenhang mit Santiago de Compostela: Reconquista und Kreuzzüge. Päpste erkannten, dass sie sich zum Sprecher für das ganze christliche Europa machen konnten. Die teils nur virtuelle Türkengefahr des 16./17. Jahrhunderts wurde geradezu zum Katalysator für europäische Selbstprofilierung. 32 Heute blockiert die Türkei, kaum zum Unwillen der USA, den NatoKompromiss zur „Euroarmy“ (einer 60.000 Soldaten starken Truppe, die 2003 einsatzfähig sein soll). Ankara nimmt nicht hin, dass die EU auf Kapazitäten des Bündnisses zurückgreifen will, ohne die Nicht-EU-Mitglieder der Nato in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Mittelbar erzeugt Ankara mit dieser Behin-

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In jenem früheren Kampf mit dem „ganz Anderen“ waren Begriff und Besonderheit „Europa“ allgegenwärtig: nicht als antikisierendes Bildungsgut, sondern als kulturelle Realität. Die Idee einer europäischen Gemeinschaft ist damit tiefer verankert als etwa die Vision einer Atlantic Community. Cecil Rhodes, Walter Lippmann und der Geopolitiker Halford J. Mackinder hatten Letztere, die Vereinigung der atlantischen Welt, erst vor und zwischen den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts entworfen. Das gemeinsame Band Europas war mit der Christenheit der Kanon Menschenwürde, Freiheit, Solidarität. Das Gegenbild war der „Antichrist“ oder „Autokrat“, mochte er noch so begabt sein (was viele Türken offensichtlich waren) – der Sultan als Symbol einer intoleranten Vormoderne. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein, zumal in der Romantik, wurden Christenheit und Europa synonym verwendet. Das Morgenland gehörte nicht zum Abendland, das islamische Osmanenreich nicht zur res publica Christiana.33 Mit ihrem in Brüssel zunächst auf Ablehnung stoßenden Beitrittsantrag34 drängt diese noch keineswegs umfassend modernisierte Türkei nun in das institutionelle Europa. Seit 1963 der EWG assoziiert,35 erhielt derung einer „autonomen“ EU-Verteidigungspolitik Druck in den Ägäis-, Zypernund Beitrittsfragen. 33 Ab 1923 zwang Atatürk sein Land, den Jahrhunderte langen Weg europäischer Modernisierung und Säkularisierung in einer einzigen Generation zu durcheilen. Bei dieser revolutionären Umgestaltung, die Ismet Inönü fortsetzte – 1926 Übernahme des gregorianischen Kalenders; 1928 zentrale Neuerung in einem muslimischen Staat, Einführung der lateinischen Schrift; 1934 Einführung des Familiennamens –, wurde die Türkei auch von deutschen Emigranten unterstützt. Ein Jahrhundert zuvor hatte dort bereits Helmuth von Moltke gewirkt. „Werden wie Europa“, hatte ein jungtürkischer Reformer als Programm verkündet, „mit seinen Rosen und seinen Dornen“. 34 Vgl. Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Aufl. München 1999, Rz. 1868 f., 1891. – Seit dem ER-Beschluss v. 6. 3. 1995 befindet sich (das geographisch zu Asien gehörende) Zypern auf Beitrittskurs, ohne dass sich eine Lösung des Zypernproblems abzeichnet. Aus der Sicht Ankaras – 40.000 türkische Soldaten stehen in Nordzypern – ist es ohnehin „gelöst“. Sollte die Türkei am Schluss den Schwarzen Peter in der Hand halten, die jahrelangen zypernbezogenen Bemühungen des UN-Generalsekretärs nicht loyal unterstützt zu haben, wäre es für Athen (und die griechische Volksgruppe auf Zypern) leichter, die anderen EUStaaten davon zu überzeugen, seinerseits alles unternommen zu haben, um das Zypernproblem zu lösen. 35 ABl. EG 1964, S. 3685. Der türkische Antrag stammt von 1959. Das Assoziationsabkommen EWG-Türkei (12. 9. 1963), dessen kompensatorischer Zu-

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Ankara frühzeitig das historische Versprechen, an der europäischen Integration teilhaben zu können36 – freilich nicht zu eigenen Bedingungen, nicht als kultureller Spezialfall, sondern auf der Grundlage des europäischen Wertekanons, als eine „wie Europa gewordene“ Türkei. Nach dem (defensiv-„abendländischen“) Hinhaltebescheid des EU-Gipfels von Luxemburg vom 12./13. Dezember 1997 wurde die Tür zur EU-Mitgliedschaft auf dem eingangs zitierten ER-Treffen 1999 ein wenig weiter geöffnet, erneut unter – diesmal pragmatisch begründeter – Mithilfe Deutschlands (seit 1999 engagiert sich Berlin stärker als etwa Paris in den Beitrittsfragen, zunehmend als Champion der Kandidatenländer). Zwischen diesen beiden ER-Gipfeln hatte sich eine vorgeblich selbstbewusste Türkei, die Fragen des Stolzes und der Ehre fast größere Bedeutung beizumessen scheint als den politischen und ökonomischen Konvergenzkriterien, geweigert, an der „Europa-Konferenz“ der Staats- und Regierungschefs, die am 12. März 1998 in London den Erweiterungsprozess begleitete, teilzunehmen: Im Vergleich zu den anderen Beitrittsländern fühlte sich die Türkei „diskriminiert“: Sie sieht sich als weiter entwickelt an als manche der Beitrittskandidaten des südlichen Balkans. Angesichts des „Anatolien ante portas“37 interessieren die tiefgreifenden kulturellen Differenzen zwischen Europa und der Türkei nun jedermann, jenseits aller taktischen Seitwärts- und Trippelschritte. sammenhang mit dem damaligen griechischen EWG-Beitritt auf der Hand liegt, ist (Art. 28) – vage – auf späteren Beitritt angelegt (Beitrittsassoziation). Damit entschied die EWG zugleich, die Türkei als „europäischen“ Staat anzusehen (ein solcher ist z. B. auch die Ukraine mit ihren 49 Millionen Einwohnern – derzeit gleichwohl naheliegenderweise ohne Beitrittsperspektive). Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Assoziationsverhältnis stellte auch das Zusatzprotokoll von 1970 nicht vollständig her. Die letzte Stufe der Zollunion trat am 31. 12. 1995 in Kraft. Zur Türkei bestehen nun dichtere Wirtschaftsbeziehungen der EU als zu allen anderen Beitrittsländern. 36 Marokko z. B. wurde dies verweigert, sein Beitrittsantrag nicht behandelt, zu Recht: Weder geographisch noch sozioökonomisch ist Marokko ein „europäischer Staat“ i.S.v. Art. 49 Abs. 1 EUV. Anders steht es mit der Schweiz, die ihr Beitrittsgesuch 1992 in Brüssel deponierte, angesichts der eigenen Referendumshürden ihre Priorität später aber auf den bilateralen Pfad verlegen musste (was eine pragmatische Annäherungspolitik nicht ausschließt). Seit längerem werden auch Beitrittsvorstellungen Israels ventiliert. 37 Die ungesteuerte Zuwanderung bringt Unruhe ins europäische Haus. De lege ferenda will Berlin die Migration nach Deutschland durch gesteuerten Zuzug ersetzen. Dabei dürfte die Netto-Zuwanderung auf dem jetzigen Niveau festge-

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Das Gesamtbild ist freilich, blickt man genauer hin, vielschichtig, der Beziehungsbefund bunt.38 Für die Diskussion der identitätspolitischen Fragen ergeben sich aus diesem „zweiten Blick“ neue Aspekte. Sie bedeuten weder, dass die Türkei in nächster Zeit die Kriterien für die Aufnahme erfüllen, noch dass ihr dies je gelingen wird – die Fundamente der EU sind nicht beliebig belastbar. Deutlich wird indes, dass es mit einem schematischen Ablehnen „Anatoliens“ als „leitkulturwidrig“ oder „intolerant-fundamentalistisch“ nicht getan ist. Ebenso unpassend wäre ein die Konfliktherde ignorierendes, modisch-multikulturelles „Herein!“-Rufen. Ausländerfeindlichkeit kann auch durch falsch verstandene Ausländerfreundlichkeit ausgelöst werden: keine Synthese also ohne vorherige These-Antithese-Genauigkeit, keine Milderung der Probleme zwischen Kulturen und Religionen ohne Befundnahme und Kommunikation. IV. Türkische Elemente europäischer Identität Jenseits von eurozentrischer Arroganz und kulturrelativistischer Selbstverleugnung39 ist erneut bei Religion, Geschichte und kulturellem Gedächtnis anzusetzen. Der spätantike Herrscher Konstantin der Große verlagerte 326 n. Chr. das Reichszentrum nach Byzanz, das er in Konstantischrieben werden. Deutschland ist schwerlich darauf vorbereitet, multikulturell zu handeln. 38 Eine „europäische Antwort“ auf die Schlepper- und Zuwanderungsprobleme steht noch aus. Der damalige ER-Vorsitzende (Präsident Chirac) hatte sie im Herbst 2000 gefordert, wenige Wochen bevor dann 900 kurdische Flüchtlinge mit der „East Sea“ an der französischen Mittelmeerküste strandeten (und Asyl beantragten). Im Dezember 1997 war Gleiches bereits in Süditalien geschehen. Im Juni 2000 waren in einem Lastwagencontainer in Dover 58 illegale Einwanderer aus China erstickt aufgefunden worden. Der Dubliner Beschluss, wonach Flüchtlinge in dem ersten EU-Land, das sie betreten, ihren Asylantrag stellen müssen, ist inzwischen stark durchlöchert. Bis 2004 will die EU ein Asyl- und Einwanderungsrecht beschließen. 39 Mit Toleranz allein lässt sich angesichts der kulturellen Konflikte keine Friedensdividende kassieren. Es bedarf vielmehr, frei von Selbsthass oder Selbstverliebtheit, einer ein- und ausgrenzenden Vergewisserung über die Werte Europas und die der Türkei. Das ist schwierig. Zu kaum einem Thema ist der Zugang derzeit so sehr von Political Correctness-Verboten verstellt wie zu diesem (Kampf gegen Globalisierung und „amerikanischen“ Multikulturalismus im Namen der „einen“ europäisch-republikanischen Werteordnung etc.). Bei keinem anderen Thema wird so deutlich, dass wir – wie die Menschen der Spätantike – in einem schwer durchschaubaren welthistorischen Übergang leben.

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nopel umbenannte. Anders als im Westen entwickelte sich hier, in dieser komplexen Übergangsepoche und -welt, keine Trennung von Religion und Staat.40 „Europa“ gegenüber blieb Byzanz keineswegs zurück. Erst der sog. Vierte Kreuzzug (1203/04), der kein Religionskrieg war,41 schwächte das byzantinische Reich tödlich. Nun wurde der Sultan der Herrscher: „als Sultan konstitutioneller Monarch“, „als Kalif“ – das Kalifat von Mekka und Medina ging 1518 nach der Eroberung Ägyptens unter Selim I. an den türkischen Sultan – „eine religiös-politische Autorität für alle Muslime seines Reiches“ (Udo Steinbach). Den Kern der Armee dieses riesigen Reiches bildete eine „vertürkte“ Söldnertruppe: das 1329 aus christlichen Gefangenen zusammengestellte, durch die „Knabenlese“ immer wieder ergänzte Korps der Janitscharen. Von der osmanischen Expansion hat Europa auch „profitiert“. Im 14. und frühen 15. Jahrhundert setzte eine Fluchtwelle von Gelehrten und Künstlern ein, die mit dem Fall Konstantinopels ihren Höhepunkt erreichte. Die Flüchtlinge regten das geistige Leben Gesamteuropas an. Griechisch-byzantinisches Wissen verband sich mit europäischem Neuerungswillen – ein Beitrag auch zum Entstehen des Humanismus.42 Die 40

Die beteiligten Religionen sind zwar monotheistisch (wie auch die jüdische); dies bringt aber nicht automatisch Toleranz und Offenheit mit sich. In christlicher Tradition sehen wir die Zehn Gebote. Das Alte Testament verbindet uns mit dem jüdischen Glauben und der orthodoxen Kirche. Letztere fand nach dem Fall von Byzanz im Zarenreich ihr neues Zentrum. In Kiew hatten sich im 10. Jahrhundert bereits die ersten Wurzeln der russisch-orthodoxen Kirche entwickelt. Das russische Reich übernahm Elemente der byzantinischen Kaiseridee. Als „Drittes Rom“ sollte, stark umgeprägt, Byzanz weitergeführt werden. 41 Bereit, den Kreuzrittern aus ihrer Geldverlegenheit zu helfen, lenkte Venedig sie gegen den Hauptkonkurrenten: Konstantinopel. Die Stadt wurde zweimal erobert, gebrandschatzt und gründlich geplündert. 42 Die Sultane betrieben, nicht nur aus Gründen der Toleranz, keine systematische Islamisierung der unterworfenen Völker (Griechen, Armenier, Bosnier, Albaner usw.). Der Osmanenstaat war multikonfessionell und multireligiös. Christliche und jüdische Gemeinden erhielten einen weitgehend anerkannten Status. Der Koran verbietet die Zwangsislamisierung (freilich nicht die religiöse Diskriminierung). Rassische Vorurteile kamen kaum auf. Nichtmuslimische Gemeinschaften besaßen eigene Schulen, Kirchen, Stiftungen, Krankenhäuser. Nichtmuslime mussten freilich mehr Steuern bezahlen (deshalb wurde der Übertritt [etwa der besiegten Bosnier] zum Islam von den osmanischen Autoritäten zeitweise sogar behindert).

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Herausforderung, die die Türken für Europa seit dem frühen Mittelalter darstellten, war eben nicht zuletzt eine kulturelle, wissenschaftliche und administrative. Die Eroberung von Wien wäre wegen der technischen Perfektion der türkischen Mineure und Ingenieure um ein Haar gelungen. Selbst literarisch brauchte Istanbul, in einem bekannten Einzelfall, den Vergleich mit den Renaissance-Höfen nicht zu scheuen: Süleyman der Prächtige (1520 – 1566), Sultan, Stifter, Gesetzgeber, war ein bedeutender Dichter.43 Mit dem Aufstieg des Osmanischen Reiches entstand eine eigene osmanisch-türkische Sprache44 und Kultur. Im weit definierten Chor der europäischen Literaturen fanden „anatolische“ Autoren ihre eigenen Stimmen. Neben Handelsabkommen wurden über die ideologischen Grenzen hinweg politische Verträge und militärische Allianzen geschlossen. Die „allerchristlichsten“ Könige François I. und Louis XIV. von Frankreich etwa verbündeten sich mit den Osmanen gegen Habsburg und das Reich – in der „säkularen“ Tradition eines Kardinal Richelieu, der schon mit den Protestanten koaliert hatte. Selbst Päpste suchten Vorteile an der Seite der Türken. Italien hatte ohnehin kaum Berührungsängste. Jahrhundertealte Kontakte hatten dort u. a. das Idealbild des edelmütigen Sultans entstehen lassen. In Lessings Ring-Parabel siegt die interreligiöse Toleranz; als Sultan stand Lessing freilich kein osmanischer Herrscher vor Augen, sondern Saladin, der schon von den christlichen Quellen des Mittelalters und dann von Voltaire zu einem Ideal erklärt worden war: als Ritter und als Muslim. Auch im Übrigen übte das Osmanische Reich eine starke Anziehungskraft auf Fremde aus. Jahrhundertelang war es, nicht zum eigenen Schaden, ein Hafen für politisch Verfolgte: für spanische Juden (Sefarden, 1492),45 für Ungarn und Polen, ab 1933 dann auch für Deutsche und Österreicher – gelebte Toleranz in einem Meer von Konflikten. 43

Aus dieser Zeit stammen die Sinan-Moscheen in Istanbul, wunderbar harmonische Bauwerke, von einer leiseren Harmonie als die damaligen (frühbarocken) Bauwerke in Europa. Anders als die Kathedralen wenden sich die Moscheen freilich nicht an das schauende Individuum, scheinen es gar nicht zu kennen. Sie beziehen sich auf eine Gemeinschaft, von der aus gesehen unsere „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ (Art. 2 Abs. 1 GG) wie Eigenbrödelei, fast wie Außenseitertum erscheint. 44 Bis auf die Strukturwörter hatte die Sprache einen im Wesentlichen arabischen und persischen Wortschatz. „Türkisch“ war gleichbedeutend mit „bäurisch“. 45 „Wer behauptet eigentlich, dass der spanische König klug ist? Mit der Vertreibung der Sefarden verarmt er das eigene Land und bereichert das meine“, sagte

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Im geistigen Fundament Europas findet sich demnach nicht allein griechisch-römisches und jüdisch-christliches Gedankengut. Fremdes hat seinen Anteil an unserem Eigenen. Die „ganz Anderen“ haben Europa inspiriert, haben unsere Weltsicht modifiziert. Mag dies auch mentalitätsgeschichtlich in der Öffentlichkeit bisher kaum rezipiert sein: zur europäischen Identität gehören auch türkische Elemente. Gewiss, byzantinische Flüchtlinge, sefardische Emigranten, Zweckbündnisse (Louis XIV.) und NS-Vertriebene (1933) konstituierten keinen das europäische Selbstverständnis nachhaltig erweiternden Impuls. Samuel Huntingtons ganz eindimensionaler „Clash of Civilizations“ (1996) verfehlt aber die partiell durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten und Wechselbezüge. Bis in die Gegenwart hinein bestimmt der transkulturelle Austausch, mag er auch primär eine Folge politisch-ökonomischer Verschränkungen sein, das kulturplurale,46 noch keineswegs abschließend definierbare Verhältnis Europa-Türkei. Dass die Türkei kulturell Europa befruchtet hat und sich nicht „gefälligst endlich“ auf „unser europäisches Niveau“ zu begeben hat, ist in der EU-Türkei-Debatte bisher zu selten erwähnt worden.47 V. „Wie Europa werden“ wollen? Die Antwort auf die EU-Mitgliedschaftsfrage hängt damit letztlich von den künftigen rechtsstaatlich-demokratischen Reformen der Türkei ab. Nur mit einem unbedingten „Ja“ zum „Werden wie Europa“ kann Ankara die hohen Beitrittshürden überwinden. Aber will die Türkei das wirklich? Was würde eine derartige Europäisierung für sie bedeuten? Während den (meisten) Europäern durch die Schrecknisse des Zweiten Weltkriegs und die seit 1945 bekannt gewordenen NS-Verbrechen die Sultan Beyazit II., als er sein Reich für die Flüchtlinge aus Spanien öffnete. Mit der Zeit entstanden größere jüdische Gemeinden in Saloniki, Izmir und Istanbul. 46 Lassen sich der Geschichte wie der Religion demnach keine eindeutigen Antworten auf die doppelte Identitätsfrage entnehmen, so wird doch deutlich: Als Idee stimmt Europa mit dem geografischen Raum, der ja ohne eindeutige Grenzen ist, nicht überein. Prinzipiell ist Europa offen für Erweiterungen an seinen Rändern. 47 Hier ist gelegentlich Selbstgerechtigkeit im Spiel – unbeschadet der Tatsache, dass die Türkei im Raum des Politischen und Gesellschaftlichen ihre Europakompatibilität noch weit stärker unter Beweis zu stellen hat, um dereinst EUMitglied werden zu können.

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Augen dafür aufgingen, in welchen Irrweg einseitiger Nationalismus führen kann, ist Ankara nach wie vor der nationalistischen Idee verhaftet. Bei der Republikgründung übernahm Atatürk dieses souveränitätsorientierte Modell von europäischen, insbesondere französischen Vorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts – ein schematisch epochenfixierter Modernitätsimport, dessen Zeit eigentlich abgelaufen ist. An der heute erstarrten „Kultur des Nationalismus“ auch nur zu zweifeln, ist, jedenfalls für die älteren Türken, ein Sakrileg; von daher erklärt sich auch ein Teil der Bedenken gegenüber einer Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU (obwohl die Verfassung mit der Transformationsnorm des Art. 90 an sich darauf eingerichtet ist), einhergehend mit einer wachsenden Angst vor dem Verlust der nationalen Identität (die freilich weniger von der EU als durch die Globalisierung bedroht ist). Im Gegenzug entsorgt die Türkei viele ihrer Modernisierungsprobleme48 nach Europa. Diesbezüglich hat die EU die Wahl: tatenlos diesen Problemimport zu erleiden (man erinnere sich an den Gewaltausbruch anlässlich der Gefangennahme von Öcalan) oder an der Quelle der Probleme anzusetzen, also im Kontext der Beitrittspartnerschaft nun auf dem Erfüllen der Kopenhagener Kriterien zu beharren. Diese Kriterien sind für alle Kandidatenländer gleich, unabhängig von deren realer Lage. Es gibt kein Recht der Türkei, mit anderer Elle gemessen zu werden als etwa Estland, Polen oder Slowenien. Sobald die Kriterien erfüllt sind, werden die Beitrittsverhandlungen aufgenommen – ein Junktim, das Impulse für den weiteren innenpolitischen Reformprozess geben soll. Man kann insofern von der sanction of non-participation (Wolfgang Friedmann) sprechen.49 Bei den strengen Konditionalitäten der Weltbankgruppe etwa greift dieser Steuerungsmechanismus durchaus, bis hart an die Grenze der Verletzung der äußeren und inneren Souveränität. Der Markt ist freilich dort wie hier die beste Konditionalität. Zudem bringt die Beitrittspartnerschaft vielfäl48

Die Wirtschaftsleistung je Einwohner ist in der Türkei derzeit allerdings höher als z. B. in Lettland, Rumänien oder Bulgarien (mit den letztgenannten – unsicheren – Kandidaten wurden am 12. 1. 2000 auf Ministerebene die Beitrittsverhandlungen begonnen). 49 Ein Beispiel ist das die damalige Obristenherrschaft delegitimierende Einfrieren der Rechtsbeziehungen Griechenland-EWG von 1967 bis 1974. Ein anderes ist die Minderheiten- und Sprachenpolitik in EU-Kandidatenländern wie z. B. Lettland. Hier hat die EU (zusammen mit der OSZE) mit sanftem Druck mehr für die russische Minderheit erreicht als deren „Mutterland“ mit seinen Drohungen.

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tige Hilfen für die Türkei; bei einem Stocken des Reformprozesses droht Finanzentzug.50 Ankara muss den Status als Beitrittskandidat nun Zug um Zug umsetzen. Dies bedeutet Liberalisierung, nicht Christianisierung, Wertegemeinschaft, nicht Religionsgemeinschaft.51 Die EU-Grundrechtecharta enthält, wie die EMRK oder das Bonner Grundgesetz, nicht Christen-, sondern Menschenrechte. Die EU ist keine Religionsunion. Die Aufnahme etwa des partiell muslimischen Bosnien-Herzegowina in den Europarat scheiterte bisher nicht an der Religionsfrage, sondern an der desolaten Menschenrechtslage. Es bleibt die Frage: Will die Türkei wirklich „wie Europa werden“? Derzeit treten, so der Eindruck der EG-Kommission, wichtige Reformvorhaben auf der Stelle.52 Defizite bestehen vor allem bei der Achtung

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Bei der Finanzkrise im November 2000, ausgelöst u. a. durch die Kapitalflucht türkischer Geschäftsleute aus den mittelgroßen Bankhäusern, griff der Internationale Währungsfonds (IWF) Ankara mit 7,5 Mrd. US-Dollar unter die Arme. Seit Inkrafttreten des Beistandsabkommens mit dem IWF Anfang 2000 wurden der Türkei 11 Mrd. US-Dollar zugesagt. Von diesen wurden im Februar 2001 5 Mrd. Dollar zur Stützung der massiv abgewerteten Lira ausgegeben. Zeitgleich mit der Verabschiedung des „Nationalen Programms“ (s. o. Fn. 3) einigte sich die Türkei mit dem IWF auf ein Stabilisierungsprogramm für die türkische Wirtschaft. 51 Freilich können Christen wie Muslime in dieser europäischen Wertegemeinschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Ein kulturell-interreligiöser oder ökumenischer Dialog kann, soweit er Vielfalt respektiert und dem Abbau religiöskultureller Antagonismen aufhilft, der konkreten Umsetzung der gemeinsamen Werteordnung dienen. Vgl. Karl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München/Zürich 1996, S. 213 ff. 52 Bei wichtigen Agenden ist in der EU weiterhin Einstimmigkeit erforderlich. Dies ist schon im Hinblick auf die schlechten griechisch-türkischen Beziehungen bedeutsam. Das EP ist traditionell Türkei-kritisch. Seine Einstellung wirkt sich auf die Akzeptanz etwaiger Beitrittsverhandlungen in der europäischen Öffentlichkeit aus. Gewaltig sind auch noch die strukturellen Probleme. Mehr als 40 % der türkischen Erwerbstätigen arbeiten in der Landwirtschaft. Selbst das Agrarland Polen liegt weit unter diesem Prozentsatz. Es geht also für die Türkei um einen tief pflügenden wirtschaftlich-sozialen Reform- und politisch-rechtlichen Transformationsprozess – und um die Bereitschaft dazu: „Zum Jagen wird niemand getragen“ (heißt es hierzu nicht nur in Brüssel).

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der Menschenrechte und beim Schutz von Minderheiten.53 Die freie Meinungsäußerung bleibt eingeschränkt; die Kampagne gegen Menschenrechtsaktivisten dauert fort. Im Polizeigewahrsam und in Gefängnissen wird z. T. weiter gefoltert.54 Der Nationale Sicherheitsrat, ein Staat im Staate, also mehr als ein bloßes „Informationsorgan“, beeinflusst das politische Leben bis in den zivilen Bereich hinein. Die Staatssicherheitsgerichte amtieren weiter. Kurz: Die Zusammenarbeit mit der EU hat in der Türkei bisher keinen ähnlich starken Reformprozess ausgelöst wie in den meisten mittel- und osteuropäischen Kandidatenländern. Aus deutscher Sicht weist die Beitrittsfrage eine weitere Dimension auf. Zwischen der – bereits jetzt kostspieligen – EU-Politik des Heranführens der Türkei einerseits und der deutschen Zuwanderungspolitik andererseits bestehen Wechselwirkungen. Viele Deutsche schließen von dem hiesigen, teilweise konfliktgeneigten Verhalten einzelner Türken auf eine integrationsverhindernde Konfliktfreudigkeit „der“ Türken insgesamt.55 Solange 53 Der EMRGH (wie früher bereits die EMR-Kommission) hält die Türkei u. a. für Menschenrechtsverletzungen in Nordzypern, wo das türkische Militär „Hoheitsgewalt“ (Art. 1 EMRK) ausübt, verantwortlich. Unter den Individualbeschwerden erregte der Fall Loizidou v. Turkey besonderes Aufsehen: Die Türkei wurde wegen Vorenthaltung des Eigentums einer griechischen Zypriotin in Nordzypern verurteilt. Trotz mehrmaliger Aufforderung befolgt Ankara die Entscheidung nicht. Sollte es dabei bleiben, könnte dies zum Ausschluss der Türkei führen – für EU-Aspirationen das Sterbeglöckchen. 54 Ein (Folter-) Beispiel abgedruckt in: Human Rights Law Journal 21 (2000) S. 58 ff. Vgl. auch BT-Drs. 14/4724. Verfahren gegen Folterer sind selten. Hier liegt ein Schwerpunkt der europapolitischen „Türkeifrage“, also der diversen Konstruktionen, mit denen man in Brüssel (EU) und Straßburg (Europarat) den Mangel an umfassendem Menschenrechtsschutz mit der Europaaussicht der Türkei langfristig zu vereinbaren sucht. So gibt die EU Ankara auch die Gewährleistung der Meinungs-, Koalitions- und Religionsfreiheit vor, die de iure-Abschaffung der Todesstrafe (de facto ist sie bereits abgeschafft, wurde jedenfalls seit 1984 nicht mehr vollstreckt) sowie Garantien für die kulturellen Rechte von Minderheiten – bisher mit bescheidenem Erfolg. 55 Beitrittsvoraussetzung ist auch die Beilegung der Nachbarschaftskonflikte. Schon angesichts der EU-Mitgliedschaft Griechenlands spielt der Ägäis-Konflikt eine Rolle. Ähnliches gilt für die Zypern-Frage, Jean-François Drevet, Chypre en Europe, Paris 2000. Ist Nikosia erst einmal in der EU, wird Ankara außer Athen auch Zypern gegenübersitzen. Freilich sollte die Last, mit Athen zu Kompromissen zu gelangen, nicht Ankara allein aufgebürdet werden. Uneinsichtig können auch Griechen (und Zyprioten beider Volksgruppen) sein, etwa bei der „Verteidigung ihres Blut- und Meeresbodens“. Der ER von Helsinki (1999) hatte die Beitrittsländer aufgefordert, etwaige ungelöste Grenzstreitigkeiten gemäß UN-Charta zu

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die Arbeitslosigkeit unter den Türken in Deutschland größer ist als unter den Einheimischen, solange der Anteil der türkischen Jugendlichen in den Lehranstalten nicht ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht, hinkt die Integration in der Tat.56 VI. Ortsbestimmung der Türkei: Vorderasien oder Europa? Ob dereinst die Türkei der EU beitreten wird, hängt demnach weniger von den Europäern als von den Türken ab. Sie stehen am Scheideweg. Schlägt Ankara den Pfad „Barcelona“ ein, wird es in Europa willkommen, ja mit 63 Millionen Einwohnern bei weiter starkem Bevölkerungswachstum – der demographische Faktor spielt in der EU seit Nizza 2000 eine Schlüsselrolle – bald eines der führenden Länder sein. Ob das der Fall sein wird, oder ob die Zukunft der Türkei eher Richtung „Baku“ zeigt, ist derzeit nicht zu sagen. In all den Monaten seit Helsinki 1999 ist Ankara auf dem Europäisierungspfad nicht recht vorangekommen.57 Die Türkei sieht sich selbst, offenbar auch langfristig, weniger als Teil einer überwölbenden Gesamtheit, die einer gemeinsamen „Verfassung“ gehorcht, denn als kulturellen Sonderfall. Während der EU-Zug für mehr als ein Dutzend Beitrittskandidaten zur Abfahrt gepfiffen hat, verhandelt Ankara noch am Schalter über einen Preisnachlass.58 lösen und notfalls (was Ankara seit Jahren ablehnt) den Internationalen Gerichtshof anzurufen. Der ER will die Situation, besonders im Hinblick auf den Beitrittsprozess, spätestens 2004 überprüfen – das Damoklesschwert über Zypern und der Türkei. 56 Je mehr sich ihr Mutterland Europa gegenüber öffnet, desto einfacher wird es für die hiesigen Türken, Deutschland nicht nur als transitorisches Job- oder Exilland, sondern als zweite Heimat anzunehmen – mit der Notwendigkeit des Spracherwerbs als entscheidendem Integrationsschritt. Schon heute ist der zweithäufigste deutsche Nachname ausländischer Herkunft „Yilmaz“ (= „furchtlos“). 57 Im Fortschrittsbericht der EU-Kommission v. 8. 11. 2000, der die Lösung der Kurdenfrage nicht ausdrücklich als Aufnahmekriterium formuliert, heißt es, Ankara erfülle weiterhin nicht die politischen Kopenhagener Kriterien. Die nächste Etappe im EU-Beitrittsprozess wird die Prüfung des „Nationalen Programms“ (s. o. Fn. 3) durch die EU-Kommission sein; deren erste Reaktion war verhalten. 58 Die nationale Identität der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV) genießt freilich nur insoweit Schutz vor Eingriffen der EU, als sie auf den in Art. 6 Abs. 1 EUV festgeschriebenen Grundprinzipien basiert. Der domaine réservé ist, wie der Fall des von Frühjahr bis Herbst 2000 politisch sanktionierten Österreichs zeigte,

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Die Teilhabe an der europäischen Integration wirft für die Türkei größere Identitätsprobleme auf als für Europa, gewiss. Ein Beharren Ankaras auf einer Sonderrolle oder sonstiger Beitrittserleichterung müsste freilich dazu führen, dass die europäisch-türkische Beziehung über eine lieblose Dauerverlobung (oder das helvetische Präjudiz des bloßen Bilateralismus) nicht hinaus gelangt: Teile der türkischen Elite und Jugend wollen schon „wie Europa werden“,59 aber das Land insgesamt, so der Eindruck, schafft dies noch lange nicht – aus den skizzierten tiefgreifenden kulturellen, historischen und damit letztlich strukturellen Gründen. Es wird mehr von der inneren Entwicklung der Türkei abhängen als vom Verhalten der EU, ob sich die im Dezember 1999 in Helsinki stipulierte türkisch-europäische Zusammengehörigkeit historisch-politisch durchsetzen wird. Die Voraussetzungen dafür sind derzeit bei weitem nicht erfüllt. Wünschenswert wäre, bei schrittweisem Abrücken Ankaras vom reklamierten kulturellen Sonderfall, eine wechselseitig bereichernde, dauerhafte Verbindung auf gemeinsamem Fundament: das „Hagia Sophia-Modell“. Die von den Architekten Anthemius und Isidorus geschaffene Kuppelbasilika war beim Fall Konstantinopels schon 1000 Jahre alt. Eines der architektonischen Meisterwerke der Welt, wurde die Hagia Sophia mit vier neuen schlanken Türmen zunächst in eine Moschee,60 seit 1934 dann unter Freilegung der übermalten christlichen Mosaiken in

erheblich eingeschränkt. Ein EU-Mitgliedstaat Türkei könnte sich auf das Abwehrargument „Einmischung in innere Angelegenheiten“ nur noch in Ausnahmefällen berufen. Art. 7 EUV regelt Verfahren und Rechtsfolgen (bis hin zum Stimm- oder Finanzentzug) der „Unionsaufsicht“, die der Sicherung der europäischen Werteordnung dient, polemisch freilich bereits als „Österreich-“ oder „Kleinstaatenklausel“ bezeichnet wird. 59 Ankara ist bereits in überstaatliche Kontexte (Europarat, Nato, OSZE usw.) eingebunden. Das, was westliche Verfassungsstaaten für ihr eigentliches Wesen halten, ist heute nur noch in diesen Zusammenhängen zu bewahren. Hinter diese Verschränkungen treten, wo es auf eine Wahl ankommt, die nationalen Möglichkeiten zur Unabhängigkeit zurück. In diesem souveränitätsrelativierenden Sinne ist die Türkei in den letzten Monaten offenbar nicht vorangekommen (ebenso wenig übrigens die Schweiz, sieht man von ihrer europageneigten Führungsschicht ab). 60 Schon 1847 – 49 war die einst größte Kirche der Christenheit restauriert worden. Lange Zeit galt sie als ein Zeichen für Eroberung und Identitätsraub und als ein Beispiel für (trotz großer türkischer Baumeister) unzureichende Originalität.

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ein großartiges laizistisches Museum verwandelt – ein Zeugnis eurasischmediterraner Kulturgeschichte,61 ein Modell gegenseitigen christlich-muslimischen Zugewinns.

61 Die Mesquita in Cordoba ist das Gegenbeispiel. Mitten hinein in dieses gewaltige maurische Bauwerk aus dem 8./9. Jahrhundert ließ Karl V. eine Renaissancekathedrale bauen. Er soll sich schaudernd abgewandt haben, als er das fertige Werk sah. Die beiden Bauwerke befruchten sich nicht, sie bekämpfen sich nicht, sie sind sich, obwohl Steine, Bögen, Kapitelle die gleichen sind, in vollkommener Weise fremd. Sie bleiben jedes für sich, auch wenn sie ineinander stehen.

„Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde“ Europas Identitäten* Auf einem langen Flug nach Neu-Delhi vor fünfundzwanzig Jahren kam ich mit einem indischen Geschäftsmann ins Gespräch. Er pries die „asiatischen Werte“, deren sich damals die erfolgreichen Industrieländer Japan, Taiwan und Südkorea rühmten. China und Indien, die aktuellen Aufstiegsmächte Asiens, gehörten noch nicht zu den Konkurrenten Europas. „Und Ihr Europäer“, fragte der Inder ein wenig von oben herab, „was sind Eure Werte? Was ist die Besonderheit Europas?“ Wesentlich sei wohl die Prägung durch eine Jahrtausende alte gemeinsame Geschichte, improvisierte ich, kennzeichnend politisch erkämpfte Errungenschaften: Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie. Dies verdanke sich dem jüdisch-christlich-römischen Erbe, dem Geschenk von Humanismus und Renaissance, der Erfahrung von konfessionellen Spaltungen und europäischen Bürgerkriegen, der Prägung durch Aufklärung und Moderne. Die sich vertiefende Integration Europas habe unser Denken weiter europäisiert. Meinen Gesprächspartner beeindruckte diese abstrakte Aufzählung offensichtlich nicht. Höflich wechselte er das Thema. Mich aber hat die Frage nach den „europäischen Werten“, also die nach dem Wesen Europas nicht mehr losgelassen. So organisierte ich an der Universität Tübingen eine deutsch-französische Identitäts-Tagung, dokumentiert in einem Sammelband, veröffentlicht von der Universität Aix-en-Provence.1 Ein flammendes Bekenntnis zu einer französisch-deutschen, gar europäischen Identität wurde es nicht. Die Sprachen und damit die ja sprachlich vermittelten und strukturierten Rechtstraditionen, -begriffe und -systeme erwiesen sich als hohe Barrieren. Als Medium der Kommu* Aus: M. Sachs / H. Sickmann u. a. (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat. Festschrift für Klaus Stern, Berlin 2012, S. 1001 – 1014. 1 W. Graf Vitzthum / M. Pena (Hrsg.), L’identité de l’Europe. Die Identität Europas, Aix-en-Provence / Marseille 2002.

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nikation und der Identitätsstiftung ist eine gemeinsame Sprache2 offenbar wichtiger als eine Gemeinschaftswährung, zumal wenn letztere, wie das hoch- und ausgreifende europäische Integrationsprojekt insgesamt, aktuell in einer Krise steckt. Wegen meines fortbestehenden Interesses an der Identitätsfrage ergreife ich gerne die Gelegenheit, das Thema erneut zu behandeln, schon aus Raumgründen freilich essayartig zugespitzt. Dies erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem Europa sich nicht mehr im Mittelpunkt der Welt sehen kann. Die Welt ihrerseits ist mittlerweile multipolar, globalisiert, vernetzt. Die bevölkerungs-, raum- und ressourcenreichen neuen Führungsmächte China und Indien drängen, wie gesagt, stark nach vorn. Auch die wichtigsten Schwellenländer (politisch korrekt: die „emerging markets“) gewinnen an Bedeutung, Brasilien und Südafrika zumal, keineswegs nur bei Tourismus und Fußball. Dem Zusammenwachsen Europas ist dieser Außendruck womöglich förderlich. Die Integration ist, trotz ihres Preises, ohnehin unaufhaltsam. Zentrale Sachfragen, nicht zuletzt unsere ökonomische und ökologische Sicherheit, sind in selbstbezogener Isolierung nicht mehr lösbar. Die weltumspannenden elektronischen und sozialen Netze fordern, zumal in den Augen der Twitter- und Facebook-Generation, überkommene Konzepte wie „Souveränität“, „innere Angelegenheiten“ und „nationale Identität“ heraus. Die Identität der Mitgliedstaaten ist europäisch (und partiell auch atlantisch, mediterran und eurasisch) überlagert. Der individuelle Staat in Europa, ein Teil nur noch eines Ganzen, ist ohne diese Einbindung nicht dauerhaft überlebensfähig. I. Meine These vorab: Europas Identität ist seine Pluralität, in den Grenzen der Legalität. Es ist die in seinem Rechtssystem (im Hegelschen Sinn) aufgehobene, gehegte, fortentwickelte kulturelle und ethnische Vielfalt Europas, die seine Besonderheit ausmacht, für alle hier lebenden Menschen. Europa hat, unter Abwehr extremistischer Kräfte, kraftvoll für 2

Vgl. W. Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, in: VVDStRL 65 (2006), S. 386 (393 ff.). Dabei kann die Sprache auch ein Instrument der Ausgrenzung und der Machtprojektion sein. „Deutsch ins Grundgesetz“ fordert eine beim Deutschen Bundestag eingereichte Massenpetition. Europäische Instanzen diskriminieren die deutsche Sprache, eine der gleichberechtigten Amts- und Arbeitssprachen in der EU (Deutsch ist die größte Sprachgruppe der Union), nicht.

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seine Werte einzutreten, für Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit also, für eine unabhängige Justiz und eine egalitäre Demokratie. Eine über den Rechtsgehorsam hinausgehende („Leitkultur“-) Identifikation freilich, sollte sie trotz der Vielstimmigkeit Europas formulierbar sein – am ehesten wohl auf der Grundlage und in den Grenzen eines „europäischen Grundgesetzes“ –, darf niemandem abverlangt werden: keine Identifikation mittels Sanktion. Es sind demnach nicht die drei monotheistischen Buchreligionen, die Europas Identität konstituieren. Dies leisten vielmehr in erster Linie die Grund- und Menschenrechte. Im Eintreten für universale Werte ist Europa am einigsten mit sich selbst.3 II. 1. Bei der Analyse des undeutlichen Modebegriffs „Identität“4 ist zunächst an das vertraute Verfahren der Identitätsfeststellung zu denken, an die Klärung der Personalien etwa durch Verkehrspolizisten oder bei der Zulassung zu einer Prüfung. Stimmt die kontrollierte Person mit den im Ausweis aufgeführten Merkmalen überein? Identität ist demnach die Frage nach Gleichheit (idem: dasselbe), nach wesensmäßiger Übereinstimmung. So hat sich etwa die Bundesrepublik Deutschland staats- und völkerrechtlich von Anfang an als mit dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 identisch definiert (Identitätstheorie), sich also nicht als Nachfolge- oder „Fortsetzerstaat“ verstanden.5 Jene (Art-)Gleichheit hat eine objektive und eine subjektive Dimension.6 In ersterer Hinsicht 3 W. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, in: Europarecht 37 (2002), S. 1 (10): „Europa ist dort am europäischsten, wo es universalistisch ist.“ Die Begriffe, die Worte sind alle freilich nicht viel wert, wenn man nicht sagt, was universalistisch sein soll. 4 Hierzu und zum Folgenden L. Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Rheinbek bei Hamburg 2000; W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, Bonn 1985, S. 13 ff.; M. Delgado / M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, München 1995; Th. Meyer, Identität Europas. Der EU eine Seele?, Frankfurt/M. 2004. 5 Vgl. BVerfGE 36, 1 (16 f.); 40, 141 (171); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., München 1984, S. 238 ff., 261. 6 Hierzu und zum Folgenden St. Korioth / A. von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff., 156 ff.

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geht es bei der Identitätsfeststellung um das Eigentümliche, das Wesen eines Individuums oder einer Vielzahl von Individuen (also eines Kollektivs), im Vergleich mit dem Besonderen anderer Personen, Gruppen, Völker. Insofern ist etwa die Muttersprache Heimat, die gemeinsame Sprache ein Stück Identität. In subjektiver Hinsicht handelt es sich um innere Einstellungen, um ein Gefühl des Übereinstimmens, des Dazugehörens: als Person zu anderen Personen, etwa zu einer Familie, als Gesellschaft zu anderen Gesellschaften, als Briten zum Beispiel in einer traditionsreichen „special relationship“ zu den Nordamerikanern, als Türken in Deutschland zu anderen (Deutsch-) Türken im firmeneigenen oder kommunalen „Türken-Treff“, als Franzosen zum einst von Frankreich kolonisierten und partiell annektierten Maghreb. Meine Skizze fragt nicht nach Identität allgemein, sondern nach Europas Identitäten. Dabei geht es primär um jene subjektive, psychische Bedeutung des Begriffs, um etwaige gleichgerichtete Befindlichkeiten, um ein gefühlsmäßiges Verankert-Sein oder dessen Verlust oder Fehlen. Ich erörtere zudem die objektive Dimension: die Ideengehalte, von denen Individuen oder Kollektive geprägt sind.7 Identifiziert sich die hier lebende Bevölkerung, auch angesichts ihrer durch Zuwanderung erhöhten Vielfalt, mit Europa? Folgt daraus gegebenenfalls das Bewusstsein einer gemeinsamen Besonderheit, eines Europäer-Seins? 8 Identität bildet sich in Bezug auf andere Menschen, Gruppen, Völker durch Vergleichen, durch Billigen oder Ablehnen. Das Erleben und Befördern von europäischer Identität verlangt Kenntnis der Eigengruppe und Identifikation mit ihr: „Das sind wir“. Zugleich wird Distanz zur „Fremdgruppe“ induziert: „Das sind die anderen, das sind Asiaten, wir dagegen sind Europäer“ (wobei 7 Bei diesem Verständnis von Identität geht es um eine Kette von Ideen, die gekommen sind und gegangen, die zur allgemeinen Haltung wurden, zum common sense. Der Einzelne muss die Glieder dieser Kette gar nicht bemerken, muss die Ideen nicht kennen, sie müssen ihm nicht bewusst werden. Gleichwohl sind sie da, ständig wirksam, vielleicht nur in irgendwelchen Büchern niedergelegt. Jeder hat Anteil an ihnen, jeder spürt sie wie ein Sediment am Grund von Gewässern, das man nicht sieht und das doch Grundlage von allem ist was wird, der Humus im Untergrund, aus dem alles wächst und blüht und der den Charakter des Wachsenden bedingt. Früher nannte man diese bestimmte Kette von Ideen die „Seele“ einer Gemeinschaft, eines Volkes, einer Gruppe von Völkern. „Identität“ ist terminologisch distanzierter, man kann leichter darüber reden, muss sich weniger engagieren und läuft nicht Gefahr, in Psychologie abzurutschen. 8 Weidenfeld (Fn. 4), S. 27: „Europa liegt dort, wo sich Europäer als Europäer empfinden.“

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leicht übersehen wird, wie stark „wir“, etwa in Wissenschaft, Bildender Kunst, Architektur oder Medizin, von den „Fremden“ beeinflusst worden sind). 2. Wirkmächtig bei der Identitätsbildung, aber nicht „erforderlich“ ist Feindschaft, am stärksten „Erbfeindschaft“. Die Identität, die einem ein Feind verschafft (der Einfall der Mongolen, „die Türken vor Wien“, „die gelbe Gefahr“ usw.), ist freilich eine abhängige, eine geborgte. Sie ist eine Identität der Unfreiheit, der Fixierung. Der Feind definiert den verbleibenden Spielraum. Europa benötigt zu seiner Identität keine Abneigung gegenüber einem gemeinsamen Nachbarn (etwa im Süden oder Osten), kein „Zu den Waffen!“ gegen einen Feind (z. B. einen solchen „am Hindukusch“), keine Abgrenzung gegenüber einem politisch-wirtschaftlichen Konkurrenten (Stichwort „Antiamerikanismus“). Wir wollen keinen Feind haben müssen, um „wir“ sagen zu können. Wen sollte Europa auch als Feind identifizieren? Es ist darum ja noch nicht jeder gleich „Freund“. Ein gemeinsamer, wenn auch womöglich irrtümlicher Glaube an eine gemeinsame Herkunft („Daher kommen wir“) hilft der Identität ebenso auf wie eine gemeinsame (Glücks- oder Katastrophen-)Geschichte und eine korrespondierende Geschichtsbezogenheit. Hilfreich ist zudem eine gemeinsame Verfassung:9 als Speicher des Erfahrenen, als Dokument der gemeinsamen Grundwerte, als Aufriss des Geplanten. Das Bonner Grundgesetz von 1949 etwa erlangte von Anfang an hohe Bedeutung für das deutsche Selbstverständnis. Beim Zusammenwachsen im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands hat sich der „Verfassungspatriotismus“10 trotz seiner Abstraktheit Einheit fördernd bewährt. Das verfassungsähnliche, durch den Reformvertrag von Lissabon nun neu geordnete europäische Primärrecht11 könnte im Laufe der Zeit ähnlich wirken, könnte das gemeinsame Gedächtnis, Selbstgefühl und Programm des Alten Kontinents also stärken. Erst recht würde dereinst eine Europäische Ver9 Nachweise in: O. Depenheuer / Chr. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, Tübingen 2010, S. 560 ff.: „Verfassung als Integrationsmedium“ (Depenheuer). 10 D. Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: FAZ vom 23. 5. 1979; J.-W. Müller, Verfassungspatriotismus, Berlin 2010. 11 Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon legt in Art. 1 Abs. 3 S. 2 fest: „Die Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist“ – eine Nachfolgeregelung also, nicht das Postulieren reiner Kontinuität bzw. Identität.

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fassung, wenn die Zeit dafür reif ist – was bei dem gescheiterten Verfassungsvertrag nicht der Fall war –, einen vergleichbaren Sog erzeugen, könnte der Identität des ja nach wie vor recht heterogenen Europas also aufhelfen. Bis auf weiteres leisten dies die mitgliedsstaatlichen Verfassungen, die sich immer stärker einander angleichen und die ihrerseits, als Verfassungsverbund, dem Unionsrecht neue Impulse geben. Staatenübergreifende Organisationen wie die mit dem Vertrag von Lissabon neu fundierte Europäische Union (EU), der Europarat oder die Nato, ja ganze Kontinente, Asien etwa mit seinen eingangs erwähnten spezifischen Werten, von denen freilich selbst dort niemand mehr spricht (wohl aber von „islamischen Werten“) – sie alle können ebenfalls ein kollektives Empfinden entwickeln, lehren, befestigen. Voraussetzung bleibt freilich eine gewisse Gleichartigkeit der Mitglieder, entstanden aus gemeinsam erlebten und empfundenen „Lagen“, aus gemeinsamer politischer Ortsbestimmung und wirtschaftlich-sozialer Entwicklung, aus übereinstimmenden Wertgrundlagen, Erwartungen, Hoffnungen („Zukunft formt Identität“), aus gleichgerichtetem, rechtvergleichend und -angleichend stabilisiertem Wollen und Tun. Unversöhnliche religiöse, ethnische, kulturelle oder soziale Fragmentierungen, ja z. B. bereits eine dauerhafte Integrationsverweigerung seitens umfangreicher Gruppen von Zuwanderern, können den gegenteiligen Effekt haben und das Entstehen kollektiver Interessen und größerer politischer Einheiten verhindern. Wie oft haben in Europa Konflikte zwischen Religionen oder Ethnien zu Krieg und Völkermord geführt! 3. Eine kaum entbehrliche Voraussetzung stabiler Gesellschaften ist ein bewusstes, womöglich „erlerntes“ oder gar konstruiertes Gemeinschaftsgefühl. Das ist der Hauptgrund für die Identitätspolitik europäischer Institutionen. Innere Einstellungen und Überzeugungen sollen parallelisiert, europäische „Wir-Gefühle“ kreiert, Identitätsmuster etwa in Literatur oder Kunst vorgezeichnet werden. Nach dem Verblassen neuerer äußerlich integrierender Erfahrungen – die Fußball-„Sommermärchen“ etwa sind schon vergessen; die Gewinnerin des „Eurovision Song Contest“ wenigstens ist noch präsent – soll ein europäisches Bewusstsein gezielt gefördert und ein verwaltungsmürbes Integrationswerk revitalisiert werden: mittels gemeinsamer Rechtstexte, vermehrter Parlaments- und Bürgerbeteiligungen, sprechender politischer Slogans und Symbolen (Flagge, Hymne, Pass). Der im Bericht einer „Reflexionsgruppe“ jüngst skizzierte mei-

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nungsfrohe Ansatz überzeugt.12 Ein noch so gutgemeintes identitätspolitisches Nachhelfen darf freilich nicht überzogen werden: kein Umschlag von Identitätspolitik in Indoktrination! Worum geht es konkret? Offensichtlich sollen emotionale Konsensquellen die Legitimation durch Leistung ergänzen. Dem Integrationswerk soll sein „Ethos“, sein „Charisma“ wiedergewonnen werden (Václav Havel). Es soll „in den Herzen“ einen „Widerhall finden“ (Raymond Aron). „Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben“, konstatierte Jacques Delors, damals Präsident der Brüsseler Kommission. Und in der Tat: Ökonomische Vernunft allein fundiert die Integration nicht hinreichend. Für Brüssel lässt sich, drastisch formuliert, niemand totschießen, nicht einmal ein dort Beschäftigter. Europabegeisterung, gar Europapatriotismus sucht man auch in Luxemburg und Straßburg vergebens. So soll die Politik der Identität dem Einigungswerk die unentbehrliche irrationale Substanz zuführen. „Irrational“ bedeutet dabei lediglich, dass es etwas gibt, das außer jeder Rechtfertigung und weiteren Diskussion steht: ein Bewusstsein und ein Verhalten des Dazu- und Zusammengehörens.13 4. Die menschen- und unionsrechtlichen Freiheits- und Gleichheitsverbürgungen, nicht anders als die Garantien der mitgliedsstaatlichen Verfassungen, ziehen der Identitätspolitik Grenzen.14 „Identität“ ist kein Hebel zu forcierter Assimilierung, gar zu diskriminierender Ausgrenzung. Identitätspolitik darf weder auf jakobinische Egalität noch auf völkische 12 Projekt Europa 2030. Herausforderung und Chancen, Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft der EU 2030 an den Europäischen Rat, Brüssel 2010. Ebd., S. 47 wird „Achtung“ der „unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Religionen sowie der regionalen und lokalen Besonderheiten“ angemahnt: „Die Öffentlichkeit wird die EU erst dann wieder als eigenes Projekt annehmen, wenn unsere Völker darauf vertrauen, dass ihre Werte und Interessen von der Union besser vertreten werden.“ 13 Vgl. W. von Simson, Voraussetzungen einer Europäischen Verfassung, in: J. Schwarze / R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, Baden-Baden 1984, S. 91 ff. (108); ders., Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk“?, in: Europarecht 1991, S. 1 (4), fragt, „ob sich die Verfestigung des Ganzen herstellen lässt ohne die Wurzel im Unbestimmten, in erdichteter Vergangenheit und in erträumter Zukunft, wie der Staat in seiner Eigenart sie bietet“. Ebd., S. 18: „Wir brauchen ein Europa. Aber es darf nicht so bedenkenlos eingerichtet werden, dass es seinen Halt verliert in denjenigen Elementen, die vorerst nur in einzelstaatlicher Verschiedenheit zu bewahren sind.“ 14 von Bogdandy (Fn. 6), S. 178 ff.

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Homogenität zielen. Gemeinschaftsgefühl und Unterschiedlichkeit sind – um meine Eingangsthese aufzugreifen – keine einander ausschließenden Gegensätze. Das zeigt schon die Geschichte Europas. Die bewusste Erfahrung der eigenen Vielfalt, das reflektierte Erleben der fehlenden Einheit erhöht das Verständnis für die Andersartigkeit anderer Menschen, anderer Kulturen, anderer Strukturen. Nie haben die Europäer eine gemeinsame Sprache gesprochen, nie unter einheitlichen sozialen, kulturellen oder ökonomischen Bedingungen gelebt. So besteht Europas Identität primär in seiner rechtlich gesicherten Offenheit, im bewahrten und bejahten Fehlen einer Einheitskultur, im Bewusst- und Gewolltsein dieser Besonderheit. Dies mag der (Plural-) Ausdruck „Identitäten“, der Pluralität und Differenz mit umfasst, am ehesten treffen. Dem Funktionieren eines Gemeinwesens ist ein einheitliches „Wir-Gefühl“ förderlich. Es ist aber ebenso wenig unentbehrlich wie ein hohes Maß an patriotischer Opferbereitschaft oder an sonstigem Gemeinsinn. Einer gemeinsamen Konzeption des guten, des richtigen, gar des „schönen Lebens“ (Stefan George) bedarf es ebenfalls nicht. Vielstimmigkeit, Dispute, Reibereien und Konflikte sind normal. Zumal in Europa gehören sie zum Leben. Sie führen keineswegs zwangsläufig zur Erosion der Grundlagen; jedenfalls so lange das Streiten rechtsförmig, die demokratische Willensbildung komplex und die Umsetzung effektiv ist.15 Allenfalls in Zeiten existentieller Bedrohung, etwa in einem Krieg, ist eine über die Gesetzestreue hinausgehende Identifikation, ein Mehr an Kompromiss- und Integrationsbereitschaft etwa von Minderheiten oder Zuwanderern (nicht nur in der Form einer Kindergartenpflicht), notwendig und in Grenzen erzwingbar. Eine ausgrenzende Identifizierung der EU mit den christlichen Wurzeln Europas wäre unzulässig: Die EU ist keine Christenunion, mag auch das Christentum ein besonders prägender Faktor der Geschichte und, nachlassend, der Gegenwart Europas sein. Die Werte der Union sind, was man nicht von allen Glaubensinhalten sagen kann, universal. Sie sind nicht an eine bestimmte Region oder Religion gebunden, obwohl etwa die europäische Rechtskultur vielfältige christliche Wurzeln aufweist. Nichtchristen, Atheisten und Agnostiker gibt es in der EU in großer Zahl. Auch sie schützt die europäische Rechts- und Werteordnung. Gleiches gilt von den Millionen von Muslimen. Zu Recht hat Europa jeden religiösen, 15

Ders., ebd.

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weltanschaulichen und ethnischen Zentralismus in Frage gestellt. Europas Identität lässt sich insoweit auch negativ definieren: Umfasst wird die Erfahrung des Scheiterns aller weltmissionarischen Überheblichkeiten und ethnischen Mythen. Nicht zuletzt daraus folgt Europas Menschenrechtsund Zuwanderungsagenda sowie die Notwendigkeit, der eigenen Identität aufzuhelfen und sich ihrer immer wieder selbst zu vergewissern. Identität ist auch ein Lernprozess. III. Europa, was ist das? Europa – das sind drei Begriffe in einem: ein geographischer, ein kultureller und ein juristischer, wobei die Terminologie jeweils politische Dimensionen mit umfasst. Um diese drei Europabegriffe geht es nun, um eine Befragung der Geographie, eine Rekapitulation der wichtigsten geistig-kulturellen Prägekräfte sowie um Europa als einer Kategorie des Rechts. 1. Der geographische Begriff hat für unser Thema die geringste Aussagekraft. Lediglich im Westen und (überwiegend) im Norden ist Europa, diese „Halbinsel Asiens“ (Paul Valéry), ein Raum mit natürlichen Grenzen. Erst der arabische Vorstoß im 7./8. Jahrhundert und die Dekolonisierung im 20. Jahrhundert machten im Süden das Mittelmeer zur Grenze, obwohl „mediterran“ das Gegenteil meint. Als geographisches Konzept umfasst „mittelländisch” gleichermaßen die Nord- und die Südküste dieses ehemaligen Mare Nostrum. Ähnlich ist es mit der Grenze im Osten. Erst die Geographen des 18. Jahrhunderts haben nach der von Peter dem Großen vollzogenen Westöffnung Russlands die Ostgrenze zu Ural und Wolga vorgeschoben. So sieht es auch der Europarat, wenn er definiert: „Die (Ost-) Grenzen Europas verlaufen … am Ostrand des Ural …, im Süden entlang … der Ostküste des Asowschen Meeres.“16 Der Kaukasus mit seinem höchsten Berg, dem Elbrus, gehört nicht zu Europa in diesem erdkundlichen Sinn, sondern zu Asien. Der geographische Mittelpunkt Europas liegt wohl in Litauen. Der Großraum von den Azoren im Atlantik bis Wladiwostok, dem Endbahnhof der Transsibirischen Eisenbahn, ist „Eurasien“. Von diesem Doppelkontinent ist EU-Europa nur der weitaus kleinere Teil, im Unterschied etwa zum OSZE-Europa mit seinen 56 Mitgliedstaaten. 16 E. C. Marchant, The Countries of Europe as Seen by their Geographers, Council of Europe, Straßburg 1970, S. 46.

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2. Der kulturelle, vor allem kulturhistorische Europabegriff und damit die Frage nach unseren diesbezüglichen Wurzeln und Werten, mein zweiter Definitionsversuch, orientiert sich an einer über dreitausendjährigen Kette prägender Ideen, markiert, wie schon im einleitend erwähnten Gespräch improvisiert, durch die Benennung von Perioden: Scholastik – Humanismus – Renaissance – Aufklärung – Romantik – Moderne, um nur die jüngsten, für uns wichtigsten Epochen zu nennen. Für Europa ist es ein Weg, der sich aus der Tiefe des Glaubens bemüht, durch Rationalität herauf zu finden, ohne die Emotionalität am Rande liegen zu lassen. Heute sehen wir, dass wir im postmodernen Zweifel gelandet sind, ob wir nun weiter oben sind oder unten oder zwischendrin. Und Freunde haben wir uns nicht gemacht bei den Nichteuropäern durch unser Klettern nach oben, das wohl manchen Steinschlag erzeugte und viele der Anderen, die jene Ideenkette nicht oder nicht vollständig durchliefen, rücksichtslos als Menschenleiter benutzte. „Europa beginnt bei den Griechen“ (Christian Meier), gewiss. Aber nicht auf jene hellenischen Wurzeln (500 – 200 v. Chr.) unserer Kultur, auch nicht auf das Rom der Antike (500 v. Chr. – 350 n. Chr.) zielt meine Skizze, sondern auf unser Heute, unsere Lage, unsere Besonderheit, unser Bewusstsein. Mindestens bis zur Scholastik müssen wir gleichwohl zurückgehen, zu den Arabern. Sie waren uns überlegen an geistiger Toleranz und Ausdruckskraft. Durch ihre Übersetzer und Gelehrten lernten wir die griechische Philosophie kennen und ihr rationales Denken. Die Fremden regten uns an, die Tiefe unseres eigenen Glaubens, der aus dem Orient über die Römer in den Okzident gekommen war, rational zu zerlegen und so zu begreifen. Der christliche Glaube in der lateinisch-nizäischen Form (die Germanen waren Arianer, der Vordere Orient entwickelte sich vielfältig und anders) wandelte sich in unseren ersten vier Jahrhunderten17 zu einem europäischen, unserem eigenen Christentum. Das hat das geschichtlich-politische Geschehen bestimmt, das gesellschaftliche Leben beeinflusst, die Kunst animiert, die Wissenschaft gegängelt und behindert, die Emotionalität blockiert, das Thema „Abendland“ intoniert (in Überfremdungsangst halten heute manche das Abendland bereits durch das Kopftuch für bedroht).

17 Vgl. B. Schneidmüller, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. Europa 1200 – 1500, München 2011.

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Der Humanismus war die natürliche Reaktion, die Gegenströmung: eine Befreiung vom dogmatischen Abzählen der Elemente des Glaubens. Dieser wandelte sich zur bloßen, freilich weiterhin transnationalen und -ethnischen Religion: vom Inhalt, ja Zentrum des gesellschaftlichen Lebens zu einem Zusatz. Und schon ging es weiter, zur Renaissance (1400 – 1600). Aus Rationalem und Emotionalem und dem begeisterten Studium der Antike wurde die Entdeckung einer Welt „in ständiger Bewegung“ (Montaigne, 1580). Ideen- und identitätsgeschichtlich prägte besonders die Erzählung von der Würde des Menschen. Die Betonung lag nun auf der Individualität, auf dem zur freien Selbstbestimmung fähigen, ja berufenen Einzelnen.18 Damit war sie plötzlich da, die Stelle, in der heute zumal die asiatische Welt, etwa beim Diskurs über die Menschenrechte, mit Nachdruck bohrt: Nicht die Gemeinschaft steht in Europa an erster Stelle, nicht das Einpassen des Einzelnen in die Gruppe, sondern das Individualitätsideal, die einzelne Person also, die sich, in den Grenzen des allgemeinen Gesetzes, gegen die Gemeinschaft wehren kann, darf, soll, mit allen Auswüchsen an Egozentrik und Rücksichtslosigkeit. Die anderen waren ja „unterentwickelt“, nicht so christlich-abendländisch. Sie durften missioniert und kolonisiert werden, notfalls mit Gewalt.19 Damit hat die Renaissance das Doppelthema „Autonomie und Abendland“ so richtig in die Welt gebracht (auch die Kunst wurde autonom, der Künstler nun als schöpfergleiches Individuum selbstbewusst in Erscheinung tretend). Heute bekommen wir die Wut der Welt zu spüren. Natürlich musste das alles auch geistig verarbeitet werden. Damit war, im18. Jahrhundert (Deutschland damals ein Schwellenland, politisch zersplittert, ein Reichspatriotismus allenfalls in allerersten Ansätzen feststellbar), die Aufklärung geboren, war die Vernunft, das Gefühl verletzend, inthronisiert, waren Selbstdenken geboren und Eigenverantwortlichkeit gefordert. Was die Griechen an Rationalem durch Kontemplation aus ihren Gehirnen holten, suchten wir, die wir nie so recht unserem Gehirn trauten, aus dem Befragen der Natur zu erkennen, aus dem Experiment zu beweisen. Die europäische, die Wahrheit suchende, rationale Naturwissenschaft entstand, die positive intersubjektiv kontrollierte Wissenschaft, auf die wir 18

Vgl. den „Klassiker“ J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Leipzig 1860. P Burke, Die europäische Renaissance, München 1998, S. 287, rät, „die Grenze zwischen den Perioden, wie sie Historiker ziehen, zu verwischen, indem man die Dinge von mehr als nur einem Standpunkt aus betrachtet“. 19 Vgl. W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., Berlin 2010, S. 44 f.

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ja so stolz sind.20 Der einst alle und alles umfassende Glaube wird zur höchstpersönlichen Angelegenheit: Auf das Herz kommt es an, nicht auf die geistliche Beschwörung, nicht auf das gemeinschaftliche religiöse Ritual, die Säkularisierung ist unterwegs. Die Romantik (um 1800) reagiert dann wieder auf die Überbetonung des Rationalen: ein Versinken nun im Anverwandeln der Natur, im Rausch der Sonnenuntergänge, im Gefühl, in der Empfindung, im Heimatlichen, Volkstümlichen, Sinnlichen, Diffusen, ein Sehnen nach Leidenschaft, Spontaneität, Gesang und Einfachheit. Man sammelt jetzt, so Vieles hat sich in Bibliotheken und Galerien, die nun geöffnet werden, angehäuft, zu vieles für den Überblick. Glauben und Religion sind nur noch Emotion, das Spirituelle ist etwas ganz Eigenes, Besonderes, fast ein Kunstwerk. Und dann die Moderne, unsere postindustrielle, religionskritische, kommunikationsversessene Epoche! Was Tiefe hatte, wird flach (nicht nur der Bildschirm), die Gesellschaft mit Struktur wird, jedenfalls in den Augen angstbeladener Kulturpessimisten, zur Masse. In den westlichen Demokratien wird der Staat zur Funktion der (Informations-) Gesellschaft, die Staatskunst zum populistischen Wohlfahrts- und politischen Kommunikationsmanagement, jedes Konzert zum Event. Die Bildungsreise wird zum Pauschaltourismus, die Bibliothek zur Bilderwelt des Fernsehens und zur Informationsflut der elektronischen Wissensspeicher, der sozialen Netzwerke. Religion wird in modern-liberaler Sicht Privatangelegenheit, das christliche Bekenntnis modisch oder auch nicht, wie es eben beliebt. Angst, das lebensnotwendige Reizmittel für das Gehirn, ist nun etwas für die Couch. Der selbstbezügliche moderne Mensch kann sich das leisten. Eine zusammenfassende, überwölbende Vernunftgestalt gibt es in dieser Epoche der Fragmentierung nicht mehr, erst recht nicht im „anything goes“ der gelenkigen sprach-, bild- und raumverliebten Hoch- und Nachmoderne mit ihrem digitalen Voyeurismus. So einfach ist das mit dem kulturgeschichtlich entwickelten Europabegriff ? So einfach ist es natürlich nicht! Die skizzierten Epochen und Bewe20 Weidenfeld (Fn. 4), S. 20: „Diese Verbindung spezifischer politischer Ordnungsformen mit dem Drang zu wissenschaftlichem Erkenntnisfortschritt und zur Entzauberung der sozialen Welt sowie dem ethisch begründbaren individuellen Engagement im Wirtschaftsleben hat die Modernisierungskräfte in Europa wesentlich befördert.“ Die Verbesserung des Wissens über die Natur, die „wissenschaftliche Revolution“, hatte bereits im 17. Jahrhundert mit Macht eingesetzt; vgl. H. Butterfield, Origins of Modern Science, l300 – 1800, London 1949.

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gungen waren bekanntlich weit weniger kohärent und schwächer voneinander separiert als vorstehend aufgelistet. Alles, was zur Herausbildung des Gefühls der Identität gehört, war komplex, und es ist weiterhin vieldeutig, verschränkt, verworren. So begannen schon die Griechen der Antike mit der dann von Max Weber auf den Begriff gebrachten „Entzauberung der Welt“ und mit ihrer gleichzeitigen Wiederverzauberung durch den Mythos, die Künste und den Eros. Wie ließe sich Europa da kulturell definieren! Alle Bestimmungsversuche nach kulturgeschichtlichen Perioden, religiösen Inhalten oder künstlerischen Manifestationen weisen, so üblich sie auch sind, Defizite auf. Zu unterschiedlich sind die geistlichen, geistigen und sozioökonomischen Entwicklungen der einzelnen Völker und Räume. Groß, ja angesichts der identitäts- und integrationspolitisch zu Recht speziell geschützten Minderheitensprachen sich fast noch vergrößernd ist die Zahl der Sprachen in Europa (wobei Sprachen ihrerseits, wie gesagt, auch Dominanzinstrumente sein können). Keineswegs einheitlich ist die Ausgestaltung von Demokratie und Sozialstaat in Europa, beeinflusst von der jeweiligen nationalen Geschichte, Kultur und Wirtschaft, ja auch dem Klima. Die EU umfasst mehrheitlich Republiken, aber auch einige Monarchien. Einige präsidiale Systeme stehen neben vielen parlamentarischen Regierungsformen, strikt laizistische Ausprägungen finden sich neben staatskirchlichen. Europa ist eben weit mehr als „die Bibel und die Antike“.21 Dieses Mehr erschwert das Definieren eines gemeinsamen Nenners, mittels dessen sich ein kulturabgeleitetes Identitätsprinzip Europas bestimmen und dieses gegenüber den Imperialismen der neuen Globalkultur (Medien, Kommerz, Mobilität) verteidigen ließe. 3. Rechtlich-politisch ist Europa ebenfalls nicht einfach zu vermessen. Von diesen Schwierigkeiten leben wir Juristen, ähnlich wie die Soziologen und Psychologen vom Selbstbezug des modernen Ich. Ich muss mich hier, bei dem dritten Zugriff auf den Europabegriff, kurz fassen, obwohl schon die einschlägigen Termini, die etwa für Europarat und EU relevant sind, differieren. Zu unterschiedlich sind beide Institutionen, trotz zunehmender verfahrens- und materiellrechtlicher Verschränkung, in ihren formellrechtlichen Grundlagen und politischen Zielen: Verfassungsstaatlichkeit, Rechtsangleichung und Menschenrechtsschutz im Rahmen des bereits 60-jährigen Europarats (für 800 Millionen Menschen), wirtschaftliche, 21

K. Jaspers, Vom europäischen Geist, München 1947, S. 9.

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soziale und politische Integration im Rahmen der deutlich jüngeren Union. All die 47 höchst unterschiedlichen Staaten, die als Mitglieder im Europarat an die EMRK gebunden sind, darunter von Anfang an die Türkei und seit 1993 Russland, einschließlich seines viel größeren asiatischen Teils, als „europäisch“ zu qualifizieren, hat für die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten nur informationelle, keineswegs imperative Bedeutung. Der EU-Vertrag kennt, respektiert und normiert zwei Formen der Identität: die europäische und die nationale. Diese beiden Typen schließen einander nicht aus. Es gibt bekanntlich multiple soziale Identitäten, häufig auch solche mit differenten Gehalten. Wir alle leben in verschiedenen „Communities“, Bindungen, Rollen.22 Die Union und ihre Mitgliedstaaten koexistieren, kooperieren, konvergieren. Insofern lässt sich von Differenz und Identität sprechen, eben von Identitäten. Die Stabilität der Mitgliedstaaten ist Voraussetzung für die Stabilität der EU. Um der Union willen darf sich Deutschland in ihr nicht auflösen wie eine Brausetablette in einem Glas Wasser. Der EU-Vertrag schützt geradezu leitmotivisch nationale Identitätsgehalte, ja die mitgliedsstaatliche Identität als solche. In einer Art Arbeitsteilung gebietet er die Wahrung der kulturellen, nationalen und regionalen Vielfalt (dem korrespondiert Art. 22 der Charta der Grundrechte der EU: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“). Die Völker als Gruppen im identitätsrelevanten Sinn werden gewährleistet.23 Die europäische Einigung ist Ausprägung einer Erinnerungs-, Lern- und Überzeugungsgemeinschaft. Indem Europa seine gemeinsamen Werte konstitutionalisiert, konstruiert es seine Identität, aus sich heraus, mittels normativer Selbstbindung. Die Ende 2000 feierlich proklamierte Grundrechtecharta vor allem, seit 1. Dezember

22 Vgl. Reflexionsgruppe (Fn. 12), S. 50: „Wir alle besitzen eine mehrfache Identität mit lokalen, regionalen und nationalen Elementen. Ohne Zweifel werden für die Bürger noch lange Zeit in erster Linie diese Hauptidentitäten maßgeblich sein. Sie müssen jedoch einhergehen mit einer neu entstehenden ,europäischen‘ Identität, die auf einer gemeinsamen Sicht der Geschichte der EU, den praktischen Vorzügen der Unionsbürgerschaft sowie auf einer gemeinsamen Vorstellung von der Zukunft Europas und ihrem Platz in der Welt beruht.“ 23 So zielt der EU-Vertrag auf den „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ in einer „immer engeren Union der Völker Europas“, und die Grundrechtecharta der EU betont bereits in ihrer Präambel (3. Erwägungsgrund) die Bedeutung der „nationalen Identität der Mitgliedstaaten“.

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2009 geltendes Recht, sichert eine spezifische, mit den Mitteln des Rechts geschaffene Ordnung.24 Nicht die Geographie, nicht die Kultur – es ist in erster Linie das Recht, das letztlich Europa, jedenfalls EU-Europa, auf den Begriff bringt. Im Horizont seiner kulturellen und geographischen Gegebenheiten definiert, fundiert und stabilisiert das europäische Recht die Union, ihre Identität und Entwicklungsfähigkeit. Mythos und Kultur, Logos und Recht bieten dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung über die eigene Identität, nach Orientierung also und Zusammengehörigkeit mehr als Bürokratie und Geographie: den wiedergefundenen Stier (eine irrationale, fast mythische Bindungskraft) und eine Rechtsgemeinschaft. IV. Abschließend ist auf die herausfordernde Frage des asiatischen Geschäftsmanns nach den „europäischen Werten“ zurückzukommen. Seit jener Begegnung ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Heute würde ich einfach die Grundrechtecharta der EU präsentieren, die ich als identitätsbewusster Europäer, in Kenntnis der weltweiten Befragung Europas, immer unter dem Arm trage. Heute würde der Inder das Thema aber wohl gar nicht mehr anschneiden. Von außen betrachtet wirkt die Identitätsfrage fast schon verstaubt. Von draußen, etwa von Asien oder den USA aus, wird Europa in seiner Besonderheit, in seinem rechtlich gesteuerten Zusammenwachsen, in seinem krisenerprobten elastischen Zusammenhalt längst als Einheit begriffen. Europäische Vielfalt und Identität, wie gesagt, schließen einander nicht aus, gerade aus der Außensicht nicht. Das ist die von Europa zu lernende Lektion – geradezu ein Exportgut wie etwa auch die europäische Rechtskultur. Komplementäre Unterschiedlichkeit, eingefangen und fruchtbar gemacht in einem gemeinsamen Rechtsrahmen, ist anschlussfähiger als erzwungene Egalität.

24 J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl., Baden-Baden 2011; R. Bieber / A. Epiney / M. Haag, Die Europäische Union, 9. Aufl., BadenBaden 2011; Th. Oppermann / C. D. Classen / M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl., München 2009; J. Schwarze u. a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., Baden-Baden 2009.

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„Aber das Eigene“, skizzierte Friedrich Hölderlin im Jahr 1801 eine geradezu dialektische Programmatik,25 „muss so gut gelernt sein wie das Fremde“: neben der Erfahrung des Fremden bedarf es des Erlernens26 des Eigenen. Dieses wird durch das Fremde begriffen, so wie der Tag erst durch die Nacht deutlich wird und das Glück durch das Unglück. Der Gang ins Offene, ins ferne Freie erschließt das Nahe, Geschlossene. Beim Erlernen des Fremden wird dieses nah und das Vertraute fremd, wird die Heimat ein utopischer Ort und das ferne Archipel zur Heimat. Das Eigene wird, ohne es mit dem Fremden gleichzusetzen, als Teil des Fremden erfahren, das Fremde als Element der eigenen Wirklichkeit. Das Fremde und das Eigene sind, hegelianisch verstanden, die beiden Koordinaten des Lebens – des Lebens und Denkens nicht nur dieses freiheitsbedürftigen und geradezu fremdheitssüchtigen Dichters. Ohne einfach als gegeben und als gleich vorausgesetzt werden zu dürfen, gehören sie zusammen, in einem dialogischen und dialektischen Verhältnis. Als solche lassen sie sich auf Europa übertragen, auf seine Einheit in Vielfalt. Die rechtlich geschützte Pluralität, haben wir gesehen, markiert Europas Identität. Die Europäer sind auf dem Weg zu einer „immer engeren Union“ ihrer Völker. Diese, die eigenen Völker, sind ihnen nahe, vertraut. Die politische Einigung ist demgegenüber noch unerschlossen, noch fern. Die Europäer müssen sich selbst, ihr Eigenes, stärker als ein EuropäischSein begreifen. Sie müssen es als solches, als den bloßen Teil eines gewachsenen Ganzen, erfahren, wollen, gebrauchen. Das schwerste aber, ergänzte

25 Brief an C. U. Böhlendorff vom 4. Dezember 1801: „…Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen … Aber das eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde. Deßwegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserem Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil, wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist“ (wobei Hölderlin „freie“ und „Eigenen“ durch Sperrung hervorhebt). 26 Das Wort „Lernen“ hatte damals eine andere Bedeutung als heute nach einem Jahrhundert Psychologie und einem halben der Gehirnforschung. Das Eigene ist ja das Eigene, weil man es hat, man muss es sich nur bewusst machen. Das Fremde nur, das von außen Kommende, muss man lernen. Die Muttersprache hat man, eine Fremdsprache muss man erst lernen. Insofern meint Hölderlin primär, dass es schwierig sei, sich des Eigenen bewusst zu werden, vielleicht schwieriger als sich Fremdes anzueignen. Immer wieder ist das Eigene verstellt durch Hoffnungen, Wünsche, Illusionen, so dass man es nicht erkennen kann, nicht erkennen will. Doch bleibt es etwas deutlich anderes als das Erlernen des Fremden, weil es vorhanden ist, wenn auch in Teilen unbewusst.

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Hölderlin vor zwei Jahrhunderten, das schwerste ist „der freie Gebrauch des Eigenen“.27 Er formulierte damit ein europäisches Lernprogramm.

27 Das Eigene ist dabei nicht wertvoller als das Fremde, nicht besser, edler, größer, schöner, wahrer – aber es ist das Eigene, weil es nun mal vorhanden ist, und es „frei zu gebrauchen“ ist schwierig. Gleichwertigkeit des Eigenen und des Fremden: ja, aber Gleichsetzung: nein.

Personen und Positionen

Europa und Demokratie denken: Werner von Simson* Zähle ich im Geiste auf, an wen ich mit der größten Bewunderung zurückdenke, so ist Werner von Simson (1908 – 1996) der Erste. Er war der Lehrer, der meine wissenschaftlichen Versuche begleitete, zunächst als Mentor, dann als verehrter Kollege und Freund. Sein Lebenslauf und sein Denken sind in vorbildarmer, Orientierung suchender Zeit ins Gedächtnis zu rufen. Das zerrissene, gefahrvolle 20. Jahrhundert, in dem das Politische auf elende Weise zum Schicksal wurde, bildet den Horizont dieses exemplarischen Lebens und Oeuvres. Nachfolgende erinnernde Skizze beginnt mit Simsons Vita (I). Es folgt eine Untersuchung seiner zentralen fachlichen Entdeckungen und Einsichten (II). Abschließend werden sein Wesen und seine Ausstrahlung umrissen (III). Meine These: Simsons Erkenntnisse über Demokratie und Europa sind sein wichtigstes wissenschaftliches Vermächtnis; seine Ritterlichkeit, seine Achtung für die Freiheit der anderen und seine Freude an allem Geistigen sind sein stärkstes menschliches Vermächtnis. I. Manches von Werner von Simsons Lebensgang weiß ich aus seinen Erzählungen, anderes aus den erinnernden Schilderungen, die er 1983 im Jahrbuch für öffentliches Recht und 1991 in den Freiburger Universitätsblättern veröffentlichte. Als Abkömmling einer bekannten deutsch-jüdischen Juristenfamilie wurde er am 21. Februar 1908 in Kiel geboren. Er war der zweitälteste Sohn des Korvettenkapitäns a. D. Hermann Ed. von Simson (1880 – 1951) und dessen Ehefrau Marianne, geb. Rauhaus (1884 – 1932), einer Kaufmannstochter. Hermann und Marianne von Simson hinterließen eine fast unübersehbare, über die ganze Welt verstreute Nachkommenschaft. 1919 kam Werner mit seinen drei Brüdern auf das *

Originalbeitrag 2020.

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berühmte Joachimsthalsche Gymnasium in Templin. „Glückliche Jahre“, erinnerte er sich, „Jahre der Musik und der alten Sprachen“. Simsons Passion war die Musik, er wollte Komponist werden. Rechtzeitig erkannte er, dass ihm auf diesem Gebiet wohl nur Epigonales gelingen würde. „Man muss ja nicht nur lernen, wer man ist“, sinnierte er, sondern vor allem, „wer man nicht ist, so sehr man es sich auch wünschte“. „In unserer Familie wurde“, erzählte Simson, „wer irgend auf sich hielt, Jurist.“ Sein 1888 geadelter Urgroßvater Eduard von Simson (1810 – 1899), ein evangelisch getauftes Kind jüdischer Eltern, war – eine gelungene deutsch-jüdische Symbiose – Präsident der Verfassunggebenden Nationalversammlung 1848/49, schließlich der erste Präsident des Reichsgerichts. Also Jurist, auch Werner von Simson. Die ersten drei Semester absolvierte er ab 1927 in Freiburg, die abschließenden drei in Berlin. 1930 und 1934 legte er am Kammergericht die Staatsexamina ab. Das intellektuelle und kulturelle Lebensgefühl der Metropole und die blühende, dann von den Nazis grausam zerstörte deutsch-jüdische Geisteswelt prägten ihn. Jahrzehnte später konnte Simson an einige seiner Berliner Freundschaften anknüpfen; die meisten Freunde freilich waren gefallen, emigriert oder im Widerstand gegen das NS-Regime ums Leben gekommen. Zu diesen frühen Freundschaften gehörte meine Mutter. Im Jahr 1983 schrieb Simson, ein großer Erinnerer, folgendes über sie: „Ich kannte sie in Berlin. So glaubte ich. Als ich viele Jahre später nach Freiburg kam, musste ich feststellen, dass sie sich zwar an meinen Vetter Otto Simson erinnerte, mich aber entweder nie zur Kenntnis genommen oder dann vergessen hatte. Ich aber hatte sie nie vergessen. Viele Jahre später legte sie mir dann, wohl um mich für ihr Vergessen zu entschädigen, ihren Sohn Wolfgang ans Herz in der bestimmten Art, in der sie Pflichten und Aufgaben an ihre Umgebung verteilte.“

So also wurde ich 1968 wissenschaftliche Hilfskraft an Simsons Freiburger Lehrstuhl – das Glück meines Studiums. „Wohl dem“, heißt es in Hölderlins Hyperion, „wem ein edler Geist in früher Jugend begegnet!“ Ich tauchte ein in eine Welt, die ich unbewusst gesucht hatte. Durch Simson habe ich viel erfahren und gelernt. Wir blieben einander lebenslang verbunden. Er fehlt mir sehr. Zurück zu seiner Berliner Zeit! Seinen Dienst als Referendar leistete er im Büro „Simson-Wolff“ ab. Es verkörperte, wie EWG-Kommissar Hans von der Groeben sich erinnerte, eine gelungene „Symbiose zwischen intelligenten, kultivierten Menschen mit jüdischen oder christlichen und jüdi-

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schen Vorfahren“. Walter Strauß, zuletzt Richter beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, und Walter Hallstein, deren erster Kommissionspräsident, gehörten ebenfalls dem Büro an. Simsons späteres Netzwerk in Luxemburg, Brüssel, Straßburg und Bonn beruhte auf diesen Repräsentanten eines neuen, europäischen Denkens. 1935 wurde Simson in Freiburg bei Fritz Pringsheim mit der Arbeit Die materiellen Wirkungen des rechtskräftigen Urteils im internationalen Privatrecht promoviert. Zunächst Anwalt am Kammergericht, arbeitete er in den schwierigen 1930er Jahren schließlich für ein Industrie- und Bankensyndikat. 1938 heirateten Werner von Simson und Kathleen Turner (1913 – 1996). Die Engländerin Kathleen, in Argentinien geboren, war die Tochter eines Reverend der anglikanischen Kirche. Im Mai 1939 flog Simson, unter dem Vorwand einer der vielen Geschäftsreisen, zu denen er, obschon wehrpflichtig, noch immer die Erlaubnis bekam, nach London. Dort erwartete ihn bereits Kathleen. Anfang Juni wurde der älteste Sohn geboren. Vetter Otto von Simson, der Kunsthistoriker, emigrierte zur gleichen Zeit in die USA – Lebensgänge voller Brüche und Sprünge in zuckender Zeit. Insgesamt 15 Jahre blieb Simson, 1947 eingebürgert, in Kathleens Heimat. Allmählich wurde England auch ihm zur Heimat. Die traditionsreiche Rechtskultur und das Demokratiemodell der nüchternen Briten hielt er zeitlebens hoch. So publizierte er später über Das Common Law als Verfassungsrecht (in: Der Staat, 1977) und Towards a Bill of Rights in Great Britain (in: Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht, 1983). Die Freiheitsliebe und demokratische Selbstbestimmung der Briten beeindruckten ihn besonders. Ihnen sei, meinte er, der Ruf nach Helden und die willige Unterwerfung unter einen rettenden, erleuchteten, auserwählten Meister – sei dieser Richard Wagner, Stefan George oder Carl Schmitt – gänzlich fremd. Im Krieg zunächst als enemy alien monatelang auf der Isle of Man interniert, wurde Simson schließlich Industriemanager in Birmingham. Später gründete er eine erfolgreiche britisch-südamerikanische Handelsfirma – in Argentinien und Brasilien hatte er unternehmerisch tätige Brüder. Kathleen und Werner von Simson wurden vier Söhne geboren, zwei – Juristen auch sie – machten in der City Karriere. Der Älteste wurde geachteter Anwalt, ebenfalls in London. Ein durch den Krieg elternlos gewordener Neffe, Konrad Schiemann, komplettierte die Familie; von 2004 bis 2013 war Sir Konrad dann Richter am Europäischen Gerichtshof.

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Trotz der englischen Verwandten und der deutsch-englischen Freunde, darunter der Schulgründer Kurt Hahn, war Simsons Anfang auf der Insel schwierig. Später erst ging dann alles, wie er bilanzierte, „ganz gut“. Es befriedigte ihn aber nicht auf Dauer. Sollte er, der Krieg war vorbei, nach Deutschland zurückkehren? Zwei Gründe sprachen dafür. Erstens das, was Psychologen survival guilt nennen: das Bedürfnis, ja die lebenslang gefühlte Verpflichtung, den Verstorbenen etwas schuldig zu sein und dem unverdienten Überleben eine Rechtfertigung zu geben. Anders als die vielen, vielen Kriegs- und NS-Opfer seiner Generation, darunter mein Vater, war Simson aus den Katastrophen des „Jahrhunderts der Extreme“ relativ unversehrt hervorgegangen. Der zweite Grund, der für eine Rückkehr sprach, war die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1953), ein neuartiges, auf rechtliche Institutionen und Verfahren gegründetes Unterfangen, das zum Mitmachen einlud. So gingen Kathleen und Werner im Jahr 1953 mit der Familie, außer den ältesten, noch an ihre englische Schule gebundenen Söhnen, nach Luxemburg, Stehenbleiben kannten sie nicht, so wenig wie ihr unberechenbares Jahrhundert. Was für ein Lebenslauf! Den Unternehmen der deutschen Schwerindustrie beim (Re-) Fusionieren beizustehen, wurde Simsons erstes, kraftvoll ausgefülltes Mandat. Die anwaltliche Vertretung der Chemie-, Schrott- und Zementindustrie sowie der Bundesregierung, einschließlich der Prozessführung vor dem Europäischen Gerichtshof, kam hinzu. Es wurden 15 erfüllte europäische Jahre. Während all dieser Zeit nahm Simson ein weiteres Interesse gefangen: die Veränderung der internationalen und der innerstaatlichen politischen Strukturen. Die meisten Staaten, beobachtete er, waren nicht mehr isoliert und selbstherrlich, nicht mehr „souverän“ im traditionellen omnipotenten Sinn. Weit stärker als früher waren nun jedenfalls die europäischen Staaten, wollten sie in Freiheit überleben, auf ihr Verhältnis zueinander und zu weiteren Staaten angewiesen. Es ging nun offensichtlich um Schutz, um staatenübergreifende Kooperation und demokratische Legitimation. Mittels dieser Befundnahme entwickelte Simson sein Verständnis von Staat und Souveränität, von Europa und Demokratie, niedergelegt in dem gelehrten Buch Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart (1965), dem ersten seiner beiden Schlüsselwerke. Das zweite ist das 1971 veröffentlichte Referat Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, von dem später noch die Rede sein wird; der Vortrag war 1970 vor der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer gehalten worden.

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Die Essenz der institutionellen Europawerdung – der Herzenseuropäer Simson war ja Zeitzeuge der Frühphase der europäischen Integration – lag für ihn im Einbringen staatlicher Befugnisse zur „supranationalen“ Ausübung. Er sah darin eine Win-win-Situation. Die rechtsschöpferische Gemeinschaft (heute: die Europäische Union) erhält eine grenzüberschreitende Kompetenz, die dem einbringenden Mitgliedstaat nicht zu Gebote steht. Dieser, in Existenz und Gedeihen „überstaatlich bedingt“, erlangt weitreichende Mitentscheidungsrechte, über die er als Solitär nie verfügen könnte. Der Mitgliedstaat erzielt also einen stärkenden Einbringungsgewinn: Wer gibt, gewinnt. Mit dieser aufs Ganze zielenden souveränitätsund europarechtlichen Monographie habilitierte sich Simson mit 57 Jahren an der Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Drei Jahre später, 1968, berief ihn die Fakultät auf einen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl – der Beginn seines „vierten“ Lebensabschnitts (nach denen in Berlin, London und Luxemburg). Simson gab seine Tätigkeit in Luxemburg auf, nahm sich mit seiner Frau eine universitätsnahe Wohnung und entfaltete seine pädagogische Begabung. Weltumsicht, Gelehrsamkeit und Augenmaß verbanden sich mit idealem, hilfreichem Schwung und einer unermüdlichen Freude an Menschen, an den Farben der Sprache, am Gespräch. Dass sich viele Ordinarien schrecklich ernst nahmen, amüsierte Simson. Einen Kollegen bedachte er mit besonders feinem Spott: „Er weiß alles, aber sonst nichts.“ Bekannt wurde auch seine selbstironische Feststellung, er sei das einzige Mitglied der Fakultät, dem keine große Bedeutung zukomme. Den Tendenzen der Zeit, die Universität, die stets wichtigste geistige Veränderungen angestoßen hat, wie ein Postamt zu leiten, fuhr er in die Parade. Unbändiger Ehrgeiz war Simson so fremd wie autoritärer Gestus. Welterlösungslehren und Sozialutopien verwarf er, kein Auftrumpfer oder Rahmensprenger, mit guten Gründen. Die Wissenschaft behandelte er als freies Werk. Jüngeren verhalf er, das nötige Spiel lassend, zur Kenntlichkeit, zum Herausbilden und Festigen der individuellen Identität, ganz im Sinne von Hölderlin (Hyperion), wonach es „göttlich“ sei, „wenn ein großer Mensch die kleineren zu sich aufzieht“; „Unedles und Schwaches“ hatten neben ihm keinen Bestand. Nie trat er mit den Erfahrungen und Schmerzen des eigenen Lebens zu nahe. Als Jüngerer fühlte man sich, an Simsons Denken teilnehmend oder ein eigenes Projekt mit ihm erörternd, gestärkt und aufgerichtet.

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Sein dichtes, länder- und generationenübergreifendes Netzwerk trug Simson bis ins hohe Alter. Er hatte die eiserne Gesundheit des NichtSportlers. Mit 85 Jahren publizierte er sein letztes, mit Herzblut verfasstes Buch: Der Staat als Teil und als Ganzes (1993). Briefe unterzeichnete er jetzt mit „Il Vecchio“. „Wenn man länger lebt“, lachte er, „wird man furchtbar alt.“ Häufiger begannen Sätze nun, halb scherzend, mit „Wenn ich nicht mehr unter uns weilen werde“. „Krankheit“, meinte er, „ist kein Beruf für Gentlemen“. Am 20. September 1996 starb er in Freiburg, bis zuletzt wach, zugewandt, überlegen. Ich habe sehr an ihm gehangen. Soviel zu Simsons bewegtem, gesegnetem Leben in seiner Zeit. Nun zu seinen zentralen wissenschaftlichen Arbeiten! II. Werner von Simson veröffentlichte nahezu ein Dutzend theoretisch ausgerichteter Bücher, vor allem Die Verteidigung des Friedens (1975), Kritik der politischen Vernunft (1983) und Der Staat als Teil und als Ganzes (1993); dazu zahlreiche Fachaufsätze, Vorträge und Rezensionen, alles offenbar mühelos. Nie kam er aus den Familienferien im durchsonnten Interlaken zurück, ohne etwas Neues unter der Feder zu haben. Ich beschränke mich auf seine beiden zentralen, eng mit seinen Zeitumständen und Erlebnissen verbundenen Schriften. Sie erhalten die summa seiner Erfahrungen und Erkenntnisse. Zu beginnen ist mit dem bereits erwähnten Souveränitätsbuch von 1965. Rechtstheoretisch analysierend entwickelte Simson ein ganz neues Souveränitätsverständnis, ausgehend vom Befund: Die Voraussetzungen des souveränen staatlichen Lebens müssten heutzutage außerhalb des eigenen Staates gefunden werden: im Verhältnis zu anderen Staaten. Der Staat sei abhängig von Kräften, auf deren Zustimmung er angewiesen sei. Unser freiheitlich rechtsstaatliches proprium sei nur in diesem Kontext zu bewahren und zu entwickeln. Das, was wir für unser „eigentliches Wesen halten, (ist) nur in diesen (überstaatlichen) Zusammenhängen zu bewahren“. Daraus folge die Notwendigkeit der „Hereinnahme fremder Lebensrechte in den eigenen Verantwortungsbereich“ sowie die „Selbstentäußerung des souveränen Willens zugunsten bestimmter Freiheitswerte“ und der Existenzrechte der anderen. Der moderne „überstaatlich bedingte“ Staat, heißt es in dem Souveränitätswerk weiter, sei „Bundesgenosse einer Le-

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bensweise, die er mit anderen teilt und nur zusammen mit ihnen erhalten und vervollkommnen kann“. „Mitverantwortung für das Fremde“ sei der eigentliche „Fortschrittsbegriff der Souveränitätslehre“. Gegenstand der letzten, souverän gewollten Grundentscheidung sei „die Zugehörigkeit zu einer Gruppe aus mehreren bedingt souveränen Herrschaftsgebilden“. Die Brexit-Ultras sind gegenteiliger Ansicht, die deutschen, österreichischen und helvetischen Staatsrechtslehrer neigen mehrheitlich Simsons Position zu. Was kann ein Wissenschaftler mehr wünschen? Ein voll integrierter europäischer Bundesstaat dagegen – der Traum von Monnet und Hallstein – war, schon mangels effektiver demokratischer Legitimation, nie Simsons Vision: Ein sich als solches begreifendes europäisches Staatsvolk, formulierte er 1991, gebe es nicht. Ebenso lehnte er eine entnationalisierte europäische Föderation ab: ohne territoriale Eingrenzung keine demokratische Selbstbestimmung. Den totgesagten Nationalstaat, der seinerseits außerrechtlichen Halts bedürfe, hielt Simson für weiterhin notwendig. Auch eine Europäische Verfassung wäre too much too soon. Seinerseits nicht ohne die „haltgebenden Elemente im Außerrechtlichen“ bestandsfähig, bleibe der einzelne Staat die größte politische Einheit, die noch das Irrationale, Geliebte, nicht nur Gedachte aufnehmen könne. Die europäische Integration müsse „haltmachen“ vor dem, was die Mitgliedstaaten als ein ihr Eigenes, in ihnen Erhaltenes entgegensetzen. Es könne also nicht um ein Abschaffen der staatlichen Ordnung, Souveränität und Legitimation gehen. Nun zu Simsons zweitem Hauptwerk! Im Jahr 1970, im Horizont anschwellender basis- und rätedemokratischer Studentenunruhen, widmete er sich, „durch Praxis und Lebensweg gereift“ (Michael Stolleis), dem Demokratieprinzip im Grundgesetz. Sein Referat vor dem gefährlichen, vielhundertköpfigen „Kardinalskollegium“, den vereinigten deutschsprachigen Staatsrechtslehrern, leitete er mit der berühmt gewordenen clausula salvatoria ein: „Mir ist zumute wie einem Dorfkaplan, der beauftragt worden ist, vor dem Vatikanischen Konzil einen einstündigen Vortrag zu halten über das Thema: Die Bibel.“ Seine reiche Lebens-, Demokratie- und Europaerfahrung nutzend rekapitulierte Simson zunächst demokratische „Selbstverständlichkeiten“. In der europäisch-amerikanischen Tradition sei das demokratische Prinzip das freiheitliche schlechthin, eine existentielle Errungenschaft und eine gesicherte Chance auf politische Teilhabe, die immer aufs Neue zu verteidigen seien. Demokratie im pluralen Staatswesen sei Freiheit der Meinung, Recht auf Mitgestaltung der gesellschaftli-

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chen Institutionen, Schutz dissentierender Minderheiten, Abwahlmöglichkeit der Regierung. Anschließend untersuchte Simson Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung des Demokratieprinzips in die Staatswirklichkeit. Dabei schirmte er die stets missbrauchsgefährdeten demokratischen und gesellschaftlichen Institutionen gegen undemokratische Minderheiten, neue Feudalmächte und die Entscheidungen unzuständiger Gremien ab. Zugleich ermunterte er zu offenerem Umgang mit organisierten Interessen und zum Einbeziehen „nichtdemokratisch“ gewonnenen Wissens, etwa aus den Familien, den Verbänden oder den Kirchen, in den demokratischen Prozess. Die Legitimation an der Leistung, die Grundlage auch für Demokratie und Europa, sei zentral, das Grundgesetz offen für neue Ausformungen des demokratischen Prinzips. Vernünftigerweise entwickelte Simsons geistvoller Vortrag keine große These, geschweige denn ein neues Demokratiemodell. Er konzentrierte sich auf eine entschiedene Verteidigung der Demokratie, einschließlich ihres egalitären Versprechens. Mit den diskursutopischen und den illiberalen Kritikern der grundgesetzlichen Demokratie lieferte sich Simson, gesprächs- und wortwechselfreudig wie ein kompetenter Anwalt, eine so elegante wie faire Auseinandersetzung. Aufregend waren Referat und Diskurs in der Tat! An diesem Tag und in diesem Kontext war Simson der lebendigste Geist unter den deutschen Staatsrechtslehrern. Aktuell geblieben ist auch sein aus den Luxemburger Erfahrungen gewonnener beherzter Hinweis auf die „demokratischen Kosten“ des europäischen Projekts. Die Integration Europas schaffe eine neue, grenzüberschreitende Kompetenz, die nach demokratischer Legitimation und rechtlicher Kontrolle verlange. Simson präsentierte und problematisierte das institutionelle Europa als spannungsreichen neuen Aktionsraum demokratischer Selbstbestimmung, gemeinschaftlicher Kontrolle und politischer Reform. In hochgradig politisierter Atmosphäre – ich erinnere an das Ringen um eine „Demokratisierung“ der Hochschulen – rückte Simsons pragmatische und eindeutige Position manche Irrtümer und Zweifel zurecht. Er hatte, merkte man, die innere Unentschiedenheit und den Autoritätsverfall der nicht sturmfesten Weimarer Republik, die nationalistischen Zuckungen, die wüsten Rechtsbrüche und die autoritären Führer jener Zwischenkriegszeit erlebt und durchdacht. Er war daran gereift. Nun lehrte er uns Jüngere: Die Verteidigung der Demokratie und der kontrollierte Ausbau der Integration Europas sind Dinge, die uns alle angehen. Für Simson

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war das Heute mit dem Gestern existentiell durchdrungen. Die Wirkungen der dunklen Vergangenheit, warnte er, reichen bis in die Gegenwart. Zu einem erheblichen Teil beruhte der Erfolg von Simsons Souveränitäts- und Demokratiearbeiten auf seiner Persönlichkeit. Ihr wenden wir uns nun zu. III. In Simson verbanden sich Gelehrsamkeit und Augenmaß mit seltenen Eigenschaften des Herzens: mit taktvoll unauffälligem Engagement für Hilfsbedürftige (er war Rechtsritter des Johanniterordens), mit unermüdlicher Freude an Menschen, Musik und Meinungen. Simson war der Mittelpunkt jedes Kreises, nicht durch eigene Anstrengung, sondern durch den Zauber seiner Person. Ansprüche auf Auserwähltsein – von Personen, Nationen oder Religionen – lehnte er strikt ab. Den „neuen Menschen“ zu fordern, wie es sein Korrespondenzpartner Carl Friedrich von Weizsäcker tat, bedeute, kritisierte Simson, das Unmögliche zu fordern und darüber das Mögliche aus der Hand zu geben. Die Rebellion an den Hochschulen Ende der 1960er Jahre bewältigte Simson als Dekan der Juristenfakultät souverän – die einschlägigen Anekdoten sind Legion. Ich beschränke mich auf eine einzige. Bei Unruhen vor einer Fakultätssitzung stellte sich ihm einmal ein hünenhafter studentischer Anführer mit zahlreichen Anhängern in den Weg und rief: „Wer so teure Anzüge wie Sie trägt, kann kein Verständnis für die sozialen Sorgen der Studenten haben!“ Darauf Simson, das (Woll-)Material seines lässig-eleganten Anzugs betastend: „In der Tat, ein vorzüglicher Stoff.“ Und dann, von scheinbar sinnierend auf Attacke umschaltend: „Und ich sage Ihnen, wenn Sie weiter hier nur protestieren und nicht endlich anfangen zu studieren, werden Sie sich auch dann, wenn Sie mein Alter haben werden, nicht einen so schönen Anzug leisten können.“ Die Studenten lachten, der Anführer verschwand, die blockierte Fakultätssitzung konnte beginnen. Evolutionäre Entwicklungen erschienen Simson verantwortbarer als revolutionäre Umbrüche. Die Zukunft sah er offen, begrenzt-rationaler Gestaltung zugänglich. Gelegentlich wurde sein Blick verhangen, wie nach innen gekehrt, so als horche er auf Töne, die sich hinter allen Gesprächen und Geräuschen befinden. Suchte er nach Klängen, Worten, Einsichten, die vielleicht niemand finden kann?

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Ein großer Anreger und „Menschenzusammenführer“, war Simson lernbereit und beweglich, von einer festen Grundposition aus. Dieser moderne, herzenshöfliche Sokrates verfügte über beides: über tiefen Ernst und ausgelassenen Scherz. Einmal, vor seiner Vorlesung, machte er uns Mitarbeiter hochnervös: Die Studenten warteten bereits im Hörsaal, aber der „Chef“ fehlte. Hastig schwärmten wir aus, suchten die „üblichen Verdächtigen“ ab, die Antiquariate, die Kunst-, Musikalien- und Buchhandlungen, nur um endlich in der nahen Jesuitenkirche fündig zu werden. Dort, inmitten der Fluten seiner geliebten Musik, hatte Simson Orgel spielend die Zeit vergessen. Ehemännern riet er, „das Leben mit den Augen der anderen, der Ehefrauen, zu sehen“ und alles zu tun, um ihnen „so wenig unangenehm wie möglich“ zu sein. „Sie sollen es nicht bereuen“, mahnte er, geheiratet zu haben. Die Männer sollten lernen, „das Unerforschliche ruhig zu verehren“. Ehe ist doch ganz einfach, lachte er: Man muss „Glück haben“, „Schatzfinderglück“. Seine angeborene Liberalität ließ ihn nicht zum Haupt einer wissenschaftlichen Schule werden. Das im Fach damals keineswegs übliche Orientieren hin zu Europa gehörte ebenso zu ihm wie sein souveränes Ignorieren fachlicher Grenzen und übertriebener Bürokratie. „Der Papierkorb ist des Professors bester Freund“, erklärte er und entsorgte dienstliche Papierberge, ungelesen. Zeit seines Lebens schmähte er Philisterei und Hass, Selbstbeweihräucherung und Fanatismus. Kathleen von Simson kämpfte für writers in prison, bei all ihrem Idealismus durchaus down to earth. Als ihr Mann ein riesiges Haus als Freiburger Familiensitz kaufen wollte, stoppte sie ihn mit der trockenen Frage: „Wer putzt?“ Konrad Hesse, Simsons wichtigster Fakultätskollege, rühmte ihn als einen Lehrer, der seinen Schülern „mehr als fachliche Kenntnisse“ vermittelt: „geistige Offenheit und festen Grund“. In der Tat: Uns Jüngeren – keiner ihm ebenbürtig – verhalf er zur Kenntlichkeit. „Wem viel gegeben ist“, heißt es im Neuen Testament (Lukas 12,48), „bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man umso mehr fordern.“ So führte Simson durch sein Wissen, seinen Glauben und seinen Geschmack, durch sein Interesse, sein Zuhören, sein Beispiel. Kaum merklich war die Anleitung, in ihrer Summe aber umso nachhaltiger. Wissenschaftler und Lebenskenner bildeten eine Einheit. Selbst kunstreich, selbst Weltmann, war Simson ein erfahrener Beurteiler des Lebens und der Geschäfte, der Literatur, der Musik und der Schönheit. Er konnte grandios staunen, aber auch mit dem Kopf schütteln. Die Antike war ihm

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so wichtig wie das Preußen Fontanes. Mit Horaz gab es Ähnlichkeiten, aber auch der alte Dubslav hätte sich gewiss gern mit diesem wachen Menschen- und Weltfreund ausgetauscht. Musik begleitete ihn ständig, ebenso Dichtung und Kunst. Sein Humor, sein Witz und sein treffender, nie verletzender Spott, seine Selbstironie und seine Befähigung, über den Dingen zu stehen, setzten ihn in Stand, Menschen an sich zu binden und ihr Vertrauen zu gewinnen. Seine Unabhängigkeit und Autorität beeindruckten ebenso wie seine Weltgewandtheit und seine Freude an der Freundschaft. Nicht allein als Hochschullehrer, sondern auch und vor allem als Lehrer der Lebenskunst war Simson prägend, ein Vorbild. In Richtung suchender Zeit war er Repräsentant eines richtigen Lebens, das seinerseits viel Beistand und Glück schenkte. Ein Gelehrter der unkonventionell vielseitigen Art, eine Persönlichkeit mit unbegrenzt weitem Horizont war Simson ein Künstler der menschlichen Verbindungen. Er vertraute auf den Austausch der Gedanken, das Gespräch war sein Element. Wie jeder wirkliche Philosoph war er vor allem ein mündlicher Mensch. Das Gespräch ließ ihn seine Charis entfalten im Würdig-Spielerischen jenes Dialogs, den er im Sinn von Goethes „Märchen“ verstand: „Was ist herrlicher als Gold? fragt der König. Das Licht, antwortet die Schlange. Was ist erquicklicher als Licht? fragt jener. Das Gespräch, antwortet diese.“

„Die Spur zu verfolgen, wo er seinen Weg nahm“: Günter Dürig* In Goethes Gedicht „Dauer im Wechsel“ finden sich Verse, die leitmotivisch meine Gedenkrede bestimmen. […] Willst du nach den Früchten greifen, Eilig nimm dein Teil davon! Diese fangen an zu reifen, Und die andren keimen schon; Gleich mit jedem Regengusse Ändert sich dein holdes Tal, Ach, und in demselben Flusse Schwimmst du nicht zum zweitenmal. […] Laß den Anfang mit dem Ende Sich in eins zusammenziehn! Schneller als die Gegenstände Selber dich vorüberfliehn! Danke, daß die Gunst der Musen Unvergängliches verheißt, Den Gehalt in deinem Busen Und die Form in deinem Geist.

Von Verstorbenen Gutes zu sprechen ist leicht, und die Wahrheit am leichtesten. Herder gelang dies, als er Lessing würdigte. Was er sagte,1 dient mir als Anleitung für meine Worte zu Ehren von Günter Dürig. „Ich begnüge mich“, so Herder, „(seine) Arbeiten mit einigem Urteil durchzugehen … Ich … sage nur über einiges meine Meinung, und überlasse das andre … andren. Meine Absicht ist nur, überhaupt die Spur zu verfolgen, wo (er) seinen Weg nahm“, „wo er aufhörte, wo andre … weiter zu gehn haben.“ * Aus: Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Günter Dürig (1920 – 1996), hrsg. von Peter Lerche u. a., Tübingen 1999, 37 – 83. 1 Der Teutsche Merkur vom Jahr 1781. Viertes Vierteljahr, 3.

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Besonders betrachte ich den Aspekt, der für immer mit Günter Dürigs Namen verbunden bleiben wird: die Gründung des Grundgesetzes von den Grundrechten her und deren Gründung in der Garantie der Menschenwürde, die kein Grundrecht ist. Dürigs geistesgeschichtlich fundierte, in Rechtsdogmatik und positivem Recht abgesicherte, demnach auch ohne ihre christlichen Wurzeln lebensfähige Konzeption des Art. 1 Abs. 1 GG als Zentralnorm, in der Staatskonstitution und -legitimation konvergieren, als die letzte, entscheidende Schutzposition gegen staatlich-gesellschaftliche Instrumentalisierung des Menschen – das ist der Fluchtpunkt, auf den die jeweiligen Perspektiven von Menschenrechten und freiheitlich-rechtsstaatlichen Ausgestaltungen bezogen sind. In der Bioethikdiskussion wird die Leistungsfähigkeit dieser Konzeption angesichts fundamental neuer Chancen und Risiken einer intensiven Überprüfung unterzogen. I. „Die Spur zu verfolgen, wo er seinen Weg nahm“: Wo fing Günter Dürig an? Aus welchen Quellen schöpfte er? „Bis zu Kant mußte man … schauen können“2, beschrieb er seinen Versuch, in der Nachkriegszeit ein System der Grundrechte zu entwickeln3, „und der Kompaß, den man bei sich hatte, den hatte man sich selber gebastelt.“4 Dürigs Rezeptionskraft reichte bis zur Existenzphilosophie. Zuweilen wird „geheideggert“ („existentielle Geworfenheit des Menschen in den irrationalen Strom des Menschengeschlechts“). Kant bleibt der Fixstern. Mit ihm beginne ich, wie schon bei dem akademischen Festakt anlässlich von Dürigs 65. Geburtstag vor 12 Jahren5.

2 Dürig, Gesammelte Schriften 1952 – 1983, hrsg. v. Schmitt Glaeser u. a., Berlin 1984. 3 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990. Zu Wurzeln Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, 257 ff. (260 ff. zu Kant); Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, 189 ff.; Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur in der grundgesetzlichen Ordnung, 1995, 29 ff. 4 JöR 36 (1987), 91 (95); Becker, Das ,Menschenbild des Grundgesetzes‘ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996, 40. Vgl. Enders (Fn. 3) zur christlich-transzendentallogischen Dualität der Linie Pico-Kant-Dürig-BVerfG. 5 JZ 1985, 201 ff.; ders., ZRP 1987, 33 ff.

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Die Grundrechte sind nach Dürig nicht eine Aneinanderreihung einzelner Rechte. Sie errichten vielmehr ein geschlossenes „Wertsystem“6 – ein Begriff, mit dem bereits sein Lehrer Willibalt Apelt sowie Rudolf Smend gearbeitet hatten. Dieses „System“ kulminiert in dem überragenden Wert der Menschenwürde. Bundesverfassungsgericht und herrschende Lehre sind dem wertphilosophischen Ansatz gefolgt.7 Methodische und wissenschaftstheoretische Vorbehalte, selbst die von Peter Lerche8, prallten an Dürigs „Gesamtwertsystem des Grundgesetzes“ ab. Es kulminiert in zweierlei: - Als höchster Wert der Verfassung ist Art. 1 Abs. 1 GG der zentrale wertausfüllende Maßstab für alles staatliche Handeln, einschließlich der Interpretation anderer Normen, etwa bei der Lösung von Grundrechtskollisionen. Das grundgesetzliche Wertsystem lässt sich letztlich aus der Menschenwürde ableiten. Zumindest ist es in ständigem Blick auf diesen der Verfassung vorgegebenen Grundwert auszulegen. Als normativer Anker für diese Thesen entzieht Art. 79 Abs. 3 GG die „Grundsätze“ des Art. 1 GG (und des Art. 20 GG) der Änderung und sichert so dessen Sonderstellung konstruktiv ab. Dies strahlt auf die gesamte Verfassungsordnung aus: Unantastbarkeit des Menschenwürdegehalts.9 - Als allgemeines Freiheits- bzw. allgemeines Gleichheitsrecht werden Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG durch die einzelnen Grundrechte spezifiziert. Art. 2 Abs. 1 GG, „zusammen mit Art. 1 Abs. 1 GG zu 6 Maunz-Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 1958, Überschrift Art. 1 Abs. 1, Rn. 1 ff.; Dürig, AöR 81 (1956), 117 (119 f.). Die „Grundentscheidung“ bzgl. der Einzelgrundrechte sei „nicht erst“ in diesen gefallen, sondern „bereits in Art. 1 GG“: kein „logisches System, sondern ein Wertsystem“. Auf die „Wertentscheidung des Grundgesetzes, wonach der Staat um des Menschen willen“ da ist, wird verwiesen. 7 Dürig entwickelt dies aus der Totalitarismus-Erfahrung, bestimmt die Menschenwürde also vom Verletzungsvorgang her: Evidenz aus dem Faktum der Negation, etwa der staatlich angeordneten Tötung geistig Behinderter (Vernichtungsaktion „TU“). 8 Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, 224 Fn. 340; Badura, JZ 1964, 340 ff.; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, 133 (157 ff. zu Kant). 9 Nach Dürig, in: Maunz-Dürig, Art. l Rn. 13, ist kein staatlicher Angriff auf die Menschenwürde denkbar, der nicht bereits durch ein spezielles Grundrecht aufgefangen würde. Vgl. aber Graf Vitzthum, JZ 1985, 201 (203); Höfling, JuS 1995, 857 (861 f.).

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lesen“, schließt als „Hauptfreiheitsrecht“ und subsidiäre Auffangnorm positivrechtlich die etwaigen Lücken des Individualrechtsschutzes.10 Auch das „zweite Hauptgrundrecht der Gleichheit“, Art. 3 Abs. 1 GG, ist an die Menschenwürde rückgebunden, woraus eine „Prävalenz der Freiheit“ folgt. Das Subsidiaritätsprinzip stützt die Differenzierungsfunktion des Grundrechtskatalogs und der spezifischen Schrankenbestimmungen. Seit längerem schon bereitet das Argumentieren aus (notwendigerweise unscharfen) Werten den Staatsrechtslehrern und ihren „Spielkameraden in Karlsruhe“ (Dürig) Skrupel. Man befürchtet voluntatives Wählen und subjektives, allemal verdächtiges Werten (statt rationales Erkennen). Dazu kommen Gefahren des Einschleusens ethischer bzw. metaphysischer Momente in die Auslegung.11 Grundrechte sind in der Tat nicht ausschließlich Christenrechte. Sie werden in einem immer pluralistischer definierten gesellschaftlichen Kontext geltend gemacht. Der Fundamentalkonsens der Verfassung würde in Frage gestellt, beanspruchten partikulare, etwa spezifisch diskurs- oder systemtheoretische Konzepte den Platz allgemeinverbindlicher letzter Maßstäbe. Ins Gerede gekommen ist „Wertsystem“-Denken durch den BGH und das BAG. Sie erweckten zeitweilig den Eindruck, als handle es sich um ein statisches „System“, das gegen gesellschaftliche Veränderungen in Stellung gebracht werden kann (Dürig, der ehemalige Berufsoffizier, liebte militärische Metaphern). Bereits der Umstand, dass Art. 79 Abs. 3 GG nur „Grundsätze“ schützt, belegt freilich, dass dies nicht der Fall ist. Ähnliches lehrt die ältere, kurzzeitige Rechtsprechung des US-Supreme Court zu „preferred freedoms“.12 Wie müsste man 10 Dürig, AöR 81 (1956), 117 ff.: Art. 2 Abs. 1 GG als das „(,mütterliche‘) Auffangrecht zum Wertschutz unbenannter Freiheiten“; die nachfolgenden Freiheitsrechte „nur Anwendungsfälle des Art. 2 I“ (ebd.): Dieser schließt „überall dort Wertlücken, wo benannte Freiheitsrechte inhaltlich versagen“; sie sind „nur Erscheinungsformen dieser generellen Freiheit“; ehe auf diese zurückgegriffen werden darf, sind die „benannten Spezialfreiheitsrechte auszuschöpfen“. 11 Vgl. aber Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, 136 f., 142 f. (für eine „weiche“ Wertordnung); krit. Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, 216. 12 Von der „objektiven Wertordnung“ des Grundgesetzes bzw. der „Wertrangordnung im Grundrechtsabschnitt“ spricht BVerfGE 7, 198 (205, 215); von „Wertsystem“ und „oberstem Wert“ in der GG-Ordnung, bezogen auf die Menschenwürde, E 5, 85 (139, 204 f.); 6, 32 (41); 12, 45 (53); 27, 1 (6). Als „verfassungsrechtliche Grundentscheidung“ gelte sie „für alle Bereiche des Rechts“ und gebe „Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspre-

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sich auch eine verfassungsgerechte Skalierung der fundamentalen Werte vorstellen? 13 Dürigs Ansatz, sieht man näher hin, ist janusköpfig: wert- und transzendentalphilosophisch. Der erstere, damals „modernere“, erwies sich in einer säkularisierten Gesellschaft, deren Wertesicherheit erschüttert war (und weiterhin ist), als „vergänglicher“ in „Gehalt“ und „Form“ (um Worte des Eingangsgedichts aufzugreifen). Zum Exportartikel, sogar über unseren Kulturkreis hinaus, wurde die Menschenwürde dagegen aufgrund der transzendentallogischen Akzentuierung. In der Begriffstrias Menschenwürde – Personalität – Identität wird die verfassungsrechtliche Zukunftsfähigkeit des Dürigschen Konzeptes greifbar. Mit der transzendentallogisch begründeten Würde des Menschen bekennt sich das Grundgesetz zum universellen Charakter eines menschenrechtlichen Kernbestandes. Personalität, die individuelle Substanz der rationalen Natur des Menschen, wurzelt in dessen Würde. Sie ist weder kategorial noch inhaltlich mit ihr identisch.14 So ist die Gemeinschaftsbezogenheit der Person anthropologische Konkretisierung der Relationalität des Würdebegriffs, nicht dessen Synonym. Der Personbegriff weist zudem eine – dem Staatsdiener Dürig besonders einleuchtende – Pflichtenkomponente auf, einen gegenüber der Menschenwürde überschießenden Gehalt. Identität schließlich akzentuiert den Aspekt der Selbstentfaltung. Wegen der Anbindung von Personalität und Identität an die Menschenwürde ist die Anerkennung des Menschen als Rechtsperson unhintergehbar. Larenz’ menschenverachtende Figur der „konkreten Rechtsfähigkeit“, die „Rassefremde“ als nur beschränkt Rechtsfähige ausgrenzte, war das Negativbild, das Dürigs professio prägte. Universalität und Rechtscharakter des grundsätzlichen Anerkennungsanspruchs des Menschen einerseits und „kulturhaltiges“ Menschenbild des Grundgesetzes andererseits stecken den Rahmen chung“; E 39, 1 (42): Das menschliche Leben stelle innerhalb dieser Ordnung einen „Höchstwert“ dar; es sei „Voraussetzung aller anderen Grundrechte“; E 6, 321 (331). 13 Eine Wertrangordnung enthält das Grundgesetz nicht. Die Pluralität der Werte ist nicht grenzenlos: Das Grundgesetz konstituiert eine wertgebundene Ordnung. Die Positivierung der Würde des Menschen öffnet das „Tor zur Metaphysik“. 14 Zum Personbegriff Fuhrmann / Kible / Scherer / Schild / Scherner, Person, in: Ritter / Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, Sp. 269 ff.

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für die Verfassungsdiskussion gegen Ende des nationalstaatlichen Zeitalters. Damit sind wir erneut bei Kant. Was hat der Königsberger den Breslauer gelehrt, was dieser uns, und ist diese Lehre gegebenenfalls nun an ihre Grenze gekommen? Die klassische Definition des Begriffs der Würde des Menschen15 findet sich in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“.16 Kant begründet Würde kontextfrei, aus der Vernunftbestimmung des Menschen bzw. der abstrakten Fähigkeit zur Selbstbestimmung (Person):17 „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“. Persönlichkeit als empirische Leistung hat einen anderen „Grund“: Sie kommt aus der Freiheit. Kant differenziert zwischen „Wert“ und „Würde“. Den Preis- oder Wertbegriff favorisierte die damals entstehende (National-)Ökonomie, er lag gewissermaßen in der Luft. Werte, entnehmen wir der „Metaphysik“, können zueinander in „Äquivalenzen“ gesetzt werden. Im Austausch zueinander kommt ihnen – Beispiele sind „Geschicklichkeit und Fleiß im Arbeiten“ – ein „Marktpreis“ gleich. Der absolute Wert dagegen kann für keinen anderen getauscht werden. Er verleiht allem übrigen einen abgeleiteten Wert. Jenen unbedingten Wert hat nur Eines auf der Welt: die

15 Obwohl Kants Begriff der Menschenwürde einen zentralen Punkt seiner praktischen Philosophie bezeichnet, ist darüber nicht so viel verhandelt worden wie über hundert andere Fragen der Kant-Exegese, vgl. Löhrer, Menschliche Würde, 1994; Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants, 1993; Wolbert, Der Mensch als Mittel und Zweck, 1987, 14 ff., 36 ff., 59. 16 A 77. Ähnlich in: „Metaphysik der Sitten“, Tugendlehre § 11. 17 Das Recht müsste „von allem Empirischen sorgfältig gesäubert sein“ (Vorrede zur „Grundlegung“). Aus der Trennung von Sein und Sollen – transzendentallogisches Essential – wird der Rechtsbegriff als Relationsbegriff entwickelt: Normen bedarf es wegen der Bezogenheit des Menschen auf ein menschliches Gegenüber. Relationalität hat eine andere Qualität als Gesellschaft als anthropologisch-empirisches Faktum. Krit. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1984: Eine Ethik der Zukunftsverantwortung sei so unbegründbar, da die Adressaten der Pflicht noch ungeboren seien. Das Gegenseitigkeitsprinzip fordert aber kein reales Gegenüber. Es schließt potentielle Gegenseitigkeit ein, weil es transzendentalen Charakter hat, d. h. ein menschlichem Denken und Handeln immanentes Vernunftprinzip ist.

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Person, also der mit moralischer Identität und praktisch-vernünftiger Selbstverantwortung ausgestattete Mensch.18 Das System bis zu einem letzten „Endzweck“ zu konstruieren, leuchtet ein.19 Die Würde als der mit nichts abwägbare, durch nichts zu ersetzende höchste Wert an sich, der den Menschen als Menschen auszeichnet20, verdankt ihren „Spitzenrang der notwendigen Anerkennung seitens aller Beteiligten.21 Zur Anerkennung bedarf es keines Schöpfergottes oder Weltregenten, keiner Intersubjektivität (wie dies bei den Vertragsmodellen22 der Fall ist bis hin zur Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht), keiner

18 „Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; … das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde“. „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes“ gesetzt werden; was „über allen Preis erhaben ist, … das hat eine Würde.“ 19 „Endzweck ist derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf.“ Leben als „vitale Basis der Menschenwürde“ (BVerfG) z. B. ist Bedingung der Möglichkeit der Rechtsträgerschaft. 20 Die bei Kant zweifellos häufigen theologischen Prämissen sind zum Verständnis dieser Konstruktion nicht erforderlich. Auch verfassungsrechtlich ist Menschenwürde „religionsfrei“ begründbar. Das ist auch geboten: Nicht alle Kulturen und Religionen stellen das Individuum derart in den Mittelpunkt. 21 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten: Ein jeder Mensch hat „rechtmäßigen Anspruch auf Achtung (seiner Würde) von seinem Nebenmenschen“, ist doch jeder durch die allgemeine Idee (des Menschen) notwendig verbunden, „die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen“; vgl. die zweite Formel des kategorischen Imperativs (in der „Grundlegung“): „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Vgl. Spaemann, Personen, 1996, 195 ff.: „In welchen Kontexten auch immer wir (andere) als Mittel“ gebrauchen, „wir dürfen … ihre ,Menschheit‘ niemals nur als Mittel gebrauchen.“ 22 Vgl. aber den Versuch, einen Verfassungsrang des Tierschutzes aus Art. 1 GG abzuleiten. Aus der Autonomie des Menschen folge Verantwortung gegenüber jedem fühlenden Wesen. Tierbezogen unterscheidet sie sich indes vom durch reziproke Anerkennung konstituierten zwischenmenschlichen Rechtsverhältnis: Es ist eine primär sittliche Pflicht, der Mitgeschöpflichkeit Rechnung zu tragen, nicht eine letztlich im Kontraktualismus wurzelnde Rechtsposition. Pathozentrische, am Eigenwert der Tiere ansetzende Schutzkonzepte können nicht auf Art. 1 Abs. 1 GG gestützt werden.

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doppelten Anthropologie.23 Jeder Person, jedem Menschen muss ich die schlechthinnige Anerkennung der Würde zuteilwerden lassen, weil ich sie für mich selber in Anspruch nehme. Verachte ich den anderen, verachte ich mich selbst, da ich die Gattungsgemeinschaft mit ihm, mit meinesgleichen, nicht leugnen kann. Kein vernünftiges Subjekt kann in seiner Weltorientierung umhin, einer solchen Gliederung zuzustimmen. Sie konvergiert in der Selbstachtung, in der alle Subjekte gleich sind. Im Gedankenaustausch mit meinem philosophischen Mentor Rüdiger Bubner ist mir dies immer als besonders starker Punkt der praktischen Philosophie Kants erschienen.24 Über die Welt seiner Institutionen ist der Vernunftbegabte25 nach Kant mit der gesamten Natur verbunden. Im Praktischen zeigt sich die Vernunft vor allem als gesetzliche Willensverpflichtung. Dürig formuliert (typisch für die Zeit nach einer Epochenzäsur): „Der Mensch ,ist‘ Person (Individuum) kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, sich selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich selbst zu gestalten.“26 – Die dialogische Natur der Rechtsbeziehung als Anerkennungsbezie23 – mitsamt der Misslichkeit, den Menschen in Vernunft und Sinnlichkeit auseinanderzureißen und gleichzeitig als Einheit denken zu müssen. Wer wie Kant eine vernünftige Ordnung begründen will, braucht auch nicht Gesellschaft als ein Urfaktum vorauszusetzen, um jene Begründung dann daraus abzuleiten. 24 Anders als Locke war Kant, wie Dürig, kein Theoretiker des Individualismus: keine grundliberale Würdigung des Einzelnen in seiner Besonderheit. Die jeden Einzelnen übersteigende Vernunftbestimmung des Menschen – das war Kant interessant. Hier ließ sich anknüpfen: unverfügbarer Eigenwert des Individuums qua Vernunftpartizipation. 25 Auch wenn ein Mensch zu Selbstbestimmung nicht fähig ist, bleibt er aufgrund der ethisch-autonomen Potentialität der Menschheit in einem unverlierbaren Persönlichkeitskern geschützt: Menschenwürde ist „die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie … Verletzbar ist (nur) der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt“, BVerfGE 87, 228: eine eigenschaftsunabhängige Bestimmung von Würdeträgerschaft. Dürig, AöR 81 (1956), 126 f.: „Wer von Menschen gezeugt wurde …, nimmt an der Würde ,des Menschen‘ teil.“ Kein Angriff auf den konkreten Menschen kann, selbst bei Einverständnis, seine Würde verletzen: Diese besteht „in der gleichen abstrakten Möglichkeit (potentiellen Fähigkeit) zur Verwirklichung“, auch für „nasciturus und monstrum“. Der Vorrang des Menschen lässt sich nicht systematisch-rational, wohl aber im System des Grundgesetzes, des universellen Diskurses oder des Christentums begründen. Dürigs eindeutiges Menschenbild war christlich geprägt. 26 Der Mensch ist für Dürig kein „atomisiertes Individuum“, kein „kollektivierter Befehlsempfänger“, sondern „Person“. Über Kant hinausgreifend knüpft

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hung tritt hinzu. Dürigs Mensch27 ist nicht existentialistisch „allein“, in Nietzsches „azurner Einsamkeit“: „Bereits in dieser Seinsordnung“, erläutert Dürig, „,ist‘ die Person28 …, sie steht wesensmäßig bereits in Beziehung zu Werten. Im Dialog mit dem ewigen ,Du‘ Gottes, dem ,Du‘ des Mitmenschen und dem ,Wir‘ der Gemeinschaft … erkennt sie erst, daß sie Person ist.“29

Für den Christen, dem „die Existenz einer überpositiven Rechtsordnung religiös-geistige Gewißheit ist“ (Dürig), ist der Mensch das, was er ist, durch Gott. Seine Würde ist ihm von Gott, wie eine Mitgift, mitgegeben. Auch deshalb, als Werk Gottes (Gen I, 26: „nach seinem Bilde“), also nicht „nur“ wegen seiner Gattungszugehörigkeit, ist der Mensch in seiner Würde unantastbar, unverfügbar, unabdingbar. Lebensunwürdig, Unperson, Menschenmaterial kann der Einzelne, greift man jene externe Zuschreibung auf, weder sein noch werden. Hier liegt auch ein aus jüDürig 1952 an den christlichen Persönlichkeitsbegriff an; ihn habe das Grundgesetz rezipiert. 27 1987 unterstreicht Dürig ( JöR 36, 96), ihm sei es immer um die Person gegangen, „Person-sein heißt, Identität haben“; diese Person kann man „fordern und ansprechen: ,Du, Günter Dürig, du Lieschen Müller, wir wissen, daß Ihr einmalig seid‘.“ 28 Bzgl. des personalen Ansatzes, bei dem Locke anklingt, ist Dürig Kants Schüler: Die Vernünftigkeit erhebt unser Handeln über die empirischen Wechselfälle; sie lässt uns nicht zum Spielball werden. Vernunft verbürgt Allgemeinheit. Diese lässt sich in Gesetzen ausdrücken. Der kategorische Imperativ formuliert die allgemeine Gesetzesgeltung, die als solche den individuellen Horizont immer übersteigt. 29 Dürigs Personkonzept ergänzt Kant: Würde kommt (s. o. Fn. 25) jedem Menschen aufgrund der abstrakten Fähigkeit zur Selbst- und Umweltgestaltung zu, unabhängig von individuellen Fähigkeiten. Auch Geisteskranke, Verbrecher sowie Ungeborene und Gestorbene fallen unter diesen Schutz, Dürig, in: Maunz-Dürig, Art. 1 Abs. 1 GG, Rn. 18 ff. Kantisch: Wo der Rückgriff auf die individuelle Autonomie versagt, weil eine Person subjektiv nicht über sie verfügt, kommt ihr die generelle Teilhabe an der Menschheit zugute; sie verbietet, einem Menschen aus individuellen Gründen die allgemeinen Rechte der Person abzusprechen, vgl. Lorz (Fn. 15), 210. Entscheidend sind also nicht die realen, sondern die „im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten“ (BVerfGE 39, 1 [41]: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“). Wann aber ist ein Mensch ein Mensch? Menschqualität beginnt (str.) mit Abschluss der Befruchtung einer menschlichen Eizelle (Kernkonjugation); auch die extrakorporal befruchtete Eizelle ist „potentielles Subjekt“. Sie gilt als Embryo (gem. ESchG), ab Ende des 2. Monats Fötus genannt: kein vom Menschen unterscheidbares „Rechtsgut“ (str.). Wer totipotente Embryonenzellen nutzen möchte, lässt Lebensund Würdeschutz erst später beginnen, erst ab Nidation.

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disch-christlicher Perspektive relevanter Unterschied zwischen Mensch und Tier: Nur der Mensch verfügt über diese besondere Beziehung zu Gott. Durch die Sünde, versichert Eberhard Jüngel30, geht die Gottebenbildlichkeit nicht verloren. Sie ist dem Menschen zugesprochen. Er kann sich an ihr vergreifen – verwirken kann er sie nicht. Das Gott entsprechende Dasein ist auch ein Dasein von Mensch unter Menschen. Personeller und sachlicher Schutzbereich der Würdegarantie sind eng miteinander verschränkt. Der Mensch findet sich immer schon in der Gemeinschaft vor31, in einem Verbund von gesunden und kranken, werdenden und sterbenden Menschen.32 Davon ist Dürigs System des Schutzes33 und der Schranken der Menschen- und Grundrechte getönt, und bald darauf auch das höchstrichterliche Menschenbild. Individualität und Gemeinschaftsbezogenheit, Entwicklungspotentialität und defizitäre Lebensrealität sind gleichermaßen umfasst.34 30 Der Gott entsprechende Mensch, in: Gadamer / Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Bd. 6, 1975, 341 (353 ff.). Auch „nach katholischer Auffassung“ (Dürig) ist der Mensch „trotz Erbsünde letztlich ,gut‘ geblieben“. Vgl. EKD, Stellungnahme, 1996, 1: Würde kommt nach christlichem Verständnis „von außen, ist zugelegt und fremde und … ,abbildliche‘ Würde. Das macht die Unantastbarkeit des Menschengeschöpfes aus – auch ,in extremis‘.“ In der Rechtfertigung des Sünders geschieht, seit Luther, ein Wechsel des Subjekts: Christus selbst wird zum Träger des Gerechtfertigten, der Glaube zum Grund des Person-Seins: ein christologischer Ansatz, der über den schöpfungstheologischen hinausgeht, Kible (Fn. 14), Sp. 298. Nach Kant ist selbst Gott an die allgemeine Vernunft gebunden. 31 Zur Gemeinschaftsbezogenheit Dürig, in: Maunz-Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 46 ff. Vgl. auch Heidegger, Sein und Zeit, 1927, 125: „Unser Sein ist wesentlich Mitsein. Menschliches Sein ist gleich Mitmensch sein.“ 32 „Relativierungen“ seitens BVerfG und BGH bzgl. der Wrongful-birth- und Wrongful-life-Probleme konstatieren Picker, AcP 195 (1995), 483 ff., Laufs, NJW 1998, 796 ff. 33 BVerfGE 88, 203: „Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen.“ Vgl. bereits BVerfGE 39, 1. Grundrechte der Frau heben die „Rechtspflicht zum Austragen“ nicht generell auf; Abtreibung ist „Unrecht“. 34 Zur Objektformel Dürig, AöR 81 (1956), 117 (127). Sie umreißt den objektiven Schutzbereich der Garantie, BT-Drs. 13/7590. Zum Verbot des Klonens (§ 6 ESchG): „Die Tatsache, daß ein Mensch als Mittel zu einem Zweck hergestellt wird, der nicht er selbst ist“, beeinträchtige die Menschenwürde; außerdem werde „ihm zu diesem Zweck die genetische Gleichheit mit einem anderen Menschen auferlegt“.

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II. „Die Spur zu verfolgen, wo er aufhörte“: Wo hörte Dürig auf ? Stets betonte er den über- oder vorstaatlichen Charakter der Grund- und Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG). In den einzelnen Grundrechten positiviere das Grundgesetz die überpositive Würde, Freiheit und Gleichheit des Menschen.35 „Menschenwürdegehalt“ (Art. 1 Abs. 1 GG), „Menschenrechtsgehalt“ (Art. 1 Abs. 2 GG), „Wesensgehalt“ (Art. 19 Abs. 2 GG) – nur den letzteren haben alle Grundrechte – und „Grundsatzgehalt“ (Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG) werden nahezu in eins gesetzt. Die Menschenrechte in der Sicht des Grundgesetzes sind Folge und Ausdruck der Würdegarantie.36 Dürig würde dieses System heute durch die europa- und völkerrechtliche Sicherung der Menschenrechte und die Grundsätze menschenrechtskonformer und integrationsfreundlicher Interpretation (Präambel, Art. 1 Abs. 2, 23 – 25, 59 Abs. 2 GG) ergänzen. Der menschenrechtliche Mindeststandard gehört zum allgemeinen Völkerrecht. Die UN-Menschenrechtspakte von 1966 und weitere internationale Verträge haben den Schutz auf universaler und regionaler Ebene weiter verrechtlicht, mögen die Defizite der Absicherung nach wie vor evident und schmerzlich sein. Die Freiheiten der (Europäischen) Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 erlangten besondere Durchschlagskraft. Für den Europäischen Gerichtshof bilden sie einen „europäischen Grundrechtsstandard“. Bei der vergleichend-wer35 Den „Menschenrechtsgehalt“ der Grundrechte illustriert Dürig am Eigentum, in: Maunz-Dürig, Art. 1 Abs. 2 Rn. 90. Für Dürig, AöR 81 (1956), 136 bezweckt Art. 19 Abs. 2 GG „die positivrechtliche Abschirmung des Menschenrechtsgehalts“. 36 Dürig, in: Maunz-Dürig, ebd. Rn. 55. Für ihn sind „Menschenwürde-“ und „Menschenrechtsgehalt“ nur verschiedene Begriffe für dasselbe. Er richtet letzteren am (engen) Maßstab des ersten aus. Nicht alle Grundrechte besäßen einen Menschenrechtsgehalt. Die Verknüpfung der Art. 1, 19 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG bedeute, dass die in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG „gefallene materielle Entscheidung zur Anerkennung eines der unantastbaren Menschenwürde entsprechenden … Menschenrechtsgehalts der Grundrechte“ „positivrechtlich abgesichert ist“, ebd. Rn. 81. Insofern sei auch de constitutione ferenda keine „völlige Dispositionsbefugnis über die Grundrechte“ gestattet (Art. 79 Abs. 3 GG): Wesensgehalt (= Menschenrechtsgehalt = Menschenwürdegehalt) eines Grundrechts. Krit. Stern, JuS 1985, 329 (337): „Der Wesensgehalt eines Grundrechts ist etwas anderes als Teilhabe an der Würde des Menschen und am Bekenntnis zu Menschenrechten.“

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tenden prätorischen Ausformung der ungeschriebenen EG-Grundrechte wird dieses gesamteuropäische „Verfassungsrecht“ herangezogen, gehört doch die Achtung der Grund- und Menschenrechte zu den Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, die der EuGH zu wahren hat. Das erfolgt unter Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze, die aus den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ (Art. 6 Abs. 2 EUV) ermittelt werden: Rezeption von Grundrechtssubstanz, Einwirkung der nationalen Rechtsordnungen auf das supranationale Recht. Ohne die den Mitgliedstaaten gemeinsamen rechtsstaatlichen Traditionen, ohne dieses gemeineuropäische Aufklärungserbe hätte sich die europäische Integration nicht in Angriff nehmen, geschweige denn vertiefen lassen. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, die europapolitische Grundsatznorm aus dem Jahr 1992, bindet die Verfassungsmäßigkeit eines „vereinten Europas“ an einen dem „Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz“. Dieser Standard ist Voraussetzung, nicht Folge einer Intensivierung der Integration. Er deckt sich in etwa mit Dürigs „Menschenrechtscharakter“ der Grundrechte. Dem Maastricht-Urteil37 geht es um die verfassungsrechtlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Gemeinschaften, konkret um die Gewährleistung des „unabdingbaren Grundrechtsstandards“ gegenüber EG-Akten38, also gegenüber einer selbstständigen, nicht-staatlichen öffentlichen Gewalt. Karlsruhe nimmt für sich in Anspruch, am Maßstab des deutschen Übertragungsaktes zu überprüfen, ob Gemeinschaftsrecht sich im Rahmen der eingeräumten Kompetenzen hält.39 „Europäischer“ und „hinreichender“ Grundrechtsstandard, „ver37 BVerfGE 89, 155 suchte seinen grundrechtlichen Kontrollanspruch gegenüber EG-Recht zu verstärken. E 73, 339: Anerkennung des Vorhandenseins eines ausreichenden gemeinschaftsrechtlichen Schutzes (anders noch E 37, 285); nun Art. F Abs. 2 des Vertrags von Maastricht v. 7. 2. 1992 (BGBl. II, 1253). 38 Die Struktursicherungsklausel erlaubt nicht, das „Grundgefüge des Grundgesetzes“ anzutasten. Unaufgebbare Bestandteile sind „die fundamentalen Rechtsgrundsätze, die in den Grundrechten … verbürgt sind“, E 58, 28, 40; 73, 375 f. Bisher enthalten die Gemeinschaftsverträge keine ausdrücklich geregelten Grundrechte. 39 Das BVerfG will seine Gerichtsbarkeit allerdings in einem „Kooperationsverhältnis“ zum EuGH ausüben und sich selbst auf die generelle Gewährleistung des „unabdingbar gebotenen Grundrechtsstandards“ beschränken. Die deutsche Hoheitsgewalt ist gegenüber Europa allerdings nur „zurückgenommen“ – kein

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gleichbarer“ und „unabdingbar gebotener Grundrechtsschutz“, ein dem Grundrechtskatalog „adäquater“ Katalog – das hätte Dürig interessiert! Die Grundrechte des Grundgesetzes und die rechtstaatlich-freiheitlichen Gewährleistungen des Gemeinschaftsrechts stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind in vielfältiger Weise aufeinander bezogen. Mindestens im Kernbereich, dem Wesensgehalt der deutschen Grundrechte entsprechend, sind sie verschmolzen. Inhaltlich kann der unabdingbare Grundrechtstandard nur ein gemeinsamer sein. „Monistisch“ ruht er auf dem nationalen und dem gemeinschaftlichen Recht, in Deutschland nicht anders als in Irland oder Griechenland. Daraus leitet Karlsruhe sein Mitspracherecht ab – beim „Grundrechtsschutz in Deutschland“, auch gegenüber einer expansiven Auslegung des Gemeinschaftsrechts anhand des effet utile. Der EuGH reklamiert demgegenüber ein Auslegungs- und Verwerfungsmonopol in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, auch bezüglich etwa unzulässiger Kompetenzausübung seitens der Gemeinschaftsorgane. Das Gemeinschaftsrecht ist indes keine „fremde“, ausländische Rechtsordnung, sondern ein gemeinsames Recht, in dem sich die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten intensiv begegnen. In der fehlenden Bereitschaft des Bundesverfassungsgerichts, diesen Charakter des Gemeinschaftsrechts als „Fleisch vom eigenem Fleische“ anzuerkennen, liegt die Wurzel der Kontroverse. Paul Kirchhof versteht das Zustimmungsgesetz – den Rechtsanwendungsbefehl des deutschen Gesetzgebers – als „Brücke“, von deren Brückenhäuschen aus das Bundesverfassungsgericht kontrolliert, ob die in die innerstaatliche Ordnung eindringenden Rechtsakte sich noch im Rahmen der übertragenen Befugnisse halten. Letztlich impliziert dieses Überprüfen der Auslegung, die das Gemeinschaftsrecht durch den EuGH erfahren hat, dessen partielle Unterordnung. Auch Tübinger Europarechtler haben Karlsruhe dafür die „gelb-rote Karte“ gezeigt. An dem durch Art. 23 GG mittelbar bekräftigten Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts führt kein Weg vorbei: „Das Brückenhäuschen“, greift Günther Hirsch Kirchhofs Bild kritisch auf, „steht nicht auf der deutschen Seite der Brücke …, sondern auf der europäischen.“40 endgültiger Verzicht. Dazu krit. Graf Vitzthum, JZ 1998, 161 ff.; Badura (Fn. 11), 362; Hirsch, NVwZ 1998, 907. 40 NJW 1996, 2457 ff. Nach BVerfGE 89, 155 (190, 205) bleibt notfalls der Austritt (str.). Der Anspruch auf Kompetenzkontrolle soll das Demokratieprinzip

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Rechtsvergleichung würde den gemeineuropäischen Charakter des „Grundrechtskerns“ oder „-standards“ noch deutlicher ans Licht heben. Er ist gemeinsames Erbe Europas: weder spezifisch national41 noch spezifisch europäisch. Luxemburg, wie Karlsruhe mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit judizierend, ist nicht ein fernes fremdes, sondern ein nahes gemeinschaftliches Gericht. Im Kern sichert und steigert die europäische Integration den Grundrechtsschutz. Was wir für unser eigentliches Wesen halten, ist mittlerweile, wie mein Lehrer Werner von Simson42 formuliert, nur noch in diesen Zusammenhängen zu bewahren. III. „Die Spur zu verfolgen, wo andre weiter zu gehn haben“: Wo haben wir weiter zu gehen im Dürigschen Sinne? Als „Institut für Menschenwürde“ glossierten die Studenten Dürigs Lehrstuhl, so sehr stand dort Art. 1 GG im Vordergrund. Auf Dürigs akademischer Geburtstagsfeier habe ich seinerzeit anhand neuer Anforderungen an das oberste Schutzgebot jene nach wie vor herrschende Menschenwürde-Konzeption nachgezeichnet und ihre fortbestehende Unentbehrlichkeit unterstrichen. Heute gehe ich weiter, anhand des von Deutschland bisher nicht unterzeichneten Biomedizin-Übereinkommens des Europarates vom 4. April 1997 (BMÜ), dem am 12. Januar 1998 ein separat zu ratifizierendes Protokoll über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen43 beigefügt wurde. Weitere Protokolle zur Ergänzung des Rahmenübereinkommens sind geplant: zur Orschützen: Für den EuGH geht es demgegenüber um Sicherung der Funktionsfähigkeit der EG / EU. 41 In Frankreich, unserer Bezugsnation, bleibt der Grundrechtsschutz auf die nationalen Vollzugsakte des Gemeinschaftsrechts beschränkt. In seinen drei Maastricht-Entscheidungen stellt der Verfassungsrat zwar keine Verbindung zur Kompetenzfrage her, geht aber z. T. von der Notwendigkeit von Verfassungsänderungen aus. 42 Es geht „um die Einbringung der Befugnis in eine rechtsschöpferische Organisation, die etwas tun kann, was der Einbringende nicht hätte tun können“, also „um eine grenzüberschreitende Kompetenz, die neu geschaffen wird“, VVDStRL 31 (1973), 129. 43 Dt. Übersetzung hrsg. v. BMJ, Febr. 1998 bzw. (Protokoll) ILM 1997, 1415 ff. Ein erster Konventionsentwurf (1994) in: DRiZ 1995, 151 ff. Zum BMÜ KritV 1998, Heft 1; BT-Drs. 13/5435; 13/9520; Taupitz, VersR 1998, 542 ff. Bezüglich des Klonierungsverbotes besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf: BT-Drs. 13/11263.

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gantransplantation, Humangenetik, Embryonen-44 und medizinischen Forschung. Benötigt würden auch Protokolle zur Sterbehilfe, zum Leichenschutz und zur Organentnahme nach dem Tod. Ist Dürigs Konzept vor diesem Horizont ergänzungsbedürftig? Greift es nicht mehr, etwa wenn es um die Grenzziehung zwischen Therapie und Eugenik geht? 45 Beginnen wir mit der einfachgesetzlichen Rechtslage! Das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene deutsche Embryonenschutzgesetz – Chefkommentator: Hans-Ludwig Günther – stellt, international gesehen, hohe Schutzstandards auf. Untersagt sind Ersatzmutterschaften, die Erzeugung menschlicher Embryonen zu fortpflanzungsfremden Zwecken, jegliche Verwendung menschlicher Embryonen zu fremdnützigen Zwecken, die extrakorporale Weiterentwicklung menschlicher Embryonen, die Veränderung der Erbinformation einer menschlichen Keimbahnzelle, die Abspaltung noch undifferenzierter menschlicher Zellen (aus diesen totipotenten Zellen kann sich ein vollständiges Individuum entwickeln), das Klonen durch gezielte Erzeugung genetisch identischer Menschen sowie die Chimären- und Hybridbildung. § 8 ESchG setzt jede einem Embryo entnommene noch teilungs- und entwicklungsfähige Zelle dem menschlichen Embryo i. S. d. ESchG gleich. Das Europarats-Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (BMÜ) formuliert demgegenüber, lückenhaft und mittels zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe, nur ethische Mindeststandards. Unter Betonung des Vorrangs des Menschen „gegenüber dem bloßen Interesse der Gesellschaft oder der Wissenschaft“ werden u. a. kommerzieller Organhandel, pränatale Geschlechtsselektion, Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken sowie, partiell, genetische Manipulation von menschlichen Keimbahnzellen verboten: „Eine Intervention, die 44

Gem. ESchG soll das Entstehen „überzähliger“ Embryonen verhindert werden. Die Übernahme ausländischer Ergebnisse ist zulässig, Präimplantationsdiagnostik (bei In-vitro-Befruchtung) verboten. Regelungswiderspruch: Der Schwangerschaftsabbruch ist im BMÜ nicht geregelt, der menschliche Fötus keineswegs sakrosankt. 45 Die Humangenomforschung, die auf eine Kartierung und Sequenzierung aller Erbanlagen abzielt, bleibt ausgeklammert, ebenso die UNESCO-Deklaration über das menschliche Genom und die Menschenwürde vom 11. 11. 1997; zu ihr Degener, KritV 1998, 18 f. (ihr Art. 11 lehnt das Klonen des Menschen als menschenunwürdig ab).

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auf die Veränderung des menschlichen Genoms gerichtet ist, darf nur zu präventiven, diagnostischen oder therapeutischen Zwecken … vorgenommen werden“ – nicht zur Züchtung also, sondern nur zur Heilung des Menschen. Angesichts des überdehnten Krankheitsbegriffs der WHO ist dies gegenüber Eugenik-Versuchungen keine vertrauensbildende Grenzziehung.46 Behindertenverbände und -gruppen, kirchliche Vereinigungen sowie Fernfolgen anführende Kritiker sehen in der vom BMÜ nicht vollständig blockierten Möglichkeit, einwilligungsunfähige Menschen zu fremdnützigen Forschungszwecken heranzuziehen,47 einen Dammbruch. Das Tabu der Unverfügbarkeit des Individuums, seines unantastbaren Eigenwertes, seiner „Heiligkeit“48 werde „neo-utilitaristisch“ aufgehoben: „Sonderopfer von Demenzkranken und Komapatienten für die Forschung“, „Opfergang ,überzähliger‘ Embryonen für die Menschheit“. Prädikative Diagnostik, Embryonenforschung und Keimbahnzellentherapie (bis auf weiteres medizinisch-technisch noch nicht möglich, mittlerweile aber wohl mehr als eine bloße Zukunftsvision) seien, so Kritiker, Vorboten einer neuen Selektion, einer „individuellen Eugenik“. Bei der Abtreibung behinderter oder nicht völlig erbgesunder Kinder könne die Grenze zur „Euthanasie“ überschritten werden.49 Dies komme der Tö46

Art. 13 BMÜ verbietet Eingriffe in das menschliche Genom, die darauf abzielen, die genetischen Eigenschaften der nachfolgenden Generationen zu verändern. Weder Erzeugen von Chimären- und Hybridwesen noch Präimplantationsdiagnostik an totipotenten Zellen werden im BMÜ untersagt; es gewährleistet also nur einen einheitlichen Mindestschutz und begnügt sich in Art. 18 mit der Formel: „Die Rechtsordnung hat einen angemessenen Schutz des Embryos zu gewährleisten, sofern sie Forschung an Embryonen in vitro zuläßt.“ 47 Medizinische Eingriffe an nicht einwilligungsfähigen Personen dürfen nur zu „ihrem unmittelbaren Nutzen“ vorgenommen werden (Art. 6 BMÜ). Forschung an diesen Personen muss beträchtlichen Nutzen für ihre Gesundheit versprechen (Art. 17 Abs. 1 Ziff. 1); nur in Ausnahmefällen ist fremdnützige Forschung erlaubt (Art. 17 Abs. 2). Krit. Wolfslast, KritV 1998, 74 ff.; Höfling, ebd., 99 ff.; differenzierender Taupitz, VersR 1998, 544 f. Dürig, in: Maunz-Dürig, Art. 1 Abs. 1, Rn. 39, hatte selbst die heterologe Insemination als würdewidrig bewertet; das ESchG verbietet sie nicht. 48 Zur „absoluten Rechtfertigung menschlichen Lebens aus sich selbst“ Stürner, JZ 1998, 319. Zum Regelungsbedarf Vesting, Somatische Gentherapie, 1997, 197 ff.; Wagner / Morsey, NJW 1996, 1565. BMÜ verbietet die somatische Gentherapie nicht. 49 Im Bereich Schwangerschaftsabbruch, Infantizid und Sterbehilfe sieht Picker, Menschenwürde und Menschenleben, FS Flume, 1998, 155 ff., ein Abgehen von der Sakrosanktheit allen menschlichen Lebens, ja Anfänge „einer modernen Eu-

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tung von Menschen mit schweren Rückenmarksleiden gleich.50 Es werde verhängnisvolle Folgen für eine Gesellschaft haben, wenn es eine Begründung dafür gebe, einen Menschen allein wegen seiner Krankheit nicht leben zu lassen. Fundamentale Kritik läuft Gefahr, die Bedeutung der wissenschaftlichen Forschung für die Abwendung individuellen Leidens unterzubewerten: ohne Wachstumsforschung an Kindern, ohne Alzheimer-Forschung an Altersdementen, ohne psychiatrische Forschung an Schizophrenen lassen sich bestimmte neue Heilmethoden nicht entwickeln. Die positiven Aspekte der biotechnischen Entwicklung, etwa die neuen gentechnisch hergestellten Medikamente, sind keineswegs zu vernachlässigen. Zu respektieren ist auch ein ärztliches Verhalten, das, wie die Heilversuche mit dem somatischen Gentransfer, auf Vermeidung inhumanen Leidens gerichtet ist. Die vereinzelt vorgetragene These gar, um der Menschlichkeit der Gesellschaft willen dürfe Leid nicht verbannt werden, erscheint dem Patienten, dem Hilfechancen vorenthalten werden, eher zynisch als menschlich. Gehört es nicht auch zum Menschsein, „naturgegebenes“ Leid nicht kampflos hinzunehmen, sondern etwa die Behandlung gravierender, unheilvoller Erbkrankheiten zu versuchen? Wer wollte andererseits die Existenz von Folgegefahren51 und schwerwiegenden Bedenken leugnen? Sobald etwa eine gezielte Auswahl von Erbmaterial möglich sein wird – konkret: die Herstellung eines Embryo in vitro, seine qualitative „Bewertung“, gentechnische Überprüfung und erst dann Einpflanzung (oder eben: „Verwerfung“ als „Ausschuss“) –, dürfte es nur noch ein Schritt sein bis zum Antasten der Grundlagen der Gattung Mensch. Die Gefährdung der Menthanasie-Bewegung“. Verkannt werde, „daß die abstrakt-qualitative Diskriminierung auch nur einer einzigen Gruppe von Menschen auf Dauer alle Menschen bedroht“. 50 Zum „Vernutzen“ des Embryos krit. Graf Vitzthum, Gentechnik und Grundgesetz, FS Dürig, 1990, 185 (195, 197): „Wohl der Allgemeinheit“ ist kein ausreichender Zweck, Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken menschenunwürdig. 51 Es verstößt gegen Art. 1 GG, menschliches Leben zum Mittel für fremdnützige Zwecke zu degradieren (Rspr.): Sein „Verbrauchen“ ist auch bzgl. hochrangiger Forschungszwecke nicht abwägbar. Vgl. aber Elzer, MedR 1998, 122 ff.; Neumann, ARSP 1998, 153 ff. Die Praxis sucht dem u. a. dadurch zu entgehen, dass sie die Eizelle im „Vorkernstadium“ kryokonserviert; „Zeugung“ und „Lebensbeginn“ i. S. v. Dürig, in: Maunz-Dürig, Art. 1 Abs. 1 Rn. 24, liegen dann noch nicht vor.

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schenwürde schlüge um in eine neue Qualität – in die schicksalhafte Fähigkeit des Homo faber, über den Status der Spezies zu verfügen. Die pränatale Diagnostik könnte zum Einfallstor werden für eine vorgeburtliche „Selektion“ zwischen erwünschten und unerwünschten Menschen. Angesichts dieser Aporien werden klare Regeln auf Gesetzesebene52 benötigt sowie ein vertieftes Verständnis der Menschenwürde als des „tragenden Konstitutionsprinzips im System der Grundrechte“.53 Letzter Maßstab (etwa bezüglich der Bewertung der Forschung an Embryonen, der Chancen und Risiken der Präimplantationsdiagnostik oder des Schutzes vor gattungsverändernder Manipulation) bleibt die Garantie der Würde des Menschen. Von Dürig54 im Anschluss an Kant haben wir gelernt: Ihr Unbedingtheitsanspruch verbietet, den Menschen zu „verobjektivieren“55, und zwar unabhängig davon, welche Auswirkungen dieses Handeln sonst hat. Das gilt auch für die Instrumentalisierung des Menschen zugunsten einer „Verbesserung“ der Menschheit. Konkludent ist damit auch die Gattung Mensch Schutzobjekt der Würdegarantie. Die Instrumentalisierung des künftigen Menschen ist 52 Nach deutschem Recht bleibt für Forschung am Embryo in vitro nur insoweit Raum, als dieser davon selbst Nutzen haben soll, dafür vernünftige Erfolgsaussichten bestehen und der Embryo zur Übertragung auf die Frau bestimmt ist. In anderen EU-Ländern ist im Frühstadium der Keimentwicklung auch nichttherapeutische Forschung, bis hin zum „Verbrauch“, möglich. Wertungswiderspruch: Wir wenden Fortpflanzungsmethoden an, die im Ausland durch „embryonenverbrauchende“ Forschung entwickelt worden sind. 53 BVerfGE 6, 36, 41; 45, 227; 87, 288: „jeder Einzelne (muß) als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt“, darf also nicht zum „bloßen Objekt“ gemacht werden. 54 „Die Menschenwürde als solche ist getroffen“, formuliert Dürig mit 36 Jahren (AöR 81 [1956] 127), „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“. Die „Objektformel“ transformiert Kants kategorischen Imperativ (in der Form des praktischen Imperativs) in das Recht. Mit dieser Formel rezipierte das BVerfG Elemente der transzendentalphilosophischen Begründungstradition. Der unbedingte Eigenwert des Individuums und die dialogische Natur der Anerkennungsbeziehung sind die Eckpfeiler eines Menschenbildes, das Individualität und Gemeinschaftsbezogenheit gleichermaßen umfasst. 55 Zur „Mensch“-Qualität ist (nur) die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies erforderlich (s. o. Fn. 29). Sie ist unabhängig von der Erfüllung irgendwelcher Bedingungen, „über deren Vorliegen jene entscheiden, die bereits Mitglieder der Rechtsgemeinschaft sind. Als closed shop kann die Menschheit keine Rechtsgemeinschaft sein“, Spaemann (Fn. 21), 263 f.

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nicht weniger menschenwürdewidrig als die des gegenwärtigen. „Embryonen verbrauchende Forschung“ zeitigt Ergebnisse, die dem Embryo selbst nicht zugutekommen. Diese Forschung schädigt im Fremdinteresse werdendes menschliches Leben. Eine am embryoexternen Nutzen orientierte Rechtfertigung ist damit nicht möglich. Ließe sich demgegenüber etwa argumentieren, das ohnehin unabwendbare Sterben des „überzähligen“ Embryos erhielte, wenn zu hochrangigen Forschungszwecken benutzt, einen identitätsstiftenden Sinn? Mit welchem Rang wäre dieser etwaige „Aufopferungs-“ und „Würdebezug“ gegebenenfalls in eine Abwägung einzustellen? 56 Dürig hätte den Gedanken der Opferung im Gesellschaftsinteresse, der dem auf Würde gegründeten Schutz seine Folgenindifferenz und Durchschlagskraft nimmt, als unzulässige Instrumentalisierung angesehen.57 Dem durch die Humangenetik tendenziell eröffneten „optimierenden“ Zugriff auf die molekulare Substanz des Menschen – ein zweiter problemgeladener Themenkreis –, dem Zugriff auf Identität und Evolution der menschlichen Spezies also, wäre Dürig mit Skepsis begegnet. Jeder auf den anderen Menschen, auf die nächste Generation oder auf die Gattung „Mensch“ als Gestaltungsobjekt zugreifende „Fortschritt“ widerspricht den Wertvorstellungen der Verfassung. „Genomdesign“, die „Herstellung“ des perfect baby oder „schadensfreien“ Kindes – auch mittels einer Frühselektion als erbkrank identifizierter Embryonen – ist menschenwürdewidrig. Unsere Beispiele zeigen freilich, dass die Operationalisierung der Würdeformel58 im Rahmen der konkreten Problemlösung59 (nicht anders übrigens als bezüglich der Beispiele in Kants „Grundlegung“ selbst) keines56 Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet Schutz ohne Abwägung gegen andere Güter, Graf Vitzthum, MedR 1985, 249 ff.; ders., ARSP 1988, 119 ff. Dies macht die Garantie (ggfs. i. V. m. einzelnen Grundrechten) zur „eisernen Ration“, zum entscheidenden Bollwerk gegen „Objektivierungen“ des Menschen. 57 Kantisch: Die allgemeinen Rechte des Individuums können nicht durch „Menschheitserwägungen“ eingeschränkt werden. Dem widerspräche der Anspruch des autonomen Subjekts, selbst als solches geachtet zu werden, vgl. Lorz (Fn. 15), 210. 58 Die Würde des Menschen als Absolutum ist jedem wertenden, damit potentiell einschränkenden Zugriff entzogen, Enders (Fn. 3), S. 101 ff. Zur „relativierenden“ Realität Picker, Schadensersatz für das unerwünschte eigene Leben, 1995, 81 f., 89 ff. 59 § 5 Abs. 1 ESchG tritt der Anmaßung entgegen, Menschen nach subjektiver Vorstellung schaffen zu dürfen.

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wegs jeweils die gleiche breite Zustimmung finden muss wie die Großformel als solche.60 Diese hat sich ihrerseits, auch wegen möglicher eugenischer Tendenzen in unserer Gesellschaft, als unersetzbarer Indikator erwiesen. Zu Recht hat der Europarat den zukünftigen Generationen das Recht auf ein unmanipuliertes genetisches Erbe zugesprochen. Die Menschenwürde erweist sich hier wie dort als das letzte, kategorial begrenzende Schutzgut. Unsere traditionelle, kulturhistorisch bedingte Neigung zum Kategorischen hätte Dürig hinterfragt. Moralischer Extremismus wird unglaubwürdig, wenn Deutsche etwa von im Inland verbotener, im Ausland aber zugelassener Forschung profitieren, wenn also der Import entsprechender ausländischer Forschungs- und Entwicklungsergebnisse wie auch deren spätere Nutzanwendung zugelassen werden. Auch bedeutet keineswegs jede Entscheidung gegen das Lebensgut eines Menschen zugleich eine Entscheidung gegen dessen Würde. Zudem darf der „positive“ Würdebezug wissenschaftlicher Forschung nicht übersehen werden – aber auch nicht die dunkle Seite, die jede entscheidende Neuerung haben kann: Dialektik der Aufklärung. An seinem Wertsystemdenken, an der Aufwertung etwa des Lebensschutzes des Art. 2 Abs. 2 GG durch dessen Partizipation an der Unantastbarkeit des Würdeschutzes des Art. 1 Abs. 1 GG, hätte Dürig festgehalten.61 Wie vorstehend skizzierte Aporien im biomedizinischen Bereich, wie aber etwa auch die Abgründigkeiten des Fortschritts auf dem Feld der Intensivmedizin zeigen, ist dieses Wertordnungsdenken noch lange nicht an seine Grenze gekommen. Begriffliches Ausgrenzen allen kreatürlichen, der Abstammung nach menschlichen Lebens bleibt ebenso verboten wie alles Handeln, das dem Menschen den rechtlichen Achtungsanspruch versagt. Damit greift der Schutz der rechtsstaatlichen Instrumentarien: Jeder Eingriff bedarf einer ausreichend differenzierten und legitimierten gesetzli-

60 Zwischen dem ESchG-Verbot einer Präimplantationsdiagnostik und den Regelungen über den (unter bestimmten Voraussetzungen straffreien) Schwangerschaftsabbruch (§ 218 Abs. 1 S. 2, § 218 a Abs. 1 StGB) besteht ein evidenter Wertungswiderspruch: Ein achtzelliger Embryo genießt größeren Schutz als ein Fötus in der 18. Woche. 61 Unser werteunsicheres Abwägungsgemeinwesen bedarf dieser interpretatorischen Ausstrahlung von Art. 1 Abs. 1 GG auf die gesamte Rechtsordnung mehr denn je.

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chen Grundlage. Dies ist nicht wenig in einer Welt, deren globaler Wertekonsens erst im Wachsen ist. IV. „Die Spur zu verfolgen, wo er seinen Weg nahm“. Günter Dürigs Spur ist auch die eines ritterlich ertragenen körperlichen Leids.62 Rittmeister, dreimal zum Ritterkreuz eingegeben, besaß er bereits das Verwundetenabzeichen in Gold, als ihn im März 1945 ein Kopfschuss buchstäblich außer Gefecht setzte. 23 Jahre später teilte er dem Dekan der Tübinger Juristenfakultät, der er seit 1953 angehörte, mit: Ich muß aufgeben, d. h. mich vorzeitig pensionieren lassen. Meine fünfmalige Verwundung hat zur Folge, daß ich kaum eine Vorlesungsstunde am Tag physisch durchhalte und während eines jeden Semesters medizinisch mehrfach ausfalle. Seit vielen Jahren … sind starke Kopfschmerzen bei mir der Normalzustand … Da im öffentlichen Recht z. Z. drei Privatdozenten zur Verfügung stehen […] 63, hoffe ich, daß ich die Fakultät für das kommende … Semester … nicht in Schwierigkeiten bringe. Das ganze ist … gleichsam ,Stalingrad zweiter Teil‘.

Erst 1981 glaubte Dürig endgültig,64 die Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand zum 1. April 1982 beantragen zu können. Eine Entlastungsprofessur war eingerichtet und besetzt worden. Die Modalitäten seiner Ablösung (mit erst 62 Jahren!) aus der „Hauptkampflinie“ hat Dürig bewegend geschildert.65 Schlesisch-gefühlvoll verabschiedete er sich brieflich von seinen langjährigen Tübinger publizistischen Weggefährten: „Vor meinem Urlaub und nach der Rückkehr vorige Woche (Mallorca bleibt deutsch) haben Sie alle … mir nahegelegt …, daß ich meinen Antrag gem. § 52 Nr. 1 LBG (Dürig Nr. 50) zurückziehe. Dafür danke ich herzlich – das

62 In Maunz-Dürig, Art. 2 Abs. 2 GG Rn. 1 ff. (29 ff.) spricht Dürig von den „drei naturalen Werten der Körperlichkeit“. 63 Die Staatsrechtsvorlesung übernahm „Herr Dozent Schmitt Glaeser“ (Fakultätsakten). 64 Als das Frankfurter Anti-Behinderten-Urteil ( JZ 1980, 684) die Medien beschäftigte, war Dürig, wie er schrieb, „in stationärer Behandlung in einem Hirnverletzten-Versorgungskrankenhaus, und dies fast ein halbes Jahr lang“. 65 JöR 36 (1987), 91 ff. Der Abschied ist ihm außerordentlich schwergefallen. 1989 wurde er mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet.

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soll ja auch kein endgültiger Abschied sein –, auch nicht Restzeit zum Schreiben meiner Memoiren (obwohl das ganz … munter ausfallen würde – allein meine Tätigkeit bei Canaris schlüge jeden Thriller) … Sie gehen anständigerweise von so einer Art ,Mitschleppen‘ bis zum Emeritierungsalter aus. Aber sehen Sie, die Studenten haben gegenüber Professor Dürig eine ganz andere Erwartungshaltung … Selbst im ,Schwabenpfeil‘ Stuttgart / Bonn behauptet die Hälfte der Insassen, Schüler von mir zu sein, und fängt an mit Fachsimpelei. Ich kann mir eben kein Pappschild umhängen: ,Dachschaden, nicht ansprechbar‘ … Der Moneten wegen wäre ich doch nie Berufsoffizier oder Professor geworden, sondern Manager bei Mannesmann … [Den Kauf von Fachbüchern kann ich nun allerdings nicht mehr] als Werbungskosten geltend machen. Also Kinder, schenkt mir … wenigstens Eure Bücher …“.

In seiner allerersten Publikation hatte Dürig66 zustimmend den protestantischen Sozialkritiker Emil Brunner67 zitiert: „Erst dadurch, daß man von sich selbst loskommt, wird man eine ,Persönlichkeit‘.“ Vertrauter noch war ihm die katholische Sozialethik (Steinbüchl): „Der freie Dienst an der Gemeinschaft macht die Person zur Persönlichkeit.“ Eine solche Persönlichkeit – und weit mehr – war Günter Dürig. Die eigene Lebensforderung löste er brillant ein, im Bewusstsein, in ein Größeres eingeordnet zu sein, in das, was in Rilkes „Sonette an Orpheus“ mitschwingt. Mein Lesen dieser so strengen wie letztlich tröstenden Verse soll dies anklingen lassen. Zugleich leitet es zum anschließenden „musikalischen Ausklang“ über: Wandelt sich rasch auch die Welt wie Wolkengestalten, alles Vollendete fällt heim zum Uralten. Über dem Wandel und Gang, weiter und freier, währt noch dein Vor-Gesang, Gott mit der Leier. Nicht sind die Leiden erkannt, nicht ist die Liebe gelernt,

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JR 1952, 259 ff. Bei allem „Affekt gegen die mißbrauchten Worte ,Gemeinschaft‘, ,Dienst‘, ,Treue‘“, schrieb Dürig, „wäre es dankenswert, wenn sich … große Juristen finden würden, die diese Worte … für das moderne Rechtsleben ,genießbar‘ machten“. 67 Universitas 2 (1947), 269 ff., 385 ff.

Günter Dürig und was im Tod uns entfernt, ist nicht entschleiert. Einzig das Lied überm Land heiligt und feiert.

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„Auf den Schultern von Riesen“: Peter Häberle* Peter Häberles Lieblingsmetapher, die auch seine vorstehend in einer kleinen Auswahl veröffentlichten separaten Aufsätze, Rezensionen und Interviews verbindet, ist die von den „Zwergen auf den Schultern von Riesen“. Der gewiss nicht zwergenhafte Gelehrte verwendet das seit dem 12. Jahrhundert (Bernhard von Chartres) bekannte Bild1 in einem dreifachen Sinne: - als captatio benevolentiae gegenüber dem vielfach geforderten Leser, dessen wohlwollendes Interesse geweckt werden soll; - als Herausstellen der stützenden, in die Zukunft hinein offenen Traditions- und Generationengemeinschaft der Wissenschaftler; und - als Hinweis auf eine Bedingung der Möglichkeit von Innovation und Fortschritt in der Forschung, ausgedrückt in dem Gleichnis, dass ein Wicht, auf den Schultern eines Großen hockend, ein Stück weiter sieht als dieser, also bestimmte Fragestellungen oder Zusammenhänge retrospektiv klarer erfasst oder prospektiv erstmals erschaut.2 *

Aus: P. Häberle, Kleine Schriften. Beiträge zur Staatsrechtslehre und Verfassungskultur, hrsg. von W. Graf Vitzthum, Berlin 2002, S. 397 – 407. 1 Zu seiner Geschichte und Bedeutung R. K. Merton, On the Shoulders of Giants, 1965 (dt. Ausgabe 1980), letzter Fortdruck 1993. Dieses Meisterwerk selbstironischer Akademikerkultur führt auf kunstvoll verschlungenen Pfaden der Gelehrsamkeit zu erhellenden Erkenntnissen. Dabei macht der amerikanische Wissenschaftssoziologe die Abschweifung, wie etwa schon Montaigne und Laurence Sterne, bewusst zum Element der Komposition. 2 Vielleicht handelt es sich beim unsterblichen nani-gigantes-Bild bereits um einen antiken Topos? Weitere metapherngeschichtliche Forschung wäre lohnend, vgl. B. G. Sarton, Standing on the Shoulders of Giants, in: Isis 24 (1935/36), S. 107 ff.; R. Klibansky, Standing on the Shoulders of Giants, in: Isis 26 (1936), S. 147 ff.; E. Jeauneau, „Nani gigantum humeris insidentes“, in: Vivarium 5 (1967), S. 79 ff.; P. Kapitzka, Der Zwerg auf den Schultern des Riesen, in: Rhetorik 2 (1981), S. 49 ff.; W. Haug, Die Zwerge auf den Schultern der Riesen, in: ders., Strukturen als Schlüssel der Welt, Tübingen 1989, S. 86 ff.; T. Leuker,

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Gewiss, allzu wohlbekannt ist die sprachanalytische Tugend, Bilder und Begriffe nicht gedankenlos zu übernehmen, sondern sie zu prüfen, zu verwerfen oder anzupassen. Häberles Selbstpositionierung „auf den Schultern“ erfolgt freilich derart reflektiert – schon weil es nicht seine Art ist, Metapher auf Metapher zu türmen –, dass sie durchaus den Horizont meiner Skizze über diesen weitsichtigen Gelehrten und das Verhältnis von Tradition und Fortschritt in der Wissenschaft abgeben kann. Zugleich lässt sich an Hand des Zwergengleichnisses erläutern, in wie hohem Maße Häberle durch die Jahrzehnte seines Wirkens als Forscher, Lehrer und Verfassungspolitiker3 sich selbst treu geblieben ist: in der Wahl seiner erkämpften Sprachbilder, in seiner behutsamen, beweglichen Analysetechnik, im Ton und Gestus seiner häufig personenbezogenen, stets anspruchsvollen Darstellung. Auch diese Kontinuität des Denkens hat Häberle nicht zum Repräsentanten einer in sich geschlossenen Lehre werden lassen. Er schreibt ja auch weniger lehrbuchartig als essayistisch. Seine Texte sind selbst für Nichtjuristen gut lesbar, schon weil sie, das bekannte Grau in Grau mancher Kurzlehrbuch- und Handkommentarliteratur durchbrechend, die Farben der alten Staatswissenschaften wieder aufleuchten lassen. Klugerweise hat Häberle auch noch einige thematische Lücken gelassen. Sein von Anfang an weit angelegtes Werk ist nicht auf ein einziges Leitmotiv, gar eine singuläre Leitvokabel hin komponiert.4 Seiner Wirkung hat das alles nicht geschadet, im Gegenteil. Wohl aber kam es so nicht zur introvertierten Schulenbildung. Es fällt schwer; in dem Halbdutzend seiner (interessanten) Habilitierten und in dem großen, farbigen Kreis seiner wissenschaftlichen Enkel die Spuren und Gemeinsamkeiten einer stimmigen, lehr„Zwerge auf den Schultern von Riesen“, in: Mittellateinisches Jahrbuch 32, 1 (1997), S. 71 ff. Deutlicher würde dann, dass die auf den ersten Blick etwas muffige Metapher, die etwa auch Newton und Freud verwendeten, in Wirklichkeit, gerade wegen ihrer Ambivalenz, frisch und vielseitig ist. 3 In den 90er Jahren wurde der Heimatverbundene verfassungspolitischer Berater ferner Regierungen und Parlamente, etwa in Estland, Polen und der Ukraine. Hier konnte der schwäbisch-deutsche Europäer das Gelernte und Gedachte selbst erproben; ein Syrakus-Erlebnis wurde es keineswegs. 4 Die Verfassungsreformen in der Schweiz, in Italien und in Spanien verfolgte Häberle als teilnehmender Beobachter besonders intensiv; dabei wohl auch den inneren Erlebnisbereich erweiternd. Zur Weltabkehr und Einsamkeit neigt er nicht (mehr). Chancen, seinen Ideen Dauer und Wirklichkeit und seiner Erfahrung Raum zu geben, ergreift er.

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buchhaften Methode zu sehen – Pluralismus, Häberles Kernforderung an die Wissenschaft, „begins at home“, unter Verzicht auf einen Fixstern. Gläubige und Nachahmer interessieren nicht, Lehrer, Leser und Lehren umso mehr. Sind nicht die Letzten ohnehin meist die Ersten („quanto iuniores, tanto perspicaciores“, formulierte bereits der Grammatiker Priscian in Auseinandersetzung mit griechischen Vorläufern) oder, um im Bild der Titelmetapher zu bleiben, die Obersten? Und sind die akrobatischen kleinen Gesellen wegen ihrer begünstigten Position nicht in der Tat im Besitz der Chance des „remotiora videre“ ( Johannes von Salisbury5), also potentiell besonders befähigt, zum relativen Fortschritt der Erkenntnis beizutragen? I. Die erste Bedeutung der Zwergenmetapher, die werbende Selbstzurücknahme, ist bei Peter Häberle evident. Im Bestreben, das Wohlwollen des Lesers zu gewinnen, und im Wissen um die Grenzen des Wissens formuliert der Gelehrte geschmeidig und gelassen. Ihm fehlen die steilen, auf Mission und Totalität zielenden Begriffe.6 Im Respekt für den Anderen, für den heroischen Ernst Forsthoff etwa oder den hanseatischen Herbert Krüger, lauscht Häberle – „alles Tauben auf dem Dach?“ mag er sich gelegentlich fragen – auf das, was in das Gespräch eingebracht wird, interessiert an Austausch, an Erkenntnisgewinn, an Sicherung der wichtigsten fremden und der womöglich noch stärkeren eigenen Gedankenströme. 5

Vgl. P. von Moos, Geschichte als Topik, 1998, S. 238 ff., Johannes’ Satire auf epigonale Hochstapler wie seine These von der „tragenden Riesenkraft“ des kulturellen Erbes betonend, Johannes von Salisburg bzw. Bernhard von Chartres „sagen kein Wort von einer Unterlegenheit der Riesen. Die Frage, ob die Zwerge ein Recht haben, auf diese herabzusehen, stellt sich nicht; haben sie doch genug damit zu tun, ,in die Weite zu blicken‘“ (ebd., S. 243). Vgl. auch Leuker (Fn. 2), S. 74: „Für sich genommen sind auch die größten auctores klein; es ist die Tradition, die im Lauf der Jahrhunderte zu gigantischer Größe heranwuchs.“ 6 Das ändert nichts an Häberles Freude am Schöpfen von Begriffen (z. B. „Verfassung als öffentlicher Prozess“ [1969]; „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ [1975]; „Der kooperative Verfassungsstaat“ [1978]; „Die Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode“ [1989]). Seine Kreationen, mittelbar auch gegen manche ausgeleierte Staatsrechtsbegrifflichkeit gerichtet, sind häufig diskurstreibend. Einige wurden Standardtopoi der Zunft, auch wegen ihrer geschliffenen Offenheit. Eher Systemkonstrukteur als Empiriker hat Häberle sich vor dem Horizont neuen Erfahrungswissens gelegentlich korrigiert. Bestand hat, was sich abwandeln lässt, Langlebigkeit gewinnt, was sich verwandeln kann.

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Dieser folgt auch in der Überzeugung, dass es einen universal verwendbaren Typus des Verfassungsstaates gibt und damit ein bei ihm (und zumal bei mir) letztlich abendländisch grundiertes „Menschheitsverfassungswissen“. Das herauszupräparieren, zu tradieren, zu verdichten und auf die konkrete Lage hin auszulegen – das ist Häberles selbstgesetzte Agende. Sie arbeitet7 er Schrift für Schrift ab, gewiss auch im Bewusstsein, dass letztlich, wie wir seit Kant wissen, „nichts ganz Gerades gezimmert werden (kann)“. Am Glück8 seiner Entdeckungen, am Reichtum seines Verfassungswissen hat Häberle vielen Anteil gegeben, zunächst primär in Deutschland, der Schweiz und Österreich, dann in Süd- und Südwesteuropa, nach der Epochenwende 1989/1990 auch in Mittel-, Ost- und Fernosteuropa. Mittlerweile reicht seine Ausstrahlung bis nach Ostasien, Südamerika, Südafrika. Das schlägt sich nicht zuletzt in Übersetzungen nieder. Derzeit gibt es Häberle-Texte in mehr als einem Dutzend Sprachen. Unter den deutschen Staatsrechtslehrern gehört er zu denjenigen, deren sich die ausländischen Wissenschaftlergemeinschaften am stärksten angenommen haben. Wer fundiert überzeugt ist, überzeugt – unabhängig von Zeitströmungen. ll. Das Bekenntnis zum Traditionsgefüge, in dem er steht – die zweite Bedeutung des Zwerg-Riesen-Bildes –, führt ins Zentrum des Denkens von Peter Häberle. Gemeint ist seine Wertschätzung der Großen der Weimarer

7 Häberles Klavier-Einlagen, zumal bei Hauskonzerten, beflügeln auch die Sinne. „Manche Werke des ,ewigen‘ Bach“, schrieb er mir vor Jahren, „klingen wie Sphärenmusik. Es ist aber ein Trost für uns ,Nichtse‘, dass selbst diese Götter uns brauchen.“ Brauchen nicht auch die Riesen die Zwerge, damit die Traditionskette nicht abreißt, das Wissen um ihre Riesenhaftigkeit also nicht verloren geht? 8 Die Forschung freilich repräsentiert dem Ohrendenker, dem jeder falsche Ton zuwider ist, nicht eine so „fröhliche Wissenschaft“, wie dies etwa bei Merton (Fn. 1) der Fall ist (das Amüsement, das dessen Buch durchzieht, ist ansteckend); auch weiß Häberle um die immerwährende Verletzbarkeit des menschlichen Körpers. Lässigkeit, gar Ironie und unverhohlene Lebensfreude passten nicht zur Suebizität dieses verletzbaren Gelehrten, der, wozu auch seine früher schwer lesbare Handschrift beitragen mag (selbst die Maschinenschrift war lange Zeit kaum besser), bei aller Güte wenig über sich preisgibt. Stets freilich gibt er weit mehr als er nimmt.

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Staatsrechtslehre („Weimars große Namen [,Riesen‘]“) 9 und sein Bekenntnis zu Konrad Hesse, seinem wichtigsten Lehrer, den (auch) er als einen der Großen des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland ansieht. Auf diese als „Klassiker“ beruft er sich durchgängig,10 um ihnen dann doch das Eigene abzugewinnen, sich die innere Freiheit erhaltend, bis in manche ausschweifende Anmerkung hinein. Um Entmythologisierung geht es Häberle nicht, sondern um gegenwartsrelevante Wirkungsgeschichte und um traditionsgesicherte Pfade in die Zukunft. Es dürfte keinen Staatsrechtslehrer geben, der seine Zunft und seine eigene Position in dieser Topographie ähnlich minutiös auf personale Bezüge hin vermessen11 und die relevanten Richtungen so nuanciert herausgearbeitet hat wie Häberle, und zwar nicht in statischer, antiquarisch bewahrender Absicht, sondern in einem dynamisch-fortwirkenden, letztlich pädagogischen Sinn. Für mich repräsentieren diese biographischen12 und wirkungsgeschichtlichen Essays den „eigentlichen“ Häberle: retrospektiv am Vorbild der Großen lernend und manches nun vielleicht klarer als sie erkennend, prospektiv viel Neues erschauend und benennend, dies alles mit selbstbewusster Bescheidenheit, getragen von einem wissenschaftsethischen, erzieherischen Impuls. Unzutreffend wäre deshalb etwa der Vorwurf, Häberle tendiere dazu, das Staatsrecht zu personifizieren und damit zu vereinfachen. Bei seinen vertikalen (nicht: transzendenten) Rückbezügen geht es Häberle nicht darum, sich zur Verteidigung seiner Ansichten auf Autoritäten zu berufen oder in einen Wettstreit um Priorität bei Entdeckungen einzutreten; Originalitäts- oder Rangkämpfe sind ihm fremd. Indem er seine Aufgabe als „Teil eines kulturellen Generationenvertrages“ definiert, 9 Für Häberle: Hermann Heller, Rudolf Smend, der frühe Carl Schmitt, mit Abstrichen auch Erich Kaufmann und Hans Kelsen. 10 Vgl. bereits seine „Klassikertexte im Verfassungsleben“, 1981. 11 Weitere Leitsterne – ohne deren essentielle Unterschiede zu ignorieren – sind in Häberles Sicht: Günter Dürig, Ernst Forsthoff, Herbert Krüger, Ulrich Scheuner, wohl auch Otto Bachof und Peter Lerche. 12 Visualisiert hat davon manches aus Anlass des 65. Geburtstages von Häberle sein Schüler Schulze-Fielitz in den „Stammbaum“-Tafeln der gegenwärtigen Staatsrechtslehrer (Baden-Baden 1999); sie verdienten eine Neuauflage. Vgl. auch das Diktum des Philosophen: „Bis diejenigen, die […] auf den Schultern der Riesen über die Zwergstatur hinausgewachsen sind, weiter blicken können, sind deren Schüler schon wieder am Klettern, denn die wollen ja auch alle auf diese Positionen […]“ (Rüdiger Bubner).

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legt Häberle vielmehr den seiner Meinung nach hohen Anteil seiner Vorgänger und Lehrer an seinen eigenen Leistungen offen, im Sinn einer Kausalitätsdarstellung und geistigen Anverwandlung („Riesen sich nähernd“), aber auch im Kontext des Erkämpfens und Behauptens der eigenen Statur, notfalls gegen die Großen. Häberle betont die Substrukturen, die sein Bauen erst ermöglicht haben, gewiss im Bewusstsein, dass auch mit seinen Leistungen das Bauwerk unabschließbar bleibt.13 Für den Bayreuther füge ich hinzu: Die Riesen, die in Richard Wagners „Ring“ beim Bauen helfen, sind dumm und böse; sie stehen also in einer ganz anderen geistesgeschichtlichen Tradition als die, um die es Häberle (und mir) bei dem Zwerg-Riesen-Vergleich geht. Insgesamt ist Häberle zur Begeisterung14 weit befähigter als zum Verwerfen. Unpassend wäre deshalb ein Bild, wonach ein Zwerg einen Riesen zu Fall bringt, um sich so selbst zum Riesen aufzubauen (nur um dann seinerseits ein entsprechendes Schicksal zu erleben). Die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (Thomas S. Kuhn) passt nicht auf das traditionsbewusste Denken und evolutionäre Voranschreiten von Häberle. Ihm dient der berühmte Vergleich zum rückversichernden Generationenbezug wie zur vorwärtsblickenden Pointierung neuer, eigener Einsichten. Revolutionen oder sonstige fundamentale Neuanfänge bestehen demgegenüber gerade darin, dass sie, denkt man an Kuhns schon etwas angestaubte Differenzierung zwischen normalem Gang der Wissenschaft und revolutionärem Paradigmenwechsel, nicht Entwicklung, kontinuierlicher Fortschritt, Stufung sind, sondern scharfe Zäsur, Demontage, Umbruch. Das Gegenteil eines Imitators oder geistigen Schnorrers, gibt Häberle bei seinem Lernen und Lehren am Vorbild der Großen stets mehr als er nimmt. Dieses Ethos mag auch seine kontinuierliche Arbeit im steinigen

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Mit dem Aphorismus „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang“ bekundete bereits Hippokrates, dass der Wissenszuwachs letztlich keine Grenze kennt, der einzelne also als ein notwendigerweise Unvollendeter in den Prozess von Wissenserwerb und -weitergabe eingegliedert ist. 14 Heller z. B. ist für Häberle zwar nicht der Quell der deutschen Staatsrechtslehre der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wohl aber eine ihrer Voraussetzungen. Ebenso ist der Umgang mit Smend und Hesse eng mit Häberles eigener Entwicklung verbunden. Alle drei sind in vorstehender Edition denn auch ubiquitär anwesend, ebenso die Verfassung, weniger – unter deutschen Staatsrechtslehrern eher selten – der Staat, gar nicht die Staatsmystik.

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Weinberg des Besprechungswesens15 erklären. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist Häberle einer der maßstabgebenden Rezensenten im Kreis der deutschen Staatsrechtslehrer, frühzeitig schon eine Institution. Er begleitet gerade auch das Werk jüngerer Wissenschaftler. Bei aller formaler Distanz und regelmäßig fehlender überströmender Begeisterung hat er schon manchen Debütanten ermutigt. III. Die bei Peter Häberle stets skizzenhaft-vorläufig bleibende Andeutung der potentiellen Weitersichtigkeit der Wichte – die dritte Bedeutung der mittelalterlichen Metapher – ist bei ihm keine arrogant modesty.16 Sie ist vielmehr das Herzstück seiner Wahrheits- und Innovationsüberzeugung. Das bedarf der Erläuterung.17 Beim Ausschöpfen der Fortschrittsvorstellung geht Häberle ähnlich vor, wie es etwa Werner von Simson tat, als dieser über Carl Schmitt schrieb: Bei aller Anerkennung des bleibenden Ranges der „Verfassungslehre“ passe sein Staatsbild nicht mehr18 auf die Bedingungen und Aufga15 Viele Besprechungen sind im AöR erstveröffentlicht. In diesem Schlüsselorgan verantwortet Häberle seit dreieinhalb Jahrzehnten die Vergabe der Buchanzeigen – „lang ist gang in gleicher spur“. Vgl. auch seinen Band „Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft“, 1982, der früh zu seiner Reputation beitrug, auch bei Kollegen, die manche Wertung nicht teilten. 16 Vgl. Merton (Fn. 1, S. 270), der einen Riesen die Zwergenbehauptung der Weitersichtigkeit kommentieren lässt: „That may be true, but a louse on the head of an astronomer does not.“ Zur falschen Bescheidenheit zählt (ebd., S. 298) etwa die Formel: „even dwarfs may add something to the superstructure of the great edifice of science.“ 17 So dürfen mit der Zwerg-Riesen-Vorstellung, worauf Merton (Fn. 1, S. 150 ff.) hinweist, etwa diverse andere Darstellungen nicht in Verbindung gebracht werden, z. B. Evangelisten auf den Schultern von Propheten (auf Glasfenstern in Chartres). Die Evangelisten sind hier keine Knirpse, sondern von gleicher Statur wie die Propheten, so dass es bei dieser Darstellung jedenfalls nicht um die Dimension der Genauer- oder Weitersichtigkeit geht. 18 Der Zwergenvergleich betrifft auch die Auseinandersetzung zwischen Alt und Neu. Häberle, dem kulturhistorisch Kundigen, steht gewiss die „Querelle des anciens et des modernes“ in der Renaissance vor Augen (für das Mittelalter ist die Rede von der „Querelle …“ selbst nur eine Metapher). Damals hat man, um den Spielraum der Freiheit zu wahren, das Zwergenbild bewusst abgehängt, ja bekämpft, vgl. Haug (Fn. 2): Bis ca. 1200 sei das Bild eindeutig bewundernd verwendet worden, in Hochachtung gegenüber der Tradition; später habe sich dann der Fortschrittsgedanke durchgesetzt: Wir sehen weiter als die Alten. Zurückhal-

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ben aktueller, also unabgeschlossener, europa-integrierter Staatlichkeit.19 Und in der Tat: Die Europäische Gemeinschaft stellt in der Staats- und Verfassungsformenlehre etwas grundsätzlich Neues dar, einen Sprung. Supranationalität führt, wie unser Mentor schon Ende der 60er Jahre hellsichtig („nova invenire!“) lehrte, zur Umprägung und Umorganisation des mitgliedstaatlichen Legitimations-, Verfassungs- und Rechtsgefüges („Europäisierung“), aber auch zum Umbruch in unserer Wissenschaft. Historische Vorläufe für diese Innovation gibt es nicht. Akrobatik auf den Schultern der Alten hilft nicht weiter; Anbindung gelingt allenfalls an Zeitgenossen. Das Verwenden des literarischen Zwerg-Riesen-Diktums zielt bei Häberle demnach auch auf Klärung des Verhältnisses von alt und neu, von progressiv oder rückschrittlich, von wahr und falsch – in der Wissenschaft. An der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit von Fortschritt sind ihm offenbar nie Zweifel gekommen.20 Und ist die nahezu universale Ausbreitung des Typus „Verfassungsstaat“ – bei allen fernen und nahen Rückschlägen und allem verbleibenden Abstand zu einer heilen Fortschrittswelt – nicht tatsächlich ein Hoffnungszeichen? tend von Moos (Fn. 5); S. 240 ff. (Epochenmetaphern und Übergangsvorstellungen ließen sich grundsätzlich je nach Standpunkt i. S. d. Fortschritts oder der Dekadenz interpretieren), S. 381 (bei Johannes von Salisbury jedenfalls liege der Hauptakzent „auf der Dankbarkeitsschuld der antiquitas gegenüber“). Zwar dulden die Traditionsriesen die jungen Zwerge als „,überlegene‘ Reiter auf ihren Schultern“ (S. 396), aber in dem Gleichnis drücke sich letztlich nicht „moderne“ Geringschätzung der antiquitas aus, „sondern ein Sinn für menschliche Kontingenz“ (S. 534). Auch z. B. für Jeauneau (Fn. 2) und Leuker (ebd.) bleibt die Rolle des Ingeniums der moderni winzig. 19 Vgl. W. von Simson, Carl Schmitt und der Staat unserer Tage, AöR 1989, S. 185 ff. (das Umfeld, in dem der heutige Staat seine Existenzmöglichkeit findet, sei derart ausgedehnt und zugleich in sich verschränkt, dass Einteilungen, wie Schmitt sie vornahm und für entscheidend erklärte, an den Tatsachen der Gegenwart vorbeigingen. Das gelte zumal [S. 218 ff.] für Schmitts „Freund-Feind-Syndrom“). 20 Methodisch trifft sich Häberle hierin etwa mit Guy de Chauliac, dem bedeutenden Chirurgen des 14. Jahrhunderts, der unter Rückgriff auf Hippokrates sagte: „Pueri enim sumus in collo gigantis / quia videre possumus quicquid gigas /et aliquantulum plus.“ Chauliac folgt damit einem Topos der „Introductiones“ und sonstigen Lehrbuchliteratur, sich als Kulmination einer Tradition zu präsentieren; Geschichtskenner ist er darum nicht. Näheres zu diesen Zeugnissen (ein junger Arzt steigt auf die Schultern seines verstorbenen Lehrers) bei Jeauneau (Fn. 2).

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IV. In der ihm eigenen Bescheidenheit21 und Beharrlichkeit – Ausfluss wohl auch der im protestantischen Glauben verwurzelten Pflicht, im Leben etwas zu leisten – hat Peter Häberle, wie auch vorstehende Sammlung zeigt, ein sich in der Breite und Tiefe rasch erweiterndes Themenfeld bearbeitet. Vom deutschen Staats- und Verfassungsrecht ausgehend und stets diesen Kernbereich weiter erforschend, einschließlich der Schlüsselgebiete Staatskirchenrecht (in seiner Terminologie: Religionsverfassungsrecht) und Verfassungsgerichtsbarkeit,22 griff Häberle in die Rechtsvergleichung in Raum23 und Zeit aus. Bei letzterer weckte zumal die Weimarer Staatsrechtslehre in ihrem verdeckten Fortwirken bis zum heutigen Tag sein Dauerinteresse, mag jene Ära uns Nachgeborenen auch schon fern wie das Wien der Türkenkriege erscheinen – oder unseren eigenen Schülern bereits ähnlich entlegen wie die 60er Jahre in Freiburg, also die Zeit, in der Häberle das Staatsrecht und das Schöpferische in sich entdeckte. Einen Plauderton, wie wir Jüngeren ihn dann an Simson liebten und dieser an Fontane, schlug Häberle auch in seinen biographischen und vergleichenden Skizzen nicht an. Die Freundschaft, die er im Kreis um un21 Uns steht, wie schon Protagoras herausfand, nur das eigene Maß zur Verfügung. Sehen wir also wirklich viel mehr als das, was wir uns wünschen? War die nicht nur Häberle begeisternde „Weltstunde des Verfassungsstaates“ (1989/90) gar nur eine Projektion? 22 Vgl. etwa seinen mehrfach übersetzten Bestseller „Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz“, 1962 (3. Aufl. 1983), das von ihm herausgegebene Standardwerk „Verfassungsgerichtsbarkeit“, 1976, sowie seinen Band „Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht“, 1982, alles Werke, die bleiben werden. 23 Vgl. nur die seit 1983 in Nachfolge von Gerhard Leibholz geleistete Herausgabe des JöR. Gleich Häberles erster Band (der 32., mittlerweile ist der 50. erschienen) beschrieb die damals neue griechische Verfassung und dokumentierte die von Portugal und der Türkei. Mit einem Aufsatz von Pierre Burdeau über den Regierungswechsel in Frankreich und einer Analyse des britischen Parteiensystems knüpfte Häberle an die Jahrbuch-Tradition der Öffnung zu politikwissenschaftlichen Fragestellungen an. Sein eigener Beitrag „Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive“ beschrieb das kulturbezogene Gefüge der europäischen Integration als Schlüsselelement einer werdenden gemeinsamen Verfassungsordnung. In der neuen Rubrik „Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen“ beschrieb Simson stilbildend seinen verantwortungsvoll ungebundenen, persönlichen Zugang zum Thema Staat – nicht ohne Selbstironie und Humor und darum mit einem Quäntchen Optimismus.

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seren Lehrer Simson (und unseren Milchbruder Jürgen Schwarze) genossen hat und weiterhin genießt, hat Häberle wohl auch geholfen, sich mit sich selbst zu befreunden und jene (moderate, auch der Titelmetapher immanente) Fortschrittsgläubigkeit auszubilden, ohne die die Wissenschaft nun einmal nicht leben kann. Mittelbar stellt Häberle insgesamt das kurzsichtige Verschleudern von Traditionsbeständen bloß. Sein Verweis auf den Vorrat an dogmatisch Geformtem wendet sich auch gegen eine zynische und selbstherrliche Strömung des Zeitgeistes, die Klassisches und Hergebrachtes grundsätzlich in Frage stellt, eine Strömung, die den Zwergenvergleich in seinem traditionsbejahenden Sinn empört ablehnen würde. Fast zwangsläufig kulminierte Häberles Engagement für die horizontale und vertikale Rechtsvergleichung in seiner Entdeckung des „Europäischen Verfassungsstaates“, einer Wirkungseinheit, deren Schutz und Pflege in wirbelnder Zeit den nationalen Verfassungsgerichten, dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ebenso anvertraut ist wie der Wissenschaft. Von daher war es nur ein kleiner Schritt zum „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“.24 Im Themenkosmos des Gelehrten nehmen diese partiell antizipierenden Aspekte mittlerweile die zentrale Position ein. Häberle verfolgt die ja keineswegs gradlinig verlaufende Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration mit kulturwissenschaftlicher Leidenschaft. Historische Ereignisse – etwa die Wiedervereinigung Deutschlands25 – und die Wahl der wissenschaftlichen Themen (z. B. die Besonderheiten der ostdeutschen Landesverfassungen) verschränken sich bei ihm. Die Wendemarken der Zeitgeschichte strukturieren seine Forschungsinteressen, machen die Ergebnisse transparent, härten seine Sätze. Zu den Existenzen, bei denen die Zeit 24 Vgl. seinen gleichnamigen Beitrag in: EuGRZ1991, S. 261 ff., fortgeführt in dem Band „Europäische Rechtskultur“, 1994. Primär geht es um Standards gemeineuropäischen Verfassungsrechts und Konturen der europäischen Rechtskultur. Sie müssen in der Tat probiert und gepflegt werden, sonst entschwinden sie und mit ihnen unser geistiges Erbe (und unser Wissen davon, wer wir eigentlich sind). Die Frage freilich, wie „eng“ die „immer engere Union der Völker“ werden soll, inwieweit also letztlich die Aufhebung der Eigenstaatlichkeit der Mitglieder das Integrationsziel bzw. die -konsequenz ist, bleibt auch bei Häberle unbeantwortet. 25 Der Weg dorthin schien Häberle (wie auch Grimm) seinerzeit freilich nicht allein über Art. 23 GG (a.F.) zu führen, sondern über Art. 146 GG (a.F.) in Kombination mit jenem Beitrittsartikel. Ließ eine generationstypische, zeitbedingte oder schwäbische Lust am Querdenken Häberle hier scharfsinnig übers Ziel hinausschießen?

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keine Spuren hinterlassen und in die das Schicksal nicht eingegriffen hat, zählt Häberle nicht. Ebenso wenig gehört er zu denen, die von ihren Themen und Thesen um keinen Preis lassen können. V. Peter Häberles Produktivität ist auch nach vierzig Jahren des Lesens und Schreibens, der Redakteurs- und Herausgeberschaft, des Lehrens und Beratens unverändert, also atemberaubend – keine Spur von Schaffensmüdigkeit. Aus seiner Begabung, einer angeborenen Aufgabe, hat er mit jugendlichem Schwung und moralischem Verhalten etwas gemacht, stets über den Dingen, nie kleinlich! Neben fast drei Dutzend Monographien entstanden zahlreiche Sammelbände, biographische Essays (mehrheitlich in diesem Band wieder veröffentlicht), eine schier unübersehbare Fülle von Einzelbeiträgen in Fachzeitungen, Festschriften, Themen- und Tagungsbänden sowie mehrere in Deutschland nun erstmals publizierte wissenschaftliche Interviews. Inhaltlich wie gattungsmäßig begegnet uns immer wieder Neues; Altes erweist sich als zeitresistent, als praktisch so frisch wie im Jahr seines Erscheinens. Häberle lesen (vorstehende Sammlung enthält nur Teilstücke seines Oeuvres) ist wie ein Wandern auf der Hochebene der Schwäbischen Alb, mit einem methodisch strengen, eminent kundigen, ausdauernden Mentor. Faszinierend, dass er sammelte und durchdachte, was in Jahrzehnten vor oder in fremden Verfassungsordnungen neben uns vor sich ging bzw. aktuell geschieht! Maßstäbe und Richtlinien besitzt er offensichtlich primär in sich selbst. Zur Generation der Blumenkinder oder der Systemüberwinder gehörte er so wenig, wie er sich nun nicht mit der Spaßgesellschaft anfreundet. Er ist auch kein Ausnutzer, sondern gibt, wie seinerzeit etwa Hans Peter Ipsen, Wilhelm Kewenig, Otto Kimminich, Hermann Mosler, Ulrich Scheuner, Roman Schnur oder Erik Wolf, freimütig ab. Häberles nie leichtes, stets weiterführendes, inspirierendes Werk summiert sich zu einer Verfassungsgeschichte, Staatslehre und Verfassungstheorie der Nachkriegsmoderne.26 Ihren Errungenschaften, Defiziten 26 Eine Krönung ist Häberles „Europäische Verfassungslehre“, 2001/2002: die Verortung der Verfassungsdinge im Europäischen und Existenziellen; Vorarbeiten schon in seinen Aufsatzsammlungen „Europäische Rechtskultur: Versuch einer Annäherung in zwölf Schritten“, 1994, „Das Grundgesetz zwischen Verfassungs-

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und Zukunftschancen gilt sein Interesse. Das zeitgenössische Verfassungswissen, mit seinen großen Themen – Staat und Verfassung; Verfassungsgebung, Verfassungsinterpretation, Verfassungswandel, Verfassungsänderung; Regional- und Bundesstaat in Europa; Sozial- und Kulturstaat im Wandel; Verfassungsgericht, Fachgerichte und Gesetzgeber; Grundrechte im Leistungsstaat; offener Staat, verfasste Gesellschaft, etc. – findet sich hier bilanziert, strukturiert, melioriert: ein Glücksfall für die deutsche Staatsrechtslehre wie für die europäische Verfassungswissenschaft.27 Da schadet es nichts, dass das von Häberle so geschätzte Zwergenbild in Sachen vertiefter europäischer Integration nicht passt. Gewiss, „Europa“ weist eine große, bis weit in die Antike zurückreichende Tradition auf. In der derzeitigen Konstitutionalisierungsphase geht es freilich um mehr und anderes, um etwas ganz Eigenes. Hier, bei diesem autonomen Innovationsakt, können wir nicht einfach versuchen, es den Alten gleichzutun. So wichtig Klassiker bei Reform und Erneuerung sind – die europäische Integration muss in ihrem Post-Nizza-Gefüge (Unionsbürgerschaft; Grundrechte-Charta und europäische Identität; Wirtschafts- und Währungsunion; Verfassungskonvent und demokratische Legitimation; gemeinsame Sozialpolitik; Überführung und Weiterentwicklung des Schengen-acquis; Europäisierung auch von Herzstücken etwa des Privatrechts; mitgliedstaatliche Gerichte als Elemente einer gesamteuropäischen Gerichtsbarkeit, usw.) gegenüber allen historischen Vorläufern als ein Neuansatz begriffen werden. Ihn deckt das Zwergengleichnis nicht mehr ab. Das „Laboremus“, in welches Voltaires „Candid“ ausklingt, ist Häberles Lebensgesetz, ihm selbst vielleicht gar nicht bewusst. Zur imponierenden Lebenseinheit des Lehrers gehört damit auch seine Freude am lebenslangen Lernen, geradezu im Anschluss an den pädagogischen Klassiker Johann Amos Comenius. Um 1660 gab dieser, selbst schon ein Endsechziger, als menschheitlich-didaktische Devise für das Lehren und Lernen aus: „omnes, omnia, omnino“. Freude am Lernen und Lehren geht auch ganz allgemein nicht mit Niedergangsstimmungen einher; sie ist letztlich mit recht und Verfassungspolitik – Ausgewählte Studien zur vergleichenden Verfassungslehre in Europa“, 1996, „Verfassung als öffentlicher Prozess – Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft“ (2. Aufl. 1996). 27 Ein Ertrag von Häberles kulturwissenschaftlichem Ansatz wird sichtbar in M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001; vgl. auch die Laudatio auf Häberle von Stolleis, ebd., S. 139 ff., sowie Th. Fleiner-Gerster (Hrsg.), Die multi-kulturelle und die multi-ethnische Gesellschaft, 1995.

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einer gewissen positiven Grundstimmung und Erwartung verbunden. „Wir sollten zufrieden sein“, schrieb Häberle mir einmal, „wir haben den schönsten Beruf!“ So ist das „Laboremus“ bei Häberle, der ohnehin in vielen Sprachspielen zu Hause ist, nicht ein mühseliges, sondern ein beglückendes Fortschreiten. Auch der Herausgeber seiner „Kleinen Schriften“ dankt es ihm, bereit, sich weiterhin von ihm bereichern und zum Weitersehen aufhelfen zu lassen – in eine undeutliche Vergangenheit und eine unüberschaubare Zukunft.

Sekretäre des Weltgeistes: Erich von Kahler und Elisabeth Mann Borgese* I. Die Bekanntschaft mit Erich von Kahler (1885 – 1970), eine Mitgift fürs ganze Leben, entstand während meines Studiums in Princeton, das ich im nahen New York fortsetzte. Im schwülheißen Juni 1967 besuchte ich den in Manuskripten vergrabenen und hochfliegenden Projekten engagierten Geisteswissenschaftler und Kultursoziologen sowie seine realitätsnahe, zupackende, sich in liebevollem Eifer gelegentlich überstürzende Ehefrau Alice („Lili“) Loewy (1900 – 1991). Kahler, der in der Emigration das „von“ in seinem Namen fallengelassen hatte, war ein enger Bekannter von Albert Einstein, Hermann Broch und Thomas Mann. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er erneut an seinem Lebensthema Judentum und Judenhass. Unter diesem Titel wurden zwei Jahrzehnte nach seinem Tod drei seiner einschlägigen Essays (wieder-) veröffentlicht (Wien 1991). Sein Judentum war Kahler immer bewusst geblieben. 1936 hatte er in Zürich den Langessay Israel unter den Völkern publiziert, um „Rechenschaft zu geben von der Stellung Israels in der heutigen Welt“. Er behandelte, ähnlich wie Martin Buber, die Wahl- und Schicksalsverwandtschaft der Deutschen und der Juden sowie „Judentum und Deutschtum“ als geistig-politische Kraft. Seit vielen Jahrhunderten mühe sich „das Deutschtum mit sich selber ab und kann nicht zur Ruhe gelangen, von alters her ist es mit seiner dauernden Unruhe der Welt unbegreiflich und verdächtig“. Es sei mehr als eine Blutsbeschaffenheit: „eine Verfassung des Menschen, in der sich [auch] viele Juden unweigerlich befinden.“ Juden und Deutsche betrachtete Kahler immer aus althabsburger multinationaler Perspektive. Als Europäer und Jude gälte es – dafür kämpfte er zeitlebens –, „das Bild des mündigen, geistigen, brüderlich gesonnenen *

Originalbeitrag 2020.

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Menschen zu wahren“, „exemplarisch zu leben“ und das „rechte Tagewerk“ zu vollbringen. Von der Verbindung von Deutschen und Juden versprach er sich „die Erlösung aus den Wirren der Moderne“, wie sein Biograph Gerhard Lauer (Die verspätete Revolution: Erich von Kahler; Berlin / New York 1995) resümierte. Den politisch hellwachen Humanisten, seinen „Helden“, bezeichnete er, eine philosophische Fiktion aufgreifend, als „ungeduldigen Sekretär des Weltgeistes“. Kahlers „geistiger Ausgangspunkt“, erläuterte sein Landsmann Johannes Urzidil 1965 anlässlich seines 80. Geburtstags, war Prag. Dort wurde er 1885 als Sohn vermögender jüdischer Eltern geboren. Nach dem Studium in Berlin, Heidelberg, München und Wien wurde er in Wien mit der Arbeit Über Recht und Moral (Brünn 1911) promoviert. Aus der Welt Kafkas und Werfels ausbrechend ging er mit seiner klugen und umschwärmten (damaligen) Ehefrau Josephine („Fine“) Sóbotka (1889 – 1959) als wohlhabender Privatgelehrter nach Wolfratshausen bei München. Bis 1919 war dort mehrfach Stefan George zu Gast. Wegen der Fülle seiner Projekte kam Kahler mit seinen Arbeiten häufig in Verzug. „Der Erich kennt nur eine Zeit, und das ist die Unendlichkeit“, scherzten seine Freunde Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl. Die beiden, Stützen in Georges „Staat“, waren jahrelang Kahlers wichtigste geistige Sparringspartner. In diesem historisch-biographischen Horizont entstanden seine Werke. Bei den lebhaften Dreiergesprächen in seiner Villa St. Georg war neben Fine oft auch die „eine immer wiederkehrende Helle ausstrahlende“ (Stefan Radt) Lili Waetzoldt zugegen. Beide junge Frauen wurden von Gundolf verehrt. Wegen seiner Schriften zum Judentum hatte Kahler 1933 vor den Nationalsozialisten fliehen müssen. Zunächst ging er nach Wien, dann nach Prag. 1935 wich er schließlich nach Zürich aus, wie auch Thomas Mann, dessen „humanistischer Berater“ (Ulrich Raulff ) er wurde. 1945 nannte der Dichter ihn, seinen Zelter, „einen der klügsten, feinsten und reichsten Köpfe, die heute wirken, eines der gütigsten, wissendsten und zur Hilfeleistung willigsten Herzen, die heute schlagen“. Kahler schloss sein monumentales Hauptwerk Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas (Zürich 1937) ab. In Fines Exemplar schrieb er: „Ein armer Dank für viel Geduld und Ungeduld“. Thomas Mann urteilte: „Es ist die Standard-Psychologie des Deutschtums“, das Buch „einer kritisch gebrochenen, verhängnisschweren Liebe, in welcher das Negative und Positive in schmerzlicher Ambivalenz verschwimmen“. In politicis wusste Kahler intuitiv, was die Stunde geschlagen hatte. So folgte 1938 die Emigration in die Vereinigten

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Staaten. Er lebte zunächst in New York. Nach Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten wurde er in Princeton, New Jersey heimisch, so heimisch, „wie ein Emigrant zwischen zwei Kontinenten werden kann“ (Sabina Lietzmann). Die gastfreundliche FAZ-Korrespondentin, eine einfühlsame Beobachterin der Gelehrtenrepublik Princeton, lebte in New York, im Künstlerbezirk Greenwich Village. Aus der Gelehrtentradition des neunzehnten Jahrhunderts kommend, lernte Kahler auf Englisch zu denken und zu schreiben. Man the Measure: A New Approach to History wurde sein erstes, erfolgreichstes englischsprachiges Buch: „an attempt“, heißt es im Vorwort, „to write history as the biography of man and from it to gain a view of the future of man“. Kurt Wolff verlegte dieses „(konservative) Grundbuch eines politischen Humanismus für die Neue Welt“ (Raulff ) 1943 bei Pantheon. Thomas Mann sprach von einem „Roman der Menschheit“, „erzählt von einem musischen Denker und historischem Rhapsoden“. Mit diesem vielfach nachgedruckten kulturhistorischen Werk und neuen Themen begründete Kahler seine amerikanische Karriere. Insofern wäre es falsch, seine zweite Lebenshälfte nur aus deutscher Perspektive zu betrachten. Es folgten The Tower and the Abyss. An Inquiry into the Transformation of the Individual (New York 1957), The Meaning of History (New York 1964), Out of the Labyrinth. Essays on Clarification (New York 1967) und viele weitere staunenswerte Analysen (etwa über Thomas Mann, Broch und Stefan George). Es lässt sich nur ahnen, was da für den bereits über Fünfzigjährigen an Anstrengung nötig war, um Sicherheit für seine englischsprachigen Texte zu erlangen. Auch bei dem Strafrechtler Richard M. Honig, einem amerikakritischen deutschen Emigranten, den ich ebenfalls in Princeton kennenlernte, und bei meinem mitreißend optimistischen New Yorker Völkerrechtslehrer Wolfgang Friedmann bewunderte ich diese Anpassungsund Transformationsleistung, dieses Beherrschen mehrerer Denk- und Sprachwelten. Allen strukturalistischen Ansätzen zum Trotz ist Geschichte immer zunächst persönliche Geschichte. Das lernte ich bei meinem ersten Besuch bei Kahlers. Ich nahm, wie aufgefordert, auf der mit Fliegengitter geschützten Veranda Platz, in einem tiefen Korbstuhl mit hoher Lehne. „Schau, Erich“, rief Lili in ihrem singenden Tonfall (sie war in Wien zur Schule gegangen), „der Wolfgang sitzt auf dem Stuhl vom Hermann“. Hermann, das war Hermann Broch, der als gestrandeter Kakanier von 1942 bis 1948 bei Kahlers untergekommen war, in Logis unter dem

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Dach des Hauses Evelyn Place no. 1. Dort wohnte damals auch Kahlers betagte Mutter Antoinette (1862 – 1951), eine Kinderbuchautorin. Nach seinem Wegzug nach Yale hielt der Schriftsteller postalisch engen Kontakt (seine Briefe an Kahler wurden 2010 veröffentlicht). Insgesamt verfasste Broch wohl mindestens so viele Episteln wie Rilke, wobei Ersterer vor allem gefährdete Bekannte in Europa mit Hilfsschreiben (affidavits) versorgte. Anders als Broch, der ausführlich etwa mit Maritain diskutierte, interessierten Kahler katholische Philosophen nicht, wohl aber Formen des Erzählens. In engem Austausch mit Kahler hatte Broch seinen epochalen Roman Tod des Vergil fertiggestellt, der 1945 auf Deutsch und Englisch erschien. Kahler hatte vor allem bei den Vergil-Zitaten geholfen. Von Brochs demokratietheoretischen Schriften, seiner hoffnungslos verspäteten Völkerbundresolution (1938) und seiner zur Demokratie „bekehrenden“ Massenwahntheorie (1948) war die Luft noch aufgeladen. Ein riesiges geistiges Panorama tat sich vor mir auf, Persönliches mit Zeitgeschichtlichem verbindend. An den Bemühungen um eine menschenfreundliche City of Man – eine Civitas Humana in forcierter Analogie zu Augustinus’ Civitas Dei –, hatte sich neben Thomas Mann und dessen Schwiegersohn Giuseppe Antonio Borgese auch Kahler beteiligt, als Berater von Broch. Dieser war in dem weltbürgerlichen Projekt stark involviert – bis der Kalte Krieg „allen Träumen von einem ,Reich des Menschen‘ ein Ende bereitete“ (Raulff ). Das pathetisch und poetisch formulierte Ergebnis der im Oktober 1938, unmittelbar nach dem Münchner Abkommen, aufgenommenen Zusammenarbeit amerikanischer und emigrierter europäischer Intellektueller erschien1940 in New York mit dem Untertitel A Declaration on World Democracy. Hintergrund war die erwiesene moralische Schwäche der westlichen Demokratien und das politische Versagen des Völkerbundes. Zügig geboten seien, darüber war man sich unter den Autoren bald einig, eine „redefination of democracy“ und ein „plan for world order“. In dem realitätsfernen Buch hatte Broch die ökonomischen Aspekte übernommen. Zeittypisch kombinierte er markt- und planwirtschaftliche Elemente, Kapitalismus und Sozialismus. Neu war die in das kollektivgeschriebene Buch übernommene Forderung Brochs nach einer „Economic Bill of Rights“ (mit Rechten und Pflichten des Einzelnen). An dieser universellen demokratischen Vision knüpfte das „Committee to Frame a World Constitution“ (1946 – 1952) an. Diese Intellektuellengruppe arbeitete an nichts geringerem als einer Verfassung für eine global

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regierte Welt. Eine lose Föderation souveräner Staaten nach dem Modell des Völkerbundes oder der 1945 gegründeten Vereinten Nationen, davon war das Komitee überzeugt, reiche nicht aus, um die Gefahren der zunehmend polarisierten und von „der Bombe“ existentiell bedrohten Welt zu bannen. Nationalismus, Militarismus und Interventionismus müssten schnell überwunden werden. Jeder Staat müsse „seine Souveränität so einschränken, dass er sich einem Beschluss der Föderativorgane zu beugen hat.“ Leiter der Gruppe war der Präsident der gastgebenden Universität Chicago, Robert M. Hutchins (1899 – 1977), Herzschrittmacher des Projekts der Italiener Borgese. Erich Kahler war ein wichtiges Mitglied des Komitees. Das Beratungsergebnis wurde unter dem Titel Preliminary Draft of a World Constitution veröffentlicht (Chicago 1948). Die deutschsprachige Version dieses so sympathischen wie unsystematischen Verfassungsentwurfs erschien unter dem Titel Ist eine Weltregierung möglich? Vorentwurf einer Weltverfassung (Frankfurt/M. 1951). Obwohl in rund fünfzig Sprachen übersetzt, fand die Chicago Constitution, auf die später zurückzukommen ist, wenig Widerhall. Nicht die vorantreibende Vision „internationaler Gerechtigkeit und Solidarität“ bestimmte nun die Weltpolitik, sondern der Kalte Krieg mit ganz traditionell aufgefasster nationaler Souveränität und keineswegs abgeschaffter staatlicher, jeweils räumlich begrenzter Ordnung. Borgese wurde bei diesen Arbeiten von seiner jungen Frau Elisabeth („Medi“) Mann Borgese unterstützt, der jüngsten Tochter von Katia und Thomas Mann. Sie hatte sich im Exil zunächst Kahlers geistiger Führung anvertraut, dann aber auch von Broch viel gelernt. Dieser, schrieb sie mir (10. September 1985), sei „einer der Herren (gewesen), die ziemlich viel Einfluss auf mein eigenes bescheidendes Denken ausgeübt haben – während vieler schöner Spaziergänge in Princeton!“ Beim universalistischen Chicago Projekt war vieles zu bedenken. So verfasste Elisabeth 1946 etwa die Aufzeichnung Constitutional Trends, während sich Kahler der Frage einer Minimum Constitution (1948) widmete. Ab 1948 gab das Ehepaar Borgese die Monatsschrift Common Cause: A Journal of One World (1948 – 1953) heraus, das Organ des Komitees. Gleich dem ersten Heft lieferte Kahler, wie stets voller geistig-revolutionärer Ungeduld, den werbenden Kurzbeitrag The Case for World Government. Gefördert werden sollte die Bewegung der „World Federalists“, „die seit einigen Jahren“, wie es im Vorwort des Verfassungsentwurfs hieß, „in einer oft schlecht definierten Weise eine Welt-

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regierung verlangt“. 1950, mit zweiunddreißig Jahren, wurde Elisabeth Präsidentin des Dachverbands aller einschlägigen Vereinigungen. Kahler teilte die Überzeugung: „die Weltregierung wird kommen“. Denn, so fuhr jenes Vorwort fort, „eine durch den Geist geschaffene Form, wenn sie gleichzeitig ideal und vernünftig ist, verlangt in der Welt der Wirklichkeit Gestalt anzunehmen und beschleunigt den historischen Prozess, für den sie der Vorläufer ist“. Wehte der Weltgeist – Hiroshima und Nagasaki als historische Zäsur, das Ende des Weltanschauungskrieges als „Stunde null“, der beginnende Kalte Krieg als akute, lähmende Bedrohung – in Richtung einer „Federal Republic of the World“? Ließe sich diese Weltrepublik gegebenenfalls demokratisch legitimierbar ausgestalten? Konnte man damals, in dem nationalistischen, wüsten Jahrzehnt 1938 – 1948, erwarten, dass die Schubkräfte der Geschichte „in fünf oder fünfzig Jahren“, so das Vorwort, die „Weltregierung der Gerechtigkeit“ bringen würden? Entsprach diese Erwartung in irgendeinem konkreten Punkt der von Krieg und aggressiven Drohungen dominierten Weltlage? Bestanden Ansätze, Möglichkeiten, war der Vorschlag also nicht nur „ideal“, sondern auch „vernünftig“? Haben die führenden Staaten hier also geo-, friedens- und rechtspolitische Chancen vertan? Nur auf der Ebene der (vieldeutigen ideellen) Zielsetzung bestand Hoffnung, und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens leiteten die Autoren aus der mit dem Ziel des Friedens auf das engste verbundenen „zeitlosen und universellen Idee“ der Gerechtigkeit ab, „dass alle Schranken für die farbigen Rassen fallen müssen und dass die zivilisierte menschliche Rasse, eine Rasse, sich erheben muss über jede diskriminierende Stammesunterscheidung nach ausgewählten Völkern und Heloten, höheren und niederen Rassen“ – ein früher, bemerkenswert klarer Einsatz für eine weltweite Rassengleichheit (eine Gleichheit, die in den USA zu Kahlers Verzweiflung ja selbst im Jahr 1967 noch nicht durchgehend verwirklicht war). Ebenfalls zukunftsweisend war, zweitens, die menschenrechtliche und kosmopolitische Forderung, „dass jedes Gesetz bürgerlicher oder politischer Rechte (und Pflichten) der Individuen durch ein gleichartiges Gesetz von ökonomischen Rechten (und Pflichten) ergänzt und wirksam gemacht werden muss“. Brochs Vorarbeiten in der City of Man (seine Konzeption wirtschaftlicher und sozialer Grund- und Menschenrechte) hatten im Chicago Komitee offensichtlich gefruchtet. Nun galt es, als fundamentale Integrations- und Wohlfahrtsaufgabe für die künftige Weltregierung, „die rassisch diskriminierten Völker und den hungernden Teil der Menschheit zu be-

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friedigen“. Drittens erklärt der Verfassungsentwurf in einem grundstürzend neuen Ansatz „die vier Elemente des Lebens: Erde, Wasser, Luft und Energie, zu Gemeineigentum des Menschengeschlechts“. Die „Verwaltung und die Nutzung ihrer Teile sollen dem Interesse des gemeinen Wohles untergeordnet sein“ – eine Weichenstellung, die den Weg freimachen könnte für eine „ideale“ und „vernünftige“ Zuordnungs- und Umweltpolitik. Rhetorisch brillant wurden hier weitgespannte Ziele formuliert. Beide Texte, City of Man und World Constitution, umkreisten das große Ganze. Drängend skizzierten sie Menschheitsideen, die die Welt zu einem besseren, auch besser organsierten Ort machen sollten. Den Wegen dorthin und den konkreten Voraussetzungen und Bedingungen für ein Realisieren dieser Geschichtsziele wurde dagegen keine vergleichbare Aufmerksamkeit geschenkt. So konnten die visionären Entwürfe die für ihre Umsetzung benötigten Werkleute des Alltags nicht überzeugen. Die Texte „griffen“ nicht, sie blieben ohne nennenswerte Resonanz. Die Weltföderation schaffte es, anders als die bewaffneten Konflikte, nie auf die politische Agenda. Konzepte wie „Weltdemokratie“, „universelle (von der Staatsbürgerschaft unabhängige) Menschenrechte“ und „Weltregierung“ sind untauglich, soweit bei ihnen zwischen den verschiedenen antagonistischen Grundvorstellungen, die auf der Welt anzutreffen sind (damals vor allem: Kapitalismus – Sozialismus, Freie Welt – Diktatur), entschieden werden müsste. Ziele, die eine solche Entscheidung verlangen, verfehlen die Wirklichkeit. In einer Welt fundamentaler, explosiver Gegensätze (hat es je eine Weltlage ohne tödliche Konflikte gegeben?) sind sie keine Lösung. Ohne für die großen Ideen einnehmen zu können, verfehlen sie das Problem, das sie meistern wollen. Bei aller Ungeduld bleiben sie ohne Wirkung. Zwei Jahrzehnte später gab es, in einem anderen, „spezielleren“ Kontext, freilich eine gewisse Renaissance jener progressiven (Kahler-) Konzepte, nun betrieben von Elisabeth Mann Borgese. Dies rechtfertigt die hier vorgenommene Zusammenstellung der Namen Kahler und Mann Borgese. 1968 veröffentlichte Letztere in Santa Barbara The Ocean Regime, eine 40-seitige „Verfassung für die Meere“. Die neue maritime Ordnung sollte die Entwicklungsländer begünstigen und Verschmutzung, Raubbau und Militarisierung unterbinden. Der küstenferne Meeresboden und seine Ressourcen sollten als „gemeinsames Erbe der Menschheit“, als „common property of the peoples of the World“, international verwaltet werden, „for

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the benefit of all mankind“. Auch die Hohe See sollte nicht appropriierbares „common heritage“ sein. Hatte Elisabeth einen global moment getroffen? Hatte sie jetzt, ausgangs der 1970er Jahre, anders als Kahler in der unmittelbaren Nachkriegszeit, den Weltgeist auf ihrer Seite, mit dem Ozean, wie sie groß dachte, als „our greatest laboratory for the making of a new world order“? Wehte der „wind of change“ also Richtung internationale Solidarität, Einschränkung der nationalen Souveränität, Zerfall der Blöcke und der Militärkomplexe? Hätten die hegemonialen Vereinigten Staaten (oder der Westen insgesamt) damals mehr tun können, um dem Suggested Statute for the Peaceful Uses of the High Seas and the Sea-Bed Beyond the Limits of National Jurisdiction (so der Untertitel des Ocean Regime) und der seit 1973 tagenden Dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen aufzuhelfen? Am interdisziplinären Think Tank „Center for the Study of Democratic Institutions“ in Südkalifornien angesiedelt, wies Elisabeths maritimes Großprojekt deutliche Anklänge an jene City of Man- und World Constitution-Vorläufer auf. Besonders an das von Kahler mitgetragene Konzept einer demokratischen Weltrepublik (würde in ihr die gebotene demokratische Selbstbestimmung möglich sein?) erinnerte das maritime Projekt der späten 1970er Jahre. Nichts war vergessen, nichts war umsonst, auch nicht der revolutionäre „common (oder „social“) property“-Ansatz (dazu später). In jenem ersten Verandagespräch in Princeton im Juni 1967 erwähnte ich Die Verantwortung des Geistes (Frankfurt/M. 1952). Lili Waetzoldt hatte mir diese Sammlung von einigen Kahler-Aufsätzen geschenkt. Darin enthalten ist ein fingierter Brief aus dem Jahr 1920 (Über die Einheit des Menschen), der die jungen Deutschen aufruft, sich „mit Historie und Zeit“ auseinander zu setzen, sich zu engagieren. Untergang und Übergang, eine zweite deutschsprachige Aufsatzsammlung (München 1970), in Kahlers Todesjahr publiziert, enthält den meinungsstarken Vortrag Stefan George. Größe und Tragik (wiederveröffentlicht Pfullingen 1964). Dreißig Jahre später (Hamburg 1993) kam der Briefwechsel Thomas Mann – Erich von Kahler heraus. 2012 wurde dann, endlich, der reiche Briefwechsel Gundolf – Kahler publiziert. Eine wichtige Rolle in diesen Briefwechseln wie bei den Begegnungen in Kahlers Haus spielte stets seine (zweite) Ehefrau Lili. Mehrfach nahm sie mich in ihrem riesigen uralten Chevrolet mit zum Einkaufen. Hinter dem Steuer, ungebremst gesprächsfreudig, thronte sie wie eine zweite Agatha

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Christie. Ihr geistesabwesender Fahrstil trieb meinen Blutdruck in die Höhe, besonders beim Überqueren der vielen schwer einsehbaren Kreuzungen im idyllischen Universitätsstädtchen. Aber fabelhaft war sie! Sie quoll über von Anekdoten über einige der Großen des 20. Jahrhunderts, besonders über die der Gelehrtenkolonie Princeton. Ihr „Lieblingsopfer“ war Einstein, der ihr offenbar erfolglos nachgestellt hatte. Ein anderes Sujet waren Thomas und Katia Mann. Bei ihnen hatte Lili nach der Scheidung von ihrem ersten Mann, einem Wiener Neurologen, zeitweise als Haushälterin gearbeitet. 1984 erschreckte sie mich mit der Bemerkung, sie wolle dereinst, wenn sie ihr Leben nicht mehr selbst gestalten könnte, „nicht jahrelang als vegetable leben“. Im hohen Alter, als sie nicht mehr lesen konnte und durchgehend auf fremde Hilfe angewiesen war, machte sie ihrem Leben ein Ende – kein Ausdruck der urmenschlichen Souveränität und Urfreiheit, von denen bei Kahler so viel die Rede war, sondern Konsequenz ihrer immer schwieriger gewordenen objektiven Lage. Im Vordergrund jenes ersten Gespräches mit Kahler – viele weitere sollten folgen – stand hier, an der atlantischen Gegenküste, überraschenderweise Stefan George, sein Kreis, sein Nachleben. Einige frühere Anhänger des Dichters, nun ebenfalls Exilanten an der Ostküste der USA, hatten Kontakt zu Kahler. Intensiv sprachen wir über die Wurzeln und Wirkungen der Feinde der freiheitlichen Demokratie und den aktiven, sich selbst opfernden Widerstand. Borgese hatte mit Goliath. The March of Fascism (New York 1937) Aufsehen erregt, ein Essay Kahlers hatte The Crisis of American Democracy (1965) offengelegt. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit den sich selbst preisgebenden kontinentaleuropäischen Demokratien identifizierte sich Kahler im Beitrag Das Schicksal der Demokratie (1973) mit der streitbaren anglo-amerikanischen democracy. Für Kahler gab es keine Deutungsgewissheiten, keine Interpretations- oder Denkverbote. Es fehlte ihm auch das ehrfürchtige Verstummen vor Stefan Georges Person und Werk, wie ich es bei Walter Elze, Karl Josef Partsch und Michael Stettler kennenlernte. Der Historiker Elze hatte mir George-Gedichte vorgelesen, getragen, eindringlich – so werde ich ihn in Erinnerung behalten. Vor und nach den Lesungen freilich hatte der Zeitzeuge nichts erklärt, auch mir nicht, dem belehrungswilligen Jura-Studenten. Anders als Elze hatte Kahler dem Kreis um George nicht angehört. Der Dichter hatte sein „heilloses Nebenher“ beklagt. Das brüderlich enge Freundschaftsband zu Gundolf und Wolfskehl blieb davon unberührt. Im Gegensatz zu Elze und anderen Georgeanern hielt Kahler überindividuelle Prozesse für die

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Träger der Geschichte, nicht heroische Akteure, nicht also Caesar, Kaiser Friedrich II. oder Napoleon. Kahler glaubte weder an Rettung allein durch das Wirken großer Männer, noch an das „Geheime Deutschland“ als „Staatsform“ des George-Kreises. Als in den Fernsehnachrichten im Sommer 1967 der mitreißend wahlkämpfende, jugendlich wirkende Robert F. Kennedy erschien (im Juni 1968 erlag er dann, wie im November 1963 schon der Präsident, sein Bruder, vor laufenden Kameras einem Attentat), war es freilich mit Kahlers wissenschaftlich-neutraler, überindividueller Distanz vorbei. Dachte er auch in der Neuen Welt „dynastisch“? Erinnerten den Alteuropäer die nun zum zweiten Mal nach dem Präsidentenamt greifenden Kennedys an Dynastie und Mythos der Habsburger? Jedenfalls arbeitete Kahler wiederholt über Symbole, Mythen und Mythologien, fasziniert von ihrem Wesen und Fortleben. Vieles war für den Kenntnisreichen, anders als für mich, symbolisch aufgeladen. In Princeton waren Person und Position, Poesie und Privates öffentlich und politisch. Race riots wüteten im nahen Newark und in Harlem, an der Grenze zu „meiner“ Universität. Bald sprang die Rebellion auf die dortigen Studenten über. Aktivisten besetzten wichtige Universitätsgebäude und attackierten verbal die „reaktionäre“ Universitätsleitung. Teile des Lehrkörpers solidarisierten sich mit der Campus-Revolte. Das „Student Strike Steering Committee“ kooptierte mich als Vertreter der ausländischen Studenten. Kahler begrüßte das Engagement wie die Jugendrebellion insgesamt. Der Ära hat sie nicht den Stempel aufgedrückt. Nach Wochen ebbten die Rassenunruhen ab, ohne nennenswerte Reformen erreicht zu haben. Ein robuster mitternächtlicher Polizeieinsatz hatte bereits zuvor die theoriearme ColumbiaRevolte beendet. Auch wegen des 1965 eröffneten, gar nicht so fernen Dschungel-Krieges (im Januar 1968 hatte die Tet-Offensive der Nordvietnamesen und des Vietcong begonnen, in den USA gab es riesige Anti-Kriegs-Demonstrationen) war es eine bewegte, Orientierung suchende Zeit. Im April 1968 wurde in Berlin auf den Studentenführer Dutschke ein Attentat verübt, im August des gleichen Jahres schlugen Militärs des Warschauer Paktes den „Prager Frühling“ nieder. Umso eindrucksvoller war da Kahlers Vertrauen auf die Vernunft, auf die Jugend, auf die Dichtung. Er sympathisierte mit dem Anti-Rassismus-Kampf in den USA. Die studentischen Demonstranten – so sah er sie – wollten Teil großer Ideen sein: der Idee der Rassengleichheit und der universellen Rechte. Diese Ideen hatten schon

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die Chicago Constitution geprägt. Bei aller Amerika-Skepsis vergaß Kahler nie, dass er nicht gegen das nicht zu gewinnende US-Abenteuer in Ostasien protestieren könnte, wenn nicht eine Generation zuvor Amerika, wie Horkheimer am 7. Mai 1967 formuliert hatte, „eingegriffen und Deutschland und Europa vor dem furchtbarsten Totalitarismus gerettet hätte“. Nachdrücklich trat Kahler für die Bürgerrechts- und die Umweltbewegung ein. Der Grenzen seiner eigenen Wirkung war er sich bewusst: „Obschon es zweifelhaft ist, ob intellektuelle Unternehmen menschliches Verhalten beeinflussen können, glaube ich noch immer verzweifelt daran, dass der Versuch der Klärung unsere oberste Pflicht ist.“ „Größe und Tragik“ war, wie gesagt, Kahlers Formel für Stefan George. Mit Blick auf den Dichter hatte er von der „exemplarischen Existenz“ eines „Antimodernen“ gesprochen. Verkörperte George aber nicht eher eine andere Moderne, eine ganz eigene Lebens- und Kunstauffassung, die keinen „antimodernen“ Sinn- und Werthorizont besaß? Jetzt, im Sommer 1967, erstreckte Kahler, lebenslang vom „Problem Deutschland“ und der Verantwortlichkeit des deutschen Volkes (so der Titel seines Aufsatzes von 1946) bedrängt, die „Größe und Tragik“-Formel auf die abgründigen Deutschen, auf ihre dunkle Seele. Deutschland war ihm „ein metaphysischer Ort geblieben“ (Raulff ). So befragte mich Kahler intensiv nach der akademischen Jugend Nachkriegsdeutschlands, nach unseren Lektüren, Vorbildern, Zielen. Unsere Gespräche rissen nach dem unvergesslichen Sommer des Jahres 1967 nicht ab. Wir blieben nicht nur postalisch verbunden. Beflügelt von seiner europäisch-jüdisch-amerikanischen Lebenserfahrung hoffte Kahler weiter auf ein globales Regiment der Vernunft und der Demokratie, auch im Februar 1970 bei unserer letzten Begegnung. Er dachte nach wie vor groß: von der Jugend und der Dichtung, und er führte das Gespräch unverändert souverän und inspirierend. Wer, der ihm begegnet ist, könnte ihn vergessen? II. Vermittelt durch Erich von Kahler und seine Frau Lili, eine große „Matchmakerin“, wurde ich 1968 am „Center for the Study of Democratic Institutions“ in Santa Barbara Mitarbeiter von Elisabeth Mann Borgese (1918 – 2002). Sie hatte sich mit mir im Februar 1968 in New York zum Kennenlernen verabredet: eine zierliche Frau mit leuchtend braunen

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Augen, Vitalität und Klugheit ausstrahlend. Komplikationslos lud sie mich ein, einen Vortrag an dem finanziell gut ausgestatteten Think Tank zu halten, deren Senior Fellow sie seit 1964 war. „The West German Student Unrest“ war das vereinbarte Thema. Der etwas hochstaplerische Vortrag ging am 13. Juni 1968 über die Bühne. Die Zuhörer, Elisabeth die einzige Frau, interessierten sich weniger für meinen Bericht aus der deutschen Provinz als für continuous education in einer globalen learning society. Elisabeth und ich entdeckten schnell unser gemeinsames Interesse an der Seerechtsreform, die seit 1. November 1967 die Vereinten Nationen beschäftigte. Das friedens-, umwelt- und entwicklungspolitische Potential dieser Agenda war groß. Womöglich, meinte Elisabeth, erbringt eine Neuordnung der Meeresverhältnisse auch Erträge für die Lösung anderer Aufgaben, etwa für den Finanz- und Technologiebedarf der unterindustrialisierten Länder. In Elisabeths Auftrag flog ich 1968 – 1970 wiederholt nach Rhode Island, Malta, Washington DC, mehrfach auch zu den Vereinten Nationen nach New York. Stets konnte ich dann Kahler besuchen. Princeton ist nur eine Autobusstunde von „Big Apple“ entfernt. Fasziniert von Elisabeths Meinungsstärke und Optimismus kämpfte ich in ihrem Schlepptau gegen Die Plünderung der Meere. Unter diesem Titel edierte ich ein Buch (Frankfurt/M. 1981), an dem sich Elisabeth mit einem Aufsatz zur Aquakulturwirtschaft ebenso beteiligte wie ihr Bruder Golo, der meisterlich über Die Deutschen und das Meer schrieb. Elisabeth protestierte heftig gegen den in ihren Augen zu kritischen Gesamttitel des Bandes. Geplündert wurden die Meere durch Landnahme, Raubbau und Aufrüstung. Der als „Gemeinsames Erbe der Menschheit“ postulierte Meeresboden außerhalb der Zonen küstenstaatlicher Jurisdiktion drohte teilweise unter den Uferstaaten aufgeteilt zu werden. Das alles galt es zügig zu verhindern! Der Rechtsstatus des Meeresbodens (Berlin 1972) wurde dann meine Freiburger Doktorarbeit, basierend auf dem Glück meiner Vorarbeiten an der Seite der einfallsreichen, unermüdlichen Elisabeth. Die maritimen Regelungs-, Verteilungs- und Verwaltungsfragen, die dann auf der Seerechtskonferenz (1973 – 1982) beraten und entschieden wurden, verlangten Energie und Geduld. Aufregend war das alles in der Tat! Den Bogen zu ihren und Kahlers früheren „World Government“-Manifesten schlug Elisabeth nie ausdrücklich. Bei aller Begeisterung für die großen Linien hatte sie ein Gespür für die hohen Hürden, die sich vor Internationalisierungen und planwirtschaftlichen Zentralisierungen auf-

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türmten. An ihrem humanistischen Sozialismus, nun bezogen auf gerechte Verteilung und Entwicklungshilfe, hielt sie fest. Nach ihrem Abitur in der Schweiz hatte Elisabeth ein Konzertdiplom als Pianistin erworben, bevor sie 1938 mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten ging – die Emigration war die große Zäsur ihres Lebens. Bis zum Jahr 1939 hatte sie „zu Hause“ gelebt, im Familienkreis unbedingte Zuneigung erfahrend. Jung hatte sie dann den viel älteren Hochschullehrer Borgese geheiratet, der 1952 verstarb (sie überlebte ihn um ein halbes Jahrhundert). Anders als ihr Bruder Klaus und anders als Kahler interessierte sich diese energische Linksdemokratin nicht für Stefan George. Deutsche Verantwortung und Schuld, Stillosigkeit der Bonner Demokratie, Gefährdung durch sowjetische Aufrüstung? Das waren nicht Elisabeths Themen, eher die von Golo, der als konservativer Historiker auf vielen Bühnen brillierte. Mit ihm, wie auch mit der schlagfertigen, robusten und klugen Katia Mann, traf ich mehrfach im Kilchberger Familienhaus zusammen – erlebte Geschichte, ein Ineinander von einst und jetzt, hilfreich zum Verständnis der Einfälle des Weltgeistes und der Schritte seiner Werkleute. Wie schon Kahler ging es Elisabeth letztlich um nichts weniger als eine neue Weltordnung. Mit Pacem in Maribus, einer Abfolge informeller meerespolitischer Konferenzen und Publikationen, schuf sich Elisabeth seit 1970 ein unkonventionelles Instrument der Information und der Einflussnahme, finanziert durch wechselnde Drittmittelgeber, das Center und sie selbst. Elisabeth strebte die Vereinbarung eines Regimes an, das Verteilungsund Verfahrensgerechtigkeit, friedliche Erforschung und Nutzung sowie Bestands- und Umweltschutz im Meer durchsetzt. Eine derartige Ordnung, hoffte Elisabeth, könnte auf andere strukturell vergleichbare Weltprobleme und -aufgaben ausstrahlen. Von Elisabeths Schwung mitgerissen wurde mir erst allmählich klar, dass ihr Einsatz für eine bessere Welt – mit einer „global-sozialen“ Meeresordnung als erstem Schritt – letztlich weitgehend ins Leere laufen musste. Im jahrelangen Ringen, vor allem in UNCTAD und UN-Generalversammlung, war es nicht gelungen, eine entwicklungsländerfreundliche, planwirtschaftlich getönte „Neue internationale Wirtschaftsordnung“ (mit höheren Rohstoffpreisen, praktischer Solidarität zwischen den Ländern des Südens und deren erleichterter Eingliederung in den Weltmarkt) zu errichten. Ebenso wenig war gegen den Widerstand der (Lang-)Küstenstaaten und der neoliberal agierenden Staats- und Regierungschefs Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Hel-

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mut Kohl an eine planwirtschaftliche „Neue Weltmeeresordnung“ zu denken. Die proklamierte afroasiatische, auch antikoloniale Solidarität hielt dem latenten staatlichen Egoismus nicht stand. Den gierigen Küstenländern, auch denen des globalen Südens, war das nationale Hemd näher als der internationale Rock. Die Entwicklungen im Seerechtsbereich (drastische, kompensationslose Ausdehnung der küsten- und der inselstaatlichen Hoheitszonen, besonders des Festlandsockels, dazu Raubbau an den Fischressourcen, Meeresverschmutzung, militärische Aufrüstung) waren denen des späten 19. Jahrhunderts näher als den Aspirationen von Elisabeth. Die Außengrenze des Festlandsockels übersprang die 50-, ja auch die 200-Seemeilen-Breitenlinie, mit entsprechend negativen Konsequenzen für Ausdehnung des verabredeten Meeresbodenregimes. So wird der Abbau der landfernen edelmetallreichen Manganknollen des Tiefseebodens mangels Wirtschaftlichkeit den Investoren und den unterindustrialisierten Ländern erst in weit späterer Zukunft konkret zugutekommen können. Die wertvollen Fisch-, Energie- und Rohstoffvorkommen des rücksichtslos erweiterten Küstenvorfeldes ordnete die UN-Seerechtskonvention, die 1994 in Kraft trat, den Uferstaaten zu, ohne, entgegen Elisabeths Werben, nennenswerten Ausgleich für die ärmeren und die geographisch benachteiligten Länder. Der Militarisierung und der Verschmutzung der Meere wurde kein ernsthafter vertraglicher Riegel vorgeschoben. In den langwierigen diplomatischen Verhandlungen fungierte Elisabeth, zuletzt als Mitglied der österreichischen Delegation, als eine Vordenkerin der „Gruppe der 77“. Sie unterstützte den maltesischen UN-Botschafter Arvid Pardo (1914 – 1999), der die New Yorker Agenda im Jahr 1967 um das Meeresbodenthema bereichert hatte, und Pardo seinerseits stand Elisabeth jahrelang zur Seite. Beide bekämpften den liberalistischen (nicht: planwirtschaftlichen) Mainstream, der sich in der Tiefseebergbaufrage am Ende durchsetzte (die international anzutreffenden Planungsmodelle, auf die die beiden verwiesen, waren freilich wenig werbend). Die kulturelle, ökonomische und militärische Hegemonie der USA war Elisabeth ein Dorn im Auge, beim schwungvollen gemeinsamen Anfang in New York, Caracas und Genf ebenso wie beim enttäuschenden Verhandlungsende in New York und Kingston/Jamaika. Anders als Elisabeth, die an der Seerechtskonferenz von Anfang bis zum Ende teilnahm, konnte ich, expert adviser der Bonner Delegation, nur an den ersten Sit-

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zungsrunden dabei sein – „Freiburg“ ließ mehr nicht zu (Elisabeth schmückte meine Hochzeit mit ihrer Teilnahme). 1972 hatte Elisabeth, um die personelle Ausstattung der Entwicklungsländer nachhaltig zu stärken, das Internationale Ozean-Institut auf Malta gegründet, das dann weltweit gut fünfundzwanzig Tochterinstitute ins Leben rief – eine Erfolgsstory. Auch dieses globale Netzwerk von Ausbildungszentren subventionierte Elisabeth mittels ihrer Anteile an den Thomas-Mann-Tantiemen. „Wir versuchen einen Endowment Fund von zehn Millionen zusammenzubringen“, schrieb sie mir am 13. August 1990 aus Kanada (wir hatten uns ja nicht aus den Augen verloren). „Dies ist aber ein so kostspieliges Unterfangen, dass bei mir persönlich der Bankrott schon mit hartem Knöchel ans Tore klopft … Muss heute auf drei Banken und alles borgen, was ich noch borgen kann.“ Wie üblich schloss die „long-term Optimistin“, wie sie sich selbst bezeichnete: „Sonst geht alles gut.“ Es sei „eine moralische Pflicht“, meinte sie, „sich zum Optimismus zu zwingen“. Mit ihrem Geld wollte sie zu einer gerechteren Welt beitragen. „Elisabeth versenkt alles Geld in den Ozeanen“, klagte die Familie. Offensichtlich bezog Elisabeth aus der früh und tief erfahrenen väterlichen Liebe die Kraft für die Bewältigung ihrer riesigen, selbstgewählten Seerechtsaufgabe. Welch ein Erlebnis, bei einem Projekt dieser Genealogie, Globalität und Größe present at the creation zu sein! Ich durfte einer der kreativsten und progressivsten politischen Denkerinnen zur Hand gehen (und sei es auch primär nur als dog sitter), einer mal heiter-offenen, mal unergründlich-verschlossenen Erfolgsautorin. Sie war, seit 1978 auch Mitherausgeberin des Ocean Yearbook, ein Organisations- und Finanzgenie. Zugleich wies sie liebenswert skurrile Züge auf (dazu später). 1975 veröffentlichte sie den Bestseller The Drama of the Oceans (deutsche Ausgabe Frankfurt/M. 1977). Sie konzipierte und dirigierte, ihre Schüchternheit überwindend, nahezu drei Dutzend Pacem in Maribus-Convocationen, auf allen Kontinenten. Auf die ideologische Ausrichtung des jeweiligen Gastlandes nahm sie keine Rücksicht. US- und Ostblockvertreter, Militärs und Spione waren immer dabei. Besonders gern erinnere ich mich an die erste Tagung, 1970 auf Malta. Sie hatte Elisabeth und ihrem staff unendliche Planungs-, Anpassungs- und Durchsetzungsarbeit abverlangt. Wirkungsvoll war auch die 28. Tagung, drei Jahrzehnte später. Sie fand beim Internationalen Seegerichtshof in Hamburg statt (ich referierte), für dessen Gründung sich Elisabeth erfolgreich eingesetzt hatte. Das damalige militärische Vorgehen der USA im Irak empörte sie.

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Bonner Beobachter hielten Elisabeth offenbar für eine verkappte Kommunistin, schon weil ihr Ocean Regime partiell vom jugoslawischen Social Property-Konzept inspiriert war. Diesbezüglich war Stichwortgeber der serbische Verfassungsrichter Jovan Dordevic´. Im Auftrag von Elisabeth suchte ich ihn in seiner Regierungs-Datscha am Militärhafen von Kotor auf, um ihn zur Teilnahme an der nächsten Tagung einzuladen (er lehnte ab). Elisabeth und ich waren nach einem Seerechtsmeeting in Belgrad dorthin gefahren, im legendären „Mustang“ ihrer gerade verstorbenen Schwester Erika. Natürlich holte sich Elisabeth neben Pardo auch von anderen ganz unterschiedlichen Experten Rat. Instrumentalisieren ließ sie sich nicht. Ihre geistige Unabhängigkeit war bewundernswert. Wahrscheinlich haben die meeresfremden Deutschen zu lange gehofft, die bisherige Rechtslage, die gewohnheitsrechtlich und (in den Genfer UN-Seerechtskonventionen von 1958/60) vertragsrechtlich anerkannte Freiheit der Meere auch auf der Dritten UN-Seerechtskonferenz verteidigen zu können. Die von Washington nach dem Weltkrieg geführte „kapitalistische“ Nachkriegsordnung hielt Elisabeth für fundamental reformbedürftig. Sie suchte Brücken zu bauen zwischen den rivalisierenden Nord-Südund Ost-West-Lagern – der Kalte Krieg und viele Dekolonisierungskämpfe waren noch in vollem Gang. Die Gesamtlage, in der die Seerechtsverhandlungen stattfanden und sich Jahr um Jahr hinzogen, war kaum als „relativer Friede“ zu qualifizieren. Geboten schien Elisabeth in diesem Horizont eine den Süden begünstigende maritime Ordnung, einschließlich einer „starken“ internationalen (Verwaltungs-) Organisation. Diese, die Meeresbodenbehörde, sollte Preise und Rohstoffmengen festsetzen und kostenlosen Technologietransfer in die Dritte Welt organisieren. Ein solcher „Vogt“ des internationalen Meeresbodens war in der Tat notwendig: Die Menschheit als solche ist, selbst wenn es um ihr maritimes „Erbe“ geht, international nicht handlungsfähig. In einem fernen zweiten Schritt sollte nach Elisabeth dann der gesamte Meeresraum internationalisiert werden. Das Schicksal dieser weit ausgreifenden Ideen ist bekannt. Eine nachhaltig faire Meeresordnung, ein gezielt die unterindustrialisierten Staaten förderndes Regime kam nicht zustande. Es fehlte an der unentbehrlichen Einigung auf Interessenausgleich, auf gegenseitige Vorteile. Solidarität, Gerechtigkeit, Frieden, Menschenrechte und andere universale Ideen wurden in Reden beschworen und Konferenzpapieren dokumentiert. Im Ergebnis aber erweiterte die Seerechtskonferenz die nationale Souveränität (Aus-

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nahme: die Durchfahrt durch Meerengen). So ist es bis heute. Die USA, die Türkei und weitere wichtige Staaten lehnen die Seerechtskonvention von 1982 weiterhin ab. Manche Länder ignorieren die Übereinkunft, obwohl sie sie verhandelt und ratifiziert haben. Zuordnungs- und Nutzungskonflikte im Mittelmeer und vor allem im Südchinesischen Meer schüren einen neuen Kalten Krieg. Auch unterindustrialisierte Küsten- und Inselstaaten untergraben, gegen alle beschworene Dritte-Welt-Solidarität, die geltende Meeresordnung. Die Arktis wird, wie Afrika im vorletzten Jahrhundert, mit konkurrierenden Hoheitsansprüchen überzogen. China, das wie mehr als 160 Staaten die Konvention ratifiziert hat, ignoriert einen völkerrechtlich verbindlichen Schiedsspruch und baut Riffe und Felsen zu „Staatsgebiet“ aus. Pardos und Elisabeths Kernkonzept eines gemeinsamen, gemeinsam zu verwaltenden und zu erhaltenden maritimen Menschheitserbes allerdings setzte sich durch, wenn auch im stark verkleinerten Rahmen des küstenfernen Meeresbodens (er macht immerhin noch gut die Hälfte der Erdoberfläche aus). Elisabeth hatte formuliert: „Die Utopisten von heute sind die Realisten von morgen, und die Realisten von heute sind morgen tot.“ Art. 136 der Seerechtskonvention lautet prätorisch kurz: „The Area [der Tiefseeboden] and its ressources are the common heritage of mankind“: keine erlaubnisfreie Nutzung der „Area“ also, keine freie Aneignung ihrer Ressourcen (im Unterschied zu denen des Staatengemeinschaftsraumes Hohe See). Die „Area“ ist damit eine „Allmende“, die allen gehört und auf deren Nutzung jeder Anspruch hat. Die Internationale Meeresbodenbehörde vergibt bereits Lizenz auf Lizenz zur Exploration von Feldern der „Area“. Bis zu 50 % von ihnen darf sie an Entwicklungsländer vergeben. Exploitation, der noch nicht begonnene Abbau der Lagerstätten, wird dereinst zu Einnahmen führen, auch für den Global South. Entgegen Elisabeths Hoffnung wird der Tiefseebergbau indes keine sozioökonomische Umwälzung einleiten. Der 1941 im City of Man-Projekt voll Ungeduld geforderte Abbau staatlicher Souveränität wird verfehlt (Ausnahme: die europäische Integration). Damit bleibt eine Grenzfrage des staatlichen Seins unbeantwortet. An ihrer großen, spannungsreichen Familie hing Elisabeth sehr, wie ich vor allem bei den Kilchberg-Besuchen feststellte. Sprechend, auch für den liebevoll ironischen Ton zwischen den Geschwistern, ist etwa ein Brief vom 19. Juni 1969 aus Santa Barbara, mit dem Elisabeth ihre erkrankte

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Schwester Erika in Kilchberg unterhielt (Inge Jens ließ ihn mich vor seiner Veröffentlichung lesen): „Mein Assistent, Wolfgang … ist auch ein Subject, worüber sich berichten lässt. Der wäre was für den Golo! Ein Doctorand in Jurisprudenz, aber schon gleich so aristokratisch! Die Amerikaner fliegen auf ihn wie Bienen auf Honig. Alle beneiden mich um den herrlichen Assistenten. Aber nicht nur Amerikaner: letzte Woche hatte ich einen russischen Gast, einen Professor von der Soviet Akademie der Wissenschaften, besonders nett, ungeheuer russisch – und der war in meinen Grafen auch schier verliebt. Such a democratic Count! I wish he were my son! Graf Wolfgang wohnt bei mir im Haus, ist wirklich sehr nett; hilft mit dem Geschirr-Abwaschen, dem Auto, den Gästen, und den Hunden und ist ungeheuer fleißig, zuverlässig, intelligent … Im Mittelalter hatten Gelehrte wohl solche Gehilfen oder Assistenten; aber heutzutage ist es rar.“

Diszipliniert wie ihr Vater stand Elisabeth jeden Tag um 5:00 Uhr auf und erledigte vor dem (kargen) Frühstück Berge von Post und Schreibarbeiten. Anders als bei ihren Hunden brauchte sie, wie sich rasch herausstellte, gar keinen helper. Sie dachte und lebte nachhaltig, ökologisch bewusst. Manche Besucher fanden sie wegen ihres Verhältnisses zu Tieren ein wenig wunderlich. Wer ist das nicht? Ihrem geschickten Schimpansen „Bob“ hatte sie, wie es hieß, einige Wörter der menschlichen Sprache beigebracht. Auch soll sie ihren Englischen Setter „Tadjo“ trainiert haben, auf einem vereinfachten Klavier zu spielen. Ihr Hund „Claudio“ spielte, wie Elisabeth mir am 2. Februar 1995 schrieb, „letzte Woche im canadischen Radio ein Menuett von Mozart“. Arlecchino („Arli“) schließlich, ein offenbar besonders gelehriges Tier, beherrschte, angeblich, Anfänge des Schreibmaschinen-Schreibens. „Arli dog bad dog“ soll der Setter mit der Schnauze getippt haben, nachdem er regennass das Wohnzimmer trotz Verbots betreten und arg zugerichtet hatte. In meiner Gegenwart durchbrach leider keines der Tiere die Sprachgrenze. Ab 1978 fungierte Elisabeth, damals sechzig Jahre alt, als Universitätsprofessorin für Seerecht an der Dalhousie Universität im kanadischen Halifax. Am 11. Mai 1986, not a dull moment, korrespondierten wir über Pacem in Maribus XV. Erstmals unterschrieb sie mit „Professor Dr.“, nur um ironisch anzufügen: „Gestern hat man mir den Doctorhut aufgesetzt (h.c.)! Wie ich mich fühle!“ 2001 wurde sie zum ersten Mal für den Friedensnobelpreis nominiert. Hochbetagt starb sie an den Folgen einer Lungenentzündung, am 2. Februar 2002. Sie hatte sich die Krankheit nicht beim täglichen Spaziergang mit ihren Hunden am sturmgepeitsch-

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ten Meer in Nordost-Kanada zugezogen, sondern beim Tourenski im sonnigen Oberengadin. Sind Berge nicht seit jeher ein Symbol der Erhebung über das Irdische, zugleich ein Sinnbild dafür, dass uns von ihnen Hilfe kommt? Im Familiengrab auf dem Kilchberger Friedhof fand Elisabeth ihre letzte Ruhestätte. III. Zurück zum ersten der beiden Sekretäre des Weltgeistes! Die Privatissima in Princeton (1967 – 1970) nahmen ihren erinnernden Anfang meist im Heidelberg der 1920er Jahre. Die Stadt hatte damals offenbar einen besonderen Zauber. Dort lehrten und lernten Gundolf, Kahler und der Mediävist Kantorowicz. Einmal beteten alle Drei die gleiche Frau (Fine) an. Hier und in Prag waren Kahlers kulturelle Wurzeln. Max Weber war die dominierende Größe vor Ort. An Stefan George und seinem Kreis entwickelte er seine Kategorien „charismatische Herrschaft“ und „Bund“. Anders als der Dichter warb der Soziologe frühzeitig für staatlich-gesellschaftliche Öffnung und soziale Integration. Der kosmopolitische, für alles Neue und Moderne empfängliche Kahler – expressionistische Gemälde seines Vetters Eugen von Kahler (1882 – 1911), eines Wegbereiters der „neuen Kunst“, schmückten das bilder- und bücherüberladene Heim in Princeton – wies Zugänge zu Kunst und Dichtung als Lebensform, zu Form und Entformung (so der Titel eines Aufsatzes von 1965). Warnungen, die die Geschichte bereithält, trieben ihn an. Bei Elisabeth Mann Borgese, der anderen großen Ungeduldigen, erlebte ich Weltfülle und -bürgertum, Offenheit des Denkens und Großzügigkeit des Herzens – ein unverdientes Geschenk. Wie wäre mein Bild vom Menschen, wäre ich nicht diesen beiden begegnet? Auch Jahrzehnte nach ihrem Tod stehen ihre Bilder lebendig vor mir, lichte, seltene Gestalten, die zu mir gehören, solange ich lebe. Beide, Kahler und Elisabeth, liebten alles Kreatürliche, die Natur mit ihren Blumen, Bäumen, Bergen und Tieren. Elisabeths Tierliebe zwang ihr eine vegetarische Lebensweise auf. Zugleich rühmten ihre Gäste ihre Kochkünste, zumal ihre Fischgerichte. Ihr fleischloser Speiseplan gipfelte im Zabaione-Dessert. Die großen amerikanischen Parks, besonders der Redwood Nationalpark mit seinen tausendjährigen Mammutbäumen, begeisterten Kahler, viele hatte er besucht. Elisabeth ihrerseits konnte sich ein Leben ohne Musik und ohne Schimpansen und Setter nicht vorstellen. Beide waren fasziniert von den in den späten 1960er Jahren aufkommenden ökologischen, emanzipatorischen und menschenrechtlichen Bewe-

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gungen. Über all dies tauschten wir uns aus. „Liebe zur Natur, Ehrfurcht vor dem Mächtigen, Elementaren, Vitalen und Schönen“, lehrte Elisabeth, „können ins Werk gesetzt werden als verstärkende Verbündete der Vernunft und des Rationalen.“ Wie Kahler glaubte sie an die Jugend und an das Ewige der Natur und des Menschen. Dieses Vertrauen klingt in Stefan Georges schönstem, von Kahler oft zitiertem Glaubensspruch an: (…) Und schlingt das dunkel uns und unsre trauer: Eins das von je war (keiner kennt es) währet Und blum und jugend lacht und sang erklingt.

Anhang

Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum* I.

Selbstständige Arbeiten (S. 243)

II.

Aufsätze (S. 244)

III. Rezensionen (S. 257) IV. Herausgeberschaften (S. 259) V.

Übersetzungen (S. 260)

VI. Sonstiges (S. 261)

I. Selbstständige Arbeiten 1.

Der Rechtsstatus des Meeresbodens. Völkerrechtliche Probleme der Zuordnung und Nutzung des Grundes und Untergrundes der Hohen See außerhalb des Festlandsockels, Berlin 1972, 385 S.

2.

Zur Neuordnung des Meeresvölkerrechts auf der Dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Nationen (zus. mit R. Platzöder), Ebenhausen (SWP) 1974, 305 S.

3.

Parlament und Planung. Zur verfassungsgerechten Zuordnung der Funktionen von Bundesregierung und Bundestag bei der politischen Planung, Baden-Baden 1978, 420 S.

4.

Grundfragen der Verwaltungsorganisation (zus. mit B. Becker), München 1980, 230 S.; Nachdruck 1991.

5.

Petitionsrecht und Volksvertretung. Zu Inhalt und Schranken des parlamentarischen Petitionsbehandlungsrechts, Rheinbreitbach 1985, 180 S.

6.

Der Zweck im Gentechnikrecht. Zur Schutz- und Förderfunktion von Umwelt- und Technikgesetzen (zus. mit T. Geddert-Steinacher), Berlin 1990, 90 S.

7.

Dichter und Staat. Über Geist und Macht in Deutschland (zus. mit W. Jens), Berlin / New York 1991, 101 S.

8.

Standortgefährdung. Zur Gentechnik-Regelung in Deutschland (zus. mit T. Geddert-Steinacher), Berlin 1992, 192 S.

9.

Restitutionsausschluß. Berliner Liste 3, Verfahrensbeteiligung, Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (zus. mit W. März), Berlin 1995, 288 S.

*

Zusammengestellt mit Unterstützung von Alexander F. Wensler, Tübingen.

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Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum

10. Völkerrecht. Lehrbuch (Hrsg., Mitautor), 1. Aufl. Berlin u a. 1997, 687 S.; 2. Aufl. 2001 (chines. Übersetzung Peking/Berlin 2002); 3. Aufl. 2004; 4. Aufl. 2007 (russ. Übersetzung Moskau/Berlin 2011); 5. Aufl. 2010 (chines. Übersetzung Peking/Berlin 2012); 6. Aufl. (Hrsg. seither zus. mit A. Proelß) 2013 (russ. Übersetzung Moskau/Berlin 2015); 7. Aufl. 2016; 8. Aufl. 2019. 11. Alles fließt. Kulturgüterschutz und innere Gewässer im Neuen Seerecht (zus. mit S. Talmon), Baden-Baden 1998, 208 S. 12. Bürgerbeteiligung vor Ort. Defizite, Formen und Perspektiven bürgerschaftlichen Engagements in den Kommunen (zus. mit J. A. Kämmerer), Stuttgart 2000, 81 S. 13. Der Staat der Staatengemeinschaft. Zur internationalen Verflechtung als Wirkungsbedingung moderner Staatlichkeit, Paderborn u. a. 2006, 139 S. 14. Handbuch des Seerechts (Hrsg., Mitautor), München 2006, 641 S. 15. „Kommt wort vor tat kommt tat vor wort?“ Die Brüder Stauffenberg und Stefan George, Berlin 2010, 29 S.; Nachdruck in: B. Greiner u. a. (Hrsg.), Recht und Literatur. Interdisziplinäre Bezüge, Heidelberg 2010, S. 99 – 122.

II. Aufsätze 1.

Legal Questions of Marine Mining, in: Pacem in Maribus. Legal Foundations of the Ocean Regime, vol. II, Malta 1971, S. 67 – 86.

2.

Der Meinungsstreit um ein internationales Meeresregime, in: From the Law of the Sea towards an Ocean Space Regime, hrsg. von E. Böhme u. a., Frankfurt a. M. 1972, S. 11 – 28.

3.

Auf dem Weg zu einem neuen Meeresvölkerrecht, Jahrbuch für Internationales Recht 16 (1973), S. 229 – 265.

4.

Von der Freiheit zur Nationalisierung der Meere? Vereinte Nationen 22 (1974), S. 129 – 135.

5.

Seerechtsreform und Sicherheitspolitik (zus. mit R. Platzöder), Neue Zeitschrift für Wehrrecht 16 (1974), S. 85 – 94.

6.

Wirtschaftszonen und Archipelstaaten (zus. mit R. Platzöder), Verfassung und Recht in Übersee (nachf. VRÜ) 3 (1974), S. 289 – 305.

7.

Die Ausbeutung des Meeresbodens in ihrer Bedeutung für die Schiffahrtsfreiheit, in: Die Schiffahrtsfreiheit im gegenwärtigen Völkerrecht, hrsg. von R. Bernhardt u. a., Karlsruhe 1975, S. 303 – 320.

8.

Terranisierung des Meeres. Die Tendenz zu einem rohstoffbezogenen Seerecht, Europa-Archiv 31 (1976), S. 129 – 138; dass. im vorliegenden Band, S. 11 – 24.

Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum

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9.

Die Bemühungen um ein Regime des Tiefseebodens, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (nachf. ZaöRV) 38 (1978), S. 745 – 800.

10.

Neue Weltwirtschaftsordnung und neue Weltmeeresordnung, Europa-Archiv 33 (1978), S. 455 – 468.

11.

Gemeinderechtliche Grenzen der Privatisierung kommunaler Wirtschaftsunternehmen, Archiv des öffentlichen Rechts (nachf. AöR) 104 (1979), S. 580 – 634; Nachdruck in: Rechtliche und ökonomische Probleme der Energie- und Rohstoffversorgung der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von W. Graf Vitzthum, München 1979, S. 331 – 352.

12.

Recht unter See, in: Festschrift (nachf. FS) für R. Stödter, hrsg. von H. P. Ipsen u. a., Hamburg 1979, S. 355 – 392.

13.

Friedlicher Wandel durch völkerrechtliche Rechtsetzung, in: Völkerrecht und Kriegsverhütung, hrsg. von J. Delbrück, Berlin 1979, S. 123 – 177; gekürzter Nachdruck in: Völkerrecht und Friedensordnung, hrsg. von D. S. Lutz, Hamburg 1991, S. 123 – 127.

14.

Internationales Wirtschaftsrecht, in: Rechtliche und ökonomische Probleme der Energie- und Rohstoffversorgung der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von W. Graf Vitzthum, München 1979, S. 135 – 178; Atomwaffensperrvertrag und Verifikationsabkommen, ebd., S. 215 – 250.

15.

Frieden und Gerechtigkeit durch Seerechtsreform?, Anstöße 27 (1980), S. 141 – 156.

16.

The Search for Sectoral World Orders, in: Aspekte der Seerechtsentwicklung, hrsg. von W. Graf Vitzthum, München 1980, S. 273 – 325; Materiale Gerechtigkeitsaspekte der Seerechtsentwicklung, ebd., S. 329 – 362; dass. in: W. Graf Vitzthum, Kleine Schriften, hrsg. von A. Proelß, Berlin 2017, S. 107 – 128.

17.

Weltnuklearordnung und Staatengleichheit, in: FS für W. G. Grewe, hrsg. von F. J. Kronek u. a., Baden-Baden 1981, S. 609 – 638.

18.

Verfahrensgerechtigkeit im Völkerrecht, in: FS für H.-J. Schlochauer, hrsg. von I. von Münch, Berlin u. a. 1981, S. 739 – 758.

19.

Die Gleichschaltung von Land und Meer, in: Die Plünderung der Meere, hrsg. von W. Graf Vitzthum, Frankfurt a. M. 1981, S. 49 – 76; ebd., S. 13 – 18.

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Eigengewässer, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, hrsg. von I. Seidl-Hohenveldern, 1. Aufl. Neuwied u. a. 1982, S. 4 / 220 (1 – 3); 2. Aufl. 1991; 3. Aufl. 1994.

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Funktionen internationaler Organisationen, in: Kernenergie ohne Atomwaffen, hrsg. von K. Kaiser u. a., Bonn 1982, S. 163 – 191.

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146. Der funktionale Anwendungsbereich der Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hrsg. von D. Merten u. a., Bd. 2, Heidelberg 2006, S. 1079 – 1127. 147. Aquitoriale Souveränität, in: FS für Chr. Tomuschat, hrsg. von P.-M. Dupuy u. a., Kehl 2006, S. 1067 – 1086. 148. Maritimes Aquitorium und Anschlusszone, in: Handbuch des Seerechts, hrsg. von W. Graf Vitzthum, München 2006, S. 63 – 159. 149. Eher Kant als Klon, in: K. Asada u. a. (Hrsg.), Das Recht vor den Herausforderungen neuer Technologien, Tübingen 2006, S. 41 – 58; dass. in: JuristenRechtsphilosophie, hrsg. von K. Kühl, Hamburg 2007, S. 213 – 230. 150. Pauschale Umsetzungsermächtigung im Gentechnikrecht? (zus. mit Th. Klink), JuS 2006, S. 436 – 441. 151. Kein Stauffenberg ohne Stefan George, in: FS für J. Isensee, hrsg. von O. Depenheuer u. a., Heidelberg 2007, S. 1109 – 1126; dass. in: Th. Vormbaum (Hrsg.), Juristische Zeitgeschichte. Jahrbuch 2008 / 2009, Berlin 2009, S. 123 – 141. 152. Rechtsstaatspatriotismus, in: Th. Oppermann u. a. (Hrsg.), Ehrensymposium für E. Kossoy, Tübingen 2007, S. 35 – 59. 153. Das Völkerrecht angesichts der „Neuen Kriege“, in: I. Richter (Hrsg.), Transnationale Menschenrechte, Opladen u. a. 2008, S. 223 – 240. 154. Grundrechtsschutz auch am Hindukusch (zus. mit D. Hahn), VBlBW 2008, S. 37, 72 – 78. 155. Rainer Lagoni und das Seerecht, in: P. Ehlers u. a. (Hrsg.), Meeresfreiheit und Ocean Governance, in: FG für R. Lagoni, Hamburg 2008, S. 53 – 72. 156. Vaterland Rechtsstaat, in: St. Schröder u. a. (Hrsg.), Der 20. Juli 1944, Münster 2008, S. 155 – 176. 157. Extraterritoriale Grundrechtsgeltung, in: A. Fischer-Lescano u. a. (Hrsg.), FS für M. Bothe, Baden-Baden 2008, S. 1213 – 1228; dass. im vorliegenden Band, S. 75 – 94. 158. Wider den entgrenzten Staat, in: J. A. Kämmerer (Hrsg.), An den Grenzen des Staates, Berlin 2008, S. 231 – 255. 159. Quelle est l’identité de l’Europe?, in: I. Buffard u. a. (Hrsg.), FS für G. Hafner, Leiden u. a. 2008, S. 1069 – 1075. 160. Bürgschaft für das Geheime Deutschland, in: H.-G. Richardi u. a. (Hrsg.), Für Freiheit und Recht in Europa, Innsbruck u. a. 2009, S. 130 – 151; dass. in: Th. Vormbaum (Hrsg.), Juristische Zeitgeschichte, Jahrbuch 2008 / 2009, Berlin 2009, S. 107 – 122. 161. Preusse im George-Kreis, in: V. Caspari (Hrsg.), FS für B. Schefold, Marburg 2009, S. 333 – 357; dass. erweitert, in: B. Pieger u. a. (Hrsg.), Stefan George, Berlin 2010, S. 264 – 286.

Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum

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162. Les noces d’or d’un jumelage exemplaire, in: P. Fischer u. a. (Hrsg.), FS für H.-F. Köck, Wien 2009, S. 639 – 652. 163. Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, in: Chr. Perels (Hrsg.), Fünfzig Jahre Stefan George Stiftung. 1959 – 2009, Berlin u. a. 2009, S. 21 – 34. 164. Weimarer Republik und Völkerbund aus der Sicht von Berthold Graf Stauffenberg, in: R. Köster u. a. (Hrsg.), Das Ideal des schönen Lebens und die Wirklichkeit der Weimarer Republik, Berlin 2009, S. 211 – 234. 165. Form, Sprache und Stil der Verfassung, in: O. Depenheuer u. a. (Hrsg.), Verfassungstheorie, Tübingen 2010, S. 373 – 389; dass. in: W. Graf Vitzthum, Kleine Schriften, hrsg. von A. Proelß, Berlin 2017, S. 63 – 81. 166. Stauffenberg, in: J. Kaffanke u. a. (Hrsg.), Es lebe das ,Geheime Deutschland‘!, Münster 2011, S. 107 – 122; dass. in: H. P. Hestermeyer u. a. (Hrsg.), FS für R. Wolfrum, Leiden u. a. 2012, S. 2146 – 2163. 167. Free Ports, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Oxford 2012, Bd. IV, S. 234 – 236; International Seabed Area, ebd., Bd. VI, S. 137 – 146. 168. Jüngere Freunde Stefan Georges im Nationalsozialismus, in: F.-L. Kroll u. a. (Hrsg.), Schriftsteller und Widerstand, Göttingen 2012, S. 245 – 265. 169. „Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde“: Europas Identitäten, in: M. Sachs / H. Sickmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat. FS K. Stern, Berlin 2012, S. 1001 – 1014; dass. im vorliegenden Band, S. 151 – 167. 170. George über Grenzen, in: S. Talmon (Hrsg.), Über Grenzen, Berlin 2012, S. 2001 – 223. 171. Staatswissenschaften (Nationalökonomie, Staats- und Völkerrecht) (zus. mit B. Schefold), in: A. Aurnhammer u. a. (Hrsg.), Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 2, Berlin u. a. 2012, S. 1147 – 1158; Elze, Walter, Partsch, Karl Josef, Stauffenberg, Berthold Alfred Maria Schenk von, Strebel, Helmut, ebd., Bd. 3, S. 1354 – 1357, S. 1569 – 1572, S. 1666 – 1671, S. 1698 – 1701. 172. Staatengemeinschaft, in: H. Kube u. a. (Hrsg.), FS für P. Kirchhof, Bd. I, Heidelberg u. a. 2013, S. 1007 – 1016. 173. Vom richtigen Fragen nach dem richtigen Verhalten, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 61 (2013), S. 107 – 110. 174. „L’homme ne doit pas faire de l’homme un esclave!“, in: FS für E. Klein, hrsg. von M. Breuer, Berlin 2013, S. 1345 – 1356; dass. in: W. Graf Vitzthum, Kleine Schriften, hrsg. von A. Proelß, Berlin 2017, S. 159 – 173. 175. Le cinquième commandement, in: G. Jochum u. a. (Hrsg.), FS für K. Hailbronner, Heidelberg u. a. 2013, S. 663 – 671; dass. in: W. Graf Vitzthum, Kleine Schriften, hrsg. von A. Proelß, Berlin 2017, S. 257 – 268.

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Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum

176. „Schon eure zahl ist frevel“, Sinn und Form 65 (2013), S. 189 – 198; dass. in: W. Graf Vitzthum, Kleine Schriften, hrsg. von A. Proelß, Berlin 2017, S. 269 – 279. 177. Stefan George und die Demokratie, in: G. A. A. Margagliotta u. a. (Hrsg.), Art, Intellect and Politics, Leiden u. a. 2013, S. 69 – 88. 178. Europa denken, in: U. Becker u. a. (Hrsg.), FS für J. Schwarze, Baden-Baden 2014, S. 264 – 282. 179. Ernst Kantorowicz als Rechtshistoriker, in: L. Burkart u. a. (Hrsg.), Mythen, Körper, Bilder, Göttingen 2015, S. 125 – 147; dass. in: W. Graf Vitzthum, Kleine Schriften, hrsg. von A. Proelß, Berlin 2017, S. 83 – 104. 180. Den Staat denken, in: P. Häberle u. a. (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015, S. 742 – 756; 2. Aufl. 2018, S. 889 – 902. 181. Befindlichkeiten im Völkerrecht. Das Beispiel des Russland-Ukraine-Konfliktes, in: G. Biaggini u. a. (Hrsg.), FS für D. Thürer, Zürich 2015, S. 765 – 777; dass. im vorliegenden Band, S. 95 – 107. 182. Russland und das Völkerrecht, AöR 54 (2016), S. 239 – 260; dass. erweitert in: Chr. Seiler (Hrsg.), Rechtsgespräch über Russland, Darmstadt 2016, S. 47 – 85; dass. in: W. Graf Vitzthum, Kleine Schriften, hrsg. von A. Proelß, Berlin 2017, S. 157 – 187. 183. Distanz zur Demokratie, in: Kreis aus Kreisen, hrsg. von B. Pieger u. a., Hildesheim 2016, S. 611 – 623. 184. Recht in Russland, JZ 2017, S. 853 – 858. 185. Kleine Schriften, hrsg. von A. Proelß, Berlin 2017, 279 S. 186. Ein weltoffener europäischer Deutscher. Nachruf auf Thomas Oppermann, VBlBW 2019, S. 188. 187. Erinnerung an Werner von Simson und seine Zeit, VBlBW 2020, S. 101 – 110. 188. Berthold Schenk Graf von Stauffenberg und das Widerstandsrecht, in: F.-L. Kroll / R. von Voss (Hrsg.), 75 Jahre 20. Juli 1944, Berlin 2020, S. 145 – 174. 189. Kleine Schriften II, hrsg. von S. Talmon, Berlin 2021, 261 S. 190. Europa und Demokratie denken: Werner von Simson, im vorliegenden Band, S. 171 – 181. 191. Sekretäre des Weltgeistes: Erich von Kahler und Elisabeth Mann Borgese, im vorliegenden Band, S. 221 – 240.

Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum

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III. Rezensionen 1.

Dobiey, Burkhard: Political Planning as a Constitutional Law Problem between the Federal Government and Parliament in the Federal Republic of Germany, Berlin 1975, Modern Law and Society XI (1978), S. 198 – 202.

2.

Klemm, Ulf-Dieter: Die seewärtige Grenze des Festlandsockels, Berlin u. a. 1976, ZaöRV 38 (1978), S. 986 – 989.

3.

Wildberg, Hans Jürgen: Die internationale Meeresbodenbehörde, Berlin 1979, German Yearbook of International Law, vol. 22 (1979), S. 570 – 573; dass. in: Modern Law and Society XIII (1980), S. 180 – 182.

4.

Knemeyer, Franz-Ludwig: Bayerisches Kommunalrecht, 2. Aufl. München 1977, AöR 105 (1980), S. 164 – 165.

5.

Kirchner, Christian u. a.: Rohstofferschließungsvorhaben in Entwicklungsländern, Teil 1, Frankfurt a. M. u. a. 1977, AöR 105 (1980), S. 482 – 485.

6.

Würtenberger, Thomas: Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, Berlin 1979, Deutsche Verwaltungsblätter (nachf. DVBl.) 1980, S. 461 – 462.

7.

Busch, Jost-Dietrich: Dienstrecht der Vereinten Nationen, Köln 1981, Die Verwaltung 15 (1982), S. 528 – 529.

8.

Heyen, Erk Volkmar: Otto Mayer, Berlin 1982; Hueber, Alfons: Otto Mayer, Berlin 1982, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1983, S. 26.

9.

Azzola, Axel u. a. (Bearb.): Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Neuwied / Darmstadt 1984, Die Öffentliche Verwaltung (nachf. DÖV) 1984, S. 918 – 922.

10. Bernhardt, Rudolf (Hrsg.): Encyclopedia of Public International Law, Instalments 3, 4, Amsterdam u. a. 1982, ZaöRV 44 (1984), S. 181 – 185. 11. Schraven, Josef: Internationale und supranationale Rohstoffverwaltung, Berlin 1982, Die Verwaltung 17 (1984), S. 392 – 393; Savas, Emanuel: Privatizing the Public Sector, Chatham / New Jersey 1982, ebd., S. 539 – 540. 12. Hauser, Wolfgang: Die rechtliche Gestaltung des Tiefseebergbaus nach der Seerechtskonvention, Frankfurt a. M. 1982, ZaöRV 44 (1984), S. 859 – 862. 13. Platzöder, Renate: Third United Nations Conference on the Law of the Sea, New York 1982, ZaöRV 44 (1984), S. 870 – 872. 14. Berberich, Thomas u. a. (Hrsg.): New Developments in Public Law, Stuttgart u. a. 1985, Modern Law and Society XVIII (1985), S. 3 – 4. 15. Schlarmann, Hans: Das Verhältnis der privilegierten Fachplanung zur kommunalen Bauleitplanung, Münster 1980, AöR 110 (1985), S. 161 – 162. 16. Götz, Volkmar et al. (Hrsg.): Handwörterbuch des Agrarrechts, 2 Bde., Berlin 1981 / 1982, in: JZ 1985, S. 29 – 30. 17. Bleicher, Ralf: Staatsgrenzen überschreitende Raumordnung und Landesplanung, Münster 1981, AöR 1985, S. 162 – 163.

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18. Stein, Torsten (Hrsg.): Die Autorität des Rechts, Heidelberg 1985, ZaöRV 47 (1985), S. 404 – 407. 19. Buchholz, Hanns J.: Zones in the Pacific Ocean under the Law of the Sea, Hamburg 1984, Mundus XXIII (1987), S. 268 – 270. 20. von Münch, Ingo u. a. (Hrsg.): International Law, Berlin u. a. 1985, VRÜ 20 (1987), S. 291 – 294. 21. Häberle, Peter: Klassikertexte im Verfassungsleben, Berlin / New York 1981, JZ 1987, S. 669. 22. Kipke, Rüdiger: Die Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages, Berlin 1985; Schleich, Albrecht: Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages, Berlin 1985, Die Verwaltung 20 (1987), S. 267 – 268. 23. Vollmer, Silke: Genomanalyse und Gentherapie, Konstanz 1989, AöR 115 (1990), S. 661 – 663. 24. Eberbach, Wolfram / Ferdinand, Franz-Josef: Gentechnikrecht, Heidelberg 1991, JZ 1991, S. 825. 25. Schneider, Erich (Hrsg.): Der Landtag, Baden-Baden 1989, DÖV 1991, S. 124 – 125. 26. Beckert, Erwin / Breuer, Gerhard: Öffentliches Seerecht, Berlin u. a. 1991, AöR 1994, S. 484 – 491. 27. Hirsch, Gunter / Schmidt-Didzuhn, Andrea: Gentechnikgesetz und Gentechnikverordnungen, München 1991, DÖV 1994, S. 336 – 341. 28. Tomuschat, Christian (Hrsg.): Rechtsprobleme einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Heidelberg 1997, DVBl. 1998, S. 736 – 737. 29. Becker, Bernd: Bundes-Bodenschutzgesetz, Starnberg 1999, JZ 1999, S. 834; ebd. 2002, S. 989. 30. von Trott zu Solz, Levin: Hans Peters und der Kreisauer Kreis, Paderborn u. a. 1997, Zeitschrift für Neue Rechtsgeschichte 3/4 (1999), S. 527 – 529. 31. Grewlich, Klaus W.: Konflikt und Ordnung in der globalen Kommunikation, Baden-Baden 1997, Wirtschaft und Wettbewerb 1999, S. 154 – 155; ders., Governance in „Cyberspace“, The Hague u. a. 2000, ebd., 2001, S. 163 – 164. 32. Schwarze, Jürgen (Hrsg.): EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, JZ 2001, S. 703. 33. Doehring, Karl: Völkerrecht, Heidelberg 1999, VRÜ 34 (2001), S. 558 – 560. 34. Ziemer, Jonna: Das gemeinsame Interesse an einer Regelung der Hochseefischerei, Berlin 2000, German Yearbook of International Law 45 (2002), S. 822 – 823. 35. Hach, Renate: Völkerrechtliche Pflichten zur Verminderung grenzüberschreitender Luftverschmutzung in Europa, Köln u. a. 1993, AöR 127 (2002), S. 509 – 510.

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36. Kotzur, Markus: Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, Berlin 2001, DÖV 2004, S. 588. 37. Karpen, Ulrich / Hof, Hagen (Hrsg.): Wirkungsforschung zum Recht IV, Baden-Baden 2003, DVBl. 2004, S. 1089. 38. Frenz, Walter: Handbuch Europarecht, Bd. 1 2004, JZ 2005, S. 84; Bd. 2 2006 und Bd. 3 2007, JZ 2008, S. 784 – 785. 39. Tomuschat, Christian (Hrsg.): Völkerrecht, 2. Aufl. Baden-Baden 2004, DVBl. 2005, S. 170. 40. Karpen, Ulrich, u. a. (Hrsg.), Legislation in Europe, Oxford u. a. 2017, Zeitschrift für Gesetzgebung 2018, S. 93 – 96. 41. Nußberger, Angelika, u. a. (Hrsg.), Rechtsphilosophisches Denken im Osten Europas, Tübingen 2015, Savigny Zeitschrift 2018, S. 593 – 596.

IV. Herausgeberschaften 1.

Arbeitshefte Staat und Wirtschaft, Hefte 1 – 3 (Hrsg., Mitautor), München 1979 – 1980.

2.

Die Plünderung der Meere (Hrsg., Mitautor), Frankfurt a. M. 1981, 328 S.

3.

Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht (Mithrsg., Mitautor), Baden-Baden 1983, 376 S.

4.

Seerecht – Law of the Sea (Mithrsg.), Baden-Baden 1984, 500 S.

5.

FS für G. Dürig (Mithrsg., Mitautor), München 1990, 493 S.

6.

La protection régionale de l’environnement marin (Mithrsg., Mitautor), Paris 1992, 232 S.

7.

Die überstaatliche Bedingtheit des Staates (Mithrsg., Mitautor), Zeitschrift Europarecht (Beiheft 1), Baden-Baden 1993, 47 S.

8.

Europäische und internationale Wirtschaftsordnung aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg., Mitautor), Baden-Baden 1994, 304 S.

9.

Neokonservatismus – Neonationalismus (Mithrsg., Mitautor), Tübingen 1997, 268 S.

10. Der Staat als Teil und als Ganzes (Mithrsg., Mitautor), Baden-Baden 1998, 116 S. 11. Europäischer Föderalismus (Hrsg., Mitautor), Berlin 2000, 161 S. 12. Konfliktherd Toleranz? (Mithrsg., Mitautor), Tübingen 2002, 299 S. 13. L’identité de l’Europe (Mithrsg., Mitautor), Aix-en-Provence 2002, 507 S. 14. Peter Häberle, Kleine Schriften (Hrsg.), Berlin 2002, 435 S.

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15. Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas (Mithrsg., Mitautor), Berlin 2003, 232 S. 16. Wissenschaftler im George-Kreis (Mithrsg., Mitautor), Berlin u. a. 2005, 376 S. 17. Europe et Mondialisation (Mithrsg., Mitautor), Aix-en-Provence 2006, 386 S. 18. Ius Europaeum (Mithrsg.), Berlin 2006, 512 S. 19. Recht und Literatur (Mithrsg., Mitautor), Heidelberg 2010, 344 S.

V. Übersetzungen 1.

Terranisierung des Meeres (1976), Law and State 15 (1977), S. 124 – 136; Neue Weltwirtschaftsordnung und neue Weltmeeresordnung (1978), ebd. 19 (1979), S. 7 – 27; Friedlicher Wandel durch völkerrechtliche Rechtssetzung (1979), ebd. 23 (1981), S. 7 – 36.

2.

Weltnuklearordnung und Staatengleichheit (1981), Law and State 25 (1982), S. 23 – 50; RRJ 1983, S. 65 – 81.

3.

Pro und contra Seerechtskonvention 1982 (zus. mit R. Platzöder) (1982), Law and State 28 (1983), S. 32 – 41.

4.

Das Vorprüfungsverfahren für Verfassungsbeschwerden (1984), Sammelband deutsches Verfassungsrecht, Tokyo 1987, 19 S.

5.

Technologietransfer und Technologieembargo im Völkerrecht (1987), Law and State 36 (1987), S. 95 – 118; RRJ 1988, S. 365 – 387.

6.

Petitionsrecht und Volksvertretung (1985), Tokyo 1988, 203 S.

7.

Rechtsfragen der Rüstungskontrolle im Vertragsvölkerrecht der Gegenwart (1990), RRJ 1990, S. 509 – 525; Law and State 41 (1990), S. 53 – 72; Universitas 32 (1990), S. 197 – 208.

8.

Auf der Suche nach einer sozio-ökonomischen Identität? (1991), Revue française de Droit constitutionnel 8 (1991), S. 659 – 680.

9.

The Right to Petition in the Federal Republic of Germany (1986), in: U. Karpen (Hrsg.), La Constitution de la Republica Federal de Alemania, BadenBaden 1992, S. 123 – 144; Sammelband deutsches Verfassungsrecht, Tokyo 1998, 31 S.

10. Das Bodenreform-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1992), Revue française de Droit constitutionnel 12 (1992), S. 775 – 782. 11. Probleme der Parteiendemokratie (1995), Law and State 49/50 (1994), S. 112 – 122; Revue française de Droit constitutionnel 26 (1996), S. 403 – 415. 12. Art. 2 Ziff. 6 VN-Charta (1990), in: B. Simma u. a. (Hrsg.), The Charter of the United Nations, Oxford 1994, S. 131 – 139; 2. Aufl. 2002, S. 140 – 148.

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13. Derecho y medicina en alemania algunos problemos contemporaneos (zus. mit J. A. Kämmerer) (1988), in: Chr. Starck (Hrsg.), Constitutionalism, Universalism and Democracy, Baden-Baden 1999, S. 307 – 326. 14. Die herausgeforderte Einheit der Völkerrechtsordnung (2005), Dialogo Cientifico 13 (2004), S. 41 – 53; Europe et Mondialisation, Aix-en-Provence 2006, S. 297 – 309. 15. Form, Sprache und Stil der Verfassung (2010), in: Ekim 2014, S. 385 – 401.

VI. Sonstiges 1.

Tiefsee-Tagung vom 25.-28. 3. 1969, AöR 94 (1969), S. 419 – 425.

2.

Pacem in Maribus vom 28.6.-3. 7. 1970 auf Malta, AöR 96 (1971), S. 100 – 108.

3.

Introduction, in: Pacem in Maribus, vol. 3, Malta 1971, S. 4 – 13; Selected Bibliography for the Use of Pacem in Maribus, ebd., vol. 6, 44 S.

4.

The Race between Law and Technology, interocean ’73, Düsseldorf 1974, S. 22 – 28.

5.

Bericht über die Jahrestagung 1977 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, AöR 103 (1978), S. 233 – 247.

6.

Marine Rohstoffgewinnung, internationale Politik und neues Seerecht, interocean ’81, Düsseldorf 1981, S. 32 – 40.

7.

Comment, in: International Mining Investment, hrsg. von G. Jaenicke u. a., Deventer u. a. 1984, S. 80 – 84.

8.

Die Enteuropäisierung Amerikas, Universitas 39 (1984), S. 1381 – 1392.

9.

Menschenwürde und Humangenetik, in: Johanniterorden in Baden-Württemberg 74, Stuttgart 1987, S. 17 – 34.

10. Gentechnik und Grundrechtsschutz, VBlBW 1990, S. 48 – 51. 11. Aquitoriale Souveränität, VBlBW 1991, S. 121 – 123. 12. Nachruf auf Werner von Simson, AöR 122 (1997), S. 138 – 140; dass. VBlBW 1997, S. 157 – 158. 13. Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht, in: F. K. Fromme, Die abgebrochene Revolution von 1989/90, Tübingen 2000, S. 19 – 32. 14. „Um Deutschlands und des Abendlandes willen“, in: Genossenschaft Rheinland-Pfalz-Saar des Johanniterordens (Hrsg.), Saarbrücken 2003, S. 47 – 86. 15. Laudatio, in: Tübinger Universitätsreden, Verleihung der Ehrendoktorwürde an Professor Dr. B. Schefold, 2004, S. 25 – 36.