BAND 4 Freiheit, Revolution, Verfassung. Kleine politische Schriften: Herausgegeben von Daniel Schulz 9783050061177, 9783050044613

Während Condorcets Schriften bislang nur unter dem Gesichtspunkt der Geschichtsphilosophie und mathematischen Entscheidu

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German Pages 276 Year 2010

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BAND 4 Freiheit, Revolution, Verfassung. Kleine politische Schriften: Herausgegeben von Daniel Schulz
 9783050061177, 9783050044613

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Marquis de Condorcet Freiheit, Revolution, Verfassung Kleine politische Schriften Herausgegeben von Daniel Schulz

Schriften zur europäischen Ideengeschichte Herausgegeben von Harald Bluhm

Marquis de Condorcet

Freiheit, Revolution, Verfassung Kleine politische Schriften

Herausgegeben von Daniel Schulz

Akademie Verlag

Gefordert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im R a h m e n des SFB 804 der Technischen Universität Dresden.

Ubirit · É/allié • Fraltmlt* RÉPUBLIQUE FRANÇAISE

A M B A S S A D E DR FRANCE EN REPUBLIQUE FEDERALE D'ALLEMAGNE

Dieses B u c h erscheint im R a h m e n des Förderprogramms des

französischen

Außenministeriums,

vertreten durch die Kulturabteilung der

französischen

B o t s c h a f t in B e r l i n .

BUREAU DU LIVRE

A b b i l d u n g a u f S. 7: M a r i e J e a n A n t o i n e N i c o l a s C a r i t a t , M a r q u i s d e C o n d o r c e t ( 1 7 4 3 - 1 7 9 4 ) , K u p f e r s t i c h , o . J., W i k i m e d i a C o m m o n s .

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN

978-3-05-004461-3

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: nach einem Entwurf von Günter Schorcht, Schildow Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: BuchConcept, Calbe Printed in the Federal Republic of Germany

Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794)

Inhalt

Vorwort Einleitung und Bibliographie

9 11

I. Freiheit 1. Überlegungen zur Negersklaverei ( 1788) 2. Ideen über den Despotismus (1789) 3. Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht ( 1790) 4. Von der Natur der politischen Gewalten in einer freien Nation (1792)

53 93 108 113

II. Revolution 5. Vom Einfluss der Revolution in Amerika auf Europa (1786) 6. Der wahre und der falsche Volksfreund (1790-1791) 7. Über die Bedeutung des Wortes revolutionär (1793)

129 150 153

III. Verfassung 8. Über die Notwendigkeit, die Verfassung durch die Bürger ratifizieren zu lassen (1789) 161 9. Brief eines jungen Mechanikers an die Verfasser des Républicain (1791) . . . 171 10. Verfassungsentwurf, der Nationalversammlung vorgeschlagen (1793). (Darin: Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs; Entwurf der Erklärung der natürlichen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte; Entwurf der französischen Verfassung) 173

Anhang Anmerkungen und Textnachweise Personenregister

271 275

Vorwort

Dieser Band mit kleinen politischen Schriften von Condorcet will dazu beitragen, einen politischen Theoretiker der französischen Revolution wieder sichtbar zu machen. Lange Zeit wurde diese Seite seines Denkens vom Bild des Geschichtsphilosophen und des Sozialmathematikers verdeckt. Zudem lagen bislang in deutscher Sprache nur wenige Übersetzungen von Condorcets Schriften vor. Hinter seinem philosophischen Hauptwerk zu den Fortschritten des menschlichen Geistes stehen jedoch zahlreiche Texte, in denen Condorcet sich intensiv mit den politischen Ordnungsfragen seiner Zeit auseinandergesetzt hat. Diese Überlegungen zur menschlichen Freiheit, zur revolutionären Verfügbarstellung der politischen Ordnung und zu den Möglichkeiten einer konstitutionellen Verstetigung der Bürgerrechte sind für das heutige Verständnis des demokratischen Verfassungsstaats immer noch von Bedeutung und sollen mit dem vorliegenden Band erstmals in einer Auswahl zugänglich gemacht werden. Dieser neue Blick auf einen wieder zu entdeckenden Autor der politischen Theorie wäre ohne die Anregung und die Unterstützung des Herausgebers der Reihe Schriften zur europäischen Ideengeschichte nicht möglich gewesen. Ein besonderer Dank geht daher an Prof. Dr. Harald Bluhm in Halle. Die für die Übersetzung und die Drucklegung notwendigen Ressourcen konnten dank der Unterstützung des Dresdner Sonderforschungsbereichs 804 Transzendenz und Gemeinsinn an der Technischen Universität Dresden bereitgestellt werden. Seinem Sprecher Prof. Dr. Hans Vorländer sei dafür herzlich gedankt. Eben solcher Dank für finanzielle Hilfe gebührt dem Bureau du Livre an der Französischen Botschaft, Berlin, und dessen Leiterin Micheline Bouchez. Die Direktorin des Berliner Centre Marc Bloch, Prof. Dr. Pascale Laborier, hat zudem wertvolle Vermittlungsarbeit geleistet. Inhaltlich zehrt dieser Band von der gewissenhaften Übersetzung Andreas Fliedners (Berlin), der neben Karsten Malowitz (Halle) den Hauptteil der Texte übertragen hat. Herr Dammaschke vom Akademie Verlag hat den Band von Beginn an hilfreich und aufmerksam betreut, Herr Hermenau hat verlässlich den Satz besorgt. Eine anregende Diskussion ermöglichte der Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs Bürgergesellschaft in Halle und Tokyo auf Einladung seines Sprechers, Prof. Dr. Manfred Hettling. Ebenso haben Prof. Dr. Hubertus Buchstein (Greifswald) und Prof. Dr. Peter Niesen (Darmstadt) nicht nur ideengeschichtliches Interesse an Condorcets politischem Denken gezeigt, sondern durch Kolloquiumseinladungen eine willkommene Gelegenheit geboten, die Relevanz dieses Denkens für die aktuelle politische Theorie unter Beweis zu stellen. Allen Genannten bin ich für das Zustandekommen des vorliegenden Bandes verpflichtet. Dresden, im März 2010 Daniel Schulz

DANIEL SCHULZ

Einleitung: Condorcet und die Theorie der repräsentativen Demokratie

1. Einleitung Condorcet meint man zu kennen: Als Aufklärer hat er mit seinem Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes eines der wohl bekanntesten philosophischen Werke des Rationalismus hinterlassen (Condorcet 1963). Mathematisch ausgerichteten Sozialwissenschaftlern ist er zudem als Namensgeber des wahltheoretischen „Condorcet-Paradoxons" bekannt und als einer der Ersten, die gesellschaftliche Sachverhalte mit quantifizierenden Kategorien zu analysieren versuchten. Aber wie bekannt ist Condorcet als der „bedeutendste politische Theoretiker der französischen Revolution nach Sieyes", 1 gar als Denker der modernen Demokratie? Dieser durchaus beachtliche Teil seines Werkes ist im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten zu Unrecht, wie dieser Band zu belegen versucht. Die vorliegende Auswahl kleiner politischer Schriften will eine Fehlwahrnehmung korrigieren, die in Condorcet einen nur nachrangigen politischen Theoretiker zu erkennen glaubt. Auf der Grundlage der hier erstmals in deutscher Übersetzung präsentierten Texte kann hingegen das Bild eines Denkers gezeichnet werden, der sich tief auf die politischen Ordnungsfragen der Krise und schließlich des revolutionären Umbruchs eingelassen hat, und der in den Jahren vor und während der Revolution stets versuchte, die sich wandelnden Legitimitätsbedingungen in eine angemessene politisch-konstitutionelle Ordnung zu fassen, bis er schließlich selbst zum Opfer der revolutionären Dynamik wurde. Der vom heutigen Standpunkt aus wichtigste Beitrag Condorcets zur politischen Theorie liegt in seinem Versuch, die neue demokratische Legitimitätsanforderung an das politische Gemeinwesen in eine komplexe institutionelle Form jenseits der jakobinisch-rousseauistischen Unmittelbarkeitsvorstellungen zu übersetzen und damit die normative Idee demokratischer Autonomie auf Dauer zu stellen. Condorcet stellt sein Ordnungsdenken dabei in den Dienst der für die gesamte Aufklärung zentralen Leitidee der menschlichen Freiheit. Hannah Arendt hatte mit Bezug auf Condorcet diese Leitidee einst als „verlorenen Schatz" bezeichnet (Arendt 1968: 21, 24, 217f.). Es ist dieser Zusammenhang zwischen seiner ursprünglichen Motivation und den unterschiedlichen

1

Llanque 2008, 287.

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Artikulationen dieses normativen Ideals in verschiedenen, gleichwohl miteinander verknüpften politischen Feldern, die der Band dokumentieren will. Freiheit, so Condorcet, ist in der Moderne untrennbar an das Medium des Rechts gebunden. Condorcet ist in dieser Hinsicht ein liberaler Denker. Jedoch wäre es ein Missverständnis, ihn auf die Rolle des Verteidigers liberaler Abwehrrechte gegen den demokratischen Demos zu beschränken. Condorcets Freiheitsbegriff steht nicht in der von Hobbes begründeten Tradition einer vertraglich externalisierten Staatsgewalt, die nachträglich mühsam gebändigt werden muss. Er greift vielmehr zentrale Elemente des republikanischen Denkens auf: Der klassische Republikanismus hatte Freiheit als kollektives Gut definiert. Freiheit kann in diesem Sinne nur einem Gemeinwesen in seiner gesamten Verfasstheit zukommen, indem es sich selbst durch Gesetze regiert. Dieses Denken beruhte allerdings auf einer starken, an die Bürger gerichteten Tugendzumutung sowie auf einer soziomoralischen Homogenitätserwartung. Beides, so die Einsicht des Liberalismus, hat in komplexen modernen Gesellschaften einen schweren Stand. Condorcets Ordnungsdenken kann nun genau an der Schnittstelle dieser Diskussion von Republikanismus und Liberalismus verortet werden. Unter ideengeschichtlichen Gesichtspunkten lässt sich Condorcet daher als Teil jener Transformationsdiskurse lesen, in denen vor einem klassisch-republikanischen Vorstellungshintergrund neue Lösungen fur Probleme moderner Gemeinwesen gefunden werden mussten, die sich mit den alten Begriffskategorien schlichtweg nicht mehr bewältigen ließen. Teil dieses Paradigmenwandels waren Autoren wie Adam Smith, Adam Ferguson, James Madison, Thomas Paine, Benjamin Constant oder auch Germaine de Staël (vgl. Kalyvas/Katznelson 2008). Zum einen besteht sein normativer Anspruch in der Durchsetzung und der Garantie individueller Freiheitsrechte. Zum anderen jedoch, und dies ist die Modernisierung der republikanischen Einsicht, koppelt er die Geltungschance solcher individuellen Rechte an die Freiheit des Gemeinwesens als Ganzes. Daher genügt es in seinen Augen nicht, durch eine konstitutionelle Rechteerklärung die politische Gewalt so zu domestizieren, dass ihr despotisches Potential damit gebändigt wird. In einem freien Gemeinwesen ist die Geltung der Bürgerrechte auch auf eine öffentliche politische Teilhabe der Bürger selbst angewiesen. Freilich kann sich, so die Einsicht Condorcets, diese Teilhabe in einem großräumigen modernen Flächenstaat nicht mehr im Modus der kleinräumigen Polisdemokratie vollziehen, die noch für Rousseau das Vorbild einer freien Gemeinschaft abgab. Vielmehr müssen institutionelle Mechanismen gefunden werden, die eine solche Teilhabe auch in einer modernen Nation möglich machen. Condorcet steht hier ganz in der Nähe der amerikanischen Federalists, die sich einer ähnlichen Aufgabe verschrieben hatten. Sein Lösungsvorschlag für dieses Problem war jedoch weitaus anspruchsvoller nicht zuletzt deshalb, weil er von anderen sozialen Voraussetzungen wie einer vergleichsweise schwachen Zivilgesellschaft auszugehen hatte. Dieser Band möchte zudem über das ideengeschichtliche Interesse hinaus die Beiträge Condorcets zu einer Debatte wieder zugänglich machen, die nach wie vor für die Selbstverständigung über den demokratischen Verfassungsstaat von großer Bedeutung ist. Daher sollte man insbesondere die konstitutionellen Vorschläge nicht zuerst aus der Perspektive ihres Scheiterns lesen, sondern sie als Anregungen betrachten, neu über das

Einleitung

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Verhältnis demokratischer Legitimitätsprinzipien und ihrer institutionellen Verkörperung nachzudenken. Beginnend mit einer kurzen biographischen Skizze folgen einige einleitende Hinweise auf die einschlägigen Rezeptionslinien der Geschichtsphilosophie und der sozialmathematischen Entscheidungstheorie. Dann werden die Texte dieses Bandes inhaltlich vorgestellt und Ansätze einer Kontextualisierung unternommen, um sowohl ihren Sinngehalt als auch die Wirkung der einzelnen Beiträge besser zur Geltung zu bringen. Abschließend erfolgt eine Interpretation Condorcets als Denker des demokratischen Verfassungsstaates.

2. Biographische Skizze Wie kaum ein anderer verkörpert Condorcet jene Figur des französischen philosophe, dessen Streben nach dem Universalen sich in der Vielzahl seiner Aktivitäten und Rollen widerspiegelt: Geboren am 17. September 1743 in Ribemont wirkte Condorcet - mitunter gleichzeitig, mitunter nacheinander - als Mathematiker, Akademiemitglied, Philosoph, Reformer, Verfassungsgeber und Politiker. Im Gegensatz zu vielen anderen Akteuren der Französischen Revolution hatte Condorcet jedoch bereits vor 1789 eine bedeutende Position inne. Am bedeutendsten für sein Denken als politischer Theoretiker ist sicherlich seine intellektuelle und persönliche Nähe zu zentralen Gestalten der französischen Aufklärung: Der Enzyklopädist und Mathematiker d'Alembert übte bereits früh Einfluss auf Condorcet aus, den er seit dessen zwanzigsten Lebensjahr als Protégé betrachtete. Aus diesem Kontext stammen die Idee einer universalen Gelehrsamkeit auf den unterschiedlichsten Feldern der Wissenschaft und insbesondere die Vorstellung einer heilsamen Kraft des Wissens für die Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Als Enzyklopädist der zweiten Generation (Badinter 1989: 60) nahm Condorcet diese Leitideen auf und führte sie zunächst auf dem Gebiet der Mathematik und der Statistik fort, da gerade hier mit der nüchternen Kraft der Zahlen weit verbreitete irrationale Ängste bekämpft werden konnten - das Rechnen der Sozialmathematik war in diesem Zusammenhang daher kein mechanischer Positivismus, sondern besaß eine moralische Dimension, die selbst aufklärend wirkte, indem beispielsweise mit der Sterblichkeitsstatistik die relative Unwahrscheinlichkeit eines plötzlichen Todes objektiv veranschaulicht wurde. Das Wahrscheinlichkeitskalkül hatte so nicht zuletzt den Abbau von Ängsten und die damit einhergehende Förderung von Handlungsmotivation zum Ziel (Daston 2007: 76ff.; Daston 1988). Seine wissenschaftliche Karriere als Mathematiker führte ihn bereits 1769 als Mitglied in die Académie des sciences, deren ständiger Sekretär er 1776 wurde. 1782 wurde Condorcet zudem Sekretär der Académie française. Voltaire wiederum war mit Condorcet seit 1770 über d'Alembert persönlich bekannt und stand mit ihm in regelmäßigem Austausch. Mit seinen Philosophischen Briefen und der Beschreibung des englischen Verfassungssystems war er es, der Condorcet mit der Idee unveräußerlicher Rechte beeinflusst und insbesondere durch seine Beschreibung des englischen Pluralismus im Bereich der Religions- und Denkfreiheit ein Beispiel für

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eine liberale Ordnung geliefert hatte (Cassirer 2003 [1932]: 264). Den größten Einfluss auf Condorcet besaß jedoch zweifellos Turgot, der durch seine politischen Ämter ein beispielhafter Mittler von aufklärerischer Theorie und politischer Praxis war. Als Marineminister und Generalinspekteur der Finanzen von 1774-1776 hat er unter anderem maßgeblich zur Entwicklung einer staatlich-administrativen Statistik beigetragen (vgl. Brian 2001) und unternahm den schließlich gescheiterten Versuch einer Liberalisierung der Monarchie in der Steuer-, Handels- und Haushaltspolitik. Als Generalinspekteur der staatlichen Münze war Condorcet unter anderem seit 1775 von Turgot mit der Vereinheitlichung der Maße und Gewichte beauftragt (Badinter 1989: 117) und blieb in diesem Amt bis 1791. Vor diesem politischen Erfahrungshintergrund wurde Condorcet als öffentlicher Intellektueller und politischer Denker aktiv. Er engagierte sich für die Abschaffung der Sklaverei, setzte sich für die Rechte der Protestanten und der Juden ein, und er beobachtete publizistisch die Entwicklung der amerikanischen Unabhängigkeit und deren Konstitutionalisierung. Mit der Zuspitzung der Krise zum Ende der 1780er Jahre widmete er sich der Ausarbeitung von Reformplänen fur die Verfassung des ancien régime, die sich an den früheren Vorschlägen Turgots (Memoire sur les municipalités, 1755) orientierten. Diese Vorschläge versuchten, eine Alternative zur Einberufung der an Privilegienstrukturen ausgerichteten Generalstände zu liefern - sie wurden jedoch schnell von den revolutionären Ereignissen überholt (Essai sur la constitution et les fonctions des assemblées provinciales, 1788). Nach 1789 sollte diese politische Dimension seines Denkens in den Vordergrund treten. 1790 gründete er zusammen mit Sieyes die Société de 1789 und leitete mit deren Zeitschrift eines der wichtigsten publizistischen Organe der Revolutionszeit. Zudem editierte er mit der Bibliothèque de l'homme public eine Sammlung politiktheoretischer Klassikertexte, die in vierzehn Bänden von 1790 bis 1792 unter anderem die Politik des Aristoteles, Machiavellis Discorsi, Lockes Abhandlungen über die Regierung, Humes Moralische und Politische Versuche, Smiths Wohlstand der Nationen und Guicciardinis Politische Grundsätze für die politische Diskussion der konstitutionellen Neuordnung zugänglich machte. 2 Gleichzeitig hatte er während der Revolution mehrere politische Mandate inne: 1791 wird er als Pariser Abgeordneter in die Gesetzgebende Nationalversammlung gewählt, im Februar 1792 wird er Präsident der Nationalversammlung. Er ist Mitglied des Verfassungskonventes und steht im Zentrum der politischen Selbstverständigung über die neue Ordnung des Gemeinwesens. Neben Sieyes ist es vor allem die Freundschaft zu

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Vgl. Condorcet/Isaac-René-Guy Le Chapelier: Bibliothèque de l'homme public, ou Analyse raisonnée des principaux ouvrages francois et étrangers sur la politique en générale, la législation, les finances, la police, par M. Le Mis de Condorcet, M. De Peysonel, M. Le Chapelier. Paris 1790— 1792, 14 Bd. Ein Auszug aus dem Werk erscheint 1791 deutsch als Handbuch für den Staatsmann, oder Analise der vorzüglichsten französischen und ausländischen Werke über Politik, Gesetzgebung, Finanzen, Polizei, Ackerbau, Handlung, Natur- und Staatsrecht. Aus dem Franz. der Herrn Condorcet, Peysonel, Chapelier und andrer Gelehrten. 2 Bd., Zürich 1791.

Einleitung

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Thomas Paine, die Condorcets Ideen dieser Zeit inspiriert und die seinen Wandel vom Befürworter der monarchischen Ordnung zum überzeugten Republikaner beeinflusst. Nach Ablehnung des von ihm ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs 1793, mit dem er die Feindschaft der Jakobiner auf sich gezogen hatte, tauchte er unter und schrieb im Verborgenen sein bis heute bekanntestes Werk, die Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain. Am 27. März 1794 wurde er auf der Flucht verhaftet und am 29. März tot in seiner Zelle aufgefunden. Ebenso ungewiss wie der genaue Todestag ist die Todesursache. Spekuliert wurde vom Giftmord bis zum Selbstmord.

3. Rezeption zwischen Geschichtsphilosophie und Rational Choice Die Rezeptionsgeschichte Condorcets verlief bislang weitgehend in den Bahnen von Geschichtsphilosophie und Sozialmathematik. Zum einen wurde er im Rahmen der Geschichtsphilosophie im 19. und 20. Jahrhundert vereinnahmt (oder als deren Vordenker verurteilt) 3 , zum anderen ernannten ihn die quantifizierenden Sozialwissenschaften zu einem ihrer Gründungsväter. 4 Im Mittelpunkt stand dabei jeweils der verabsolutierte Rationalismus, der in der Geschichtsphilosophie kollektivistisch, in der behavioralistischen Entscheidungstheorie hingegen individualistisch ausgelegt wurde. Nur vereinzelt kann in der ideengeschichtlichen Rezeption ein Bewusstsein für jene Dimension von Condorcets politischem Denken nachgewiesen werden, in der die grundsätzlichen, mit der neuen Form demokratischer Legitimation aufgeworfenen Fragen und Probleme im Vordergrund stehen. Als wichtigster historischer Gewährsmann für die Präsenz einer liberal-demokratischen Ordnungsproblematik bei Condorcet und dessen Bedeutsamkeit für die politiktheoretischen Debatten im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts fungiert dabei kein Geringerer als Benjamin Constant. So beruft sich Constant, eines der engagiertesten Mitglieder im Salon der verwitweten Madame Condorcet, in seinem Aufsatz Über die Freiheit der Alten und der Modernen explizit auf Condorcet als Kronzeugen für die liberale Idee einer auf individuelle Rechte gegründeten bürgerlichen Freiheit. 5 Gerade sein Versuch, die neue demokratische Leitidee im Rahmen einer konstitutionellen Ordnung mit der Idee individueller Rechte zu versöhnen ist es, der Condorcet für Constant und die ihm nachfolgende liberale Tradition so bedeutsam macht. Auch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist diese Dimension des Condorcet'schen Denkens nicht vollkommen in Vergessenheit geraten: So wird Condorcet sowohl in der französischen III. Republik als auch in Weimar explizit als liberal-demokratischer Verfassungstheoretiker gelesen, wobei diese Lesart je nach Perspektive sowohl rechtspositivistisch (Alengry 1904; Cahen 1904) als auch historistisch-antipositivistisch ausfallen konnte (Aulard 1924; Hintze 1989 [1928]).

3 4 5

Zur Rezeptionsgeschichte der Esquisse vgl. Schandeier 2000. Zimmerling 2009. „Den Alten, wie Condorcet sagt, fehlte jeglicher Begriff individueller Rechte" (Constant 1997: 596).

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Dagegen wird die erstaunlich einseitige Rezeption Condorcets als Geschichtsphilosoph bereits durch einen Blick in die Übersichtswerke der politischen Ideengeschichte deutlich: Wenn Condorcet nicht gänzlich abwesend ist, so tritt er meist als Autor der Esquisse auf (Martin 1956; Chevallier 1979; Châtelet u.a. 2001; Châtelet u.a. 2004; etwas ausführlicher dagegen Touchard 1959). Wo diese Reduktion auf sein bekanntestes Werk nicht stattfindet, wird hingegen sein Versuch gewürdigt, eine wissenschaftliche Betrachtung sozialer und politischer Phänomene auf der Basis von Entscheidungskalkülen zu entwerfen. Condorcet scheint damit jene Tradition des politischen Denkens weiterentwickelt zu haben, in der menschliche Ordnungen more geometrico nach dem Muster der im Entstehen begriffenen Naturwissenschaften verstanden werden. Diese Rezeptionslinie begann ebenfalls im neunzehnten Jahrhundert. Mit Saint-Simon wird erstmals der Versuch unternommen, Politik als eine technische Angelegenheit der Verwaltung zu begreifen, die sich in der Sache nicht wesentlich von der Konzeption einer Maschine unterscheidet und objektiven, wissenschaftlich erkennbaren Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Aus der naturwissenschaftlich-objektivistischen Epistemologie wird dabei zugleich in normativer Hinsicht ein technokratisches Ordnungsarrangement gefolgert, wie es beispielsweise bei Auguste Comte zum Ausdruck gebracht wird. Diese affirmative Rezeption des Rationalismus findet sich im zwanzigsten Jahrhundert vornehmlich in Sozialwissenschaften des angelsächsischen Sprachraums wieder - so etwa bei Kenneth Arrow, der sich vornehmlich auf die mathematischen Schriften aus der Zeit des ancien régime stützt.6 Das Problem des aus dem Essai sur l'application de l'analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix (Paris 1785) abgeleiteten „Condorcet Jury-Theorems" besteht jedoch darin, dass es von einer demokratietheoretisch missverständlichen Grundfrage ausgeht, die da lautet: Unter welchen Bedingungen kommt eine Mehrheitsentscheidung zum richtigen Ergebnis? Im Falle von Condorcets ursprünglichem Gegenstand war dies eine durchaus sinnvolle Fragestellung, da es um die Feststellung eines Sachverhalts und dessen binäre Beurteilung im Rahmen des (Straf-) rechts ging. Für demokratische Mehrheitsentscheidungen jedoch stößt diese Perspektive auf ein grundlegendes Problem: Was könnte hier als „richtige", bzw. „wahre" Entscheidung verstanden werden? Der epistemologische Objektivismus verfehlt damit den spezifischen Charakter demokratischer Politik, die gerade nicht im Modus der Wahrheitsfindung operiert, sondern pragmatisch nach der besten Entscheidung im Horizont der verfügbaren Möglichkeiten sucht. Nicht das Entscheiden steht zudem im Mittelpunkt der politischen Theorie Condorcets, sondern das Urteilen - zentral ist in den konstitutionellen Schriften die Frage, eine institutionelle Möglichkeit zu finden, durch welche

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Zum entscheidungstheoretischen Ansatz vgl. Arrow 1963 und Gehrling 2006. In diesem Kontext hat sich neben der affirmativen Lesart jedoch auch eine kritisch-historische Lesart am stärksten entwickelt, in der Condorcet mit seinem vermeintlich differenzlosen holistischen Vernunftdenken ein Paradebeispiel für die Dialektik der Aufklärung verkörpert (Baker 1988; Daston 2007). Im deutschen Sprachraum hat Condorcet trotz dreier Monographien (Reichardt 1973; Dippel 1981; Lüchinger 2002) in der ideengeschichtlich informierten politiktheoretischen Diskussion nur wenige Spuren hinterlassen.

Einleitung

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die Bürger in die Lage versetzt werden, ein Urteil darüber zu treffen, ob ein bestimmtes Gesetz eine Verletzung ihrer grundlegenden Rechte darstellt. Für die Frage demokratischen Entscheidens hat Condorcet aus seinen sozialmathematischen Überlegungen die Einsicht mitgenommen, dass die Rationalität einer Entscheidung unter bestimmten Bedingungen mit der Zahl der daran Beteiligten steigt. Jedoch geht es ihm nicht mehr darum, die mathematisch ,»richtige" Entscheidung herbeizufuhren, zudem ohnehin in den meisten Fällen die Grundbedingung von zwei Entscheidungsalternativen nicht erfüllt wird und das Problem gerade in der Vielzahl der verfugbaren Entscheidungsmöglichkeiten besteht. Das „Condorcet-Paradoxon" besagt ja eben dies: das bei drei oder mehr Alternativen die Entscheidung den ursprünglichen Präferenzen der Wähler mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr entspricht. Vielmehr bleibt als einzige inhaltliche Vorgabe der demokratischen Mehrheitsentscheidung die Achtung der Menschenrechte jedes Einzelnen. Daher konzentriert sich Condorcet in seinen politisch-konstitutionellen Schriften auf genau diese Frage: Wie müssen die institutionellen Bedingungen beschaffen sein, damit demokratische Mehrheitsentscheidungen tatsächlich dem Interesse der Allgemeinheit entsprechen und die Menschenrechte als Grundlage der Entscheidung berücksichtigt werden? Die Antwort findet Condorcet nicht im Modus der Entscheidung selbst, sondern vielmehr in den der Entscheidung vorausgehenden Prozeduren der Diskussion und der Urteilsbildung, die er in einem komplexen konstitutionellen Arrangement auf Dauer stellen will. Ein weiteres Überbleibsel aus den mathematischen Schriften ist zudem die Tendenz, demokratische Entscheidungen wo immer dies möglich scheint auf die Frage nach Ja/Nein-Alternativen herunterzubrechen. Jedoch ist dies nicht mehr der zentrale Teil der politischen Theorie. Gegenstand des Interesses ist nicht mehr die Entscheidung selbst, sondern die deliberative Genese von Präferenzordnungen unter der Voraussetzung und zur Verwirklichung menschlicher Freiheit. Sozialmathematik und Geschichtsphilosophie bilden daher zeitlich gesehen die Klammer der Condorcet'schen Beschäftigung mit politischen Fragen - sie stellen jedoch nicht den Kern seines politischen Denkens.7 Die Sozialmathematik bezeichnet den Einstieg eines Aufklärers in die Frage nach der gerechten Ordnung, die Geschichtsphilosophie ist weniger die Einsicht in die unabänderlichen Gesetze der notwendigen gesellschaftlichen Entwicklung, als eine aufgeklärte Hoffnung auf die besseren Möglichkeiten des Menschen - die freilich im Gewand der wissenschaftlichen Objektivität vorgetragen dazu einlädt, darin die Entdeckung der rationalen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft zu erblicken.

7

Vgl. aber den Versuch, Sozialmathematik, art social und Geschichtsphilosophie im Lichte der Bildungspläne Condorcets zusammenzuführen und als neuartige Politik des Wissens zu interpretieren bei Baxmann 1999. Durch die Verbindung von Sozialmathematik und Geschichte im Lichte der praktischen Urteilskraft soll gerade das Bild Condorcets als unpolitischer Technokrat revidiert werden, das beispielsweise bei Lepenies 1997 gezeichnet wird. Damit wird auch die vermeintlich eindeutige Zuordnung Condorcets zur Politik als (szientifische) Wissenschaft relativiert.

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4. Condorcets demokratischer Liberalismus Wenn also Condorcet weder auf seine Geschichtsphilosophie noch auf seine sozialmathematischen Schriften reduziert werden kann, wo liegt dann die politiktheoretisch zentrale Schicht seines Denkens? Die vorliegende Edition schlägt drei gliedernde Leitbegriffe vor: Freiheit, Revolution und Verfassung. In dieser Gliederung ist ebenso eine Entwicklung des Condorcet'schen Denkens angesichts der historischen Herausforderungen als auch ein systematischer Zusammenhang angelegt. Unter entwicklungsgeschichtlicher Perspektive nimmt das politische Denken Condorcets seinen Ausgangspunkt in der Idee der Freiheit, die durch die Konfrontation mit den revolutionären Umbrüchen seiner Zeit in Amerika und Frankreich zu einer konstitutionellen und demokratischen Ordnung entfaltet wird. Ebenso hängen die Begriffe systematisch zusammen: Freiheit kann nur unter konstitutionellen Bedingungen auf Dauer gestellt werden, die notfalls auch revolutionär herbeizuführen sind. Dabei muss die politische Ordnung nach Condorcet derart gestaltet sein, dass sie langfristig durch ihre demokratische Form revolutionäre und gewaltsame Umstürze überflüssig macht. Unter historischen Gesichtspunkten hat das politische Denken Condorcets seine Wurzeln in der Idee der menschlichen Freiheit. Im Kontext der französischen Aufklärung und der Reform des ancien régime entnimmt Condorcet aus seiner grundlegenden Überzeugung von der allgemeinen und gleichen Vernunftbegabung des Menschen jene normative Forderung nach der Freiheit, die zum Prinzip jeglicher gesellschaftlicher Ordnungsform erhoben wird. Condorcet hält sich hier weniger mit abstrakten philosophischen Begründungsformen auf. Ihm genügt die Evidenz der aufgeklärten Bedeutung der Freiheit für die Entwicklung und das Wohl des Menschen als von Natur aus vernünftigem Wesen. Condorcets Bedeutung liegt vielmehr darin, die politischen Konsequenzen jener philosophischen Einsicht erkannt zu haben und entgegen allen zeitgenössischen Beschränkungen eine Veränderung derjenigen Verhältnisse anzustreben, die dem Freiheitsprinzip widersprechen. Dies gilt zunächst für diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, denen das Recht der Freiheit bislang verwehrt geblieben war. Condorcet unternimmt hier den radikalen Bruch mit der antiken politischen Theorie im Namen der modernen, universalen Freiheit: Während die Antike den Ausschluss von Sklaven und Frauen aus dem politischen Gemeinwesen und der Aktivbürgerschaft als weitgehend selbstverständlich betrachtete, sieht Condorcet darin eine schwerwiegende Verletzung des Prinzips gleicher Freiheiten, die es im Namen der Freiheit Aller zu heilen gilt. Die gleiche Begabung aller Menschen zur Freiheit resultiert hier in der notwendigen Zuerkennung gleicher Freiheitsrechte. Aber damit diese Rechte Geltung erlangen können, genügt es nicht, sie einzelnen Individuen als Besitz zuzuerkennen. Vielmehr gilt es auch, die Freiheit des ganzen Gemeinwesens durch eine freie Verfassung zu bewahren, wovon die Texte dieses Abschnitts ebenso Zeugnis geben. Mit den Revolutionen in Amerika und Frankreich wurde das politische Denken Condorcets zugleich mit den Möglichkeiten und den Gefahren politischen Handelns konfrontiert. Während die amerikanische Revolution das große Vorbild einer konstitutionellen Ordnung darstellt, so wird mit dem Verlauf der französischen Revolution auch die

Einleitung

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Bedrohung deutlich, die in der Form des gewaltsamen politischen Umsturzes ebenso angelegt ist wie die Chance zur Freiheit. Eine wahre Revolution, so die Vorwegnahme der republikanischen Einsicht Hannah Arendts, kann nur in einer institutionell gesicherten Form der Freiheit münden. Der revolutionäre Moment bedarf der constitutio libertatis, um das einmal freigesetzte Potential politischen Handelns auf Dauer zu stellen. Die angemessene Form einer solchen modernen Freiheitsordnung erblickt Condorcet nach amerikanischem Vorbild in der Verfassung. Mit der Verfassung wird nicht nur die Freiheit auf Dauer gestellt, sondern auch der gewaltsame Druck der Revolution in eine Rechtsform gegossen, mit der die vergessenen natürlichen Rechte des Menschen wieder sichtbar werden. Die Teilhabe der Bürger wird institutionell gesichert, damit der Umsturz überflüssig wird. Durch die Sozialisationseffekte einer freiheitlichen und demokratischen Verfassung trägt eine solche politische Ordnung zugleich dazu bei, die gewaltbereiten Massen, den „Pöbel", zu einem wahren Volk der Bürger zu transformieren. 8 Dabei vertraut Condorcet jedoch nicht auf die quasiexistenzielle Verwandlung des rousseauschen Gemeinwillens, sondern setzt auf eine liberale Lösung: Ein rechtlich gestaltetes, fein gegliedertes Institutionengefüge soll die unartikulierte Beteiligung der Revolution in eine differenzierte und vernünftige Artikulation des Gemeinwohls überführen. Zugleich gilt es, neben diesem institutionellen Mechanismus der demokratischen Partizipation dafür zu sorgen, über staatlich-öffentliche Bildung das Vernunftpotential der Bürger freizulegen und damit die Voraussetzungen fur eine aufgeklärte Urteilsfähigkeit zu schaffen. Condorcets politisches Denken kann daher nur verstanden werden, wenn man die zentrale Bedeutung seines Schulentwurfes im Blick behält, der im Unterschied zu den jakobinischen Vorstellungen gerade nicht auf die Indoktrination staatsbürgerlicher Tugenden und Werte setzt, sondern auf die Ermöglichung einer freien Urteilskraft. 9

a) Freiheit Zur

Sklavenfrage

Condorcets Position in der Sklavenfrage wendet die Freiheitsidee der Aufklärung ins Praktische. Seine Schrift zeigt deutlich, dass es ihm nicht in erster Linie um die Begründung abstrakt-rationaler Prinzipien geht, sondern um die Lösung politischer Probleme durch eine theoretisch fundierte Urteilsfähigkeit. Obgleich Condorcet in seinen Urteilskriterien beständig auf die Leitideen der Aufklärung - die Vernunft, die Gerechtigkeit, die Natur - zurückgreift, so bilden diese Begriffe doch nur den perspektivischen Schnittpunkt, aus dem heraus die konkrete Frage der Freiheitsgefährdung diskutiert wird. Condorcet war in diesem Zusammenhang nicht nur als Autor aktiv. Als Mitglied und

8

9

Zur Ambivalenz des Begriffs „Volk" zwischen friedlichem „peuple" und aufständigem „populace" und die Bedeutungsverschiebung von den frühen zu den revolutionären Schriften bei Condorcet vgl. Reichardt 1973: 170ff. Der Entwurf zu einem republikanischen Schulwesen ist auch heute noch ein Referenztext in der französischen Erziehungsdebatte. Vgl. Condorcet 1966; Coutel 1999, Coutel 1999a, Alt 1949.

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zwischenzeitiger Vorsitzender der 1788 gegründeten Société des amis des noirs formierte er zugleich eine politische Lobbygruppe, um fur die Abschaffung der Sklaverei die notwendige Unterstützung zu mobilisieren. Er steht damit in einer Reihe mit den großen Namen der Geschichte des französischen Abolitionismus: Necker, der protestantische Pastor Benjamin Sigismond Frossard, bis hin zu Tocqueville und Victor Schoelcher. Die Argumentation des Textes hat zwei Ebenen: eine klassische Formulierung des liberalen Vorrangs der Menschenrechte, und eine republikanische, die mit der Semantik der Sklaverei auch die Frage nach der Freiheit des Gemeinwesens thematisiert. Ziel dieser beiden Ebenen ist es, geleitet von der Vernunft und den „Gesetzen der Gerechtigkeit" (S. 53) die „Verteidigung der menschlichen Freiheit" zu unternehmen, die sowohl dem modernen Recht des Individuums als auch dem republikanischen Verständnis einer gemeinschaftlich gesicherten Freiheit genüge tut. Auf der liberalen Ebene betont Condorcet daher den Vorrang der Menschenrechte vor dem positiv gesetzten Recht und der demokratischen Souveränität. Auch wenn die öffentliche Meinung, die Sitten und Gewohnheiten eines Landes eine rechtlich positivierte Sklaverei dulden, so ändert dies nichts am Verstoß gegen die allgemeinen Prinzipien des rationalen Naturrechts: „Und würde die gesamte Menschheit in jener Meinung übereinstimmen, und hätte das versammelte Menschengeschlecht einstimmig jenes Gesetz beschlossen. Das Verbrechen bliebe doch immer ein Verbrechen!" (55) „Jeder Gesetzgeber [...] ist den Gesetzen der natürlichen Moral unterworfen. Ein ungerechtes Gesetz, das die Menschenrechte verletzt, ob es die der Bürger einer Nation oder die von Fremden sind, ist ein Verbrechen, das der Gesetzgeber begeht und bei dem alle Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft, die dem Gesetz zugestimmt haben, sich zu Komplizen machen." (59) Condorcet postuliert hier daher eine „Strategie der Transzendenz",10 die der Selbstgesetzgebung klare Grenzen aufzeigt indem sie bestimmte liberale Prinzipien der Verfügbarkeit auch des demokratischen Gesetzgebers entzieht. Die Wahrung der Menschenrechte wird somit zum liberalen Telos des politischen Gemeinwesens: „Politische Gesellschaften können keinen anderen Zweck haben, als den Schutz der Rechte ihrer Mitglieder. Daher ist jedes Gesetz, das dem Recht eines Bürgers oder eines Fremden entgegensteht, ein ungerechtes Gesetz" (60). Auch durch Nützlichkeitserwägungen kann die Sklaverei nicht gerechtfertigt werden, da die Menschenrechte nicht nur jenseits des gesetzgeberischen Zugriffs stehen, sondern auch über dem utilitaristischen Wohlfahrtskalkül. Der vermeintliche Zuwachs an Gesamtwohlfahrt kann daher keine Begründung fur einen Freiheitsverlust einiger Mitglieder der Gesellschaft liefern, da Wohlfahrt nicht auf der selben normativen Ebene liegt wie die individuelle Freiheit - ein Zuwachs an Wohlfahrt Aller kompensiert somit keinen Verlust an Freiheit Weniger (61). Die Sklaverei widerspricht also gleich mehrfach den natürlichen Freiheitsrechten des Menschen: Zunächst verstößt sie gegen das Recht auf Selbstbestimmung der Person. Der Sklave verliert jedoch noch mehr: Da er durch den Sklavenhalter der Früchte seiner

10 So der - dort auf Benjamin Constant angewandte - Begriff von Kalyvas/Katznelson 2008: 146.

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Arbeit beraubt wird, stellt die Sklaverei auch eine Verletzung des Rechtes auf Eigentum dar. Die extreme Ungleichbehandlung des Sklaven bedeutet zudem einen Verstoß gegen das gesetzliche Willkürverbot. Schließlich, da keinerlei Möglichkeit auf juristische Hilfe besteht, verletzt die Sklaverei das Recht, gegen Verletzung der individuellen Rechte die Hilfe des Gesetzes anzurufen. Neben diesen liberalen Elementen besitzt der Text jedoch auch eine deutlich republikanisch geprägte Argumentationsebene. So hält Condorcet den rassistischen oder ethnischen Erklärungsmustern für die Entstehung der Sklaverei entgegen, dass deren Unfreiheit nicht durch die Natur der Afrikaner, sondern vielmehr durch die schlechten Gesetze begünstigt wurde, denen sie unterworfen sind. Die Unfreiheit und die schlechten Gesetze machen die Menschen zu Sklaven, nicht ihre Natur. Sklavische Mentalität ist daher nicht die Ursache, sondern das Ergebnis von Unfreiheit (62). Zudem ist ein Gemeinwesen nur dann frei zu nennen, wenn seine Gesetze aus dem Gemeinwillen aller Bürger hervorgehen (82f.). Gleichzeitig aber muss jeder Bürger „im Genuss seiner Rechte sein", die nicht allein gegen die Staatsgewalt gerichtet sind, sondern ebenso gegen die Willkür anderer Menschen (ebd.). Damit wird der Gedanke aufgegriffen, dass Freiheit nicht allein in der Abwesenheit von Eingriffen besteht, sondern auch in einer konstitutionellen Ordnung, die jegliche potentielle Willkür bändigt und damit bei den Bürgern Verhaltensdispositionen erzeugt, die gerade nicht durch die Angst vor willkürlichen Eingriffen konditioniert sind (Pettit 1999). Gelebte Freiheit entsteht vielmehr aus einer stabilen Erwartungssicherheit. Gerade die durch die Sklaverei verursachten langfristigen Verletzungen sind es jedoch, mit denen auch jede Form der freiheitssichernden zwischenmenschlichen Anerkennungsstrukturen zerstört wurden, die traditionell vom republikanischen Denken als vorpolitische Geltungsressourcen des Gemeinwesens thematisiert worden sind. Diese Einsichten bestärken Condorcet gleichwohl in seinem Vorschlag zur stufenweise Befreiung der Sklaven, der von der aufklärerischen Skepsis gegenüber denjenigen geprägt ist, denen die vernunftgemäßen Gewohnheiten und Überzeugungen fehlen und die erst in staatlicher Obhut zur Freiheit erzogen werden müssen. Daher beruht sein Plan auch an einer entscheidenden Stelle eher auf dem Prinzip der öffentlichen Ordnung und Sicherheit als auf dem der allgemeinen und gleichen Freiheit: In Abwägung dieser Prinzipien optiert er für eine starke wohlfahrtsstaatliche Flankierung des Befreiungsprozesses über mehrere Jahrzehnte und offenbart auch hier seine vor 1789 deutlich ausgeprägte Vorliebe für langfristig angelegte und rational geplante Reformen gegenüber dem radikalen und revolutionären Bruch, der in seinen Augen eine unkontrollierbare Komponente aufweist und damit die Sicherheit und Stabilität der Ordnung bedroht. Erst Tocqueville sollte einen ganz anderen Schluss aus diesem Dilemma ziehen, welches sich zwischen der gesetzlich positivierbaren Freiheit Aller, und deren doch weitgehend unverfugbar bleibenden soziomoralischen Geltungsvoraussetzung auftut: Erst die Erfahrung der Freiheit selbst erzieht die Menschen zu freien Bürgern und schafft damit ihre eigenen Voraussetzungen."

11 Tocqueville 1866, 230. Im postkolonialen Diskurs wird die Bedeutung der Aufklärung für die Abschaffung der Sklaverei daher sehr kritisch beleuchtet: vgl. Sala-Molins 2008.

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Der Text offenbart schließlich eine Einsicht in die tiefgehende Verknüpfung des semantischen Potentials der Aufklärung mit konkreten politischen Kontexten und Problemen. Die Thematik der Sklaverei, die bereits in der republikanischen Semantik zum negativen Kern des Freiheitsverständnisses gehörte, erfährt durch ihren Gegensatz zu den Menschenrechten eine liberale Weiterung: In ihrer konkreten Existenz stellt die Sklaverei die extremste Form der Menschenrechtsverletzung dar. Als Anschauung einer durch schlechte Gesetze erzeugten menschlichen Unfreiheit bleibt sie zudem Teil der republikanischen Symbolik, in der die Bedrohung des freien Gemeinwesens durch die Bindung an fremde Herren zum Ausdruck gebracht wird. Während aber der klassische Republikanismus mit der realen Existenz von Sklaven kaum Probleme hatte, da die Freiheit der untereinander gleichen Bürger gerade auf einer starken Differenz zu Fremden, Frauen und Sklaven aufbaute, so erzeugt erst die Verbindung mit dem spezifisch modernen Gedanken der gleichen Freiheiten aller Menschen eine praktische Handlungsdynamik, die den Aufklärer Condorcet und viele andere zu Unterstützern des Abolitionismus werden ließen. Der Begriff der Despotie Condorcet bringt in der Frühphase der Revolution einen Begriff der Despotie in die Diskussion ein, der vieles von dem vorwegnimmt, was spätere liberale Autoren wie Constant oder Tocqueville als spezifisch moderne Form der Unfreiheit bezeichnet haben. Die Tyrannei der Mehrheit ist demnach ein Untertypus dessen, was für Condorcet zum Kern einer despotischen Ordnung gehört: Der freie Geist eines öffentlichen Gemeinwesens hat sich verflüchtigt, die egalitäre Beziehung zwischen den Bürgern ist durch eine Herrschaft eines oder vieler Despoten über sklavische Wesen abgelöst worden. Condorcet löst den Begriff damit von der Fixierung auf eine einzelne tyrannische Herrscherperson und zeigt die vielfaltigen Möglichkeiten auf, durch die moderne politische Ordnungen ihre Freiheit verlieren können. Gemeinsam haben diese despotischen Formen, dass anstelle eines gewaltenteiligen Geflechtes der politischen Macht eine Vorstellung absoluter Verkörperung tritt, in der sich die Souveränität an einem Punkt, in einer Person, in einer Institution, in einer sozialen Gruppierung konzentriert. Condorcets Unterscheidung von direktem (oder rechtlichem) und indirektem (oder tatsächlichem) Despotismus beruht auf der Überzeugung, dass in einem freien Gemeinwesen Herrschaft nur durch Gesetze legitimiert sein kann und jede nichtgesetzliche Form der Herrschaft freiheitsgefährdend ist. Zu einer solchen illegitimen Macht zählt Condorcet die Herrschaft einer Klasse von Bankiers und Finanzgebern, des Pöbels, der Armee, der Priester, aber auch der konstituierten Gewalten wie Exekutive, Legislative und Judikative, sobald diese durch ungebührliche Abkapselung nach Außen das legitimierende Kennzeichen ihrer Repräsentativität eingebüßt haben. Gegen diese despotischen Formen wirken unterschiedliche Maßnahmen der komplexen Gewaltenteilung: Gegen den Despotismus der Legislative hilft ein möglichst repräsentativitätsstiftender Wahlprozess nach klar gegliederten Bezirken und nachvollziehbaren Verfahrensgrundsätzen. Gegen den Despotismus der Regierung hilft eine weitgehende

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Stärkung der Legislative, die das Fiskalrecht und die Autonomie über ihre Sitzungsperiode erhalten soll. Gegen den Despotismus einer bestimmten Klasse von Bürgern hilft der möglichst freie Zugang zu allen öffentlichen Ämtern unabhängig von jeglicher Form der Abstammung und Privilegien - womit Condorcet das von John Rawls in die Diskussion gebrachte liberale Prinzip des freien Ämterzugangs für eine gerechte Grundordnung vorwegnimmt: „Keine Nation in der es einen gesetzlich bestellten Genealogen gibt, kann eine freie Nation sein" (97). Gegen den Despotismus der Priester helfen die Freiheit der Religion und deren Pluralisierung sowie die Pressefreiheit, die dem Klerus das Monopol öffentlicher Meinungsbildung streitig macht. Der Despotismus der Gerichte kann nach Condorcet durch eine Wahl der Richter auf Zeit sowie durch die Trennung von Straf- und Zivilgerichten gebrochen werden. Außerdem empfiehlt er eine möglichst textnahe juristische Interpretationsmethode, die den Handlungsspielraum der Richterschaft beschränkt und diesen damit nicht erlaubt, eine eigene politische Agenda zu verfolgen. Die Armee muss zudem durch eine möglichst wirksame Untergliederung in verschiedene Regimenter als eigener Machtfaktor neutralisiert werden. Zentral ist jedoch die Frage nach dem Despotismus des Pöbels. Condorcets Lösung dieser Gefahr ist wiederum eine Mischung aus liberalen und republikanischen Antworten: Bildung und Handelsfreiheit wirken zusammen als eine „Zähmung der Leidenschaften" (Hirschman 1987). Zugleich jedoch stützt sich eine liberal-republikanische Ordnung auf ein institutionell gegliedertes System der Beteiligung, welches eine autoritäre Kontraktion des Volkes zum Mob verhindert und den Ausdruck seiner Vielstimmigkeit sichern soll. Der unkontrollierte, spontane und gewaltsam-despotische Aufruhr der Massen soll damit überführt werden in einen rechtlich geregelten, konstitutionellen Zustand der politischen Partizipation. Dies hilft nicht nur der Wahrung der öffentlichen Sicherheit, sondern ermöglicht auch eine rationale Verfolgung der eigenen Interessen des Volkes durch eine geregelte und klare Artikulationsmöglichkeit. Schließlich geht dieser Text auch auf den deutlichen Unterschied zwischen der alten und der modernen Republik ein: Während die alten Republiken zwar eine wohleingerichtete Verfassung besessen haben, habe dies nicht die Existenz freiheitsgefährdender Strukturen verhindert. Die gesetzliche Festschreibung von Blasphemie als Straftat und die Beschränkung des Handels stellen so allesamt Verletzungen der modernen individuellen Rechte dar. Freie Gemeinwesen dagegen schützen sich gegen diese Beschränkung durch eine Erklärung der Menschenrechte sowie ein rechtliches Verfahren, sich über diese Rechte zu verständigen. Darin liegt auch hier wiederum die Doppelbedeutung einer Verfassung der Menschenrechte offen: Zum einen handelt es sich um den Schutz der individuellen Rechte, aber erst in der gemeinsamen Verständigung über diese Rechte liegt die Garantie für die Freiheit des ganzen Gemeinwesens (102f.). Zur Frauenfrage Condorcet war einer der ersten, der sich offen für das Bürgerrecht der Frauen eingesetzt hat. Er gehört daher mit seinem Text neben Olympe de Gouges {Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne, 1791) in Frankreich sowie Mary Wollstonecraft (A Vindi-

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cation of the Rights of Women, 1792) und Jeremy Bentham zu den Gründerfiguren des modernen Feminismus. In diesem Text kommt am Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine Position zum Ausdruck, die weder an Klarheit noch Konsequenz zu wünschen übrig lässt: Wenn die mit der Revolution proklamierte Gleichheit der Rechte konsequent umgesetzt werden soll, dann gibt es keinen vernünftigen Grund, warum Frauen von diesen Rechten ausgeschlossen werden sollten. Der Text beginnt mit einer paradigmatischen Aussage zum Rechtsverständnis Condorcets: „Die Gewohnheit kann den Menschen die Verletzung ihrer natürlichen Rechte so alltäglich werden lassen, dass niemand, der diese Rechte verloren hat, mehr daran denkt, sie einzufordern oder meint, dass ihm Unrecht widerfahren sei" (108). Dieser Satz, in dem die Präambel der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 nachklingt, entfaltet das ganze kritische Potenzial der rationalen Naturrechtslehre, eingelebte Strukturen der Ungleichheit aufzuzeigen, die sich in das Gewand natürlicher Selbstverständlichkeit kleiden. Entgegen der republikanischen Betonung eingelebter Gewohnheiten und Sitten als tragende Grundlage eines tugendhaften Gemeinwesens verweist Condorcet auf den Prüfstein der Vernunft, an dem sich eingelebte Traditionen eines freien Gemeinwesens messen lassen müssen. Gegen die „Macht der Gewohnheit" entfaltet Condorcet konsequent das Prinzip der Rechtsgleichheit. Der Ausschluss der Frauen vom Bürgerrecht kann sich auf keinen überzeugenden Grund stützen, da das weibliche Geschlecht ebenso wie das männliche von der Vernunft geleitet werden kann wo dies nicht der Fall ist, kann allein die Erziehung und die „gesellschaftliche Existenz" dafür verantwortlich gemacht werden, nicht jedoch die Natur oder das weibliche Wesen: „Warum sollten Wesen, die Schwangerschaften und vorübergehenden Unpässlichkeiten ausgesetzt sind, nicht Rechte ausüben, die man niemals Leuten vorenthalten würde, die jeden Winter Gicht haben und sich leicht einen Schnupfen holen?" (108) Eine freie Verfassung beruht daher auf einer gleichen Gewährung von Rechten, an der Entstehung der Gesetze mitzuwirken. Dennoch zeigt sich auch hier für die Bürgerrechte eine Ambivalenz in Condorcets Position, die aus seiner Nähe zu den physiokratischen Überlegungen der vorrevolutionären Zeit herrührt: Einerseits wird im Namen der rationalen Prinzipien eine radikale Ausweitung auf diejenigen Gruppen gefordert, die bislang von jeglichen politischen Rechten ausgeschlossen waren. Anderseits jedoch steht dieser Inklusionsbemühung eine strenge Beschränkung der Bürgerrechte auf die Besitzenden von Grundeigentum gegenüber. Bereits in seinem Reformentwurf einer Verfassung des Alten Regimes hatte Condorcet seine Liberalisierungsvorschläge an diesen Besitzvorbehalt gebunden, der mit dem Verlauf der Revolution nur langsam von einer Konzeption abgelöst wird, die das Bürgerrecht ohne Ansehen der Vermögensverhältnisse verleiht. Ähnlich wie andere Aufklärer seiner Zeit - Kant ist mit seinen Vorbehalten gegenüber dem Bürgerrecht für Personen in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen ein bekanntes Beispiel - sieht Condorcet die materielle Basis des Eigentums als eine Möglichkeitsbedingung dafür, ein autonomes politisches Urteilsvermögen zu entwickeln. Der Universalisierungsdruck, der mit den Prinzipien der Revolution freigesetzt wurde, führte jedoch dazu, dass auch Condorcet nach und nach seine Position revidierte.

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Zudem findet sich hier noch eine skeptische Einschätzung der breiten Aktivbürgerschaft: Für welche Verfassungsform man sich auch entscheide, beim heutigen Stand der Zivilisation in Europa sei es nur von einer sehr kleinen Zahl von Bürgern zu erwarten, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen (111). Aus dieser Äußerung geht hervor, wie sehr sich auch Condorcets Einschätzung der demokratischen Partizipationsmöglichkeiten im Laufe der Revolution verändert hat. Erst der Verfassungsentwurf von 1793 sollte schließlich das Zeugnis der demokratischen Öffnung für eine möglichst großen Teil der Gesellschaft werden - auch wenn die Grundsätze der bürgerlichen Partizipation bereits weit vorher zu den Grundüberzeugungen Condorcets gehörten, wurden sie erst hier mit dem allgemeinen Wahlrecht für alle Männer ab 21 Jahren von den zahlenmäßigen Beschränkungen befreit. Angesichts des - nicht enthaltenen - Bürgerrechtes für Frauen wurde es jedoch auch ein Dokument des Scheiterns gegenüber den Vorurteilen der Zeitgenossen. Von der Natur der politischen Gewalten in einer freien Nation Mit dem weiteren Verlauf der revolutionären Verfassungsdiskussion nimmt auch Condorcets Versuch Konturen an, die Möglichkeit einer politischen Selbstbestimmung mit der Existenz individueller Rechte zusammenzudenken. Das hier vorliegende Ergebnis dieses Versuches kann als eine liberale, naturrechtlich fundierte Kritik des demokratischen Voluntarismus bezeichnet werden, die gleichwohl an den der Demokratie zugrunde liegenden Leitideen festhält. Der Lösungsvorschlag, den Condorcet für das Spannungsverhältnis von Demokratie und Liberalismus unterbreitet, besteht in einer demokratischen Selbstbeschränkung durch institutionelle Formen. Der demokratische Mehrheitswille bedarf zwar neben der Gleichheit der Rechte keiner weitreichenden inhaltlichen Kriterien, um legitimerweise die Minderheit auf die Ergebnisse dieser Mehrheitsentscheidungen verpflichten zu können - jedoch sind die Bindung an prozedurale Entscheidungsformen für eine solche Legitimität unabdingbar. Notwendige Grundlage für ein demokratisches Handeln ist nach Condorcet eine gemeinsame Handlungsregel und die Gleichheit der Rechte. Beides wird auf der konstitutionellen Ebene verwirklicht. Erst mit der Zustimmung zu den konstitutionell festgelegten Entscheidungsprozeduren kann eine demokratisch legitime Bindungswirkung für die im politischen Prozess überstimmten Minderheiten erwartet werden. Condorcet orientiert sich nicht an der klaren begrifflichen Unterscheidung von konstituierender, verfassungsgebender, und konstituierter, verfasster Gewalt wie sie Sieyes in seiner bekannten Flugschrift über den Dritten Stand wenige Jahre zuvor in die Verfassungsdiskussion eingeführt hatte (Sieyes 2010). Vielmehr macht er deutlich, dass auch im verfassten Zustand die Möglichkeit besteht, die konstituierende Gewalt zur Änderung der Verfassung anzurufen, ohne dass dadurch notwendigerweise eine Totalrevision der geltenden Verfassung oder gar eine revolutionäre Neugründung impliziert wäre. Zentral für seine Argumentation ist hingegen die Unterscheidung zwischen der direkten Mehrheitsentscheidung und der indirekten, durch Verfahren der Repräsentation vermittelten Entscheidung in politischen Körperschaften. Seine konstitutionellen Ordnungs-

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ideen beruhen nun auf dem Versuch der Koppelung beider Elemente durch die Integration direkter Interventionsmöglichkeiten der Bürger, die auf diese Weise in einen Dialog mit ihren Abgeordneten eintreten. Damit wird eine starre Alternative von imperativem und freiem Mandat umgangen zugunsten eines dialogischen Verhältnisses, in dem sowohl die stellvertretenden Akteure der Bürger als auch die Bürger selbst zu Wort kommen können. Die Semantik vom „Syllogismus", in dem der Regierung die Verbindung von gesetzlichem Obersatz und empirischem Untersatz zukommt, spiegelt hingegen Condorcets Rationalismus in einem revolutionären Kontext, der einer für sich existierenden Exekutive im Rahmen der Gewaltenteilung mit größter Skepsis begegnete. Besonders hervorzuheben ist zudem die Erörterung, die Condorcet der Frage der Geltungskraft der Gesetze widmet. Diese Äußerungen bilden einen Kommentar zu Rousseaus Satz, dass das Gesetz die Bürger zur Not auch zwingen kann, frei zu sein (Rousseau 1986, Buch I, Kap. 7). Das Gesetz bedarf zwar der polizeilichen Gewalt, um sich auch gegen vereinzelte Widerstände Geltung zu verschaffen - aber nur die Verankerung des Gesetzes in den soziomoralischen Überzeugungen macht letzten Endes die dauerhafte Geltung der Gesetze möglich. Die freiheitliche Dimension dieser Gesetzesherrschaft besteht jedoch auch hier nicht allein im Inhalt der Gesetze, sondern Condorcet verweist zu Recht auf die geltungsstifitende Kraft der demokratischen Genese: „Doch was vor allem ein freies Volk an die Gesetze binden muss, [...] das ist die tiefe Überzeugung, dass es, wenn es will, die Änderung dieser Gesetze durchsetzen kann, vor allem aber die Änderung der verfassungsmäßigen Regeln" (123). Hieraus folgt der konstitutionelle Mechanismus der Bürgerbeteiligung, der als Garant für die dauerhafte Geltung der Verfassung verstanden wird, da die Möglichkeit des Verfassungswandels reflexiv in die konstitutionelle Ordnung integriert wurde. Entscheidend ist nun, dass Condorcet hier in seiner Demokratisierung der konstitutionellen Ordnung ein zentrales liberales Element aufrecht erhält: Die Grenze hin zu einer Realpräsenz des Souveräns innerhalb der konstituierten Ordnung darf um der Freiheit Willen nicht überschritten werden - lediglich eine schrittweise, mit der Bildung und Urteilsfähigkeit der Bürger zunehmende Annäherung an diese Grenze wird befürwortet, ohne dass damit jedoch eine spätere Entgrenzung in Aussicht gestellt würde. Condorcet beharrt also auf der prinzipiellen Unverfügbarkeit, auf der Entzogenheit des Souveräns in der konstitutionellen Demokratie. Jede institutionelle Annäherungsmöglichkeit an das regulative Prinzip der Volkssouveränität muss sich daher darüber im Klaren sein, eine vollkommene Identität nur um den Preis einer antiliberalen Transgression erreichen zu können. Den Jakobinern wird hingegen indirekt die „Verwechselung des Rechts, den Souverän anzurufen, mit dem Recht der Souveränität" vorgeworfen (124). Damit aber überschreiten sie die Grenze, die Condorcet als Garant eines freien Gemeinwesens aufgezeigt hat. Der drohende Freiheitsverlust durch radikale Entgrenzung ist nur aufzuhalten, wenn die Verfassung selbst diese Grenze nicht starr, sondern dynamisch begreift und damit die Möglichkeit zur geregelten Artikulation des Bürgerwillens schafft.

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b) Revolution Die Amerikanische

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Die Amerikanische Revolution wird von Condorcet ohne Einschränkungen begrüßt. Eine revolutionäre Umwälzung der politischen Ordnung wird jedoch für die alte Welt noch nicht als eine wünschenswerte Entwicklung betrachtet. Die amerikanische Revolution bringt demnach eine ganze Reihe von Veränderungen im transatlantischen Verhältnis hervor, deren Wirkung auf Europa und insbesondere auf Frankreich hier thematisiert wird.12 Zunächst aber zeigt Condorcet hier erneut, dass ein utilitaristisches Kalkül für die Bestimmung des menschlichen Glücks und einer guten Gesellschaft auf Abwege führt, die auch in republikanischen Diskursen zu gefährlichen Verirrungen führen können. Wenn nämlich der Zustand einer gesellschaftlichen Ordnung nach der Summe oder dem Mittelwert des individuellen Glücks bestimmt wird, so liegt eine Konsequenz nahe, die Condorcet hier den „alten und neuen Republikanern" vorwirft: die Maxime, „dass die kleine legitimerweise der größeren Zahl geopfert werden darf (130). Dieser visionären, einige Jahre vor der jakobinischen Terrorherrschaft der Guillotine geübten Kritik stellt Condorcet ein alternatives Modell der guten Ordnung gegenüber, welches sich nicht an einer Substanz des Guten oder einem Endzustand der guten Gesellschaft bemisst, sondern sich an den „allgemein verfugbaren Mittel[n] und Wege[n] zum Glück" orientiert. Es geht ihm also keineswegs um eine staatlich-paternalistische Beglückungstheorie, sondern um eine in erster Linie liberale Vorstellung von den Möglichkeiten einer guten Verfassung in der modernen Gesellschaft. Diese muss auf dem Vorrang der individuellen Rechte vor einem kollektiven Glücksverständnis beruhen, wenn nicht die Logik des Minderheitenopfers in Gang gebracht werden soll. Zudem besteht Condorcet auf der gleichmäßigeren Verteilung von materiellen Gütern, die der Bedürfnisbefriedigung dienen und somit den „freien Genuss der natürlichen Rechte" erst für alle Bürger ermöglichen. Aufschlussreich für Condorcets Entwicklung in der vorrevolutionären Phase seines Denkens ist auch hier wiederum die Einschränkung demokratischer Rechte. Neben den Rechten auf die Sicherheit der Personen und des Eigentums, sowie dem Recht, lediglich allgemeinen Gesetzen unterworfen zu sein, nennt Condorcet an vierter Stelle das Recht, „direkt oder durch Repräsentanten an der Ausarbeitung dieser Gesetze und an allem, was im Namen der Gesellschaft getan wird, mitzuwirken" (ebd.). Obwohl „eifrige Republikaner" dieses Recht für das wichtigste von allen gehalten haben, betrachtet es Condorcet hier noch als ein Ziel, „dem es sich anzunähern gilt". In einer großen Gesellschaft scheint es, als müsse dieses Recht den meisten Bewohnern vorenthalten werden. Der Grund dafür liegt nach Condorcet in der Gefahr, die von der Unwissenheit und den Vorurteilen der breiten Bevölkerung für eine vernünftige Gesetzgebung ausgehen. Erst

12 Der Text wird prominent von Hannah Arendt als letztes Zeugnis der transatlantischen Gemeinschaft zitiert, die sich in der Folge rasch auseinander entwickelt habe (Arendt 1968: 217f.).

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durch schulische Erziehung kann daher ein Niveau erreicht werden, dass eine Beteiligung Aller an den politischen Rechten erlauben würde. Dass aus diesen Zeilen jedoch keine prinzipielle Ablehnung dieser politischen Rechte spricht, zeigt Condorcets Einschätzung der „weisen Republikaner" Amerikas. Die Vereinigten Staaten bieten aus seiner Sicht das „Beispiel eines großen Volkes", dass sich eine freie, den natürlichen Menschenrechten entsprechende Verfassung gegeben habe. Da die Aufklärung und die Beseitigung von Vorurteilen und Aberglauben hier bereits sehr weit vorangeschritten sei, stelle hier die Existenz der politischen Beteiligungsrechte genau die Garantie aller anderen Rechte dar, die sie in den Augen des republikanischen Denkens idealerweise einnehmen sollte. Anders als Montesquieu sieht Condorcet die amerikanische Verfassung auch nicht an die klimatisch-kulturellen Voraussetzungen gebunden, sondern betont den universalen Charakter der natürlichen Rechtsprinzipien.13 Zunächst aber bietet die Existenz eines freien und aufgeklärten Gemeinwesens Anschauungsunterricht für die absolutistischen Monarchien Europas. Durch die von nun an bestehende Möglichkeit der Emigration werden diese Staaten fortan dazu angehalten, sich durch Reformen zu liberalisieren, wenn sie ihre bürgerlichen Eliten nicht durch Auswanderung verlieren wollen. Die in Amerika entstandene kritische Instanz der öffentlichen Meinung sorgt zudem dafür, dass auch in Europa das Vorurteil zerstört wird, nachdem öffentliche Kritik das Gemeinwesen schwächt und nicht stärkt. Neben diesem Lob des „Gerichtshofs der öffentlichen Meinung" macht Condorcet jedoch auch einen sehr konkreten Vorschlag, wie die friedensstiftende Kraft des Rechts und des freien Handels das neue transatlantische Verhältnis zivilisieren kann: Die Idee eines internationalen Gerichtshofs zur Schlichtung von Streitigkeiten ist in diesem Zusammenhang in der Tat revolutionär für das damalige Völkerrecht. Eine annähernde Realisierung fand eine solche Institution erst mit dem Jay Treaty 1794 zwischen England und den USA, welches eine paritätisch besetzte Kammer zu Schlichtung binationaler Streitigkeiten vorsah und damit erstmals eine Idee übernationaler Gerichtsbarkeit zu verwirklichen suchte. Die moderne Idee einer kodifizierten Kriegsordnung wurde in Europa jedoch erst mit den Genfer Konventionen umgesetzt. Condorcets Ausführungen zu den ökonomischen Aspekten des amerikanisch-europäischen Verhältnisses zeigen ihn zudem als Verfechter des Freihandels und als Kritiker des merkantilistischen Modells, ohne das sich jedoch daraus eine wirtschaftsliberale Apologetik des unregulierten Marktes ableiten ließe. Dazu ist seine republikanische Prägungen mit dem Vorrang des Politischen und der regulativen Herrschaft des Gesetzes zu stark ausgeprägt. Das „laissez faire" richtet sich daher lediglich gegen die merkantilistische Überregulierung, nicht jedoch gegen einen Vorrang politischer und rechtlicher Normen gegenüber anarchischen Marktstrukturen.

13 Vgl. seine frühe Auseinandersetzung mit Montesquieu in Condorcet 1821.

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Die Auseinandersetzung mit den Jakobinern Mit der Revolution hat in Frankreich ein neuer Akteur seinen politischen Auftritt: Nachdem zunächst mit der Nation ein neuer, legitimationsstiftender Leitbegriff gefunden wurde, erhält dieser Begriff schnell Konkurrenz durch das Volk. Anders als die Nation, die von Beginn als ein in erster Linie durch Repräsentation bestehendes Kollektiv gedacht wird, changiert das Volk zwischen dem symbolischen Imaginären eines Legitimationsbegriffes und der konkreten Erscheinung als soziale Gruppe. Für Condorcet, der nach anfänglicher Skepsis seine konstitutionellen Ideen der Volkssouveränität zu öffnen beginnt, kristallisiert sich mehr und mehr eine zentral Frage heraus: Wie kann das Volk in die neue politische Ordnung integriert werden, ohne alle Macht in den Händen einer sozialen Gruppe zu konzentrieren und damit die Freiheit des Gemeinwesens insgesamt zu gefährden? Zwar stellt die Revolution 1789 mit Sieyes die Nation an die Stelle des zentralen Legitimitätsgaranten, aus dessen Mitte alle politische Macht des Gemeinwesens hervorgeht - j e d o c h bedeutet diese Umstellung der Legitimität keine Ermächtigung der breiten Allgemeinheit. Vielmehr bleiben die aktive und passive Bürgerschaft starken Restriktionen unterworfen. Spätestens mit dem Sturm auf die Bastille tritt jedoch ein neuer Akteur auf. Das Volk, bislang von der politischen Theorie mit abwertenden Begriffen wie Pöbel, Mob etc. belegt, findet Fürsprecher bei den Radikalsten der Revolutionäre: Unter Berufung auf Rousseau predigen Marat, Danton und Robespierre das neue Subjekt als Quelle aller Macht, als den wahren Souverän. Condorcet hat zu diesen radikal-demokratischen Positionen stets Distanz gehalten (Sakmann 1903), da er den Vorrang institutioneller Verfahren anstelle einer unkontrollierten Eruption politischer Macht betonte. Der Titel der Schrift Der wahre und der falsche Volksfreund sowie die in ihr enthaltenen Namen sind für jedermann erkennbare Anspielungen auf die Bergpartei (die orthodoxen - Mönche vom Berg Athos) und insbesondere auf Jean-Paul Marat und seine seit 1789 nahezu täglich erscheinende Zeitung L'ami du peuple. Bereits seit einem an Condorcets Widerspruch gescheiterten Versuch Marats, 1779 mit einer gegen Newton gerichteten Schrift in die Académie des Sciences aufgenommen zu werden, sind sich beide ihrer konträren Positionen bewusst und Condorcet wurde immer wieder Ziel von Marats Attacken (Badinter 1990: 166ff, 362). Die umgekehrte Kritik Condorcets an Marats und Robespierres Politik der Gewalt zieht sich durch die gesamte Revolutionsphase bis hin zu seiner Kritik der jakobinischen Verfassung und ihren Verteidigern: „diesen Männern, die ständig dem Volk schmeicheln, die ihm wiederholt seine Größe und Unfehlbarkeit bestätigen, während sie hoffen, es zur Gewalt zu verleiten". 14 In dieser kleinen Schrift nun modelliert Condorcet recht plastisch die politiktheoretische Unterscheidung zwischen dem Volk als realpräsenter sozialer Akteur und dem Volk, das erst durch das Wechselspiel zwischen Bürger und Repräsentant entsteht. Man hört deutlich

14 Condorcet: Aux citoyens français sur la nouvelle Constitution [1793], Werke Bd. 12, S. 652 (Übers. DS).

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die Abneigung gegen die Politik der Straße heraus, die für Condorcet aufgrund ihrer Körperlichkeit zumeist auch eine latente Politik der Gewalt bedeutet. Geradezu visionär ist auch hier die Prophezeiung einer Tyrannei der Demagogen, wie sie sich in der Jakobinerherrschaft verwirklichte - und deren Abglanz auch in den totalitären Regimes des zwanzigsten Jahrhunderts zu finden ist. Dieser kurze Text ist alles andere als eine abfällige Bemerkung eines aristokratischen Liberalen über die politische Rolle des Volkes in der Revolution. Es ist genau genommen eine verdichtete Reflexion über die Rolle demokratischer Eliten in der neuen, auf Volkssouveränität aufbauenden politischen Ordnung. Dabei weist Condorcet mit seinen Überlegungen eine der prinzipiellen Überzeugungen zurück, die seit Rousseau die Demokratietheorie geprägt haben: Es handelt sich um den vermeintlichen Gegensatz von direkter, nicht-repräsentativer und indirekter, repräsentativer Demokratie. Condorcets Leitidee, die er in den folgenden konstitutionellen Überlegungen immer wieder aufgreifen sollte, stellt genau diesen Gegensatz in Frage: Die Erscheinung des jakobinischen Demokratieverständnisses zeigt deutlich, dass auch diese politische Form auf Repräsentationsbeziehungen beruht. Damit ist das zentrale Unterscheidungskriterium nicht etwa die Differenz zwischen einer direkten Beteilung des Volkes und seiner Stellvertretung. Der Unterschied liegt vielmehr in der Art und Weise, wie Eliten ihre Aufgabe der politischen Repräsentation wahrnehmen. Auch der von Condorcet zur Markierung des Unterschieds eingeführte Demagoras repräsentiert: Er gibt nämlich vor, das „wahre" Volk zu verkörpern, so wie es sich „auf der Straße und unter den Säulengängen" findet. Sein Alter Ego Philodemos hingegen weiß, dass eine nicht-tyrannische Repräsentation an Formen gebunden sein muss: An die Gesetze zuerst, und insbesondere an die vorgeschriebenen Formen der Kommunikation und des Austausches zwischen Repräsentanten und Bürgern. Bereits die Sprache zeigt eine wichtige Differenzierung Condorcets: Im positiven Sinn ist nicht so sehr vom Volk die Rede, sondern von den Bürgern. Dahinter steht allerdings kein erkenntnisstiftender Klassenstandpunkt. Es zeigt viel mehr eine politiktheoretische Grundentscheidung: Gegen „das Volk", weil es eine nicht existente und im Namen der Freiheit auch nicht herstellbare Einheitsfiktion suggeriert - und für „die Bürger", weil sie schon begrifflich auf die Pluralität des politischen Gemeinwesens hinweist, die mit dem Kollektivbegriff Volk zu verschwinden droht. Revolution und Freiheit Mit der fortschreitenden Revolution, die auch durch die Verfassung von 1791 nicht in eine dauerhafte Ordnung überführt werden konnte, stellte sich für Condorcet die Frage, welche Bedeutung diese Phase des Umbruches für eine gerechte und legitime Verfassungsordnung besitzt. Dabei liefert er zunächst jene normative Definition des Revolutionsbegriffs, den später Hannah Arendt in ihrer politischen Theorie so prominent vertreten sollte: Das politische Telos der Revolution ist die Freiheit. Nur das Motiv einer freien Verfassung kann die mit dem Umbruch einhergehenden Handlungen rechtfertigen. Damit findet hier eine ideengeschichtliche Neudeutung des Revolutionsbegriffs statt, die

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gerade seine Machbarkeit und Gestaltbarkeit in den Vordergrund stellt und sich mit dieser Linearität von der traditionellen Bedeutung des zyklischen Ordnungswechsels verabschiedet (Koselleck 1989: 70 u. 83). Revolution ist nicht jede radikale Form der politischen Veränderung. Sie ist der von den Bürgern gewollte Bruch mit der bestehenden Ordnung, die ihre überkommenen Bindungen nicht mehr überzeugend begründen konnte. Revolution ist die radikale Umformung der gesellschaftlichen Ordnung. Die Gefahr innerhalb dieser Neugründungssituation außerhalb kontingenzreduzierender konstitutioneller Zyklen ist jedoch, dass plötzlich alles möglich zu sein scheint. Condorcet, der zunächst ein Verfechter reformerischer Umgestaltung gewesen ist, hat dieses Problem gesehen. Genau aus diesem Grund versucht er, den revolutionären Abgrund der Kontingenz dadurch zu überbrücken, indem er die Revolution an ein festes Ziel zu binden sucht: die Freiheit. Nur dann kann erwartet werden, dass der revolutionäre Bruch nicht in einen Zustand der Freiheitszerstörung durch Stasis, Chaos oder Bürgerkrieg führt, sondern in eine konstitutionelle Garantie der natürlichen Rechte. Damit strebt die Revolution zur Verwirklichung dessen, was ihr begründend im Natur- und Vernunftrecht voraus liegt. Wenn es sich wirklich um eine Revolution handeln soll, dann kann diese nicht nur in einem Akt des Umsturzes bestehen, sondern sie muss auch eine neue Ordnung begründen, in der die mit der Revolution geforderten Rechte dauerhaft konstitutionalisiert werden. Das Dilemma der Revolution besteht jedoch darin, ein Ziel anzustreben, dass mit den verwendeten Mitteln nicht kompatibel zu sein scheint. Condorcet liefert hier keine Legitimationstheorie für die revolutionäre Gewalt. Er versucht vielmehr, auch in der vorkonstitutionellen Umbruchsituation die normativen Gehalte des Naturrechts zu retten, in dem er die Figur des Gesellschaftsvertrages bemüht. Dieses im Werk Condorcets selten anzutreffende Argument dient hier dazu, die Neugründung des Gemeinwesens zu verdeutlichen und wie mit den Rechten derjenigen umzugehen sei, die sich dieser Neugründung widersetzen. Die möglichen Einschränkungen der Freiheitsrechte rechtfertigt Condorcet mit der Gründungssituation. Als Mittel des Umbruchs dienen Maßnahmegesetze, die in ihrer Geltungsdauer und in ihrem Umfang radikal begrenzt werden müssen, wenn sie nicht die Neugründung eines freien, auf allgemeine und gleiche Gesetze gestützten Gemeinwesens unterminieren sollen. Sie stellen zum einen die Ausnahme von der regulären, an die konstitutionellen Grundrechte gebundenen Gesetzgebung dar, die zur Verteidigung der Freiheit ihre eigenen Prinzipien überschreitet. Zugleich jedoch unterscheidet sich Condorcet hier von späteren Überlegungen, wie sie beispielsweise Carl Schmitt angestellt hat, und die für eine souveräne Ausnahmekompetenz der staatlichen Gewalt optieren. Condorcet macht deutlich, dass es sich weder um die konstitutionalisierte Ausnahme noch um die notwendige diktatorische Vollzugsgewalt zur Rettung des Gemeinwesens handelt. Vielmehr problematisiert er genau diesen Widerspruch zwischen Gesetz und revolutionärer Maßnahme und hält es fur eine pragmatisch-politische Abwägung, Rechte im vorkonstitutionellen Zustand verletzen zu müssen, um den Naturzustand bzw. den Bürgerkrieg zu verhindern. Daraus folgt allerdings keine prinzipielle Aufwertung einer wie auch immer gearteten Notstands- oder Ausnahmekompetenz eines Souveräns im konstitutionalisierten Zustand. Die Bindung an die natürlichen Rechte und an die Gerechtigkeit kann in einem vorkonstitutionellen, revolutionären Zustand nur über

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die jeweilige politische und moralische Verantwortung der Handelnden garantiert werden, nicht jedoch durch eine positiv-rechtliche Bindung. Mit dieser Klärung, die einen deutlichen Unterschied zwischen Revolution und Konstitution setzt, trägt Condorcet dazu bei, nicht nur den ideologischen Gebrauch des Gesetzesbegriffs in der Revolution einzugrenzen - er macht auch umgekehrt klar, dass eine Berufung auf die vorkonstitutionelle revolutionäre Gewalt in der konstituierten Ordnung nicht möglich ist, ohne diese Ordnung selbst zur Disposition zu stellen. c) Verfassung Verfassungsgebung als Plebiszit? Der Text Uber die Notwendigkeit, die Verfassung durch die Bürger ratifizieren zu lassen, stammt aus jener Periode, in der die revolutionäre Dynamik Condorcets Reformvorschläge von 1788 bereits überrollt hatte und er als politischer Intellektueller nunmehr die Frage einer konstitutionellen Neugründung des Gemeinwesens politisch und publizistisch aktiv begleitete. Die Schrift, der man die eilige Entstehung aus den Umständen der sich abzeichnenden Revolution durchaus ansieht, artikuliert doch recht deutlich einige der zentralen politischen Ordnungsmotive, mit denen Condorcet in die Debatte um die neue Verfassungsgebung einzugreifen sucht. Auch wenn der Verfassungsbegriff 1789 noch etwas unscharf bleibt, so ist der Einfluss der amerikanischen Debatte hier klar nachweisbar, insbesondere die in der Verfassung von Pennsylvania 1776 präsente Auffassung Paines und Jeffersons, die Gültigkeit der Verfassung auf 20 bis 25 Jahre zu begrenzen (Dippel 1981: 182). Den Bürgern kommt bei Condorcet die Rolle von normativen Vetospielern zu, die prinzipiell jegliches Gesetz und auch die Verfassung daraufhin kontrollieren können, ob sie gegen die bürgerlichen Rechte verstoßen oder nicht. Aus der Perspektive der historischen Rückschau gibt dieser Text zudem Auskunft über ein spezifisch französisches Verfassungsverständnis: Auch wenn die ursprüngliche Idee aus der amerikanischen Verfassungsdebatte stammt, so ist es doch Frankreich, dessen Verfassungstradition sich dadurch auszeichnet, mit nahezu jeder neuen Generation einen politischen Regimewechsel vollzogen zu haben - freilich nicht in den geregelten Bahnen, in denen Condorcet sich dies vorstellte, aber doch mit geradezu historischer Regelmäßigkeit, so dass in der französischen Verfassungstheorie der III. und IV. Republik eine abgewandelte Version der klassischen Zyklentheorie des Polybios zum Modell der historischen Deutung werden konnte (vgl. Emeri/Bidegaray 1997: 15). Auch auf die Frage nach dem Stellenwert einer politischen Mathematik gibt der Text eine Antwort. Im Kontext seines politischen Ordnungsdenkens wird deutlich, wie wenig Condorcet an eine generalisierte Herrschaft des Kalküls dachte. Die soziale und politische Dimension des mathematischen Denkens erschließt sich vielmehr in erster Linie in einem genauen Aufschluss über bislang nur vage zu umreißende Begriffe der politischen Theorie. Die Idee einer allgemeinen Bevölkerungsstatistik zeigt so, wie der flüchtige Legitimationsbegriff des „Volkes" Gegenstand objektivierbarer Kenntnisse werden

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kann, die vormals im Bereich metaphysischer Spekulation angesiedelt waren. Condorcet versucht hier auf der Basis der statistischen Sterblichkeitsrate, den Generationenbegriff mathematisch zu definieren und damit die Geltungsdauer der Verfassung rational begründen zu können. Die Schwierigkeit eines solchen eng umgrenzten objektiven Generationenbegriffs wurde bereits von David Hume in seiner Kritik des Gesellschaftsvertrags bemerkt (Hume 1996). Gleichwohl lässt sich aus diesem Versuch, das soziale Substrat der politischen Ordnung durch die modernen Mittel der auf individuellen Daten basierenden Sozialstatistik näher zu beleuchten, ein liberaler Zug Condorcets ablesen, der sich einer Metaphysik der Vergemeinschaftung entzieht, wie sie Rousseaus Gemeinwillen kennzeichnete. In politisch-konstitutioneller Hinsicht markiert der Text eine Entwicklung im Vergleich zu den vorrevolutionären Schriften Condorcets, da nun die Frage der demokratischen Legitimität und ihre institutionelle Umsetzung in den Vordergrund drängt. Selbst wenn diese Dimension auch vorher schon in seinem Denken deutlich präsent war, so nimmt sie nun neben der Frage der individuellen Rechte einen gleichberechtigten Platz ein. Am bedeutsamsten scheint so neben den vorgeschlagenen institutionellen Details zur Verfassungsratifikation die den Text in seiner Gesamtheit prägende Problemstellung zu sein: Wie ist es möglich, der neuen demokratischen Legitimität einen angemessenen, zugleich gerechten und vernünftigen institutionellen Ausdruck zu verleihen, ohne zugleich die fundamentale Bedeutung der individuellen Rechte in ihrem Bestand anzutasten? Der Text ist so zunächst weniger interessant aufgrund der vorgeschlagenen Antworten, sondern vielmehr als ein Dokument der neuen symbolischen Ordnung der Demokratie und der Suche nach einem institutionellen Arrangement der Vereinbarkeit von Selbstbestimmung und konstitutionellen Rechten. Republik und Monarchie Der Text, der Brief eines jungen Mechanikers an die Verfasser des Républicain vom 16. Juli 1792 ist Teil eines kuriosen Kapitels der europäischen Bildergeschichte politischer Ideen. Condorcet verweist hier auf Jacques de Vaucanson (1709-1782), ein französischer Ingenieur und Erfinder, der durch seine „mechanische Ente" europaweite Bekanntheit erfuhr. Abbé Mical (1730-1789) war der Erfinder der ebenso kuriosen „sprechenden Köpfe", und Wolfgang von Kempelen (1734-1804), ein österreichisch-ungarischer Staatsbeamter, war in Europa berühmt als Erfinder des „Schachtürken" - eines mechanischen Apparates, der durch einen in ihm verborgenen Spieler gesteuert wurde. Kants Hinweis in der Kritik der praktischen Vernunft, der Mensch sei kein „Vaucansonsches Automat", oder Walter Benjamins metaphorischer Gebrauch des Kempelenschen „Schachtürken" in seiner Schrift Über den Begriff der Geschichte sind nur zwei Beispiele dafür, wie tief sich diese Maschinenbilder in die moderne Geistesgeschichte eingeschrieben haben. 15 Der als Satire in einer republikanischen Zeitschrift 15 Vgl. die grundlegende Arbeit zur mechanistischen Symbolik in der absolutistischen Staatstheorie von Stollberg-Rilinger 1986, außerdem die Beiträge in Tinland 1998.

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veröffentlichte Text erschien nach der Flucht Ludwig X V I nach Varennes vom Juni 1791 und vor dessen Hinrichtung im Januar 1793: Condorcet war keineswegs von Beginn an der überzeugte Republikaner, zu dem er im Nachhinein von der hagiographischen Geschichtsschreibung gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts stilisiert wurde.16 Auch wenn er bereits früh die Republik als die beste aller Verfassungen bezeichnete, so bedeutete dies jedoch nicht, dass er sie auch fur die angemessene und praktikabelste Verfassung hielt.17 Insbesondere sein ambivalenter Volksbegriff, der stets zwischen dem unaufgeklärten und damit potentiell tyrannischen Pöbel und der Gesamtheit aller vernünftigen Bürger schwankte, verhinderte eine klare Positionsnahme Condorcets zugunsten einer demokratischen Republik (vgl. Reichardt 1973: 170ff). Erst unter dem Einfluss Thomas Paines und den sich radikal veränderten politischen Umständen wurde Condorcet zum Verfechter einer republikanischen Verfassung. Aber auch jetzt war es nicht die „radikaldemokratische" Variante republikanischer Ordnung, deren Tugendherrlichkeit und Missachtung liberaler Rechte ihn zu den Jakobinern auf Distanz gehen ließ. Die Republik, die Condorcet und auch Paine vorschwebte, war nicht die der Antike, der italienischen Stadtstaaten oder Holland: Die Republik ist hier nicht die der Alten, sondern die der Modernen - eine Ordnung der politischen Repräsentation und der Menschenrechte (Baker 1993: 245). Der mechanische Monarch ist so nur ein Maschinenballett ohne eigenen politischen Willen.18 Gerade das aber macht ihn zur idealen Besetzung fur diese oberste Position des Staates, da alles andere eine Freiheitsgeföhrdung der Bürger bedeutet. Condorcet treibt hier bildlich das mechanistische Denkspiel des Hobbschen Leviathans auf die Spitze und verkehrt diesen so in sein Gegenteil: Hobbes hatte versucht, das Problem politischer Ordnungsbildung more geometrico zu lösen und mit der Staatsmaschine eine Verfügbarkeitsmetapher entworfen, die durch ihre Machtkonzentration am höchsten Punkt der Pyramide zu einer Entlastung in der bürgerlichen Gesellschaft führte. Das Problem der souveränen Macht ist nach dieser Condorcet'sehen Satire jedoch erst dann gelöst, wenn sie keiner Person zufällt, sondern sich in den Prozeduren und der Gesetzesherrschaft auflöst. Der seiner transzendenten, unverfügbaren Sakralität entkleidete

16 Z . B . bei den ansonsten nach wie vor zur Standardliteratur zu zählenden Werken von Alengry 1904 und Cahen 1904; vgl. kritisch dazu Baker 1993, Reichardt 1973: 306 und Dippel 1981: 184. 17 So schreibt er in der Schrift „Vie de M. Turgot": „eine republikanische Verfassung ist die beste von allen. Es ist diejenige, in der alle Menschenrechte bewahrt werden, da dasjenige der Ausübung der gesetzgebenden Macht, entweder durch die Bürger selbst oder über ihre Repräsentanten, eines dieser Rechte ist" (OC, Bd. 5, 209). Condorcet war jedoch skeptisch, was das für eine republikanische Ordnung notwendige Bildungsniveau angeht - in diesem kognitivistischen Ansatz liegt der deutliche Gegensatz zu Rousseau, für den die Bildung der Bürger eher eine Gefahr der Verbildung des reinen Herzens darstellte. Hier liegen im Übrigen auch die unterschiedlichen Konsequenzen für die demokratische Willensbildung begründet: öffentlicher Diskurs bei Condorcet, Emergenz des Willens aus der Tugendgemeinschaft bei Rousseau. 18 Condorcet vereint hier zwei traditionelle Stränge politischer Metaphorik zu einem gemeinsamen Bild. Vgl. zur Differenz von politischen Theater- und Maschinenmetaphern Ezraih 1995.

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Monarch, so die Pointe, wird damit zur verfugbaren Funktion der Verfassung und kann, wenn dies notwendig erscheint, ebenso gegen ein funktionales Äquivalent ausgetauscht werden wie der im Text beschriebene religiöse Mechanismus. Der Entwurf einer freien Verfassung wurde von Condorcet trotz der hohen Komplexität seiner Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse gerade nicht als eine Maschine verstanden - denn in der Metaphorik des mechanischen Apparates liegt ein Grundzug des absolutistischen Denkens gegenüber liberal-republikanischen Ordnungsvorstellungen, wie Condorcet bereits in seiner Schrift über die amerikanische Revolution bemerkte: „Wenn man sich ansieht, wie die Amerikaner ihre Ruhe und ihr Glück auf einer kleinen Anzahl von Maximen gegründet haben, die nur der naive Ausdruck dessen zu sein scheinen, was der gesunde Menschenverstand jedem von uns hätte diktieren können, dann wird man nicht länger jene überaus komplizierten Maschinen preisen, deren Gang durch eine Vielzahl von Triebfedern gewaltsam, unregelmäßig und mühevoll gemacht wird und in denen so viele Gewichte, von denen man behauptet, dass sie sich gegenseitig im Gleichgewicht galten, in Wirklichkeit vereint auf dem Volk lasten" (134). Die Monarchie wird daher von Condorcet als ein unpolitisches Staatstheater karikiert, das ebenso gut von Automaten übernommen werden könnte. Trotz seines Rationalismus erkannte Condorcet also, dass sich weder das mathematische Kalkül noch die mechanistische Kunst der absolutistischen Staatsingenieure dazu eigne, eine angemessene Beschreibung fiir eine freie Verfassungsordnung zur Verfugung zu stellen.19 Wenngleich er also für einen Ersatz der voluntaristischen Engführung der Politik durch Rousseau und die Jakobiner zu suchen schien, so bot doch weder die Sprache mathematischer Formalisierung noch die der politischen Uhrmacher eine wirklich überzeugende Alternative. Konstitutionelle Ordnung der Demokratie Der Verfassungsentwurf Condorcets ist das Ergebnis seiner politiktheoretischen Überlegungen und der praktischen Erfahrungen seit dem Beginn der Revolution. 20 Während seine früheren, an Turgot angelehnten Pläne zu einer liberalen Reform des ancien régime noch skeptisch gegenüber einer demokratischen Integration breiter Schichten eingestellt waren, 21 so bot sich Condorcet mit dem Verlauf der Revolution ein weites Erfahrungsspektrum von Chancen und Gefährdungen einer demokratischen Ordnung. Sowohl vor dem epistemischen Hintergrund seiner Überlegungen zum Jury-Theorem und der Annahme

19 Darin unterscheidet sich auch sein eigener Verfassungsentwurf von einem Modell wie beispielsweise der Verfassung Venedigs, die John G A. Pocock aufgrund ihrer komplizierten Wahl- und Losverfahren als den Versuch einer „mechanization of virtù" bezeichnet hat (Pocock 1975: 285). 20 Die Autorschaft Condorcets ist heute unstrittig: vgl. Aulard 1924, Hintze 1928, Rosenblum 1984 und Stern 1930. 21 Condorcet: Essai sur la constitution et les fonctions des assemblées provinciales [1788], in: OC Bd. 8, S. 115-659.

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höherer Wahrheitschancen bei größerer Beteiligung als auch durch seine liberalen Vorstellungen gleicher Rechte war Condorcet prinzipieller Verfechter einer auf der Zustimmung und Beteiligung der Bürger beruhenden Legitimität politischer Ordnung. Als Aufklärer jedoch war ihm ebenso bewusst, dass die durch Bildung und Eigenständigkeit erworbenen Voraussetzungen für politische Beteiligung in einer nur schwach alphabetisierten Gesellschaft bislang kaum gegeben waren. Erst der durch die revolutionäre Entwicklung ausgelöste Demokratisierungsschub brachte auch Condorcet zu der Überzeugung, dass eine langfristig verzögerte, allgemeine Beteiligung nur noch größere Widerstände nach sich ziehen würde. Daher schien es ratsam, zugleich mit der Öffnung des Bürgerrechts angemessene Formen für die Beteiligung zu finden, mit denen die evidenten Gefahren einer politischen Mobilisierung des Volkes neutralisiert werden könnten. Zusammen mit einem ambitionierten, auf die individuelle Urteilsfähigkeit ausgerichteten Schulsystem sollte ein möglichst ausbalanciertes Institutionengefüge nun für jenen republikanischen Geist sorgen, der in der Tradition des politischen Denkens zumeist den bürgerlichen Tugenden zugeschrieben wurde. Zwar war auch dem klassischen Republikanismus von Machiavelli bis zu Rousseau stets bewusst, dass diese Tugenden nicht nur die Voraussetzung, sondern ebenso immer auch die Folge guter Gesetze waren und nur in einer guten Verfassung des Gemeinwesens gedeihen konnten. Ein hohes Vertrauen in die Fähigkeit institutioneller Strukturen und Prozesse, unabhängig vom Tugendbegriff sehr viel „dünnere" verfassungspatriotische Motivationen zu generieren, hatten aber erst die amerikanischen Gründungsväter gezeigt, deren Verfassung einer repräsentativen Republik für Condorcet eines der wichtigsten Vorbilder war. Die Verfassung Condorcets, niedergeschrieben im Dezember 1792 und dem Nationalkonvent am 15. Februar 1793 vorgestellt, scheiterte jedoch an den politischen Umständen, die einem liberal gemäßigten Verfassungsentwurf nicht zuträglich waren. Anstelle des vorliegenden Entwurfes wurde eine von Hérault de Séchelles überarbeitete Verfassung zur Abstimmung gestellt, die zudem wesentliche Änderungen aus der Feder Robespierres erfahren hatte. Dieser neue Entwurf wurde im Juli 1793 in einem Verfassungsreferendum angenommen, trat dann allerdings nie in Kraft. In welchem Maße Condorcet vom dominierenden Verfassungsdenken des Jakobinismus abgewichen war, zeigt ein Vergleich der beiden Ordnungen. Ein zentraler Unterschied der beiden Verfassungsentwürfe offenbart sich gleich im ersten Satz: Der Zweck jeder gesellschaftlichen Vereinigung von Menschen ist, so heißt es bei Condorcet, „die Wahrung ihrer natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte". Die auf Robespierre zurückgehende, der Verfassung von 1793 vorangestellte Erklärung beginnt dagegen im ersten Artikel: „Das Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glück". Die individuellen Rechte sind diesem allgemeinen Glück nicht nur grammatisch sondern auch politisch nachgeordnet. Dem entspricht die Bedeutung der sozialen Rechte, die bei Condorcet nicht als Rechte, sondern als Pflichten der Gesellschaft formuliert und im Detail offen gelassen werden (Art. XXIV), bei den Jakobinern hingegen durch die detaillierte Formulierung (Arbeit oder Unterstützung) sehr viel höhere Erwartungen wecken (Art. 21). Der durchaus radikalere, wenig um rechtliche Vermittlungen bemühte Geist der jakobinischen Verfassung zeigt sich zudem im Artikel 27: Jedes Indi-

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viduum, dass sich Souveränität anmaßt, „soll sogleich durch die freien Männer zum Tode verurteilt werden". Auch die Organisation der politischen Gewalten weist deutliche Unterschiede auf: Bei Condorcet wird die Exekutive direkt gewählt und steht der Legislative durch das universale Wahlrecht gestärkt gegenüber. Wenngleich Condorcet skeptisch gegenüber dem Montesquieuschen System der Gewaltenteilung war und auch eine starke, präsidiale Exekutive im Kontext der Französischen Revolution nach der Hinrichtung des Königs undenkbar war, so zeigt diese Konstruktion einer ausgeglichenen demokratischen Legitimation von Exekutive und Legislative dennoch die Vorbildfunktion des amerikanischen Modells, wie übrigens auch die Legitimation durch direkte Wahlen aller weiteren Amtsträger. In der Jakobinerverfassung geht die Exekutive dagegen durch Wahl aus der Legislatiwersammlung hervor. Die Nationalversammlung bleibt somit das Organ, in dem sich die gesamte politische Macht des Gemeinwesens konzentriert. Der wichtigste Unterschied besteht schließlich in der Organisation der Gesetzgebung: Die jakobinische Legislative übersendet Gesetzesvorschläge an sogenannte Urversammlungen. Wenn keine Reklamation durch mindestens einem Zehntel der Urversammlungen in der um eins größeren Hälfte der Departements erfolgt, dann gilt das Gesetz als angenommen. Schweigen wird hier demnach als Zustimmung gedeutet. Erfolgt aber eine Reklamation, dann „beruft die gesetzgebende Körperschaft die Urversammlungen ein" (Art. 60). Was dann in einer solchen Konfliktsituation zwischen Urversammlungen und Repräsentativkörperschaft geschehen soll, lässt die jakobinische Verfassung offen gemeint ist das Gesetzesreferendum, allerdings wird nicht geklärt, was bei einem Referendumsergebnis geschehen soll, das der Nationalversammlung widerspricht. Condorcet hingegen hatte die Primärversammlungen gerade als ein Medium entworfen, um die Bürger zusammen mit ihren Repräsentanten in ein gemeinsames Kommunikations- und Entscheidungsgeiuge einzubinden. Leitmotiv der Verfassung sind die „geordneten Beratungen" (182): Dieses Gefüge sollte es ermöglichen, Gesetze auf der Basis einer breiten gesellschaftlichen Diskussion zu erlassen. Daher nahm Condorcet im Gegensatz zu den Jakobinern auch die Neuerung eines von den Bürgern initiierten Gesetzesvorschlages in die Verfassung auf. Das Initiativrecht verbleibt im jakobinischen Denken weitgehend bei den Repräsentanten der Nationalversammlung. Bei Condorcet hingegen kann eine Gruppe von fünfzig Bürgern über eine Primärversammlung Vorschläge in das politische Beratungs- und Entscheidungssystem einbringen, die über mehrere Stufen gestaffelt die Nationalversammlung zu einer Beratung des Vorschlages veranlassen können. Über diesen Weg können zum einen bereits erlassene Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit kontrolliert werden, zum anderen können neue Gesetzesinitiativen auf die Agenda der Nationalversammlung gebracht werden. Zudem sind die Primärversammlungen das institutionelle Medium, in dem sich die Annahme und die Revision der Verfassung vollziehen. Damit ist die Entscheidung in den Primärversammlungen auch hier keineswegs der gesetzgeberische Normalfall. Vielmehr sind sie als Forum vorgesehen, die Vereinbarkeit von Gesetzen der Nationalversammlung mit den von der Verfassung garantierten Grundrechten zu diskutieren und zu prüfen. Condorcet hat hierfür einen zweistufigen Prozess vorgesehen: Zuerst erfolgt eine öffentliche Dis-

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kussion des betreffenden Gesetzes, die sowohl im Versammlungsort selbst als auch über die schriftlichen Medien der Presse stattfinden kann. Erst nach einem angemessenen Zeitraum der öffentlichen Debatte wird in einem zweiten Schritt die Entscheidung der Primärversammlung angesetzt, die am Versammlungsort selbst stattfindet. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn ein antiliberaler Denker im Anschluss an Donoso Cortes später entsetzt behauptete: „Vor dem System eines Condorcet zum Beispiel [...] muß man doch wirklich glauben, das Ideal des politischen Lebens bestehe darin, dass nicht nur die gesetzgebende Körperschaft, sondern die ganze Bevölkerung diskutiert, die menschliche Gesellschaft sich in einen ungeheuren Klub verwandelt" (Schmitt 1934: 66f.). Was hier den konservativen Ordnungsdenkern als Ungeheuerlichkeit erscheint, ist von Condorcet in der Tat als notwendige Grundlage einer demokratischen Legitimität erachtet worden. Die Verfassung muss selbst eine Form der Dauerreflexion (Schelsky) institutionalisieren, die sie zum normativen Korrektiv des Gesetzgebers werden lässt, und die ihren Höhepunkt in den Prozeduren zu ihrer eigenen Korrigierbarkeit findet. Während wir heute an eine Institutionalisierung dieser Selbstreflexion in Form von Verfassungsgerichten gewöhnt sind, versuchte Condorcet, diese Reflexion in den demokratischen Gesetzgebungsprozess selbst einzubauen. Dabei sollte keineswegs die gesamte konstitutionelle Ordnung permanent zur Diskussion stehen. Im Gegenteil: Die grundlegenden konstitutionellen Leitideen - die Grundrechte - dienten vielmehr als weitgehend unstrittiger Maßstab, mit dem eine kontrollierende Bewertung der Gesetze möglich wurde. Mindestens einmal in jeder Generation jedoch musste auch die Verfassung selbst einer Revision unterzogen werden, um sie den gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen und zudem jeder neuen Generation von Bürgern die Möglichkeit zu geben, sich durch gemäßigte und wohlverstandene konstitutionelle Reformen die Verfassung demokratisch aneignen zu können. Die potentielle Kluft zwischen Bürgern und Repräsentanten, die Condorcet prozedural überbrückt, wird bei den Jakobinern durch den Verweis auf den Aufstand des Volkes als „heiligstes seiner Rechte" (Art. 35) offen gehalten: Diese konstitutionelle Sollbruchstelle hält den Ausnahmezustand als permanentes Recht des souveränen Volkes dauerhaft präsent. Das Widerstandsrecht, das bei Condorcet nur als letzter Ausweg in die Konstitution aufgenommen wurde und dessen Anwendung durch die austarierten Prozeduren gerade überflüssig gemacht werden sollte, nimmt hier die Funktion einer ständigen Drohung an, den Souverän hinter der Verfassung hervortreten zu lassen - anstatt ihm wie Condorcet durch die Verfassung zur Sprache zu verhelfen. Zudem wird den Bürgern mit dem Initiativrecht das wichtigste Instrument verwehrt, mit dem Condorcet den unkontrollierten, aufständischen Bürgerzorn in rechtlich-prozedurale Bahnen lenken wollte. Bei den Jakobinern tritt das Volk nur als Vetospieler auf, eine positive Gestaltungsmacht wird ihm weitgehend verwehrt. Der zentrale Satz hingegen, der bei Condorcet den Unterschied in den divergierenden Verfassungsvorstellungen markiert, lautet: „In einem freien Staatswesen muss die Verfassung die Art des Widerstands gegen diese unterschiedlichen Akte der Unterdrückung regeln" (Art. XXXII). Während Condorcet so bereits einen entscheidenden Schritt zur verfassungsimmanenten Kontrollmöglichkeit der Legislative ging, so drehte die jakobinische Verfassung

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diese Evolution zurück in Richtung des (vormodernen) Widerstandsrechts, in dem sich das Volk und seine Repräsentanten im Konfliktfall unvermittelt gegenüberstehen. Condorcet verortet jedoch im Unterschied zur amerikanischen Entwicklung des judicial review diese reflexive Kontrollmöglichkeit im Rahmen der Verfassung noch nicht in der Judikative. Sein komplexes Revisionsverfahren der „Zensur des Volkes" bleibt innerhalb der demokratischen Autonomie verankert. Die Gewaltenteilung wird somit nicht durch die Unterscheidung von demokratischer Legislative und jenseits einer direkten demokratischen Legitimation stehenden Judikative umgesetzt, sondern es handelt sich um den Versuch einer Gewaltenteilung und -Vermittlung innerhalb der demokratischen Legislative selbst. Damit wird bei Condorcet das Spannungsverhältnis von Demokratie und Konstitutionalismus ähnlich wie im amerikanischen Fall in ein Institutionengefiige überführt - der zentrale Unterschied zeigt sich in der Frage, wo die innerkonstitutionelle Kontrollinstanz verortet wird. Im Amerikanischen Fall ist es das Oberste Gericht, im französischen bleibt es das institutionell in Primärversammlungen gegliederte Volk: „In unserem Entwurf ist der Richter, dessen Tätigkeit vom Gesetz selbst geregelt wird, die unmittelbare Mehrheit des Volkes, die oberste politische Macht, über die man nicht hinausgehen kann, ohne den gesamten Gesellschaftspakt in Frage zu stellen, ohne den Menschen in den Naturzustand zurückzuversetzen [...]" (188).22 Damit vertraut Condorcet auf die rationalisierende Macht der institutionellen Prozeduren und folgt der Einsicht, dass auch im liberalen Verfassungsstaat nur das aktiv wahrgenommene Interesse der Bürger an ihren eigenen Rechten einer Bestandsgarantie für diese Rechte nahekommt. Auf diese Weise entgeht er freilich in der letzten Konsequenz nicht jener Aporie der Volkssouveränität, die keine Instanz außerhalb ihrer selbst zu dulden vermag und die im Zweifelsfall eine Tyrannei der Mehrheit innerhalb eines solchen Verfassungssystems für weniger wahrscheinlich hielt als eine potentielle Tyrannei der Richter (Gauchet 1989: 109ff.; Rosanvallon 2000: 70). Zudem trägt die mit ihren 402 Artikeln längste und komplexeste Verfassung der französischen Geschichte deutlich die Züge des Condorcet'sehen Perfektionismus, die an der politischen Praxistauglichkeit des Entwurfes zweifeln lassen und die Verfassung mit zahlreichen Details überfrachten. Aber nicht die Frage nach der direkten Anwendbarkeit ist das entscheidende Kriterium zur politiktheoretischen Bewertung dieses Entwurfs, sondern die in die Verfassung eingegangenen Überlegungen zum Demokratie- und Repräsentationsverständnis. Condorcet unterscheidet sich mit seinem Vermittlungsversuch einer demokratischen Repräsentatiwerfassung durch die Kopplung von repräsentativen Formen und einer Interventionsmöglichkeit von Seiten der Bürger ebenso sehr von den Jakobinern wie von den enggefassten Repräsentationsvorstellungen Sieyes. Bei Sieyes wird das Verhältnis zugunsten der Repräsentanten aufgelöst: Wenn die Repräsentanten im Namen der Bürger sprechen, dann müssen diese weitgehend schweigen. In der Perspektive von Con-

22 Zur Entwicklung vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit und zum Unterschied zwischen den USA und Frankreich vgl. Stourzh 1989: 71.

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dorcet hingegen wird das Verhältnis von Bürger und Repräsentanten als eine dialogische Beziehung konzipiert. Sowohl Sieyes als auch die Jakobiner bauen ihre Verfassungsvorstellungen auf einem Dualismus von Bürgern/Volk und Repräsentanten auf. Sieyes gibt in der konstituierten Ordnung den letzteren den Vorzug, die Jakobiner hingegen räumen dem Volk das letzte Wort ein: Wenn es seine Stimme erhebt, sind die Repräsentanten gescheitert. Condorcet versucht, diesen Dualismus durch ein komplexes Vermittlungsverhältnis zu ersetzen, in dem die Kommunikation zwischen Repräsentanten und Repräsentierten an erster Stelle steht und dazu die in einer nur schwach entwickelten Zivilgesellschaft notwendigen institutionellen Voraussetzungen geschaffen werden. Jedoch wird das Verhältnis von Repräsentanten und Repräsentierten nicht allein rationalistisch auf dem Muster des öffentlichen Diskurses gegründet. Hinzu kommt ein bindendes Moment, mit dem eine solche demokratische Verfassung überhaupt erst dauerhaft Geltung erlangen kann: Es handelt sich um das Vertrauen zwischen den Bürgern und ihren Stellvertretern, J e n e s Vertrauen, das in wirklich freien Verfassungen die einzig echte Gewalt ist" (208). Aus diesem Grund ist die Unterscheidung zwischen direkter oder repräsentativer Demokratie hier irreführend: Condorcets Verfassung ist repräsentativ gerade dadurch, dass sie eine breite Partizipationsmöglichkeit zulässt und mit den umfassenden Kontrollmöglichkeiten gerade jenes Vertrauen ermöglicht, das als Basis erfolgreicher Repräsentation gelten kann. Repräsentativität wird nicht auf die Spitze des politischen Systems reduziert, sondern findet als Prozess auf mehreren Ebenen zugleich statt. Trotz dieser breiten Basis ist diese Verfassung jedoch andererseits nichts weniger als eine direkte Demokratie. Die Pointe liegt gerade darin, jegliche Form der „direkten" Handlung in ein komplexes, prozedurales Vermittlungssystem einzubinden. Der Souverän kann an keiner Stelle direkt, umfassend und unmittelbar selbst auftreten, sondern nur in indirekten, kleinteiligen und vermittelten Formen, die durch einen konstruktiven Akt zueinander in Bezug gesetzt werden müssen. Es ist eben dieser konstruktive, demokratieermöglichende Akt, der von Condorcet der Verfassung zugewiesen wird.

5. Condorcet als politischer Theoretiker der repräsentativen Demokratie Ideengeschichtliche Texte haben dann eine Bedeutung, die über bloß archivarisches Interesse hinausgeht, wenn sie in der Lage sind, durch ihre geschichtliche Distanz einen Reflexionsraum zur Verfügung zu stellen. Sie dienen als eine Ressource der Selbstverständigung und des Selbstverständnisses, weil sie mit der Genese unserer politischen Ordnungsformen nicht allein darauf aufmerksam machen, wie diese geworden sind wie sie sind. Die ideengeschichtliche Dimension der politischen Theorie erlaubt es außerdem, die in der historischen Genese ebenfalls eingelagerten Problemhorizonte sichtbar zu machen und gewissermaßen Lösungsvorschläge für Probleme anzubieten, die sich erst jetzt im Licht unserer konkreten zeitgenössischen Problemkonstellation erschließen. Zu einer solchen politiktheoretischen Reflexionsressource hat sich auch das Denken Condorcets in den letzten Jahren entwickelt. Seine kritische Haltung gegenüber den

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jakobinischen Vorstellungen der Demokratie und seine alternativen Versuche, Volkssouveränität unter modernen Voraussetzung denkbar und lebbar zu machen, erlauben es heute, Condorcet als einen zentralen Autor für die Diskussion um die Krise der Demokratie und der demokratischen Souveränität neu zu lesen. Zum Abschluss dieser Einleitung soll daher auf eine Debatte verwiesen werden, die sich zuerst im Zusammenhang mit der Revision des französischen Republikanismus entwickelt hat, und die inzwischen auch in der amerikanischen Demokratiediskussion eine wichtige Rolle einnimmt. Das neuere Interesse an Condorcet zeigt sich bereits in der Frage seiner ideengeschichtlichen Einordnung: Während lange Zeit die Vorstellung dominierte, das ältere, auf Bürgertugend und Partizipation ausgerichtete Paradigma des Republikanismus sei spätestens mit den modernen Revolutionen vom liberalen, auf individuellen Rechten und der legitimen Interessenverfolgung basierendem Paradigma abgelöst worden (Bailyn 1967; Wood 1969; Pocock 1975; Skinner 1998), so ist diese Annahme eines glatten Bruches zwischen beiden Paradigmen in den letzten Jahren deutlich revidiert worden. Inzwischen ist es gerade die Phase des Übergangs, die eine Reihe von Syntheseversuchen von liberalen und republikanischen Elementen des politischen Denkens hervorgebracht hat (Kalyvas/Katznelson 2008). Condorcet kann in dieser Hinsicht als Denker an der Schwelle zwischen Liberalismus und Republikanismus betrachtet werden, und diese Ambivalenz spiegelt sich auch in seiner Rezeption wider: Während er bei Benjamin Constant als Kronzeuge für die Unterscheidung der alten, politischen Teilhaberechte von den modernen, individuellen Freiheitsrechten angerufen wird, so gilt er bei Hannah Arendt als derjenige, der den republikanischen Zusammenhang von Revolution und Verfassungsgebung am deutlichsten gesehen hat (s. o.). Condorcets politisches Denken besteht daher in einer Synthese liberaler und republikanischer Elemente, wie die in diesem Band veröffentlichten Texte zeigen. Insbesondere an seinem konstitutionellen Denken wird dies klar: Zwischen politischem und liberalem Konstitutionalismus (Bellamy 2007) optiert Condorcet nicht für eine Alternative, sondern verbindet sowohl die Frage nach der politischen Willensbildung als auch die liberalen Schutz- und Kontrollgarantien zu einer politischen Ordnung, in der die Relation von Demokratie und Konstitutionalismus nicht als ein rein limitierendes Verhältnis bestimmt wird, sondern ebenso sehr als ein ErmöglichungsVerhältnis. Der hier entworfene Konstitutionalismus ermöglicht demokratische Selbstbestimmung gerade dadurch, dass die konstitutionellen Anforderungen an den demokratischen Prozess eine höhere demokratische Qualität der Entscheidungen verbürgen. Der bei Rousseau als Emanation gedachte Gemeinwille wird hier seiner metaphysischen Substanz entkleidet und institutionell ausbuchstabiert. Zusammen mit der Umstellung des politischen Telos auf die Garantie individueller Rechte wird damit bei Condorcet der substanzielle Kern des Republikanismus liberalisiert. Die kontrollierenden Elemente der republikanischen Tradition, die bislang vor allem in der ausbalancierten Mischung der sozialen Trägerschaft und der institutionellen Form von Herrschaft gelegen hatten, werden systematisch zu einer liberalisierten Ordnung weiterentwickelt, ohne dabei die Grundidee einer politisch selbstbestimmten Lebensform aufzugeben. Das gemeinschafit-

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liehe Ethos jedoch ist hier nicht mehr einheitlich vorgegeben, sondern muss im offenen demokratischen Prozess stets und immer wieder neu definiert werden. Es ist nicht verwunderlich, dass die neue Rezeption der politischen Theorie Condorcets in einem Kontext erfolgte, der durch die Kritik der französischen Revolution und des jakobinischen Demokratieparadigmas neue Perspektiven der Demokratie in einer liberalen, durch vielfältige Entwürfe des guten Lebens gekennzeichneten Gesellschaft freizulegen versuchte. Nachdem François Furet (1978) auf den Spuren Raymond Arons (1965) in den siebziger Jahren den Auftakt zur liberalen Revision des mit der Französischen Revolution begonnen demokratischen Experimentes machte, folgten aus diesem Umfeld bald genauere Studien, in denen nach alternativen Traditionslinien neben der dominanten jakobinischen Erzählung vom Volk als präsenter Einheit und der politischen Repräsentation als latentem Betrug am demokratischen Ideal gesucht wurde. Neben Alexis de Tocqueville, Benjamin Constant und François Guizot war es vor allem Condorcet, der durch seine liberal-republikanische Synthese umso interessanter fur dieses ideenpolitische Unternehmen war. So konnte der politiktheoretischen Versuche gestaltet werden, aus dem jakobinischen Imaginären zu entkommen, ohne die neue Legitimitätsgrundlage der Demokratie aufzuheben. Demokratie sollte neu gedacht werden, indem die mit dem Freiheitsversprechen einhergehenden Gefährdungspotentiale sichtbar gemacht werden könnten, ohne Demokratie dadurch selbst als Gefahr zu betrachten. Erste Versuche zu dieser Neuinterpretation findet man bei Lucien Jaume (1989), der in seiner Analyse der jakobinischen Souveränitäts- und Volksvorstellungen den Kontrast zu Condorcets Verfassungsidee in den Mittelpunkt stellt. Dem jakobinischen Volksbegriff eines „corpus mysticum" wird die liberale Bürgergesellschaft auf der Grundlage individueller Rechte und institutioneller demokratischer Prozeduren gegenübergestellt, die nach Condorcets Entwurf jedoch in der politischen Entwicklung in Vergessenheit geriet und auch innerhalb der liberalen Tradition bald durch den autoritären Staatsliberalismus eines Guizot abgelöst wurde (Jaume 1997; Rosanvallon 1985). Jenseits dieser nationalgeschichtlichen Kontroversen hat Pierre Rosanvallon im Anschluss an Condorcet den Versuch unternommen, zentrale Begriffe der zeitgenössischen Demokratietheorie neu zu denken: Unter dem Begriff der „komplexen Souveränität" (Rosanvallon 2000: 61) dient das Verfassungsprojekt Condorcets als Vorbild fur eine Form repräsentativer Demokratie, in der die Volkssouveränität durch Repräsentation nicht begrenzt, sondern erweitert wird. Im Anschluss an Condorcet wird der Souveränitätsbegriff über die Primärversammlungen räumlich entzerrt und durch das institutionalisierte Diskussionsverfahren temporalisiert. Die volonté générale wandelt sich damit von einer punktuellen Konzentration des Volkswillens zu einer prozedural komplexen Artikulation. Der Gemeinwille kann nun nicht mehr im Sinne Rousseaus als präexistente Größe gedacht werden, sondern er entsteht erst aus einem andauernden Interaktionsprozess von Bürgern und Repräsentanten. Eine solche pluralistische Demokratietheorie, die in ihrer Rousseaukritik enge Parallelen zu ähnlichen posttotalitären Versuchen der jungen Bundesrepublik aufweist (Fraenkel 1964), wurde im amerikanischen Sprachraum an Rosanvallon anschließend von Nadia Urbinati weiterentwickelt (Urbinati 2006). Im Mittelpunkt dieser Positionen steht jeweils die Einsicht Condorcets, dass

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in einer liberalen, indirekten und repräsentativen Demokratie gleichwohl der Bürger nicht in der Rolle des Wählers aufgeht, und das deswegen institutionelle Voraussetzungen notwendig sind, um dem Bürger als aktivem Teilnehmer des politischen Geschehens einen angemessenen Raum in der konstitutionellen Ordnung zu verschaffen. Über diese zentrale Rolle einer diskursiv verfassten politischen Urteilskraft der Bürger wandelt Condorcet den klassischen Republikanismus in eine deliberative Demokratie. Condorcets deliberative Demokratietheorie basiert dabei auf einer Mischung von voluntaristischen und epistemologischen Argumenten: Einerseits ermöglicht das breite Netz von Primärversammlung eine tatsächliche Steigerung der politischen Partizipationschancen und damit einen breiteren Input von Willensäußerungen der Bürger. Anderseits soll seine austarierte Verfahrensordnung dafür sorgen, dass das Ergebnis der Entscheidungen eine höhere Rationalitätsvermutung für sich in Anspruch nehmen kann. Condorcet versucht damit, die Balance zwischen breiter Teilhabe und hoher Entscheidungsqualität zu halten, ohne in die jeweils drohenden Verkürzungen zu verfallen, die in einem populistischen Voluntarismus von deliberativ ungefilterten Willensäußerungen einerseits, in einer rationalistisch legitimierten Expertokratie andererseits bestünden. Condorcets Kombination kleinräumiger Partizipation und großräumiger Repräsentation birgt zudem Ähnlichkeiten zur amerikanischen Demokratieidee der Beteiligungsformen innerhalb des Nationalstaates in sich. Benjamin Barber hat auf die Bedeutung der kleinteiligen Partizipation aufmerksam gemacht und die Townhallmeetings, die kommunalen Nachbarschaftsversammlung als institutionelles Fundament der Demokratie beschrieben (Barber 1984). Dieses republikanische Erbe der liberalen Demokratie wollte auch Condorcet retten, allerdings ohne die liberalen Elemente gegen die republikanischen Elemente auszuspielen. Kommunikations- und Informationsfreiheit, Gewissensfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsrecht, Assoziationsfreiheit - all dies sind die rechtlichen Pfeiler, mit deren Hilfe ein öffentlicher Raum der politischen Diskussion errichtet werden kann. Dass diese Räume jedoch von den Bürgern auch tatsächlich bewohnt werden, entzieht sich weitgehend der staatlichen Verfugung. Demokratischer Gemeinsinn bleibt auch in diesem Entwurf eine prekäre Ressource. Condorcet gibt so auf die republikanischen Frage nach den Möglichkeitsbedingungen einer freien politischen Ordnung, der Partizipation und der Gemeinwohlorientierung die liberale Antwort einer rechtlich-institutionellen Struktur: Eine konstitutionelle Ordnung, die den Individuen erlaubt, sich als Bürger im Medium des Rechts zu artikulieren und zu assoziieren soll mithin das Unverfügbare verfugbar machen. Dieser politischen Ordnungsgestaltung liegt gleichwohl immer das unverfügbar bleibende Ziel die Verteidigung der individuellen Rechte des Bürgers - voraus. Die liberalen Bürgerrechte bilden somit das republikanische Telos der Verfassung und müssen durch eine wache und aktive Zivilgesellschaft geschützt werden. Damit liefert Condorcet auch die Möglichkeit, einen überkommenen Gegensatz der Demokratietheorie neu zu denken: Die Repräsentativität demokratischer Formen besteht nicht in der möglichst detailgetreuen Abbildung einer größeren Grundgesamtheit in einer kleineren Gruppe von Repräsentanten. Repräsentativität ist kein Ersatz für Partizipation. Demokratische Legitimität und Handlungsfähigkeit entsteht erst aus dem Wechselspiel

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und der komplexen Verbindung von Partizipation und Repräsentation, wie sie sich vielfach in modernen Demokratien in einer aktiven Zivilgesellschaft zeigen, die mit ihren aktiven Diskursen und Themensetzungen zur legitimationsnotwendigen Umgebung repräsentativer Entscheidungsstrukturen geworden ist. Das Aufbrechen der Differenz zwischen Repräsentation und Präsenz in einem als dynamisches, kommunikatives Kontinuum gedachten Repräsentationsprozess kann auch helfen, etwaige Fehleinschätzungen von Condorcet selbst zu korrigieren: So würde wir heute die Präsenz der Bürger nicht mehr allein auf die institutionellen Arenen einschränken, die Condorcet hierfür vorgesehen hatte. Es sind gerade auch die Möglichkeiten, Bühnen fur die symbolische Inszenierung von Präsenz dort zu suchen, wo man sie nach der klassischen Demokratietheorie nicht vermutet hätte: Die Straße ist so nicht mehr notwendigerweise der Ort des unkontrollierten Mobs oder des inszenierten, geordneten Volksaufmarsches, sondern kann, wie die Erfahrung gezeigt hat, sich ebenso in die Bühne des repräsentativ in Szene gesetzten Bürgerprotests verwandeln. Eine liberale Politik der öffentlichen (Kommunikations-)Räume hat nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung verfolgt, in dem es beispielsweise Sitzblocken und andere unkonventionelle Formen der Meinungsäußerung gerade nicht als Gewalt, sondern als legitime Form der politischen Kommunikation gewertet hat. Condorcets Bürgerversammlungen sind daher die Keimzellen einer lebendigen Bürgergesellschaft, die jedoch auch über diese institutionellen Räume hinaus wachsen muss, um dauerhaft politische Freiheit zu praktizieren. Condorcet kann insofern zu jener Gruppe moderner Republikaner gerechnet werden, die an den Grundüberzeugungen der republikanischen Tradition festhielten, denen aber unter den Bedingungen moderner Gesellschaften die in dieser Tradition überlieferten Antworten auf politische Ordnungsfragen nicht mehr angemessen erscheinen konnten, und die daher in diesen republikanischen Fragehorizont neue, liberale Antworten zu integrieren versuchten. Individuelle Bürgerrechte werden hier nicht als Antipode politischer Partizipation gedacht, sondern sind Teil einer neu verstandenen Partizipationsform, die sich im Medium der Rechte artikuliert und durch die Teilhabe zugleich die Geltungsvoraussetzungen dieser Rechte stabilisiert. Condorcets politische Theorie und seine Verfassungstheorie erinnern uns auch heute noch an eine notwendige Bedingung des politischen Handelns in einer Demokratie: Es bedarf auch im modernen, großflächigen Verfassungsstaat kleinteiliger Räume, in den sich die Bürger als Gleiche begegnen und miteinander diskutieren können. Diese Räume müssen nicht mit konkreten physischen Orten identisch sein - sie sollten dies aber gerade in Zeiten der zunehmenden virtuellen Kommunikation unter Abwesenden auch sein, wenn von ihnen die legitimitätsstifitende Erfahrung einer selbstbestimmten Bürgergesellschaft ausgehen soll.

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6. Editorische Notiz Alle in dieser Auswahl enthaltenen Texte liegen erstmals in deutscher Sprache vor. Die Ausnahme bildet der Verfassungstext, der mitsamt der umfangreichen Einleitung Condorcets in einer zeitgenössischen Übersetzung bereits 1793 veröffentlich wurde. Die hier abgedruckte Fassung ist jedoch eine Neuübersetzung des französischen Originals. Bis auf zwei Ausnahmen wurden alle Texte von Andreas Fliedner ins Deutsche übertragen. Daniel Schulz und Karsten Malowitz übersetzten die Texte „Über die Notwendigkeit, die Verfassung durch die Bürger ratifizieren zu lassen" und den „Brief eines jungen Mechanikers an die Verfasser des Républicain". Textgrundlage war immer die von Arago und O'Connor herausgegebene französische Werkausgabe von 1847-48, die trotz einiger Einschränkungen nach wie vor die Standardausgabe darstellt. Die Anmerkungen am Ende des Bandes stammen vom Herausgeber und den Übersetzern.

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I. Freiheit

Überlegungen zur Negersklaverei Neuchatel 1781 (1) (1) Durchgesehene und verbesserte Auflage, Paris 1788

Zueignung an die versklavten Neger

Meine Freunde, obwohl ich nicht dieselbe Hautfarbe habe wie ihr, habe ich euch immer als meine Brüder betrachtet. Die Natur hat euch mit derselben Anlage zum Geist, zur Vernunft und zur Tugend geschaffen wie die Weißen. Ich spreche hier nur von den Weißen Europas, denn was die Weißen in den Kolonien betrifft, so werde ich euch nicht durch den Vergleich mit ihnen beleidigen. Ich weiß, wie oft eure Treue, eure Redlichkeit und euer Mut eure Herren beschämt haben. Wenn man auf den amerikanischen Inseln einen Menschen suchen würde, man fände ihn nicht unter der Bevölkerung mit weißer Haut. Mit euren Stimmen erwirbt man in den Kolonien keine Ämter und eure Protektion verschafft keine Pensionen. Ihr habt keine Mittel, um euch den Beistand von Advokaten zu erkaufen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass eure Herren mehr Männer finden, die sich Schande bereiten, indem sie die Sache der Sklaverei verteidigen, als ihr solche gefunden habt, die sich dadurch Ehre machen, dass sie die eure vertreten. Es gibt sogar Länder, in denen die, die zu euren Gunsten das Wort ergreifen wollten, nicht die Freiheit dazu hätten. Alle, die sich auf den Inseln auf Kosten eurer Arbeit und eurer Leiden bereichert haben, haben nach ihrer Rückkehr das Recht, euch in verleumderischen Schriften zu beleidigen. Doch ihnen zu antworten ist nicht erlaubt. So sicher sind sich eure Herren, im Recht zu sein. So rein ist ihr Gewissen, angesichts ihrer Menschlichkeit euch gegenüber. Doch dieses Unrecht ist für mich nur ein Grund mehr gewesen, um in einem freien Land die Verteidigung der menschlichen Freiheit zu übernehmen. Ich weiß, dass ihr dieses Werk niemals lesen werdet und dass mir die Genugtuung, von euch gesegnet zu werden, für immer vorenthalten bleiben wird. Doch ich werde meinem Herzen Erleichterung verschafft haben, das vom Schauspiel eurer Leiden zerrissen und von der absurden Frechheit der Sophismen eurer Tyrannen aufgewühlt ist. Ich werde mich nicht der Beredsamkeit bedienen, sondern der Vernunft. Ich werde nicht von den Interessen des Handels sprechen, sondern von den Gesetzen der Gerechtigkeit. Eure Tyrannen werden mir vorwerfen, dass ich nur Allgemeinheiten ausspreche und schwärmerische Vorstellungen habe. Es gibt wahrhaftig nichts Allgemeineres als die

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I. Freiheit

Maximen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit. Und nichts ist schwärmerischer, als die Menschen aufzufordern, ihr Verhalten nach diesen Maximen auszurichten.

Vorwort der ersten Herausgeber Nachdem uns Monsieur Schwartz sein Manuskript gesandt hatte, haben wir es Monsieur Pastor β*******, einem unserer Korrespondenten übermittelt, der uns antwortete, dass dieses Werk nichts enthielte als Allgemeinheiten, die in einem wenig korrekten, kalten und schwerfälligen Stil vorgebracht würden, dass es sich nicht verkaufen und niemanden überzeugen würde. Wir haben diese Bemerkungen Monsieur Schwartz übermittelt, der uns daraufhin mit dem folgenden Brief beehrte: „Meine Herren, weder bin ich ein Pariser Schöngeist, der nach einem Sitz in der Académie française trachtet, noch ein englischer Politiker, der Flugschriften verfasst, in der Hoffnung ins Unterhaus gewählt zu werden und sich beim ersten Wechsel des Ministeriums vom Hofe kaufen zu lassen. Ich bin nichts weiter als ein einfacher Mann, der gern aller Welt freimütig seine Meinung sagt und dem es nichts ausmacht, wenn die Welt ihm nicht zuhört. Ich weiß sehr gut, dass ich aufgeklärten Männern nichts Neues zu sagen habe. Wenn jedoch für den gemeinen Franzosen oder Engländer usw. die Wahrheiten, die in meinem Werk zu finden sind, genauso selbstverständlich wären, dann könnte die Negersklaverei keinen Bestand haben. Indessen ist es gut möglich, dass diese Überlegungen dem Menschengeschlecht nicht mehr nützen als die Predigten, die ich seit zwanzig Jahren halte, meiner Gemeinde nützen. Das mag sein, doch wird es mich nicht hindern, weiter zu predigen und zu schreiben, solange mir noch ein Tropfen Tinte und ein Faden Stimme bleibt. Es geht mir im Übrigen keineswegs darum, mein Manuskript zu verkaufen. Ich brauche nichts. Ich erstatte sogar meiner Gemeinde das Pfarrergehalt zurück, das der Staat mir bezahlt. Es heißt, dass auch die Geistlichen eines großen Königreichs ihre Einkünfte so verwenden, seit sie vor dreißig Jahren feierlich erklärt haben, dass ihr Gut das der Armen sei. Ich habe die Ehre mit Hochachtung zu verbleiben usw. Gezeichnet: Joachim Schwartz (I)" Mit Unterschrift.

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Dieser Brief schien uns von einem so redlichen Manne verfasst zu sein, dass wir den Entschluss gefasst haben, sein Werk zu drucken. Wir werden damit um unsere Druckkosten und die Leser um einige Stunden Langeweile gebracht. (I) Es ist wohl unnötig, den Leser daraufhinzuweisen, dass Joachim Schwartz ein Pseudonym ist.

Überlegungen zur Negersklaverei

I. Vom Unrecht der Negersklaverei, betrachtet in Hinsicht auf die Sklavenhalter Einen Menschen in die Sklaverei zu zwingen, ihn zu kaufen, zu verkaufen, ihn in Knechtschaft zu halten, das sind wahrhaftige Verbrechen - Verbrechen die schlimmer sind als Raub. Man raubt dem Sklaven nämlich nicht nur jeden beweglichen und unbeweglichen Besitz, sondern auch die Fähigkeit solchen zu erwerben, das Eigentum an seiner Zeit, an seinen Kräften, an allem, was die Natur ihm geschenkt hat, um sein Leben zu erhalten oder seine Bedürfhisse zu befriedigen. Zu diesem Unrecht fugt man noch dasjenige hinzu, dem Sklaven das Recht zu nehmen, über seine Person verfugen zu können. Wenn es eine Moral gibt, dann gilt das folgende Prinzip: Mag auch die öffentliche Meinung solche Verbrechen hinnehmen, mag auch das Gesetz des Landes sie dulden, weder die öffentliche Meinung noch das Gesetz können die Natur der Taten ändern. Und würde die gesamte Menschheit in jener Meinung übereinstimmen, und hätte das versammelte Menschengeschlecht einstimmig jenes Gesetz beschlossen. Das Verbrechen bliebe doch immer ein Verbrechen! Im Folgenden werden wir die Handlung, jemanden in die Sklaverei zu zwingen, immer wieder mit dem Raub vergleichen. Obwohl das zuletzt genannte Verbrechen oft weit weniger schwerwiegend ist, haben beide doch viele Ähnlichkeiten. Und da das zuerst genannte Verbrechen immer das Verbrechen des Stärkeren gewesen ist, der Raub hingegen das des Schwächeren, haben die Moralisten alle Fragen, die den Raub betreffen, bereits nach hehren Prinzipien gelöst, während es für das andere Verbrechen nicht einmal einen Namen in ihren Büchern gibt. Man muss indessen den Raub, den man Eroberung nennt, ausnehmen, ebenso wie einige andere Arten des Raubs, bei denen es ebenfalls der Stärkere ist, der den Schwächeren beraubt. Über diese Verbrechen schweigen die Moralisten ebenso wie über das, Menschen in die Sklaverei zu zwingen.

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II.

Gründe, derer man sich bedient, um die Negersklaverei zu rechtfertigen Um die Versklavung der in Afrika gekauften Neger zu rechtfertigen, behauptet man, dass diese Unglücklichen entweder zum Tode verurteilte Verbrecher sind oder Kriegsgefangene, die getötet worden wären, wenn die Europäer sie nicht gekauft hätten. Mit diesen Argumenten stellen einige Autoren den Handel mit Negern geradezu als einen Akt der Menschlichkeit dar. Doch wir bemerken dazu: 1. Dieses Faktum ist nicht bewiesen und nicht einmal wahrscheinlich. Wie bitte? Bevor die Europäer angefangen haben Neger zu kaufen, haben die Afrikaner alle ihre Gefangenen umgebracht? Sie haben nicht nur die verheirateten Frauen getötet, wie es vor langer Zeit, so sagt man, bei einer Horde orientalischer Räuber Brauch war, sondern sogar die unverheirateten Mädchen. Etwas Derartiges ist niemals von irgendeinem Volk berichtet worden. Wie bitte? Wenn wir uns nicht in Afrika Neger zu verschaffen suchten, würden die Afrikaner die Sklaven töten, die jetzt zum Verkauf bestimmt werden? Im Krieg erschlagen beide Parteien lieber ihre Gefangenen, als sie auszutauschen? Um unwahrscheinlichen Berichten Glaubhaftigkeit zu verleihen, bedarf es eindrucksvoller Zeugnisse, und wir verfugen nur über diejenigen der Männer, die im Negerhandel tätig sind. Ich hatte niemals Veranlassung ihre Gesellschaft zu suchen, doch gab es bei den Römern Männer, die sich demselben Gewerbe widmeten, und ihr Name ist bis heute ein Schimpfwort geblieben®. 2. Selbst wenn man annimmt, man rette dem Neger, den man kauft, das Leben, so begeht man durch den Kauf nicht weniger ein Verbrechen, solange man ihn tätigt, um den Neger weiterzuverkaufen oder in die Sklaverei zu zwingen. Man handelt in diesem Falle genau wie ein Mann, der einen Unglücklichen, der von Mördern verfolgt wird, rettet, um ihn dann auszurauben. Nimmt man aber an, dass die Europäer die Afrikaner davon abgebracht haben, ihre Gefangenen zu töten, gleichen sie einem Mann, dem es gelungen ist, eine Räuberbande davon abzubringen, die vorbeiziehenden Reisenden zu töten und der die Räuber dann überzeugt hat, sich damit zu begnügen, die Reisenden mit ihm gemeinsam auszurauben. Würde man im einen oder anderen dieser Fälle sagen, dass jener Mann kein Räuber sei? Ein Mann, der von seinem Notwendigsten geben würde, um damit einen anderen vor dem Tod zu retten, hätte ohne Zweifel das Recht auf Entschädigung. Er könnte ein Recht auf das Gut und vielleicht sogar auf die Arbeit desjenigen erwerben, den er gerettet hat, wobei das ausgenommen bleiben muss, was der Schuldner für seinen Lebensunterhalt braucht. Aber er könnte ihn nicht in die Sklaverei zwingen, ohne ein Unrecht zu begehen. Man kann Rechte auf den zukünftigen Besitz eines Anderen erwerben, doch niemals Rechte auf seine Person. Ein Mann kann das

(I) Leno bedeutete zunächst nichts weiter als Sklavenhändler. Doch da diese Händler den Lüstlingen Roms schöne Sklavinnen verkauften, gewann ihr Name bald eine andere Bedeutung. Dies ergibt sich zwangsläufig aus dem Gewerbe des Sklavenhändlers: Selbst wenn ein Land barbarisch genug war, dass dieser Beruf dort nicht als verbrecherisch angesehen wurde, betrachtete ihn die öffentliche Meinung doch immer als unehrenhaft.

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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Recht haben, einen anderen zu zwingen, fur ihn zu arbeiten, nicht jedoch das Recht, ihn zum Gehorsam zu zwingen. 3. Die angeführte Rechtfertigung ist umso weniger legitim, als es im Gegenteil das schändliche Gewerbe der Briganten aus Europa ist, das zwischen den Afrikanern beinahe ununterbrochene Kriege ausbrechen lässt, deren einziger Zweck es ist, Gefangene zu machen, um sie zu verkaufen. Oft schüren die Europäer selbst diese Kriege durch ihr Geld und ihre Intrigen, sodass sie nicht nur des Verbrechens schuldig sind, Menschen in die Sklaverei zu zwingen, sondern auch all der Mordtaten, die in Afrika begangen werden, um dieses Verbrechen möglich zu machen. Sie beherrschen die perfide Kunst, die Begehrlichkeit und die Leidenschaften der Afrikaner zu erregen, den Vater dazu zu bringen, seine Kinder preiszugeben, den Bruder, seinen Bruder zu verraten, den Fürsten, seine Untertanen zu verkaufen. Sie haben dieses unglückliche Volk auf den zerstörerischen Geschmack am Alkohol gebracht. Sie haben es mit jenem Gift bekannt gemacht, das sich, dank der unermüdlichen Habgier der Europäer, im Schutze der Wälder Amerikas zu einer der Geißeln des Globus entwickelt hat - und da wagen sie noch, von Menschlichkeit zu sprechen! Selbst wenn die oben angeführte Rechtfertigung den ursprünglichen Käufer von Schuld freisprechen würde, würde durch sie weder der Zwischenhändler, noch der Pflanzer, der den Neger als Sklaven hält, gerechtfertigt. Denn für sie geht es nicht darum, den Sklaven, den sie kaufen, dem Tod zu entreißen: Sie gleichen in Hinsicht auf das Verbrechen der Versklavung jemandem, der bei einem Raub mit dem Räuber teilt oder vielmehr jemandem, der einen anderen mit einem Raub beauftragt und dann die Beute mit ihm teilt. Das Gesetz hat vielleicht Gründe, den Räuber und seinen Komplizen oder Anstifter unterschiedlich zu behandeln. Doch moralisch ist ihr Vergehen das Gleiche. Was die auf den Plantagen geborenen Neger betrifft, ist die genannte Rechtfertigung schließlich absolut nichtig. Der Pflanzer, der sie aufzieht, um sie weiter als Sklaven zu halten, begeht ein Verbrechen, denn die Fürsorge, die er ihnen in ihrer Kindheit angedeihen ließ, kann ihm keinerlei Anschein von Recht über sie geben. Warum bedurften sie seiner denn überhaupt? Doch nur, weil er ihren Eltern zusammen mit der Freiheit auch die Möglichkeit genommen hat, für ihr Kind zu sorgen. Das hieße behaupten, ein erstes Verbrechen könne das Recht geben, ein zweites zu begehen. Nehmen wir davon abgesehen an, das Negerkind wäre aus freier Entscheidung von seinen Eltern ausgesetzt worden. Kann jemand das Recht haben, ein ausgesetztes Kind, das er aufgezogen hat, in Knechtschaft zu halten? Gibt eine aus Menschlichkeit vollbrachte Tat das Recht, ein Verbrechen zu begehen? Nicht einmal für gerichtlich verurteilte Verbrecher ist die Sklaverei rechtmäßig. Es ist vielmehr eine der notwendigen Bedingungen einer gerechten Strafe, dass das Gesetz ihre Dauer und ihre Form festlegt. So darf das Gesetz zu öffentlichen Arbeiten verurteilen, weil die Dauer der Arbeit, die Ernährung und die Strafen im Falle von Arbeitsverweigerung oder Revolte gesetzlich festgelegt werden können. Doch das Gesetz darf niemals einem Menschen die Strafe auferlegen, der persönliche Sklave eines anderen Menschen zu sein, da diese Strafe, insofern sie vollständig von der Laune des Herrn abhängt, gezwungenermaßen unbestimmt ist. Im Übrigen ist es genauso absurd wie grausam

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zu unterstellen, dass die Meisten der in Afrika gekauften Unglücklichen Verbrecher sind. Fürchtet man, dass sie sonst nicht genug verachtet würden, dass man sie sonst nicht mit genügend Härte behandeln würde? Und wie kann man auf den Gedanken verfallen, dass es ein Land gibt, wo so viele Verbrechen begangen werden und wo zugleich so strenge Gerechtigkeit herrscht?

III. Von der vermeintlichen Notwendigkeit der Negersklaverei, betrachtet in Hinsicht auf das Recht, das aus ihr für die Sklavenhalter folgen kann Man gibt vor, es sei unmöglich, ohne Negersklaven die Kolonien zu bebauen. Wir setzen im Folgenden die Richtigkeit dieser Behauptung voraus. Wir nehmen an, die Unmöglichkeit wäre absolut: Es ist offensichtlich, dass damit die Sklaverei nicht legitimiert werden kann. Wenn die unbedingte Notwendigkeit, unsere Existenz zu erhalten, uns tatsächlich das Recht geben kann, die Rechte eines anderen Menschen zu verletzen, so hört eine solche Gewalt in dem Augenblick auf legitim zu sein, wo die unbedingte Notwendigkeit aufhört. Nun geht es hier aber nicht um diese Art von Notwendigkeit, sondern nur um den Verlust des Vermögens der Kolonisten. Wenn man fragt, ob dessen Schutz die Sklaverei legitimiert, heißt das folglich, zu fragen, ob ich mein Vermögen mithilfe eines Verbrechens erhalten darf. Dass ich die Pferde meines Nachbarn unbedingt brauche, um mein Feld zu bestellen, gibt mir kein Recht, sie zu stehlen. Warum also sollte ich das Recht haben, ihn mit Gewalt zu zwingen, mein Feld für mich zu bestellen? Jene vermeintliche Notwendigkeit ändert hier nichts. Von Seiten des Herrn ist die Sklaverei durch sie nicht weniger ein Verbrechen.

IV. Ob ein Mensch sich einem anderen Menschen verkaufen kann Jemand kommt zu mir und sagt: Gebt mir eine bestimmte Summe, und ich werde euer Sklave sein. Ich händige ihm die Summe aus. Er verwendet sie nach seinem Gutdünken (andernfalls wäre das Geschäft absurd): Habe ich das Recht ihn als Sklaven zu halten? Nur ihn allein, versteht sich, denn ganz offensichtlich hatte er nicht das Recht, mir seine Nachkommen zu verkaufen, und, auf welche Weise auch immer der Vater zum Sklaven wurde, seine Kinder werden frei geboren. Meine Antwort ist, dass ich selbst in diesem Fall kein Recht dazu haben kann. Wenn ein Mensch sich beispielsweise einem anderen für ein Jahr verdingt, um in seinem Haus zu arbeiten oder um ihm zu dienen, hat er mit seinem Herrn eine freie Übereinkunft geschlossen, auf deren Erfüllung beide Vertragsparteien ein Recht haben. Nehmen wir an, dass der Arbeiter sich auf Lebenszeit verpflichtet, dann muss der gegenseitige Rechtsanspruch zwischen ihm und demjenigen, dem er sich verpflichtet hat, in derselben Weise gelten, wie bei einem auf Zeit geschlossenen Vertrag. Wenn nun die Gesetze über die

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Erfüllung des Vertrags wachen; wenn sie die Strafe bestimmen, die demjenigen auferlegt wird, der die Vereinbarung verletzt; wenn Schläge, Beschimpftingen durch den Herrn mit Geld- oder Körperstrafen belegt werden (und damit die Gesetze gerecht sind, muss dem Herrn wie dem gedungenen Mann für dieselbe Gewalttat, für dieselbe Beleidigung auch dieselbe Strafe auferlegt werden); wenn die Gerichte den Vertrag annullieren, falls der Herr überführt wird, seinem Diener oder gedungenen Arbeiter ein Übermaß an Arbeit zuzumuten oder nicht ausreichend für seinen Lebensunterhalt zu sorgen; wenn der Herr ihn verstößt, nachdem er von der Arbeitskraft seiner Jugend profitiert hat und das Gesetz diesen Herrn dann dazu verurteilt, ihm eine Pension zu bezahlen - dann handelt es sich nicht um Sklaverei. Was ist denn eigentlich Freiheit, in Hinsicht auf die Beziehung zwischen den Menschen betrachtet? Es ist die Macht alles zu tun, was bestehenden Übereinkünften nicht widerspricht, sowie das Recht, im Falle eines Verstoßes nur aufgrund eines rechtmäßigen Urteils zur Erfüllung der Übereinkünfte gezwungen oder für die Nichterfüllung bestraft zu werden. Freiheit, das bedeutet schließlich das Recht, gegen jede Art von Unrecht oder Schädigung die Hilfe der Gesetze anzurufen. Verzichtet ein Mensch auf diese Rechte, dann wird er zweifellos zum Sklaven. Doch zugleich wird sein Verzicht in sich selbst nichtig, wie die Auswirkung einer Wahnidee oder einer Zerrüttung des Geistes, die durch die Leidenschaft oder das Übermaß der Not hervorgerufen wurde. Folglich kann jemand, der in den von ihm getroffenen Vereinbarungen seine natürlichen Rechte, die wir gerade dargelegt haben, gewahrt hat, kein Sklave sein. Derjenige aber, der auf sie verzichtet hat, ist ebenso berechtigt sie zurückzufordern, wie derjenige der mit Gewalt zum Sklaven gemacht wurde, da er eine nichtige Verpflichtung eingegangen ist: Mag er auch Schuldner seines Herren bleiben, so jedoch nur dessen freier Schuldner. Es gibt mithin keinen Fall, in dem die Sklaverei, selbst wenn sie freiwilligen Ursprungs ist, nicht gegen das Naturrecht verstieße.

V. Vom Unrecht der Negersklaverei, betrachtet in Hinsicht auf den Gesetzgeber Jeder Gesetzgeber, jedes einzelne Mitglied einer gesetzgebenden Körperschaft ist den Gesetzen der natürlichen Moral unterworfen. Ein ungerechtes Gesetz, das die Menschenrechte verletzt, ob es die der Bürger einer Nation oder die von Fremden sind, ist ein Verbrechen, das der Gesetzgeber begeht und bei dem alle Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft, die dem Gesetz zugestimmt haben, sich zu Komplizen machen. Ein ungerechtes Gesetz zu dulden, wenn man die Möglichkeit hat, es abzuschaffen, ist ebenfalls ein Verbrechen. Doch hier fordert die Moral nicht mehr von den Gesetzgebern, als sie von den Einzelnen verlangt, wenn sie ihnen die Pflicht auferlegt, eine Ungerechtigkeit wieder gutzumachen. Diese Pflicht ist an sich absolut, doch gibt es Umstände, unter denen die Moral nur den Willen fordert, sie zu erfüllen und der Klugheit die Wahl der Mittel und des Zeitpunkts überlässt. Folglich darf der Gesetzgeber bei der Wiedergutmachung eines Unrechts auf die Interessen desjenigen, der das Unrecht erlitten hat, Rück-

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sieht nehmen, und diese Interessen können, was die Art und Weise der Wiedergutmachung angeht, ein behutsames Vorgehen erfordern, das Verzögerungen mit sich bringt. Es gilt auch, auf die öffentliche Ruhe und Ordnung Rücksicht zu nehmen, und die zu ihrer Erhaltung notwendigen Maßnahmen können es notwendig machen, dass man die vorteilhaftesten Unternehmungen aufschiebt. Doch handelt es sich hierbei offensichtlich nur um kürzere oder längere Verzögerungen. Denn es ist unmöglich, dass es für einen Menschen, und noch weniger für eine Klasse von Menschen, von Vorteil sein kann, dauerhaft der natürlichen Menschenrechte beraubt zu sein. Eine Gesellschaft aber, in der die allgemeine Ruhe und Ordnung die Verletzung des Rechts von Bürgern oder Fremden fordert, wäre keine menschliche Gesellschaft mehr, sondern eine Räuberbande. Politische Gesellschaften können keinen anderen Zweck haben, als den Schutz der Rechte ihrer Mitglieder. Daher ist jedes Gesetz, das dem Recht eines Bürgers oder eines Fremden entgegensteht, ein ungerechtes Gesetz. Es erlaubt eine Rechtsverletzung, es ist geradezu ein Verbrechen. Folglich ist der Schutz, den die öffentliche Gewalt der Verletzung des Rechts eines Einzelnen gewährt, ein Verbrechen desjenigen, der über die öffentliche Gewalt verfügt. Wenn es hingegen einigermaßen gewiss ist, dass ein Mensch außerstande ist, seine Rechte wahrzunehmen und dass er, wenn man ihm ihre Wahrnehmung gestatten würde, sie gegenüber anderen missbrauchen oder sich ihrer zu seinem eigenen Schaden bedienen würde, dann darf ihn die Gesellschaft so behandeln, als ob er seine Rechte verloren oder nicht erworben hätte. Daher gibt es einige natürliche Rechte, die kleinen Kindern vorenthalten werden und derer Schwachsinnige und Verrückte verlustig gehen. Insofern nun die Sklaven in den europäischen Kolonien, durch Erziehung, durch die Verrohung, in die sie die Sklaverei hat verfallen lassen, durch die Sittenverderbnis, die notwendig aus den Lastern und dem Beispiel ihrer Herren folgt, unfähig geworden sind, die Stellung von freien Menschen einzunehmen, kann man sie (zumindest solange, bis die Gewohnheit der Freiheit sie hat wiedergewinnen lassen, was sie in der Sklaverei verloren haben) wie Menschen behandeln, die durch Unglück oder Krankheit einen Teil ihrer Fähigkeiten verloren haben, denen man also die vollständige Ausübung ihrer Rechte nicht gestatten kann, ohne sie der Gefahr auszusetzen, anderen oder sich selbst zu schaden, und die nicht nur gesetzlichen Schutz brauchen, sondern auch menschliche Fürsorge. Wenn ein Mensch nur aufgrund des Verlusts seiner Rechte die Sicherheit hat, für seine Bedürfnisse sorgen zu können und man ihn, indem man ihm seine Rechte zurückgibt, in die Gefahr bringt, dass es ihm am Lebensnotwendigen fehlt, dann verlangt die Menschlichkeit, dass der Gesetzgeber die Sicherheit dieses Menschen mit seinen Rechten vereinbar macht. Dies aber ist sowohl im Falle der Negersklaverei wie im Falle der Leibeigenschaft gegeben. In der Sklaverei gehören die Hütte, der Hausrat, die Nahrungsmittelvorräte der Neger ihrem Herrn. Indem man ihnen plötzlich die Freiheit wiedergibt, würde man sie ins Elend stürzen. Genauso würde sich im Falle der Leibeigenschaft der Bauer, dessen Feld und dessen Haus seinem Herren gehören, durch eine allzu plötzliche Veränderung vielleicht frei aber ruiniert wieder finden.

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Den Menschen unter derartigen Umständen nicht sofort die Ausübung ihrer Rechte zu gewähren bedeutet folglich weder, diese Rechte zu verletzen, noch diejenigen, die diese Rechte verletzt haben, weiterhin zu schützen. Es bedeutet bloß, bei der Abstellung der Rechtsverletzungen die notwendige Klugheit walten zu lassen, damit die Gerechtigkeit, die man einem Unglücklichen widerfahren lässt, mit größerer Sicherheit zu seinem Glück ausschlägt. Das Recht, von der öffentlichen Ordnung gegen Gewalt geschützt zu werden, ist eines der Rechte, die der Mensch beim Eintritt in die Gesellschaft erwirbt. Folglich ist der Gesetzgeber der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, alle diejenigen von ihr fern zu halten, die ihr fremd sind und in ihr Unruhe stiften könnten. Weiterhin ist er der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, keine Gesetze zu erlassen, so gerecht diese auch sein mögen, von denen er annimmt, dass sie Unruhe in der Gesellschaft auslösen, bevor er sich nicht entweder der Mittel versichert hat, diesen Unruhen vorzubeugen oder der notwendigen Gewalt, um diejenigen, die sie verursachen, unter geringstmöglicher Gefahrdung der übrigen Bürger zu bestrafen. Folglich muss das Gesetz sich zum Beispiel, bevor es die Sklaven in den Rang freier Menschen erhebt, versichern, dass sie in dieser neuen Stellung keine Gefahr fur die Sicherheit der Bürger darstellen. Man muss gegen alles Vorsorge getroffen haben, was der öffentlichen Sicherheit im ersten Moment vom Zorn der Sklavenhalter droht, die gleichzeitig in zwei sehr starken Leidenschaften gekränkt werden: in ihrer Habgier und in ihrem Hochmut. Denn jemand, der gewöhnt ist, von Sklaven umgeben zu sein, wird sich schwer damit abfinden, nur noch Untergebene zu haben. Dies sind die einzigen Gründe, die es dem Gesetzgeber erlauben könnten, die Abschaffung aller Gesetze, die einen Menschen seiner Rechte berauben, aufzuschieben, ohne damit ein Verbrechen zu begehen. Das Gedeihen des Handels und der nationale Reichtum können nicht gegen die Gerechtigkeit in die Waagschale geworfen werden. Eine Anzahl von Menschen, die sich zusammengeschlossen haben, hat nicht das Recht etwas zu tun, das ein Unrecht wäre, wenn es jeder von ihnen einzeln tun würde. Folglich muss das Interesse einer Nation an Macht und Reichtum vor dem Recht eines einzigen Menschen zurücktreten.1 Andernfalls gibt es keinen Unterschied mehr zwischen einer rechtlich geordneten Gesellschaft und einer Räuberbande. Wenn zehntausend, hunderttausend Menschen das Recht haben, einen Menschen zu versklaven, weil es in ihrem Interesse liegt, wie könnte man einem Mann stark wie Herkules das Recht verwehren, einen Schwachen seinem Willen zu unterwerfen? Dergestalt sind die Prinzipien der Gerechtigkeit, die uns bei der Untersuchung der Mittel, die zur Abschaffung der Sklaverei eingesetzt werden dürfen, leiten sollten. Doch ist es vielleicht zweckmäßig die Frage, nachdem wir sie gemäß diesen Prinzipien der Gerechtigkeit behandelt haben, noch unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrach1

Dieses Prinzip widerspricht völlig den verbreiteten politischen Lehren. Da jedoch die Mehrzahl deijenigen, die über diese Art von Gegenständen schreiben, es entweder darauf anlegen, sich einen Posten zu verschaffen oder auf die Lohnlisten derjenigen zu kommen, die einen innehaben, werden sie sich wohl hüten, Prinzipien zu vertreten, mit denen sie weder jemandem schmeicheln können, noch jemanden finden, der ihnen eine Anstellung gibt.

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ten und zu zeigen, dass die Negersklaverei ebenso dem Interesse des Handels widerspricht, wie der Gerechtigkeit. Es ist unumgänglich, diesem Verbrechen selbst die Unterstützung jener Kontor- und Schreibtischpolitiker zu entziehen, denen die Stimme der Gerechtigkeit fremd ist und die sich für Staatsmänner und große Politiker halten, weil sie das Unrecht kaltblütig mit ansehen, weil sie es dulden, es gutheißen oder gewissenlos selbst begehen.

VI. Können die Zucker- und Indigoplantagen nur von Negersklaven bebaut werden? Es ist nicht erwiesen, dass die Weißen untauglich sind, die amerikanischen Inseln zu bebauen. Zwar können zu viele Negerinnen und zuviel Alkohol die Weißen unfähig zu jeglicher Arbeit machen. Ihre Habgier, die sie dazu treibt, sich ohne Maß in gut bezahlte Arbeiten zu stürzen, kann sie ebenfalls zu Grunde richten. Doch wenn die Inseln, anstatt in große Ländereien, in kleine Besitzungen unterteilt worden wären, oder wenn auch nur der Grund und Boden, der der Habgier der ersten Kolonisten entging, von den Regierungen oder ihren Zessionaren unter den das Land bestellenden Familien verteilt worden wäre, dann wäre es zumindest sehr wahrscheinlich, dass in diesen Ländern bald ein Geschlecht von zu wirklicher Arbeit fähigen Menschen entstehen würde. Die Argumentation der Politiker, die meinen, dass die Negersklaverei notwendig ist, lässt sich somit auf den Satz reduzieren: Die Weißen sind habgierig, trunk- und fresssüchtig, also müssen die Neger Sklaven sein. Doch nehmen wir an, dass auf die Neger nicht verzichtet werden kann. Daraus folgt nicht, dass es notwendig ist, Negersklaven einzusetzen. Doch begründet man diese vorgebliche Notwendigkeit mit zwei weiteren Argumenten. Als erstes fuhrt man die Faulheit der Neger an, die, weil sie geringe Bedürfnisse haben und wenig zum Leben benötigen, nur arbeiten, um sich das Allernotwendigste zu verschaffen. Das heißt, mit anderen Worten: Weil die Habsucht der Weißen viel größer ist als die der Neger, muss man diese prügeln, um die Laster jener zu befriedigen. Dieses Argument ist zudem falsch. Nachdem die Menschen für ihren Lebensunterhalt gearbeitet haben, arbeiten sie, falls sie die Möglichkeit dazu haben, fur ihren Wohlstand. Unter den zivilisierten Nationen gibt es keine wirklich arbeitsscheuen Völker, außer denen, die so regiert werden, dass sie durch Mehrarbeit nichts zu gewinnen haben. Schuld an der Faulheit mancher Völker ist weder das Klima, noch die Landschaft, noch ihre körperlichen Eigenarten, noch der Nationalcharakter. Schuld sind die schlechten Gesetze, mit denen sie regiert werden. Es wäre ein Leichtes, Beispiele für diese Tatsache zu finden, indem man alle Völker von England bis in die Mongolei, vom Fürstentum Neuchâtel bis nach China durchgeht. Je besser der Boden ist, je mehr natürliche Möglichkeiten für den Handel eine Nation hat, desto schlechter müssen jedoch die Gesetze sein, um das Volk arbeitsscheu zu machen. So bedürfte es beispielsweise in der Normandie oder in Schlesien, um das Gewerbe zum Erliegen zu bringen, weit schlechterer Gesetze als in Neuchâtel oder in Savoyen.

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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Das zweite Argument für die Negersklaverei ergibt sich aus der Art der auf den Inseln etablierten Landwirtschaft. Diese Landwirtschaft, so behauptet man, benötigt große Werkstätten und das Zusammenwirken einer großen Zahl von Menschen an einem Ort. Darüber hinaus verderben ihre Erträge in kurzer Zeit und wenn sie freien Menschen überlassen wäre, hinge die Ernte von der Laune der Arbeiter ab. Niemand, der zum Nachdenken fähig ist, wird sich durch diesen zweiten Grund täuschen lassen, nicht einmal wenn er sein ganzes Leben innerhalb von Stadtmauern verbracht hat. Zunächst einmal hätten diese Umstände auch fur den Anbau von Korn oder Wein zu jener Zeit, als die Landwirtschaft in Europa noch mit Sklaven betrieben wurde, gegolten. Es ist mithin genauso lächerlich zu erklären, man könne in Amerika Zucker oder Indigo nur in großen, mit Sklaven betriebenen Anstalten gewinnen, wie es vor achtzehnhundert Jahren lächerlich gewesen wäre zu behaupten, dass Italien aufhören würde, Korn, Wein oder Öl zu produzieren, wenn die Sklaverei dort abgeschafft würde. Genauso wenig muss die Zuckermühle dem Besitzer des Grund und Bodens gehören, die Presse dem Besitzer des Weinbergs oder der Ofen dem Besitzer des Kornfelds. Im Gegenteil, im Allgemeinen vergrößern und verbessern sich die Erträge in der Landwirtschaft wie in jeder Art Gewerbe, j e stärker die Arbeit geteilt wird. Statt dass der Zucker unter der Leitung derjenigen zubereitet wird, die das Rohr gepflanzt haben, wäre es folglich zweckmäßiger, wenn das Zuckerrohr seinem Besitzer von Männern abgekauft würde, die gewerbsmäßig Zucker herstellen. Nichts spricht dagegen, beim Anbau von Zuckerrohr oder jener Art Fenchel, aus welcher der Indigo gewonnen wird, die Zuckerrohr- oder Indigofelder in kleine Parzellen zu gliedern und diese als Besitz oder zur Nutzung zu verteilen. In Asien wird Zuckerrohr seit undenklichen Zeiten auf diese Weise angebaut. Jeder Kleinbauer bringt dort den Rohrzucker, den er ausgepresst und zu Melasse verarbeitet hat, zum Markt und es wäre noch vorteilhafter, wenn er das Rohr ungeschnitten oder geschnitten einem Fabrikanten verkaufen würde. Wenn in Asien nicht die Regierung das Gewerbe unterdrückte, würde man dort sicherlich so verfahren, und auf den Inseln würde man es genauso machen, wenn die Landwirtschaft dort frei wäre. Das, was wir über den Zucker gesagt haben, gilt auch für den Indigo und in noch stärkerem Maße für den Kaffee- oder Gewürzanbau. Man kann also mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, dass die Neger nicht die einzigen Menschen sind, die in der Lage sind, in Amerika den Boden zu bearbeiten. Und gewiss würde eine von freien Negern betriebene Landwirtschaft, weit davon entfernt, die Quantität oder Qualität der Erzeugnisse zu beeinträchtigen, im Gegenteil dazu beitragen, erstere zu erhöhen indem sie letztere verbessert. Vielleicht in gutem Glauben haben die Pflanzer die entgegengesetzte Auffassung verbreitet. Der Grund dafür ist einfach: Sie haben nicht zwischen dem Realertrag und dem Reinertrag unterschieden. Tatsächlich wird, wenn ihr den Boden von Sklaven bebauen lasst, der Reinertrag größer sein, weil ihr die bei weitem geringsten Aufwendungen fur den Anbau habt. Ihr gebt euren Sklaven nur die notwendige Nahrung und nehmt die einfachste und billigste. Sie erhalten nur eine Hütte als Wohnstatt. Ihr gebt ihnen nur ein paar grobe Kleidungsstücke. Ein Tagelöhner würde einen höheren Lohn fordern, selbst

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w e n n er noch so dringend Arbeit brauchte. Im Übrigen wird ein Tagelöhner bald mehr verdienen wollen, um sich Ersparnisse zu bilden, bald wird er Zeit für sich behalten wollen, um sich zu vergnügen. Wenn er bei der Arbeit seine ganze Kraft einsetzt, dann muss euer Geld ihn dafür entschädigen, dass er nicht seiner Trägheit nachgegeben hat. Bei Sklaven verwendet ihr Stockhiebe, was preiswerter ist. B e i m freien Anbau wird der Preis der Arbeit in wechselseitiger Konkurrenz der Eigentümer und Arbeiter festgelegt. B e i m Anbau mit Sklaven hängt der Preis der Arbeit ausschließlich von der Habgier des Eigentümers ab. D o c h zugleich ist beim Anbau mit Sklaven der Bruttoertrag geringer, während er im freien Anbau höher sein wird. Die Negersklaverei wird also nicht um höherer Erträge des Anbaus willen verteidigt, sondern, um höhere Einkünfte für die Pflanzer zu erzielen. Es geht nicht um ein mehr oder weniger begründetes patriotisches Interesse, sondern ganz einfach um die Habgier und die Barbarei der Eigentümer. Die Abschaffung der Sklaverei würde weder die Kolonien noch den Handel ruinieren. Sie würde die Kolonien besser gedeihen und den Handel aufblühen lassen. 2 Sie würde kein Übel be-

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Ich bin hier von der Voraussetzung ausgegangen, dass die Sklaverei für die Pflanzer vorteilhaft ist, denn selbst unter dieser Voraussetzung ist es nicht weniger gerecht oder weniger vorteilhaft, sie abzuschaffen. Doch ist diese Voraussetzung keineswegs sicher. So haben die Vereinigten Staaten von Amerika festgelegt, dass die Arbeit von fünf Sklaven nur als der von drei Freien gleichwertig gelten kann. Man muss dabei zusätzlich berücksichtigen, dass, insofern in der Mehrheit der amerikanischen Staaten nur sehr wenige Neger leben, es im Interesse dieser Staaten war, die Arbeit der Neger so hoch wie möglich zu bewerten, da es darum ging, Steuereinnahmen im Verhältnis zur Größe der arbeitsfähigen Bevölkerung zu verteilen. Wenn nun fünf Sklaven nicht mehr Arbeit leisten als drei Freie, dann wird es sehr wahrscheinlich, dass in Amerika ihre Arbeit teurer ist als die von Freien, da man ja diese zusätzlichen Neger entweder kaufen oder auf eigene Kosten aufziehen muss. Im fünften Band der Ephémérides du Citoyen findet sich eine sehr zuverlässige Berechnung, aus der hervorgeht, dass ein Neger pro Jahr 420 Livres kostet, was wiederum zum gleichen Ergebnis fuhren würde. Allerdings geht diese Berechung von der Annahme aus, dass alle verstorbenen Neger durch neu hinzu gekaufte ersetzt werden, wobei die Erfahrung zu zeigen scheint, dass eine auf diese Weise geführte Plantage nicht sehr produktiv ist. Folglich beweist diese Berechnung mehr den geringen Nutzen der Behandlung, die man den Negern widerfahren lässt, als den geringen Nutzen der Sklaverei. Stellt man schließlich der Sklavenwirtschaft die Bewirtschaftung eines Guts durch freie Arbeiter gegenüber, dann wird man feststellen, dass alle Vorschüsse an Maschinen, Bauten, Tieren und Werkzeugen gleich sind, dass der Eigentümer den freien Arbeitern einen Lohn von durch Konkurrenz bestimmter Höhe zahlen muss und dass dieser Lohn notwendigerweise mindestens dem entsprechen wird, was die Nahrung und der Unterhalt des Arbeiters kostet und was darüber hinaus notwendig ist, um gegebenenfalls eine Familie zu ernähren. Denn mit Hilfe dieses zusätzlichen Teils des Lohns werden diejenigen aufgezogen, die eines Tages die gegenwärtigen Arbeiter ersetzen müssen. Ein Eigentümer, der den Anbau mit Sklaven betreibt, muss jedoch für ihre Ernährung und ihren Unterhalt sorgen und zusätzlich für ihren Ersatz Vorsorge treffen, entweder indem er neue Sklaven kauft oder indem er sie bei sich aufzieht, was wohl wirtschaftlicher ist. Die Frage reduziert sich also darauf, ob die Arbeit eines Sklaven soviel schlechter ist als die eines freien Mannes, dass dadurch zumindest die Differenz zwischen dem durch Konkurrenz ermittelten Lohn und den Kosten, welche die Sparsamkeit des Herren festlegt, wenn sie den Sklaven nur das Allernotwendigste zugesteht,

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wirken, außer ein paar barbarische Menschen daran zu hindern, sich am Schweiß und Blut ihrer Brüder zu mästen. Mit einem Wort, die Gesamtheit der Menschen würde dabei gewinnen, während nur einige Einzelne den Vorteil verlieren würden, ungestraft ein Verbrechen zu begehen, das ihren Interessen dient. Man hat versucht den Sklavenhandel zu rechtfertigen, indem man behauptete, der Import von Negern sei notwendig für die Landwirtschaft. Das aber ist ein weiterer Irrtum. Die schwarzen Frauen sind äußerst fruchtbar, und gut geführte Plantagen halten ihre Bevölkerung, selbst unter den Bedingungen der Sklaverei, ohne neue Importe. Es sind die Ausschweifungen, die Habsucht und die Grausamkeit der Europäer, die die Plantagen entvölkern: Wenn man die Negerinnen prostituiert, um ihnen anschließend zu stehlen, was sie verdient haben; wenn man sie unter Androhung barbarischer Misshandlungen zwingt, ihrem Herren oder seinen Knechten zu Willen zu sein; wenn man vor ihren Augen diejenigen schwarzen Männer zerreißen lässt, von denen man argwöhnt, dass sie sie ihren Tyrannen vorziehen; wenn die Habgier die Neger unter der Arbeit und den Schlägen zusammenbrechen lässt und man ihnen das Nötigste verweigert; wenn sie ihre Kameraden bald der Folter unterworfen bald in Öfen verbrannt sehen, um die Spuren dieser Gewalttaten zu verbergen - dann fliehen sie, vergiften sich, die Frauen treiben ihre Kinder ab und die Plantage kann sich nur halten, indem aus Afrika neue Opfer herbeigeschafft werden. Wie verkehrt die Annahme ist, dass die Negerbevölkerung nicht aus sich selbst heraus ihre Stärke halten kann, zeigt sich daran, wie die Nachkommen der entlaufenen Neger in Wäldern und Felsenwüsten überleben, obwohl ihre Herren sich noch damit vergnügen, sie wie wilde Tiere zu jagen und damit prahlen, einen entlaufenen

ausgeglichen wird. Oder, mit anderen Worten, darauf, ob ein freier Mann, dem man soviel gibt, wie ein arbeitender Sklave seinen Herren durchschnittlich kostet, mehr oder weniger Arbeit als ein Sklave verrichtet. Nun wird er höchstwahrscheinlich deutlich weniger verrichten. Ich weiß wohl, dass dieser Vorteil der Sklavenwirtschaft voraussetzt, die Sklaven so zu behandeln, dass man Todesfalle, Unfälle aller Art und Zeitverluste vermeidet, die jedoch von der Härte und der Ungerechtigkeit der Sklavenhalter zwangsläufig verursacht werden. Darüber hinaus müssen wir uns darauf beschränken, diese Art der Landwirtschaft mit derjenigen eines Eigentümers, der seinen Boden selbst bewirtschaftet, zu vergleichen. Dabei ist es offensichtlich, dass es für die Mehrzahl der Pflanzer äußerst vorteilhaft wäre, ihre bebauten Ländereien und sogar ihre Maschinen und Gebäude zu verpachten. Ohne ein endgültiges Urteil darüber zu fällen, welche der beiden Arten des Anbaus vorteilhafter für die Eigentümer ist, kommen wir also zu dem Schluss, dass der Unterschied zwischen beiden Arten uns zu gering erscheint, um auch nur die finanziellen Gewinne aufzuwiegen, welche die Freiheit nach sich ziehen würde. Doch wir haben vorausgesetzt, dass ein Anbau mit freien Arbeitskräften möglich ist, dass mithin eine ausreichend große Zahl von freien Arbeitern vorhanden ist, deren Konkurrenz die Lohntarife auf ein Niveau sinken lässt, das sich dem nähert, was die Arbeit von Sklaven kostet. Eine solche Entwicklung lässt sich jedoch nur von einer schrittweisen Befreiung der Sklaven erhoffen, bei der eine große Zahl von Menschen in den Kolonien verbleibt, die besser an das Klima gewöhnt sind als die Weißen, die man aus Europa holen könnte. Abgesehen von der Zeit, in der die Veränderungen vollzogen werden, würden die Pflanzer in diesem Fall kaum spürbare Verluste erleiden.

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Neger ermordet zu haben, so wie man sich in Europa damit brüstet, hinterrücks einen Hirschen oder Rehbock erlegt zu haben. Wenn die Neger frei wären, würden sie schnell eine blühende Nation werden. Sie sind, so sagt man, faul, dumm und verdorben. Doch das ist das Schicksal aller Sklaven. „Sobald Jupiter einen Mann in die Knechtschaft zwingt", sagt Homer, „nimmt er ihm die Hälfte seiner Tugend". Die Neger sind von Natur aus ein sanftes, fleißiges und empfindsames Volk. Ihre Leidenschaften sind lebhaft. Obwohl man von ihnen grauenhafte Verbrechen berichtet, kann man genauso heldenhafte Züge anführen. Doch befrage man alle Tyrannen: Sie werden stets ihre Verbrechen mit den Lastern derjenigen entschuldigen, die sie unterdrücken, obwohl diese Laster überall ihr eigenes Werk sind.

VII. Davon, dass die Negersklaverei abgeschafft werden muss und die Sklavenhalter keinerlei Recht auf Entschädigung haben. Es folgt aus unseren Prinzipien, dass jene unnachgiebige Gerechtigkeit, der Könige und Nationen ebenso unterworfen sind wie die Bürger, die Abschaffung der Sklaverei verlangt. Wir haben gezeigt, dass diese Abschaffung weder dem Handel noch dem Reichtum der Nationen schadet, da aus ihr keinerlei Schwächung des Ertrags der Plantagenwirtschaft folgt. Wir haben gezeigt, dass der Herr keinerlei Recht über seinen Sklaven hat; dass der Akt, ihn in Sklaverei zu halten, nicht der Genuss eines Eigentums ist, sondern ein Verbrechen und dass das Gesetz, indem es den Sklaven befreit, nicht das Eigentum antastet, sondern aufhört, ein Kapitalverbrechen zu dulden. Der Souverän schuldet mithin dem Sklavenhalter keinerlei Entschädigung, ebenso wenig wie einem Räuber, den ein Gerichtsurteil um den Besitz seiner Beute gebracht hat. Öffentliche Tolerierung kann ein Verbrechen zwar straffrei machen, sie kann jedoch kein wirkliches Recht auf den Gewinn des Verbrechens entstehen lassen. Mit umso größerer Berechtigung darf der Souverän der Sklaverei alle Beschränkungen auferlegen, die ihm angemessen erscheinen und den Sklavenhalter nach Belieben Steuern und Zwangsmaßnahmen unterwerfen. Eine Steuer auf den Grund und Boden, auf die Person oder auf den Verbrauch kann ungerecht sein. Denn immer dann, wenn sie keine Bedingung oder Notwendigkeit fur den Erhalt der Gesellschaft darstellt oder von Nutzen für denjenigen ist, der sie bezahlt, tastet sie das Eigentum an. Doch die Besitzer der Sklaven haben auf diese kein echtes Eigentumsrecht, und ein Gesetz, das ihnen Steuern auferlegt, würde sie im Genuss einer Sache lassen, die es ihnen nicht nur mit Recht entziehen könnte, sondern die der Gesetzgeber geradezu verpflichtet ist, ihnen wegzunehmen, wenn er gerecht sein will. Daher würde den Sklavenhaltern durch ein solches Gesetz, das ihnen die Möglichkeit gäbe, durch ein finanzielles Opfer eine längere Straflosigkeit zu erkaufen, keineswegs Unrecht getan.

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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VIII. Untersuchung der Gründe, welche die gesetzgebende Gewalt der Staaten, in denen die Sklaverei der Schwarzen geduldet wird, daran hindern könnten, durch ein allgemeines Gesetz zur Sklavenbefreiung die Gerechtigkeitspflicht zu erfüllen, die von ihr fordert, diesen die Freiheit zurückzugeben Damit die Sklavenbefreiung keinerlei Unruhe nach sich zieht, ist es notwendig: 1. Dass die Regierung in der Lage ist, den Lebensunterhalt der alten und siechen Neger zu sichern, die unter den heutigen Umständen von ihren Herren zumindest nicht gänzlich dem Hungertod überlassen werden.3 2. Dass man für den Lebensunterhalt der Negerwaisen Vorsorge trifft. 3. Dass man mindestens für ein Jahr die Unterbringung und den Lebensunterhalt derjenigen arbeitsfähigen Neger sicherstellt, denen es in jener Wendesituation nicht gelungen ist, sich in einem freien Vertrag bei den Besitzern der Pflanzungen zu verdingen. Man könnte eigentlich mit Recht fordern, dass die Kosten dieser Einrichtungen von den Sklavenhaltern getragen werden. Sie schulden den Negern, die in ihrem Dienst ihre Gesundheit oder die Lebenszeit, die sie der Arbeit hätten widmen können, verloren haben, den Lebensunterhalt. Sie schulden den Kindern, deren Väter in ihren Eisen gestorben sind und kein Erbe hinterlassen konnten, den Lebensunterhalt. Sie schulden fur eine gewisse Zeit allen ihren Sklaven den Lebensunterhalt, da die Sklaverei diese gehindert hat, sich die notwendigen Rücklagen zu schaffen, um auf Arbeit zu warten. Diese Verpflichtungen sind streng und unumgänglich. Wenn aber die Regierung sie stellvertretend für die Sklavenhalter übernimmt, dann würde sie damit gewissermaßen zugunsten der Pflanzer eine Ungerechtigkeit gegenüber dem Rest der Nation begehen. Sie würde die Bürde der Abgaben fur die Unschuldigen drückender machen, um die Schuldigen zu schonen. Das einzige zugleich gerechte und mit der Situation der Sklavenhalter verträgliche Mittel wäre eine öffentliche Anleihe, rückzahlbar durch eine ausschließlich auf den Grund und Boden der Pflanzer erhobene Abgabe. 4. Es ist zu befürchten, dass die Neger, die nur daran gewöhnt sind, der Gewalt und der Laune zu gehorchen, im ersten Moment nicht von denselben Gesetzen wie die Wießen in Schranken gehalten werden könnten; dass sie Banden bilden und sich dem Raub oder einzelnen Racheakten und einem Vagabundenleben in den Wäldern und Gebirgen zuwenden. Auch bestände die Gefahr, dass diese Unruhen heimlich von den Weißen angestachelt würden, in der Hoffnung, aus ihnen einen Vorwand für die Wiedereinführung der Sklaverei zu gewinnen. Daher wäre es notwendig, die Neger in der ersten Zeit einer strengen, durch Gesetze geregelten Disziplin zu unterwerfen. Es wäre notwendig, die Ausübung der Ordnungsgewalt einem menschlichen, entschlossenen, aufgeklärten und unbestechlichen Mann anzuvertrauen, der Nachsicht mit dem Zustand des Rausches 3

Siehe das von einem königlichen Offizier verfasste Werk mit dem Titel Voyage à l'île de France. Es zählt zu den Werken, in denen die Art, wie die Neger behandelt werden, mit der größten Wahrhaftigkeit enthüllt wird.

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hätte, in den der Umschwung ihres Geschicks die Neger versetzen würde, ohne ihnen jedoch Hoffnung auf Straflosigkeit zu machen und der das Gold der Weißen ebenso wie ihre Intrigen und Drohungen verachtete. 5. Man wird sich vielleicht auf den teilweisen Verlust einer Jahresernte gefasst machen müssen. Wenn wir diesen Verlust als ein Übel betrachten, dann nicht im Hinblick auf die Pflanzer. Hat jemand sein Feld mit gestohlenen Pferden bearbeitet, und wird nun dazu gezwungen, sie zurückzugeben, würde niemand auf den Gedanken kommen, ihn zu bedauern, weil sein Feld im folgenden Jahr brach liegt. Doch die Verringerung der Ernte hat eine Verteuerung der Produkte und Verluste für die Gläubiger der Pflanzer zur Folge. Wir meinen, dass derartige Gründe nicht die Gründe der Gerechtigkeit aufwiegen können, die den Gesetzgeber verpflichten, einen ungerechten und barbarischen Gebrauch als strafwürdiges Verbrechen abzuschaffen. Wer würde auf den Gedanken verfallen, einen Raub zu dulden, weil sich die geraubten Güter mit größerem Gewinn verkaufen lassen? Wer wäre so dreist, die unbedingte Pflicht zur Wiedererstattung, die man einem Räuber auferlegt, gegen das Risiko aufzuwiegen, dass durch diese Wiedererstattung für seine Gläubiger entsteht? Wir wissen schließlich sehr gut, dass der Verlust fur die Gläubiger genau wie die fehlende Beschäftigung, die einen Teil der Neger zunächst ins Elend oder ins Verbrechen treiben könnte, nicht notwendige Folge der Veränderungen wären, sondern in der Verantwortung der Eigentümer liegen, und wir erwähnen sie ausschließlich, um keine der Unannehmlichkeiten, die eine allgemeine Sklavenbefreiung nach sich ziehen könnte, mit Schweigen zu übergehen. 6. Es lässt sich nicht verhehlen, dass die Neger im Allgemeinen von großer Stumpfsinnigkeit sind. Nicht gegen sie richtet sich dieser Vorwurf, sondern gegen ihre Herren. Sie sind getauft, doch in den Kolonien römischen Bekenntnisses lehrt man sie nicht einmal das Wenige an Moral, das die gebräuchlichen Katechismen dieser Kirche enthalten. Von unseren Pfarrern werden sie gleichermaßen vernachlässigt. Es ist offensichtlich, dass ihre Herren sich nicht darum gekümmert haben, ihnen eine auf die Vernunft gegründete Moral zu vermitteln. Die natürlichen Bindungen sind unter den Sklaven entweder nicht vorhanden oder korrumpiert. Die dem Menschen natürlichen Gefühle entstehen gar nicht erst in ihrer Seele oder werden durch die Unterdrückung erstickt. Entwürdigt durch die Demütigungen, die sie von ihren Herren erfahren, niedergehalten durch deren Härte, werden sie überdies noch durch ihr Beispiel verdorben. Sind diese Menschen würdig, dass man ihnen die Sorge für ihr Glück und die Herrschaft über ihre Familien anvertraut? Gleichen sie nicht jenen Unglücklichen, die durch barbarische Behandlung einen Teil ihres Verstandes verloren haben? Was auch immer sie hat unfähig werden lassen, Menschen zu sein: Der Gesetzgeber hat nicht so sehr die Schuldigkeit, ihnen ihre Rechte zu gewähren, als vielmehr ihr Wohlergehen sicherzustellen. Dies sind die Gründe, die uns zu der Überzeugung gebracht haben, dass ein Vorgehen, das nicht allen Negern zugleich der Genuss ihrer Rechte gewährt, mit der Gerechtigkeit vereinbar sein kann. Den Freunden der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit werden diese Gründe zweifellos sehr schwach erscheinen. Doch eine allgemeine Sklavenbefreiung bringt Kosten mit sich und erfordert Vorbereitungen. Sie verlangt eine Beharrlichkeit und Entschlossenheit, derer nur eine sehr kleine Anzahl von

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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Männern fähig ist. Mit diesen Eigenschaften müsste eine Reihe von Männern indessen noch Uneigennützigkeit, Liebe zum Guten und Mut verbinden. Die Veränderung müsste aus dem eigenen Entschluss eines Herrschers hervorgehen, der von der öffentlichen Meinung unterstützt würde oder aus dem Beschluss einer gesetzgebenden Körperschaft von beständigem Geist. Denn wenn das Vorhaben und seine Ausführung nur vom Willen eines einzelnen Mannes und der Tatkraft einiger Unterstützer abhinge, würde es bald jenes Los teilen, das die Menschheit in ihrer ewigen Barbarei und Unwissenheit noch jedem bereitet hat, der es wagte, den Schwachen gegen den Starken zu verteidigen und dem Geist der Habsucht und des Eigennutzes die Gerechtigkeit entgegenzusetzen. Ein solches abschreckendes Beispiel aber würde, zusammen mit den Vorurteilen, welche die Parteigänger des Unrechts gegen die Neuerungen ausgestreut haben, genügen, um die Negersklaverei um mehrere Jahrhunderte zu verlängern.

IX. Von den Maßnahmen zur schrittweisen Abschaffung der Negersklaverei Auch wenn die von uns dargelegten Argumente überzeugend genug erscheinen, um bei der Abschaffung der Sklaverei nicht der einzigen Vorgehensweise zu folgen, die völlig der Gerechtigkeit entsprechen würde, könnten doch andere Maßnahmen zugleich die Lebensumstände der Neger erleichtern und zu einem festgesetzten und nicht weit entfernten Zeitpunkt die vollständige Abschaffung der Sklaverei bewirken. Doch wenn wir diese Maßnahmen vorschlagen, dann nur unter Seufzen über diese Art von erzwungenem Einverständnis, das wir vorübergehend dem Unrecht geben, und indem wir versichern, dass wir sie nur vorschlagen, weil wir furchten, die Mehrzahl der Politiker könnte die allgemeine Sklavenbefreiung als das Vorhaben von Schwärmern abtun. 1. Für die Regierungen kann es keinerlei Vorwand geben, einen nationalen Binnenhandel mit Negern oder irgendeinen Import von Sklaven zu dulden. Dieser schreckliche Handelsverkehr muss mithin strengstens verboten werden. Es gilt, ihn jedoch nicht nur als Schleichhandel zu verbieten, sondern als Verbrechen. Es gilt, ihn nicht nur mit Geldbußen zu belegen, sondern mit körperlichen und entehrenden Strafen. Diejenigen, die im jeweiligen Land wegen Raubes verhängt werden, dürften genügen. Gewiss ziehen wir keinen Vergleich zwischen einem Räuber und jemandem, der sein Geschäft mit der Freiheit eines anderen Menschen macht; der Männer, Frauen und Kinder aus ihrem Vaterland entfuhrt; der sie paarweise aneinandergekettet auf einem Schiff zusammenpfercht; der ihre Nahrung nicht entsprechend ihren Bedürfnissen, sondern entsprechend seiner Habgier kalkuliert; der ihnen die Hände bindet, um sie daran zu hindern, ihrem Leben ein Ende zu setzen und der, wenn sein Schiff in eine Flaute gerät, kaltblütig diejenigen ins Meer wirft, deren Verkauf am wenigsten Gewinn bringen würde - so, wie man sich als erstes der minderwertigsten Waren entledigt. Man kann einen Raub begehen, ohne alle Gefühle der Menschlichkeit, alle natürlichen Neigungen in sich abgetötet zu haben, ohne jegliche hohe Gesinnung, jegliche Idee von Tugend verloren zu haben. Doch einem Mann, der mit Negersklaven handelt, kann unmöglich irgendein Gefühl, irgendeine Tugend oder

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irgendein Funken Redlichkeit geblieben sein. Wenn er einen Anschein davon bewahrt hat, dann handelt es sich um jene Redlichkeit der Briganten, die, ihren schuldbeladenen Versprechen treu, ihre Moral darauf beschränken, sich nicht gegenseitig zu berauben. Diese erste gesetzliche Anordnung würde das Los der N e g e r augenblicklich verbessern, weil die Eigentümer von nun an ein größeres Interesse daran hätten, ihre Sklaven gesund zu erhalten. 4 Die zweite Anordnung beträfe die Befreiung der auf den Plantagen geborenen Neger, für deren Versklavung es keinen Vorwand geben kann. Ein durch seine aufgeklärten Ansichten und seine Menschlichkeit ausgezeichneter General der Marine 5 hat vorgeschlagen, alle mulattischen Kinder für frei zu erklären. In der Tat werden sie nur durch eine abwegige Interpretation des römischen Gesetzes partus ventrem sequitur zu Sklaven. Es ist wohl einzigartig, dass ein tyrannisches Gesetz, das von Briganten an den Ufern des Tiber eingeführt und v o m Ehemann einer Kurtisane am Ufer des Marmarameers erneuert wurde, noch zweitausend Jahre später in den amerikanischen Meeren Menschen ins Unglück stürzt. Letztlich gibt es für dieses Gesetz nur einen Grund: Dass die Mutter gewiss, der Vater j e d o c h u n g e w i s s ist. In unserem Falle ist der Vater j e d o c h ebenso g e w i s s w i e die Mutter. Es ist sicher, dass er ein Weißer und folglich frei ist. Es wäre also durchaus gerecht, dem Grundsatz partus colorem sequitur zu folgen und würde 4

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Mehrere englische Kolonien in Nordamerika haben bereits vor einigen Jahren die Einfuhr von Negern verboten. Dies wird nicht das einzige Beispiel von Menschlichkeit und Vernunft bleiben, das sie Europa geben werden, wenn die Voreingenommenheit für die Verfassung und die politischen Prinzipien Englands, die merkantilistischen Auffassungen, die Leidenschaft für das Papiergeld und die Spekulation mit Bankwechseln und der aristokratische Geist dort nicht jene Gefühle der Friedensliebe, der Achtung der Menschlichkeit, der Toleranz und des Eifers für die Aufrechterhaltung der Gleichheit zerstören, die dieses rechtschaffene Volk auszuzeichnen scheinen. Monsieur de Bori, Geschwaderkommandeur, vormals Gouverneur der französischen Inseln. Bereits vor einiger Zeit versammelten sich die Pflanzer von Jamaika, um über das Los der Mulatten zu entscheiden und um festzustellen, ob es nicht angemessen wäre, sie in den Genuss der Freiheit und der jedem Engländer zustehenden Rechte zu setzen, vorausgesetzt dass der physische Beweis vorläge, dass ihr Vater Engländer sei. Die Versammlung neigte diesem Entschluss zu, bis ein eifriger Verteidiger der weißen Haut darauf verfiel, zu behaupten, dass die Neger keine Wesen unserer Gattung seien, und dies unter Berufung auf Montesquieu zu beweisen. Also verlas er die Übersetzung eines Kapitels aus dem Esprit des lois über die Negersklaverei. Die Versammlung verfehlte nicht, die bittere Ironie gegen diejenigen, die diesen abscheulichen Brauch dulden oder aus ihm Gewinn ziehen, für die wahrhaftige Meinung des Autors des Esprit des lois zu halten, und die jamaikanischen Mulatten verblieben in Knechtschaft. Diese Anekdote wurde mir von Monsieur d'Hele bestätigt, einem englischen Offizier, der in Frankreich durch mehrere Theaterstücke bekannt ist. Bei den Pflanzern auf den Philippinen werden die natürlichen Kinder der Sklavinnen frei geboren und die Mutter wird es mit ihnen. Auf der île de France bleiben die einen wie die anderen Sklaven. Monsieur le Gentil wurde dort mit Entsetzen Zeuge, wie Väter ihre eigenen Kinder zusammen mit der Mutter verkauften. Le Gentil Voyage dans les mers de l'Inde, Band II, Seite 72. Siehe auch, was er im gleichen Band über die Pflanzer auf Madagaskar sagt. Es handelt sich hier um einen weiteren Autor, der die Negersklaverei nicht für eine über die Maßen gerechte, menschliche und nützliche Erfindung hält.

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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(da es sich ja immer gut macht, ein paar Rechtsgrundsätze zu zitieren) auch eher jener so alten Regel entsprechen, im Zweifelsfall Milde walten zu lassen und zugunsten des Bedrängten zu entscheiden. Wir sehen nur ein einziges Hindernis für dieses an sich gerechte Gesetz: Man würde die Negerinnen, die im Verdacht stehen, in ihrem Busen ein Kind zu tragen, das keinen Nutzen für ihren Herren hätte, mit barbarischen Misshandlungen überhäufen. Man würde an denjenigen von ihnen, die dieses Verbrechens überfuhrt wären, Grausamkeiten verüben, und es wäre notwendig, eine öffentliche Anstalt für die betreffenden Kinder zu unterhalten. Einer Befreiung aller Kinder, die geboren werden, ob schwarz oder mulattisch, stellen sich dieselben Hindernisse in den Weg. In diesem Fall läge es zwar nicht im wohlverstandenen Interesse der Herren, die Geburt von Menschen zu verhindern, deren Arbeitskraft ihnen eines Tages nützlich sein könnte. Doch dieser Gedanke, sich für eine entfernte Zukunft einen Mann vorzuhalten, dem man Lohn zahlen muss, wird für den Pflanzer weniger nahe liegend sein, als der Verlust der Arbeit der schwangeren Negerinnen: Folglich würden diese gerechten, von der Menschlichkeit diktierten Gesetze zur Ursache von Verbrechen werden. Wir schlagen also vor, die Neger, die künftig geboren werden, nicht sogleich bei ihrer Geburt freizulassen, sondern ihrem Herren die Möglichkeit zu geben, sie aufzuziehen und als Sklaven zu verwenden, unter der Bedingung, dass sie im Alter von fünfunddreißig Jahren freigelassen werden. Ihr Herr verpflichtet sich dabei, ihnen nach ihrer Freilassung die Lebensmittel und den Unterhalt fur sechs Monate vorzustrecken beziehungsweise ein lebenslanges Kostgeld zu zahlen, falls sie verkrüppelt sind oder von einem mit dieser Untersuchung beauftragten Arzt fur arbeitsunfähig erklärt werden. Wenn der Herr es ablehnt, fur das Kind zu sorgen, sollte es für frei erklärt und in eine öffentliche Anstalt verbracht werden. Die Mutter sollte vor der Zeit ihrer Niederkunft in dieselbe Anstalt gebracht werden und dort nach der Entbindung ein Jahr bleiben, für den Zeitraum also, der notwendig zur Entwöhnung des Kindes ist. Dieser Verlust an Arbeitskraft wäre ein kleines Opfer, welches die Pflanzer der Menschlichkeit darbrächten und eine recht geringe Entschädigung für so viel erlittenes Unrecht. Man hätte zweifellos allen Anlass zu fürchten, dass die Herren, die sich keine Kinder aufbürden wollen, versuchen würden, die Negerinnen durch Arbeit oder Misshandlungen zu einer Fehlgeburt zu bringen. Diese Gefahr lässt sich verringern, indem man alle zwei Monate eine ärztliche Visite in jeder Plantage vorschreibt. Während dieser von einem Arzt oder Chirurgen in Begleitung eines öffentlichen Beamten durchgeführten Visite würde bei jeder Negerin festgestellt, ob eine Schwangerschaft vorliegt. Wenn, bei einer Fehlgeburt, die für diese Aufgabe bestimmten Spezialisten, nachdem sie rechtzeitig herbeigerufen wurden, feststellen sollten, dass diese durch Erschöpfung oder Misshandlungen hervorgerufen wurde, würde die Negerin auf Kosten ihres Herren gesund gepflegt und sodann für frei erklärt werden, während der Herr verurteilt würde, ihr für die Zeit, in der sie für arbeitsunfähig erklärt ist, sowie sechs Monate darüber hinaus oder, wenn ihre Schädigungen unheilbar sind, lebenslänglich Unterhalt zu zahlen. Wenn man das Kind einer Negerin, die als schwanger eingeschrieben war, nicht vorweisen kann und

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der Arzt nicht zur Feststellung einer Geburt oder Fehlgeburt gerufen wurde, sollte die Negerin fur frei erklärt werden. Dieses Gesetz würde keine Ungerechtigkeit mit sich bringen, da der Gesetzgeber nicht allein das Recht hat, jede Art von Sklaverei abzuschaffen, sondern von der Gerechtigkeit dazu verpflichtet wird. Die Freilassung einer Negerin ohne Begründung oder selbst infolge eines Fehlers ist immer eine gerechte Sache. Ihr Herr ist in der Lage eines Mannes, dem erlaubt wurde, auf einer Landstraße alle Frauen, die nicht schwanger sind, auszurauben und dem man nun auferlegt, einer der von ihm beraubten Frauen zurückzuerstatten, was er ihr geraubt hat, weil man sich über ihren Zustand getäuscht hat. Was den Unterhalt betrifft, den man dem Herren abfordert, so entspricht es vollkommen der Gerechtigkeit, den Herren zur Unterhaltsleistung an den Sklaven zu verpflichten, gleichgültig welchen Grund die Gebrechlichkeit des Sklaven hat. Denn man kann immer davon ausgehen, dass der Sklave, wenn er frei und von freien Eltern geboren gewesen wäre, ein ausreichendes Vermögen hätte sparen oder erben können, um für seine Bedürfnisse aufzukommen. Im Alter von vierzig Jahren würde man alle Neger für frei erklären, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gesetzes jünger als fünfzehn Jahre sind. Was diejenigen betrifft, die älter als fünfzehn Jahre sind, so würden sie, sobald sie das fünfzigste Lebensjahr erreicht haben, bei einer zweimal jährlich stattfindenden Visite befragt werden, ob sie es vorziehen bei ihrem Herren zu bleiben oder in eine öffentliche Anstalt einzutreten, in der sie verpflegt werden. Wenn sie sich für dieses Haus entscheiden, müsste ihr Herr, der ihr Leben lang von ihrer Arbeit profitiert hat, eine vom Gesetz festgelegte jährliche Pension zahlen. Diese Bedingung wäre nicht ungerecht gegenüber dem Herrn. Nachdem er diesen Unglücklichen fünfzig Jahre lang ein schreckliches Unrecht zugefügt und mehr als dreißig Jahre von ihrer Arbeit profitiert hat, schuldet er ihnen nach dem Naturrecht und unabhängig von jedem Gesetz nicht nur Verpflegung, sondern auch eine Entschädigung. Indessen kommen wir dem Geiz der Sklavenhalter so weit entgegen, dass wir außer der einfachsten Verpflegung nichts von ihnen verlangen. Es wäre zu befürchten, dass diese neuen Bestimmungen das Los der momentan in Sklaverei gehaltenen Neger verschlimmern. Dem gilt es also mit einer weiteren gesetzlichen Verfügung vorzubeugen. Bei den alle zwei Monate stattfindenden Visiten sollte jeder Neger, an dessen Körper der Arzt Spuren von Misshandlungen findet, für frei erklärt werden. Jeder kranke Neger, dem der notwendige Beistand vorenthalten wird, würde nach Untersuchung durch den Arzt für frei erklärt, von der Plantage weggebracht, auf Kosten seines Herren gesund gepflegt und zu dessen Lasten verpflegt werden, bis er wieder arbeitsfähig ist. Die jedem arbeitsunfähigen Neger zustehende Pension sollte immer entweder für die gesamte Zeit seiner Gebrechlichkeit gewährt werden oder, falls er das Unglück hat, dass seine Gebrechen dauerhaft ist, sein Leben lang. Falls der für frei erklärte Neger noch im Kindesalter ist, soll sein Herr verurteilt werden, ihm bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr jährlich eine Summe im Wert der Verpflegung eines Negers auszuzahlen; falls er älter als fünfundvierzig Jahre ist, bis zu seinem Tod. Wir haben im letzten Abschnitt nur von den Schwarzen, die ihr Leben lang Sklaven bleiben, sowie von deren Kindern gesprochen. Die Sklaven, die nur bis zu ihrem fünfunddreißigsten Jahr in Dienst stehen, sind Bürger, die berechtigt sind, vor Gericht Klage

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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zu fuhren, um ihre Herren zur Einhaltung der in ihrem Namen vom Gesetz getroffenen Bestimmungen zu zwingen oder sie für deren Verletzung bestrafen zu lassen. Sie können somit auch für ihre Kinder Gerechtigkeit einfordern. Folglich müsste dieser Klasse von Negern nicht nur in denselben Fällen die Freiheit und die festgesetzten Entschädigungen gewährt werden wie den anderen, man könnte ihnen auch nicht das Recht nehmen, ihre Herren vor Gericht zu bringen, wenn sie sich geschädigt glaubten. Sie sind im Grunde keine wirklichen Sklaven, sondern auf Zeit verpflichtete Bedienstete. Man sollte für sie eine Form der Ehe einrichten, die während der Zeit ihrer Dienstpflicht der Zustimmung des Herrn bedarf, wenn nicht beide Ehegatten auf seiner Pflanzung in Dienst sind oder wenn einer von ihnen ein Sklave auf Lebenszeit ist. Die Geburt und der Tod eines jeden Negers sollte amtlich registriert werden. Jeder auf einer Plantage angetroffene Neger, dessen Geburt nicht registriert ist, würde für frei erklärt werden. Wenn ein Neger, ob Mann oder Frau, verschwindet, ohne dass sein Herr beweisen kann, dass er geflohen ist, soll der öffentliche Beamte zwei Sklaven von gleichem Geschlecht zwischen zwanzig und dreißig Jahren freilassen.6 Der Herr hat die Pflicht, die Kinder der auf Zeit dienenden Sklaven zu verpflegen, da er von der Arbeit ihrer Eltern profitiert hat und noch profitiert. Diese Kinder sollen zum Zeitpunkt der Freiheit ihres Vaters frei werden oder zum Zeitpunkt der Freilassung ihrer Mutter, falls der Vater als Sklave gestorben ist oder zur Klasse der lebenslänglichen Sklaven gehörte oder wenn das Kind unehelich geboren ist. Im Alter von achtzehn Jahren würden die männlichen oder weiblichen Kinder der lebenslänglich in Sklaverei gehaltenen Neger das Recht erwerben, persönlich Klage gegen ihren Herrn zu erheben. Wird die Klage zugelassen, sollten sie, für die Dauer des Prozesses, auf Kosten ihres Herrn in einer öffentlichen Anstalt untergebracht werden. In jeder Kolonie oder jedem Kanton sollte es einen öffentlichen Beamten geben, der speziell damit betraut ist, die Sache der Neger zu vertreten. Derselbe Beamte würde zugleich Vormund der Negersklaven sein, die jünger als achtzehn Jahre sind, und Vollmacht haben, gerichtlich gegen deren Herren vorzugehen, wenn er meint, dass deren Vergehen nicht hinreichend durch die Freilassung dieser Kinder und die Verpflichtung zur Unterhaltszahlung für sie bestraft sind. Schließlich sollte ein Tarif bestimmt werden, der den mittleren Preis für den Wert eines Negers in den unterschiedlichen Altersstufen und gemäß den unterschiedlichen Längen ihrer Dienstpflicht festsetzt und jeder Neger, der seinem Herrn die durch den Tarif festgesetzte Summe anbietet oder für den jemand diese Summe bietet, wäre von dem Zeitpunkt an frei, in dem die Summe bei einem öffentlichen Beamten hinterlegt ist. Diese Verordnung hätte insbesondere den Vorteil, die Negerinnen von all den Leiden zu erlösen, denen die Ausschweifung und Wildheit ihrer Herren sie aussetzen. Rasch würden sie durch die Menschlichkeit, ja sogar durch die Lasterhaftigkeit befreit werden, denn es 6

Es ist vielleicht nicht überflüssig hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass diese Verfügung in keiner Weise ungerecht ist, selbst wenn der Herr am Verschwinden seines Sklaven unschuldig sein sollte. Wie bereits gesagt, hat der Gesetzgeber das Recht und sogar die Pflicht, nicht nur zwei Sklaven, sondern alle Sklaven zu befreien.

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wäre nicht erlaubt sie loszukaufen, um sie einem neuen Herrn zuzuführen, sondern nur, um sie zu befreien. Wenn ein Sklavenhalter, nachdem er von der Hinterlegung der festgesetzten Summe beim öffentlichen Beamten Kenntnis erhalten hat, den Sklaven gegen seinen Willen festhält oder wenn er einen Sklaven über dessen gesetzlich festgelegte Dienstzeit hinaus gefangen hält, dann und in allen vergleichbaren Fällen, hätte sich der Herr des Verbrechens schuldig gemacht, einen freien Mann als Sklaven zu halten, und müsste wie für einen Raub bestraft werden. Diese Gesetzgebung hätte keinen der Nachteile, die man bei überstürzten Veränderungen stets befurchtet, da die Freilassungen nur nach und nach erfolgen würden. Sie gäbe einerseits den Pflanzern die Zeit, ihre Anbaumethoden langsam zu ändern und sich die Mittel zu verschaffen, ihre Ländereien sei es von Weißen, sei es von freien Schwarzen bebauen zu lassen, andererseits der Regierung, das System der Polizei und der Gesetzgebung für die Kolonien zu ändern. Wenn man davon ausgeht, dass die Negerinnen bis zu ihrem fünfzigsten Jahr Kinder gebären können und die Neger eine Lebenserwartung von fünfundsechzig Jahren haben, dann gäbe es nach siebzig Jahren keinen einzigen Sklaven mehr in den Kolonien. Die Klasse der lebenslänglich versklavten Neger würde nach fünfzig Jahren aufhören zu existieren. Die der dienstpflichtigen Neger wäre zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sehr zahlreich. Nach fünfunddreißig bis vierzig Jahren wäre die Zahl der versklavten Neger schließlich beinahe null, und selbst die der zu vorübergehender Sklaverei verpflichteten Neger hätte sich auf höchstens ein Viertel der heutigen Zahl verringert.7

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Im Übrigen kann man diese Fristen nur gemäß lokaler Erkenntnisse und fortlaufender Beobachtungen bezüglich der Gesundheit der Neger verschiedenen Alters und des Werts ihrer Arbeit festlegen. Was wir uns hier zum Ziel gesetzt haben ist: 1. Den Verbrechen der Herren durch den einfachen Entzug ungerechter Rechte oder durch Wiedergutmachungen, welche schon die Gerechtigkeit erfordert, vorzubeugen. 2. Die Herren lange genug im Besitz ihrer Neger zu lassen, um sie für den Preis, den deren Erziehung oder Kauf sie gekostet hat, zu entschädigen. Würde man eine derartige Gesetzgebung auf Dauer einrichten, würden die Kolonisten höchstwahrscheinlich versuchen, die Richter und Ärzte zu bestechen. Doch diese Gefahr ist sehr viel geringer, wenn die Gesetze zeitlich begrenzt sind. Anfangs würden diese wie alle Menschen vom Geist der Aufgabe beseelt sein, für die sie ausgewählt worden sind. Ich würde sogar vermuten, dass es gelingen könnte, über einen längeren Zeitraum hinweg rechtschaffene Ärzte zu finden, indem man sie nicht unter den mittelmäßigen Praktikern auswählt, sondern unter den jungen, von Leidenschaft für die Wissenschaften erfüllten Männern, die weniger um des Geldes als vielmehr ihrer Studien willen in die Kolonien gehen würden. Der Vorschlag, zwei Sklaven zu befreien, wenn einer verloren geht, mag abwegig erscheinen. Doch es steht dem Herren frei, zu beweisen, dass sein Sklave geflohen ist und es spricht nichts dagegen, zu seinen Gunsten die Zeugenaussage anderer Sklaven zuzulassen. Im Grunde läuft dieses nur iür eine begrenzte Zeit geltende Gesetz bloß auf die Anwendung der folgenden Prinzipien hinaus: Um den Herren, der angeklagt ist, einen Sklaven getötet zu haben, zu einer über die Freilassung hinausgehenden Strafe zu verurteilen, bedarf es eines vollständigen Beweises, doch der Verdacht reicht aus, um ihn zu einer Handlung zu verpflichten, zu der ihn die strenge Gerechtigkeit ohnehin zwingen müsste, selbst wenn er unschuldig wäre.

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X. Über die Projekte zur Milderung der Negersklaverei Wir haben Gesetze vorgeschlagen, von denen wir meinen, dass sich mit ihrer Hilfe die Negersklaverei am sichersten schrittweise abschaffen und für die Dauer ihres Fortbestehens mildern lässt. Man könnte sich vorstellen, dass den letzteren vergleichbare Gesetze die Sklaverei zwar nicht legitim aber doch weniger barbarisch und wenn auch nicht mit der Gerechtigkeit so doch mit der Menschlichkeit vereinbar machen könnten. Wir halten derartige Maßnahmen für unzureichend, um die Sklaverei zu mildern. Sie können nur zweckmäßig sein, wenn sie für einen begrenzten Zeitraum eingeführt werden und ausschließlich dazu dienen, eine systematische Freilassung zu begleiten. Unter den Maßnahmen, die wir gebraucht haben, ist die einzige Strafe für den Herrn die Freilassung des Sklaven oder höchstens noch eine kleine Pension. Und, wie wir bereits gesagt haben, ist das eine wie das andere eine Forderung der natürlichen Gerechtigkeit, selbst wenn der Herr niemals seine Macht missbraucht hat. Es handelt sich um unerlässliche Entschädigungen für das Unrecht, das er seinem Sklaven angetan hat, indem er ihn in Sklaverei gehalten hat: ein Verbrechen, das keiner gerichtlichen Untersuchung bedarf, um festgestellt zu werden. Die Notwendigkeit, ein begangenes Verbrechen wieder gutzumachen, ergibt sich aus dem Naturrecht und muss nicht im Voraus durch irgendein Gesetz verordnet worden sein. Folglich ist es gerecht, jemanden, der seinem Mitmenschen den Gebrauch der Freiheit nimmt, zur Wiedergutmachung dieses Unrechts zu verurteilen, ohne dass es notwendig gewesen wäre, ihn durch irgendein Gesetz darauf hinzuweisen, dass er diese Strafe auf sich zieht, wenn er das Verbrechen begeht oder ihm nachweisen zu müssen, dass er diesem ersten Verbrechen noch Beleidigungen oder Misshandlungen hinzugefügt hat. Doch um andere Strafen als diese Wiedergutmachung aufzuerlegen, müssen sie, erstens, bevor das Verbrechen begangen wurde, durch ein Gesetz ausdrücklich festgelegt worden sein, und zweitens muss die Tat, fur die man diese Strafen auferlegt, gerichtlich bewiesen worden sein. Doch wären die von uns genannten einfachen Wiedergutmachungen wohl keine ausreichende Strafe, um den Gewalttaten der Herren Einhalt zu gebieten. Jemand, der seine Neger vielleicht hat foltern lassen, der sie vielleicht auf kleinem Feuer hat rösten lassen, verdient Strafen anderer Art: Um ihm aber diese Strafen aufzuerlegen, reicht es nicht aus, sie durch ein Gesetz festzulegen, vielmehr muss das Verbrechen bewiesen sein. Wäre es gerecht, in einem solchen Fall das Zeugnis der Neger gegen ihre Herren zuzulassen? Vielleicht könnten gewisse Autoren auf diesen Gedanken verfallen und sagen: Die Herren haben keinerlei Recht, Sklaven zu halten. Man gesteht ihnen die Sklavenhaltung unter der Bedingung zu, dass sie, wenn sie eines Verbrechens gegen einen ihrer Sklaven beschuldigt werden, aufgrund der Aussage anderer Sklaven verurteilt werden können. Damit geben sie freiwilllig, um sich das in ihren Augen so wertvolle Recht zu erhalten, alle natürlichen Rechte zu verletzen, den Genuss der Vorkehrungen auf, die das Gesetz zum Schutz der Sicherheit der Bürger getroffen hat. Sollen sie ihre Sklaven freilassen, sollen sie gerecht sein und die Gesellschaft wird es mit ihnen sein. Wir meinen, dass man gegen diese Argumentation nicht nur einwenden kann, dass ein solches Gesetz ungerecht wäre, was aus

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den Prinzipien, die wir auf Seite 55f. aufgestellt haben, eindeutig folgt, sondern auch, dass es die Sklaven in ihren Lastern bestärken würde. Wenn man hingegen die Zeugenaussagen der Neger nicht zulässt, wird jeder Nachweis von Delikten, die von ihren Herren begangen wurden, unmöglich. Hieraus ergibt sich, dass es, im Falle eines dauerhaften Bestehens der Sklaverei, keinerlei gerechte und rechtliche Mittel gibt, um die Sicherheit der Sklaven zu gewährleisten. Im Übrigen wird jedes Gesetz, das auf eine Milderung der Sklaverei abzielt, bald außer Gebrauch kommen. Werden die Männer, die über seine Ausführung zu wachen haben, einen Pflanzer vor Gericht bringen, dessen Tochter sie heiraten wollen, in dessen Gesellschaft sie täglich leben, nur um armseligen Negern beizustehen? Hat man jemals erlebt, dass der Arme Gerechtigkeit gegen den Reichen erlangt hat - außer vielleicht, wenn mehr dabei zu gewinnen war, den Reichen zu belangen, als sich bestechen zu lassen? Hat man je in einem geordneten Staatswesen den Schwachen gegen den Starken Gerechtigkeit erlangen sehen? Je strenger das Gesetz gegen den Sklavenhalter wäre, desto weniger würde es zur Anwendung kommen. Die Männer (wenn man sie tatsächlich so bezeichnen darf), die sich erdreisten zu versichern, dass die Negersklaverei notwendig ist, versäumen es selten, ihren Werken einen kleinen Anhang mit Gesetzesvorschlägen beizufügen, die das Los der Unglücklichen, die sie beleidigen, erleichtern sollen. Doch glauben sie selbst nicht an die Wirksamkeit dieser Gesetze und fügen der Barbarei die Heuchelei hinzu. Sie wissen genau, dass ihr ganzer Gesetzesapparat den Negern keinen einzigen Peitschenhieb ersparen und ihre kümmerliche Verpflegung nicht um eine Unze reicher machen wird. Doch, selbst Pflanzer oder im Sold der Pflanzer stehend, möchten sie wenigstens den Regierungen Sand in die Augen streuen und den Eifer derjenigen Männer hemmen, deren Geist sich noch nicht so weit herabgewürdigt hat, dass er alles als ehrbar ansieht, was die Gewohnheit ungestraft lässt. Diese Zierden ihres Jahrhunderts scheinen zu furchten, dass die Regierungen nicht gleichgültig genug gegenüber der Gerechtigkeit sind und dass Vernunft und Menschlichkeit zu große Macht erlangen könnten. Selbst die Gesetze, die wir vorgeschlagen haben, so milde sie auch sind, würden nicht zur Ausführung kommen, wenn sie auf unbegrenzte Zeit gelten würden oder andere Prüfungen erforderten als eine einfache Inspektion oder das Urteil eines Arztes. Nicht umsonst haben wir die Ausführung dieses Teils der Gesetze den Männern dieses Standes anvertraut. Denn allein unter ihnen kann man in den Kolonien hoffen, Menschlichkeit, Gerechtigkeit und moralische Prinzipien anzutreffen. Die Verwaltungsbeamten und die Angestellten der verschiedenen Würdenträger sind allesamt Männer, die auf den Inseln ein Vermögen erwerben wollen, das sie in Europa nicht erlangen können.8 Wenn sie keine Intriganten sind, die ihre Ehre bereits verloren 8

Jemand, der besitzlos geboren wurde und ein großes Vermögen erworben hat, muss zwangsläufig ein habgieriger, in den Mitteln des Erwerbs wenig wählerischer Mensch sein, der sein Vergnügen und seine Muße der Habsucht geopfert hat. Je schwieriger es für ihn war, zu Reichtum zu gelangen, je mehr Zeit er Geldangelegenheiten widmen musste, desto sicherer ist die Liebe zum Reichtum seine vorherrschende Leidenschaft. Nun können die Gemüter, die von dieser Leidenschaft befallen sind,

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haben, dann entstammen sie zumindest jener Klasse habgieriger, unruhiger und mittelloser Männer, aus der die Intriganten hervorgehen. Einige französische Offiziere sind mit einer reinen Seele in die Kolonien gekommen. Doch mehr am Militärischen als an Gesetzen interessiert, leicht verfuhrbar durch die Heuchelei der Pflanzer, abgestoßen von der Verderbtheit der Neger, die ihre Laster schlechter zu verstecken gelernt haben, und zu wenig Philosophen, um zu bemerken, dass diese Verderbtheit nur ein Grund mehr ist, die Neger zu bemitleiden und ihre Tyrannen zu hassen, mit diesen aber Tyrannen durch Blutsbande, durch den Vorteil, durch die Gewohnheit verbunden, haben sie der herrschenden Meinung nachgegeben, die sie die Sklaverei für notwendig halten lässt, oder es fehlt ihnen der notwendige Mut, um sich für die Abschaffung der Negersklaverei einzusetzen. Mancher, der den Tod nicht fürchtet, furchtet denen zu missfallen, in deren Gesellschaft er lebt. Mancher, der in der Schlacht der Kanone die Stirn bietet, wagt es nicht, heimlichen Widersachern zu trotzen, die es gewohnt sind, mit der Menschlichkeit Scherz zu treiben. Wenn die christlichen Priester auf den Inseln die Grundsätze ihrer Religion kennen würden und den Mut hätten, ihnen in der Praxis zu folgen, würden die Pfarrer des heiligen Evangeliums die Pflanzer zum Abendmahl empfangen? Würden die Priester der römischen Kirche sie zur Eucharistie zulassen? Ihnen die Absolution erteilen? Sind die Pflanzer, die Sklaven besitzen, nicht öffentliche Sünder, Männer, die mit einem vor aller Augen begangenen Verbrechen befleckt sind, das sie jeden Tag neu begehen?9 Unter den Ärzten, die das Meer überqueren, gibt es eine große Zahl, die bloß von der Lust am Neuen verlockt werden, und wenn die Regierung unter ihnen mit Sorgfalt auswählt, kann sie echte Freunde der Menschlichkeit finden. Sodann würde es genügen, wenn es in jeder Kolonie einen Verteidiger der Sache der Neger gibt, und man könnte sich Hoffnungen machen, dass die zu ihren Gunsten erlassenen Gesetze zur Anwendung kämen. Ist diese letzte Bedingung denn unmöglich zu erfüllen? Würde man in ganz Europa nicht ein dutzend Männer finden, denen das Gold gleichgültig ist und die den Manioksaft nicht fürchten? Selbst wenn wir annehmen, dass die Kolonisten Mittel und Wege finden, einen Großteil der Gesetze, die wir vorgeschlagen haben, zu umgehen, würde die Sklaverei zumindest

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sich die Maske aller Tugenden, sogar die der Selbstlosigkeit vorhalten - tatsächlich besitzen sie keine einzige. Wenn ihr nur nach einer gemeinen Redlichkeit verlangt, so findet ihr sie in allen Ständen und allen Vermögensverhältnissen. Doch wenn ihr höhere Ansprüche habt, sucht niemals unter jenen Männern, die sich, nachdem sie aus der Dürftigkeit aufgestiegen sind, nicht mit einem für ihren Stand durchschnittlichen Vermögen zufrieden gegeben haben. Wir sprechen hier nicht von Männern, die ihr Vermögen der Sparsamkeit verdanken. Obwohl wir Pfarrer eines anderen Bekenntnisses sind, halten wir uns für verpflichtet, einem französischen Mönch vom Predigerorden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er ist dem Beispiel seiner evangelischen wie römischen Mitbrüder nicht gefolgt, sondern hat vielmehr den Mut besessen, in einem vor einigen Jahren veröffentlichten Werk über die Kolonie Santo Domingo, ein wahrhaftiges Bild der schrecklichen Barbarei, die an den Negern verübt wird, zu präsentieren und die Verleumdungen zu widerlegen, die ihre Herren in Europa gegen sie verbreiten.

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nicht mehr länger als siebzig Jahre bestehen. Das Gesetz, das den Negern erlaubt, sich freizukaufen beziehungsweise den Freien, die Neger nach einem Tarif loszukaufen; das Gesetz, welches die Neger von einem bestimmten Alter an für frei erklärt und dasjenige, welches ihren Kindern gemeinsam mit ihnen die Freiheit gibt - alle diese Verordnungen können nur durch offene Pflichtverletzung von Seiten der Richter umgangen werden. Das Verbrechen aber, das der Pflanzer begeht, wenn er freie Neger festhält, kann durch juridische Beweise nachgewiesen werden, ohne auf die Zeugnisse von Negern oder auf die noch verdächtigeren Zeugenaussagen von Weißen zurückzugreifen zu müssen. Somit wird wenigstens den Übeln, welche die übrigen gesetzlichen Verordnungen nicht verhindern konnten, eine Frist gesetzt sein. Die Anzahl der Negersklaven und folglich die Anzahl der Verbrechen wird sich jedes Jahr verringern. Und wenn die Gesetze zur Milderung der Sklaverei auch nur ein einziges Opfer retten würden, hätten sie bereits viel Gutes bewirkt. Mit einem Wort, wenn die Sklaverei dauernden Bestand hat, kann der Apparat einer milden Gesetzgebung zugunsten der Neger vielleicht ein vorübergehendes und schwaches Gut hervorbringen, doch das Übel dauert ewig. Hier hingegen ist es das Gut, das ewig währen wird. Eine mangelhafte Ausführung des Gesetzes kann die Fortschritte des Guten zwar mehr oder minder verlangsamen, aber nicht zum Stillstand bringen.

XI. Vom Anbau nach der Beseitigung der Sklaverei Der Anbau durch freie Neger und der Anbau durch freie Weiße müssen hier getrennt betrachtet werden. Tatsächlich wird es in jeder Kolonie in der ersten Zeit notwendigerweise zwei Bevölkerungsgruppen geben, die sich in Ernährung, Gewohnheiten und Sitten unterscheiden werden. Im Verlauf einiger Generationen werden sich die Schwarzen allerdings vollständig mit den Weißen vermischen und es wird außer der Hautfarbe keinen Unterschied mehr geben. Auf lange Sicht wird die Mischung der Rassen schließlich sogar diesen letzten Unterschied zum Verschwinden bringen. Die Negersklaven beziehen gewöhnlich den größten Teil ihrer Verpflegung von einem Stück Land, das man ihnen zur Bebauung überlässt. Dieselbe Fläche ernährt sie, ob sie Freie oder Sklaven sind. Man stellt dem Negersklaven darüber hinaus einige zusätzliche Lebensmittel, einige Kleidungsstücke und das Land, auf dem er sich eine Hütte errichtet, zur Verfugung. Der freie Neger muss sich mit seinem Lohn gleichwertigen Ersatz erwerben können. Für den Negersklaven hat sein Herr einen bestimmten Preis bezahlt. Für den freien Neger hat er nichts bezahlt. Doch der Lohn des freien Negers muss ausreichen, damit er seine Familie ernähren kann. Die jeweiligen Kosten wiegen sich wahrscheinlich gegenseitig auf. Gemäß der natürlichen Ordnung haben ein Mann und eine Frau als Nachkommen einen Jungen und ein Mädchen. Nun müssen aber die Kosten fur die Verpflegung eines Jungen und eines Mädchen bis zu dem Zeitpunkt, wo sie durch Arbeit ihren Lebensunterhalt erwerben können, zusammen mit dem, was die Verpflegung der in jungem Alter gestorbenen Kinder der betreffenden Familie gekostet hat,

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gleich dem Betrag oder niedriger als der Betrag sein, den ein Neger oder eine Negerin kostet. Andernfalls wäre es vorteilhafter, Neger zu kaufen als sie aufzuziehen, was nicht der Fall ist. Wenn der freie Neger die nötigen Mittel verdienen muss, um seine Eltern im Alter zu versorgen oder eine Rücklage für sein eigenes Alter zu bilden, so muss andererseits der Sklavenhalter den alten Neger verpflegen. Der Anbau durch freie Neger ist also nicht notwendigerweise teurer als der durch Sklaven. Er ist es nur, wie wir bereits gesagt haben, insofern die Aufteilung des Bruttoertrags sich im Zustand der Freiheit gemäß freier Vereinbarung vollzieht, in der Sklaverei hingegen entsprechend der Habgier des Sklavenhalters, und insofern im Zustand der Freiheit die Konkurrenz der Arbeiter und der Eigentümer untereinander die Höhe der Löhne bestimmt und nicht die von der Habgier durchgeführte Berechnung der Not, auf die man einen Menschen herunterbringen kann, ohne die Arbeitsleistung, die sich durch Peitschenhiebe aus ihm herausschinden lässt, zu sehr zu vermindern. Doch muss man nicht meinen, dass der Kostenunterschied zwischen den beiden Arten des Anbaus so groß ist, wie man früher angenommen hat. 1. Die den Negern für ihre Verpflegung überlassenen Ländereien sind schlecht bestellt. Sie würden besser bestellt werden, wenn man sie an die Neger wie an freie Kolonisten verpachten würde. 2. Die Art und Weise der Nutzung des Bodens würden sich zum Vorteil des Eigentümers ändern. Er müsste seine Ländereien nicht mehr selbst bewirtschaften. Die Kosten für die Zuckerherstellung, die Mühen des Verkaufs und die Havarien müssten nicht mehr unmittelbar von ihm getragen werden, sondern würden sich auf Pächter, Fabrikanten und Händler verteilen, für die Ausgaben dieser Art sehr viel weniger ins Gewicht fallen und die den Eigentümer an dem Gewinn, den sie mit den Produkten machen, beteiligen würden. In diesem System der Bewirtschaftung gäbe es Männer, die daran interessiert wären, den Anbau und die Verarbeitung der Erzeugnisse zu verbessern. Und der Gewinn, der aus dem Fortschritt dieser Künste entstünde, würde letztlich immer zu einer Erhöhung der Einkünfte des Eigentümers führen. 3. Die Plantagen ließen sich aufteilen. Sie könnten stückweise verpachtet oder veräußert werden oder als Bürgschaft für Gläubiger dienen. Diese Veränderung würde zugleich sehr vorteilhaft für die Pflanzerfamilien sein und eine bessere Nutzung der Ländereien bewirken. Zwar würden diese Vorteile nur langsam zum Tragen kommen, doch wenn wir dem von uns vorgeschlagenen langsamen Vorgehen bei der Sklavenbefreiung folgen, würden die Verluste der Eigentümer ebenfalls nur nach und nach eintreten und geringer sein, als sie vermuten. Die Mehrzahl der Neger würde sich zu einem niedrigen Lohn verdingen, denn die meisten von ihnen sind zu nichts anderem als einer Beschäftigung in der Landwirtschaft geeignet und selbst wenn alle dort Arbeit finden würden, blieben sie doch immer einfache Tagelöhner, deren Lohn allein schon aus diesem Grund nirgends höher ist als das gerade zum Leben Notwendige. Darüber hinaus haben wir, aufgrund von Berechnungen, die uns von einem gewissenhaften Mann übermittelt wurden, festgestellt, dass der Wert der Neger, die auf einer Plantage beschäftigt sind, ungefähr ein Drittel des Werts dieser Plantage ausmacht. Nehmen wir also an, die Einkünfte des Pflanzers verrin-

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gern sich infolge unserer Gesetzgebung um ein Drittel, so verringern sie sich doch nur um den Wert der Negersklaven, das heißt um den Geldwert des Unrechts, das er ihnen angetan hat, indem er sie ihrer Freiheit beraubte. Ihm wird somit nur genommen, was er sich durch ein Verbrechen gewaltsam angeeignet hat. Eigentlich hat er also nichts verloren, woraus folgt, dass der Pflanzer, wenn der Verlust geringer bleibt als ein Drittel, durch diese Änderung der Verwaltung tatsächlich einen Gewinn macht. Was den Anbau durch Weiße betrifft, könnten, erstens, die Kolonisten auf ihren Plantagen weiße Familien ansiedeln, vermittels ähnlicher Vereinbarungen, wie sie in den englischen Kolonien in Nordamerika üblich sind. Zweitens könnten die Regierungen, die auf den französischen und spanischen Inseln noch Ländereien zur freien Verfugung haben, diese in kleine Besitzungen unterteilen und dort weiße Familien ansiedeln. In der ersten Zeit müsste man zur Verarbeitung des Zuckers und des Indigos mit einem Händler eine Vereinbarung über die Errichtung einer öffentlichen Mühle oder einer öffentlichen Indigofabrik treffen. Drittens könnte man den französischen Protestanten erlauben, Plantagen zu erwerben, verbunden mit der Freiheit zur Ausübung ihrer Religion auf jeder Plantage oder in jedem aus mehreren Plantagen gebildeten Kanton, der von mehr als hundert Menschen bewohnt wird, vorausgesetzt, diese hundert Menschen, Schwarze wie Weiße, sind frei. Man könnte zu denselben Bedingungen den Juden erlauben, Plantagen zu erwerben und dort die Zeremonien ihrer Religion abzuhalten. Die Engländer und die Holländer könnten den Juden dieselben Vorteile gewähren. Insofern die Inseln mit amerikanischen oder afrikanischen Negern die einzigen Länder mit einer gemäßigten Regierung wären, in denen ein Jude echten Grundbesitz haben dürfte, könnte dieses Angebot für sie verlockend sein. Die Bedingung, dass der Anbau nur mit freien Männern betrieben werden dürfte, würde sie nicht abschrecken, weil es unter ihnen viele arme und arbeitsame Individuen gibt und sie von Natur aus mäßig und sparsam sind. Daher würde es auch den reichen Juden nicht schwer fallen, Kolonien auf ihren Ländereien zu gründen und diese dann unter die Kolonistenfamilien zu verteilen, denen sie die ersten Aufwendungen für die Bebauung und den Transport vorschießen und mit denen sie den Ertrag teilen würden. Zur noch größeren Erleichterung könnte man sich sogar darauf beschränken, sie nur zur jährlichen Freilassung des sechsten Teils der lebenslänglichen oder zeitweisen Sklaven, die sie auf einer bereits bestehenden Plantage vorfinden, zu verpflichten. Man würde darunter den sechsten Teil der arbeitsfähigen Neger oder Negerinnen, die im ersten Jahr auf der Plantage vorgefunden werden, verstehen, wobei jede Familie ihre Kinder unter fünfzehn Jahren mitnehmen könnte. Durch diese Maßnahme vollzöge sich die Freilassung immer noch sehr rasch und gleichzeitig gäbe man dem Eigentümer einen starken Anreiz, seine Neger gesund zu erhalten, denn jeder Todesfall wäre ein unmittelbarer Verlust fur ihn. Allerdings ist nicht damit zu rechen, dass die zuletzt genannten Maßnahmen von den Spaniern angewandt würden. Die geographische Lage Spaniens, die Ausdehnung und Beschaffenheit seines Bodens, die Feinheit und Erhabenheit des Geistes, die Stärke und Größe der Seele, die seinen Einwohnern von Natur aus zu eigen sind, hätten aus diesem Land eine der ersten Nationen der Erde machen müssen. Doch welche Hoffnung bleibt

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diesem unglücklichen Volk, wo der Erneuerer einer Provinz gerichtlich verurteilt wird, fur das Gute, das er den Menschen getan hat, bei den Mönchen um Verzeihung zu bitten; wo jede öffentliche Tugend gefährlich ist; wo es Sicherheit nur fur diejenigen gibt, die vor einer Kapuze auf die Knie fallen, es sei denn, sie ergreifen den Beruf des Spions oder des Schergen der heiligen Inquisition; wo dieses verächtliche Gewerbe keine Schande ist; wo die Heerführer und Flottenkommandanten in ihren Zelten oder Kajüten keine anderen Bücher zu lesen wagen als die, die ihnen ihr Feldkaplan zu überlassen beliebt? Was soll man für eine Nation hoffen, die so weit heruntergekommen ist und von den Mönchen so weit in die Irre geleitet wurde, dass sie ihren Hochmut weiter bewahrt und weder ihre Erniedrigung noch ihre Leiden spürt? Glückliches Spanien und ganz Europa, hätte Karl V. nicht auf jene trügerische Klugheit gehört, die ihm riet, Europa um religiöser Streitigkeiten willen in Aufruhr zu versetzen, indem sie ihm Hoffnung machte, so seine Macht über die Trümmer seiner Nachbarn erheben zu können; wenn er stattdessen einer aufgeklärteren Vernunft und einer gesünderen Politik gefolgt wäre; wenn er in Luther und seinen Schülern10 nichts anderes gesehen hätte als Reformatoren der Kirche, welche nur die kirchliche Lehre reinigen, die falschen Gebräuche korrigieren und die Usurpation der Kirchenämter abstellen wollten. Männer, mit einem Wort, deren Eifer zu lenken und deren Mut zur Seite zu stehen die Nationen und die Könige sich hätten zur Pflicht machen müssen, um des Glücks der Völker wie des Vorteils der Herrscher willen!

XII. Erwiderung auf einige Argumente der Fürsprecher der Sklaverei Sollten diese Überlegungen den Beifall der aufrechten Geister, der gesunden Seelen finden, wird der Verfasser mehr als entschädigt sein. Aber er kann seine Aufgabe nicht als beendet ansehen, ohne auf einige Argumente eingegangen zu sein, die umso mehr dazu geeignet sind, die Gedankenlosen irrezuführen, als sie sich den Anschein der Rechtschaffenheit und jener guten Meinung über das Menschengeschlecht geben, die so sehr in Mode gekommen ist, weil man es als sehr bequem erkannt hat, vorzugeben, dass es in der Natur nichts Böses gibt, um davon entbunden zu sein, es zu verhindern oder wieder gutzumachen.

10 Man kann nicht leugnen, dass die ersten Reformatoren sich zu großen Teilen den fanatischen und verfolgungssüchtigen Geist der römischen Kirche bewahrt haben: Der Justizmord an Servet, den Calvin kaltblütig betrieb; dessen Apologie, die Bèze noch zu einer Zeit veröffentlichte, als Frankreich bereits mit den Schafotten übersäht war, die man für die Calvinisten errichtet hatte; die Martern, denen in England die Anti-Trinitarier unterworfen wurden - alle diese Verbrechen entehren die Geburt der Reformation. Doch man darf nicht vergessen, dass jener Luther, der so heftig in seinen Schriften und so unbeherrscht in seinem Auftreten war, keinen Menschen verfolgt hat; dass Melanchthon die Toleranz und den Frieden predigte; dass Zwingli, der im Kampf für sein Land starb, den Mut hatte, in seinen Predigten öffentlich gegen jenen unwürdigen Brauch aufzutreten, der so alt unter unseren Landsleuten ist, ihr Blut fur fremde Streitigkeiten zu verkaufen.

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Schließlich und endlich, so sagt man, werden die Neger nicht so arg misshandelt, wie es unsere philosophischen Phrasendrescher behaupten. Der Verlust der Freiheit macht ihnen nichts aus. Im Grunde sind sie sogar glücklicher als die freien Bauern in Europa. Schließlich müssen ihre Herren sie schonen, weil sie ein Interesse daran haben, sie am Leben zu erhalten - zumindest so, wie wir unsere Lasttiere schonen. Keine dieser vier Behauptungen ist wahr. Die Neger werden viel schlechter behandelt, als man es in Europa für möglich hält. Ich urteile darüber nicht nach den Büchern, die ihre Herren drucken lassen, sondern nach den Bekenntnissen, die ihnen entschlüpfen. Ich urteile darüber nach den Zeugnissen aufrechter Männer, die dieses Schauspiel mit Schrecken erfüllt hat. Ich halte den Abscheu, den sie zeigen, nicht fur Phrasendrescherei, denn ich glaube nicht, dass ein Mann kaltblütig über Ausschreitungen sprechen sollte, die wider die Natur sind. Glaubt man den Fürsprechern der Sklaverei, dann macht sich jeder, der Menschlichkeit und eine starke oder empfindsame Seele besitzt, ganz und gar unglaubwürdig und man sollte sein Vertrauen nur Männern schenken, die kalt und gemein genug sind, dass man, welche Untaten man in ihrer Gegenwart auch begeht, sicher sein kann, ihr Gemüt dadurch nicht zu beunruhigen. Schließlich glaube ich denen, die die Schrecken der Negersklaverei beschrieben haben, deshalb, weil sie keinen Vorteil davon haben, da man keinen (zumindest keinen unehrenhaften) davon haben kann, für die unglücklichen Schwarzen zu kämpfen. Ich weise im Gegenteil die Zeugnisse derjenigen zurück, die die Sache der Sklaverei verteidigen und die vorschlagen, sie durch Gesetze zu mildern, da ich sehe, dass sie ihre Stellungen aufgrund des Einflusses der Pflanzer erhalten haben oder zu erhalten hoffen, dass sie selbst Sklaven besitzen oder dass sie auf den Inseln entweder Schirmherren oder Komplizen der Tyrannei gewesen sind. Und ich bezweifle, dass man zugunsten der Sklaverei das Zeugnis irgendeines Mannes aus einer anderen Klasse anfuhren kann. Wehe einer Sache, gegen die sich alle vereint haben, die keinen persönlichen Vorteil davon haben, ihr zu dienen! Der Verlust der Freiheit bedeutet viel für die Neger. Es gibt keinen Menschen, für den er nicht ein großes Unglück wäre. Zweifellos wird ein Neger sich nicht wie Cato töten, um nicht Cäsar gehorchen zu müssen. Doch wird der Neger sich töten, weil sein Herr ihn gegen seinen Willen von der Frau getrennt hat, die er liebt, weil sein Herr sie gezwungen hat, ihm zu Willen zu sein oder weil er sie, dem Beispiel des älteren Cato folgend, gegen Geld prostituiert hat.11 Die Neger vermissen ihre Feste, ihre Tänze, ihren Müßiggang, die Freiheit, sich den Vorlieben und den Gewohnheiten ihrer Heimat hingeben zu können. Damit ein Land wahre Freiheit genießt, darf jeder Einzelne dort nur solchen Gesetzen unterworfen sein, die aus dem Gemeinwillen der Bürger hervorgegangen sind. Niemand 11 Plutarch berichtet, dass Cato der Ältere seinen männlichen Sklaven jeden Verkehr mit fremden Frauen verbot, ihnen aber erlaubte, gegen eine bestimmte Gebühr mit den Sklavinnen seines Hauses ungestört zusammenzukommen. Doch sagt Plutarch nicht ausdrücklich, dass Cato den Ertrag dieser Gebühr für sich nahm, was indessen in Anbetracht seiner unmäßigen Habsucht sehr wahrscheinlich ist. Im Übrigen war der weise Cato zu sittenstreng, als dass er einen verrufenen Ort in seinem Hause eingerichtet hätte, wenn ihm daraus kein Gewinn entstanden wäre.

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im Staat darf die Macht haben, sich dem Gesetz zu entziehen oder es ungestraft zu brechen. Schließlich muss jeder Bürger im Genuss seiner Rechte sein, und keine Macht darf sie ihm nehmen, ohne dass die öffentliche Gewalt gegen sie einschreitet. Die Liebe zu dieser Art von Freiheit ist nicht in jedem Herzen zu finden, und geht man nach der Art und Weise, wie sich in gewissen Ländern diejenigen aufführen, die sie genießen, zweifelt man, ob sie sich über ihren vollen Wert im Klaren sind. Doch gibt es noch eine andere Art von Freiheit, nämlich die, frei über seine Person zu verfügen, das heißt, in Bezug auf Verpflegung, Gefühle und Vorlieben nicht von den Launen eines anderen Menschen abzuhängen. Es gibt niemanden, der den Verlust dieser Freiheit nicht spüren würde und dem diese Art der Knechtschaft nicht ein Gräuel wäre. Man behauptet, dass es Menschen gab, die die Sklaverei der Freiheit vorgezogen haben. Daran zweifle ich nicht. So gab es Franzosen, die, als man ihnen das Tor der Bastille öffnete, lieber dort bleiben wollten, als in Elend und Armut zu verschmachten. Ein versklavter Bauer hat, wenn auch zu sehr harten Bedingungen, ein Haus und einen Acker. Dieses Haus und dieser Acker aber gehören seinem Herrn. Man bietet ihm die Freiheit, das heißt, man bietet ihm an, ihn aus seinem Haus zu vertreiben und ihm die einzige Möglichkeit zu nehmen, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen: Es ist völlig klar, dass er die Sklaverei vorzieht. Aber ist es nicht lächerlich und grausam zugleich, zu behaupten, ein Mensch wäre zufrieden, weil er lieber schlecht lebt, als Hungers zu sterben? Man hat dreist behauptet, dass es den Negern zwar nicht besser geht als unseren Bauern oder den englischen und holländischen, aber doch besser als den französischen oder spanischen Bauern. Selbst wenn es so wäre: Insofern das ungeheure Elend dieser Bauern durch Abgaben, Zwänge und Verbote verursacht wird, die man bald Polizei bald Förderung der Manufakturen nennt, mit einem Wort: von schlechten Gesetzen, dann heißt das bloß: Es gibt Länder, wo man es soweit gebracht hat, dass die Freien unglücklicher sind als die Sklaven. Also darf man die Sklaverei auf keinen Fall abschaffen. Davon abgesehen ist die betreffende Behauptung falsch. Sie mag in gutem Glauben von Männern vorgebracht worden sein, die empört waren über das allgemeine Elend, dessen Zeuge sie wurden. Sie mag der Entrüstungsschrei einer rechtschaffenen Seele gewesen sein. Doch niemals wird sie mit Überlegung vorgebracht worden sein. Zwar gibt es in den Ländern, von denen die Rede ist, ständig einen kleinen Teil der Bevölkerung, der im Elend zugrunde geht, doch ist es äußerst zweifelhaft, ob ein Bettler unglücklicher ist als ein Neger. Wenn man aber von Notzeiten oder persönlichen Schicksalsschlägen absieht, ist das Leben des ärmsten Tagelöhners weniger hart und weniger unglücklich als das der versklavten Schwarzen. Nur die Frondienste haben manchmal einen Teil des französischen Volkes noch tiefer erniedrigt als die Neger. Aber selbst, wenn die französischen Bauern für dreißig Tage im Jahr genauso unglücklich sind wie die Neger, würde daraus folgen, dass die Negersklaverei deshalb weniger unerträglich ist? Und wenn man so dreist war, in irgendwelchen Flugschriften zu drucken, dass es in der Natur des französischen Volkes liegt, Frondienste zu leisten und sich Steuern abpressen zu lassen, muss man daraus schließen, dass die Negersklaverei in Amerika rechtmäßig ist? Hört ein Unrecht auf, Unrecht zu sein, nur weil es nicht das einzige ist, das auf der Welt geschieht?

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Man hat weiterhin behauptet, dass der Pflanzer seine Neger gut behandeln wird, weil es in seinem eigenen Interesse ist, sie gesund zu erhalten - so wie die Europäer ihre Pferde gut behandeln. Doch tatsächlich verstümmelt man die männlichen Pferde und unterwirft die Stuten bisweilen gewissen Vorsichtsmaßnahmen (von denen man berichtet, dass einige Kolonisten sie auch bei ihren Negerinnen anwenden). Man verdammt diese Tiere dazu, ihr ganzes Leben entweder bei der Arbeit oder traurig an eine Raufe gebunden zu fristen. Man rammt ihnen eiserne Spitzen in die Flanken, damit sie schneller laufen und zerreißt ihnen mit einem eisernen Querstab das Maul, um sie zum Gehorsam zu zwingen, weil man herausgefunden hat, dass dieser Körperteil besonders empfindlich ist. Man zwingt sie mit Peitschenhieben zu den Anstrengungen, die man von ihnen verlangt, aber gewiss, von all dem abgesehen, werden die Pferde hinlänglich gut behandelt, solange zumindest wie ihre Herren sie nicht aus Eitelkeit oder Gewinnsucht zur völligen Erschöpfung treiben und die Pferdeknechte sich nicht aus Missmut oder bloßer Laune die Zeit damit vertreiben, sie auszupeitschen. Nicht zu reden von ihrem Alter, dass sehr dem der Neger ähneln würde, wenn man - zum Glück fìir die Pferde - für ihre Haut nicht noch eine Verwendung hätte. Ein solches Beispiel führt man im Ernst an, um zu beweisen, dass ein Sklave gemäß dem Prinzip, es liege im Interesse seines Herrn, ihn gesund zu erhalten, gut behandelt werden wird! Als ob das Interesse des Herrn an seinem Sklaven, genau wie an seinem Pferd, nicht darin läge, aus beiden den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Als ob es für den Herrn nicht darum ginge, das Interesse daran, den Sklaven oder das Pferd möglichst lange am Leben zu erhalten, und das Interesse daran, aus ihnen, solange sie am Leben sind, den höchstmöglichen Gewinn zu ziehen, gegeneinander abzuwägen! Im Übrigen ist ein Mensch kein Pferd, und ein Mensch, den man halten würde, wie das am menschlichsten behandelte Pferd, wäre noch immer sehr unglücklich. Die Tiere empfinden nur die Schläge oder den Zwang. Die Menschen empfinden das Unrecht und die Beleidigung. Die Tiere haben bloße Bedürfnisse, der Mensch aber wird elend durch den Mangel. Das Pferd leidet nur den Schmerz, den es empfindet. Der Mensch aber empört sich über die Ungerechtigkeit desjenigen, der ihn schlägt. Die Tiere sind nur unglücklich für den gegenwärtigen Augenblick. Das Unglück, das der Mensch in einem Augenblick erlebt, dauert sein ganzes Leben. Schließlich ärgert sich ein Sklavenhalter mehr über seine Sklaven als über seine Pferde, und es gibt mehr Dinge, über die er mit ihnen streiten kann. Er nimmt Anstoß an der Standhaftigkeit ihrer Haltung, die er Frechheit nennt, an der Vernunft, die sie seinen Launen entgegensetzen und an dem Mut, mit dem sie seine Schläge und Foltern ertragen: Sie können seine Rivalen sein und nach der Natur sollten sie ihm vorgezogen werden. Schließlich wird man mir die Menschlichkeit der Kolonisten entgegenhalten. Man wird mir sagen: Männer, die durch ihre Verdienste ausgezeichnet sind, die in öffentlichem Ansehen stehen, die die höchsten Ämter in den vier führenden Nationen Europas bekleiden, haben Besitzungen, die von Sklaven bebaut werden - und ihr behandelt sie wie Kriminelle, die sich jeden Tag, den sie zögern, die Ketten ihrer Neger zu zerbrechen, mit einem neuen Verbrechen beflecken. Ich erwidere darauf, dass Aristides, Epameinondas, Cato der Jüngere und Marc Aurel Sklaven besaßen. Jeder, der über die Geschichte

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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der Moral nachgedacht hat, wird unweigerlich bemerkt haben, dass bei allen Völkern die Redlichkeit allein darin besteht, das, was öffentlich getan verwerflich wäre, auch dann nicht zu tun, w e n n es mit Sicherheit geheim bleiben würde. Wenn eine an sich kriminelle Handlung in der öffentlichen Meinung nicht verwerflich ist, dann begeht man sie ohne Reue. Jene Moral, deren Unverletzlichkeit man im Herzen trägt und deren Maximen v o n der aufgeklärten Vernunft befohlen werden, diese wahrhaftige natürliche Moral haben zu allen Zeiten und bei allen Völkern nur wenige geteilt. Die Europäer, die Plantagen besitzen, sind zu bedauern, weil sie v o n einem verkehrten Gewissen geleitet werden. Sie sind umso mehr zu bedauern, als dieses verkehrte Gewissen von den Einsprüchen der Verteidiger der Menschlichkeit hätte erschüttert werden müssen und, was weniger entschuldbar ist, weil es sie nicht gegen ihre Interessen, sondern zu ihrem Vorteil handeln lässt. 12

12 Siehe meine Predigt über das verkehrte Gewissen, gedruckt zu Yverdun 1773. Die Vorurteile hinsichtlich der Negersklaverei sind in einigen Teilen Europas noch immer so tief verwurzelt, dass man dort erlebt hat, wie Minister, die sich etwas auf ihre Menschlichkeit und Tugend zugute hielten, die Widmung von Werken entgegennahmen, in denen dieser barbarische Brauch gerechtfertigt wurde. Es gibt sogar Männer, die in diesem Punkt so sehr in gutem Glauben handeln, dass vor einigen Jahren ein Kaufmann darauf verfiel, einem Minister, der in ganz Europa um seiner Aufgeklärtheit und seiner Tugenden willen verehrt wurde, vorzuschlagen, ein Schiff, das für den Sklavenhandel bestimmt war, auf seinen Namen zu taufen. Es versteht sich, welche Antwort der Minister gab. Als ich diese Anmerkung verfasste, hatte der Tod Frankreich, Europa, ja der ganzen Welt noch nicht den einzigen Mann entrissen, von dem man sagen kann, dass seine Existenz, sein Dasein für die Menschheit notwendig war. Er hatte das System der Wissenschaften, von denen das menschliche Glück abhängt, in seiner ganzen Ausdehnung überblickt. Er hatte den Wissenschaften einige wenige einfache Wahrheiten als Grundlage gegeben, die aus der Natur der Menschen und der Dinge gewonnen und strenger Beweise fähig waren. Alle Fragen des öffentlichen Rechts, der Gesetzgebung und der Verwaltung ließen sich durch notwendige und niemals zufällige Folgerungen aus diesen Prinzipien lösen. Er hatte nichts gefunden, was nicht von den unveränderlichen Gesetzen der Gerechtigkeit geordnet werden konnte und geordnet werden musste. Und er hatte das System der Gesellschaft allgemeinen und strengen Gesetzen unterstellt, denjenigen gleich, von denen das System der Welt gelenkt wird. Er suchte nicht, wie die alten Gesetzgeber, die Natur des Menschen zu ändern, um ihn größer zu machen, sondern wollte ihn glücklich und weise machen, indem er ihn lehrte, der Vernunft zu gehorchen, die Gerechtigkeit zu kennen und zu lieben und der Natur zu folgen. Wenn seine Ideen, seine Ansichten mit ihm sterben würden, dann wäre dem Menschengeschlecht, dem nie ein größerer Verlust widerfuhr, auch ein Verlust widerfahren, der nie wieder gutzumachen ist. Wir haben erlebt, wie er während eines sehr kurzen Ministeriums den Lebensunterhalt des Volkes sicherte, indem er dem Getreidehandel die Freiheit zurückgab, wie er die Grundbesitzer wieder in ihre Eigentumsrechte einsetzte, indem er ihnen das Recht wiedergab, frei über die Produkte ihres Grund und Bodens zu verfugen. Zugleich gab er denen, die von ihrer Arbeit leben, die freie Verfügung über ihre Arbeitskraft, über ihr Gewerbe zurück: Eine Art des Eigentums, die nicht weniger heilig ist und die ihnen durch die Einrichtung der Zünfte und deren Zunftordnungen genommen worden war. Er hat die Knechtschaft der Frondienste abgeschafft, eine Knechtschaft, unter der es

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dem Volk schlimmer als den Lasttieren ergeht, denn das Tier, das man zur Arbeit zwingt, wird wenigstens verpflegt. Alle diese Gesetze, die ausgereicht hätten, um ein Ministerium von zwanzig Jahren zu schmücken, waren das Werk von zwanzig Monaten. Dies aber waren nur die ersten Umrisse eines viel umfassenderen Plans, besser erdacht als alles, was j e ein Gesetzgeber fur das Glück einer großen Nation ersonnen hat. Die Ausführungsmittel wären einfach gewesen, und diese glückliche Revolution hätte sich in wenigen Jahren vollzogen, ohne die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören, ohne dass die Gerechtigkeit Schaden genommen hätte. Alles, was die Arglist an kleinlichen Ränken erfinden kann, wurde von den Feinden des Gemeinwohls aufgeboten, um gegen ihn Stürme zu entfachen. Sie hatten mehr Erfolg als sie gehofft hatten, doch diese Stürme ließen die Talente, den Mut und die Tugenden dieses großen Mannes, dessen Aufgeklärtheit und unbestechlichen Gerechtigkeitssinn sie fürchteten, nur noch bewundernswerter hervortreten. Von allen Staatsmännern ist er der einzige, der kein anderes politisches Gesetz kannte, als die Gerechtigkeit, keine andere Kunst, als die Wahrheit mit Offenheit und Kraft zu vertreten, kein anderes Interesse als das des Vaterlandes, keine andere Leidenschaft als die Liebe zum Gemeinwohl. Wenn er jene lügnerische Politik verabscheute, die eine Nation täuscht, um den Reichtum oder die Macht des Fürsten zu vergrößern, so war auch jene andere hinterlistige Politik, die den Fürsten täuscht, um die Freiheit des Volkes zu vergrößern, seines Charakters unwürdig. Jede Scharlatanerie erschien ihm als ein Betrug, weniger schwerwiegend vielleicht als manch anderer, jedoch lächerlicher und schändlicher. Er war nicht der Ansicht, dass die Liebe zum Ruhm es verdiente, Triebfeder des Handelns eines redlichen Mannes zu sein, solange die Menschen nicht aufgeklärt genug wären, um mit diesem Lohn nur dasjenige Handeln auszuzeichnen, das wahrhaft nützlich ist. Niemals besaß ein Mensch eine so ruhige und zugleich so empfindsame Seele. Niemals hat jemand so viel Macht mit soviel Güte vereint, soviel Nachsicht gegenüber anderen mit soviel Strenge gegen sich selbst, solche Beherrschung seiner Leidenschaften mit soviel Freimütigkeit, soviel Klugheit und Zurückhaltung mit einem stärkeren Hass gegen alles, was den Anschein von Falschheit und Heuchelei hatte. Er hat die Hoffnung auf ein immenses Vermögen seiner Achtung vor der Wahrheit geopfert; seine Gesundheit und seine Vorlieben seinem Wunsch, der Menschheit zu dienen. Der Strenge seiner Prinzipien schließlich brachte er seine Stellung, seinen Ruhm - zumindest Zeit seines Lebens - und sogar die Hoffnung, das Gute zu tun, zum Opfer. Gerecht gegen seine Feinde, doch ohne den Anschein der Großmütigkeit erwecken zu wollen, hielt er sich nicht für befugt, einem Übeltäter Gnade zu erweisen oder ihn zu schonen, bloß weil diesem selbst ein Unrecht geschehen war. Jede Art von Übertreibung, von Prahlerei war seinem Charakter fremd. Er verabscheute diese Fehler, weil er in ihnen mehr Falschheit als Hochmut zu erkennen meinte. Niemand hatte ausgedehntere, vielfältigere Kenntnisse. Niemand hatte mehr Mut, sich in die verschiedensten Gegenstände zu vertiefen, ist weiter zurück gegangen zu den ersten Prinzipien aller Wissenschaften, hat ihre Folgen mit mehr Scharfsinn und Genauigkeit untersucht. Es wäre schwierig, eine bedeutende Frage zu nennen, zu der er nicht einen festen und auf eigener Überlegung beruhenden Standpunkt gehabt hätte oder die er nicht gemäß seinen Prinzipien lösen konnte. Niemand hat j e einen weiter ausgreifenden, tieferen und gerechteren Geist gehabt; eine sanftere, reinere und mutigere Seele. Vielleicht gibt es Männer von gleichem Genie, Männer die ebenso tugendhaft, ebenso groß sind. Doch in keinem ist die menschliche Natur der Perfektion jemals so nahe gekommen. Diejenigen, die ihn zu seinen Lebzeiten gehasst haben, um des Guten willen, das es ihm gelang zu tun; diejenigen, die im Wahnsinn ihres Hochmuts sich erdreistet haben, auf ihn eifersüchtig zu

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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Was die Menschlichkeit angeht, die man den Sklavenhaltern zuschreibt, so gebe ich zu, dass ich sehr menschliche Engländer und Franzosen kennen gelernt habe. Doch sie lebten in Europa und ihre Menschlichkeit half den unglücklichen Sklaven, die in Amerika ihren Verwaltern ausgeliefert waren, nur wenig. Diese Herren gleichen jenen gutherzigen Herrschern, in deren Namen man lebende Menschen verbrennt und zerschmettert, weil diese Herrscher nicht ihrem eigenen Herzen sondern den Ideen gehorchen, die sie in Geltung gefunden haben. Die Menschlichkeit beschränkt sich bei den meisten von uns darauf, diejenigen Leiden, die wir sehen oder von denen wir sprechen hören, zu beklagen und manchmal zu lindern. Doch jene Menschlichkeit, die auf der ganzen Welt nach Unglücklichen sucht, um sie zu verteidigen und sich gegen ihre Tyrannen zu erheben, diese Menschlichkeit findet sich nicht im Herzen aller Menschen. Indessen ist sie die einzige, die den Sklaven in Amerika nützen könnte, wenn sie sie bei einem ihrer Eigentümer antreffen würden. Er würde das Glück seiner Sklaven als eine ihm auferlegte Pflicht und den Verlust ihrer Freiheit und ihrer Rechte als ein Unrecht, welches er wieder gutzumachen verpflichtet ist, betrachten und in seine Plantage eilen, um dort das tyrannische Amt des Sklavenhalters niederzulegen und nur noch die Autorität eines gerechten und menschlichen Herrschers zu behalten. Er würde seinen Ruhm darin suchen, aus seinen Sklaven Menschen zu machen. Er würde sie zu fleißigen Arbeitern und klugen Pächtern ausbilden. Die Hoffnung auf einen rechtmäßigen Gewinn, der Wunsch, der eigenen Familie ein glücklicheres Dasein zu bereiten, wären der einzige Ansporn zur Arbeit. Die Züchtigungen, derer sich die Habgier bedient und die von der Laune verhängt werden, dienten nur noch zur Bestrafung von Verbrechen, einer Bestrafung, die von unter den Schwarzen ausgewählten Richtern verhängt würde. Die Laster der Sklaven würden mit denen des Herrn verschwinden. Bald würde er sich inmitten von Freunden finden, anhänglich bis zur Leidenschaft, ihm treu bis zum Heldentum. Durch sein Beispiel würde er zeigen, dass die fruchtbarsten Ländereien nicht diejenigen sind, die von den elendsten Arbeitern bebaut werden und dass das wahre Glück des Menschen eines ist, das er nicht auf Kosten des Glücks seiner Brüder erkauft. Das Knallen der Peitsche, die Schreie der Neger würden durch die süßen und zarten Töne der Flöte von den Ufern des Niger abgelöst. An Stelle jener knechtischen Furcht und jener Ehrerbietung, die noch schmachvoller für denjenigen ist, der sie empfängt, als fur diejenigen, die gezwungen sind, sie zu erweisen, an Stelle jenes Schauspiels der Knechtschaft, der Wildheit, der Prostitution und des Elends, das durch seine Gegenwart beendet wurde, würde er um sich herum die derbe doch unschuldige Einfachheit eines Lebens nach Art der Erzväter wachsen sehen. Überall würde sein gerührter Blick auf Familien treffen, die glücklich wären, gemeinsam zu arbeiten und zu ruhen. Das Gefühl der Redlichkeit, der Liebe zur Tugend, der Freundschaft, der mütterlichen oder kindlichen Zärtlichkeit, alle diese süßen und großherzigen Gefühle, welche die Seelen dieser Unglücklichen verzau-

sein, werden jetzt, wo sie ihn nicht mehr zu fürchten haben, den Tribut verzeihen, den ein Fremder seinem Andenken zollt, der mit ihm eine gemeinsame Leidenschaft für das Wohl der Menschheit teilte und der auf seinen Reisen in Frankreich das Glück hatte, ihn seine Ansichten entwickeln und seine ganze Seele offenbaren zu hören.

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I. Freiheit

bern und verschönern würden wären sein Werk - oder vielmehr ihre ganze Seele. Und anstatt reich durch das Unglück seiner Sklaven, wäre er glücklich durch ihr Glück. Ich habe einige Male amerikanische Sklavenhalter getroffen, die gewöhnlich auf den Plantagen lebten, und es hat mir genügt, sie über die Neger reden zu hören, um zu wissen, wie unglücklich diese sein müssen.13 Die Verachtung, mit der sie von ihnen spre-

13 Wenn ihr sie befragt, werden sie euch sagen, dass die Neger ein abscheuliches Gesindel sind, das man sehr gut behandle und dass es sich bei all den Grausamkeiten, die man in Europa ihren Herren nachsagt, um Märchen handelt. Doch dringt nicht weiter in sie, hütet euch, ihren Prinzipien der Tyrannei zu widersprechen, zwingt euch, zu schweigen, beherrscht eure Miene: Dann werdet ihr von ihnen die Wahrheit erfahren. Ohne es zu bemerken, werden sie euch anvertrauen, worüber sie sonst niemals gewagt hätten, Auskunft zu geben. Wir wollen hier von zwei Begebenheiten berichten, die zeigen, wie weit einerseits die meisten Europäer noch davon entfernt sind, die Schwarzen als ihre Mitmenschen zu betrachten, dass sich jedoch andererseits einige für das Menschengeschlecht ehrenvolle Ausnahmen anfuhren lassen. Im Jahre 1761 strandete das Schiff l'Utile auf der île de Sable. Der Kapitän, Monsieur de la Fargue, seine Offiziere und die aus Schwarzen und Weißen bestehende Mannschaft verwendeten sechs Monate darauf, eine Art Schaluppe zu bauen. Sie bot nur Platz für die Weißen. Dreihundert Schwarze, Männer wie Frauen, willigten ein, sie aufbrechen zu lassen und auf der Insel zurückzubleiben, unter dem feierlichen Versprechen, dass die Weißen sogleich nach der Ankunft von Monsieur de la Fargue auf der Ile de France ein Schiff aussenden würden, um ihre unglücklichen Gefährten nachzuholen. Die Schaluppe erreichte glücklich Madagaskar. Man bat die Verwaltung der île de France um ein Schiff, um die Schwarzen zu holen, die man auf einer Insel zurückgelassen hatte, die bei jeder Flut fast vollständig vom Wasser überspült wurde, auf der es weder Bäume noch Pflanzen gab und wo dreihundert Schwarze als Lagerstatt nur die feuchte Erde und als Nahrung nur Muscheln, Eier von Seevögeln, ein paar Schildkröten und die Fische und Vögel hatten, die sie mit der Hand erlegen konnten. Monsieur des Forges, der damalige Gouverneur der île de France, weigerte sich, ein Schiff zu entsenden, unter dem Vorwand, dass es Gefahr liefe, gekapert zu werden. Im Jahr 1776, nach dreizehn Jahren Frieden, entsandte Monsieur le Chevalier de Ternai den Leutnant zur See Monsieur Tromelin auf der Korvette la Sylphide, um die Überreste jener Unglücklichen zu suchen, die man dreizehn Jahre lang sich selbst überlassen hatte. Man scheint in der Zwischenzeit keinerlei ernsthaften Rettungsversuch gemacht zu haben. Nachdem Monsieur Tromelin in der Nähe der île de Sable angelangt war, entsandte er eine Schaluppe unter dem Kommando von Monsieur Page. Diese landete glücklich. Man fand noch sieben Negerinnen und ein Kind vor, das auf der Insel geboren worden war. Die Männer waren allesamt gestorben, sei es aus Elend oder Verzweiflung, sei es beim Versuch, sich auf Flößen zu retten, die sie aus den Überresten der l'Utile gebaut hatten. Jene Negerinnen hatten sich Umhänge aus den Federn von Vögeln gemacht, die sie hatten erlegen können. Einer dieser Umhänge wurde Monsieur de Sartine als Geschenk überreicht. Im Jahr 1757 erkundete Monsieur Moreau, Kommandant des Schiffes le Favori, die Adu-Inseln. In einem Kanu sandte er seinen Bordoffizier Monsieur Rivière, zwei Weiße und fünf Schwarze dorthin aus. Nachdem das Schiff durch die Meeresströmung von seinem Kurs abgekommen war, glaubte Monsieur Moreau sich gezwungen, das Kanu sich selbst zu überlassen. Die acht auf den Adu-Inseln zurückgelassenen Männer fassten den Entschluss, das Kanu mit Kokosnüssen zu versehen und den Versuch zu unternehmen, Indien zu erreichen. Sie befestigten an dem Kanu ein ebenfalls mit Kokosnüssen beladenes Floß. Doch nach drei Tagen wurden sie von starkem Seegang gezwungen, das Floß aufzugeben. Da der Proviant jetzt nicht mehr für acht Männer ausreichte,

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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chen, ist Beweis für die Härte, mit der man die Neger behandelt. Davon abgesehen werden die Plantagen von Verwaltern geleitet, einem Menschenschlag, der sein Glück entweder deshalb außerhalb Europas sucht, weil ihm dort alle achtbaren Wege, eine Stellung zu finden, verschlossen sind, oder weil seine unersättliche Habgier sich nicht mit einem beschränkten Vermögen zufrieden geben wollte. Es handelt sich also um den Bodensatz bereits sehr verdorbener Völker, dem die Neger ausgeliefert sind. Oft werden die Neger in Gegenwart der Frauen und Töchter der Pflanzer der Folter unterworfen, die ruhig diesem Schauspiel beiwohnen, um sich in der Kunst der Bewirtschaftung der Plantagen zu bilden. Die Blutgier der Sklavenhalter hat viele Opfer gefordert. Mehr als einmal wurden Neger in Öfen verbrannt, und alle diese todeswürdigen Verbrechen sind ungestraft geblieben. Seit mehr als einem Jahrhundert hat es keinen einzigen Fall gegeben, in dem ein Pflanzer für den Mord an einem seiner Sklaven bestraft wurde. Man könnte die Ansicht vertreten, dass es unmöglich war, diese im inneren der Plantagen verborgen gehaltenen Verbrechen zu beweisen. Aber die Weißen nehmen sich das Recht, die entlaufenen Negersklaven zu töten wie wilde Tiere. Dieses Verbrechen geschieht außerhalb der Plantagen, in aller Öffentlichkeit und bleibt ungestraft. Nicht nur, dass noch nie der Kopf eines dieser Ungeheuer unter dem Stahl des Gesetzes gefallen ist, untereinander betrachten sie diese verabscheuenswürdigen Taten nicht einmal als Schande. Dreist bekennen sie sich zu ihnen, brüsten sich mit ihnen und kehren dann ruhig nach Europa zurück, um dort von Menschlichkeit, Ehre und Tugend zu sprechen. Möglicherweise hat es hier und da in Amerika menschliche Sklavenhalter gegeben. Doch müssen wir nicht, weil Cicero im antiken Rom seine Sklaven mit Menschlichkeit behandelt hat, die Barbarei der Römer gegenüber ihren Sklaven noch stärker verabscheuen? Und wenn wir wissen, dass es tausende von Unglücklichen gibt, die gemeinen und niederträchtigen Männern ausgeliefert sind, die ihnen bis hin zu Folter und Tod ungestraft antun können, was sie wollen, was müssen wir Einzelheiten über die Plantagen kennen, um alles zu wissen, was diese Unglücklichen an Misshandlungen ertragen, um das Recht zu haben, uns gegen ihre Tyrannen zu erheben, und des Mitgefühls mit den Pflanzern enthoben zu sein, selbst wenn die Sklavenbefreiung deren vollständigen Ruin bedeuten würde? Für den Neger geht es um die Freiheit, um sein Leben. Für den Europäer geht es nur um ein paar Tonnen Gold. Und da wiegt man das Blut des Unschuldigen gegen die Habgier des Schuldigen auf! Holde Apologeten der Negersklaverei! Denkt euch für einen

machten die Weißen Monsieur Rivière den Vorschlag, die Schwarzen ins Meer zu werfen. Er wies dieses Ansinnen mit Abscheu zurück, sagte ihnen, dass die Not sie alle gleich gemacht hätte, dass die Kokosnüsse gerecht zwischen ihnen allen aufgeteilt werden sollten und das sie entweder gemeinsam sterben oder sich gemeinsam retten würden. Es gab nur Lebensmittel für dreizehn Tage. Die Überfahrt dauerte achtundzwanzig. Halb tot vor Hunger und Durst kamen sie schließlich an einer Flussmündung in der Nähe von Calicut an Land. Als sie die vorgelagerten Sandbänke passierten, lief ihr Boot voll Wasser, doch alle wurden gerettet. Monsieur Rivière erlangte bald seine Kraft und Gesundheit wieder und fuhr weiter zur See. Als man ihn viele Jahre später über jenes Abenteuer und über den Kapitän, der sie zurückgelassen hatte, befragte, antwortete er: Ich habe mir damals in meiner Not geschworen, nicht von ihm zu sprechen, weder im Guten noch im Schlechten.

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I. Freiheit

Moment auf die Galeeren und dass ihr zu Unrecht dort wäret. Denkt euch sodann, dass euer Wohlergehen in meine Hände gelegt wäre. Was würdet ihr von mir denken, wenn ich beschließen würde, dass ihr, obwohl unschuldig, für immer auf den Galeeren bleiben müsstet, weil man euch nicht gehen lassen könnte, ohne mich zu ruinieren? Da habt ihr die schönen Argumente, mit denen ihr in euren geheimen Denkschriften die wohltätigen Absichten der Könige und Minister bekämpft. Ihr erschleicht, in den Ländern, in denen es keine Pressefreiheit gibt, Verbote, eure verbrecherischen Prinzipien zu bekämpfen. Und wahrlich, wenigstens darin habt ihr euer wahres Gesicht gezeigt. Vornehmlich für diese Länder, in denen die Wahrheit in Fesseln liegt, habe ich das vorliegende Werk verfasst, in einer mir fremden Sprache, die jedoch durch die Werke der französischen Dichter und Philosophen zur Sprache Europas geworden ist. Jener Schutz, den man der Habgier gegen die Neger gewährt und der in England und Holland eine Folge des allgemeinen Verfalls dieser Nationen ist, hat in Spanien und Frankreich keine andere Ursache als die Vorurteile der Öffentlichkeit und die Irreführung der Regierungen, die man gleichermaßen über die Notwendigkeit der Sklaverei, wie über die vermeintliche politische Bedeutung der Zuckerkolonien täuscht. Eine von einem Ausländer verfasste Schrift kann besonders in Frankreich nützlich sein. Denn es wird weniger einfach sein, ihre Wirkung mit einem einzigen Wort zunichte zu machen: Indem man nämlich sagt, es handle sich um das Werk eines Philosophen. Dieser einst so angesehene Titel ist bei diesem Volk zu einer Beleidigung geworden. Wessen klagt man die Philosophen nicht alles an? Haben sich ein paar Schriftsteller gegen die Negersklaverei erklärt, sagt man: das sind Philosophen, und meint damit, sie widerlegt zu haben. Hat jemand die Abschaffung des ekelhaften und äußerst ungesunden Brauches vorgeschlagen, das Innere der Kirchen mit Toten zu pflastern und die Leichen mitten in der Stadt aufzuhäufen, dann kommen diese Ideen von den Philosophen. Haben sich einige Leute durch Impfung vor den Gefahren der Blattern geschützt, dann auf Rat der Philosophen. Es waren die Philosophen, die dafür gesorgt haben, dass die Feiertage abgeschafft und der Zölestiner- und der Jesuitenorden aufgehoben wurden und die versucht haben, die absurde Ansicht auszustreuen, dass die Welt auch ohne Mönche auskommen könnte. Wenn ein Historiker mit Abscheu über die Massaker an den Albigensem oder über die Bartholomäusnacht spricht, über die Mordtaten der Inquisition oder über die Doktoren, die Heinrich IV für abgesetzt erklärten und gegen ihn so viele Dolche schärften, dann denunziert man diesen Historiker als Philosophen, als Feind von Thron und Altar. Wenn man seit kurzem den Brauch abgeschafft hat, die Knochen der Angeklagten zwischen Brettern zu zerbrechen, um sie dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen, dann, weil die Philosophen gegen die Folter geeifert haben. Und nur gegen den Widerstand der Philosophen hatte Frankreich das Glück, einen Rest der überlieferten Gesetze zu bewahren und sich die wertvolle Sitte zu erhalten, die verurteilten Verbrecher der Folter zu unterwerfen. Es waren die Philosophen, die die Frondienste abschaffen wollten, und es ist ebenfalls ihre Schuld, wenn dieses Verfahren, trotz seiner Wiedereinsetzung, mehr und mehr außer Gebrauch kommt. Nur mit Mühe, indem man den Frondienst durch eine Abgabe ersetzte, gelang es vor ihren zerstörerischen Händen den gerechten und altehrwürdigen Brauch zu retten, diese Last nur auf die Schultern der Nicht-Adligen zu laden.

1. Überlegungen zur Negersklaverei

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Wer wagt es, in Frankreich die Barbarei, die verbrecherischen Gesetze und die Grausamkeit anzuklagen, mit der die französischen Protestanten ihrer Menschen- und Bürgerrechte14 beraubt werden oder die Härte und Ungerechtigkeit der Jagdgesetze und derjenigen gegen den Schleichhandel? Die Philosophen. Wer konnte die strafwürdige Frechheit haben, zu behaupten, es wäre zum Vorteil des Volkes und entspräche dem Recht, Handels- und Gewerbefreiheit zu gewähren? Wer hat fur jeden Eigentümer das unumschränkte Recht gefordert, über seine Erzeugnisse zu verfugen und für jeden Mann das unumschränkte Recht, über seine Arbeitskraft zu verfügen? Kein Zweifel, dass es die Philosophen waren. Und wenn einige Leute die Ruchlosigkeit so weit getrieben haben, zu flüstern, dass der König, als er den Leibeigenen auf den Staatsgütern die Freiheit gab, auch die Leibeigenen des Klerus hätte befreien sollen und dass er das Recht dazu gehabt hätte, kamen solche Blasphemien dann nicht aus dem Mund eines Philosophen? Solches habe ich jedenfalls bei meinem letzten Aufenthalt in Frankreich verschiedene Personen im schwarzen Habit in verschiedenen Vorzimmern sagen hören. In der Tat müssen diejenigen, welche die Philosophen einhellig derartiger Untaten bezichtigen, die Philosophie für etwas überaus Abscheuliches halten.

Postsciptum Es ist vielleicht nicht unnütz, hier eine Übersicht über die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten hinsichtlich der Sklaverei der Schwarzen zu geben. Trotz der Protektion der Sklaverei durch die englische Regierung hat der Staat Massachusetts sie niemals legalisiert. Sobald er darauf Anspruch erhebt erhält jeder Sklave, der in diesen Staat eingeführt wird, seine Freiheit. Seit der Revolution haben alle Staaten mit Ausnahme der beiden Carolinas und Georgias den Import neuer Sklaven verboten. Süd-Carolina hat dasselbe Verbot auf drei Jahre befristet ausgesprochen. Pennsylvania hat darüber hinaus ein Gesetz erlassen, das alle Neger, die nach der öffentlichen Bekanntmachung dieses Gesetzes geboren werden, für frei erklärt. Die Verfassung die den Staaten von der in Philadelphia gebildeten Versammlung im Jahre 1787 präsentiert wurde, um Form und Befugnisse des Kongresses zu bestimmen, legt fest, dass der Kongress vor dem Jahr 1808 die Einfuhr von Sklaven nicht verbieten soll, dass er sie jedoch mit einem Einfuhrzoll belegen kann, vorausgesetzt, dass dessen Höhe zehn Piaster pro Kopf nicht übersteigt.15

14 Die bürgerlichen Rechte wurden den Protestanten in Frankreich im Jahr 1778 wiedergegeben, obwohl beim König mehrere sehr nachdrückliche Einsprüche dagegen erhoben wurden. Im selben Jahr wurde auf ausdrücklichen Befehl des Königs die Folterung verurteilter Krimineller durch ein beim großen königlichen Gerichtstag zu Protokoll genommenes Gesetz abgeschafft. 15 Es ist nicht unnütz hier zu anzumerken, dass man sich in jenem Verfassungsentwurf des Begriffs Personen bedient hat, um die Sklaven zu bezeichnen. „Der Abscheu den die Verfasser dieses Entwurfs gegenüber einem Zustand empfanden, der so sehr dem Naturrecht widerspricht, hat sie sogar

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I. Freiheit

Somit deutet alles darauf hin, dass der Handel und das Geschäft mit Negern bald einer einmütigen Ächtung unterliegen werden. In Pennsylvania wird die Sklaverei mit dem Tod derjenigen Individuen enden, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes geboren sind. In den acht Nordstaaten, in denen es nur eine kleine Anzahl von Negern gibt, kann man auf ein ähnliches Gesetz hoffen oder sogar auf eine noch raschere Freilassung. Damit bleiben nur noch vier Staaten. Doch in Virginia treiben die aufgeklärtesten Männer mit leidenschaftlichem Eifer und Beharrlichkeit Maßnahmen voran, um eine schrittweise Freilassung vorzubereiten. Die Sklaverei wird überall in den dreizehn Staaten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet, als Schandfleck für die Ehre der Freunde der Freiheit. Nun ist es wenig wahrscheinlich, dass angesichts dieser Stimmung das Partikularinteresse der Sklavenbesitzer langfristig den Sieg davontragen wird, in einem Land mit freier Presse, wo alle Maßnahmen der öffentlichen Gewalt, alle Beschlüsse der gesetzgebenden Körperschaft, ja sogar alle dort gestellten Anträge und alle dort vorgebrachten Ansichten, zwangsläufig öffentlich sind. Nicht zuletzt hat sich in England eine Gesellschaft für die Abschaffung des Sklavenhandels und der Negersklaverei gegründet. Diese Gesellschaft, die unter ihren Subskribenten Mitglieder beider Häuser des Parlaments und sogar Minister zählt, wird über kurz oder lang ihr Ziel erreichen. Es ist ausgeschlossen, dass von Menschlichkeit und Gerechtigkeit diktierte Bills, die von Vernunft und gesunder Politik gutgeheißen werden, nicht am Ende das Votum der beiden Häuser für sich gewinnen. Allerdings hat, während der ersten Debatten über diesen Gegenstand, Europa mit Entrüstung einige Pairs von Großbritannien sich soweit erniedrigen sehen, sich als Beschützer der Sklavenhändler und Verteidiger ihrer infamen Räuberei herzugeben, obwohl die Würde des Titels Lord und das erbliche Vermögen, das er mit sich führt, jede Art von Bündnis zwischen zwei so verschiedenen Klassen eigentlich ausschließen sollte. Frankreich ist dem Beispiel Englands gefolgt, und es gibt in Paris eine Gesellschaft mit dem einzigen Zweck, Mittel und Wege zur Abschaffung des Sklavenhandels und der Negersklaverei zu finden. Bis jetzt konnte sie noch wenig bewirken, doch der Moment ihrer Gründung ist günstig: Nie hat die Regierung eine aufgeklärtere und verlässlichere Menschlichkeit, nie eine größere Achtung für die Rechte der unteren Klassen der Gesellschaft bewiesen.

davor zurückschrecken lassen, sich des gebräuchlichen Begriffs zu bedienen." So drückt sich der Autor der Recherches historiques et politiques sur les Etats-Unis aus, einem Werk, das als erstes dem europäischen Publikum genaue Vorstellungen der dortigen Regierungsformen vermittelt hat und in dem die Rechte der Vernunft und die Interessen der Menschlichkeit ohne Übertreibung wie ohne Zugeständnisse verteidigt werden.

Ideen über den Despotismus Zum Gebrauch für diejenigen, die dieses Wort aussprechen, ohne es zu verstehen. 1789

I. Despotismus kommt von dem griechischen Wort δεσπότης, das Herr bedeutet. Um Despotismus handelt es sich immer dann, wenn die Menschen Herren haben, das heißt, wenn sie der Willkür anderer Menschen unterworfen sind.

II. Der Despotismus eines einzelnen Menschen existiert nur als Gedanke. Aber der Despotismus einer kleinen Zahl von Menschen über die große Zahl ist weit verbreitet, was zwei Gründe hat: Die Leichtigkeit mit der die kleine Zahl sich zusammenfindet und ihre Reichtümer, mit denen sie andere Kräfte kaufen kann. Untersucht man die Geschichte der Länder, in denen man gemeint hat, den Despotismus eines Einzelnen zu finden, wird man stets auf eine Klasse von Menschen oder auf verschiedene Körperschaften stoßen, die seine Macht mit ihm teilen. In der Türkei sind dies die Janitscharen und der Stand der Rechtsgelehrten; in Rom die Prätorianergarden und die zwölf an den Grenzen stationierten Armeen; in Frankreich die zwölf Parlamente; in Preußen die Armee; in Russland die Garderegimenter und die Großen.1

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Das heißt nicht, dass ein Eroberer, ein großer General oder ein bestimmter König nicht tatsächlich alleiniger Herrscher sein können, wie ja auch in der Demokratie oft ein Mann durch seinen Einfluss auf das Volk alleinige Autorität ausübt. Doch es kann hier nur die gewöhnliche Form der Regierung behandelt werden und nicht der persönliche Einfluss bestimmter Individuen. Die willkürliche Autorität des Oberbefehlshabers über seine Armee bedeutet nicht, dass er alleiniger Despot ist. Der Bey von Algier kann den Offizieren seiner Truppen zwar den Kopf abschlagen lassen, doch muss er sich nach den Vorurteilen, den Forderungen und den Launen der Miliz richten.

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I. Freiheit

III. Es gibt zwei Arten von Despotismus, die man als rechtlichen und tatsächlichen Despotismus bezeichnen könnte, wenn sich das Wort Recht mit dem Wort Despotismus vertrüge, die ich jedoch direkten und indirekten Despotismus nennen werde. Direkter Despotismus herrscht in allen Ländern, in denen die Repräsentanten der Bürger nicht das umfassendste negative Recht ausüben und keine ausreichenden Mittel haben, um Gesetze zu reformieren, die in ihren Augen Vernunft und Gerechtigkeit widersprechen. Indirekter Despotismus besteht, wenn es keine gleiche und echte Repräsentation gibt, obwohl das Gesetz dies vorschreibt, oder wenn man einer Autorität Untertan ist, die nicht vom Gesetz eingesetzt wurde. Folglich wird man zu der Auffassung kommen, dass beispielsweise in England ein direkter Despotismus existiert, weil der Nation, angesichts des negativen Rechts des Königs und des Oberhauses, kein legales Mittel zur Verfügung steht, um ein schlechtes Gesetz zu widerrufen. Die Repräsentanten des Volkes haben, um eine solche Reform durchzusetzen, nur indirekte Mittel, die gleichermaßen die Vernunft, die nationale Würde und die öffentliche Ordnung verletzen. Doch England ist vor allem einem indirekten Despotismus unterworfen, weil das Unterhaus, das nach dem Gesetz die Nation repräsentieren sollte, diese in der Realität nicht repräsentiert, sondern eine rein aristokratische Körperschaft ist, deren Beschlüsse von vierzig oder fünfzig Personen diktiert werden, bei denen es sich entweder um Minister oder Peers oder Mitglieder der Unterhauses handelt.

IV. Beide Arten des Despotismus sind fast immer miteinander verbunden. In der Türkei ist man dem direkten Despotismus des Sultans und der Zunft der Rechtsgelehrten unterworfen, deren Rat und in bestimmten Fällen sogar deren Zustimmung der Sultan, zumindest dem Brauch nach, einholen muss und die, da sie darüber hinaus die Autorität haben, die zivilen Gesetze zu interpretieren, die eigentlichen Gesetzgeber sind. Hingegen ist der Despotismus der Janitscharen nur indirekt. Der Sultan ist weder durch ein ausdrückliches Gesetz noch einen geheiligten Brauch verpflichtet, sich ihrem Willen zu fügen. In manchen Ländern übt der hauptstädtische Pöbel einen indirekten Despotismus aus. In anderen wiederum haben sich die Oberhäupter der Nation in die Abhängigkeit von Geldleuten begeben und die Unternehmungen der Regierung hängen davon ab, wie leicht es ist, von diesen Vorschüsse zu erhalten. Sie erzwingen die Auswahl ihnen genehmer Minister und damit ist das Volk dem Despotismus der Bankiers unterworfen. Alle diese Kräfte, seien sie direkt oder indirekt, bilden in den jeweiligen Ländern eine Klasse von Bürgern, deren Willkür dem Rest der Nation befiehlt, und oft weiß die Nation inmitten so vieler Herren nicht, wem sie gehorcht.

2. Ideen über den Despotismus

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V. Entweder in gutem Glauben oder weil sie Mitglieder der herrschenden Partei waren oder zu werden hofften, haben einige Autoren die Anarchie, die von der Zwietracht zwischen den unterschiedlichen Kräften hervorgebracht wird, mit dem Namen Freiheit geehrt. Sie haben jene Untätigkeit, zu der alle diese Kräfte durch ihren gegenseitigen Widerstand verdammt sind und die mehr eine Untätigkeit im Guten als im Bösen ist, Gleichgewicht genannt. Doch hätte man dann hinzufügen müssen, dass die Nation der Angelpunkt ist, der den Anstrengungen dieser beiden entgegen gesetzten Gewalten standhalten muss. Um dieses absurde System zu widerlegen, begnügen wir uns mit einer einzigen Überlegung: Ist ein Sklave, der zwei Herren hat, die ständig untereinander uneins sind, kein Sklave mehr? Ist er glücklicher, als wenn er nur einen einzigen Herrn hätte?

VI. Es ist einfacher, eine Nation vom direkten Despotismus zu befreien als vom indirekten. Sie erkennt den ersteren, während sie unter letzterem leidet, ohne es zu wissen und oft sogar diejenigen, die ihn ausüben, für ihre Beschützer hält. Darüber hinaus lässt sich dem direkten Despotismus mit viel einfacheren Mitteln vorbeugen: Es darf kein Gesetz erlassen und keine Steuer bewilligt werden ohne die Zustimmung der Repräsentanten des Volkes. Es darf kein neues, für den vollständigen Genuss der natürlichen Rechte des Menschen notwendiges Gesetz, keine Reform der bestehenden Gesetze verweigert werden, wenn sie von ebendiesen Repräsentanten der Nation oder von einer anderen gleichermaßen repräsentativen Körperschaft gefordert werden. Damit wird der direkte Despotismus abgeschafft sein. Wie wir bereits gesagt haben, gibt es in England kein legales Mittel, ein neues Gesetz zu erlassen oder ein altes abzuschaffen. Die Nation verfugt nur über ein indirektes Mittel, nämlich die beiden anderen Teile der legislativen Gewalt dazu zu zwingen, indem sie ihre Zustimmung zu anderen Maßnahmen verweigert. Das aber ist ein schwerwiegender Mangel, den jede weise Nation in ihrer Verfassung sorglich vermeiden wird. In den Vereinigten Staaten gibt es diesen Mangel nicht. Ihre legislative Gewalt ist in mehrere Körperschaften geteilt, die jedoch alle aus Repräsentanten des Volkes bestehen und die Macht haben, in einem mehr oder weniger komplizierten und mehr oder weniger sinnvollen Verfahren schädliche Gesetze zu ändern. Somit existiert in England ein direkter Despotismus, nicht jedoch in Amerika.

VII. Der indirekte Despotismus kann von der gesetzgebenden Körperschaft selbst, von der Regierung, von bestimmten Ständen der Bürger, von den Priestern der Religion, von den Gerichten und Rechtsgelehrten, von der Armee, von den Geschäftsleuten oder vom

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I. Freiheit

Pöbel ausgeübt werden. Wir werden im Folgenden die Mittel darlegen, um diesen unterschiedlichen Despotismen vorzubeugen.

VIII. Um Despotismus der gesetzgebenden Körperschaft handelt es sich, wenn es keine echte Repräsentation des Volkes mehr gibt oder in der Repräsentation eine zu große Ungleichheit entstanden ist. Man kann dieser Gefahr vorbeugen, indem man auf die Ausarbeitung der Gesetze Acht gibt, die das Verfahren für die Wahl der Repräsentanten vorschreiben und die zur Wahl eines oder mehrerer Repräsentanten berechtigten Teile des Staatsgebietes festlegen, und indem man zugleich sicherstellt, dass die Nation über ein legales Mittel verfügt, um diese Verfahren und Unterteilungen nach einer bestimmten Frist zu ändern. Diese Frist muss lang genug sein, um solche Änderungen nicht zu häufig werden zu lassen, doch kurz genug, damit die Unordnung nicht derart um sich greifen kann, dass es schwierig würde sie zu beseitigen.

IX. Man wird dem Despotismus der Regierung immer dann wirksam entgegentreten, wenn man das Zusammentreten der Repräsentanten der Nation und die Dauer ihrer Versammlung unabhängig vom Willen der Regierung macht und wenn die Steuern nur mit Zustimmung dieser Versammlung erhoben werden dürfen. In England, wo der König über das Zusammentreten des Parlaments entscheidet, meinte man, diesem Mangel abhelfen zu können, indem man den Brauch einführte, einen Teil der Steuern nur für ein Jahr zu bewilligen. Diese Maßnahme darf nicht nachgeahmt werden. Die Steuern müssen gemäß dem tatsächlichen Bedarf des Staates festsetzt werden und ihre Dauer muss entsprechend der Dauer dieses Bedarfs bestimmt werden. Doch wird man dasselbe Ziel erreichen, indem man der jeweiligen Repräsentatiwersammlung zwar nicht die Einfuhrung der Steuer überlässt, aber die Entscheidung darüber, in welcher Form die Steuer erhoben und welchen Kassen sie zugeführt wird, also die Entscheidung über ihre Verwendung. Durch diese Maßnahme erhalten die Finanzgeschäfte die notwendige Beständigkeit, ohne dass daraus irgendeine Gefahr für die Freiheit erwachsen könnte.

X. Immer wenn eine bestimmte Klasse von Bürgern ehrenvolle oder einträgliche Privilegien besitzt oder wenn ausschließlich ihre Mitglieder in bestimmte Stellungen berufen werden, die der einzige Schlüssel zu allen Würden und wichtigen Ämtern sind, dann kann man sicher sein, dass diese Klasse in der repräsentativen Körperschaft beherrschend sein wird und Gleichheit der Repräsentation dort nur noch dem Namen nach besteht. Dieses

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Übel wird noch deutlicher spürbar, wenn jene Klasse von Bürgern sich ständig durch die Zulassung all jener Familien verstärkt, die zu Reichtum gekommen sind oder auf andere Weise die gegen die untern Klassen errichteten Schranken umgehen konnten. Das einzige Gegenmittel gegen diese Art des Despotismus ist, weder in den Zivil- oder Strafgesetzen, noch in der Verteilung der öffentlichen Lasten, noch bei der Zulassung zu Stellungen und Ämtern, zwischen den Bürgern irgendeinen Unterschied bestehen zu lassen, sodass es nur Unterschiede der Meinung oder des Vermögens gibt, die in der Realität (wenn die Gesetze vernünftig sind) nicht unnatürlicher, ungerechter oder gefährlicher sind als Unterschiede des Talents und der Körperkraft. Keine Nation in der es einen gesetzlich bestellten Genealogen gibt, kann eine freie Nation sein.

XI. Was die Macht der Priester betrifft, die nur auf die Meinung gegründet ist, so sind die absolute Freiheit des Gottesdienstes und der Presse das einzige Gegenmittel. In Ländern, in denen die Unwissenheit herrscht, wird dieser Despotismus unmittelbar von den Priestern selbst ausgeübt. Sie sind es, vor denen die Nation den Nacken beugt. So war ihre Macht in Europa bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts beschaffen, bis zu jener Zeit, als die Augen der Laien sich zu öffnen begannen. In den aufgeklärten Nationen vermischt sich dieser Despotismus mit dem des Pöbels. Nirgendwo in Europa, abgesehen vielleicht von einigen Republiken der Schweiz, muss man einen alleinigen Despotismus des Klerus furchten, doch wird er zu einer Gefahr, wenn er sich mit dem des Adels verbindet. Dies lässt sich heute in den Niederlanden beobachten und man konnte es in Frankreich während der Notablenversammlung sehen. In den Ländern, wo die Religion frei ist, mindert die Spaltung der Priester in verschiedene Sekten ihren Einfluss. In den Ländern mit freier Presse sind es nicht mehr die Priester allein, die dem Volk seine Meinungen eingeben. Im Übrigen hindert dort die Furcht, fur Dummköpfe oder Heuchler gehalten zu werden, die Großen daran, mit den Priestern gemeinsame Sache zu machen. Man kann dagegen das Beispiel Englands anfuhren, doch erstens ist die Presse in England nicht frei, was Gegenstände der Religion betrifft, und zweitens herrscht dort keine Freiheit des Gottesdienstes. Drittens wird England im Allgemeinen von Parteien regiert - von Vereinigungen angesehener Leute - und diese Parteien halten den Fanatismus sorgfältig am Leben, als ein Werkzeug, dessen sie sich abwechselnd zu bedienen hoffen. Kaum wird er von einer von ihnen angegriffen, so beeilen sich die anderen, ihn in Schutz zu nehmen.

XII. Der Despotismus der Gerichte ist der verabscheuenswürdigste von allen, weil sie, um ihn aufrecht zu erhalten und auszuüben, die Waffe verwenden, der die höchste Achtung gebührt: das Gesetz. In allen Ländern, wo es dauerhafte Gerichtshöfe gibt, deren Mit-

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glieder nicht von den Gerichtsuntertanen und nur auf Zeit gewählt sind und in allen Ländern, wo die Zivil- mit der Strafjustiz vereint ist, kann es keine Freiheit geben, weil das Einverständnis dieser Gerichte mit dem Oberbefehlshaber der Armee ausreicht, um eine Despotie zu errichten. Der Despotismus wird noch unausweichlicher, wenn jene Gerichte irgendeinen Anteil an der gesetzgebenden Gewalt haben, wenn sie untereinander eine Körperschaft bilden oder selbst über ihre Mitglieder richten. Der Oberbefehlshaber der Armee muss sie sich in diesem Fall gewogen machen, denn ohne sie könnte er absolute Macht nur mithilfe von Gewalt ausüben, was immer gefährlich ist. Die Gerichte sind sowohl daran interessiert, seiner Macht zu schmeicheln als auch, sie aufrecht zu erhalten, zum einen aus Furcht, zum anderen, weil sie nicht darauf hoffen können, dass die Bürger sich freiwillig dem Despotismus der Justiz unterwerfen würden, der zwangsläufig aus dieser Form des Gerichtswesens folgt. Denn dieser Despotismus lastet jeden Augenblick auf jedem einzelnen Individuum und erstreckt sich auf alles Tun und auf alle Interessen. Wenn, aufgrund der Kompliziertheit der Gesetze und Verfahren, eine sehr große Zahl von Leuten im Dienst der Gerichte stehen und dort das ausschließliche Privileg haben, als Advokaten und Staatsanwälte aufzutreten oder wenn es schwierig ist, diese Leute zu ersetzen, weil sie Kenntnisse eines Verfahrens besitzen, das den anderen Bürgern unbekannt ist, dann gewinnt der Despotismus der Justiz eine sehr gefahrliche Macht, da eine vollständige Einstellung jeglicher Rechtsprechung droht, falls die Gerichte oder diese Rechtsgelehrten ihre Tätigkeit verweigern. In Ländern mit gemäßigten Sitten kann der Despotismus der Regierung oder derjenige des Oberbefehlshabers der Armee weder blutig noch grausam sein. Der Despotismus der Justiz ist es immer, weil er die ganze Strenge der Gesetze aufbieten kann und die Gerichte dafür sorgen, dass grausame Gesetze in Kraft bleiben, auch wenn die Sitten maßvoller geworden sind. Wenn man die Ursachen dieses Despotismus kennt, liegen die Gegenmittel auf der Hand. Wenn die Richter von den Gerichtsuntertanen auf Zeit gewählt werden, wenn die Zivilgerichte von den Strafgerichten getrennt sind, wenn die Richter streng dazu verpflichtet sind, dem Buchstaben des Gesetzes zu folgen, wenn Gerichte anderer Ordnung ebenfalls gewählt - eingerichtet werden, um Pflichtverletzungen der Richter zu bestrafen, wenn das Amt, Fälle vor Gericht zu vertreten, absolut frei ist und man die besonderen Vereinigungen, deren Bildung diejenigen anstreben, die dieses Amt ausüben, nicht länger begünstigt, sondern für gegen die Interessen der Bürger erklärt (denn es wäre unrecht, sie zu verbieten), dann wird man den Despotismus der Gerichte nicht mehr zu fürchten brauchen.

XIII. Es ist den modernen Europäern gelungen, sich gegen den Despotismus der Armee zu schützen, indem sie sie in Regimenter untergliedern, sie auf eine große Zahl von Garnisonen verteilen und den aus mehreren Regimentern gebildeten Divisionen keine dauer-

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haften Oberbefehlshaber geben. Seitdem das Heereswesen so eingerichtet ist, hat keine Armee mehr die Ruhe des Staates gestört, noch irgendeine Art von Despotismus ausgeübt, weder über den Fürsten als Oberhaupt der Armee, noch über die Bürger. Man muss Russland ausnehmen, wo die Garderegimenter zu großen Einfluss haben. Und man muss vielleicht auch Preußen ausnehmen, falls die Garnison der königlichen Residenz sehr stark bleibt und der König einmal kein Mann des Krieges mehr sein sollte. Die europäischen Staaten hätten nur dann jenen Despotismus der Armee zu furchten, dem die anderen Teile der alten Welt Untertan sind und der dort den Fortschritt der Zivilisation hemmt, wenn es jemandem gelänge, den Truppen den passiven Gehorsam gegenüber ihren Befehlshabern zu verleiden - einen Gehorsam, dem nur durch das Naturrecht und ein positives Gesetz Grenzen gesetzt sein dürfen - und den Befehlshabern, dem Offizierskorps und in notwendiger Folge den Soldaten die Idee einzugeben, dass sie sich zu Richtern über die Legitimität der Befehle, die sie erhalten, machen können. Der passive Gehorsam ist gefährlich für die öffentliche Freiheit. Die willkürliche Verweigerung des Gehorsams würde zu einer noch größeren Gefahr werden. Um zugleich das eine wie das andere dieser Übel zu vermeiden, müssen durch ein Gesetz die Grenzen der militärischen Macht festgelegt werden, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung und zur Durchsetzung der Ausführung von Gesetzen, Urteilen und Beschlüssen der Regierung eingesetzt wird. In England gibt es ein solches Gesetz: Das ist eine weise Einrichtung, die es nachzuahmen gilt, wobei man stets bedenken sollte, dass nachahmen nicht kopieren heißt.

XIV. Die Regierungen Europas haben eingesehen, dass die Unmöglichkeit, mit den ordentlichen Staatseinnahmen oder durch außerordentliche Abgaben lange Zeit Krieg zu führen, ihnen verwehrt, sich dieser rastlosen Tätigkeit hinzugeben, die seit dem 15. Jahrhundert eine nahezu allgemeine politische Krankheit geworden ist. Zur Ergänzung der Einnahmen verfiel man anfangs auf den Verkauf von Ämtern und auf Finanzverträge über die befristete Vergabe bestimmter Zollrechte, später darauf, direkte Anleihen aufzunehmen. Durch dieses Mittel hatte man Gelder zur Verfugung, deren Zinsen durch Steuern oder Zölle bezahlt wurden. Die Anleihen wären nur eine sehr beschränkte Hilfsquelle gewesen, wenn man zu ihrer Finanzierung nur die Gelder gehabt hätte, die dazu bestimmt wurden, in ihnen platziert zu werden, vor allem aber wäre diese Hilfsquelle sehr langsam geflossen. Doch es eröffneten sich zwei Auswege: Der eine, bei Finanzgesellschaften Anleihen zu machen, deren Mitglieder es dann übernahmen, das Geld vorzuschießen oder sich darum kümmerten, es von ihren Familien, in ihrer Gesellschaft oder bei ihnen verbundenen Geschäftsleuten zu beschaffen. Der andere, die Anleihe an Bankiers oder Geldhändler zu verkaufen, die sie anschließend weiterverkauften oder sie zu einem Spekulationsobjekt machten. Diese beiden Auswege wurden entweder mit einem höheren Zins erkauft oder, im ersten Fall, durch die Abtretung einiger Rechte, einer größeren Duldsamkeit gegenüber manchen Missbräuchen oder schlicht durch eine längere Dauer

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der Ämter, deren Ablösung durch diese Anleihen schwieriger gemacht wurde. Nun waren die Hilfsquellen unerschöpflich, und unglücklicherweise gewöhnte man sich nach und nach daran, sie für sicher zu halten und von ihnen den Erfolg der wichtigsten Unternehmungen und in schwierigen Zeiten sogar die notwendigen Zahlungen zur Begleichung alter Zinsen, zur Erfüllung von Verbindlichkeiten und zur Bestreitung öffentlicher Ausgaben abhängig zu machen. Doch damit begab man sich in Abhängigkeit von denjenigen, die diese Vorschüsse gewähren konnten. Bei der Steuer- oder Handelsgesetzgebung ebenso wie bei politischen Unternehmungen musste man auf ihre Interessen, ihre Ansichten und ihre Leidenschaften Rücksicht nehmen, und von nun an hieß es, sie zu den Klassen der Bürger hinzuzurechnen, die über das Volk einen echten Despotismus ausüben. Der englischen Nation haben sie auf diese Weise die Souveränität Indiens aufgezwungen und es dazu gebracht, dass man die von ihnen diktierten Pläne Pitts denen von Fox und des Grafen Stanhope vorzog. Wie viele Minister könnte man nicht nennen, deren Sturz sie beschleunigt oder deren Einsetzung sie erzwungen haben? In Frankreich zwangen sie die Regierung, den Verfasser der Theorie der Steuer seiner Freiheit zu berauben, und weder seine Abstammung, noch sein Vermögen, noch sein persönliches Ansehen boten ihm Schutz vor ihrem finsteren Hass. Sie zwangen den Abbé Terrai zum Bankrott von 1770, der keinen anderen Ausweg mehr sah, um ihre Herrschaft abzuschütteln, viele schlechte Geschäfte machte, um sich dieser Herrschaft zu entziehen und sich ihr am Ende unterwarf. Der Bankrott von 1788 hatte dieselbe Ursache. Es gibt nur zwei Mittel, um diesen Despotismus, der jeden Tag gefährlicher und unerträglicher zu werden droht, zu zerschlagen. Das erste besteht in einer Gesetzgebung, die alle schädlichen Formen der Besteuerung abschafft und dem Handel vollständige Freiheit gewährt, wodurch man die Quelle der großen Finanz- und Bankvermögen austrocknen, die Gewinne des letzteren Handelszweiges verringern und auf eine größere Anzahl von Hände verteilen würde. Das zweite Mittel ist, das Verfahren der Anleihen zu ändern. Nachdem sie von der Nation bewilligt worden sind, sollte es entweder deren Repräsentation oder denjenigen Versammlungen, welche die einzelnen Provinzen repräsentieren, obliegen, selbst die Anleihen aufzunehmen, deren Zinsen zu bezahlen und sie mit den öffentlichen Geldern, die sie in Händen halten, zurückzuzahlen, ohne dass ihre Bestimmung geändert werden kann. Weiterhin sollte man, anstatt teure Anleihen zu suchen, die nur eine eingeschränkte Sicherheit brauchen, solche wählen, die allein durch ihre dauerhafte, also gut fundierte Sicherheit und die Vorteile ihrer Gestaltung reizvoll sind. Auch sollte man jeder Anleihe die Bekanntmachung ihres tatsächlichen Zinsfußes beifügen, sowie den Beweis, dass die zur Tilgung bereitgestellten Mittel tatsächlich ausreichend sind. Man sollte stets Anleihen zu einem niedrigeren Zinssatz als dem der alten Anleihen geöffnet halten, deren Fonds dann dazu benutzt werden, um die alten Anleihen zurückzuzahlen. Man sollte weiterhin sorgfältig alle Finanzoperationen und Unternehmen unterbinden, die Bewegungen von Anteilsscheinen verursachen, und damit notwendigerweise auch verhindern, dass sich Geschäftsleute zusammenschließen. Schließlich sollte man versuchen, das Dunkel zu zerstreuen, in das diese Geschäftsleute eine kleine, sehr wenig komplizierte Kunst gehüllt haben, die allein dann Gewicht erhält und zu einer Gefahr werden kann, wenn nur wenige sie beherrschen.

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XV. Der Despotismus des Pöbels ist in all den Staaten zu furchten, in denen es große Hauptstädte und Handelszentren gibt. Doch ist er weniger ein eigenständiger Despotismus, als vielmehr der Agent einer anderen Macht. Eine Ausnahme bildet nur jene Despotie des Pöbels, die erzwingt, dass die Preise der Produkte, die zu seinem Lebensunterhalt dienen, von der Obrigkeit festgesetzt werden und dass die Gesetze über den Handel mit diesen Produkten seinen Vorurteilen angepasst werden. Doch selbst diese Art von Despotismus existiert nur, weil andere despotische Kräfte, die auf der Nation lasten oder die verschiedenen Parteien, in die sich diese Kräfte spalten, aus ihm Nutzen zu ziehen hoffen. In anderen Fällen setzt der Pöbel seinen Despotismus ein, um religiöse Vorurteile zu verteidigen, um die Autorität bestimmter Körperschaften aufrecht zu erhalten, die er unter seinen Schutz genommen hat oder deren Existenz zum Reichtum der betreffenden Stadt beiträgt, um gewisse populäre Ansichten zu verteidigen, die einigen wenigen Klassen von Bürgern nützen, allen anderen aber schaden und schließlich aus Groll gegen mächtige Männer, die man ihm verhasst gemacht hat. So gefährlich dieser Despotismus auch sein mag, so sieht man doch nirgends die anderen gesellschaftlichen Kräfte sich zusammenschließen, um ihm eine Ende zu machen. Es handelt sich bei ihm um ein Werkzeug, das diejenigen, die am schwächsten sind, sich erhalten wollen. In England lässt das Unterhaus lieber eine Menge lächerlicher und ungerechter Gesetze bestehen, die jedoch die Protektion des Pöbels genießen, statt nach Mitteln zu suchen, diesen fur die Gesetzgebung verderblichen Einfluss auszuschalten. Es war der Pöbel, der Holland die Freiheit geraubt hat, als er 1777 die stathouderat wieder einführte. Er war es, der in Dänemark, anstatt die tyrannische Aristokratie in ihre Schranken zu weisen, den Despotismus des Fürsten errichtet hat, mit anderen Worten, den Despotismus des Hofes, der Priester und der Rechtsgelehrten. Es war der Despotismus des Pöbels von Konstantinopel, der das griechische Reich zerstört hat, weit mehr als das Schwert der Barbaren und die theologischen Streitigkeiten. Jeder weiß, dass dieser Despotismus ebenso unsinnig in seinen Absichten wie barbarisch in seinen Mitteln ist, da er stets von dem Teil der Nation ausgeübt wird, der am wenigsten gebildet und - nächst den Ehrgeizigen, die sich seiner bedienen - am meisten verdorben ist. Doch was macht den Pöbel einer großen Stadt gefährlich? Die Leichtigkeit, mit der er sich versammeln lässt, seine Unwissenheit und seine Wildheit. Man muss also gegen diese drei Ursachen vorgehen, um ihren Wirkungen vorzubeugen. Es gibt nur zwei Mittel, um der Leichtigkeit, mit der sich der Pöbel versammeln lässt, entgegenzuwirken: Das erste ist vollständige Gewerbe- und Handelsfreiheit, die das Volk wachsen lassen würde, indem sie die Menge des Pöbels schrumpfen lässt. Sie würde den Zusammenhalt der Arbeiter, die einer bestimmten Gilde oder einem bestimmten privilegierten Ort verbunden sind, schwächen und schließlich auch die Abneigung der von den Zunftgesetzen drangsalierten ärmsten Klasse gegen die Polizei mildern. Das zweite Mittel wäre, jede große Stadt in Bezirke zu teilen, die sich zur Wahrnehmung ihrer Interessen nach einem geordneten Verfahren versammeln könnten und dabei die letzten Gliederungen möglichst klein zu halten. Kleine Versammlungen von Bürgern, ohne An-

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sehen des Stands oder des Berufs, sind zumeist das einzig gerechte und zugleich das sicherste Mittel, um zu verhindern, dass spontane Zusammenschlüsse die öffentliche Ruhe stören. Um die Unwissenheit zu bekämpfen, muss man Pressefreiheit gewähren und die Zahl der gut geführten öffentlichen Bildungseinrichtungen vermehren. Solche Einrichtungen fehlen dem Volk in fast allen Ländern, in denen die von den Priestern der jeweiligen Religion geführten Anstalten nur solchen Ideen Einlass zum Geist des Volkes gewähren, die geeignet sind, die priesterliche Macht aufrecht zu erhalten. Die Pressefreiheit ist ein weiteres Mittel, um die Unwissenheit und die Vorurteile des Volkes zu bekämpfen. Nicht indem sie das Volk unmittelbar bildet, sondern indem sie die Aufklärung in der dem Volk am nächsten stehenden höheren Klasse verbreitet, vor allem aber, indem sie die Leute, die daran Interesse haben, das Volk zu täuschen, daran hindert, seinen Vorurteilen Nahrung zu geben. Wenn sich das Volk erhebt, dann erhebt es sich meist gegen seine wahren Interessen. Man könnte dafür Beispiele aus alter wie aus jüngster Zeit anführen. Seine Wildheit entsteht aus Unwissenheit und Elend, aus der Härte der Strafgesetze und der Anmaßung der privilegierten Klassen, und daraus lässt sich ersehen, wie man ihr abhelfen kann.

XVI. Diese einfachen Bemerkungen zeigen zu genüge, wie wenig diejenigen, die meinen, dass sie den Despotismus abschaffen würden, wenn sie die willkürlichen Erlasse der Regierung abschaffen, das ganze Ausmaß dieser Geißel begriffen haben. Indem sie ständig davon sprechen, wie wichtig es ist, sich diesem Despotismus entgegenzustellen, vergessen sie, dass er selbst das Gegengewicht gegen andere Despotismen bildet und dass sie, wenn sie konsequent sein wollten, deren Fortbestehen wünschen müssten.

XVII. Man darf den Despotismus nicht mit der Tyrannei verwechseln. Unter Tyrannei muss man jede Verletzung des Menschenrechts verstehen, die im Namen der öffentlichen Gewalt vermittels des Gesetzes begangen wird. Sie kann auch unabhängig vom Despotismus vorkommen. Der Despotismus ist der Gebrauch oder Missbrauch einer illegitimen Macht, einer Macht, die nicht von der Nation oder den Repräsentanten der Nation ausgeht. Die Tyrannei ist die Verletzung eines natürlichen Rechts, begangen von einer legitimen oder illegitimen Macht. Denken wir uns eine wohleingerichtete Republik des 14., 15., 16. oder sogar des 17. Jahrhunderts, in der die Repräsentanten des Volkes sich sowohl der Einführung neuer Gesetze hätten widersetzen, wie die Reform der bestehenden hätten erzwingen können. Nehmen wir an, dass keine der durch diese Gesetze eingesetzten Gewalten die Gesetze hätte verletzen noch über die Repräsentanten des Volkes eine deren Freiheit

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einschränkende Macht hätte ausüben können. Nichtsdestotrotz hätte man in dieser Republik Strafgesetze gegen die Häretiker erlassen. Das, was man Sakrileg oder Blasphemie nennt, wäre dort in den Rang eines Kapitalverbrechens erhoben worden. In jenen Jahrhunderten und selbst noch in unserem, hätte man das Gewerbe und den Handel durch Ein- und Ausfuhrverbote behindert. Man hätte indirekte Steuern erhoben und Delikte geschaffen, gegen die man dann mit tyrannischen Gesetzen hätte vorgehen müssen. Es hätte keinen Despotismus gegeben, doch die Tyrannei wäre auf ihrem Höhepunkt gewesen

XVIII. Das einzige Mittel, um der Tyrannei - mit anderen Worten: der Verletzung der Menschenrechte - vorzubeugen, ist, alle diese Rechte in einer Erklärung zu vereinigen, sie dort klar und in großer Ausführlichkeit darzulegen, diese Erklärung feierlich zu veröffentlichen und in ihr festzuschreiben, dass die legislative Gewalt, auf welche Weise sie auch eingesetzt ist, nichts anordnen darf, was irgendeinem Artikel der Erklärung widerspricht. Man muss zugleich ein legales Verfahren einrichten, gemäß dem der Erklärung neue Artikel hinzugefügt werden können. Denn je weiter die Aufklärung fortschreitet, desto genauer werden die Menschen den Umfang ihrer Rechte erkennen und desto besser werden sie deren offensichtliche Folgen übersehen können. Je umfassender eine Rechteerklärung aber sein wird, desto sicherer wird nicht nur der Genuss der in ihr enthaltenen Rechte sein, sondern man wird darüber hinaus feststellen, wie Zahl und Kompliziertheit der Gesetze abnehmen und wie jene willkürlichen Bestimmungen verschwinden, von denen die Gesetze aller Nationen entstellt werden. Es muss jedoch auch ein legales Verfahren zur Streichung von Artikeln aus dieser Erklärung geben, denn der Irrtum, selbst zugunsten der Menschenrechte, kann schädlich sein. Das Verfahren, um einen Artikel hinzuzufügen, sollte so gestaltet sein, dass man gewiss ist, ihn hinzuzufügen, wenn es nur im Geringsten wahrscheinlich ist, dass es sich um ein wirkliches Menschenrecht handelt. Um jedoch einen Artikel aus der Erklärung zu streichen, sollte das Verfahren derart sein, dass nur Evidenz und Notwendigkeit eine Entscheidung für die Abschaffung des Artikels herbeiführen können. Ohne eine derartige Vorsichtsmaßnahme werden die Bürger niemals Sicherheit vor der Tyrannei haben, welche Form man der Verfassung auch geben mag. Sie wird von einer legitimen Gewalt eingeführt werden, doch wird sie dadurch nicht weniger Tyrannei sein, so wie ein ungerechtes Urteil nicht weniger ungerecht ist, wenn es in einem legalen Verfahren gefällt wird.

XIX. Die natürlichen Rechte des Menschen sind: 1. Die Sicherheit und Freiheit seiner Person; 2. Die Sicherheit und Freiheit seines Eigentums; 3. Die Gleichheit.

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Nur das letzte dieser Rechte bedarf einer Erläuterung. Die Gleichheit, die das Naturrecht zwischen den Menschen fordert, verbietet jede Ungleichheit, die nicht notwendig aus der Natur des Menschen und der Dinge folgt, und die demnach eine willkürliche Hervorbringung der gesellschaftlichen Institutionen wäre. Die Ungleichheit des Reichtums beispielsweise steht demnach nicht in Widerspruch zum Naturrecht. Sie ist eine notwendige Folge des Rechts auf Eigentum, weil dieses Recht, insofern es den freien Gebrauch des Eigentums einschließt, auch die Freiheit einschließt, unbegrenzt Reichtümer anzuhäufen. Die Ungleichheit des Reichtums würde jedoch dann in Widerspruch zum Naturrecht geraten, wenn sie das Werk eines positiven Gesetzes wäre, wie etwa desjenigen, das den Erstgeborenen ein größeres Erbteil zuspricht oder desjenigen, das die Einsetzung von Nacherben bestimmt usw. Daher widerspricht die Gewalt, die jemand, der mit einer bestimmten Funktion betraut ist, über diejenigen hat, die aufgrund der Natur dieser Funktion seine Untergebenen sind, nicht dem Naturrecht, weil sie aus der Notwendigkeit folgt, dass jemand die betreffende Autorität ausübt und andere ihm gehorchen. Doch gerät diese Gewalt in Widerspruch zum Recht auf Gleichheit, sobald man sie erblich macht oder sobald sie über das hinausgeht, was für die gute Ausübung der betreffenden Funktion notwendig ist. Das Recht auf Gleichheit wird nicht verletzt, wenn nur die Grundeigentümer das Bürgerrecht genießen, da nur sie allein den Grund und Boden besitzen und allein ihre Zustimmung das Recht gibt, auf ihm zu wohnen. Doch wird es verletzt, wenn das Bürgerrecht ungleich zwischen verschiedenen Klassen von Grundeigentümern aufgeteilt ist, weil eine derartige Unterscheidung nicht aus der Natur der Dinge hervorgeht.

XX. Im Allgemeinen sind die natürlichen Rechte des Menschen allen, die einen aufrechten Geist und eine hohe Seele haben bekannt, doch nur wenige Menschen erfassen ihren ganzen Umfang. Nur wenige haben sich zu einer solchen Höhe aufgeschwungen, dass sie alle Auswirkungen dieser Rechte überschauen können. Eine wirklich vollständige Rechteerklärung wäre ein für die Menschheit nützliches Werk. Doch würde man wahrscheinlich kein einziges Volk finden, selbst unter denen, die die Tyrannei am meisten verabscheuen, dass bereit wäre, sie sich vollständig zu eigen zu machen, so sehr hat sich der Mensch an seine Ketten gewöhnt.

XXI. Die erste Rechteerklärung, die diesen Namen wahrhaft verdient, ist diejenige von Virginia, die am 1. Juni 1776 beschlossen wurde. Dem Autor dieses Werkes schuldet die Menschheit ewige Dankbarkeit. Sechs weitere amerikanische Staaten sind dem Beispiel Virginias gefolgt. Doch keine dieser Rechteerklärungen kann als vollständig betrachtet werden.

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1. Keine legt die Grenzen der souveränen Gewalt in Hinsicht auf die Bestrafung von Verbrechen fest. Es ist jedoch offensichtlich, dass die legislative Gewalt kein Recht hat, Handlungen zu Verbrechen zu erklären, die keine direkte, unmittelbare und schwerwiegende Verletzung von Rechten des Individuums oder der Gesellschaft sind. 2. Keine legt die Grenzen der legislativen Gewalt in Hinsicht auf die zivilen Gesetze und die Polizeigesetze fest. 3. Eine einzige erklärt jede Kopfsteuer und jede Steuer, der auch die Armen unterliegen (ein Begriff, dessen Verwendung auf tiefgehende Kenntnisse dieses Gegenstands schließen lässt) für dem Naturrecht widersprechend. Aber keine verbietet indirekten Steuern, die ihrer Natur nach ungleich verteilt sind und zwangsläufig eine mehr oder weniger direkte Verletzung der Freiheit der Person oder der Güter und die Einfuhrung willkürlicher Delikte mit sich bringen. 4. Wenn auch einige jedes exklusive Privileg ausschließen, nimmt doch keine die Freiheit jedes Menschen, seine Kräfte und Güter nach Belieben zu gebrauchen, solange er dadurch nicht die Menschenrechte verletzt, in den Rang eines natürlichen und heiligen Rechts auf, eine Freiheit, die die unbeschränkte Freiheit des Gewerbes und des Handels voraussetzt. 5. Einige gestatten die Erhebung von Steuern zur Bezahlung der Kosten des Gottesdienstes. Diese sind zwar in der Tat für einen beliebigen Gottesdienst nach dem Willen des Steuerpflichtigen bestimmt, doch jede Steuer dieser Art widerspricht den Menschenrechten, die auch die Freiheit schützen müssen, für keinen Gottesdienst zu bezahlen und jedem Gottesdienst fernzubleiben. 6. Im Allgemeinen hat man das Recht aufgenommen, nur durch den einstimmigen Beschluss einer Jury verurteilt werden zu können. Nun ist es jedoch erstens nicht erwiesen, dass diese Einstimmigkeit, die nach dem englischen Verfahren erforderlich ist, eine größere Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Urteils bietet als eine sofortige Mehrheit von acht oder zehn Richtern. Es ist, zweitens, ebenso wenig erwiesen, dass Geschworene vertrauenswürdigere Richter einer Tat sind, als Männer, die von den Bürgern unter denjenigen ausgewählt werden, die im Ruf der größten Aufgeklärtheit und Rechtschaffenheit stehen, und die für einen festgesetzten Zeitraum mit diesem Amt betraut werden. Die Entscheidung zwischen diesen unterschiedlichen Methoden ist keine Frage des Rechts, sondern der Vernunft. Die legislative Gewalt muss die Autorität haben, dasjenige Verfahren einzuführen, das ihr am besten geeignet erscheint, um die Sicherheit der Person zu garantieren. In einer Rechterklärung jedoch muss man ächten, was dieser Sicherheit entgegensteht, nicht aber die Wahl zwischen verschiedenen Mitteln zu ihrer Garantie vorschreiben. Folglich muss beispielsweise jede Ernennung von Richtern oder Geschworenen, die nicht durch Wahl durch die Gerichtsuntertanen stattfindet, jede Einrichtung eines dauerhaften Gerichtshofs, der seine Mitglieder selbst ernennt oder von einer bürgerlichen Körperschaft oder einem übergeordneten Magistrat ernannt wird usw., von einer Rechteerklärung verboten werden. 7. In mehreren dieser Rechteerklärungen befreit man diejenigen von der Pflicht zum Militärdienst, die aus Gewissensgründen meinen, es sei ihnen nicht erlaubt, Waffen zu

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tragen. Es handelt sich hier um ein Privileg, das Personen gewährt wird, die sich zu einer bestimmten Überzeugung bekennen und damit um eine Verletzung des allgemeinen Rechts. Ein Prinzip, das Respekt vor dem einzelnen Gewissen in einer Angelegenheit gebietet, die tatsächlich in die Zuständigkeit der Gesetze fallt, ist nichts anderes als eine Ermutigung zum Fanatismus. Es wäre unrecht, einen Mann, der für seine Familie sorgen muss, zum Militärdienst zu zwingen, einen Quäker oder anderen Sektierer aber davon auszunehmen. Stattdessen sollte eine Rechteerklärung die allgemeine Aufhebung jeder Pflicht zum Militärdienst beinhalten. Die Einberufung zum Dienst sollte freiwillig sein und die Weigerung, ihr nachzukommen, durch die Schande bestraft werden, die der Feigheit überall anhängt. Das Urteil über Legitimität oder Illegitimität des Grundes dieser Weigerung wird dann allein die öffentliche Meinung fallen.

XXII. Die beste Methode, eine wirklich vollständige Rechteerklärung zu erhalten, wäre, alle aufgeklärten Menschen zu ermutigen, unabhängig voneinander einen Entwurf abzufassen. Durch den Vergleich dieser unterschiedlichen Werke könnte man nicht nur die mehr oder weniger methodische Ordnung und die mehr oder weniger große Klarheit des Stils beurteilen, in dem die Rechte dargelegt sind, sondern man würde auch genau erfahren, was diese unterschiedlichen Bürger als Bestandteile der Menschenrechte ansehen. Das aber wäre das sicherste Mittel, alle Rechte zu erfassen, vielleicht nicht in ihrem tatsächlichen und absoluten Umfang, doch in dem Umfang, bis zu dem der heutige Stand der Aufklärung sie auszudehnen erlaubt. Jeder Redakteur sollte sich darauf beschränken, die Rechte mit einfachen Begründungen und in wenigen Worten darzulegen, wie man es in der Erklärung von Virginia sieht. Über die Rechte jedoch, die man als zweifelhaft betrachten könnte, sollten in gesonderten Notizen ausführlichere Erörterungen angestellt werden. Die Schwierigkeit, alle Menschenrechte zu erkennen und sie klar und methodisch darzulegen, ist nicht die einzige, die ein Werk dieser Art bietet. Es muss auf eine Art abgefasst sein, die jedes Recht, unter Vermeidung von Weitschweifigkeit ebenso wie von kleinlichen Details, so darlegt, dass jede schwerwiegende Verletzung dieses Rechts klar erkennbar, leicht nachzuweisen und für jeden einsichtig ist. Man sollte weiterhin darauf achten, dass der wesentliche Teil jedes Artikels, nämlich der, in dem das jeweilige Recht formuliert ist, von der Begründung für seine Aufnahme unter die natürlichen Menschenrechte getrennt wird. Schließlich sollte die Formulierung derart sein, dass, nachdem durch Vergleich der verschiedenen Entwürfe eine vollständige Liste dessen erstellt wurde, was man als zu diesen Rechten zählend betracht, eine allgemeine Versammlung mit Ja oder Nein darüber entscheiden kann, was davon in einer Rechteerklärung enthalten sein soll und was sie als schwärmerisch oder übertrieben beurteilt. Es wäre wünschenswert, dass die entsprechenden Entwürfe im Druck veröffentlicht würden. Ein solches Verfahren hätte zwei Vorteile: Zum einen wären die Entwürfe der

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Prüfling durch alle Bürger unterworfen und es ließe sich aus den Einsichten, die sich dabei ergeben können, Gewinn ziehen. Zum anderen könnte man sagen, dass man es nicht versäumt hat, auch nur ein einziges Recht, das irgendein Mitglied des Staates vielleicht hätte reklamieren wollen, zu prüfen, da es (in Anbetracht der Öffentlichkeit des Verfahrens) nur an ihm lag, wenn irgendein Recht, das er für real hielt, nicht in die Diskussion eingebracht wurde. Je umfangreicher und vollständiger eine Rechteerklärung sein wird, desto klarer und präziser wird sie sein und desto sicherer wird die Nation, die sie beschlossen hat und die durch das Prinzip und durch die öffentliche Meinung an sie gebunden ist, vor jeder Tyrannei geschützt sein. Denn jede Tyrannei, die offen eines dieser Rechte angreift, würde sich allgemeinem Widerstand gegenübersehen.

XXIII. Ein weiterer Vorteil einer Rechteerklärung besteht darin, die allgemeine Ruhe sicherzustellen: Eine Nation, die mit diesem Schild versehen ist, wird nicht mehr länger von jeder Neuerung in Unruhe versetzt und hat keinen Vorwand mehr, an solchen die sinnvoll sind, Anstoß zu nehmen. Sie lässt sich von den Verteidigern der Missbräuche, die man abschaffen will, nicht mehr so leicht täuschen und verwechselt ihre Rechte nicht länger mit Privilegien und Institutionen, die in Wirklichkeit im Widerspruch zu diesen Rechten stehen. Hat man das Volk der Niederlande sich nicht erheben sehen, um der Erhaltung einiger Seminare und Klöster willen? Haben nicht andere Völker mal die Erhaltung einer tyrannischen Aristokratie, mal eine mit dem Genuss ihrer wirklichen Rechte unvereinbare Gerichtsverfassung fur einen Teil ihrer Freiheit gehalten? Eine Rechteerklärung ist somit zugleich eine Schutzwehr für die Ruhe wie für die Freiheit des Gemeinwesens.

Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht 3. Juli 1790® (I) Journal de la société de 1789, Nr. 5

Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht Die Gewohnheit kann den Menschen die Verletzung ihrer natürlichen Rechte so alltäglich werden lassen, dass niemand, der diese Rechte verloren hat, mehr daran denkt, sie einzufordern oder meint, dass ihm ein Unrecht widerfahren sei. Manche dieser Verletzungen wurden sogar von den Philosophen und Gesetzgebern übersehen, als sie mit höchstem Eifer darauf sannen, die gemeinsamen Rechte der menschlichen Individuen zu bestimmen und sie zum alleinigen Fundament der politischen Institutionen zu machen. Haben sie nicht beispielsweise alle das Prinzip der Gleichheit der Rechte verletzt, indem sie stillschweigend die Hälfte der Menschheit des Rechts beraubten, an der Entstehung der Gesetze mitzuwirken, als sie die Frauen vom Bürgerrecht ausschlossen? Gibt es einen stärkeren Beweis fur die Macht der Gewohnheit selbst über aufgeklärte Männer, als zu sehen, wie man sich zugunsten von drei oder vierhundert Männern, die durch ein absurdes Vorurteil der Gleichheit ihrer Rechte beraubt wurden, auf dieses Prinzip beruft, es aber in Hinsicht auf zwölf Millionen Frauen vergisst? Soll dieser Ausschluss kein Akt der Tyrannei sein, so müsste man entweder beweisen, dass die natürlichen Rechte der Frauen nicht absolut dieselben sind wie die der Männer oder zeigen, dass die Frauen nicht fähig sind sie auszuüben. Nun folgen die Rechte der Menschen jedoch einzig daraus, dass sie empfindungsfahige Wesen sind, die moralische Ideen entwickeln und über diese Ideen vernünftig urteilen können. Folglich haben die Frauen, insofern sie über eben diese Eigenschaften verfügen, notwendigerweise gleiche Rechte. Entweder hat kein Individuum der menschlichen Gattung wirkliche Rechte oder alle haben dieselben. Derjenige aber, der gegen das Recht eines anderen stimmt, welche Religion, welche Hautfarbe oder welches Geschlecht dieser andere auch haben mag, hat damit den seinen abgeschworen. Es dürfte schwierig sein, zu beweisen, dass Frauen unfähig sind, die Bürgerrechte auszuüben. Warum sollten Wesen, die Schwangerschaften und vorübergehenden Unpässlichkeiten ausgesetzt sind, nicht Rechte ausüben, die man niemals Leuten vorenthalten würde, die jeden Winter Gicht haben und sich leicht einen Schnupfen holen? Gesteht man den Männern eine geistige Überlegenheit zu, die ihre Ursache nicht in der unterschiedlichen Erziehung der Geschlechter hat (was keineswegs bewiesen ist, es aber sein müsste, um die Frauen, ohne Unrecht zu tun, eines natürlichen Rechts zu berauben), so

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kann diese Überlegenheit nur in zwei Punkten bestehen. Man sagt, dass keine Frau jemals eine wichtige Entdeckung in den Wissenschaften gemacht hat, jemals ihr Genie in den Künsten, in der Literatur usw. unter Beweis gestellt hat. Aber zweifellos hat man nicht vor, nur Männern von Genie das Bürgerrecht zu verleihen. Man fugt hinzu, dass keine Frau denselben Umfang an Kenntnissen, dieselbe Verstandeskraft hat wie gewisse Männer. Doch was folgt daraus, außer dass - abgesehen von einer wenig zahlreichen Klasse sehr aufgeklärter Männern - vollständige Gleichheit zwischen den Frauen und dem Rest der Menschheit besteht und dass, außer in jener kleinen Klasse, sich Unter- und Überlegenheit gleichmäßig auf die Geschlechter verteilen. Da es nun aber vollkommen absurd wäre, das Bürgerrecht und die Fähigkeit, öffentliche Ämter auszuüben, auf jene überlegene Klasse zu beschränken, warum hat man die Frauen davon ausgeschlossen, nicht aber jene Männer, die einer großen Zahl von Frauen unterlegen sind? Will man schließlich behaupten, es gäbe irgendwelche Eigenschaften im Geist oder im Herzen der Frauen, die sie zwangsläufig vom Genuss ihrer natürlichen Rechte ausschließen? Befragen wir zunächst die Tatsachen. Elisabeth von England, Maria-Theresia und die beiden Katharinas von Russland haben bewiesen, dass es Frauen weder an Seelenstärke noch an Mut fehlt. Elisabeth hatte alle Kleinlichkeiten einer Frau. Hat ihre Regierung mehr darunter gelitten als die Regierung ihres Vaters oder die ihres Nachfolgers unter den Kleinlichkeiten der Männer gelitten haben? War der Einfluss der Liebhaber einiger Kaiserinnen gefahrlicher als der Einfluss der Mätressen von Ludwig XIV, Ludwig XV oder gar von Heinrich IV? Hätte Mistress Macaulay ihre Meinung im Unterhaus nicht besser vertreten als viele Repräsentanten der britischen Nation? Hätte sie in der Frage der Gewissensfreiheit nicht höher stehende Prinzipien und einen schärferen Verstand bewiesen als Pitt? Hätte sie sich, obwohl ihre Begeisterung fur die Freiheit sicherlich genauso groß war wie die von Monsieur Burke für die Tyrannei, bei ihrer Verteidigung der französischen Verfassung zu dem absurden und widerlichen Geschwätz verstiegen, mit dem jener berühmte Redner diese Verfassung angegriffen hat? Wären in Frankreich die Bürgerrechte während der Ständeversammlung von 1614 nicht besser von Montaignes Adoptivtochter verteidigt worden als vom Rat Courtin, der an Hexerei und okkulte Kräfte glaubte? Taugte die Prinzessin des Ursins nicht etwas mehr als Chamillard? Hätte die Marquise de Châtelet eine Depesche nicht genauso gut überbracht wie Monsieur Rouillé? Hätte Madame de Lambert genauso unsinnige und barbarische Gesetze gemacht wie der Siegelbewahrer d'Armenonville sie gegen die Protestanten, gegen den Diebstahl der Dienstboten, die Schmuggler und die Neger gemacht hat? Wenn die Männer sich die Liste derjenigen vor Augen halten, von denen sie regiert wurden, dann haben sie keinen Grund derart stolz zu sein. Die Frauen sind den Männern in den sanften und häuslichen Tugenden überlegen. Sie wissen, genau wie die Männer, die Freiheit zu schätzen, obwohl sie nicht an all ihren Vorzügen teilhaben können. Und in den Republiken hat man oft erlebt, dass sie sich fur das Gemeinwesen geopfert haben: Immer dann, wenn der Zufall oder gesellschaftliche Unruhen sie auf einen Schauplatz geführt haben, von dem sie bei allen Völkern durch

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den Hochmut und die Tyrannei der Männer ferngehalten wurden, haben sie die Tugenden des Bürgers unter Beweis gestellt. Man sagt, dass die Frauen, obwohl sie über viel Geist und Scharfsinn verfugen und in der Fähigkeit des Räsonierens spitzfindigen Dialektikern in nichts nachstehen, doch niemals von dem geleitet wurden, was man Vernunft nennt. Diese Beobachtung ist falsch: In der Tat werden Frauen nicht von der Vernunft der Männer geleitet, aber von ihrer eigenen. Da aufgrund der Gesetze ihre Interessen nicht dieselben wie die unsrigen sind und demnach für sie nicht dieselben Dinge von Bedeutung sind wie fur uns, lassen sie sich, ohne dass es ihnen an Vernunft mangelt, möglicherweise von anderen Prinzipien leiten und streben nach einem anderen Ziel. Für eine Frau ist es genauso vernünftig, auf die Anmut ihres Äußeren zu achten wie es für Demosthenes vernünftig war, seine Stimme und seine Gesten zu pflegen. Man hat gesagt, dass die Frauen, obwohl besser als die Männer, sanfter, gefühlvoller und weniger den aus Egoismus und Hartherzigkeit entspringenden Lastern ergeben, kein echtes Gefühl für Gerechtigkeit hätten und eher ihrem Gefühl als ihrem Gewissen gehorchten. Diese Bemerkung kommt der Wahrheit näher, beweist jedoch nichts. Ursache dieses Unterschieds ist nicht die Natur, sondern die Erziehung und die gesellschaftliche Existenz. Weder die eine noch die andere haben den Frauen eine Idee von Gerechtigkeit vermittelt, sondern ihnen stattdessen beigebracht, was Anstand ist. Ferngehalten von Geschäften und allem, was gemäß strenger Gerechtigkeit und positiven Gesetzen entschieden wird, sind die Angelegenheiten, mit denen sie sich beschäftigen und in denen sie tätig werden, eben solche, in denen natürlicher Anstand und Gefühl den Ausschlag geben. Es ist daher ungerecht, den Frauen noch länger den Genuss ihrer natürlichen Rechte zu verweigern, indem man sich auf Gründe beruft, die nur deshalb eine gewisse Realität haben, weil die Frauen diese natürlichen Rechte nicht genießen. Wenn man gegen die Frauen derartige Argumente zulässt, müsste man das Bürgerrecht auch jenem Teil des Volkes aberkennen, der, unter dem Zwang rastloser Arbeit, weder Bildung erwerben noch seine Vernunft üben kann, und nach und nach würde man nur noch Männer zu Bürgern machen, die ein Studium des öffentlichen Rechts absolviert haben. Wenn man derartige Prinzipien gelten lässt, dann muss man notwendigerweise jeder freien Verfassung entsagen. Die verschiedenen Aristokratien haben sich zu ihrer Begründung oder Rechtfertigung ähnlicher Vorwände bedient, wie schon die Etymologie dieses Begriffs beweist. Man kann nicht die Abhängigkeit der Frauen von ihren Ehemännern ins Feld fuhren, weil man gleichzeitig diese Tyrannei des Zivilrechts abschaffen könnte. Vor allem aber darf ein Unrecht niemals Grund sein, ein weiteres Unrecht zu begehen. Es bleiben mithin nur noch zwei Einwände zu erörtern. Sie stellen der Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht allerdings nur Nützlichkeitserwägungen entgegen, Erwägungen, die gegenüber einem tatsächlichen Recht nicht ins Gewicht fallen. Zu oft hat die gegenteilige Maxime Tyrannen zum Vorwand oder zur Entschuldigung gedient. Im Namen der Nützlichkeit seufzen Handel und Gewerbe in ihren Ketten und bleibt der Afrikaner der Sklaverei preisgegeben. Im Namen des öffentlichen Nutzens füllt man die Bastille,

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setzt Zensoren für die Bücher ein, hält an den Geheimprozessen fest und unterwirft Menschen der Folter. Untersuchen wir indessen die betreffenden Einwände, um keine Antwort schuldig zu bleiben. Man müsse, so sagt man, den Einfluss der Frauen auf die Männer furchten. Wir wollen darauf zunächst antworten, dass dieser Einfluss, wie jeder andere auch, im Geheimen weit gefährlicher ist als in einer öffentlichen Debatte. In der Öffentlichkeit würde ein den Frauen möglicherweise eigener Einfluss umso schneller an Macht verlieren, als er, wenn er sich auf mehr als eine Person erstreckt, endet, sobald er bekannt wird. Da bis heute den Frauen in keinem Land vollständige Gleichheit gewährt wurde, ihre Macht aber dennoch überall existiert hat und umso gefährlicher wurde, je mehr die Frauen von den Gesetzen erniedrigt wurden, sollte man darüber hinaus nicht allzu viel Vertrauen in dieses Gegenmittel haben. Ist es nicht vielmehr wahrscheinlich, dass sich diese Macht vermindern würde, wenn die Frauen weniger Vorteil davon hätten, sie zu erhalten, weil sie nicht länger ihr einziges Mittel wäre, sich zu verteidigen und der Unterdrückung zu entgehen? Wenn die Höflichkeit es den meisten Männern nicht gestattet, in Gesellschaft ihre Meinung gegen die einer Frau zu behaupten, dann entspringt diese Höflichkeit vor allem dem Hochmut. Man gewährt einen folgenlosen Sieg und die Niederlage demütigt nicht, weil man sie als freiwillig betrachtet. Glaubt man ernsthaft, dass es sich in einer öffentlichen Debatte über einen wichtigen Gegenstand genauso verhalten würde? Hindert die Höflichkeit daran, gegen eine Frau zu prozessieren? Aber, wird man sagen, jene Veränderung widerspricht dem allgemeinen Nutzen, da sie die Frauen von den Pflichten ablenkt, welche die Natur ihnen anscheinend vorbehalten hat. Ich halte diesen Einwand für unbegründet. Für welche Verfassung man sich auch entscheiden mag, beim heutigen Stand der Zivilisation in den europäischen Nationen wird gewiss immer nur eine sehr kleine Zahl von Bürgern in der Lage sein, sich den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen. Man würde ebenso wenig die Frauen von ihrer Hauswirtschaft wegreißen, wie die Arbeiter von ihrem Pflug oder die Handwerker aus ihrer Werkstatt. Nirgends in den am meisten begüterten Klassen sehen wir die Frauen sich den häuslichen Pflichten mit einer Beständigkeit widmen, die fürchten ließe, sie davon abzulenken. Eine ernsthafte Tätigkeit würde sie viel weniger von diesen Pflichten abhalten, als die seichten Vorlieben, zu denen der Müßiggang und die schlechte Erziehung sie verdammen. Der Hauptgrund für jene Furcht ist die Vorstellung, dass jeder Mensch, dem es gestattet wird, die Bürgerrechte zu genießen, nur noch daran denkt, zu regieren. Dies mag bis zu einem gewissen Punkt richtig sein, wenn gerade eine Verfassung eingeführt wird. Doch würde dieses Streben nicht von Dauer sein. Folglich muss man nicht annehmen, dass die Frauen, nur weil sie zur Nationalversammlung kandidieren könnten, auf der Stelle ihre Kinder, ihren Haushalt und ihre Nähnadeln im Stich lassen würden. Sie wären dadurch nur besser befähigt, ihre Kinder aufzuziehen und Männer heranzubilden. Es ist natürlich, dass die Frau ihre Kinder stillt und deren erste Jahre umsorgt. Da ihre Aufgaben sie an ihr Haus binden und sie schwächer ist als der Mann, ist es

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ebenso natürlich, dass sie ein zurückgezogeneres und häuslicheres Leben führt. Die Frauen gehören also zu derselben Klasse wie diejenigen Männer, die durch ihren Beruf zu einem Dienst von einigen Stunden verpflichtet sind. Das mag ein Grund sein, ihnen bei Wahlen nicht die Stimme zu geben, kann jedoch nicht ihren Ausschluss vom Wahlrecht begründen. Die Galanterie würde bei dieser Veränderung leiden, doch die häuslichen Sitten würden durch diese Art von Gleichheit, wie durch jede andere, gewinnen. Bis heute kennt man kein Volk, dessen Sitten nicht entweder wild oder verdorben waren. Abgesehen von den Amerikanern der Vereinigten Staaten, die in geringer Zahl über ein großes Gebiet verstreut leben, ist mir keine Ausnahme bekannt. Bis heute hat bei allen Völkern rechtliche Ungleichheit zwischen Männern und Frauen bestanden. Es ließe sich unschwer beweisen, dass von diesen beiden gleichermaßen verbreiteten Phänomenen das zweite eine der Hauptursachen des ersten ist. Denn die Ungleichheit zieht notwendigerweise die Sittenverderbnis nach sich und ist deren häufigste Ursache wenn auch nicht die einzige. Man möge nun geruhen, diese Argumente anders als durch Spott und Schmähungen zu widerlegen. Man möge mir vor allem einen natürlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen zeigen, der rechtmäßig den Ausschluss vom Bürgerrecht begründen könnte. Die Gleichheit der Rechte, die unsere neue Verfassung zwischen den Menschen festschreibt, hat uns wortreiche Schmähungen und nicht enden wollenden Spott eingebracht. Doch bis heute konnte niemand auch nur ein Argument gegen sie vorbringen - und das sicherlich nicht aus Mangel an Talent oder Eifer. Ich wage zu glauben, dass es im Hinblick auf die Gleichheit der Rechte zwischen den Geschlechtern nicht anders sein wird. Es ist eigentümlich genug, dass man in vielen Ländern die Frauen zwar für unfähig gehalten hat, ein öffentliches Amt zu bekleiden, aber für würdig, die Krone zu tragen; dass in Frankreich eine Frau Regentin sein konnte, jedoch bis zum Jahr 1776 nicht Modistin in Paris;1 dass man schließlich in den Wahlversammlungen für unsere bailliages, dem Lehensrecht gestattet hat, was man dem Naturrecht verweigerte. Eine Reihe unserer adligen Abgeordneten verdankt Damen die Ehre ihres Sitzes unter den Repräsentanten der Nation. Warum sollte man nicht, anstatt den Frauen, die Lehen besitzen, dieses Recht zu nehmen, es auf alle diejenigen ausdehnen, die Grundbesitz haben, die Oberhaupt eines Hauses sind? Wenn man es für unsinnig hält, das Bürgerrecht durch einen Bevollmächtigten auszuüben, warum nimmt man den Frauen dieses Recht, anstatt ihnen die Freiheit zu lassen, es in eigener Person auszuüben?

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Vor der Unterdrückung der Zünfte im Jahr 1776 konnten Frauen das Meisterrecht als Modistinnen und in einigen anderen von ihnen ausgeübten Berufen nur erwerben, wenn sie verheiratet waren oder wenn ein Mann ihnen zum Erwerb eines Privilegs seinen Namen lieh oder verkaufte. Siehe die Präambel des Edikts von 1776.

Von der Natur der politischen Gewalten in einer freien Nation November 1792(I) (I) Chronique du mois.

Die Menschen haben so sehr die Gewohnheit angenommen, anderen Menschen zu gehorchen, dass Freiheit für die meisten von ihnen nur das Recht bedeutet, Herren unterworfen zu sein, die sie sich selbst gewählt haben. Weiter reichen ihre Ideen nicht, und an diesem Punkt endet ihr schwaches Gefühl der Unabhängigkeit. Schon die Bezeichnung Gewalt, die man allen öffentlichen Ämtern gibt, bezeugt diese Wahrheit. Fast überall bringt diese Halbfreiheit Unruhen mit sich. Die Unruhen schreibt man dann einem Missbrauch der Freiheit zu und bemerkt nicht, dass sie vielmehr deshalb entstehen, weil die Freiheit nicht vollständig ist. Man sucht ihr neue Ketten anzulegen, wenn man im Gegenteil darauf sinnen sollte, diejenigen zu zerbrechen, die ihr bleiben. In Übereinstimmung mit der Natur setzt die Vernunft der individuellen Unabhängigkeit nur eine einzige Grenze, fügt den Verpflichtungen der persönlichen Moral nur eine einzige gesellschaftliche Verpflichtung hinzu: Die Notwendigkeit und Verpflichtung, bei Handlungen, für die es eine gemeinsame Regel geben muss, nicht der eigenen Vernunft, sondern der kollektiven Vernunft der größten Zahl zu gehorchen. Ich sage: der Vernunft und nicht dem Willen der Mehrheit, denn ihre Gewalt über die Minderheit darf nicht willkürlich sein. Sie reicht nicht so weit, dass sie das Recht eines einzigen Individuums verletzen dürfte. Sie geht nicht so weit, zur Unterwerfung zu verpflichten, wenn sie offensichtlich der Vernunft widerspricht. Dies ist keine belanglose Unterscheidung: Eine Versammlung von Menschen kann und muss genau wie ein Individuum zwischen dem unterscheiden, was sie will und dem, was sie für vernünftig und gerecht hält. Selbst wenn eine besiegte Nation weniger zahlreich wäre als die siegreiche Nation, selbst wenn eine unterdrückte Klasse weniger Menschen umfasst als die Klasse der Unterdrücker, hätte diese Mehrheit keinesfalls das Recht, die Minderheit ihrer Willkür zu unterwerfen. Ebenso wenig kann man die Unterwerfung unter den Willen der Mehrheit durch die Notwendigkeit des Gehorsams begründen. Denn dann würde bereits die Niederlage gegen eine hinlänglich starke Übermacht ausreichen, um jeden Gedanken an Widerstand auszuschließen. Es gibt jedoch keine Notwendigkeit, die zum Beispiel hunderttausend Menschen zwingen könnte, dem Willen von hundertfünfzigtausend zu gehorchen. Die Unterwerfung unter das Votum der Mehrheit gründet sich demnach auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Regel des Handelns, und auf den Vorteil, den es mit sich bringt, der gemeinsamen Regel zu gehorchen, die nämlich am häufigsten mit der Vernunft und dem Interesse aller übereinstimmen wird. Das also ist es, was man im Votum der

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Mehrheit findet, vorausgesetzt, dass es sich unter Menschen bildet, zwischen denen strenge Gleichheit der Rechte herrscht und die im Großen und Ganzen gleiche Interessen haben. Obwohl jedes Individuum in diesem Fall nur ein Votum gemäß seinem Willen, nicht aber gemäß seiner Meinung abgeben kann, so kann man doch davon ausgehen, dass dieses Votum fast immer auch diese Meinung tatsächlich zum Ausdruck bringt, und man hat darüber hinaus den Vorteil, dass der Vollzug jener gemeinsamen Regel weniger Widerstände finden wird. Wer sich im Voraus der Mehrheit unterwirft, kann folgende Überlegung anstellen: Ich weiß, dass es notwendig ist, diese meine Handlung einer Regel zu unterwerfen, der vergleichbare Handlungen meiner Mitbürger ebenfalls unterworfen sind. Ich kann nicht verlangen, dass diese Regel meiner Vernunft entspricht, weil sie dann der Vernunft eines anderen widersprechen könnte, von der ich kein Recht habe, sie der meinen zu unterwerfen. Ich kann mir weder das Recht vorbehalten, zu entscheiden, ob ich die aufgestellte Regel befolge oder nicht, noch das Recht, über sie zu urteilen, nachdem sie beschlossen worden ist. Denn damit würde ich gegen meine eigene Vernunft handeln, die mich von der Notwendigkeit überzeugt hat, diesen Teil meiner Handlungen nach einer Regel auszurichten, die fur alle gleich ist. Ich muss also, meiner eigenen Vernunft zufolge, eine von ihr unabhängige Instanz suchen, gegenüber der ich mich zum Gehorsam verpflichte - und diese Instanz finde ich im Willen der Mehrheit. Die erste politische Gewalt ist diejenige, die solche allgemeinen Regeln aufstellt. Man bezeichnet sie als die legislative Gewalt. Wird diese Gewalt unmittelbar von den Bürgern ausgeübt, dann besteht sie darin, festzustellen, welche gemeinsamen Regeln - für die Handlungen, die solchen Regeln unterworfen werden müssen - in den Augen der Mehrheit am meisten der Vernunft entsprechen. Und wenn fur die Minderheit daraus auch die Notwendigkeit und moralische Verpflichtung folgt, sich diesen Regeln zu unterwerfen, so folgt für die Mehrheit daraus jedoch offensichtlich weder Autorität noch Gewalt. Üben die Bürger dieses Recht nicht direkt aus? Haben sie es delegiert? Verändert sich damit - indem es zum öffentlichen Amt einer begrenzten Zahl von Männern wird zwangsläufig seine Natur? Woraus entsteht in diesem Fall für den einzelnen Bürger jene Notwendigkeit und moralische Verpflichtung? Sie entsteht daraus, dass die Vernunft der Mehrheit sich für diese Art, gemeinsame Regeln aufzustellen, entschieden hat, weil sie eingesehen hat, dass sie selbst dies nicht leisten kann. Doch folgt daraus eine echte Gewalt? Nein. Die Mehrheit konnte nicht geben, was sie selbst nicht besaß. Jene Körperschaft hat also nur das Amt verliehen bekommen, herauszufinden, was vernünftig und gerecht ist sowie das Recht, es zum Gesetz zu erklären. Keinesfalls wurde ihr das Recht verliehen zu sagen: Dies ist, was die Mehrheit der Nation für vernünftig hält. Ein solches Recht wäre absurd. Die Entscheidung jener Körperschaft kann Gültigkeit mithin nur durch die stillschweigende oder ausdrückliche Zustimmung der Mehrheit erhalten. Hier zeigen sich zwei wesentliche Unterschiede zwischen einer Erklärung dieser Körperschaft und dem direkten Votum der Mehrheit. Der erste Unterschied ist, dass bei einem

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direkten Votum nur die Minderheit ihre eigene Meinung der Notwendigkeit, gemeinsame Regeln zu finden, opfert, während, wenn die Regeln von jener Körperschaft ausgearbeitet werden, die Mehrheit, ja genau genommen die Allgemeinheit der Unmöglichkeit einer direkten Wahl dieses Opfer bringt. Der zweite Unterschied ist, dass diejenigen, die ihre Rechte durch eine direkte Mehrheitsentscheidung verletzt sehen, nur die Wahl haben, sich entweder zu unterwerfen, weil sie ein Interesse daran haben, den Gesellschaftspakt aufrecht zu erhalten, oder diesen Pakt aufzulösen. Im anderen Fall bleibt ihnen jedoch der Ausweg, ein direktes Mehrheitsvotum einzuholen und nur das Fehlen dieser Möglichkeit kann zu einer Auflösung des Pakts fuhren. Man muss hier bemerken, dass jedes Gesetz, jede bindende Regel unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden kann: erstens in Bezug auf ihre Übereinstimmung mit dem natürlichen Recht des einzelnen Individuums und zweitens in Bezug auf den Nutzen oder die Gefahr der Verknüpfungen mit anderen Gesetzen, welche die Verfasser des Gesetzes sich zu Eigen gemacht haben. In einer ausgedehnten Gesellschaft wird es nicht möglich sein, dass sich die Gesamtheit der Bürger über letzteren Gegenstand äußert und es wäre darüber hinaus auch zwecklos. Denn kennt das Volk seine Rechte genau, wird es bei jedem schlechten Gesetz erkennen, worin es diesen Rechten widerspricht, und wenn es sie schlecht kennt, wird es erst recht weder die Folgen eines Gesetzes noch die Mängel der Verknüpfungen, fur die man sich entschieden hat, voraussehen. Wahrhaft sinnvoll wäre es also, den Bürgern folgende Frage vorzulegen: Widerspricht ein vorgeschlagenes Gesetz den natürlichen Rechten des Menschen oder nicht? Nun, warum sollte dies nicht möglich sein? Ich sage nicht: für jedes einzelne Gesetz, aber zum Beispiel für jedes Gesetzeskorpus, für das Zivilgesetzbuch, fur das Prozessverfahren usw. Wenn es dann ein Verfahren gibt vermittels dessen die Mehrheit die Reform der von ihr einmal angenommenen Gesetzbücher verlangen kann, wird sich zeigen, dass die Einzelgesetze, die diesen Gesetzbüchern hinzugefugt wurden, um Lücken in ihnen zu schließen oder um ihre Teile miteinander in Übereinstimmung zu bringen, ohne Schwierigkeit von einer direkten Entscheidung ausgenommen werden können. Es kann zweifellos Umstände geben, unter denen man es mehr oder weniger unmöglich finden wird, eine Mehrheitsentscheidung über diese Gesetzeskorpora herbeizuführen. Eine solcher Fall ist zum Beispiel dann gegeben, wenn keine Hoffnung besteht, sie in einer hinreichend systematischen und vollständigen Art zusammenzustellen. Denn dann wäre es nur nachteilig, solchen unverdaulichen Kompilationen eine zwar nicht größere aber eindrucksvollere Autorität als den Einzelgesetzen zu verleihen. Doch gibt es eine andere Klasse von Gesetzen, bei der die Zustimmung der Mehrheit notwendiger ist. Es handelt sich um diejenigen Gesetze, welche die Einrichtung der Körperschaft festlegen, die mit der Ausarbeitung der übrigen Gesetze betraut ist. Denn nur die Zustimmung der Mehrheit kann jener Körperschaft eine echte Autorität verleihen, mit der sie legitimerweise die Verpflichtung zu einem vorläufigen Gehorsam auferlegen kann.

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Bis hierher ist also eine ausdrückliche Zustimmung notwendig. Genau an dieser Grenze aber enden die Rechte der Mehrheit. An dieser Grenze endet auch die Unterwerfung, welche die Notwendigkeit vom Willen und von der Vernunft fordert: Ein Schritt weiter, und die Tyrannei beginnt. Das Amt der Legislative beschränkt sich demnach darauf, zu erklären, welche der gemeinsamen Regeln, die die Mehrheit als mit ihren Rechten vereinbar anerkennt, am besten mit der Vernunft übereinstimmen. Insofern die Gesetze nichts anderes sind und sein können, als Folgerungen aus dem Naturrecht und dessen Anwendung, hat die Mehrheit nur die Gestaltung und Verknüpfung der von ihr zuvor anerkannten Prinzipien abgetreten, und das nur deshalb, weil es ihr selbst unmöglich ist, diese Gestaltung zu erörtern und diese Verknüpfimg zu analysieren. Folglich übt eine legislative Körperschaft keine echte Gewalt aus. Im Hinblick auf die Gesetze, die der Zustimmung der Mehrheit unterworfen sind, ist sie nichts weiter als ein kollektiver Gesetzgeber: Eine Versammlung an Stelle von Solon oder Lykurg. Was die übrigen Gesetze betrifft, so resultiert deren Autorität letztlich ebenfalls aus der Entscheidung der Mehrheit, die, indem sie dieses Verfahren zu ihrer Ausarbeitung beschlossen hat, ihnen im Voraus ihre Zustimmung gegeben hat, da ihr diese vorweggenommene Zustimmung zweckmäßig und notwendig erschien. Wenn die Mehrheit diesen Gesetzen gehorcht, dann gehorcht sie folglich, selbst wenn sie die betreffenden Gesetze nicht billigt, dennoch ihrer eigenen Entscheidung, genau wie die Minderheit nur ihrer Vernunft gehorcht, wenn sie der Entscheidung der Mehrheit nachgibt, die dieser Vernunft widerspricht. Zwischen dem Gesetz und dem, was dem Gesetz nach getan werden muss oder dem Individuum, das sich ihm unterwerfen muss, steht das Amt, zu erklären, wie das Gesetz unter bestimmten Umständen jeweils anzuwenden ist - das heißt, das Amt, einen Syllogismus aufzustellen, dessen Obersatz das Gesetz, dessen Untersatz eine mehr oder weniger allgemeine Tatsache und dessen Konklusion die Anwendung des Gesetzes ist. Jeder Bürger soll beispielsweise verpflichtet werden, im Verhältnis zum Reinertrag seines Grund und Bodens zu den für die öffentlichen Bedürfhisse notwendigen Ausgaben beizutragen: Da haben wir ein Gesetz. Für die öffentlichen Bedürfnisse ist eine bestimmte Ausgabe erforderlich: Da haben wir eine Tatsache. Also muss jeder Bürger zu dieser Ausgabe beitragen: Da haben wir die Anwendung des Gesetzes. Diese Anwendung wird anschließend zum Obersatz eines weiteren Syllogismus: Die Bürger müssen zu jener Ausgabe beitragen. Sie wird auf eine bestimmte Summe geschätzt: Eine weitere Tatsache, die es festzustellen gilt. Also müssen die Bürger diese Summe aufbringen. Die Gesamtheit der Bürger muss soundso viel aufbringen. Die und die Provinz1 muss den sechzigsten Teil der Gesamtsumme bezahlen: also muss jene Provinz soundso viel bezahlen. Das Amt, diese Syllogismen gewissenhaft zu konstruieren und gewissenhaft die Tatsachen festzustellen, die ihre Untersätze bilden, stellt somit die zweite Art von Gewalt in all 1

Provinz ist die allgemeine Bezeichnung für die obersten Einheiten, in die ein beliebiger Staat untergliedert ist. In Frankreich bezeichnet man sie als Departements, in Polen als Palatinate, in England als Grafschaften.

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ihren zahlreichen Untergliederungen dar. Diejenigen, denen diese Gewalt treuhänderisch anvertraut ist, geben keine Befehle - sie stellen vielmehr Überlegungen an, erforschen die Tatsachen oder stellen sie fest. Die gemeinschaftliche Vernunft hat einem Gesetz zugestimmt. Also hat sie zugleich den Vollzug des Gesetzes angeordnet. Dieses Votum aber ist einstimmig, wie dasjenige, von dem es sich ableitet, nämlich, seinen Willen den gemeinsamen, durch Mehrheitsentscheidung festgelegten Regeln unterzuordnen. Der Gemeinwille ist, dass das Gesetz auf diese Art vollzogen wird. Wenn eine Nation ein zu ausgedehntes Gebiet einnimmt, um in einer einzigen Versammlung zusammenzukommen, ist es unumgänglich, das Amt der zweiten Gewalt vollständig zu delegieren. Doch können die Verteilung der Delegierten, die Regeln, die ihnen auferlegt werden, schließlich die mehr oder weniger direkte Beteiligung, die das Volk sich bei der Auswahl der mit diesem Amt betrauten Agenten vorbehalten kann, ihm geradezu dafür bürgen, dass es in seinem Sinne ausgeübt wird. Und insofern das Volk das Recht behält, die Gesetze zu ändern, die alles regeln, was sich auf die Ausübung dieser Ämter bezieht, kann man fast sicher sein, dass es sich keinen wirklichen Gefahren aussetzt, indem es sie delegiert. Hier entsteht eine wirkliche Gewalt, das heißt, ein Zwang, der auf die Handlungen der Individuen unabhängig von deren Willen und Vernunft wirkt. Wenn der Vollzug eines Gesetzes den Wünschen und Interessen eines Bürgers widerspricht, dann müsste sich dieser Bürger, wenn er wirklich vernünftig und tugendhaft ist, zweifellos durch einen Akt seines Willens und seiner Vernunft unterwerfen. So hat Sokrates freiwillig der Vollstreckung des ungerechten Urteils zugestimmt, das gegen ihn gefallt wurde. Doch kann man nicht von jedem Menschen einen solchen Grad an Vernunft und moralischer Stärke verlangen. Man muss daher, um den Vollzug der Gesetze sicherzustellen, eine echte Gewalt delegieren, die sowohl über die Dinge, als auch über die untergeordneten Agenten dieser Gewalt als auch über die Bürger selbst ausgeübt wird. Jene Agenten sind durch Gesetze zum Gehorsam verpflichtet und folglich besteht, recht bedacht, die Gewalt ihrem Wesen nach darin, das Gesetz zu vollstrecken. Dem Widerstand gegen das Gesetz muss mit Zwang begegnet werden. Dieser Zwang, mit dem diejenigen, die Widerstand leisten wollen, in die Schranken gewiesen werden, wird von der Nation als ganzer ausgeübt. Das öffentliche Interesse aber verlangt einerseits, dass das Gesetz selbst, diejenigen, die es ausführen und diejenigen, die den Einsatz solcher Zwangsmittel anordnen, um seinen Vollzug sicherzustellen, in ausreichendem Maße das Vertrauen der Allgemeinheit genießen und andererseits, dass die Pflicht zum vorläufigen Gehorsam, auch Gesetzen gegenüber, die man innerlich missbilligt oder deren Anwendung man für ungerecht hält, allen Seelen tief genug eingeprägt ist, damit die Zahl der Bürger, die die Gesetze verteidigen stets größer ist als die Zahl derer, die es wagen, sich zu widersetzen. Denn andernfalls gäbe es einen inneren Krieg, eine wahrhafte Auflösung der Gesellschaft. Doch bevor wir darlegen, wie diese beiden Voraussetzungen, die fur den Frieden und die Freiheit jeder Republik notwendig sind, erreicht werden können, ist es zweckmäßig zu untersuchen, von welcher Art von Ordnungskraft jener Zwang ausgeübt werden kann. Es ist zunächst offensichtlich, dass, solange das Staatsgebiet nicht sehr eng begrenzt ist,

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unmöglich die Gesamtheit des Volkes für die Aufrechterhaltung des Gesetzes sorgen kann. Seine Kraft kommt selbst im allerbedrohlichsten Krieg nur teilweise zum Einsatz. Die Macht, mit der die Gesamtheit des Volkes den Gehorsam gegenüber dem Gesetz sicherstellt, liegt folglich vor allem in der Überzeugung, dass kein Widerstand gegen seine Kraft möglich wäre, würde diese Kraft gezwungen, sich vollständig zu entfalten. Die Ordnungskraft, die zum Einsatz kommt, ist also notwendigerweise an jedem Ort des Staatsgebiets entweder ein bestimmter Teil der dort ansässigen Bevölkerung oder eine von der Bevölkerung abgesonderte Kraft, die vom Gesetz aufgestellt wurde, um seinen Vollzug zu gewährleisten. Wenn es vorteilhaft oder notwendig ist, dass eine Ordnungskraft der letzteren Art existiert, dann muss zum Schutz der Bürgerrechte sichergestellt sein, dass diese abgesonderte Kraft, auch wenn sie zu voller Stärke vereint wäre, niemals die zerstreute Kraft der Nation überwältigen könnte, falls ihre Mitglieder oder diejenigen, die ihr befehlen, den Entschluss dazu fassen sollten. Ich werde mich an dieser Stelle nicht damit beschäftigen, wie man dieses Prinzip auf den Teil der Armee anwenden kann, der nicht aus Bürgern besteht, die eine Pflicht erfüllen, sondern aus Männern, die den Militärberuf ausüben. Es geht mir hier nur um jenen Teil der vom Volk abgesonderten Ordnungskraft, der zur Wahrung des inneren Friedens eingesetzt wird. Widerstand gegen das Gesetz kann von Individuen ausgehen, von einer bestimmten Klasse von Menschen oder von der Gesamtheit der Einwohner eines mehr oder weniger großen Gebiets. Ich glaube, dass es im Allgemeinen nützlich und ungefährlich ist, einer zu diesem Zwecke eingerichteten Ordnungskraft das Amt anzuvertrauen, das Gesetz gegen individuellen Widerstand durchzusetzen. Ich halte es für nützlich, erstens, weil es wichtig ist, dass diese Kraft regelmäßige Übungen abhält; zweitens, weil, wenn diese Kraft häufiger zum Einsatz kommt, der erforderliche Dienst zu einer Belastung für die Bürger werden würde; drittens, weil die Gerechtigkeit es verlangt, Bürger, die kein Amt ausüben, sondern eine Pflicht erfüllen, so wenig Gefahren wie möglich auszusetzen und man sich daher gezwungen sähe, Truppen in einer Stärke einzusetzen, die in keinem Verhältnis zu der Wirkung stünde, die es zu erreichen gilt; viertens, weil die unterschiedlichen lokalen Verhältnisse diese Art Dienst zu ungleich machen würden; fünftens, weil er eine Verantwortung mit sich bringt, die man Männern, die der Zufall an irgendeinem Tag zusammenruft, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, schwerlich aufbürden kann. Für ungefährlich halte ich diese Kraft weil sie, auch wenn sie groß genug ist, um erfolgreich gegen eine Räuberbande vorzugehen, immer noch zu schwach sein wird, um, selbst in einem begrenzten Teil des Staatsgebiets, die öffentliche Freiheit zu bedrohen. Anders verhält es sich jedoch, wenn eine zahlreiche Klasse von Menschen oder ein ganzer Teil des Staatsgebiets dem Gesetz Widerstand leistet. Dann ist es unmöglich eine hinreichend große und von der Gesamtheit der Bürger abgesonderte Ordnungskraft aufzustellen, um diesen Widerstand niederzuschlagen, ohne damit die Freiheit zu zerstören. Eine solche Kraft oder diejenigen, denen sie anvertraut ist, würde den Willen der Nation, dort wo er begönne, sich zu zeigen, schneller ersticken, als es der Mehrheit oder auch nur

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einem nennenswerter Teil der Nation gelingen könnte, sich zu einem gemeinsamen Votum zusammenzufinden. Die Ordnungskraft, mit der dieser Art von Widerstand begegnet wird, kann also nur aus der Gesamtheit der einsatzfähigen Bürger bestehen. Doch bevor sich entscheiden lässt, wann und wie diese Kraft zum Einsatz kommen muss, gilt es zu untersuchen, welcher Natur der Widerstand sein kann und welche Ursache er haben kann. Der Widerstand kann aktiv oder passiv sein. Da sich die nationale Kraft nur Verletzungen des Gesetzes in den Weg stellen muss, wird sie sich im ersten Fall, wenn sie gut geführt ist, nur dann gezwungen sehen, äußerste Mittel anzuwenden, wenn man solche gegen sie selbst einsetzt. Sie wird nur dann gezwungen sein, Blut zu vergießen, wenn sie das Recht der persönlichen Selbstverteidigung auf ihrer Seite hat und nur unter Umständen, unter denen dieses Recht die größte Legitimität hat, nämlich, wenn ein Mann in Erfüllung einer Pflicht zu Unrecht angegriffen wird. Wenn es sich hingegen bloß um passiven Widerstand handelt, dann muss man alle nur mögliche Vorsorge treffen, damit die Kraft, die diesen Widerstand überwinden soll, sich ebenfalls auf die Selbstverteidigung beschränkt. Sie sollte sich zumindest so lange wie möglich damit begnügen, zu drohen, den Übeln, die aus der Nichtausführung des Gesetzes entstehen, vorzubeugen und der Vernunft Zeit zu geben, ihre immer siegreiche Autorität auszuüben. Schließlich darf man, besonders in diesem Fall, unter keinen Umständen von jenem den Frieden bewahrenden Prinzip abweichen, unbedingt eine Kraft einzusetzen, deren Stärke oder Ausrüstung selbst erzürnte und ungestüme Männer von der Zwecklosigkeit jeden Widerstands überzeugt. Wenn der Ungehorsam gegenüber dem Gesetz seinen Grund nur in den besonderen Interessen einer Klasse von Menschen oder eines Gebiets hat, wenn es keinen Anlass gibt, zu befurchten, dass die persönlichen Leidenschaften, welche die rebellischen Bürger bewegen, sich ausbreiten könnten, dann wird es fast immer gelingen, ausreichende Kräfte gegen sie zusammenzuziehen, und ihr braucht weder zu furchten, dass ihr Zwietracht in der Brust des Staates sät, noch den Gemeingeist erstickt, noch jenes Gefühl der Unabhängigkeit schwächt, das freien Menschen eigen ist ein Gefühl, das zwar vor dem Gesetz verstummen sollte, das vom Gesetz jedoch niemals durch Terror erstickt werden darf. Wenn hingegen der Widerstand seine Ursache nicht in lokalen und rein persönlichen Interessen hat, sondern in Ängsten des Volkes, in Vorurteilen oder in einem tatsächlichen Gegensatz zwischen der Meinung der Gesetzgeber und der eines Teils der Bürger, dann sollte sich der Einsatz jener Kraft darauf beschränken, zu verhindern, dass der Verletzung des Gesetzes weitere Verbrechen hinzugefügt werden. Die Mittel der Überzeugung sollten in diesem Fall großzügig eingesetzt werden und alles, womit sich die Vernunft Zutritt zu den Geistern verschaffen kann, sollte tatkräftig und geduldig angewandt werden. Denn in einer solchen Situation droht nicht nur die Gefahr, dass die Schwäche des Gesetzes offen zu Tage tritt und dass aus vorübergehenden Gewalttätigkeiten wirkliche Anarchie oder ein Bürgerkrieg entsteht, sondern auch, dass unwillentlich begangene Fehler als Verbrechen bestraft werden, dass Unschuldige geopfert werden, dass unter den

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Bürgern die Keime dauerhafter Spaltung gesät werden und dass im Volk zwei gleichermaßen unheilvolle Empfindungen entstehen: der Hass auf das Gesetz oder die knechtische Furcht vor ihm. Hier zeigt sich, wie notwendig es ist, dass die große Mehrheit des Volkes von der Güte der Gesetze überzeugt ist, dass sie Vertrauen in diejenigen hat, die die Gesetze abfassen, anwenden oder vollziehen und dass schließlich jeder Bürger sich im Grunde seines Gewissens zutiefst verpflichtet fühlt, selbst solchen Gesetzen vorläufig zu gehorchen, die er ablehnt oder deren Anwendung er für ungerecht hält. Das Vertrauen in die öffentlichen Beamten erfordert, dass sie regelmäßig ausgewechselt werden und dass ihre Wahl Sache der Bürger ist, damit sie die Beamten als ihre eigenen Geschöpfe betrachten können. In allen Republiken, selbst in denen, die von aristokratischen Institutionen verdorben sind, ist die Liebe zur Gleichheit allgemeines und vorherrschendes Gefühl. Die Hoffnung, den Genuss dieses kostbaren Rechts zu erlangen und die Furcht, es neuen Angriffen ausgesetzt zu sehen, war dort beinahe zu allen Zeiten der Grund aller Unruhen, so wie es andererseits stets die höchste politische Kunst der Aristokratie war, die Ungleichheit zu verdecken oder zu rechtfertigen. Die gesamte Geschichte der römischen Republik ist nichts weiter als die Entwicklung dieser Feststellung. Doch selbst wenn man sich eine Verfassung vorstellt, in der das Gesetz für die vollkommenste Gleichheit gesorgt hätte, so bleiben doch stets drei Arten von Ungleichheit, die von der Natur selbst hervorgebracht werden. Zunächst die Ungleichheit der natürlichen Fähigkeiten. Wenn eine allen Bürgern gemeinsame Erziehung ihnen die Kenntnisse vermittelt, die notwendig sind, um in den gewöhnlichen Handlungen des zivilen und politischen Lebens frei von aller Abhängigkeit zu sein und wenn es, aufgrund der Wirkung dieser Erziehung, nicht länger eine Klasse von Menschen gibt, die durch Vorurteile oder durch die Kunst, die Leidenschaften zu lenken, über die anderen herrscht, dann kann diese Ungleichheit keine echten Übel hervorbringen. Die Talente werden nützlich sein, ohne jemals gefährlich zu werden. Die Bildung wird dazu dienen, die Menschen aufzuklären, nicht sie zu täuschen. Der Neid wird nicht länger Furcht vor dem Genie schüren können, um sich an ihm zu rächen, und der schändliche Affekt des Ostrazismus wird nicht länger das Herz der Freunde der Freiheit beflecken. Wenn sie nicht aus Räubern bestehen, wird es zwischen isoliert lebenden Familien eine Ungleichheit des Reichtums geben. Schlechte Gesetze vergrößern diese Ungleichheit, während gute sie leicht in gerechten Grenzen halten können. Wenn Erbschaften gleich verteilt werden; wenn die Gesetze ihre Aufteilung fordern, indem sie ein Eintrittsrecht gewähren; wenn das Recht, ein Testament zu machen, abgeschafft ist; wenn die Steuern gleich verteilt sind und weder das Gewerbe noch den Handel hemmen; wenn Gewerbe und Handel vollständige Freiheit genießen; wenn die Quelle der Vermögen, die auf der Unwissenheit anderer errichtet wurden - eine Quelle die fruchtbarer ist als man denkt - durch eine für alle zugängliche Erziehung zum Versiegen gebracht wird; wenn diese Erziehung unter den armen Familien die Mittel verbreitet, die sie befähigen, Wohl-

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stand zu erwerben; wenn Sparkassen bedürftigen Bürgern wirtschaftliche Hilfen anbieten, dann wird nur noch jene Ungleichheit des Reichtums übrig bleiben, die notwendig fur das wirtschaftliche Gedeihen der Gesellschaft und sogar für die Vervollkommnung der menschlichen Gattung ist. Schließlich teilt sich jede Gesellschaft notwendigerweise in zwei Klassen: Diejenigen, die regieren und diejenigen, die regiert werden. Aus dieser Teilung aber entsteht eine wirkliche Ungleichheit, die bis zu dem - vielleicht noch fernen - Zeitpunkt notwendig sein wird, wo die Menschen die Tätigkeit, Gesetze zu machen und Urteile zu fällen, als eine einfache Beschäftigung betrachten werden, wie etwa ein Buch zu schreiben, eine Maschine zu konstruieren oder ein Problem zu lösen. Wenn die Gesetze die Grenze zwischen diesen beiden Klassen nicht durch erbliche Würden oder städtische Privilegien befestigt haben; wenn diese Unterteilung nicht vom Reichtum abhängt; wenn sie gar, aufgrund einer gut gelenkten öffentlichen Erziehung, weniger die Überlegenheit als vielmehr die Verschiedenheit der Bildung und der Talente widerspiegelt, dann wird sie zweifellos weniger Anstoß erregen, und die veränderliche und fast unwahrnehmbare Grenze, die diese Klassen trennt, wird fur die Augen derjenigen, die den Versuch, sie zu überschreiten, nicht wagen, weniger beleidigend sein. Doch es wird nur dann gelingen, die unheilvollen Auswirkungen dieser Grenze, wie falsche Wahlentscheidungen, Hass auf Tugenden, Bildung und Talent und vor allem jenen für die öffentlichen Ruhe verderblichen Argwohn zu vermeiden, wenn man der regierten Klasse durch häufige Wahlen eine Macht über die regierende Klasse gewährt, deren Ausübung allein sie entschädigen kann. Hierin besteht vielleicht der größte Vorteil direkter Wahlen. In Wirklichkeit beruht es einzig und allein auf einer Art von Fiktion, wenn man meint denjenigen, für den man tatsächlich bloß die Wahlmänner benannt hat, selbst gewählt zu haben, wenn man ihn für sein eigenes Geschöpf hält und sich mit dem Gedanken tröstet oder beruhigt, ihn mit der Verweigerung seiner Stimme für den Missbrauch eines einmal gewährten Vertrauens bestrafen zu können. Könnte man nun diese direkten Wahlen so einrichten, dass das Volk eine echte Wahl trifft und sich im Gemüt der Mehrheit jene Verbundenheit entwickelt, die man mit den Männern seiner Wahl empfindet, dann würde man ein echtes Vertrauen entstehen sehen, das von unbestimmten Verleumdungen nicht mehr erschüttert werden könnte. Man müsste mithin nicht nur ein gutes Wahlverfahren haben, das heißt, ein Verfahren, dessen Ergebnis tatsächlich den Willen der Mehrheit ausdrückt. Man müsste weiterhin die Wahlbezirke so einteilen, dass die Bürger stets nur die Wahl zwischen Männern haben, die möglichst vielen von ihnen wenigstens dem Ruf nach bekannt sind. Die Folgen der französischen Revolution haben hier zwangsläufig die Schwierigkeiten vervielfältigt. Fast alle Männer, die über ihre Gemeinde oder ihr Stadtviertel hinaus bekannt waren, sind mit den verschiedenen Stufen der Aristokratie nacheinander aus den Reihen der Wählbaren verschwunden. Weil die Gesellschaft in Klassen geteilt war, die kaum Umgang miteinander hatten, kannte man weniger die Personen als vielmehr ihre Namen, ihre Stellungen, ihre Reichtümer. Schließlich ging aus dem Zusammenwirken dieser Ursachen sowie einer langen Kette von Verrätereien aller Art zwangsläufig ein

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Misstrauen hervor, das selbst frühere Erfahrungen, das selbst der allerbeste Ruf nicht zerstreuen konnten und das die Intriganten sich beeilt haben zu vergrößern, weil sie wussten, dass es ihnen nur in den Wirren eines allgemeinen Misstrauens gelingen würde, sich Vertrauen zu verschaffen. Die antiken Völker ließen ihre Magistrate von Tribunen und Ephoren überwachen. Damit verkomplizierten sie die Tyrannei, anstatt sie abzuschaffen. Sie hemmten und verlangsamten nur ihren Gang und machten es den Feinden der Freiheit schwerer, untereinander ein Einverständnis herzustellen. Seitdem der Druck zu einer allgemein verbreiteten Kunst geworden ist und den freien Völkern eine bessere Garantie gibt, dass kein Angriff auf ihre Rechte unbemerkt oder ungestraft bleiben kann, sind derartige Mittel überflüssig geworden. Freie Druckerpressen sind, wie Voltaire gesagt hat, die wahren Tribunen der modernen Nationen. Es gibt indessen in diesen modernen Nationen eine besondere Ursache des Misstrauens. Das Handeln der Regierungen ist dort zu kompliziert. Die Regierungen handeln zu viel und mischen sich in zu viele Dinge ein. Diese Kompliziertheit und dieses nutzlose Handeln haben zwangsläufig verborgene und indirekte Auswirkungen, die Unruhen erzeugen müssen. Obwohl sie öffentlich ist, bleibt die Aktivität der Häupter der Regierung, ja selbst die ihrer Beamten, für die Allgemeinheit der Bürger, die ihr nicht folgen können, ein Rätsel. Wird ein Mann des öffentlichen Lebens unschuldig angeklagt, ist es für ihn ebenso schwierig, die Zweifel an seiner Rechtschaffenheit vollständig zu zerstreuen, wie im Falle seiner Schuld einfach, einer ordentlichen Verurteilung zu entgehen. Schließlich steht diese Kompliziertheit einer regelmäßigen Auswechslung der Amtsträger ebenso im Weg wie guten Entscheidungen des Volkes. Muss man da nicht fürchten, dass die Gewalt fast gänzlich in die Hände subalterner Beamter übergeht? Ein Volk, das frei und friedlich leben will, braucht also Gesetze und Institutionen, die das Handeln der Regierung auf das geringstmögliche Maß beschränken. Die Anarchisten, die dieses Prinzip in einem vagen Gefühl des Misstrauens und des regellosen Unabhängigkeitsstrebens erahnt haben, haben bloß versucht, durch Unordnung, Verdächtigungen, Kämpfe zwischen den Gewalten und deren Zersplitterung in kleine unzusammenhängende Bereiche, die Regierung bedeutungslos zu machen. Diese fast vollständige Bedeutungslosigkeit der Regierung muss jedoch im Gegenteil die Wirkung eines gründlich zusammengestellten Systems von Gesetzen sein. Zweifellos ist dies nach einer großen Revolution noch schwieriger zu bewerkstelligen. Denn die Kompliziertheit entsteht dann nicht allein aus Vorurteilen und schlechten Gesetzen, sondern ist eine notwendige Folge der Ereignisse. Das gesellschaftliche System aber muss zugleich für die Bewegung, die sich vollzieht, wie für die Ruhe, die der Bewegung zwangsläufig folgt, geeignet sein. Doch was vor allem ein freies Volk an die Gesetze binden muss, die es unmittelbar gebilligt hat, und was insbesondere notwendig ist, damit es jene Gesetze, die es von seinen Gesetzgebern erhalten hat, freudig befolgt und sogar diejenigen respektiert, die es missbilligt; was schließlich notwendig ist, dieses Volk dazu zu bringen, die Gesetze durch die unüberwindliche Kraft seines Willens aufrecht zu erhalten, selbst dann, wenn es

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denen, die die Gesetze erlassen, anwenden oder vollziehen, misstraut, das ist die tiefe Überzeugung, dass es, wenn es will, die Änderung dieser Gesetze durchsetzen kann, vor allem aber die Änderung der verfassungsmäßigen Regeln, die, indem sie deren Grenzen festlegen und deren Tätigkeit bestimmen, die gesellschaftlichen Ämter begründen. Dann, wenn es keine Unternehmungen gegen seine Freiheit und kein dauerhaftes Unrecht mehr furchten muss, kann das Volk ohne Angst jener Gesinnung des peinlichen Respekts für die bestehenden Gesetze und der Unterwerfung unter die legitimen Autoritäten gehorchen, die das notwenige Fundament des öffentlichen Friedens ist, ohne den jede Gesellschaft fortwährend auf neue Revolutionen zustrebt und stets gequält und unruhig zwischen der Unordnung und der Tyrannei hin- und herschwankt. Diese Gesinnung zählt zu dem, was Menschen, die der Freiheit würdig sind, mit dem größten Stolz zeigen, weil dieses Opfer einer Unabhängigkeit, um deren vollen Wert man weiß, zugleich ihrer Vernunft wie ihrem Mut Ehre macht. Ein römischer Soldat rühmte sich weit mehr seines Gehorsams als seines Heldenmuts, und er verwies mit Wohlgefallen auf seine Unterwerfung unter die Befehle eines Konsuls, der ihm verhasst war. Ich nehme zunächst an, dass die Gesetze, vor allem diejenigen, die auf das Geschick der größten Zahl Einfluss nehmen, oder diejenigen, die Meinungen oder Leidenschaften der Allgemeinheit berühren, nur nach gründlichen Diskussionen erlassen werden und nachdem die öffentliche Meinung Zeit hatte, sich zu bilden und berücksichtigt zu werden. Ich nehme weiterhin an, dass es keine Gewalt gibt, die durch ihre Natur oder ihre Organisation die Freunde der Freiheit und der Gleichheit bedrängen kann. Dann frage ich, ob es ausreichend ist, dass die Gesamtheit der Nation zu jeder Zeit ein praktikables Mittel hat, den Willen der Mehrheit zu einer Reform der Verfassung oder allgemeiner, der ihrer Zustimmung unterworfenen Gesetzeskorpora zu bilden und zu erklären. Ich gestehe zunächst zu, dass es genügt, im Hinblick auf die Einzelgesetze sowie auf die Befürchtungen, welche die Treuhänder eines Regierungsamtes als Personen erwecken könnten, den verschiedenen Abteilungen der Bürger, die sich direkt versammeln können, die Möglichkeit zu geben, ihren Willen der Körperschaft ihrer Repräsentanten, die mit der Abfassung der Gesetze betraut ist, mitzuteilen und diese Körperschaft eine hinreichende Autorität hat, um Missbräuche abzustellen und damit solche Befürchtungen zu zerstreuen. Wenn aber diese Körperschaft selbst Misstrauen erwecken sollte, dann müsste man, um dieser Gefahr abzuhelfen, nicht ihre Mitglieder auswechseln, sondern ihre Organisation und die Art, wie sie gebildet wird, ändern. Aber wird man, damit die Gesamtheit der Nation ihren Willen äußert, darauf warten müssen, dass sich alle Teile der Nation spontan versammeln oder dass die Repräsentanten des Volkes seine Versammlungen einberufen? Wäre die öffentliche Ruhe sicher, wenn, im Falle, dass ein erheblicher Teil der Bürger in ernsthafte Besorgnis versetzt wäre, diese Bürger entweder die Einberufung der Versammlungen herbeiführen oder eine allgemeine Bewegung in allen anderen Teilen des Volkes auslösen müssten? Wäre es nicht einfacher, festzulegen, dass jede Abteilung der Bürger, die bereits in einem legalen Verfahren ihr Votum abgeben kann, die nationale Einberufung verlangen könnte; dass eine kleinere Abteilung gleichermaßen in einem geregelten Verfahren die Abgabe dieses Vo-

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turns fur eine Einberufung erreichen könnte, sodass jede einigermaßen bedeutende Versammlung von Bürgern die Hoffnung und das legale Mittel hätte, das ganze Volk zu konsultieren, wenn sie es für nötig halten würde? Die Irrtümer des Volkes haben ihren Grund stets in irgendeinem von langer Gewohnheit geheiligten Vorurteil oder in einer schlecht verstandenen Wahrheit. Wir hören ständig jede einigermaßen zahlreiche Gruppe von Bürger im Namen des souveränen Volkes sprechen. Wissen sie nicht, dass Souveränität nur dem Volk als Ganzem zukommt; dass es nur in dem Moment seine Souveränität direkt ausübt, in dem alle seine Teile ein gemeinsames Votum abgeben können; dass sein Wille nur dann souverän ist - und dass es unter allen anderen Umständen bloß eine Meinung äußern oder einen Wunsch kundtun kann; dass selbst die mächtigsten Versammlungen genauso dem Gesetz unterworfen sind wie ein einzelnes Individuum und nur die Gewalt und die Ämter ausüben, die ihnen vom Gesetz übertragen wurden? Warum fällt es einer so einfachen und so wahren Lehre, die niemand zu bestreiten wagen würde, so schwer sich durchzusetzen? Liegt es nicht daran, dass jede einzelne Sektion des Volkes das Recht, für die Allgemeinheit der Nation, deren Teil sie ist, zu sprechen, als eine der Bedingungen ihrer Bindung an die Nation betrachtet; als gerechte Entschädigung für ihren Verzicht auf das Recht, ihren eigenen Willen durchzusetzen, und für ihre Einwilligung, das Recht der Souveränität, die sie ursprünglich allein ausüben konnte, zum Gemeingut zu machen? Liegt nicht in der Verwechslung des Rechts, den Souverän anzurufen, mit dem Recht der Souveränität der wahre Grund dieses so verbreiteten Irrtums? Hier ist die Grenze an der man, wie mir scheint, halt machen muss. Und man darf niemals vergessen, wie wichtig es ist, sich mit seinen Forderungen an das Vertrauen des Volkes mehr auf dieser Seite der Grenzlinie zu halten, als sie zu überschreiten. In einer wirklich freien Verfassung geht mithin alle Gewalt vom Volke aus und stützt sich auf den einmütigen Willen, sich der Meinung der Mehrheit zu unterwerfen - sei es, dass diese Mehrheit über einen bestimmten Gegenstand urteilt, sei es, dass sie sich auf die Entscheidung beschränkt, welcher Meinung sie sich vorläufig unterordnen will. Und alle Macht der delegierten Gewalten ist letztlich die Macht des Volkes selbst, insofern sie notwendigerweise fällt, wenn das Volk diesen Gewalten sein Vertrauen entzieht - oder vielmehr dann, wenn das Volk zu der Überzeugung kommt, dass es mit seiner Macht diese Gewalten nicht länger unterstützen sollte. Die hohe Kunst des Regierens besteht in einer freien Verfassung also darin, den partiellen Unruhen von Fraktionen des Volkes immer wieder das Vertrauen der Gesamtheit dieses selben Volkes und den Meinungen der Parteien und Fraktionen die gemeinsame Meinung entgegenzusetzen. Das heißt, vor allem darin, diese gemeinsame Meinung daran zu hindern, in die Irre zu gehen. Um in einer solchen Verfassung Insurrektionen zu verhindern, muss man also den Willen des Volkes mithilfe der Vernunft beherrschen und ihn durch Aufklärung dazu bringen, nicht vor dem Gesetz den Nacken zu beugen, sondern ihm willentlich unterworfen zu bleiben. Um Insurrektionen zu verhindern, muss man also geordnete Einspruchsmöglichkeiten einrichten, die ein Votum der souveränen Gewalt erzwingen kön-

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nen. Um in einer solchen Verfassung Revolutionen vorzubeugen, muss man den Bürgern die Möglichkeit zu geben, sie in legaler und friedlicher Form zu vollziehen. Wenn hunderttausend Menschen, wenn die ganze Nation zu jeder Zeit ihre Meinung kundtun kann, wird sie nicht in Versuchung kommen, ihre Waffen zu zeigen, und sie wird nicht gezwungen sein, ihre Kraft zu entfalten, wenn sie weiß, dass es ausreicht, ihren Willen zu äußern. Wenn die Bürger schließlich ein sicheres Mittel haben, den Gemeinwillen zu befragen und zu kennen, werden sie nicht mehr Gefahr laufen, sich über ihn zu täuschen oder ihn mit den Launen der Menschen um sie herum zu verwechseln. Auf diese Weise können Freiheit und Frieden, Achtung vor den Gesetzen und Unabhängigkeit, bedachtsames Handeln in allen Dingen und glühendste Leidenschaft fur die öffentlichen Interessen, Vernunft und Enthusiasmus in demselben Land nebeneinander bestehen und sich in denselben Seelen vereinigen. Das Volk, das diese Grenze überschreiten wollte, würde seine Freiheit mehr in Gefahr bringen, als dasjenige, das diesseits dieser Grenzen bleibt. Doch je weiter andererseits diejenigen, die ihm die Gesetze vorschlagen sich dieser Grenze annähern, desto weniger wird es den Wunsch haben, sie zu übertreten. Diese Ideen, die ich zuvor bereits veröffentlicht hatte, habe ich bereits 1789 dargelegt. Neue Überlegungen und Beobachtungen, die mir damals noch nicht möglich waren, haben mich dazu gebracht, sie in einigen Punkten zu modifizieren, jedoch nicht grundlegend zu verändern. Ich war der Ansicht, sie nochmals vorbringen zu müssen, in einem Augenblick, wo die Gefahr, die Freiheit zu verlieren, indem man sie zu weit ausdehnen will, die französische Nation nicht daran hindern darf, zur vollständigen und absoluten Ausübung aller ihrer natürlichen Rechte zurückzukehren.

II. Revolution

Vom Einfluss der Revolution in Amerika auf Europa

Gewidmet dem Marquis de la Fayette, der in einem Alter, in dem gewöhnliche Menschen sich noch kaum in ihrer Gesellschaft einen Namen gemacht haben, bereits den Titel eines Wohltäters beider Welten verdient hat. Von einem unbekannten Bewohner der alten Welt 1786(1) (1) 1788 aufgenommen in Mazzeys Recherches historiques et politiques sur les Etats-Unis

Einleitung Der Weg der Wahrheit, sagt der Dichter Sadi, ist schmal und verläuft zwischen zwei Abgründen. Der kleinste falsche Schritt lässt einen in die Tiefe stürzen. Man erhebt sich, noch ganz benommen vom Fall, klettert mühsam wieder hinauf und nähert sich dem Kamm. Man meint ihn zu berühren. Eine letzte Anstrengung, und man fällt zur anderen Seite wieder hinunter. Amerika hatte kaum seine Unabhängigkeit erklärt, als unsere Politiker bereits klar erkannten, dass der Ruin Englands und das Erblühen Frankreichs die zwangsläufigen Folgen dieser glücklichen Revolution sein würden. Heute, wo diese Unabhängigkeit anerkannt und gesichert ist, scheinen sie sie mit Gleichgültigkeit zu betrachten und kommen in dem Augenblick auf den Gedanken, an ihren Voraussagen zu zweifeln, wo die Ereignisse beginnen, deren letztere zu bestätigen. Ich dachte, dieser Moment, in dem die öffentliche Meinung in die entgegen gesetzte Richtung in die Irre zu gehen scheint, sei genau der richtige, um besonnen die Folgen jenes großen Ereignisses zu untersuchen - und ich werde mich bemühen, ein kaltblütiger Prophet zu sein. Der von Monsieur Abbé Raynal ausgesetzte Preis für die Erörterung der Vor- und Nachteile, die sich für Europa aus der Entdeckung der Neuen Welt ergeben haben, hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Ich hatte den Versuch gewagt, die Frage zu beantworten, doch sah ich ein, dass diese Arbeit über meine Kräfte ging. Ich habe vor den Flammen nur mein Kapitel über den Einfluss der amerikanischen Unabhängigkeit auf die Mensch-

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heit, auf Europa und insbesondere auf Frankreich gerettet, sowie die Analyse der Prinzipien, nach denen ich versucht hatte, eine Methode zur Messung der unterschiedlichen Grade des gesellschaftlichen Glücks zu finden. Eine Nation ist, als Körperschaft betrachtet, eine abstrakte Wesenheit und kann weder glücklich noch unglücklich sein. Folglich kann man, wenn man vom Glück einer Nation als Ganzes spricht, darunter nur zwei Dinge verstehen: Entweder eine Art von Mittelwert, aufgefasst als die Summe des Glücks und des Unglücks der Individuen oder die allgemein verfügbaren Mittel und Wege zum Glück, mit anderen Worten, die Mittel und Wege zu Ruhe und Wohlstand, die der Boden, die Gesetze, das Gewerbe und die Beziehungen zu anderen Nationen der Allgemeinheit der Bürger eröffnen können. Es genügt, eine ungefähre Idee von Gerechtigkeit zu haben, um zu begreifen, dass man sich an das zweite Verständnis halten sollte. Andernfalls müsste man sich jene bei den alten und neuen Republikanern allzu verbreitete Maxime zu Eigen machen, dass es legitim ist, die kleinere Zahl der größeren zu opfern - eine Maxime, welche die Gesellschaft in einen dauernden Kriegszustand versetzt und das, was nur der Vernunft und der Gerechtigkeit unterworfen sein darf, der Herrschaft der Gewalt unterwirft. Die allgemeinen Mittel und Wege zum Glück für den in Gesellschaft lebenden Menschen lassen sich in zwei Klassen unterteilen: Die erste Klasse umfasst alles, was den freien Genuss der natürlichen Rechte sicherstellt und erweitert. Die zweite enthält die Mittel, um die Menge der Übel, denen die Menschheit von Natur aus unterworfen ist, zu vermindern: Mit größerer Sicherheit und weniger Arbeit für unsere Grundbedürfnisse sorgen zu können; uns durch den Gebrauch unserer Kräfte und den legitimen Einsatz unserer Fähigkeiten eine größere Zahl an Genüssen zu verschaffen. Entsprechend müssen auch die Mittel und Wege, unsere Kräfte und Fähigkeiten zu verbessern, dieser Klasse zugeordnet werden. Die Rechte des Menschen sind: 1. Die Sicherheit seiner Person. Diese Sicherheit umfasst die Gewissheit, vor Gewalt geschützt zu sein, sowohl im Privatleben als auch in der Ausübung seiner Fähigkeiten, deren unabhängige und freie Ausübung in allem, was nicht den Rechten eines anderen widerspricht, gewährleistet sein muss. 2. Die Sicherheit und der freie Genuss seines Eigentums. 3. Insofern es im Gesellschaftszustand bestimmte Handlungen gibt, die gemeinsamen Regeln unterworfen sein müssen und insofern es notwendig ist, Strafen für die Angriffe festzulegen, die ein Individuum durch Gewalt oder Betrug auf die Rechte eines anderen unternimmt, hat der Mensch weiterhin das Recht, in Hinsicht auf alle diese Gegenstände nur allgemeinen Gesetzen unterworfen zu sein, die für die Gesamtheit der Bürger gelten, deren Auslegung nicht willkürlich sein darf und deren Ausführung unparteiischen Händen anvertraut ist. 4. Das Recht schließlich, direkt oder durch Repräsentanten an der Ausarbeitung dieser Gesetze und an allem, was im Namen der Gesellschaft getan wird, mitzuwirken, ist eine notwendige Folge der natürlichen und ursprünglichen Gleichheit der Menschen. Jeden im Besitz seiner Vernunft befindlichen Menschen in gleicher Weise in den Genuss

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dieses Rechts kommen zu lassen, sollte man als das Ziel betrachten, dem es sich anzunähern gilt. Solange dieses Ziel nicht erreicht ist, kann man nicht behaupten, dass die Bürger dieses letzte Recht in vollem Umfang genießen. Es gibt kein Menschenrecht, das man nicht leicht aus diesen Rechten ableiten könnte, auf die wir versucht haben die Menschenrechte zurückzufuhren, und es ließe sich sogar leicht beweisen, dass alle Prinzipien des Zivil- und Strafrechts, wie auch diejenigen des Verwaltungs-, Handels- und Polizeirechts aus der Verpflichtung folgen, die Rechte, die in den drei ersten Abschnitten genannt sind, zu achten. Das Glück einer Gesellschaft ist umso größer, je vollständiger dort die Staatsangehörigen im Besitz dieser Rechte sind. Doch hat nicht jedes dieser Rechte die gleiche Bedeutung fur das gemeinschaftliche Glück. Wir haben sie hier in der Reihenfolge angeordnet, in der wir meinen, dass sie zu diesem Glück beitragen, und wir sollten sogar hinzusetzen, dass in einer sehr zahlreichen Gesellschaft das letzte dieser Rechte den meisten Einwohner eines Landes fast gänzlich vorenthalten sein wird. Eifrige Republikaner haben es für das wichtigste von allen gehalten. Und tatsächlich würde der Genuss dieses Rechts in einer aufgeklärten und von allem Aberglauben befreiten Nation, in der es tatsächlich jedem Bürger, der es ausüben kann oder will, gewährt ist, den Genuss aller anderen sicherstellen. Doch es verliert seine wertvollsten Vorzüge, wenn Unwissenheit und Vorurteile diejenigen, die es ausüben sollen, vom geraden Weg, den die unwandelbare Richtschnur der Gerechtigkeit ihnen gewiesen hat, abgebracht haben. Was das öffentliche Glück betrifft, kann eine Republik mit tyrannischen Gesetzen also weit schlechter gestellt sein als eine Monarchie. Geht man von dieser Reihenfolge der Menschenrechte aus, dann zeigt sich, dass die besonders häufige oder besonders tief greifende Verletzung eines weniger wesentlichen Rechts dem gemeinsamen Glück mehr Schaden zufügen kann als die leichte oder sehr seltene Verletzung eines wichtigeren Rechts. Folglich kann zum Beispiel eine Verfahrensweise in der Straijustiz, die Unschuldige der Gefahr aussetzt, von unkundigen oder voreingenommenen Richtern verurteilt zu werden, einem Land mehr Schaden zufügen als ein Gesetz, welches die Todesstrafe über ein imaginäres Verbrechen verhängt, das dort, wo diese Strafe gilt, äußerst selten ist. Steuergesetze oder Gesetze, die die Ein- und Ausfuhr von Waren beschränken, können, weil sie die freie Verfügung über das Eigentum angreifen, schädlicher sein, als eine Vollmacht, willkürliche Verhaftungen vorzunehmen, von der nur sehr selten Gebrauch gemacht wird. Diese Prinzipien sind einfach. Die Schwierigkeit beginnt damit, wie sich die Grade des Guten oder des Schlechten messen lassen, das von den verschiedenartigen Verletzungen der natürlichen Rechte oder der Beseitigung von Missständen, die diesen Gesetzen entgegenstehen, hervorgebracht wird. Es würde nicht genügen, sorgfaltig die Wirkungen jedes ungerechten Gesetzes oder jeder nützlichen Reform zu erforschen. Man müsste darüber hinaus ein gemeinsames Maß haben, an dem man diese Wirkungen messen könnte. Was die zweite Klasse der Mittel und Wege des Glücks betrifft, so ist es offensichtlich, dass sie ebenfalls zum großen Teil von der möglichst umfassenden und möglichst freien Ausübung der natürlichen Rechte abhängen. Darüber hinaus beschränken sie sich

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zunächst auf den Genuss eines dauerhaften und sicheren Friedens mit den ausländischen Mächten; ferner auf die Verbesserung der Mittel, um sich mit gleicher Arbeit eine größere Menge an Gütern zu verschaffen, sei es durch den Fortschritt der Aufklärung und des Gewerbes, sei es durch die Ausdehnung der Beziehungen zu anderen Völkern, vor allem aber durch eine gleichmäßigere Verteilung dieser Mittel auf die Mitglieder der Gesellschaft. Denn insofern sich die Bevölkerung notwendigerweise im Verhältnis zur Menge der Nahrungsmittel entwickelt, die in einem durchschnittlichen Jahr reproduziert werden, ist es leicht einzusehen, dass die Menge der Güter für die Mehrheit der Bürger niemals sehr groß sein wird, zumindest nicht zuverlässig und dauerhaft. Folglich muss man das öffentliche Glück in einer möglichst gleichen Verteilung dieser Güter suchen. Darauf, diese Gleichheit zwischen den Mitgliedern einer Nation aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, ohne das Eigentumsrecht zu verletzen und ohne den legitimen Gebrauch der Freiheit einzuschränken, müssen alle Zivil- und Handelsgesetze abzielen. Aus ebendiesen Prinzipien folgt, dass das Glück eines Volkes niemals durch das Unglück und die Schwächung seiner Nachbarn wächst, sondern sich im Gegenteil notwendig durch das Gedeihen anderer Völker steigert. Denn dieses bietet ihm Beispiele guter Gesetze oder der Abschaffung von Missständen, neue Methoden des Gewerbes und schließlich all die Vorteile, die aus dem Austausch des Wissens erwachsen. Zugleich zeigt sich, dass die Menge der Güter, über die eine Gemeinschaft verfügt, und die Möglichkeit, sie gleichmäßiger zu verteilen, für alle Völker von den Fortschritten jedes einzelnen von ihnen abhängt. Die einzige Ausnahme von dieser allgemeinen Regel bildet der Fall, dass ein von verfehlter Politik irregeleitetes Volk seine Nachbarn mit seinem Ehrgeiz bedrängt und danach strebt, entweder durch Krieg, durch Monopole oder durch gesetzliche Beschränkungen des Handels ihnen - zu seinem eigenen Nachteil - seine gefährliche Macht und seinen unnützen Wohlstand aufzudrängen. Dies sind die Prinzipien, nach denen ich versuchen werde, den Einfluss darzulegen, den die amerikanische Revolution auf Europa haben muss. Man wird dem Autor dieser Überlegungen vielleicht kein anderes Verdienst zugestehen als das, in noch größerem Maßstab geträumt zu haben als der Abbé de Saint-Pierre und er wird mit diesem antworten: Ich tröste mich leicht darüber hinweg, mein ganzes Leben lang als Träumer gegolten zu haben, wenn ich nur hoffen kann, dass ein Jahrhundert nach mir die Verwirklichung einer meiner Ideen vielleicht ein wenig Gutes bewirkt. Das heißt, schon zuviel zu verlangen. Mit dem Versuch, einige vereinzelte und für sich allein genommen unfruchtbare Wahrheiten auszusprechen, kann man auf lange Sicht glücklicheren und fruchtbareren Ideenverbindungen den Weg bereiten. Bedeutet es nicht auch, sich nützlich zu machen, wenn man dazu beiträgt, die Aufmerksamkeit fähiger Geister auf eine wichtige Materie zu lenken und den Wunsch in ihnen zu erwecken, diese Materie zum Gegenstand ihres Nachdenkens oder ihrer Forschungen zu machen? Man würde damit kein Anrecht auf den Ruhm erwerben, den sie sich vielleicht verdienen, doch zumindest ein Anrecht auf das Vergnügen, Ursache von etwas Gutem gewesen zu sein. Wäre aber dieses Vergnügen zu teuer bezahlt, wenn man es durch ein

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geringfügiges Opfer an Eigenliebe erkaufen würde oder durch die Demütigung, sich in gutem Glauben getäuscht oder über große Gegenstände nur kleine und allgemeine Wahrheiten gesagt zu haben?

Erstes Kapitel Einfluss der amerikanischen Revolution auf die Ansichten und die Gesetzgebung in Europa Das Menschengeschlecht hatte den Adelsbrief seiner Rechte verloren, Montesquieu hat ihn wieder gefunden und ihm zurückgegeben.1 Doch es genügt nicht, wenn diese Rechte in den Büchern der Philosophen und den Herzen tugendhafter Menschen aufbewahrt sind. Der unwissende und schwache Mensch muss sie im Beispiel eines großen Volkes lesen können. Amerika hat uns dieses Beispiel gegeben. Die Urkunde, die seine Unabhängigkeit erklärt, ist eine einfache und erhabene Darlegung jener so heiligen und so lange vergessenen Rechte. Keine Nation hat sie so gut erkannt und in solcher Vollständigkeit bewahrt. Zwar besteht in manchen der Vereinigten Staaten noch die Negersklaverei, doch alle aufgeklärten Menschen empfinden sie als Schande und Gefahr, und dieser Makel wird nicht mehr lange die Reinheit der amerikanischen Gesetze beflecken. Weil diese weisen Republikaner noch an einigen Überbleibseln englischer Vorurteile festhielten, waren sie sich nicht ausreichend klar darüber, dass Ein- und Ausfuhrverbote, Reglementierungen des Handels und indirekte Steuern schwerwiegende Verletzungen des Eigentumsrechts sind, dessen freie Ausübung durch diese Einrichtungen beschränkt wird - denn man besitzt nicht, worüber man nicht verfügen kann. Obwohl sie eine umfassendere Toleranz als jede andere Nation verwirklichten, haben sie einige vom Volk geforderte Einschränkungen zugelassen. Diese betreffen zwar nicht die Ausübung der persönlichen Freiheit, jedoch das Recht jedes Menschen, keine Nachteile zu erleiden, weil er glaubt, was seine Vernunft ihm zu glauben gebietet. Man könnte vielleicht in den Gesetzen einiger Staaten die schwachen Reste eines Fanatismus finden, der sich während langer Verfolgungen zu sehr verhärtet hat, um den ersten Anstrengungen der Philosophie zu weichen. Doch wenn man diese Verletzungen der natürlichen Menschenrechte mit allem vergleicht, was ein aufgeklärtes Auge an solchen Verletzungen in den Gesetzeswerken der weisesten Völker entdecken könnte - insbesondere in denen der antiken Nationen, die man so sehr bewundert und doch so wenig kennt - wird man begreifen, dass unsere Meinung über die amerikanische Gesetzgebung keine Frucht übertriebener Begeisterung, weder für jene Nation noch fur unser Jahrhundert, ist. Wenn man im Übrigen den Amerikanern begründete Vorwürfe machen kann, dann haben diese nichts weiter als vereinzelte Irrtümer oder aus vergangenen Zeiten über-

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nommene Missstände zum Gegenstand, die abzustellen die Umstände noch nicht erlaubt haben. Sie müssen nur an ihren Grundsätzen festhalten, um all dies zu beheben. Sie sind das einzige Volk, bei dem man keine machiavellistischen Maximen zu politischen Prinzipien erhoben findet und dessen Führer nicht der ehrlichen oder vorgetäuschten Überzeugung anhängen, es sei unmöglich, die gesellschaftliche Ordnung zu vervollkommnen und öffentlichen Wohlstand mit Gerechtigkeit zu vereinbaren. Das Schauspiel eines großen Volkes, bei dem die Menschenrechte geachtet werden, ist, trotz der Unterschiede des Klimas, der Sitten und der Verfassungen, fìir alle anderen nützlich. Es lehrt, dass diese Rechte überall dieselben sind, und dass - mit Ausnahme eines dieser Rechte, auf das der tugendhafte Bürger im Interesse der öffentlichen Ruhe in bestimmten Verfassungen verzichten sollte - es keinen Staat gibt, in dem der Mensch nicht alle anderen in vollem Umfang genießen könnte. Es lässt den Einfluss erkennen, den der Genuss dieser Rechte auf den gemeinsamen Wohlstand hat, indem es zeigt, dass ein Mensch, der niemals eine Verletzung seiner Person furchten musste, eine großmütigere und sanftere Seele entwickelt; dass es demjenigen, dessen Eigentum stets sicher ist, leicht fällt, redlich zu sein und dass ein nur von den Gesetzen abhängiger Bürger mehr Patriotismus und Mut besitzt. Dieses fur alle Nationen, die es vor Augen haben, so nützliche Beispiel wäre beinahe für die Menschheit verloren gewesen. Die großen Nation verachten das Beispiel der kleinen Völker und England, das ein Jahrhundert lang ein so beeindruckendes Exempel gegeben hat, hätte dann nur noch dazu gedient, durch seinen Fall die so verbreitete, so gefahrliche und so falsche Ansicht zu bestätigen, dass Gesetze bloß eine vorübergehende Macht über die Völker haben können und dass politische Körperschaften nach einigen Augenblicken eines mehr oder weniger glanzvollen Lebens zur Auflösung verdammt sind. Wenn Amerika den Waffen Englands unterlegen gewesen wäre, hätte der Despotismus dort bald die Eisen für das Mutterland geschmiedet und die Engländer hätten das Geschick all der Republiken geteilt, die ihre Freiheit verloren haben, weil sie nicht nur Bürger sondern auch Untertanen haben wollten. Zusammen mit seiner Freiheit aber hätte England seine Gesetze verloren. Zweifellos kann es geschehen, dass in einer friedliebenden Monarchie ein weiser Gesetzgeber die Menschenrechte in einem Maße achtet, das den stolzen Republikaner auf das Geschick der glücklichen Untertanen neidisch werden lässt. Es ist bekannt, dass diese Wahrheit, die fur die Ruhe der monarchischen Verfassungen bedeutsam ist, von den französischen Philosophen genau zu der Zeit bewiesen wurde, als sie in Journalen, Hirtenbriefen und Anklageschriften beschuldigt wurden, den Aufruhr zu predigen. Doch wer einmal die Freiheit genossen hat, den kann nur Gewalt zum Untertanen machen, und damit der Bürger einwilligt, sein Bürgerrecht aufzugeben, muss man ihm alles rauben, bis hin zu seiner Menschenwürde. Als notwendige Folge des Respekts, den die amerikanischen Gesetze den natürlichen Menschenrechten entgegenbringen, kann jeder Mensch, wie auch immer seine Religion, seine Ansichten, seine Prinzipien sein mögen, sicher sein, dort Asyl zu finden. Vergeblich bietet England denselben Vorteil, zumindest für die Protestanten. Der Gewerbefleiß seiner Bewohner lässt keinen Raum für den des Fremden und sein Reichtum stößt den

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Armen zurück. Es bleibt nur wenig Platz auf einem Boden, auf dem Handel und Manufakturen die Bevölkerung stark haben wachsen lassen. Auch ist das englische Klima nur für einen kleinen Teil der europäischen Bevölkerung verträglich. Amerika hingegen eröffnet dem Gewerbe verlockende Aussichten. Der Arme kann dort leicht seinen Lebensunterhalt erwerben. Ein sicherer und für seine Bedürfnisse ausreichender Besitz winkt als Lohn seiner Arbeit. Ein abwechslungsreicheres Klima ist für Menschen aller Länder verträglich. Doch zugleich ist Amerika von den Völkern Europas durch ein gewaltiges Meer getrennt. Um jemanden zu dessen Überquerung zu veranlassen, braucht es andere Gründe als den bloßen Wunsch, seinen Wohlstand zu steigern. Nur der Unterdrückte wird sich entschließen, dieses Hindernis zu überwinden. Ohne dass Europa große Auswanderungen furchten müsste, besitzt es somit in Amerika einen nützlichen Zügel fur die Minister, die in Versuchung sind, zu schlecht zu regieren. Die Unterdrückung wird in Europa zwangsläufig vorsichtiger werden, weil sie weiß, dass demjenigen, den sie als Opfer auserkoren hat, ein Asyl bleibt, und dass er ihr entkommen und sie zugleich bestrafen kann, indem er sie zwingt, gemeinsam mit ihm vor den Gerichtshof der öffentlichen Meinung zu treten. In Amerika herrscht Pressefreiheit, und mit gutem Grund wird dort das Recht, die Wahrheiten zu sagen und zu hören, die man für nützlich hält, als eines der heiligsten Rechte der Menschheit angesehen. Würde man in einem Land, wo die Weide als heiliger Baum gilt und es bei Todesstrafe verboten ist, ihr zur Rettung eines Ertrinkenden einen Zweig abzubrechen, davon sprechen, dass das Gesetz weder die Freiheit noch die Sicherheit der Bürger verletzt? Wenn die Absurdität der Gesetze gegen die Pressefreiheit uns nicht genauso handgreiflich erscheint, dann liegt dies nur an der unheilvollen Macht der Gewohnheit, die dem schwachen menschlichen Verstand das, was ihn am meisten empören sollte, als selbstverständlich erscheinen lässt. Allein das Beispiel all des Guten, das die Pressefreiheit in Amerika bewirkt hat und noch bewirken wird, wird aber Europa umso mehr Nutzen bringen, als es uns, weit mehr als das Beispiel Englands, im Hinblick auf die vermeintlichen Nachteile dieser Freiheit zu beruhigen vermag. Schon mehr als einmal hat man den Amerikaner sich ruhig Gesetzen unterwerfen sehen, deren Prinzipien oder Auswirkungen er einen Augenblick zuvor noch wütend angegriffen hatte. Man hat ihn den Treuhändern der öffentlichen Gewalt respektvoll gehorchen sehen, ohne dass er auf das Recht verzichtet hätte, sie eines besseren belehren zu wollen und gegenüber der Nation ihre Fehler oder Irrtümer anzuklagen. Man hat gesehen, wie durch öffentliche Erörterungen Vorurteile zerstört wurden und wie die öffentliche Meinung darauf vorbereitet wurde, die vernünftigen Absichten der im Werden befindlichen Gesetzgebung zu unterstützen. Man hat gesehen, wie diese Freiheit, weit davon entfernt der Intrige Vorschub zu leisten, Sondervereinigungen aufgelöst hat und wie sie diejenigen, die selbstsüchtige Absichten verfolgten, daran gehindert hat, Parteien um sich zu bilden. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass Schmäh- und Flugschriften nur so lange gefahrlich sind, wie die Strenge des Gesetzes sie zwingt, im Dunkeln zu zirkulieren.

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Man hat schließlich gesehen, wie die öffentliche Meinung, die sich mittels der Druckerpresse mühelos und rasch über ein unermessliches Land verbreitet, der Regierung in schwierigen Momenten eine oft wirkungsvollere Waffe bot als die Gesetze. Wir werden nur ein einziges Beispiel anfuhren: In einem Teil der Miliz hatte die Fahnenflucht begonnen, um sich zu greifen. Die strengsten Strafen waren nicht in der Lage ihr Einhalt zu gebieten, denn die Hoffnung, straflos zu entkommen, nahm ihnen alle Wirksamkeit. Man schlug vor, den Namen des Schuldigen in die Zeitung seiner Heimat zu setzen, und die Furcht vor dieser Strafe erwies sich als wirksamer als die Furcht vor dem Tod. Es versteht sich, dass diese so vornehme und großzügige Art, die Bürger zu ihrer Pflicht zurückzufuhren, ihren ganzen Erfolg dem Recht des Angeklagten verdankt, ebenso öffentlich gegen eine ungerechte Beschuldigung Einspruch zu erheben. In England haben der Brauch, mit oft lächerlichen Spitzfindigkeiten die noch bestehenden Gesetze gegen die Pressefreiheit zu umgehen, der Skandal der Schmähschriften, die Boshafitigkeit der politischen Schriftsteller und der falsche Eifer eines hohlen Patriotismus die Tatsache verdunkelt, dass dieses Land die Aufrechterhaltung der Gesetze und die Achtung, die man denjenigen Menschenrechten bewahrt, die dort von der öffentlichen Meinung geheiligt wurden, weit mehr der Pressefreiheit als seiner Verfassung verdankt. Werden die Regierungen der Länder, in denen noch Intoleranz herrscht, diese Intoleranz weiterhin als notwendig für die Ruhe des Staates ansehen, wenn sie erkennen, dass die umfassendste Toleranz, die ein Volk jemals genossen hat, in Amerika, statt Unruhen hervorzurufen, den Frieden und die Brüderlichkeit erblühen lässt? Werden sie nicht zuletzt einsehen, dass sie gefahrlos der Stimme der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit gehorchen können? Früher wagte es der Fanatismus, sich offen zu zeigen und im Namen Gottes das Blut der Menschen zu fordern. Die Vernunft hat ihn gezwungen, sich zu verbergen. Er hat die Maske der Politik ergriffen und verlangt nun um des Friedens willen, dass man ihm weiterhin die Mittel überlässt, eben diesen Frieden zu stören. Doch Amerika hat bewiesen, dass ein Land auch dann glücklich sein kann, wenn es in seinem Busen weder Verfolger noch Heuchler trägt und die Politiker, die sich von der Autorität der Weisen nicht überzeugen lassen wollten, werden sich zweifellos von der Autorität dieses Beispiels überzeugen lassen. Wenn man sich ansieht, wie die Amerikaner ihre Ruhe und ihr Glück auf einer kleinen Anzahl von Maximen gegründet haben, die nur der naive Ausdruck dessen zu sein scheinen, was der gesunde Menschenverstand jedem von uns hätte diktieren können, dann wird man nicht länger jene überaus komplizierten Maschinen preisen, deren Gang durch eine Vielzahl von Triebfedern gewaltsam, unregelmäßig und mühevoll gemacht wird und in denen so viele Gewichte, von denen man behauptet, dass sie sich gegenseitig im Gleichgewicht halten, in Wirklichkeit vereint auf dem Volk lasten. Vielleicht wird man die geringe Bedeutung oder vielmehr die Gefährlichkeit jener politischen Spitzfindigkeiten begreifen, die man zu lange bewundert hat, jener Systeme, in denen man die Gesetze und folglich auch ihre unwandelbaren Grundlagen: Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit, zwingen will, sich mit der Witterung zu ändern, sich den Regierungsformen, den vom Vorurteil geheiligten Gebräuchen, ja, den jedem Volk eigenen Torheiten

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zu beugen, als ob es nicht menschlicher, gerechter und edler wäre, diesem Volk mit einer vernünftigen Gesetzgebung die Augen darüber zu öffnen. Man wird erkennen, dass man tapfere Krieger, gehorsame Soldaten und disziplinierte Truppen haben kann, ohne auf jene Härte der Militärverwaltung zurückzugreifen, wie sie in manchen europäischen Staaten herrscht, wo über die unteren Dienstgrade auf geheime Stellungnahme ihrer Vorgesetzten hin geurteilt wird, wo sie für schuldig befunden werden, ohne dass man sie anhört, wo man sie bestraft, ohne dass sie sich verteidigen konnten; wo das Verlangen, seine Unschuld zu beweisen, ein neues Verbrechen ist und ein noch größeres, im Druck öffentlich zu machen, dass man unschuldig ist. Man muss indessen zugeben, dass man fur dieses geheime Unterdrückungssystem, das zugleich die Rechte der Bürger wie die der Nationen verletzt, weder die Sittenverderbnis, noch vorsätzliche Ungerechtigkeit, noch eine tyrannische Härte verantwortlich machen kann. Noch weniger kann man es für eine Notwendigkeit ausgeben, da es zugleich ebenso unnütz und gefährlich für die Disziplin und die Sicherheit des Staates ist, wie es der Ungerechtigkeit Vorschub leistet. Wen muss man also anklagen? Es ist - leider! - allein die unüberwindliche Unkenntnis des Naturrechts, welche die Sünde erklärt. Das Beispiel eines freien Volkes aber, das sich dennoch fugsam den militärischen wie den zivilen Gesetzen unterwirft, vermag uns zweifellos von dieser Unkenntnis zu heilen. Das Schauspiel der in den Vereinigten Staaten herrschenden Gleichheit, die dort Frieden und Wohlstand sichert, kann ebenfalls lehrreich für Europa sein. Wir glauben hier zwar nicht mehr, dass die menschliche Rasse von Natur aus in drei oder vier Stände wie zum Beispiel die Klasse der Einfüßler - unterteilt ist und dass einer dieser Stände dazu verurteilt sei, viel zu arbeiten und wenig zu essen. Man hat uns so viel von den Vorteilen des Handels und des Warenverkehrs gesprochen, dass der Adlige einen Bankier oder Händler schon fast als seinesgleichen betrachtet, vorausgesetzt, dieser ist sehr reich. Hier aber endet unsere Philosophie, und wir haben vor nicht langer Zeit noch drucken lassen, dass in bestimmten Gegenden das Volk von Natur aus zur Zahlung der taille und zum Frondienst bestimmt ist. Wir haben vor noch nicht langer Zeit die Ansicht vertreten, dass nur bestimmte Stände das Ehrgefühl in seiner vollen Stärke empfinden können und dass man den größten Teil einer Nation demütigen muss, um dem Rest ein wenig mehr Stolz zu verleihen. Stellen wir dem gegenüber, was man einst in den amerikanischen Geschichtsbüchern lesen wird: Man hatte einen jungen französischen General damit betraut, Virginia gegen eine überlegene Armee zu verteidigen. Als er sah, dass die Soldaten, die man aus ihren Regimentern entfernt hatte, um ihm einen Truppenverband zusammenzustellen, ihn im Stich ließen, verkündete er, um dieser Art der Fahnenflucht Einhalt zu gebieten, dass er, da er nur ausgewählte Männer bei sich haben wolle, alle diejenigen nicht in seine Armee aufnehmen werde, an deren Wert, Treue oder Verstand er Zweifel hege. Von diesem Moment an kam niemand mehr auf den Gedanken, sich von der Truppe abzusetzen. Ein Soldat, dem er einen besonderen Auftrag anvertrauen wollte, forderte von ihm das Versprechen, dass man, sollte er bei dessen Ausführung fallen, in die Zeitung seiner Heimat setzen werde, er habe die Truppe nur auf Befehl des Generals verlassen. Ein anderer, der aufgrund einer Verletzung nicht marschfähig war, lieh auf eigene Kosten einen Wagen,

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um der Armee zu folgen. Man wird also zustimmen müssen, dass das Ehrgefühl unter allen Verfassungen dasselbe ist und dass es auf die Menschen aller Stände mit gleicher Kraft wirkt, vorausgesetzt, dass keiner dieser Stände von einer ungerechten Meinung gedemütigt oder von schlechten Gesetzen unterdrückt wird. Derart sind die Vorteile, welche die ganze Menschheit aus dem Beispiel Amerikas zweifellos ziehen wird und wir wären erstaunt, wenn man diese Gewinne als Schwärmerei betrachten würde, weil sie keinen unmittelbaren und physischen Einfluss auf das Geschick der Menschen haben. Das hieße, zu übersehen, dass das Glück der in einer Gesellschaft vereinten Menschen beinahe zur Gänze von guten Gesetzen abhängt. Wenn aber die Menschen ihre Ehrerbietung auch an erster Stelle dem Gesetzgeber schulden, der die Weisheit, die Gesetze zu ersinnen, mit dem Willen und der Macht verbindet, ihnen Geltung zu verschaffen, so sind doch nach diesem Gesetzgeber diejenigen die größten Wohltäter der Völker, die ihn durch ihr Beispiel oder ihre Lehren auf die Gesetze hinweisen, die er erlassen sollte.

Kapitel II Von den Vorteilen der amerikanischen Revolution in Hinsicht auf die Erhaltung des Friedens in Europa Der Abbé de Saint-Pierre wagte zu glauben, dass die Menschen eines Tages vernünftig genug sein würden, um in gemeinsamem Einverständnis auf das barbarische Recht des Krieges zu verzichten und die Erörterung ihrer Ansprüche, Interessen oder Klagen dem Urteil friedlicher Schiedsrichter zu unterwerfen. Zweifellos sind dies nicht die Gedanken eines Schwärmers. Es ist so deutlich bewiesen, dass der Krieg fur die Mehrheit der Menschen einer Nation niemals einen Vorteil bringt! Warum aber sollten die Menschen, die sich so lange in gegenseitigem Einverständnis absurden und unheilvollen Irrtümern hingegeben haben, nicht eines Tages übereinkommen, einfache und heilsame Wahrheiten anzuerkennen? Doch diese Hoffnung ist noch weit davon entfernt, Wirklichkeit zu werden. Vielleicht wäre der Abbé Saint-Pierre erfolgreicher gewesen, hätte er den Herrschern (Monarchen, Senaten oder Völkern), anstatt ihnen den Verzicht auf das Recht, Krieg zu führen, nahe zu legen, vorgeschlagen, sich dieses Recht zu erhalten, jedoch zugleich einen Gerichtshof einzurichten, der die Aufgabe hätte, im Namen aller Nationen die Streitigkeiten zu entscheiden, die sich zwischen ihnen über die Auslieferung von Verbrechern, die Ausführung der Handelsgesetze, die Beschlagnahmung ausländischer Schiffe, die Grenzverletzungen, die Interpretation von Verträgen, die Erbfolgen usw. erheben könnten. Die verschiedenen Staaten würden sich das Recht vorbehalten, die Urteile dieses Gerichtshofes zu vollstrecken oder einander zwangsweise vorzuladen. Man würde seine Mitglieder damit beauftragen, ein ausschließlich auf Vernunft und Gerechtigkeit gegründetes Gesetzbuch des öffentlichen Rechts zu verfassen, welches die konföderierten Nationen übereingekommen wären, in Friedenszeiten zu befolgen. Sie würden noch ein

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weiteres Gesetzbuch ausarbeiten, welches die Regeln enthielte, die in Kriegszeiten sowohl zwischen den Krieg fuhrenden Nationen als auch zwischen diesen und den neutralen Mächten im allgemeinen Interesse beachtet werden sollten. Ein solcher Gerichtshof wäre fähig, die Keime des Krieges zu ersticken, indem er im Friedenszustand eine größere Gemeinsamkeit zwischen den Völkern stiftete sowie die Keime des Hasses und jene Missgunst der Völker untereinander bekämpfte, die Voraussetzungen des Kriegs sind und jeden Vorwand zu ihm ergreifen lassen. In vielen Fällen würden die Ehrgeizigen, die zum Krieg raten, es nicht wagen, diesen Vorschlag zu machen, wenn sie nicht hoffen könnten, die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten aufzuwiegeln und wenn sie nicht vom Beifall derjenigen bestärkt würden, deren Blut und Leben sie aufs Spiel setzen. Die Kriege wären weniger grausam - denn noch sind wir sehr weit davon entfernt, der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit zu gewähren, was man ihnen im Krieg zugestehen kann, ohne den militärischen Erfolg aufs Spiel zu setzen. Die regulären Truppen haben wenigstens ein großes Gut hervorgebracht. Sie haben den Krieg dem Volk, in dessen Namen er geführt wird, fremd gemacht und es gibt keinerlei Grund, weshalb der Gegner die Bevölkerung jenseits der Grenze, die er erobert hat, nicht genauso behandeln sollte, wie die Bevölkerung seines Gebiets, wenn er genötigt wäre, es zu verteidigen. Ist es für den Erfolg der Seekriege wirklich unbedingt notwendig, den Raub und das Brigantentum für rechtmäßig zu erklären? Hat man wenigstens einigermaßen sorgfältig die traurigen Vorteile dieses Brauchs der barbarischen Jahrhunderte und Nationen gegen seine unheilvollen Folgen abgewogen? Doch verlieren wir uns nicht in diesen Gedanken, die, so einfach und natürlich sie fur jeden mit einem gerechten Herzen und einem aufrechten Geist begabten Menschen sind, in den Ohren der Politiker noch immer erstaunlich klingen. Kommen wir zu den Folgen der amerikanischen Revolution und schauen wir, ob sie, wenn sie die Menschheit auch einen Krieg gekostet hat, nicht sogar in dieser Hinsicht Gutes bewirkt hat. Wenn England sich mit seinen Kolonien versöhnt hätte, hätte sich dem britannischen Ministerium ein Krieg mit dem Ausland als einziger Weg angeboten, von den Kolonien Steuern zu erheben, dort seine militärische Autorität zu festigen und dort eine Partei zu haben. Ein solcher Krieg mit dem Hause Bourbon hätte es mit sich gebracht, dass Frankreich und Spanien einen großen Teil ihrer Inseln verloren hätten, die sie nicht gegen das vereinte Amerika und England hätten verteidigen können. An sich würde ich den Verlust der Zuckerinseln nicht als besonders großes Unglück fur Frankreich betrachten. Zieht man die Kosten des Anbaus sowie die Verwaltungs- und Verteidigungsausgaben ab, dann macht der Ertrag dieser Inseln nur einen sehr kleinen Teil des Gesamtertrages des französischen Territoriums aus und diese so schwierig zu verteidigenden Besitzungen schwächen die Macht der Nation eher, als dass sie sie vergrößern. Anders verhielte es sich jedoch, wenn man fürchten müsste, dass eine Nation, die kaum über die wahre Natur ihrer eigenen Handelsinteressen aufgeklärt ist, reichen und habgierigen Kaufleuten erlauben würde, ein Monopol gegenüber dem Ausland zu errichten - ein Monopol, dessen Last auch diese Nation selbst und vor allem die weniger reichen Händler spüren würden. Dann läge es im Interesse jeder Nation, eine Möglichkeit zu haben, sich die für

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ihren Verbrauch notwendigen Waren zu verschaffen, ohne dabei von den Launen anderer Nationen abzuhängen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Besitz der Kolonien auf den Antillen von großer Bedeutung für die europäischen Nationen. Die allgemeinen Prinzipien der politischen Ökonomie sind auf unumstößliche Weise bewiesen worden und lassen keinerlei echte Ausnahme zu. Wenn es sich in der Praxis als unmöglich erweist, sie auf alle Einzelfälle anzuwenden, dann nur deshalb, weil ein großer Teil der Menschen sich von Vorurteilen leiten lässt, die diesen Prinzipien zuwider laufen. Die scheinbaren Ausnahmen dienen dann wiederum dazu, diese Vorurteile weiter aufrecht zu erhalten. In unserem Fall wären die Folgen des Verlusts der Zuckerinseln für Frankreich verhängnisvoll. Nachdem die französische Seemacht in einem unglücklichen Krieg zerstört worden wäre, bliebe England als Herrin der Meere übrig. Schnell hätte es den Indien- und Afrikahandel sowie den Handel mit den beiden Teilen Amerikas an sich gerissen. Der Geist des Monopols, den es in den Handel hineinträgt, hätte England dazu gebracht - selbst auf Kosten seines eigenen Reichtums - Maßnahmen zu ergreifen, die für andere Völker in höchstem Maße ruinös gewesen wären und diese Völker alles hätten erleiden lassen, was eine merkantilistische Politik an Schikanen und Verheerungen ersinnen kann. Bevor aber dieses machiavellistische System sein Ende erreicht und das englische Reich sich geteilt hätte, in wie viele Kriege wären die Nationen Europas verwickelt worden? Denn Minister, die daran interessiert gewesen wären, ihre Nation mit Eroberungen in Atem zu halten, sei es, um ihre eigenen Posten zu sichern, sei es um innere Unruhen oder die Ablösung von Kolonien zu verhindern, sei es um stillschweigend die Verfassung zu zerstören und eine absolute Monarchie entstehen zu lassen, hätten auf zwar unterschiedliche Weise aber fortgesetzt nach diesem System gehandelt. Vielleicht wäre dem Augenblick, in dem die Teilung des englischen Reiches den Frieden und die Freiheit der Meere wiederhergestellt hätte, mehr als ein Jahrhundert der Unterdrückung und der Kriege vorangegangen. Folglich lässt sich der amerikanische Krieg verzeihen, wenn die Menschheit an die Übel denkt, vor denen er sie bewahrt hat. Durch die amerikanische Revolution sollten die Kriege in Europa seltener werden. Es lässt sich nämlich nicht verhehlen, dass die Amerikaner es beinahe gänzlich in ihrer Hand haben, das Gleichgewicht auf den amerikanischen Meeren zugunsten derjenigen Macht zu ändern, die sie bevorzugen. Es ist für sie zugleich leichter als für die europäischen Nationen, diese Meere zu erobern und zu halten. Im Übrigen wird der Name der Macht, der sie angehören, den Einwohnern jener Inseln ziemlich gleichgültig sein, da sie weniger echte, mit dem Boden ihres Vaterlandes verbundene Grundbesitzer sind, als vielmehr Manufakturunternehmer. Sie wären sicherlich nicht abgeneigt, sich einem Volk anzuschließen, das aus Abscheu, Untertanen befehlen zu müssen, nur Mitbürger haben will und für das eine Eroberung nur bedeuten kann, dass die Sieger ihre Unabhängigkeit und Freiheit mit den Besiegten teilen dürfen. Sollten allerdings die Amerikaner bei sich die Sklaverei der Schwarzen ächten und die europäischen Mächte so barbarisch und politisch unklug sein, sie zu erhalten, dann werden möglicherweise die englischen, französischen und spanischen Pflanzer die Ankunft der Amerikaner auf ihren Besitzungen mehr fürchten als wünschen. Doch in diesem Fall könnten sich die Amerikaner ihres

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Erfolgs noch sicherer sein, denn sie hätten, von dem Moment an, wo sie auf einer beliebigen Insel landen würden, zahlreiche Mitkämpfer, die von all dem Mut beseelt wären, den der Wunsch nach Rache und die Hoffnung auf Freiheit verleihen können. Folglich wäre es, sobald die Vereinigten Staaten die Übel wieder gutgemacht hätten, um deren Preis sie ihre Unabhängigkeit erkauft haben, iur die Nationen Europas nicht mehr ratsam, einen Seekrieg zu beginnen. Denn sie würden Gefahr laufen, alles zu verlieren, wenn sie die Vereinigten Staaten zum Feind hätten oder, wenn sie sie zum Freund hätten, sich in ihre Abhängigkeit zu begeben. Ohne die amerikanische Revolution wäre der Besitz der Antillen in kürzester Zeit, vielleicht schon heute, vollständig unsicher geworden. Er wird zweifellos unsicher werden, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Für die Engländer wäre die Eroberung der Inseln gewiss sehr wichtig gewesen, es ist hingegen unwahrscheinlich, dass die Amerikaner jemals einen solchen Plan fassen werden. Sie haben erkannt, wie wichtig es für ihre Freiheit und fur die Erhaltung ihrer Rechte ist, keine Untertanen zu haben, und es kann ihnen nicht daran gelegen sein, fern von sich schwache und schwierig zu verteidigende Bundesgenossen zu haben. Nur die Europäer selbst könnten ihnen durch unkluges Verhalten den Wunsch nach der Eroberung der Antillen eingeben. Das französische Ministerium hat dies begriffen. Wenn es sich beeilt hat, den Amerikanern seine Kolonien zu öffnen, so war dieser Schritt, der an sich gerecht und notwendig für den Wohlstand, ja für die Existenz der Kolonien war, zugleich von einer weisen und vorausschauenden Politik diktiert. Die Amerikaner tragen weiterhin durch die Wirkung ihres Beispiels dazu bei, den Frieden in Europa zu erhalten. In der alten Welt haben einige beredte Philosophen, vor allem Voltaire, ihre Stimme gegen die Ungerechtigkeit und die Absurdität des Krieges erhoben. Doch es ist ihnen nur mit Mühe gelungen, das Wüten des Krieges in mancher Hinsicht ein wenig zu mildern. Jene ungeheure Zahl von Menschen, für die das Massaker die einzige Hoffnung auf Ruhm und Vermögen ist, hat ihrem Eifer gespottet und man hat in Büchern, in den Heerlagern und an den Höfen wiederholt, dass es weder Vaterlandsliebe noch Tugend mehr gebe, seit eine abscheuliche Philosophie kein menschliches Blut mehr vergießen wolle. In Amerika hingegen sind solche pazifistischen Überzeugungen die eines großen und tapferen Volkes, das seine Heimat zu verteidigen und seine Ketten zu zerbrechen wusste. Jeder Gedanke an einen aus Ehrgeiz oder Eroberungslust unternommenen Krieg wird dort durch das besonnene Urteil einer menschlichen und friedliebenden Nation gebrandmarkt. Die Sprache der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit kann dort nicht zum Gegenstand des Gespötts der kriegerischen Kurtisanen eines Königs oder der ehrgeizigen Oberhäupter einer Republik werden. Die Ehre, das Vaterland zu verteidigen, ist dort die höchste von allen, ohne dass der Militärstand hochmütig auf den Bürgern lastet. Was haben die kriegerischen Vorurteile Europas diesem Beispiel entgegenzusetzen?

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Kapitel III Vorteile der amerikanischen Revolution im Hinblick auf die Vervollkommnung der Menschheit Wir haben bereits versucht zu zeigen, wie hilfreich das Beispiel Amerikas und der Aufklärung, die aus der Freiheit, alle für das Glück der Menschen wichtigen Fragen zu erörtern, notwendigerweise entsteht, bei der Überwindung der Vorurteile sein können, die noch immer in Europa herrschen. Wir wollen jedoch unsere Aufmerksamkeit auf eine andere Art von Nutzen richten, auch wenn wir furchten, dass dieser Nutzen der überwiegenden Zahl unserer Leser als Schwärmerei erscheinen wird. Amerika ist ein Land von unermesslicher Ausdehnung, in dem mehrere Millionen Menschen leben, die durch ihre Erziehung vor Vorurteilen bewahrt und zu Studium und Reflexion angeregt wurden. Es gibt dort keinerlei Standesunterschied, keine Lockung des Ehrgeizes, die diese Menschen von dem natürlichen Wunsch abbringen könnten, ihren Geist zu vervollkommnen, ihn für nützliche Forschungen einzusetzen und nach dem Ruhm zu streben, den die großen Arbeiten oder Entdeckungen mit sich bringen. Nichts hält dort einen Teil der Menschheit in einem Zustand der Erniedrigung, der ihn zu Dummheit und Elend verdammt. Da Amerika beinahe ebenso viele Menschen hervorbringt, die dazu beitragen, die Menge der menschlichen Kenntnisse zu vergrößern wie ganz Europa zusammen, gibt es Anlass zu hoffen, dass sich von heute an binnen weniger Generationen die Fortschritte dieser Kenntnisse wenigstens verdoppeln, wenigstens zweimal so schnell vollziehen werden. Diese Fortschritte werden gleichermaßen die angewandten Künste wie die spekulativen Wissenschaften umfassen. Das Gute, das daraus für die Menschheit erwachsen kann, muss man wohl zu den Folgen der amerikanischen Revolution zählen. Es wäre der Abhängigkeit vom Mutterland zweifellos nicht gelungen, das natürliche Genie der Amerikaner zum Erlöschen zu bringen, und Monsieur Franklin ist der Beweis dafür. Doch sie hätte dieses Genie in den meisten Fällen auf andere Gegenstände gelenkt. Der Wunsch, in England etwas zu gelten, hätte in der Seele eines mit Unternehmungsgeist und Talent geborenen Amerikaners jedes andere Gefühl erstickt und er hätte die sichersten und raschesten Wege gewählt, um dieses Ziel zu erreichen. Diejenigen, die keine Möglichkeit gehabt hätten, diesen Ehrgeiz zu nähren, wären in Mutlosigkeit und Gleichgültigkeit verfallen. Staaten, die von ihren Fürsten aus der Ferne regiert werden oder Provinzen großer Reiche, die in zu großem Abstand von der Hauptstadt liegen, würden uns schlagende Beweise für diese Behauptung liefern, und wir könnten sie hier entwickeln ohne den Verdacht fürchten zu müssen, wir würden uns zu Richtern über das Genie oder zu Schätzern des Werts der Nationen und der Entdeckungen aufwerfen. Man wird vielleicht überrascht sein, mich hier einige Entdeckungen, einige Erfindungen und den Fortschritt unserer Kenntnisse neben so große Gegenstände wie die Wahrung der Menschenrechte und die Aufrechterhaltung des Friedens stellen zu sehen und sogar über die Vorteile, die der Handel hervorbringen kann. Seit langem damit beschäftigt, über die Mittel, das Geschick der Menschheit zu verbessern, nachzudenken, bin ich jedoch schließlich zu der Überzeugung gekommen, dass es in Wahrheit nur ein

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solches Mittel gibt: den Fortschritt der Aufklärung zu beschleunigen. Jedes andere Mittel hat nur eine vorübergehende und beschränkte Wirkung. Selbst wenn man zugestehen würde, dass Irrtümer, Fabeln und Gesetzgebungen, die nicht nach der Vernunft, sondern nach lokalen Vorurteilen zusammengestellt wurden, das Glück einiger Nationen gemacht haben, müsste man genauso zugestehen, dass dieses übermäßig gepriesene Gut in kurzer Zeit vergangen ist, um Übeln Platz zu machen, welche die Vernunft in Jahrhunderten nicht hat heilen können. Sind die Menschen aber aufgeklärt, werdet Ihr sehen, wie das Gute rasch und mühelos aus dem Gemeinwillen entsteht.

Kapitel IV Vom Guten, das die amerikanische Revolution durch den Handel für Europa und vor allem für Frankreich bewirken kann Wir haben bisher fast ausschließlich solche Vorteile erwogen, die ihrem Wesen nach allen Nationen gleichermaßen zugute kommen. Für diejenigen Völker, die, wie Frankreich, Spanien, England und Holland von Kriegen auf den amerikanischen Inseln betroffen wären, ist der Erhalt des Friedens um einige Grade wichtiger als für andere. Genauso wird Frankreich aus den vernünftigen Ansichten der Amerikaner über die Eigentumsrechte und die natürliche Freiheit mehr Nutzen ziehen, als jedes andere Volk Europas, denn während es einerseits dieser Ideen mehr bedarf als die englische Nation, hat es andererseits einen Grad an Aufklärung erreicht, der es ihm ermöglicht, aus ihnen Gewinn zu ziehen. Darüber hinaus erfreut es sich einer Verfassung, in der nützliche Reformen nur wenige Hindernisse zu überwinden hätten - vor allem aber weniger Hindernisse als in England. Wir werden an dieser Stelle wiederum zunächst die Vorteile untersuchen, welche die amerikanische Revolution dem Handel aller Nationen gebracht hat. Wir werden uns anschließend der Frage zuwenden, ob Frankreich in dieser Hinsicht irgendeine bevorzugte Stellung genießt. Doch bevor wir uns dieser Frage widmen, ist es zweckmäßig zu untersuchen, welche Art von Nutzen der Außenhandel für eine Nation hat. Der Außenhandel hat für sie einerseits den Nutzen, dass sie alle im weiteren Sinne lebensnotwendigen Waren erwerben kann, an denen es ihr mangelt; dass sie diese Waren zu einem vorteilhafteren Preis erwerben kann und dass sie eine größere Sicherheit hat, an diesen Waren keinen Mangel zu leiden. Andererseits hat der Außenhandel für die Nation den Nutzen, durch den vergrößerten Absatz nationaler Bodenerzeugnisse oder Manufakturwaren das Interesse der Landwirte an der Steigerung ihrer Erträge zu vergrößern und zugleich das Gewerbe und die Tätigkeit der Manufakturen anzuregen, deren Wachstum wiederum die Höhe des Reinertrags des Grund und Bodens und folglich den tatsächlichen Reichtum beeinflusst. Man wird zwischen diesen beiden Vorteilen - der günstigeren und sichereren Einfuhr der Waren des Grundbedarfs und der gesteigerten Ausfuhr - vielleicht zunächst keinen Unterschied erkennen. Doch wir behandeln sie getrennt, weil es beim ersten um

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die Erhöhung des Wohlstandes geht, beim zweiten aber um die Erhöhung des Reichtums. Wenn in einem Land die Produktion durch den Exporthandel gesteigert wird, so ist weiterhin anzumerken, dann vermindert sich durch diese Mehrproduktion an Waren notwendigerweise die Gefahr, dass das Land an ihnen Mangel leidet. Man kann zu den Vorteilen des Außenhandels auch diejenigen rechnen, die eine Nation aus ihrem Gewerbefleiß und ihrem Geschick im Handel zieht. So könnte ein Volk, das nur einen Felsen bewohnt, aber über ein gewisses Kapital verfügt, überleben und sein Kapital sogar vermehren, indem es jedes Jahr als Lohn seiner Arbeit oder seiner Handelsspekulationen einen Teil der Erträge des Bodens einer anderen Nation erhält. Während dieser dritte Vorteil fur ein kleines, ausschließlich auf Handel und Gewerbe angewiesenes Volk der wichtigste ist, ist er für die großen Nationen, die ein ausgedehntes Gebiet einnehmen, allerdings fast bedeutungslos. Handel vollzieht sich stets durch Tausch. Es muss sich dabei um den Tausch von Stoffen handeln, die sich jährlich erneuern, denn sonst könnte der Handel nicht von Dauer sein. Denn ein Volk, dass jährlich für ein Erzeugnis, dessen es bedarf, im Tausch ein Erzeugnis geben würde, das sich nicht erneuert, hätte nach einer gewissen Zeit nichts mehr zum Tausch anzubieten. Doch auch die Art, in der sich der Tausch vollzieht, ist nicht gleichgültig. Nehmen wir erstens an, dass ein Land ohne ergiebige Minen die Waren eines anderen Landes mit Silbergeld kauft. Offensichtlich muss es zuvor notwendigerweise einem Dritten Waren gegen Silber verkauft haben. Folglich musste, um den tatsächlichen Tausch Ware gegen Ware durchzuführen, zwei Mal der Gewinn des Verkäufers bezahlt werden. Wäre der Tausch direkt gewesen, hätte man ihn nur einmal bezahlt - oder anders gesagt, ein Händler, der sowohl beim Kauf wie beim Verkauf einen Gewinn macht, kann sich mit einem geringeren Profit begnügen. Für die Masse der Bürger bedeutet dies eine Ersparnis unnötiger Kosten. Es ist also nicht gleichgültig, ob man dasselbe Erzeugnis mit Handelswaren oder mit Silber bezahlt. Unter sonst gleichen Bedingungen ist es vorteilhafter, mit Waren zu bezahlen. Es ist zweitens vorteilhafter für ein Land, solche Erzeugnisse auszufuhren, deren Anbau die höchsten Vorschüsse im Verhältnis zum Reinertrag erfordert und deren Gewinnung größeren Schwankungen, größeren Gefährdungen oder den Unbilden der Jahreszeiten unterliegt. Der Außenhandel ist ein Mittel, um ihren Absatz in Jahren des Überflusses sicherzustellen und die Existenz der landwirtschaftlichen Unternehmer besser abzusichern. So ist es zum Beispiel vorteilhafter, Wein zu exportieren als Getreide, Holz usw. Es ist drittens vorteilhafter, Roherzeugnisse auszuführen, denn, vorausgesetzt es herrscht vollständige Freiheit, wird die Landwirtschaft dadurch in gleicher Weise angeregt. Im einen Fall baut man an, um ausländische Erzeugnisse zu kaufen, im anderen, um die einheimischen Arbeiter zu ernähren. Die Wirkung aber ist, solange man die Landwirtschaft nicht durch gesetzliche Beschränkungen entmutigt, dieselbe. Im ersten Fall wird jedoch nur die Landwirtschaft gefördert, im zweiten gleichzeitig auch das Gewerbe und man hat den zusätzlichen Vorteil, zum gleichen Preis bessere gewerbliche Produkte zu erhalten.

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Aus demselben Grunde ist es auch besser, unverarbeitete Erzeugnisse zu beziehen, als Manufakturprodukte, immer jedoch unter der Voraussetzung vollständiger Freiheit. Diese Voraussetzung ist unabdingbar, denn ohne sie wird man entweder die Roherzeugnisse zu einem zu niedrigen Preis verkaufen oder die Produkte der Manufakturen zu teuer kaufen, was sich als Übel erweist und zu einem echten Verlust fuhrt, womit die Vorteile, die man von dieser Art des Handels erwarten kann, um ein Vielfaches zunichte gemacht werden. Nachdem wir diese Prinzipien aufgestellt haben, wenden wir uns nun den Vorteilen zu, die ein direkter und umfangreicherer Handel mit Amerika für Europa und für Frankreich haben würde. Zunächst ist jede Erweiterung des freien Handels vorteilhaft: Erstens, weil sie sowohl die Landwirtschaft anregt als auch zu mehr Gütern zum selben Preis führt. Zweitens, weil sie auf natürliche Weise dazu führt, dass jedes Land rascher nur noch das anbaut und herstellt, was es mit dem größten Gewinn anbauen und herstellen kann. Das Wachstum der Reichtümer und des Wohlstands, das aus der Errichtung dieser natürlichen Ordnung hervorgehen kann, ist unschätzbar. Unglücklicherweise beweist jene Wut, mit der alle Nationen alles anbauen und alles herstellen wollen - nicht bloß versuchsweise, sondern um nichts von außerhalb zukaufen zu müssen - , wie wenig man bis heute um den Nutzen eines ausgedehnten und freien Handels weiß. Unabhängig von diesem Vorteil werden die Amerikaner, die ein ungeheures Gebiet bewohnen, von dem ein Teil noch nicht urbar gemacht ist, noch für lange Zeit ausschließlich Landwirtschaft betreiben. In einem freien Land wird jeder Mensch, was auch immer sein Gewerbe ist, die Existenz als Grundbesitzer jeder anderen vorziehen, vor allem wenn er hoffen kann, sie zu erreichen, ohne zuviel von seinem Wohlstand dafür zu opfern. Somit wird Amerika für lange Zeit vor allem Roherzeugnisse nach Europa liefern und dort gewerbliche Erzeugnisse nachfragen. Es wird wenig Geld in den Handel einbringen können, denn der größte Teil des vorhandenen Kapitals wird für die Urbarmachung und die Besiedlung entlegener Gebiete aufgewandt werden. Amerika wird mit Europa also nur durch direkten Tausch Handel treiben. Das einzige Erzeugnis schließlich, das es aus Europa beziehen wird - und das für lange Zeit - ist Wein, eines der Erzeugnisse, deren Ausfuhr am gewinnbringendsten ist. Frankreich scheint zugleich die europäische Nation zu sein, für die der Handel mit Amerika die größte Bedeutung hat. Erstens, weil es genötigt ist, im Norden Öl, Eisen, Hanf und Holz gegen Geld zu kaufen, Erzeugnisse, die es sich in Amerika im Tausch gegen Produkte seiner Manufakturen beschaffen könnte. Zweitens, weil in Jahren der Getreideknappheit amerikanisches Getreide und amerikanischer Reis eine wichtige Hilfsquelle für seine am Atlantik gelegenen oder mit dem Meer durch schiffbare Kanäle und Flüsse verbundenen Provinzen wären. Drittens, weil Frankreich mit Amerika einen äußerst umfangreichen Handel in Weinen aufbauen könnte. Weil Frankreich aber in diesem besonderen Handel führend ist und gleichzeitig im Manufakturwesen mit England zumindest konkurrieren kann, wird dieser notwendige Handel ganz natürlich dazu führen, dass Amerika ihm auch in allen anderen Handelszweigen den Vorzug gibt - und es besteht kein Zweifel, dass Frankreich diese bevorzugte Stellung auch gegenüber den übrigen

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europäischen Nationen haben wird, solange das Gewerbe in Portugal und Spanien keine Fortschritte macht. Es schien bisher nahe liegend, dass im Gegenteil England die Vormachtstellung im Amerikahandel haben würde. Sicherlich könnte, unter sonst gleichen Bedingungen, die Übereinstimmung der Sprache, der Lebensart und der Religion zusammen mit der Gewohnheit, die Produkte englischer Manufakturen zu benutzen, großen Einfluss haben. Doch ist zu bemerken, dass dieser Einfluss seine volle Kraft nur im ersten Moment entfalten würde. In diesem ersten Moment aber schwächen notwendigerweise die Überbleibsel einer nur zu begründeten Entrüstung und die während des letzten Krieges eingegangenen Bündnisse die Wirkungen der Ursachen ab, welche die Amerikaner veranlassen könnten, England den Vorzug zu geben. Frankreich wird also Zeit haben, mit eigenen Mitteln zu verhindern, dass diese Gründe seine tatsächlichen Vorteile aufwiegen können. Unsere Manufakturen werden sich schnell dem Geschmack und den Bedürfnissen der Amerikaner anzupassen wissen, und unsere Händler werden lernen, diese zu erkennen und vorwegzunehmen. Der Verkehr der beiden Sprachen kann durch die Einrichtung von Kollegien in einigen unserer Städte gefordert werden, in denen die Amerikaner ihre Kinder erziehen lassen könnten und in welche sie sie auch gewiss in großer Zahl schicken würden, wenn dort jede religiöse Erziehung unterbliebe. Die Religion sollte nicht lange ein Hindernis sein: Der Glaubenssatz, der den Amerikanern am wichtigsten ist, derjenige, auf den sie am meisten Wert legen, ist der Glaubenssatz der Toleranz oder vielmehr der Religionsfreiheit. Denn bei diesem Volk, das mehr als irgendein anderes allein von der Vernunft geleitet wird, erscheint das Wort Toleranz beinahe wie eine Beleidigung der menschlichen Natur. Nun, warum sollte man die Hoffnung aufgeben, zu erleben, dass die Toleranz (man verzeihe mir diesen europäischen Ausdruck) bald in unserem Vaterland Einzug hält? Herrscht sie heute nicht überall in der alten Welt von Kamtschatka bis nach Island, von Lappland bis zu den Apenninen? Die Fürsten aus dem Hause Hugo Capet sind die einzigen großen Herrscher, die sie noch nicht in ihre Staaten gerufen haben. Doch in Frankreich fordert die einmütige Stimme aller aufgeklärten Männer der Geistlichkeit, des Adels, der Verwaltung und des Handels kraftvoll und unablässig diese Revolution. Werden diese dringenden Gesuche erfolglos sein? Soll man nicht vielmehr hoffen, dass die Regierung den Gründen der Gerechtigkeit und der Zweckmäßigkeit, die man ihr vorlegt, nachgeben wird und dass die Toleranz in Frankreich sogar nach einem regelrechteren, mehr der natürlichen Gerechtigkeit entsprechenden System eingeführt werden wird als anderswo, damit wir so das Unglück und vielleicht die Schande wiedergutmachen, so lange gezögert zu haben, dem Beispiel der anderen Völker gefolgt zu sein. Man wird zweifellos die besonderen Vorteile des Handels mit Amerika nach und nach schwinden sehen. Europa werden nur diejenigen Vorteile bleiben, die sich aus einem lebhaften und ausgedehnten Handel zwischen betriebsamen und reichen Nationen ergeben. Doch diese Veränderung wird das Werk mehrerer Jahrhunderte sein und zu diesem Zeitpunkt werden die Fortschritte, die die Menschheit unterdessen gemacht hat, die aufgeklärten Nationen beider Welten nichts vermissen lassen.

5. Vom Einfluss der Revolution in Amerika auf Europa

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Wenn zu der kleinen Zahl der Nationen, die mit Klugheit und Erfolg Handel treiben, eine weitere hinzukommt, wird sie zwangsläufig jene Konkurrenz verstärken, deren natürliche Folge es ist, die Transportkosten zu vermindern. Dies aber ist ein Vorteil fur alle Nationen, die kein anderes echtes Interesse haben, als sich in ausreichender Menge und zum geringstmöglichen Preis jene Erzeugnisse zu verschaffen, welche ihnen durch Bedürfnis oder Gewohnheit notwendig sind. Schließlich wird sich der Amerikahandel nicht notwendigerweise auf die Güter beschränken, die er heute nach Europa liefert. Wie viele Stoffe birgt dieses riesige Land, die unseren Naturforschern heute noch kaum bekannt sind und von denen seine Bewohner fast nichts wissen, deren Nutzen uns der Handel aber bald lehren wird. Selbst wenn sich die Vermutung, die wir hier wagen, nicht auf die Kenntnis einer Reihe von Erzeugnissen stützen könnte, von denen sich leicht voraussagen lässt, dass sie eines Tages Handelsgüter werden, dürfte man diese Voraussage doch nicht als aus der Luft gegriffen betrachten. Es würde der fest gefügten Ordnung der Natur in jeder Hinsicht widersprechen, wenn sich auf diesem weitläufigen Kontinent nur Erzeugnisse finden, die in Europa unnütz oder allgemein verbreitet wären. Strenge Moralisten werden vielleicht einwenden, dass dieser Vorteil, der in uns bloß neue Bedürfnisse weckt, als ein Übel betrachtet werden muss. Doch wir antworten ihnen, dass er uns im Gegenteil neue Hilfsquellen eröffnen wird, um diejenigen Bedürfnisse zu befriedigen, denen wir von Natur aus unterworfen sind. In allen Ländern und zu allen Zeiten, in denen es große Vermögensunterschiede zwischen den Menschen gibt, werden sie eingebildete Bedürfnisse haben, und die Ansteckungskraft des Beispiels wird selbst diejenigen diese Bedürfnisse empfinden lassen, die von der Armut gehindert werden, sie zu befriedigen. Die Vermehrung der Mittel, um diesen eingebildeten Bedürfnissen nachzukommen, bedeutet also, tatsächlich Gutes zu tun, denn sie bedeutet, die Folgen der Vermögensunterschiede weniger spürbar und weniger gefährlich fur die Ruhe der Gemeinschaft zu machen. Wenn es jedoch jemals dem langsamen aber sicheren Einfluss eines guten Systems der Gesetzgebung gelingt, diese Unterschiede in Europa zu beseitigen, werden die eingebildeten Bedürfhisse, die allein durch diese Ungleichheit entstanden sind, mit ihr zusammen verschwinden - oder vielmehr, es wird von ihnen nur das übrig bleiben, was notwendig ist, um der Menschheit jene Aktivität, Betriebsamkeit und Neugier zu erhalten, die für ihren Fortschritt und damit zu ihrem Glück notwendig sind. Wir hätten zweifellos gewünscht, unter die Vorteile, die aus unseren Beziehungen mit Amerika erwachsen, auch das Beispiel einer vollständigen und unbeschränkten Freiheit des Handels zu zählen, das eine große Nation uns gibt. Doch wenn jene jungen Republiken in anderen Bereichen der Politik eine Vernunft und einen Grad an Aufklärung bewiesen haben, der dem der aufgeklärtesten Nationen überlegen war, so scheint es, dass sich bei ihnen in Hinsicht auf die Steuern und den Handel, diese beiden wichtigen und eng miteinander verbundenen Gegenstände, einige Reste der Vorurteile der englischen Nation erhalten haben. Sie scheinen nicht genügend begriffen zu haben, dass es im Interesse Amerikas liegt, allen Erzeugnissen und Nationen vollständige Freiheit der Ein- und Ausfuhr, des Verkaufs und des Kaufs ohne Ausnahme und ohne Privileg zu gewähren, unabhängig davon, ob die europäischen Nationen dem Handel seine Freiheit

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wiedergeben, ob sie ihn in Ketten lassen oder ihm neue anlegen. Irregeleitet von jenen merkantilen Ansichten, von denen ihnen Europa ein Beispiel gibt, haben einige Staaten den Handel bereits mit indirekten Steuern belastet. Sie haben nicht erkannt, wie leicht es wäre, in einem Land, wo die überwiegende Mehrheit der Bürger Grundbesitzer sind, wo das Grundeigentum weitaus gleichmäßiger verteilt ist als in Europa und wo die Besteuerung sehr gering ist, eine direkte Steuer auf den Ertrag des Grund und Bodens einzurichten und zu erheben. Im Übrigen wäre für die gleichen Bürger eines freien Staates ein System durchaus vorteilhaft, in dem sie keinen Schwindeleien zum Opfer fallen würden, bei denen leere Vorwände dafür herhalten müssen, sinnlose Steuern zu erheben, weil sichtbar ist, was eine neue Steuer jeden von ihnen kosten würde. Eine solche Steuer würde die Erschließung des Landes nicht behindern, denn es ließe sich, nach dem Beispiel Frankreichs, leicht eine Frist festsetzen, während welcher der neu urbar gemachte Grund und Boden von dieser Abgabe ausgenommen wäre. Dass die Amerikaner nur über eine geringe Menge Bargeld verfugen, stellt keinen Einwand dar, denn nicht nur in Amerika, wo die Steuern sehr gering sind, sondern auch in Nationen, die stärker mit Abgaben belastet sind, macht das Bargeld in Metall oder Noten, das notwendig ist, um die Steuer zu bezahlen, nur einen sehr kleinen Teil dessen aus, was bei Handelsgeschäften und im täglichen Gebrauch eingesetzt wird. Wenn man die Geschichte der Regierung der Vereinigten Staaten seit der Unabhängigkeitserklärung überblickt, dann wird man nicht in allen Staaten gleichermaßen gut zusammengestellte Verfassungen finden. Es gibt keine, in der man nicht irgendwelche Mängel bemerken kann. Nicht alle Gesetze, die seit der Unabhängigkeit erlassen wurden, sind gleichermaßen gerecht und weise, doch nirgendwo in der politischen Gesetzgebung und der Strafgesetzgebung wird man grobe Fehler oder der Unterdrückung dienende oder verderbliche Prinzipien finden. Umgekehrt deutet in den Handels- und Finanzunternehmungen alles auf einen beständigen Kampf zwischen den alten europäischen Vorurteilen und den Prinzipien von Gerechtigkeit und Freiheit hin, die jener achtbaren Nation so teuer sind. Oft haben allerdings die Vorurteile den Sieg davongetragen. Indessen werden, auch wenn man diese Mängel zugesteht, die Liebe der Amerikaner zur Gleichheit, ihr Respekt vor der Freiheit, vor dem Eigentum und die Gestalt ihrer Verfassungen ohne Zweifel verhindern, dass es dort jemals jene Handelsbeschränkungen geben wird, die man entweder direkt oder indirekt durch die Vergabe unangemessener Rechte errichtet, noch jene exklusiven Privilegien, noch jene Monopole auf bestimmte Erzeugnisse; dass dort jemals jene Haussuchungen für Recht erklärt werden, die so beleidigend, so gegen jedes Bürgerrecht sind, noch jene barbarischen Gesetze gegen den Schmuggel, noch jene exklusiven Zünfte der Kaufleute oder Arbeiter, noch schließlich all das, was der merkantilistische Geist und die Wut alles zu regeln, um alles zu unterdrücken, in Europa an absurden Schikanen hervorgebracht haben. Uns aber wird das Beispiel Amerikas zumindest lehren, ihre Unsinnigkeit zu erkennen und ihre Ungerechtigkeit zu empfinden. Ich habe in keiner Weise über den Handel mit Tabak zwischen Frankreich und Amerika gesprochen, denn nicht Frankreich betreibt diesen Handel, sondern die Handelsgesellschaft, die das Privileg dazu hat und deren Interessen gänzlich andere sind als die

5. Vom Einfluss der Revolution in Amerika auf Europa

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der Nation, wenn sie denen der Nation nicht geradewegs entgegengesetzt sind. Mit welcher Nation oder auf welche Art sich dieser Handel auch immer vollzieht, er ist immer gleich schädlich. Eine Handelsgesellschaft wird von der anderen Handelsgesellschaft kaufen, und selbst wenn man, indem man dieses Erzeugnis von den Amerikanern kauft, noch einen Teil jenes Vorteils wahren würde, den ein Tauschhandel im Vergleich zu einem Handel gegen Geld hat, so sind die Nebenkosten jeder Art, die ein solcher Monopolhandel mit sich bringt, um so viel höher als dieser Vorteil, dass er praktisch hinfallig wird.

Schluss Dies waren meine Gedanken über den Einfluss der amerikanischen Revolution. Ich glaube nicht, dass ich die Bedeutung dieser Revolution übertrieben habe, noch dass ich mich von der Begeisterung habe fortreißen lassen, die das edle und anrührende Schauspiel erweckt, das dieses junge Volk der Welt darbietet.

Der wahre und der falsche Volksfreund Fragment des Theophrast, kürzlich entdeckt in der Bibliothek der Mönche vom Berg Athos.

(1790-1791)

Vorwort Zur Zeit des Theophrast besaßen die griechischen Städte nur ein leeres Schattenbild von Unabhängigkeit und Freiheit. Untereinander entzweit durch die Waffen und das Gold der Nachfolger Alexanders, warteten sie auf einen Herrn. Die Wankelmütigkeit des athenischen Volkes, seine Undankbarkeit gegenüber seinen besten Generälen und seinen ehrwürdigsten Bürgern, die es aus einer Laune heraus verurteilte, um es am nächsten Tag zu bereuen; seine Wut, eigenmächtig über all das zu entscheiden, wovon es nichts verstand und Gesetzgeber, Richter und Verwalter der öffentlichen Gelder zugleich sein zu wollen, waren die Hauptursachen seiner Leiden. Die Laster der Athener aber waren die Verbrechen ihrer Redner, die ihnen schmeichelten, um sie zum Werkzeug ihrer Habsucht, ihres Ehrgeizes oder ihrer Rache zu machen und nur deshalb danach strebten, sie zu fuhren, um sie an den heimischen oder fremden Tyrannen zu verkaufen, der bereit war, für sie zu bezahlen. Gegen diese Redner, die schließlich den Untergang Griechenlands vollendeten, scheint Theophrast hier seine Pfeile gelenkt zu haben. Was Philodemos, den Volksfreund, betrifft, so lebte Theophrast zur Zeit des Phokion, und man berichtet, dass beide eng befreundet waren.

Philodemos ersteigt nur die Tribüne, um dem Volk edle und nützliche Ratschläge zu geben. Er spricht aus, was er fur wahr hält, ohne daran zu denken, ob er mit Beifall angehört wird oder ob seine Worte Erfolg haben werden. Wenn das Volk falsche Ansichten hat, streitet er dagegen. Wenn es Fehler begangen hat, hält er ihm diese Fehler vor und manchmal nötigt er es, sie wieder gutzumachen. Wenn er erscheint, schöpfen die guten Bürger Hoffnung, doch das Herz der verderbten Männer erzittert in heimlichem Schrecken. Wenn er auf der Straße neben einem Bürger geht, ist es niemals einer, den die Gunst des Volkes zum Herrn der Stadt macht, sondern einer, der sich um das Vaterland verdient gemacht hat oder einer, der von den Bösen verfolgt wird. Weder findet man unter seinen Freunden einen käuflichen Mann, noch unter seinen Feinden irgendeinen, der der Republik von Nutzen sein kann. Hat das Volk, irregeleitet von den Rednern, Gewalttaten begangen, spiegeln die Züge des Philodemos den tiefen Kummer seiner Seele. Er hätte sich der Wut des Volkes aus-

6. Der wahre und der falsche Volksfreund

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gesetzt, um ihm ein Verbrechen zu ersparen. Weil er weder seine Empörung noch seinen Schmerz vor ihm verbirgt, setzt er sich seinem Groll aus. Er sucht keine leeren Entschuldigungen im Irrtum des Volkes, in seinen Absichten oder in den Fehlem deijenigen, an denen es Rache geübt hat. Er fragt nicht, ob das vergossene Blut denn wirklich so rein war?1 Er seufzt laut um die Hoheit der verletzten Gesetze, um die beleidigten Rechte der Natur. Er wagt es, den Bürgern zu sagen: Derjenige, den ihr der Rache geopfert habt und der doch nur dem Gesetz hätte geopfert werden dürfen, war vielleicht der Unterschlagung oder des Verrats schuldig. Ihr aber, ihr seid des Mordes schuldig.2 Wenn das Volk sich im übermäßigen Gefühl seiner Freiheit und Macht ergeht, wenn es Gehorsam gegenüber den Gesetzen mit Knechtschaft verwechselt und eine wohlgeordnete Republik mit der Tyrannei der Herrschenden, wenn es alles selbst machen will, um alles den Intriganten zu überlassen, die es verfuhren: dann wagt Philodemos, ihm zu sagen, dass es Freiheit nur dort gibt, wo die Gesetze geachtet werden; wo das Volk den Oberhäuptern, die es sich gewählt hat, zu gehorchen weiß; wo die Bürger nur das tun, worauf sie sich verstehen und nur über das urteilen, worüber sie urteilen können. Versucht jemand, das Volk durch grundlose Furcht in Aufruhr zu versetzen, Unruhen und Verdächtigungen zu säen, um seinen Groll zu erregen und seine Leidenschaften anzustacheln? Philodemos bemüht sich, die eingebildeten Ängste und absurden Verdächtigungen zu zerstreuen. Ruhig verkündet er, dass er diejenigen, die man täuscht, ebenso sehr bedauert, wie er die Aufrührer verachtet. Ist er selbst Gegenstand der Verleumdung? Er stellt ihnen nichts weiter entgegen als sein ganzes Leben und neue Dienste. Mühelos vergibt er den Leichtgläubigen und trachtet zu vergessen, sogar die Existenz seiner Verfolger.

Demagoras forscht sorgfaltig, welche Meinung der Mehrheit am angenehmsten ist und übertreibt sie. Er forscht, welche Leidenschaften das Volk bewegen und schmeichelt ihnen. Er spendet den Ungerechtigkeiten Beifall, die das Volk begeht. Er entschuldigt seine Gewalttaten und hätschelt jeden seiner Fehler. Haben ein paar Briganten einen Aufruhr angezettelt? Das gute Volk!, ruft er aus, ich liebe es dafür umso mehr. Der Wille des Volkes ist ihm Gesetz: Man muss daher allem zustimmen, was das Volk fordert, nicht in den ordentlichen Versammlungen, sondern wenn es im Tumult in den Straßen und unter den Säulengängen zusammenkommt. Dort vor allem liebt Demagoras, seinen Rat einzuholen. Für ihn kann sich das Volk niemals genug Macht vorbehalten. Vielleicht wird er ihm morgen vorschlagen, einen Feldzug zu planen und vom Platz der Volksversammlung aus selbst seine Armeen und Flotten zu befehligen. Das Volk hat keine Forderungen? Demagoras hat Hilfsredner zu seinen Diensten, um ihm neue einzugeben. Schon der Anblick seines Gefolges lässt die guten Bürger erschauern. Man sieht darin selbst solche, die ihren Vater angeklagt und entehrt haben. Wenn der Areopag einige 1 2

Der Ausspruch stammt von Barnave, anlässlich der Ermordung von Foulon und Bertier. Anspielung auf eine von Aulus Gellius berichtete Begebenheit, die zu bekannt ist, um sie hier einzufügen.

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dieser Leute zur Rechenschaft zieht, dann schmäht Demagoras den Areopag gegenüber dem Volk als Feind der Freiheit. Hat sich ein Bürger durch seine Tugenden empfohlen oder werden seine Talente gerühmt? Hat er sich Ruhm im Kampf für die Freiheit erworben? Aus Liebe zur Gleichheit erklärt sich Demagoras zu seinem Feind. Ständig fuhrt er das Wort Freiheit im Mund. Doch als es darum ging, der gewaltsamen Verschleppung der Einwohner Thrakiens, die man zur Arbeit in den Bergwerken zwang, ein Ende zu setzen, ließ Demagoras, der selbst Minen besitzt, diese Räuberei von Demophag verteidigen. Demophag, der gewandteste von Demagoras' Rednern hat dem athenischen Volk erklärt, dass es verloren wäre, wenn Demagoras einige Talente entgehen würden. Demagoras spricht ohne Unterlass von Gleichheit. Doch als der König von Mazedonien Herrscher war, hat Demagoras für seine Familie all die Gunstbezeigungen erwirkt, die sein bisschen Glanz ihm verschaffen konnte. Und Demagoras ließ von weit her einen in Sittenverderbnis erzogenen Fürsten kommen, um ihn zum Beschützer des Volkes zu machen. Demagoras wird vielleicht noch einige Jahre der Liebling des Volkes sein, doch er wird sein Tyrann werden.

Über die Bedeutung des Wortes revolutionär 1. Juni 1793 (1) (1) Journal d'Instruction sociale

Aus Revolution haben wir revolutionär gebildet, und dieses Wort bezeichnet in seiner allgemeinen Bedeutung alles, was zu einer Revolution gehört. Geprägt wurde es jedoch für die unsrige, für diejenige, die in wenigen Jahren aus einem Staat, der länger als jeder andere dem Despotismus unterworfen war, die einzige Republik gemacht hat, in der jemals eine vollständige Gleichheit der Rechte Grundlage der Freiheit war. Das Wort revolutionär lässt sich mithin nur auf Revolutionen anwenden, die die Freiheit zum Ziel haben. Man sagt von einem Menschen, er sei revolutionär gesinnt, wenn er den Prinzipien der Revolution anhängt, wenn er in ihrem Sinne handelt und bereit ist, sich für sie zu opfern. Ein revolutionärer Geist ist ein Geist, der eine Revolution zugunsten der Freiheit hervorrufen und fuhren kann. Ein revolutionäres Gesetz ist ein Gesetz, das die Weiterführung dieser Revolution und die Beschleunigung oder Regulierung ihres Fortschritts zum Gegenstand hat. Eine revolutionäre Maßnahme ist eine solche, die den Erfolg der Revolution zu sichern vermag. Man begreift also, dass diese Gesetze und Maßnahmen nicht zu denjenigen zählen, die einer friedlichen Gesellschaft gemäß sind, sondern es ihren Charakter ausmacht, nur in Zeiten einer Revolution angemessen, in anderen Zeiten jedoch sinnlos und ungerecht zu sein. Ein Gesetz beispielsweise, das in Frankreich die Familiennamen abschaffen würde, derart, dass jeder einen Vornamen trüge, dem er in Urkunden seinen Vatersnamen hinzufugte, um eine der guten Ordnung widersprechende Verwirrung zu vermeiden, ein solches Gesetz könnte man revolutionär nennen. In einem aufgeklärten Land jedoch, wo die Prinzipien der Gleichheit durch lange Gewohnheit geheiligt sind, wäre es absurd, die Vererbung eines Namens zu fürchten und es läge daher eine geringfügige Ungerechtigkeit darin, sie zu verbieten. In Frankreich jedoch, wo die Vorurteile der Ungleichheit zwar unterdrückt, jedoch nicht ausgelöscht sind und wo der Hass gegen diese Vorurteile noch zu brennend ist, um sie der ganzen Verachtung anheim fallen zu lassen, die sie verdienen, in Frankreich könnte ein solches Gesetz sinnvoll sein: es würde jeder Hoffnung, den Adel oder auch nur die Unterschiede der Geburt Wiederaufleben zu lassen, ein Ende machen. In Rom, wo die Verfassung und beinahe alle sozialen Institutionen die Ungleichheit heilig hielten, hatte man die Vererbung der Familiennamen systematisch eingerichtet.

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Man trug denjenigen des Stamms, dann den des Zweigs und manchmal noch zusätzlich den einer weiteren Verästelung. Doch in Ländern, in denen man entweder gleiche Freiheit genoss oder unter der Gleichheit der Knechtschaft seufzte, in der athenischen Republik wie in Persien, waren Familiennamen unbekannt. In Griechenland war es seit ältester Zeit Brauch, dem Vornamen den Namen des Vaters hinzuzufügen. Auf diese Art werden bei Homer die beiden Ajax unterschieden, und wir finden keinen Hinweis auf das Bedürfnis nach einer anderen Unterscheidung. Es wäre jedoch andererseits unzutreffend, ein Gesetz revolutionär zu nennen, welches außerehelich geborenen Kindern einen gleichen Anteil am Vermögen ihrer Mutter zugestehen würde, respektive am Vermögen des Vaters, der sie anerkannt hat. Nicht, dass ein solches Gesetz der Revolution nicht sehr nützlich wäre. Doch ein solches Gesetz wird gebieterisch von den höchsten Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit gefordert, und unterscheidet sich nicht von anderen gerechten und weisen Gesetzen, die in allen Ländern und zu allen Zeiten richtig sind. Man hat das Wort revolutionär zu oft missbraucht. Zum Beispiel sagt man gewöhnlich: Wir müssen ein revolutionäres Gesetz erlassen, wir müssen revolutionäre Maßnahmen ergreifen. Meint man damit Gesetze und Maßnahmen, die nützlich für die Revolution sind? Dann hat man nichts gesagt. Versteht man darunter Maßnahmen, die nur dieser Zeit angemessen sind? Dann sagt man die Unwahrheit. Denn wenn eine Maßnahme sowohl in Zeiten der Ruhe wie auch in Zeiten der Revolution richtig war, dann ist sie darum nur umso besser. Versteht man darunter eine gewaltsame, außergewöhnliche, den Regeln der gesellschaftlichen Ordnung und den allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit widersprechende Maßnahme? Das sind keine ausreichenden Gründe, um eine solche Maßnahme zu ergreifen. Man muss zusätzlich beweisen, dass sie zweckmäßig ist und von den Umständen erfordert und gerechtfertigt wird. Es ist vielleicht sinnvoll, dem Ursprung dieses Missbrauchs des Wortes revolutionär auf den Grund zu gehen. Als es darum ging, die Freiheit auf den Ruinen des Despotismus und die Gleichheit auf denen der Aristokratie aufzubauen, hat man sehr gut daran getan, unsere Rechte nicht in den Kapitularien Karls des Großen oder in den ripuarischen Gesetzen zu suchen. Man gründete sie auf die ewigen Gesetze der Vernunft und der Natur. Doch der Widerstand der Anhänger des Königtums und die Missbräuche zwangen bald dazu, harte, den Umständen entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Daraufhin meinten die Anti-Revolutionäre, ihre Gegner in Verlegenheit bringen zu können, indem sie die gleichen Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit ins Feld führten, mit denen man sie so oft besiegt hatte. Ständig hörte man diejenigen sich auf die Rechteerklärung berufen, die deren Einbringung als absurd und gefährlich abgelehnt hatten. Da man sie häufig nur mit einer recht subtilen Logik widerlegen konnte und sich des Erfolgs nicht immer sicher war, dachte man sich den Begriff Gelegenheitsgesetz aus, der, weil er bald der Lächerlichkeit anheim fiel, durch den Begriff revolutionäres Gesetz ersetzt wurde. Die überlieferten Gesetze fast aller Völker sind nichts weiter als eine Sammlung von Anschlägen der Gewalt gegen die Gerechtigkeit und von Verletzungen der Rechte aller

7. Über die Bedeutung des Wortes revolutionär

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zugunsten der Interessen weniger. Die Politik aller Regierungen bietet nichts als eine Folge von Falschheiten und Gewalttätigkeiten. Die Philosophen beschränkten sich daher meistens darauf, dieses System der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung zu bekämpfen, indem sie Prinzipien einer universellen Moral aufstellten und in ihrer metaphysischen Allgemeinheit zur Anwendung brachten. Sie beschäftigten sich kaum mit den Ausnahmen von diesen Prinzipien, weil sie immer wieder sahen, wie die Unterdrücker alle Missbräuche und Verbrechen meinten rechtfertigen zu können, indem sie sie als solche, von einer gebieterischen Notwendigkeit geforderten Ausnahmen darstellten. In der Verlegenheit, zu erkennen, was in Anbetracht der Umstände legitim ist, fand man es einfacher, eine vage Entschuldigung in diesen Umständen zu finden und mit Begeisterung etwas als notwendig zu verkünden, wovon man nicht genau wusste, wie man seine Rechtmäßigkeit beweisen sollte. Heute ist es vielleicht an der Zeit, an die Stelle dieses bequemen aber gefährlichen Vorgehens strengere Regeln zu setzen. Wenn ein Land seine Freiheit wiedererlangt und diese Revolution zwar entschieden, aber noch nicht beendet ist, dann gibt es notwendigerweise eine große Zahl von Menschen, die eine Revolution in umgekehrter Richtung - eine Konterrevolution - hervorrufen wollen, und die, wenn sie sich unter die Menge der Bürger mischen, eine Gefahr darstellen würden, erlaubte man ihnen, gemeinschaftlich zu handeln und alle um sich zu scharen, die ihre Gefühle teilen, jedoch von der Furcht oder der Trägheit zurückgehalten werden. Hier haben wir also eine Gefahr, gegen die man sich rechtmäßig verteidigen muss. Folglich darf jede, selbst eine absichtslose Handlung, die diese Gefahr vergrößert, durch ein Gesetz unterdrückt werden und von den Bürgern kann alles gefordert werden, was dazu beiträgt, ihr vorzubeugen. Der Gesellschaftspakt hat den gleichen und vollständigen Genuss der Rechte zum Gegenstand, die dem Menschen eigen sind und ist auf die gegenseitige Garantie dieser Rechte gegründet. Diese Garantie erlischt jedoch gegenüber Individuen, die ihn auflösen wollen. Wenn es gewiss ist, dass es solche Individuen in einer Gesellschaft gibt, hat man folglich das Recht, Maßnahmen zu ergreifen, um sie aufzuspüren und, wenn man sie aufgespürt hat, gelten im Hinblick auf sie nur die Grenzen des natürlichen Rechts der Selbstverteidigung. Genauso verhält es sich, wenn ein sehr wertvolles Recht bedroht ist und es, um dieses sehr wertvolle Recht zu erhalten, notwendig wäre, auf die Ausübung eines anderen, weniger bedeutenden Rechts zu verzichten. Es bedeutet dann keine Verletzung jenes letzteren Rechts, wenn man diesen Verzicht fordert. Denn jenes letztere Recht hört nun auf zu existieren, da es, für denjenigen, der es einfordert, nichts anderes bedeuten würde, als die Freiheit, das wertvollere Recht eines anderen zu verletzen. Während des Brandes von London im Jahre 1766 ließ man es zu, dass das Feuer sich ungehindert ausbreitete, weil das Gesetz es verbot, Häuser abzureißen. Man ließ Möbel und Waren der Abwesenden verbrennen, weil das Gesetz es verbot, Türen aufzubrechen. Wir sollten dieses Beispiel nicht nachahmen. Will man in England jedoch das Gesetz verletzen, will man dort dem König die Möglichkeit geben, nach Gutdünken Akte der Tyrannei zu begehen, dann behauptet

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man eine Verschwörung. In den letzten Regierungsjahren von Charles II hat man diesen Vorgang sich zweimal wiederholen sehen. George I versäumte es nicht, sich dieser Methode zu bedienen und im Augenblick ahmt George III sie ruhmreich nach. Man sollte also auch in umgekehrter Hinsicht dem englischen Beispiel nicht folgen. Je mehr ein revolutionäres Gesetz sich von den unumstößlichen Prinzipien der allgemeinen Gerechtigkeit entfernt, desto mehr muss man seine Strenge auf das begrenzen, was die öffentliche Sicherheit fordert. In England hat man aus der bloßen Handlung, die Messe zu lesen, ein Kapitalverbrechen gemacht. Dieses Gesetz wurde niemals zur Anwendung gebracht und diente einzig dazu, willkürliche Härten zu legalisieren. In einem guten System der Gesetzgebung bleiben die gewöhnlichen Gesetze in Kraft, solange sie nicht widerrufen werden. In revolutionären Gesetzen hingegen muss bereits eine Begrenzung ihrer Dauer festgeschrieben sein und wenn sie nicht verlängert werden, müssen sie zum festgelegten Zeitpunkt ihre Gültigkeit verlieren. Zu einer Zeit, als man Grund hatte, jeden Papisten als Feind zu betrachten, konnte die englische Nation den Katholiken legitimerweise verbieten, Waffen zu tragen. Doch das Gesetz blieb noch in Kraft, nachdem es längst absurd und tyrannisch geworden war und nur noch als Mittel verächtlicher Denunziationen und schändlicher Erpressungen diente. Revolutionäre Gesetze und Maßnahmen unterliegen also, genau wie alle anderen, den strengen Regeln der Gerechtigkeit. Es sind Sicherheitsgesetze und keine Gewaltgesetze. Die Freiheit, seinen Aufenthaltsort - selbst ohne sinnvollen Grund - zu wechseln, die Freiheit der Emigration und die Freiheit, über die Erzeugnisse, die man geerntet oder gekauft hat, nach eigenem Ermessen zu verfügen, sind auf dem Naturrecht gegründet. Dennoch kann man sie unseren Gesetzen über die Pässe, die Emigranten und die Grundnahrungsmittel nicht entgegenhalten, solange diese Gesetze für den Erhalt der Gesellschaft notwendig sind. Man muss diese Gesetze also für sich untersuchen. Hat man zum Beispiel bei den Überlegungen, mit denen man die prinzipielle Gerechtigkeit und Vorteilhaftigkeit einer unbeschränkten Freiheit des Handels mit Nahrungsmitteln begründet, jemals den Fall in Betracht gezogen, dass der Preis der Erzeugnisse in einer Währung veranschlagt wird, deren tatsächlicher Wert durch die Umstände abnimmt, derart, dass es gewinnbringend sein könnte, ein Erzeugnis zu horten, selbst wenn ein Überangebot bald die tatsächlichen Preise sinken lassen muss? Man hat den Fall außer Betracht gelassen, dass der Umfang der aus dem Staatschatz bezahlten oder finanzierten Käufe so groß wird, dass private Käufer, die zu größerer Sparsamkeit gezwungen sind, verdrängt werden. Ebenso hat man die Gefahr, die daraus erwächst, ein Maximum festzulegen, bisher nicht der Gefahr gegenübergestellt, dass der Umfang dieser staatlichen Käufe immer weiter zunimmt und eine große Nation zuletzt von ihrer Regierung ernährt werden muss. Wenn man auch die gegenstandslose Furcht vor dem Monopol oder den Wucherkäufen vollständig zerstreut hat, so hat man doch nicht den Fall in Betracht gezogen, dass mehrere große Mächte, die sich gegen eine nach Freiheit strebende Nation vereinigt haben, den Plan fassen, diese auszuhungern, weil es ihnen nicht gelungen ist, sie zu besiegen; den Fall, dass diese Mächte in jener Nation selbst Komplizen finden und dass diese gleichermaßen erfolgreich entweder betrügerische Handelsgeschäfte abschließen oder solche fingieren, um Furcht und Plünderungen auszu-

7. Über die Bedeutung des Wortes revolutionär

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lösen; schließlich den Fall, dass es, auf andere Weise als durch gesetzliche Handelsbeschränkungen, zu einem Hungerpakt kommen könnte. Kann man schließlich die Macht des Gesetzes, in einem Land, das keine durch Jahre der Gewohnheit geheiligte Verfassung hat, mit derjenigen vergleichen, die es in einem Land hat, wo der Respekt vor dem Gesetz, das so lange gilt, bis es von einer legitimen Autorität reformiert wird, eine der ersten Bürgertugenden geworden ist? Wir sollten nicht meinen, dass wir alle Exzesse rechtfertigen können, indem wir Die Notwendigkeit, der Tyrannen Entschuldigung für sie verantwortlich machen. Doch hüten wir uns genauso davor, die Freunde der Freiheit zu verleumden, indem wir die Gesetze, die sie durchsetzen und die Maßnahmen, die sie vorschlagen, nach Regeln beurteilen, die in ihrem ganzen Umfang nur für Zeiten der Ruhe gelten. Wenn der Eifer, selbst für die gerechteste aller Sachen, manchmal Schuld auf sich lädt, bedenken wir auch, dass die Mäßigung nicht immer Weisheit ist. Erlassen wir revolutionäre Gesetze, doch nur um den Zeitpunkt zu beschleunigen, an dem wir sie nicht länger benötigen. Verabschieden wir revolutionäre Maßnahmen, nicht um die Revolution länger oder blutiger zu machen, sondern um sie zu vervollständigen und schneller zu vollenden. Die Veränderung der Bedeutung der Worte zeugt von einer Veränderung in den Dingen selbst. Aristokratie bedeutet Herrschaft der Weisen. Greise regierten kraft der Autorität ihrer Erfahrung arme und wenig zahlreiche Stämme. Später, nachdem sich diese Stämme zu prachtvollen und volkreichen Städten entwickelt hatten, regierte eine kleine Zahl von Reichen voller Hochmut. Seitdem ist Aristokratie berechtigterweise gleichbedeutend mit Tyrannei geworden. Die Greise trugen den Göttern die Wünsche ihrer Familien vor. Ein Priester war, gemäß der Etymologie dieses Wortes, ein Ältester. Es ist ein weiter Weg von dort bis zu Leuten, die Prophezeiungen verkaufen, Wunder vorspiegeln, die Güter der Erde stehlen, indem sie den Himmel versprechen, und Menschen im Namen Gottes ermorden.

III. Verfassung

Über die Notwendigkeit, die Verfassung durch die Bürger ratifizieren zu lassen [1789]

Erörterung der folgenden Frage: Kann eine Nation einer Versammlung die Vollmacht erteilen, ihr eine Verfassung zu geben, oder eine solche in ihrem Namen anzunehmen, ohne sich das Recht auf deren unmittelbare Ratifikation vorzubehalten? Oder muss sie sich diese Vollmacht vorbehalten?

I. Untersucht man diese Frage nur dem Recht nach, so kann es, wie ich zunächst bemerken möchte, dabei um nichts anderes gehen als um die individuelle Zustimmung, die von allen Bürgern gegeben oder verweigert wird. Denn wenn beispielsweise ein Dorf einer von ihm gewählten Versammlung das Recht verleihen kann, eine Verfassung auszuarbeiten oder anzunehmen, so ist es offensichtlich, dass mehrere Dörfer dieses Recht ebenso einer gemeinsamen Versammlung verleihen können und dass somit auch eine ganze Nation es nach und nach seinen Repräsentanten anvertrauen kann. Man kann dieselbe Frage aber auch nach Grundsätzen der Nützlichkeit behandeln und dementsprechend fragen, ob es nicht von Vorteil ist, dass die von einer Nationalversammlung ausgearbeitete Verfassung durch einen Konvent der Abgeordneten aller Provinzen ratifiziert werden muss.

II. Man muss unterscheiden zwischen der Vollmacht, eine Verfassung zu geben, und der Vollmacht, diese anzunehmen. Im ersten Fall sind die Mitglieder gewählt, bevor die Verfassung überhaupt existiert, und man unterwirft sich im Voraus denjenigen, die sie machen werden. Im zweiten Fall wählt man die Mitglieder, um eine bereits bekannte Verfassung zu billigen oder zu verwerfen. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied, denn im zweiten Fall sind die Grenzen der Vollmacht weitaus genauer bestimmt, und man kann die Mitglieder der betreffenden Versammlung anhand einer sehr viel besseren Kenntnis ihrer Absichten und Meinungen wählen. Folglich kann man fragen, ob eine Nation das Recht zur Ausarbeitung einer Verfassung vom Recht ihrer Ratifikation un-

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III. Verfassung

terscheiden und jedes einer gesonderten Versammlung anvertrauen muss. Ich werde diese verschiedenen Fragen im Folgenden untersuchen.

III. Es wäre unsinnig anzunehmen, eine Nation werde einer Versammlung die Vollmacht übertragen, eine beliebige, auf unabsehbare Zeit gültige Verfassung auszuarbeiten. Also muss die Vollmacht dieser Versammlung hinsichtlich ihres Umfangs und der Geltungsdauer der Gesetze, die zu machen sie beauftragt ist, beschränkt sein. Die Schranken, welche die Vollmacht der Versammlung als ganze betreffen, müssen die Form einer Rechteerklärung haben, von deren Artikeln sie keinen verletzen darf. Die Schranken, die die Geltungsdauer der Verfassungsgesetze betreffen, dürfen sich ihrem zeitlichen Umfang nach nicht weiter als die Spanne einer Generation in die Zukunft erstrecken. Man kann nämlich jedes von der Mehrheit einer Nation akzeptierte Gesetz als einstimmig angenommen betrachten, da man - angesichts der Notwendigkeit, ein Gesetz entweder anzunehmen oder es abzulehnen, und der Meinung der größten Zahl den Vorzug zu geben - voraussetzen kann, dass diejenigen, die einen Gesetzesvorschlag ablehnen, gleichwohl den Wunsch haben, sich ihm zu unterwerfen, sofern er der Meinung der Mehrheit entsprechen sollte. Die dieserart einhellig zustande gekommene Zustimmung zu einem Gesetz kann folglich für den gesamten Zeitraum Geltung beanspruchen, in welchem die aus den gerade Lebenden gebildete Mehrheit fortbesteht, da alle die Möglichkeit hatten, sich dem betreffenden Gesetz für diesen Zeitraum zu unterwerfen. Aber diese Zustimmung besitzt nicht mehr denselben Wert, sobald sie nicht mehr von der Mehrheit der Nation getragen wird. Die Geltungsdauer jedes Verfassungsgesetzes wird also in Wahrheit begrenzt durch die Zeit, die notwendigerweise verstreichen muss, bis die Hälfte der im Moment der Annahme des Gesetzes lebenden Bürger durch neue Bürger ersetzt worden ist. Dieser Zeitraum lässt sich leicht bestimmen und beträgt etwa zwanzig Jahre, wenn man den Beginn der Volljährigkeit auf einundzwanzig Jahre festlegt, achtzehn Jahre, wenn man ihn auf fünfundzwanzig Jahre datiert. Diese Beobachtung gilt für eine Verfassung, die von einer Versammlung verabschiedet wurde, da in diesem Fall die Bürger mehrheitlich und damit einstimmig einverstanden waren, sich dieser Verfassung zu unterwerfen. Die Bestimmung der längstmöglichen Geltungsdauer, die einem unwiderruflichen Gesetz zuteil werden kann, erscheint mir bedeutsam. Denn niemand wagt heute mehr zu behaupten, dass es legitimerweise ewig währende Gesetze geben könnte, doch wäre es ebenso unvernünftig und gefährlich, wenn alle Gesetze jederzeit widerrufen werden könnten. Man wird also nicht umhin kommen, bestimmten Gesetzen eine befristete Dauer zu verleihen, was jedoch erneut einen Nachteil mit sich bringt. Denn nehmen wir nur einmal an, man legte diese Dauer auf zehn Jahre fest, dann könnte ein Bürger, der verpflichtet ist, diesen Gesetzen zu gehorchen, ohne an ihrer Entstehung beteiligt gewesen zu sein, die Frage aufwerfen, warum man ihm dieses Recht verwehrt, wo er doch sein Bürgerrecht bereits im sechsten Jahr der Geltung eines bestimmten Gesetzes erhielt, während ein anderer Bürger, der sein Bürgerrecht erst im elften

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Jahr erhalten wird, umgehend in den Genuss der Vollmacht gelangen wird, es zu diskutieren und zu reformieren. Die Festlegung des Zeitraumes, in dem jedes Gesetz als unwiderruflich zu gelten hat, hängt von zwei Elementen ab: zum einen vom Datum der Volljährigkeit, das so festzusetzen ist, dass es mit dem Abschluss der Vernunftentwicklung zusammenfällt, und das folglich vom Fortschritt der Erziehung und der Aufklärung abhängig gemacht werden muss, zum anderen von der Sterblichkeitsrate. Folgt man den von mir genannten Prinzipien, so muss jede zur Verfassunggebung berufene Versammlung das erste Element selbst bestimmen, während das zweite eine gegebene Tatsache ist. Auf diese Weise kann jede dieser Versammlungen die Geltungsdauer der Gesetze nach Prinzipien festlegen, von denen keines der Willkür entspringt.

IV. Selbst wenn eine Nation auf ihr Recht, die Verfassungsgesetze unmittelbar selbst zu ratifizieren, nicht verzichten könnte, so führte für sie doch kein Weg an der Notwendigkeit vorbei, eine Versammlung mit der Vollmacht zu betrauen, die Form der Ratifikation oder doch zumindest die Art und Weise der Beratung über diese Form zu regeln.

V. Nach diesen notwendigen Vorüberlegungen zum besseren Verständnis der Frage wollen wir nun zunächst untersuchen, ob eine Nation das Recht zur Ratifikation ihrer Verfassung aufgeben kann, oder ob sie sich dieses Recht vorbehalten und im Anschluss daran fragen muss, an wen dieses Recht gegebenenfalls am zweckmäßigsten zu übertragen wäre. Eine Nation kann, ohne die Rechte der Individuen zu verletzen, jedes nach Geltungsdauer und Gegenstand beschränkte Recht in ihrem Namen ausüben lassen, sofern sie es nicht für zweckmäßig erachtet, dieses Recht selbst auszuüben. Dieses Prinzip erscheint mir unbestreitbar und wird es noch mehr, sobald es sich um eine Vollmacht handelt, welche die Nation trotz eines entsprechenden Vorbehalts nicht wirklich selbst ausübt, ja welche sie auf effiziente Art und Weise gar nicht selbst ausüben kann.

VI. Kommen wir nun also zum ersten Punkt. Selbst wenn eine Nation sich das Recht zur Ratifikation ihrer Verfassung vorbehielte, so könnte sie dieses Recht doch in Wirklichkeit gar nicht ausüben. Tatsächlich kann man ohne die Gefahr eines Irrtums versichern, dass angesichts des gegenwärtigen Standes der Erziehung die Mehrheit der Bürger gar nicht hinreichend aufgeklärt ist, um einen Verfassungsentwurf beurteilen zu können, denn für ein solches Urteil müsste man die den einzelnen Verfügungen zugrunde liegenden Motive kennen und ihre jeweiligen Folgen abwägen; den Bürgern mangelt es jedoch

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mehrheitlich an den zur Beurteilung der Motive und zum Verständnis der jeweiligen Folgen notwendigen Vorstellungen. Die unmittelbare Ratifikation wäre also keine wirkliche Ratifikation - die Nation hätte nur dem Anschein nach ein Recht ausgeübt, in Wirklichkeit aber hätte sie es nicht ausgeübt. Wer aber würde es stattdessen ausüben? Es wären diejenigen, die in jeder allgemeinen Versammlung der Bürger aufgrund ihrer Eloquenz, ihres Rufes und ihres persönlichen Ansehens mit der Macht des Augenblicks über die Gemüter herrschten. Die Aufgabe lautet also, herauszufinden, ob es für eine Nation zweckmäßiger ist, ihr Recht an Männer zu übertragen, die sie eigens zum Zweck seiner Ausübung berufen hat, oder dieses Recht dem Zugriff derjenigen zu überlassen, welchen das Talent eigen ist, sich seiner zu bemächtigen.

VII. Wenn eine große Nation sich die Vollmacht zur unmittelbaren Annahme der Verfassung vorbehielte, so könnte sie von derselben doch nicht in einer Art und Weise Gebrauch machen, die zu einer konkreten Entscheidung führte. Wie sollten beispielsweise allein in Frankreich rund vierzigtausend Versammlungen einen einheitlichen Willen zum Ausdruck bringen hinsichtlich eines Entwurfs, der gezwungenermaßen selbst schon kompliziert genug ist? Man wird ihnen lediglich die Möglichkeit einräumen, den Entwurf als ganzes anzunehmen oder abzulehnen. Wenn es das Unglück nun so wollte, dass eine Mehrheit den Entwurf ablehnte, so wäre die mit der Aufgabe der Verfassunggebung betraute Versammlung genötigt, erst in den mémoires, wo die Motive der Ablehnung verzeichnet wären, nachzuforschen, um auf diesem Weg den gemeinsamen Willen zu ermitteln. Nehmen wir nun einmal an, dass zweiundzwanzigtausend Versammlungen aus unterschiedlichen oder einander widersprechenden Gründen den Entwurf abgelehnt hätten: Wer wollte nunmehr sagen, wann diejenigen der übrigen achtzehntausend, die bereit wären, den Änderungswünschen von zwölf- oder fünfzehntausend der vordem ablehnenden Versammlungen Rechnung zu tragen, zahlreich genug wären, um eine Entscheidung herbeizuführen? Womöglich könnte man sich deshalb genötigt sehen, abermals zu beraten; und das zeigt, dass diese Methode nur geeignet ist, Zeit zu verschlingen und Ärger zu verursachen. Soll man also nach getrennten Artikeln beraten? In diesem Fall bildeten die von der Mehrheit angenommenen Artikel eine unvollständige Verfassung, und man wäre gezwungen, sie zu vervollständigen, in dem man nach und nach die anderen Artikel abänderte, bis man zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gelangt wäre. Es gibt wohl niemanden, der nicht spürt, dass es einer solchen Verfassung notwendigerweise an Einheitlichkeit mangeln muss. Obschon im Detail von der Mehrheit akzeptiert, wäre sie doch unter Umständen noch weiter davon entfernt, ein Ausdruck des wahren Willens zu sein. Es ist schon schwierig genug, denselben bei einer Versammlung von hundert Personen und bezüglich eines nur mäßig komplizierten Gegenstandes in Erfahrung zu bringen. Die Gründe hierfür habe ich bereits in einem anderen Werk entwickelt. Indessen führen die gemeinsame Diskussion, die mit ihr einhergehenden Erläuterungen sowie die Lebhaftigkeit und die Leichtigkeit des Austausches zu einem Resultat, das dem wahren

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Willen zwar nicht vollends entspricht, ihm aber doch zumindest nahe kommt. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch um unterschiedliche Versammlungen, was die Ermittlung eines einheitlichen Willens zu einer nahezu unüberwindlichen Schwierigkeit macht.

VIII. Nachdem also feststeht, dass eine Nation nicht verpflichtet ist, ihren Bürgern das unmittelbare Recht zur Annahme oder Ablehnung der Verfassung einzuräumen, kann man fragen, ob eine Nation, die einer Versammlung den Auftrag zur Ausarbeitung einer Verfassung erteilt hat, einer anderen Versammlung das Recht anvertrauen soll, die von der ersten vorgeschlagene Verfassung zu ratifizieren. Entweder muss man dieser neuen Versammlung die Vollmacht einräumen, die Beschlüsse der ersten abzuändern - was dazu fuhrt, dass man eine dritte Versammlung nominieren müsste, um auch diese Änderungen ihrerseits wieder zu ratifizieren, und dann immer so weiter. Oder man muss es so einrichten, dass die erste Versammlung selbst Änderungen beschließen kann, die sie dann zur Bestätigung an die zweite überweist - ein langwieriges Verfahren, das schwerlich eine gut eingerichtete Verfassung zur Folge haben dürfte. Davon abgesehen wäre die erste Versammlung in diesem Fall nichts weiter als ein großes Redaktionskomitee mit der Pflicht, der zweiten Versammlung beschlussfähige Vorlagen zu erarbeiten. Dieses Verfahren kann daher nicht als an sich gut betrachtet werden. Wenn allerdings die erste Versammlung hinsichtlich ihrer Repräsentation erhebliche Mängel aufwiese, dann könnte sie ihre verfassunggesetzgebende Kompetenz darauf beschränken, das Verfahren zu regeln, nach dem künftig eine verfassunggebende Versammlung zu bilden wäre, und eine vorläufige Verfassung zu verabschieden, die so lange in Kraft bliebe, bis die neue Versammlung eine dauerhaftere erlassen hätte. An dieser Stelle stellen sich jedoch sogleich neue Schwierigkeiten ein: So wird eine gesetzgebende Versammlung Bestandteil der vorläufigen Verfassung sein, und man kann verfugen, dass diese gesetzgebende Versammlung entweder mit der verfassunggebenden Versammlung identisch oder von dieser gesondert sein wird. Zweifellos muss die Versammlung, der die regelmäßige Überprüfung der Verfassungsgesetze obliegt, in einer auf Dauer angelegten Ordnung von der normalen gesetzgebenden Gewalt getrennt sein, denn ohne eine solche Einrichtung könnte es in einer Nation weder Recht noch wahre Freiheit geben. Es herrschte nur die Macht, die sich zwar so handhaben ließe, dass die Rechte Beachtung fänden, die bürgerliche Freiheit gesichert wäre und die Gesetze dem allgemeinen Nutzen dienten, doch herrschte nicht das Recht, es gäbe keine wahrhaft verpflichtende Autorität und keine andere Tugend als die Pflicht, den öffentlichen Frieden nicht ohne schwerwiegende Beweggründe zu stören. Aber wäre zu dem Zeitpunkt, da es zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung käme, die Koexistenz der beiden Versammlungen nicht von Übel? Wäre sie vereinbar mit dem Frieden, mit der ruhigen Ausübung der bestehenden Gesetze? Wenn man stattdessen nur eine neue Versammlung einberiefe, welche gesetzgebende und verfassungsändernde Gewalt in einem wäre, so täte man nichts anderes, als eine reguläre repräsen-

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tative Versammlung durch eine weniger reguläre zu ersetzen. Aber hieße das in der gegenwärtigen politischen Lage Frankreichs nicht, den Preis fur die Defizite der bestehenden Repräsentation zu hoch zu veranschlagen? Ist es nicht offensichtlich, dass praktisch die gesamte Nation die Abgeordneten der bestehenden Nationalversammlung dazu ermächtigt hat, eine Verfassung auszuarbeiten? Beabsichtigt man des Weiteren, eben diese Abgeordneten künftig von der Mitarbeit in der betreffenden neuen Versammlung auszuschließen? In diesem Fall wird sich die neue Versammlung aus Leuten zusammensetzen, die daran interessiert sind, das Werk derjenigen, die man ihnen seinerzeit vorgezogen hatte, zu kritisieren und zu zerstören. Schließt man sie hingegen nicht aus, so werden sie dort erneut den Ton angeben, und all die Debatten, welche schon die bestehende Nationalversammlung beschäftigten, werden wieder aufgenommen werden in der Hoffnung, diesmal anderslautende Beschlüsse zu erlangen. Trennt man schließlich die neue Versammlung und die von der bestehenden Nationalversammlung gebildete gesetzgebende Versammlung voneinander, was geschieht dann mit den Mitgliedern derselben - teilen sie sich zwischen den beiden Versammlungen auf, um in der einen die Beschlüsse, an denen sie selbst mitgewirkt haben, auszuführen, und um sie in der anderen zu bewerten und abzuändern? Allenthalben zeigen sich Hindernisse, allenthalben hat es den Anschein, als ob jede dieser Alternativen nur den Parteigeist hervorbringt.

IX. Man hat vorgeschlagen, die Verfassung durch die Provinzen ratifizieren zu lassen. Diese Ansicht kann nicht auf der Vorstellung basieren, dass es sich bei jeder Provinz um eine aus den Bürgern gebildete und mit besonderen Rechten ausgestattete Körperschaft handelt. Dies gilt nämlich nur für diejenigen Provinzen, die schon immer eine gesonderte Verwaltung besaßen. Die anderen hingegen bilden noch keine wirklichen, durch Gewohnheit und durch gemeinsame Gesetze geheiligte Vereinigungen. Davon abgesehen würden die Provinzen nicht nur verlangen, sich ausschließlich einer Mehrheit der Provinzen zu unterwerfen, sondern zudem das Recht beanspruchen, für sich alleine über Annahme oder Ablehnung zu entscheiden. Dies fuhrt jedoch zu einer ganz anders gearteten Frage. Das einzige, was man verlangen kann, ist, dass der verfassunggebende Wille der bestehenden Nationalversammlung durch die unmittelbaren Auftraggeber der Abgeordneten ratifiziert werden muss, und das heißt: durch die Ständeversammlungen, die sie zuvor gewählt haben. Hier zeigen sich jedoch abermals große Schwierigkeiten, denn wie wollte man von getrennten Ständen eine Verfassung bestätigen lassen, die diese ebenso unkluge wie ungerechte Trennung beseitigen wird? Müssen alle drei Stände zusammenstimmen, um den Willen einer bailliage zu bilden, oder ist dafür schon der Wille von nur zwei Ständen ausreichend? Und wird man dann die Stimmen der bailliages zusammenzählen oder die der einzelnen Wählerversammlungen? Wie auch immer man diese Fragen entscheiden wird, es ist doch wohl offensichtlich, dass ein solchermaßen gebildeter Wille kein wahrhaft nationaler Wille sein und zwischen den Bürgern keinerlei Rechtsgleichheit herrschen wird. Man vereinige also die Stände, aber wo ist die

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Gleichheit zwischen den persönlich berufenen Adligen und Geistlichen und den Vertretern der Gemeinden und der Pfarreien? Werden nicht diejenigen, welche die Mehrheit der Bürger vertreten, in vielen Versammlungen in der Minderheit sein? Wird man seine Zuflucht also zu eigens gebildeten Provinzialversammlungen nehmen? Ich habe bereits daraufhingewiesen, dass, vom rechtlichen Standpunkt aus betrachtet, ein Beschluss dieser Versammlungen demjenigen einer zur Verfassunggebung ermächtigten Nationalversammlung nichts hinzuzufügen vermag; denn wenn die Bürger das Recht besitzen, einer Provinzversammlung die Befugnis zu verleihen, eine Verfassung zu ratifizieren, dann haben sie auch das Recht, eine Nationalversammlung damit zu beauftragen. Sofern es denn überhaupt möglich wäre, so wäre es zweifellos nur gerecht, jedes einzelne Gesetz von jeder der staatlichen Verwaltungseinheiten ratifizieren zu lassen, ja selbst noch von denjenigen, in denen sich die Gesamtheit der Bürger versammeln kann, und es wäre zudem ein äußerst nützliches, vielleicht sogar ein notwendiges Verfahren, um die Gewährleistung der Menschenrechte in ihrem vollen Umfang sicherzustellen. In einer anderen Schrift habe ich eine Übersicht der Mittel und Wege erstellt, mittels deren man alle Bürger unmittelbar an der Gesetzgebung mitwirken lassen könnte. Aber wäre das, was eines Tages machbar sein wird, was sich vielleicht in zwanzig Jahren erstmalig verwirklichen lassen wird, wenn es darum gehen wird, die sich gegenwärtig bildende Verfassung einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen - wäre das heute schon weise? Wenn man eine große Mehrheit der Provinzen verlangt, in welcher Zeit meint man sich schmeicheln zu können, diese Mehrheit zu erringen? Und wenn man sich mit der einfachen Mehrheit zufriedengibt, welche Autorität wird dann wohl von einer neuen Verfassung ausgehen, der fast die Hälfte der Länder, die sich ihr unterwerfen sollen, mit Ablehnung begegnen werden? Übersieht man etwa, dass man, um die Provinzen in dieser Form befragen zu können, ihre Zustimmung zu der neuen, ihnen doch allererst zu gebenden Verfassung bereits ebenso voraussetzen muss wie die Existenz der neuen Versammlungen? Ist es nicht offensichtlich, dass in einem solchen Moment und überdies ohne die geringste Verletzung des Rechts die Ratifikation durch eine Versammlung, in die alle Provinzen Abgeordnete entsenden könnten, einer dergestalt partiellen Ratifikation vorzuziehen wäre? Und ist es mit Blick auf die Annahme einer neuen Verfassung nicht wahrscheinlich, dass diese den Willen der Nation weitaus besser auszudrücken in der Lage wäre, wenn sie nicht auf einem bloßen Mehrheitsbeschluss von Versammlungen beruhte, die ihrerseits nur aus einer Mehrheit der Provinzen hervorgegangen wären? Nun gut, wir haben bereits die Nachteile aufgezeigt, die solch eine neue Versammlung mit sich brächte. Eine derartige Versammlung wäre ohne Zweifel das geeignetste Mittel, um eine Ratifikation zu bewerkstelligen, sofern man dies denn für notwendig erachtete. Aber wir glauben bewiesen zu haben, dass eben dies nicht der Fall ist. Ich möchte nur noch ein Wort hinzufugen: Die vorläufige Annahme der von der bestehenden Nationalversammlung erarbeiteten Verfassung ist unabdingbar, denn ohne Verfassung kann eine Nation nicht bestehen. Aber bis zu welchem künftigen Zeitpunkt darf diese vorläufige Annahme Gültigkeit beanspruchen? Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie durch eine andere Verfassung entweder bestätigt oder ersetzt worden sein wird. Anstelle dieser unbestimmten Dauer, die nur zur Folge hätte, dass beständige Unruhe jeden Schritt der gesetzgebenden Versamm-

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lung behinderte, schlage ich lediglich vor, die Geltungsdauer der neuen Verfassung auf den Zeitraum zu beschränken, nach dessen Ablauf sie ihre Legitimität von Rechts wegen ohnehin verlöre. Dieser Zeitraum beträgt achtzehn bis zwanzig Jahre. Trägt man allen Bereichen der Gesetzgebung und der Verwaltung Rechnung, bedenkt man all die Dinge, die neu geschaffen werden müssen, und all die Veränderungen, welche die Einrichtung der gegenwärtigen Verfassung nach sich ziehen wird, macht man sich schließlich auch noch klar, wie sehr es not tut, neue Bindungen zwischen den Bürgern zu stiften, um die Prinzipien der Unterordnung, die vormaligen Garanten des Friedens, der fur das Wohlergehen der Bürger ebenso notwendig und gleichermaßen ein Bestandteil ihrer Rechte ist wie die Freiheit, durch Prinzipien der Vereinigung zu ersetzen, so halte ich diese Zeitspanne keineswegs für zu lang; vielmehr fürchtete ich, dass eine raschere Reform uns nicht zu einer besseren, sondern zu einer schlechteren Verfassung führte.

X. Zuletzt, als einfacher Bürger ohne besondere Vollmachten und zum Gehorsam gegenüber den zukünftigen Gesetzen verpflichtet, prüfe ich mich selbst und frage mich, welches hier meine Interessen sind. Ist es nicht so, dass ich zwar keiner Verfassung unterworfen sein will, die einige meiner Rechte verletzt, aber doch nicht so, dass ich keiner Verfassung unterworfen sein will, die durch einige ihrer Artikel gegen meine Ansichten verstößt? Wie auch immer die Verfassung gemacht sein mag, es wird wahrscheinlich vieles geben, was ich nicht werde gutheißen können. Aber ist es die Mehrheit derjenigen, die überhaupt einer Meinung fähig sind, oder die Mehrheit derer, denen die Bürger ihr Vertrauen geschenkt haben, die hier den Ausschlag geben muss? Bin ich, der ich dieses Vertrauen nicht erhalten habe, mir ganz sicher, die Arbeit der Repräsentanten gänzlich unvoreingenommen beurteilen zu können? Werde ich nicht durch den eitlen Drang, der mir verweigerten Ehre würdiger zu erscheinen, zu falschen Vorstellungen von Vollkommenheit getrieben? Ist es wirklich ausgemacht, dass die geringfügigen Mängel der Verfassung in den zwanzig Jahren ihrer legitimen und unabänderlichen Geltung mehr Schaden anrichten werden, als aus einer Verzögerung von vielleicht mehreren Jahren entstünde, während der Frankreich keine oder nur eine instabile Verfassung besäße? Verletzt man meine Rechte oder die meiner Mitbürger, so muss ich sie ohne Zweifel energisch einklagen. Ich muss nicht furchten, die Einrichtung einer ungerechten Verfassung zu verzögern, da ich ganz im Gegenteil wünschen muss, dass es niemals zu einer solchen Einrichtung kommen wird. Wenn man aber meine Rechte achtet, welches andere Interesse sollte dann in der Lage sein, den Wunsch nach Frieden aufzuwiegen und den, die Herrschaft der Gesetze in Bälde wiedererrichtet zu sehen?

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XI. Was habe ich also zu fordern? Nur zwei Dinge: Erstens, dass die Rechteerklärung eine verbindlich festgesetzte Frist enthält, nach deren Ablauf die Verfassungsgesetze durch eine gesonderte, von der gesetzgebenden unterschiedene Gewalt reformiert werden können, dass man die Erklärung noch vor der Verfassung veröffentlicht, und dass alle Bürger dazu aufgerufen werden, nicht etwa festzustellen, ob sie gut oder schlecht geschrieben ist, sondern ob sie auch keine Prinzipien enthält, die den wahren Menschenrechten widerstreiten, und ob von diesen auch keines ausgelassen wurde. Es sind wohl alle Bürger in der Lage, sich zu diesen beiden Themen zu äußern. Zweitens, dass man den Bürgern die Verfassung vorlegt, nicht um festzustellen, ob sie gut oder schlecht eingerichtet ist, sondern um festzustellen, ob sie auch nichts enthält, was in einem Widerspruch zur Erklärung unserer Rechte steht, oder ob ein bestimmter Artikel derselben widerspricht. Sicherlich sind alle Bürger in der Lage, auch auf diese Fragen zu antworten. Alsdann sollen diejenigen, welche die Rechteerklärung ausgearbeitet haben, und diejenigen, welche die Verfassung entworfen haben, die eine wie die andere im Anschluss an all die verschiedenen denkbaren Beanstandungen überarbeiten und sie dann von neuem vorlegen. Was dies betrifft, ist es leicht, den allgemeinen Willen nicht nur zu erkennen, sondern ihm zuvorzukommen. Es handelt sich nämlich nicht um mehr oder weniger willkürliche Meinungen, um politische Auseinandersetzungen oder um eventuelle selbstsüchtige Streitereien, vielmehr handelt es sich um nichts anderes als um die Rechte aller, die zu achten ein jeder verpflichtet ist und von denen alle Bürger wollen, dass Verletzungen derselben verhindert oder wiedergutgemacht werden. Diejenigen Verfassungsartikel, die eine Gefahr für die Rechte darstellen können, sind nicht sehr zahlreich und notwendigerweise die einfachsten. So muss man darauf achten, dass die Gewährung des Bürgerrechts und der Genuss desselben unter strikter Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes erfolgen. Ferner muss man dafür sorgen, dass derselbe Gleichheitsgrundsatz auch in der Nationalversammlung herrscht, dass die Vertretung der verschiedenen Provinzen nach einem mit der natürlichen Gleichheit vereinbaren Prinzip der Verhältnismäßigkeit erfolgt, dass die richterliche Gewalt frei von jeder Bevormundung, aber an das Gesetz gebunden ist, und dass die ebenfalls an das Gesetz gebundene Regierung Gesetze weder erlassen noch aufheben und auch keine willkürliche Macht ausüben kann. Auf diese Weise sind die Rechte geschützt, und die Verfassungsgesetze können zwar mehr oder weniger gut, aber nicht mehr ungerecht sein. Ich schlage den Bürgern also nicht vor, sich für immer einer möglicherweise tyrannischen Verfassung zu unterwerfen, ich schlage ihnen vielmehr vor, sich für eine gewisse Zeit einer Verfassung zu unterwerfen, von der sie selbst erkannt haben werden, dass sie nichts enthält, was in einem Widerspruch zu ihren Rechten steht.

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XII. Die gesellschaftliche Ordnung wird erst dann den Grad an Vollkommenheit, zu dem man ohne Unterlass streben muss, wirklich erreicht haben, wenn kein Gesetzesartikel mehr verpflichtend sein wird, der nicht zuvor einer unmittelbaren Prüfung unterzogen wurde durch einen jeden, der Angehöriger eines Staates ist, sich seiner Vernunft erfreut und der weder für ein Verbrechen verurteilt worden noch seiner Rechte durch ein ordnungsgemäßes Verfahren verlustig gegangen ist, wenn jeder Bürger Gelegenheit hatte zu bekunden, ob ein bestimmter Artikel einen Eingriff in seine Rechte darstellt oder nicht, und die Mehrheit ihre Entscheidung zugunsten eines bestimmten in Vorschlag gebrachten Artikels nur auf der Grundlage eines bereits gesetzlich geregelten Verfahrens treffen wird. Je mehr nun die Menschen einander aufklären, desto weiter wird die Ausübung dieses individuellen Rechtes sich erstrecken, und wenn es sich gegenwärtig noch nicht so verhält, dass alle Gesetze sich allein aus den wohlverstandenen Menschenrechten ergeben, wenn vielmehr einige der gesetzlichen Anordnungen den stets etwas willkürlichen Regeln der Klugheit oder des Allgemeinwohls gehorchen, dann liegt dies allein daran, dass die Menschen heute noch nicht ausreichend aufgeklärt sind. So wie ein Ereignis dem Zufall zuzuschreiben nichts anderes bedeutet als das Eingeständnis, nichts über die ihm zugrunde liegenden Ursachen zu wissen, ebenso heißt, sich in Fragen der Gesetzgebung willkürlich und nach vagen persönlichen Motiven zu entscheiden nur, einzugestehen, dass man nicht weiß, was die Gerechtigkeit ausdrücklich gebietet oder die Vernunft in aller Deutlichkeit verkündet. Indem man das individuelle Recht der Bürger darauf beschränkt, nur über das zu befinden, was ihren Rechten widerstreitet oder nicht, bewahrt man ihnen seinem vollen Umfang nach eben jenen Anteil an der Errichtung und Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, den wirklich auszuüben ihnen der Grad ihrer Aufklärung erlaubt. Für dieses Mal schlage ich deshalb vor, das individuelle Recht allein auf die der Verfassung zugehörigen Artikel zu beschränken, doch geschieht dies in der Hoffnung, dass die Fortschritte der Vernunft und die Wirkung, die zunehmend egalitäre und gerechte Institutionen notwendigerweise auf die Gemüter haben müssen, es einem anderen Zeitalter erlauben werden, dieses Recht auch auf andere Gesetzesabteilungen anzuwenden, um es schließlich nach und nach auf alle auszudehnen.

Brief eines jungen Mechanikers an die Verfasser des Républicain, 16. Juli 1791 [1791] Le Républicain,

Juli 1791

Meine Herren, Ein junger Mann, dem man sechs Pfund pro Bogen gibt, um an den guten Heften des Ami des patriotes mitzuarbeiten, sagte gestern im Café, dass diese Schurken von Republikanern unweigerlich den Bürgerkrieg entfachen würden, falls es dem klugen Eifer der aufrechten Freunde der Zivilliste nicht gelänge, die Monarchie zu retten. Da ich den Frieden liebe, haben mich diese Reden nicht schlafen lassen; aber ich war glücklich genug, ein Mittel zu finden, um alle Parteien zu versöhnen. Ich habe Mechanik studiert unter Vaucanson, unter dem Abbé Mical, dem Urheber der sprechenden Köpfe, ja sogar unter dem Baron von Kempelen, der den Schachspieler gemacht hat, und ich kann versprechen, dem Verfassungskomitee innerhalb von fünfzehn Tagen einen König mitsamt seiner königlichen Familie und seinem ganzen Hofstaat zu machen. Mein König wird zur Messe gehen, und er wird zu den gegebenen Momenten niederknien. Er wird das Osterfest dem nationalen Ritus gemäß begehen, und es wird dafür gesorgt sein, dass sich dieses Teil der königlichen Mechanik ebenso wie das des Hofkaplans entfernen lassen, um sie im Falle eines Wechsels der Religion durch ein anderes Teil ersetzen zu können. Er wird ebensogut wie ein anderer König eine Unterhaltung mit den Inhabern seiner Großämter führen. Ein Kammerherren-Automat wird ihm sein Hemd reichen, und ein Garderoben-Großmeister wird ihm den Kragen anlegen. Dekreten wird mein König mit der Mehrheit der Stimmen seines Rates Gesetzeskraft verleihen, und er wird die Direktiven unterzeichnen, die ihm seine Minister vorlegen. Für den Fall, dass man, den Grundsätzen der gesunden Politik entsprechend, es als zum Wesen der Monarchie gehörig betrachtet, dass ein König seine Minister wählt und entlässt und er sich deshalb stets nach dem Willen der Partei, die über die Mehrheit in der Legislative verfügt und deren Führer dort den Vorsitz führen, zu richten hat, so ist es ein leichtes, sich einen Mechanismus vorzustellen, mittels dessen der König die Liste der Minister aus der Hand des turnusgemäßen Vorsitzenden mit feierlicher und majestätischer Miene empfangen wird. Falls jemand an der Möglichkeit einer solchen Maschine zweifelte, so müsste er sich nur Madame de Maintenon anstelle des Präsidenten, und die Schnur, die den königlichen Automaten spielen lässt, auf eine etwas andere Weise befestigt vorstellen - schon hätte er die Geschichte der dreißig letzten Jahre der glorreichen Herrschaft Ludwigs XIV. Damit der Hof ein wenig Glanz bekäme, bräuchte es nicht mehr als rund zwei Millionen an ersten Ausgaben. Für eine geringere Summe wären zweihundert Personen

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von natürlicher Größe schwerlich zu haben. Der Unterhalt würde sich auf ungefähr hunderttausend Pfund pro Jahr belaufen, die Zivilliste folglich einen Etat von zweihunderttausend nicht übersteigen. Dieses Geschäft ist geschenkt, und jeder Franzose würde pro Jahr nicht mehr als rund einen halben Letzten für das Glück bezahlen, einen König zu haben. Schon seit langem gibt es bei mehreren Nationen erbliche Könige - man lese ihre Geschichte, und man wage dann zu sagen, sie hätten nicht viel zu gewinnen, wenn sie meiner Methode folgten. Mein König wäre nicht gefährlich für die Freiheit, indessen er, sofern man ihn nur sorgfältig instand hielte, nicht nur ein erblicher, sondern - weit besser noch - ein ewiger Monarch wäre. Man könnte ihn sogar, ohne Unrecht zu tun, als unverletzlich betrachten, und ihn, ohne Unsinn zu reden, für unfehlbar erklären.

Darlegung der Prinzipien und Gründe des Verfassungsentwurfs

Einem Gebiet von siebenundzwanzigtausend Quadratmeilen, das von fünfundzwanzig Millionen Menschen bewohnt wird eine Verfassung zu geben, die ausschließlich auf den Prinzipien der Vernunft und der Gerechtigkeit gegründet ist und den Bürgern den vollständigsten Genuss ihrer Rechte sichert; die Teile dieser Verfassung so miteinander zu verknüpfen, dass, trotz der Notwendigkeit, den Gesetzen Gehorsam zu leisten und den Willen des einzelnen Bürgers dem Gemeinwillen unterzuordnen, die Souveränität des Volkes, die Gleichheit zwischen den Bürgern und die Ausübung der natürlichen Freiheit in vollem Umfang gewahrt ist - das war die Aufgabe, die wir zu lösen hatten. Noch nie hat ein Volk, das sich so weit von allen Vorurteilen gelöst und so entschieden vom Joch seiner überkommenen Institutionen befreit hat, eine solche Bereitwilligkeit gezeigt, bei der Ausarbeitung seiner Gesetze nur den allgemeinen Prinzipien zu folgen, die durch die Vernunft geheiligt sind. Doch haben auch noch nie so umfassende revolutionäre Erschütterungen, eine heftigere Bewegung der Gemüter, die Last eines gefährlicheren Krieges und eine größere Knappheit in den öffentlichen Finanzen der Schaffung einer Verfassung vielfältigere Hindernisse in den Weg gelegt. Die neue Verfassung muss ebenso fur ein Volk, in welchem sich gerade eine revolutionäre Bewegung vollendet, wie für ein Volk in Friedenszeiten geeignet sein. Indem sie die Unruhen besänftigt ohne die Kraft des Gemeingeistes zu schwächen, muss sie jene revolutionäre Bewegung zur Ruhe kommen lassen, ohne sie durch Unterdrückung gefährlicher zu machen und ohne sie durch widersprüchliche oder unklare Maßnahmen zu verlängern, die diese vorübergehend nützliche Erregung in Zerstörung und Anarchie verwandeln würden. Jede Erblichkeit politischer Ämter ist eine offensichtliche Verletzung der natürlichen Gleichheit und zugleich eine widersinnige Einrichtung, da sie die Erblichkeit jener Eigenschaften voraussetzt, die zur Ausübung eines politischen Amtes befähigen. Jede Ausnahme, die zugunsten eines Einzelnen vom gemeinschaftlichen Gesetz gemacht wird, ist ein Eingriff in die Rechte aller. Einer Einzelperson kann eine Gewalt, der keine andere übergeordnet ist, weder auf Lebenszeit noch für eine lange Dauer übertragen werden, ohne ihr einen Einfluss zu verleihen, der nicht an ihre Aufgaben sondern an ihre Person gebunden ist, und ohne ihrem Ehrgeiz damit die Möglichkeit zu geben, die gesellschaftliche Freiheit zu zerstören oder es zumindest zu versuchen. Auch jene Ehrerbietung einem Einzelnen gegenüber, jene Art von Trunkenheit, welche schwache Geister angesichts des Prunks, der diesen einzelnen Menschen umgibt,

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befällt; jenes Gefühl blinder Hingabe, das aus dieser Trunkenheit erwächst; jener Mensch, den man an die Stelle des Gesetzes setzt, dessen lebendes Bild er genannt wird; jene sinnlosen Worte, mit denen man versucht, die Menschen zu lenken, als ob sie nicht würdig wären, allein der Vernunft zu gehorchen: Alle diese Mittel, durch Irrtum und Verfuhrung zu herrschen, passen nicht mehr in ein aufgeklärtes Jahrhundert und zu einem Volk, dessen aufgeklärter Verstand es in die Freiheit geführt hat. Einheit, Handlungsfähigkeit und Stärke einer Regierung sind nicht zwangsläufig an diese gefährlichen Einrichtungen gebunden. Die Stärke einer legitimen Obrigkeit sollte auf dem festen Willen des Volkes beruhen, dem Gesetz zu gehorchen. Einheit und Handlungsfähigkeit können das Ergebnis einer einfach und klug eingerichteten Organisation der Gewalten sein. Man würde vergeblich hoffen, sich dieses Vorteils zu versichern, indem man diese Gewalten in einer Einzelperson vereint, die vom Hochmut ihrer Macht fast zwangsläufig korrumpiert wird und sich mehr um die Vermehrung ihrer Vorrechte als um ihre Pflichten kümmert. Ohne eines jener Wunder mit denen man nicht rechnen sollte, ist jeder mit einer erblichen oder dauerhaften Autorität ausgestattete Mensch dazu verdammt, zwischen Trägheit und Ehrgeiz, zwischen Gleichgültigkeit und Heimtücke zu schwanken. Insofern schließlich die Erfahrung bewiesen hat, dass Monarchien immer durch einen Rat regiert wurden, wird man an der Institution eines Monarchen kaum irgendeinen Vorteil finden. Folglich musste das Königtum abgeschafft werden. Zwischen den beiden Extremen einer vollständigen Einheit wie sie in England zu finden ist, wo diese Einheit nur von territorialen Einteilungen unterbrochen wird, die für eine reguläre Verwaltung notwendig sind, und der schweizerischen Konföderation, in der unabhängige Republiken einzig durch Verträge zur Sicherung des Vorteils gegenseitiger Verteidigung miteinander verbunden sind, kann man sich die unterschiedlichsten Verfassungen vorstellen, von denen manche einer vollständigen Einheit, andere einer bloßen Föderation näher wären. Die Beschaffenheit des französischen Staatsgebiets, dessen Teile ein zusammenhängendes, durch kein natürliches Hindernis getrenntes Territorium bilden;1 die seit langer Zeit bestehenden vielfältigen Beziehungen zwischen den Einwohnern der verschiedenen Teile; die gemeinsamen Verpflichtungen, die sie eingegangen sind; die lange Gewohnheit, von einer einzigen Macht regiert zu werden; der Umstand, dass sich der Grundbesitz in den Provinzen auf Eigentümer verteilt, die ihren Wohnsitz in anderen Provinzen haben; dass in jeder Provinz Menschen aus allen möglichen Provinzen zusammenleben: Alles spricht dafür, Frankreich eine möglichst vollständige Einheit zu verleihen.

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Stellen wir uns die Fläche des französischen Staatsgebiets in Form eines Kreises vor, derjenigen geometrischen Figur, in der sich die am weitesten voneinander entfernt liegenden Punkte der Außenlinie mit der kürzesten Geraden verbinden lassen. In dem gedachten Kreis betrüge die Länge dieser Geraden immer noch mehr als 180 Meilen. In Frankreich aber übersteigt die Entfernung zwischen den beiden am weitesten voneinander entfernt liegenden Punkten des Staatsgebiets kaum 240 Meilen.

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Die Notwendigkeit, alle Kräfte wirksam zur Verteidigung einer jeden Grenze einsetzen zu können; die Schwierigkeit, die im Inneren des Landes gelegenen Provinzen, die keine Feinde zu furchten hätten, oder diejenigen, die nur Küsten zu verteidigen hätten, in einer Föderation dazu zu bringen, mit gleichem Eifer an der Verteidigung teilzunehmen; die Gefahr, ein bestehendes Band zu zerschneiden, um ein schwächeres dann neu zu knüpfen, wenn das vereinigte Europa unter Aufbietung aller Kräfte und aller Intrigen versuchen würde, dieses Band zu zerreißen; die Erfordernis, dass ein Volk, welches sich zu den reinsten Prinzipien der Vernunft und der Gerechtigkeit bekennt, jedoch mit diesem Bekenntnis allein steht, sich so eng wie möglich zusammenschließt: Das sind weitere Gründe, um alles von uns fernzuhalten, was die politische Einheit nur im mindesten schwächen könnte. Doch es würde zu weit führen, diese Gründe in ihrer ganzen Tragweite zu erörtern. Denn um einen einheitlichen Staat in konföderierte Republiken aufzuteilen oder konföderierte Staaten in einer einheitlichen Republik zu vereinigen, dafür sind, wie für alle weit reichenden Veränderungen, die für die Wahrung von Freiheit oder Gleichheit nicht unbedingt erforderlich sind, Beweggründe von starkem öffentlichem Interesse nötig. Für uns aber sind keine derartigen Beweggründe vorhanden. Wir würden mit einer solchen Veränderung nur dem Wunsch nach systematischer Perfektion gehorchen und das Ganze einigen Teilen, die heute Lebenden dem ungewissen Wohl künftiger Generationen opfern. Wir würden die Sicherheit des Staates dem Lärm der Drohungen einer Liga mächtiger Feinde aussetzen, wenn wir im Inneren eine neue Revolution beginnen würden, um ein System zu errichten, das zwangsläufig die Verteidigungsfähigkeit der Nation schwächen würde. Folgen wir lieber dem Beispiel eines Volkes, das würdig ist, uns ein solches zu geben. War man sich in den Vereinigten Staaten etwa nicht darüber im Klaren, wie sehr die Schwäche ihrer föderativen Bindung dem Erfolg des Krieges gegen den Feind ihrer Unabhängigkeit geschadet hat? Alle aufgeklärten Menschen, alle Patrioten seufzten dort über die geringe Macht des Kongresses, über die mangelnde Einigkeit zwischen den verschiedenen Republiken - und doch hat während des Krieges niemand versucht, dieses Übel zu beheben, obwohl es dem militärischen Erfolg entgegenstand. So sehr fürchtete man die Wirkung einer großen Veränderung, wenn sie unter so bedrohlichen Umständen hätte durchgeführt werden müssen. Sollen wir das, was die Klugheit der Amerikaner nicht zu versuchen wagte, als die Umstände es zu gebieten schienen, in einem Moment wagen, wo diese Umstände mit aller Macht dagegen sprechen? Folglich war es zwingend, zu beschließen, dass Frankreich eine einzige und unteilbare Republik bilden soll. Angesichts der Größe der Republik können wir nur eine repräsentative Verfassung vorschlagen. Denn eine Verfassung, in der die Delegierten ein Gesamtvotum aus den in ihren Mandaten festgelegten Einzelvoten bilden, wäre noch weniger praktikabel als eine, in der die Deputierten bloße Redakteure der Gesetzesvorschläge sind und nicht einmal vorläufigen Gehorsam fordern können, sondern verpflichtet sind, den Bürgern alle Gesetze zur unmittelbaren Zustimmung vorzulegen. Doch wenn wir für die von den Repräsentanten erlassenen Gesetze einen vorläufigen Gehorsam fordern, muss es dann nicht noch ein weiteres Mittel geben, um gegen

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deren Irrtümer oder Absichten vorzugehen, als nur ihren häufigen und raschen Austausch und die Grenzen, die ihrer Macht durch Verfassungsgesetze, die sie nicht ändern können, gesetzt sind? Werden die Rechte der Bürger ausreichend geachtet, wenn diese von den Delegierten des Volkes verabschiedeten Verfassungsgesetze fur eine bestimmte Zeit vorläufigen Gehorsam fordern, unabhängig von jeder Bestätigung durch die Nation? Genügt es, wenn sie in ihrer Gesamtheit einer anderen, nur zu diesem Zweck gewählten Versammlung von Repräsentanten des Volkes zur Annahme vorgelegt werden? Oder muss vielmehr dem Volk fur jedes einzelne Gesetz eine Einspruchmöglichkeit eröffnet werden, die dessen erneute Prüfung nach sich zieht? Muss das Volk eine legale und ihm stets offen stehende Möglichkeit haben, die Reform einer Verfassung zu erwirken, von der es sich in seinen Rechten verletzt fühlt? Muss schließlich eine Verfassung dem Volk zur unmittelbaren Annahme vorgelegt werden? Zu einem Zeitpunkt, wo kein Gesetz für sich das Siegel der Erfahrung und die Autorität der Gewohnheit in Anspruch nehmen kann, wo die gesetzgebende Körperschaft sich nicht auf eine begrenzte Zahl von Reformen und die Vervollkommnung der Einzelheiten eines von den Bürgern geschätzten Gesetzbuches beschränken kann; in einer Zeit, wo jenes unbestimmte Misstrauen und jene lebhafte Unruhe, die notwendig einer Revolution folgen, sich noch nicht legen konnten, sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass eine Bejahung dieser letzteren Fragen die einzige Antwort ist, die dem französischen Volk gebührt, die einzige, die es wirklich hören will und dass eine solche Antwort zugleich das Mittel ist, ihm den möglichst weitgehenden Genuss jenes Rechts der Souveränität zu erhalten, dessen Existenz und Wirklichkeit den Bürgern vielleicht gerade in einer repräsentativen Verfassung durch seine unmittelbare Ausübung in Erinnerung gerufen werden sollte. Es erheben sich nur zwei Einwände. Man hat vorgebracht, dass ein Gemeinwille, der durch die Zusammenziehung der Willenserklärungen einzelner Versammlungen gebildet wird, nicht wirklich den allgemeinen Willen der Bürger, die diese Versammlungen bilden, zum Ausdruck bringt. Man hat weiterhin vorgebracht, dass die Zusammenkunft der Bürger in Primärversammlungen zu Unruhen führen könnte. Betrachtet man den Ablauf einer beratenden Versammlung, dann zeigt sich schnell, dass dort zwei ganz verschiedene Arten von Debatten stattfinden. Man erörtert zunächst die Prinzipien, die als Grundlage für die Entscheidung einer allgemeinen Frage dienen sollen. Man untersucht diese Frage in ihren verschiedenen Aspekten sowie im Hinblick auf die Folgen, welche unterschiedliche Entscheidungen jeweils nach sich ziehen würden. Bis zu diesem Zeitpunkt handelt es sich um jeweils unterschiedliche persönliche Meinungen, von denen keine die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Dann folgt eine weitere Debatte. In dem Maße, wie die Frage an Klarheit gewinnt, nähern sich die Meinungen einander an und verbinden sich untereinander. Es bildet sich eine kleine Zahl allgemeinerer Meinungen und bald kann man die behandelte Frage auf eine mehr oder weniger große Zahl von einfacheren, klar formulierten Fragen zurückfuhren, zu denen die Versammlung ihr Votum abgeben kann. Zur Vollkommenheit gebracht hätte man dieses Verfahren, wenn die Fragen so gestellt wären, dass jeder Teilnehmer der Versammlung, indem er sie mit ja oder nein beantwortet, seinen tatsächlichen Willen kundgegeben hätte.

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Für die erste Art der Debatte ist es keineswegs notwendig, dass man sich in einer Versammlung zusammenfindet. Anstatt mündlich kann sie genauso gut, wenn nicht besser, in gedruckter Form geführt werden. Die zweite Art der Debatte hingegen könnte zwischen voneinander entfernten Menschen nicht ohne unabsehbare Verzögerungen stattfinden. Die erste ist ausreichend, um sich über einen Gegenstand Aufklärung zu verschaffen und eine Meinung zu bilden. Die zweite ist nur sinnvoll, wenn es darum geht, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen oder vorzubereiten. Sind schließlich beide Debatten beendet, kommt der Augenblick, einen Beschluss zu fassen. Wenn aber der Gegenstand der Fragen, über die entschieden wird, eindeutig bestimmt ist, kann man gewiss sein, dass eine durch Sitzen bleiben oder Aufstehen, durch „angenommen" oder „abgelehnt", durch , ja" oder „nein" gefällte Entscheidung die Meinung aller zum Ausdruck bringt, gleichgültig ob sie gemeinsam oder getrennt, offen oder geheim abstimmen. Folglich kann die erste Art der Debatte genauso gut in einer beratenden Versammlung wie zwischen einzelnen Menschen stattfinden, in einer Versammlung öffentlicher Beamter wie in einer Privatgesellschaft. Die zweite hingegen ist nur für eine einheitliche beratende Versammlung geeignet. Ohne Debatte in einer zu diesem Zweck einberufenen Versammlung wäre es kaum möglich, Beschlüsse vorzubereiten und in einer Form vorzulegen, die eine unmittelbare Entscheidung entweder in derselben oder in einer anderen Versammlung erlauben. Die Entscheidung kann auch gesonderten Versammlungen übertragen werden, vorausgesetzt, dass die ihnen vorgelegten Fragen durch einfache Zustimmung oder Ablehnung entschieden werden können und dass die Fragen unwiderruflich festgelegt sind. Jede Debatte in diesen gesonderten Versammlungen wird damit überflüssig. Es reicht aus, dass Zeit genug war, die Fragen im Stillen zu erwägen oder frei in privaten Gesellschaften zu diskutieren. Der Einwand, dass die Bürger unter diesen Umständen nicht an der gesamten Diskussion teilnehmen konnten, dass nicht alle von allen angehört werden konnten, kann nicht überzeugen. Um eine kompetente Entscheidung zu treffen, ist es keineswegs notwendig, alles über einen Gegenstand gelesen oder gehört zu haben, was alle anderen, die ebenfalls an dieser Entscheidung teilhaben, vielleicht darüber denken. Ihre Ansichten verdienen nicht unbedingt den Vorzug vor anderen, die vielleicht mehr Aufklärung bringen. Es reicht aus, wenn einem alle Möglichkeiten, sich Wissen über den Gegenstand zu verschaffen, offen standen und man von ihnen frei Gebrauch machen konnte. Es ist Sache jedes Einzelnen, die ihm gemäße Art und Weise zu wählen, sich über einen Gegenstand zu informieren und sich entsprechend seiner Kenntnisse und Verstandeskraft einer Frage zu widmen. Auch hat die Erfahrung bewiesen, dass diejenigen, die alles lesen und hören wollen, was über einen Gegenstand geschrieben oder gesagt wurde, sich am Ende unfähig zu einer Entscheidung machen. Um aber aus den einzelnen Voten mehrerer getrennter Versammlungen ein gemeinsames Votum zu bilden, ist es notwendig, dass dieses Votum über eine unwiderruflich feststehende Frage abgegeben wird. Denn niemand wird bestreiten, wie sehr die Art, eine Frage zu stellen, das Ergebnis der Entscheidung beeinflussen kann.

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Immer dann, wenn die Form, in der eine Entscheidung erfragt wird, diese beeinflussen oder sogar in irgendeiner Weise bestimmen kann, haben getrennte Versammlungen also nur eine vermeintliche Entscheidungsgewalt. Diese Methode der Entscheidung darf mithin nicht auf alle Arten von Fragen angewandt werden. Man muss sie vielmehr auf solche beschränken, bei denen eine Versammlung durch Annahme oder Ablehnung eines wie auch immer formulierten Antrags tatsächlich über den Gegenstand entscheiden kann, zu dem sie nach ihrem Willen befragt wird. Man darf auf diese Methode also nur bei einfachen Anträgen sowie bei Reihen von Anträgen zurückgreifen, bei denen eine pauschale Ablehnung der ganzen Reihe noch immer den Willen, den man erfragen wollte, zum Ausdruck bringt, auch wenn die Versammlung tatsächlich nur einige der in dieser Reihe zur Entscheidung gestellten Anträge ablehnt. Warum aber legt man den Bürgern einen Verfassungsentwurf zur unmittelbaren Annahme vor? Doch wohl deshalb, damit das Volk, das den durch sein Einverständnis eingesetzten Gewalten nur einen vorläufigen Gehorsam leistet, seine vollständige Souveränität bewahrt; damit keine Gewalt eingesetzt werden kann, die seine Rechte missachtet - und sei es nur vorübergehend; damit die Zustimmung des Volkes jenen Gesetzen die Autorität des erklärten Willens der Mehrheit verleiht. Die Annahme einer Verfassung in ihrer Gesamtheit durch die Mehrheit der Bürger in getrennten Versammlungen, deren Mitglieder Gelegenheit hatten, diese Verfassung zu prüfen, bestätigt auf eindeutige Weise, dass die Bürger ihre Verabschiedung weder als gefährlich für die Freiheit noch als gegen ihre Interessen ansehen; dass sie nichts enthält, was die Rechte der Bürger verletzt; dass sie ihnen diese Rechte in ihrer Gesamtheit zu garantieren scheint und dem privaten Machtstreben Hindernisse in den Weg stellt, die schwer zu überwinden oder zu beseitigen sind. Eine Ablehnung drückt hingegen aus, dass die Bürger diese Garantie in jener Verfassung nicht finden oder sogar, dass der ihnen vorgelegte Entwurf ihre Rechte eher verletzt als verteidigt. Werden sie nach einer Prüfung des gesamten Verfassungsentwurfs - die auch jeder Bürger einzeln für sich vornehmen kann - erklärt, dann drücken sowohl die Ablehnung wie die Annahme eine sachkundige Meinung und einen wohlbegründeten Willen aus. Für die Annahme reicht es nicht aus, dass nur ein Teil jenes Entwurfs allgemeine Zustimmung verdient, es ist notwendig, dass jeder Teil des Ganzen zustimmungswürdig scheint. Für eine Ablehnung genügt hingegen, dass einige Teile in den Augen der Mehrheit echte Gefahren enthalten und sich ihre Zustimmung somit nicht auf die Gesamtheit des Werks erstrecken kann. Die Entscheidung kann also in ausreichender Kenntnis des Gegenstands getroffen werden. Die Form, in der sie erfragt wird, lässt vollständige Freiheit. Das Volk hat tatsächlich nur die Ausarbeitung der Verfassung delegiert - eine Aufgabe, die es nicht selbst übernehmen kann. Die anschließende Ablehnung oder Annahme drückt seinen wirklichen Willen aus. In den anderen Fällen, in denen wir vorschlagen, das Volk auf diese Art zu befragen, sind wir genau denselben Prinzipien gefolgt. Es handelt sich stets um einfache Fragen, deren Beantwortung vollständig frei und in keiner Weise von der Art der Fragestellung beeinflusst ist, da diese Form der Befragung stets nur in solchen Fällen angewandt wird,

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wo die Ablehnung oder Annahme des Vorschlags den Willen ausdrückt, den man in Erfahrung bringen wollte. Will jedoch das Volk, in seinen einzelnen Versammlungen, sein Souveränitätsrecht oder sein Wahlrecht ausüben, dann gebietet die Vernunft, dass es sich streng an im Voraus festgelegte Verfahren hält. Denn die einzelne Versammlung ist nicht souverän. Souveränität kann nur der Gesamtheit eines Volkes zukommen, und dieses Recht würde verletzt, wenn irgendein Teil dieses Volkes eine gemeinschaftliche Funktion nicht in derselben Art und Weise ausüben würde, wie alle anderen Teile. Bei der Ausübung dieser allgemeinen Ämter gehört der einzelne Bürger nicht zu der Versammlung, deren Mitglied er ist, sondern zum Volk, dessen Teil er ist. Die Mehrheit der Versammlung, in der er seine Stimme abgibt, hat über ihn nur die Gewalt, die ihr vom Gesetz übertragen wurde. Wenn eine zuvor durch das Volk angenommene Verfassung die Form dieser Versammlungen regelt, dann gehorchen die einzelnen Teile des Volkes ausschließlich der direkten Mehrheit desselben Volkes - mithin einer Autorität, die gegenüber jedem einzelnen dieser Teile genauso souverän ist wie gegenüber jedem einzelnen Bürger. Ist hingegen noch keine Verfassung vorhanden, dann muss jeder Teil des Volkes sich den von seinen Repräsentanten festgelegten Regeln unterwerfen. In keinem dieser Fälle kann man jedoch behaupten, das Souveränitätsrecht würde in irgendeiner Weise verletzt. Denn da hier eine einheitliche Verfahrensweise notwendig ist, ist es gleichermaßen notwendig, sich jener Autorität, die dem Willen des Souveräns am nächsten kommt, zu unterwerfen und sie aufrechtzuerhalten, solange dieser Wille noch nicht auf unmittelbare Weise ermittelt werden konnte. Wenn die Bürger in Primärversammlungen zusammenkommen, sollte man darin statt einer Gefahr für die öffentliche Ruhe lieber ein Mittel sehen, den Frieden mit der Freiheit zu versöhnen. Von diesen Versammlungen, die sich aus Menschen zusammensetzen, die friedlichen Geschäften und nützlichen Arbeiten nachgehen, können keine Unruhen ausgehen, solange nicht die übermäßige Länge ihrer Sitzungen dazu führt, dass nur noch müßiggängerische und daher gefährliche Menschen in ihnen zurückbleiben oder man sie sich selbst überlässt und damit der Gefahr aussetzt, in die Irre gefuhrt zu werden. Darüber hinaus haben wir kein Mittel ungenutzt gelassen, um die natürliche Eintracht dieser Zusammenkünfte zu wahren und den Einfluss von Parteien oder Intrigen von ihnen fernzuhalten. Diese Versammlungen, in denen die Bürger ihre Rechte als Mitglieder des Souveräns ausüben, indem sie eine Verfassung annehmen oder ablehnen; indem sie auf Fragen antworten, die ihnen im Namen der Nationalrepräsentation vorgelegt werden; indem sie Einspruch gegen Gesetze einlegen und damit die gesetzgebende Körperschaft zu einer genauen Prüfung dieser Gesetze verpflichten; diese Versammlungen, in denen der Bürger, der an ihnen teilnimmt, nicht nur für sich sondern fur die ganze Nation seine Stimme abgibt, müssen zunächst, was ihre Form und ihre Verteilung über das Staatsgebiet anbetrifft, scharf von jenen Versammlungen unterschieden werden, zu denen dieselben Bürger zusammengerufen werden können, um als Bewohner eines bestimmten territorialen Bezirks zu beraten. Folglich dürfen sie sich nur den Fragen widmen, zu deren Erörterung das Gesetz ihre Einberufung vorschreibt.

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Da diese Versammlungen niemals einzeln, sondern stets als Teil eines Ganzen handeln und nur einberufen werden, um über bereits vorformulierte Fragen zu entscheiden, darf dort keinerlei Debatte erlaubt sein. Zwar dürfen die Teilnehmer in der Frist zwischen Vorlegung und Entscheidung einer Frage am Sitzungsort der Versammlung die Gegenstände, über die sie urteilen sollen, frei diskutieren. Doch während dieser Frist ruht die offizielle Funktion der Teilnehmer und die Diskussion hat einen strikt privaten Charakter. Sie darf weder mit der Entscheidung vermengt werden, noch diese verzögern, denn die freiwillige Zusammenkunft, in der sie sich entfalten kann, ist streng zu unterscheiden von der Versammlung, in der die Entscheidung getroffen wird. Einzelne und willkürliche Beschwerden, freiwillige und private Zusammenkünfte, die nach eigenem Gutdünken einen öffentlichen Charakter annehmen, der ihnen nach dem Gesetz nicht zukommt, Munizipal- oder Sektionsversammlungen, die sich in Primärversammlungen verwandeln - all das wollten wir durch reguläre und legale Beschwerdeverfahren und durch im Namen des Gesetzes einberufene Versammlungen, die nach rechtmäßig eingerichteten Verfahren genau bestimmte Funktionen ausüben, ersetzen. Wenn private Beschwerden vernehmlich werden, wenn das Volk, von den unvermeidlichen Unruhen erschüttert, welche die Geburt einer Verfassung und die nachrevolutionären Zeiten mit sich bringen, Massenversammlungen bildet oder in Versammlungen, die aus anderen Gründen zusammengerufen wurden, diese Unruhen zum Gegenstand macht, dann finden sich die Repräsentanten der Nation zwangsläufig zwischen zwei Klippen wieder: Eine Nachgiebigkeit, die man für Schwäche halten könnte, ermutigt die Intrige und die Fraktionsbildung, entwertet die Gesetze, verdirbt den Geist der Nation und bestärkt einen Widerstand, der sich zu Aufständen entwickeln kann. Solche Aufstände können zu einer Bedrohung für die Freiheit werden, schaden jedoch immer dem Frieden und bringen beinahe zwangsläufig Leid über die Menschen. Hält dieser Zustand der Unruhe im Volk an, dann stellen immer neue Volksbewegungen der für das öffentliche Wohl so notwendigen Ruhe unaufhörlich neue Hindernisse entgegen. Im anderen Fall aber, wenn das Volk von selbst seiner Unruhe überdrüssig wird, lernen die bestehenden Autoritäten bald, seine schüchternen und furchtsamen Beschwerden abzuschmettern. Seine still auf einem Schreibtisch hinterlegten Eingaben dienen dann nur als Beweis seiner Gleichgültigkeit und ermutigen dazu, diese Gleichgültigkeit zu missbrauchen. Solche irregulären Beschwerden haben den zusätzlichen Nachteil, bei den Bürgern gefahrlichen Irrtümern über die Beschaffenheit ihrer Rechte, über die Natur der Souveränität des Volkes und über die Natur der verschiedenen vom Gesetz gestifteten Gewalten Vorschub zu leisten. Schließlich würde aus all dem eine echte Ungleichheit zwischen den unterschiedlichen Teilen der Republik entstehen. Denn sowohl irreguläre Beschwerden als auch die Aufstände oder Volksbewegungen, die aus ihnen unter Umständen entstehen, entfalten eine größere Kraft, wenn ihr Schauplatz der Sitz der nationalen Gewalten ist oder sich in dessen Nähe befindet, oder wenn eine verhältnismäßig reiche, durch ihre Lage und die verschiedenen dort angesiedelten Einrichtungen bedeutsame Stadt der Herd der Unruhen ist. Weil sie solche Städte beheimaten oder weil andere örtliche Umstände es geboten erscheinen lassen, behutsam mit ihnen umzugehen und sie nicht aufzubringen, üben

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gewisse Teile des Staatsgebietes auf die gesamte Republik einen Einfluss aus, der jener Gleichheit aller Teile eines einzigen Ganzen widerspricht, die auf das gewissenhafteste zu erhalten, das Naturrecht, die Gerechtigkeit, das Glück der Gemeinschaft und das allgemeine Wohl so machtvoll fordern. Die vom Komitee vorgeschlagene Form der Beschwerdeführung sollte allen diesen Nachteilen abhelfen. Der einzelne Bürger kann seine Primärversammlung auffordern, die erneute Überprüfung eines Gesetzes zu verlangen oder darauf hinzuwirken, dass durch ein neues Gesetz gegen einen Missstand vorgegangen wird, auf den er aufmerksam geworden ist. Einzige Bedingung ist, dass fünfzig andere Bürger mit ihm gemeinsam den Antrag unterschreiben - nicht, um zu bestätigen, dass dieser richtig ist, sondern dass er es verdient, einer Primärversammlung vorgelegt zu werden. Hat eine Primärversammlung einen Antrag zugelassen, dann hat sie das Recht, alle Versammlungen ihres territorialen Bezirks zu dessen Prüfung einzuberufen. Wenn in diesen das Votum der Mehrheit mit dem ihrigen übereinstimmt, dann werden alle Versammlungen der nächstgrößeren territorialen Einheit einberufen. Wenn das Votum der Mehrheit dieser Versammlungen wiederum übereinstimmend ist, dann ist die Versammlung der Repräsentanten des Volkes verpflichtet, zunächst nicht den Antrag selbst, sondern die Frage zu prüfen, ob sie ihn zur Beratung annimmt. Wenn sie ablehnt, dann wird die Gesamtheit der Primärversammlungen der Republik einberufen, um über diese Frage zu entscheiden, also immer noch darüber, ob man den vorgeschlagenen Gegenstand zur Beratung zulassen sollte. Entweder erklärt sich die Mehrheit der Primärversammlungen dann für die Meinung der Repräsentanten und der Antrag wird zurückgewiesen, oder diese Mehrheit votiert gegen die Repräsentanten und die Repräsentatiwersammlung, die offenbar das Vertrauen der Nation verloren hat, muss neu gewählt werden. Wenn aus dem Antrag der Primärversammlungen ein neues Gesetz hervorgeht, unterliegt es seinerseits wiederum demselben Beschwerdeverfahren und derselben Überprüfung, sodass sich weder der Wille der Repräsentanten des Volkes noch der eines Teils der Bürger jemals der Herrschaft des Gemeinwillens entziehen kann. Dieselben Regeln gelten für die Entscheidung, ob es angebracht ist, einen Konvent einzuberufen, um dem Volk eine neue Verfassung vorzulegen, die höchstwahrscheinlich nichts anderes sein wird als eine verbesserte Fassung der bisherigen. Doch ein solcher Konvent, der zweifellos vom nationalen Geist beflügelt sein wird, muss in jedem Fall die Möglichkeit haben, auch einen vollständig neuen Entwurf auszuarbeiten. Es wäre widersinnig, wenn ihm ausschließlich erlaubt wäre, eine gewisse Anzahl von Artikeln zu reformieren oder zu berichtigen. Denn je nach dem, auf welche Weise diese geändert werden, können Korrekturen in zahlreichen anderen Artikeln notwendig werden. In einem Werk aber, das eine systematische Einheit bilden soll, muss jede einzelne Änderung mit einer Überprüfung des Ganzen einhergehen, um das Vorhandene mit dem neu ins System eingeführten Element in Übereinstimmung zu bringen. Wenn die Mehrheit es verlangt, ist die Repräsentatiwersammlung verpflichtet, einen Konvent auszuschreiben. Weigert sie sich, die Primärversammlungen einzuberufen, wäre dies der einzige Fall, in dem ein legitimes Recht zum Aufstand gegeben ist. Dessen Ur-

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sache aber wäre so eindeutig, würde so allgemein empfunden und die entstehende Bewegung wäre so umfassend und unwiderstehlich, dass eine solche Weigerung der Repräsentatiwersammlung, die einem positiven, von der Nation selbst diktierten Gesetz widersprechen würde, außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegt. Ist ein dringendes Interesse vorhanden, können diese Verfahren sehr zügig durchgeführt werden. Zugleich stellen sie jedoch die notwendige Reife der Beschlüsse sicher und zwingen zu geordneten Beratungen. Beschwerden unterschiedlicher Teile des Staatsgebiets sind gleich wirksam, weil sie mit gleicher Kraft, nämlich mit dem ganzen Nachdruck des Gesetzes, dazu fuhren, die Gesamtheit des Volkes zu befragen. Es gibt keinen Vorwand für aufrührerische Bewegungen, da solche Bewegungen immer nur Bewegungen eines Teils gegen das Ganze sein könnten, dessen Entscheidungen sie offensichtlich versuchen würden zu verhindern oder zu unterlaufen. Eine systematische Intrige könnte nur dann auf Erfolg hoffen, wenn sie die gesamte Republik umfassen würde. Die repräsentative Körperschaft kann sich nicht verhasst machen, indem sie sich weigert, eine Beschwerde zu untersuchen, da das Gesetz in diesem Fall ihre Neuwahl vorsieht. Denn entweder votiert die Nation zu ihren Gunsten oder die Repräsentativkörperschaft hört auf zu bestehen und kann somit keinen Anlass mehr zu Unruhen geben. Die öffentliche Ruhe wird schließlich durch die vorläufige Anwendung der Gesetze garantiert. Wenn aber einerseits das Wissen um den Willen einer überwältigenden Mehrheit alle Fraktionen aufhebt, dann reicht andererseits der Wille einer knappen Mehrheit aus, um alle guten Bürger, alle wahren Patrioten hinter sich zu versammeln, welche die Gefahr erkennen, die entsteht, wenn dieser Wille missachtet wird und die sich ihm deshalb anschließen, auch wenn sie damit fur den Moment ihre persönliche Meinung hintanstellen. Darüber hinaus ist eine vom Volk angenommene Rechteerklärung, diese Darlegung der Bedingungen, denen sich jeder Bürger unterwirft, um in die nationale Rechtsgemeinschaft einzutreten und die er bei jedem anderen Bürger anerkennt; diese Grenze, die der Gemeinwille der Tätigkeit der gesellschaftlichen Autoritäten setzt; dieser Pakt, den jede dieser Autoritäten sich verpflichtet gegenüber dem Einzelnen einzuhalten, ein weiterer machtvoller Schild zur Verteidigung der Freiheit und zur Wahrung der Gleichheit, ebenso wie ein sicherer Leitfaden für die Beschwerden der Bürger. Aus der Rechterklärung können sie ersehen, ob ein Gesetz den Verpflichtungen widerspricht, welche die ganze Gesellschaft gegenüber jedem einzelnen von ihnen eingegangen ist, ob die Verwalter des Gemeinwillens nicht verpflichtet sind, ein bestimmtes Gesetz zu erlassen und ob die geltende Verfassung eine ausreichende Garantie für die in ihr festgeschriebenen Rechte gibt. Denn so gefährlich es wäre, wenn das Volk die Leitung seiner Angelegenheiten nicht delegieren würde, so gefährlich wäre es auch, wenn es die Wahrung seiner Rechte anderen Händen als den eigenen anvertrauen würde. Nachdem wir derart die Garantien dargelegt haben, mit denen die Rechte des Volkes gesichert werden müssen, nachdem wir diejenigen Rechte festgelegt haben, deren unmittelbare Ausübung durch das Volk zweckmäßig erschien und nachdem wir geregelt haben, auf welche Art und Weise es diese Rechte ausüben kann, haben wir uns der Organisation der Gewalten zugewandt, die vom Volk delegiert werden müssen.

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Bisher sind die Autoren zu diesem Thema in zwei Lager gespalten. Die einen sprechen sich dafür aus, dass eine einheitliche Kraft, deren Handeln vom Gesetz beschränkt und geordnet wird, das gesellschaftliche System in Bewegung versetzt und dass eine oberste Autorität alle anderen lenkt und nur vom Gesetz aufgehalten werden kann, dessen Einhaltung der Gemeinwille des Volkes garantiert, sollte diese oberste Autorität versuchen, sich eine Gewalt anzumaßen, die ihr nicht übertragen wurde oder sollte sie die Freiheit oder die Rechte der Bürger bedrohen. Andere hingegen sprechen sich dafür aus, dass voneinander unabhängige Prinzipien staatlichen Handelns sich gewissermaßen gegenseitig im Gleichgewicht halten und sich wechselseitig regulieren und dass jedes dieser Prinzipien gegenüber den anderen als Verteidiger der allgemeinen Freiheit auftritt und sich im Interesse der eigenen Autorität ihren Usurpationsversuchen entgegenstellt. Doch was wird aus der öffentlichen Freiheit, wenn sich diese Mächte, statt sich gegenseitig zu bekämpfen, gegen sie zusammenschließen? Was wird aus der öffentlichen Ruhe, wenn die Bürger sich, entsprechend ihrer jeweiligen Geisteshaltung zu den verschiedenen Mächten schlagen und für oder gegen sie Partei ergreifen? Hat die Geschichte nicht überall bewiesen, dass diese überkomplizierten Maschinen sich entweder durch ihre eigene Tätigkeit selbst zerstören oder dass neben dem gesetzlichen System ein zweites entsteht, das auf Intrige, Korruption und Gleichgültigkeit gegründet ist; dass es dann gewissermaßen zwei Verfassungen gibt, die eine legal und öffentlich, jedoch nur in den Gesetzbüchern vorhanden, die andere geheim aber wirksam, Ergebnis einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen den herrschenden Mächten. Letztlich aber hätte ein einziger Grund ausgereicht, um uns unsere Entscheidung zwischen den beiden Systemen treffen zu lassen: Jene Verfassungen, die auf dem Gleichgewicht der Gewalten gegründet sind, setzen entweder voraus oder fuhren dazu, dass zwei Parteien existieren. Keine Parteien mehr zu kennen ist jedoch eines der höchsten Bedürfhisse der französischen Nation. Folglich muss die Gewalt, Gesetze zu geben und die Gewalt, jene allgemeinen Verwaltungsmaßnahmen festzulegen, die nur den Händen der Repräsentanten des Volkes anvertraut werden dürfen, einer Nationalversammlung übergeben werden. Die übrigen Gewalten müssen sich damit begnügen, die Gesetze und Beschlüsse auszuführen, die von dieser Nationalversammlung verabschiedet werden. Die Repräsentanten des Volkes sollen in einer einzigen Versammlung zusammenkommen. Zweifellos würde es der natürlichen Gleichheit nicht widersprechen, wenn man zwei getrennte Kammern einrichtet, die sich beide gleichermaßen aus von allen Bürgern und unter allen Bürgern ausgewählten Mitgliedern zusammensetzen würden. Doch wenn man zum Beispiel die Einstimmigkeit beider Versammlung zur Bedingung einer Entscheidung macht, dann reicht erfahrungsgemäß bereits der Wille einer sehr kleinen Minderheit aus, um durch eine bloße Formalie zu verhindern, was eine große Mehrheit in Wahrheit gebilligt hat. Bekanntlich erreicht man mit der Einrichtung zweier Kammern dasselbe, wie mit der Bedingung, dass ein Antrag nur mit einer bestimmten relativen Mehrheit angenommen werden kann, doch gelangt man zu diesem Ziel in einem Zweikammersystem nur auf unsichere und verzerrte Weise. Darüber hinaus ist die Verbindung

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zweier Kammern nicht das Werk einer politischen Theorie, die einem aufgeklärten Jahrhundert entstammt. Ganz zu schweigen von gewissen Verfassungen, die auf dem Vorurteil beruhen, dass Menschen sich in einer Gesellschaft zusammenschließen könnten, um dort ungleiche Rechte auszuüben und dass bestimmte Klassen den Anspruch erheben dürften, sich einen vom Gemeinwillen unabhängigen Willen zu bewahren, verdankt diese Einrichtung ihren Ursprung im allgemeinen Völkern, deren Gesetze allein auf überlieferten Sitten beruhten; Völkern, die ihre öffentlichen Ausgaben aus territorialen Einkünften oder ewigen Grundzinsen bestritten; bei denen man jede Veränderung mit jener Furcht betrachtete, die aus Unwissenheit entsteht; bei denen weder eine nennenswerte Verwaltung existierte, noch ein Bedarf nach Verwaltungsmaßnahmen bestand. Aus diesen Gründen verlangte man dort weniger nach einer Macht die Tätigkeit entfaltete als vielmehr nach einer Macht, die Veränderungen verhinderte. Diese Furcht vor Neuerungen, die eine der schlimmsten Plagen der Menschheit ist, ist noch immer die stärkste Stütze jener politischen Einrichtungen und die Empfindung auf die ihre Verteidiger am sichersten vertrauen. Letztendlich kann die natürliche Trägheit dieses Systems in Hinsicht auf Verwaltungsmaßnahmen nur von einem äußeren Zwang überwunden werden. Es ist daher ungeeignet für die französische Republik, in der die Reform der bestehenden Gesetze und die Einrichtung eines neuen Systems der Gesetzgebung zu den wichtigsten Aufgaben der Repräsentanten des Volkes gehören; in der die Größe der Schäden, die wieder gutgemacht werden müssen und die Zahl der Institutionen, die es aufzubauen gilt, noch lange das Bedürfnis nach einer unermüdlich tätigen Autorität wach halten werden. Die häufige Erneuerung der gesetzgebenden Körperschaft, die Beschwerden, die das Volk gegen Gesetze erheben kann, welche es als seiner Freiheit widersprechend ansieht, sowie die sofortige Auswechslung von Versammlungen, die sich weigern, seine Stimme anzuhören: das sind ausreichende Vorsichtsmaßnahmen gegen Usurpationsversuche und gegen für die Freiheit zerstörerische Tendenzen, die man von einer Versammlung, welche die einzige Quelle aller gesellschaftlichen Gewalten ist, vielleicht befürchten müsste. Die Entscheidung für dieses System macht es notwendig, zwischen den Akten einer gesetzgebenden Körperschaft, die echte Gesetze sind und denen, die bloß allgemeine Verwaltungsakte darstellen, zu unterscheiden. Gesetze können einerseits vorläufigen Gehorsam in Anspruch nehmen, andererseits können sie abgeschafft werden. Es liegt in ihrer Natur so lange zu gelten, bis sie von einer rechtmäßigen Autorität widerrufen werden. Sie müssen nicht in bestimmten Zeitabständen verlängert werden. Verwaltungsakte hingegen werden zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgeführt oder haben eine begrenzte Dauer. Wenn man die Beschaffenheit einer Steuer festlegt, die Grundlagen für ihre Aufteilung und ihre Tarifierung sowie die Art ihrer Erhebung bestimmt, dann handelt es sich um echte Gesetze. Doch die Höhe dieser Steuer bekannt zu geben und die Grundsätze des Tarifs anzuwenden, um einen bestimmten Ertrag zu erzielen: das sind allgemeine Verwaltungsakte. Eine Beschwerde gegen derartige Akte wäre unsinnig, weil sie zu spät kommen würde oder gefährlich, weil sie deren notwendige Ausführung verzögerte. So muss beispielsweise jedes Jahr die Höhe der öffentlichen Ausgaben festgelegt werden und es ist notwendig, den Anteil zu bestimmen, den jede Steuer dazu beitragen

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soll. Doch darf gegen diese Beschlüsse keine Beschwerde möglich sein, da man andernfalls Gefahr laufen würde, die gesamte Volkswirtschaft in Unordnung zu bringen. Genauso wenig dürfen gegen Beschlüsse über die Errichtung von Bauwerken und öffentlichen Anstalten Beschwerden zulässig sein, welche deren Überprüfung notwendig machen würden. Die ewige Ungewissheit, die aus solchen Beschwerden folgt, würde das Gelingen solcher Vorhaben mehr oder weniger unmöglich machen. Sie würden letztlich nicht deswegen scheitern, weil sie bestimmte Rechte verletzen oder ewig gültigen Prinzipien widersprechen, sondern weil ihnen momentane oder lokale Rücksichtnahmen entgegenstehen oder aufgrund von Erwägungen öffentlichen Interesses, über die die Gesamtheit der Bürger sich vermutlich kaum ein Urteil bilden kann, ja, über die sie nicht einmal Zeit hätte, sich zu unterrichten. Die häufige Erneuerung der Körperschaft, die das öffentliche Vertrauen genießt, und das Recht, die Änderung einer schlechten Verfassung zu verlangen, sind in dieser Hinsicht folglich die einzigen aber auch ausreichenden Garantien, welche die Bürger für sich fordern können. Doch wenn die kurze Dauer der Ämter, regelmäßige Wahlen und die verschiedenen gesetzlich festgelegten Beschwerdeverfahren wirksame Mittel zur Sicherung der Freiheit sind, dann braucht man ebenso wenig zu furchten, dass sie nicht genügen, um das öffentliche Wohl oder die individuellen Rechte vor den Irrtümern zu schützen, zu denen eine zahlreiche Versammlung sich durch zu große Eile, Voreingenommenheit oder einfach durch zu großen Eifer vielleicht hinreißen lassen könnte. Um dieser augenscheinlichen Gefahr abzuhelfen, hat man mehr als einmal vorgeschlagen, eine einheitliche Versammlung in zwei permanente Sektionen zu unterteilen, die getrennte Beratungen abhalten. Wenn sie zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, könnten beide Sektionen zusammenkommen, um einen endgültigen Beschluss zu fassen oder man würde das Votum der Mehrheit ermitteln, indem man die Ja- und Neinstimmen in beiden Sektionen auszählt. Ein anderer Vorschlag ging dahin, einer gesonderten Körperschaft das Recht einzuräumen, die Beschlüsse der Repräsentatiwersammlung zu überprüfen und die Gründe für die Verweigerung ihrer Zustimmung in einer bestimmten Frist darzulegen, woraufhin die Versammlung auf Grundlage einer erneuten Debatte ihre endgültige Entscheidung trifft. Keine dieser beiden Einrichtungen widerspricht der Freiheit oder der vollständigen Einheit der gesetzgebenden Gewalt. Jede von ihnen hat Vor- und Nachteile. Doch weder die eine noch die andere schien uns für die französische Nation geeignet. Denn sowohl permanente Sektionen als auch eine Körperschaft zur Überprüfung der Gesetze würden die Geister spalten, Sammelpunkte fur Parteien werden und den Einen Anlass zur Beunruhigung, den Anderen aber Anlass zum Enthusiasmus sein. Der rasche Übergang vom Despotismus zur Freiheit und der nicht weniger rasche Übergang von einer so genannten konstitutionellen Monarchie zur Republik, die Unruhe, die diese aufeinander folgenden Revolutionen mit sich brachten und der Geist des Misstrauens, der durch die Irrtümer und Fehler, in die so viele Menschen verwickelt waren, zwangsläufig aufkam, all das macht diese Einrichtungen für uns untauglich. Denn Meinungsverschiedenheiten und Streit zwischen mit öffentlicher Autorität ausgestatteten Körperschaften vertragen sich nicht mit der Ruhe der Bürger, es sei denn, man setzte auf Seiten des Volkes so viel

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Besonnenheit und Vertrauen voraus, dass es sich damit begnügt, ausschließlich friedlicher Zuschauer zu sein und nur mit seinem Verstand zu urteilen. Es galt also, Verfahrensweisen zu finden, die vor den Gefahren der Übereilung schützen aber zugleich die Handlungsfähigkeit nicht einschränken und jener Schnelligkeit der Entscheidungen nicht im Weg stehen, die manchmal notwendig ist, ohne dass das Gesetz jedoch im Voraus die Fälle bestimmen kann, in denen eine solche Notwendigkeit tatsächlich besteht. Es war zugleich unbedingt erforderlich, dass diese Verfahrensweisen selbst unter den gebieterischsten Umständen vor einer zu großen Überstürzung Schutz bieten; dass Beschlüsse zwar rasch aber nicht ohne Überlegung gefasst werden; dass auch unter solchen Umständen den Mitgliedern der Versammlung Gelegenheit bleibt, sich eine Meinung zu bilden und dass sie sich über die Gründe und Folgen der Entschließung, die ihnen vorgeschlagen wird, klar werden können. Drei Verfahren der Gesetzgebung haben unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Alle drei schienen uns die gestellten Bedingungen zu erfüllen. Bei allen dreien bleibt die Einheit der gesetzgebenden Körperschaft vollständig gewahrt. Kein äußerer Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren bietet den mindesten Anlass für die Entstehung von Spaltungen oder die Bildung von Parteien, weder innerhalb der gesetzgebenden Körperschaft noch innerhalb der Nation. Im ersten dieser Verfahren werden alle Akte der gesetzgebenden Versammlung, die nicht ausschließlich ihre innere Ordnung und ihr Beratungsverfahren betreffen, in zwei Debatten behandelt. Die erst Debatte hat nur die Frage zum Gegenstand, ob ein vorgeschlagener Gesetzesentwurf zur späteren Prüfung zugelassen, ob diese Prüfung abgelehnt oder ob sie vertagt wird. Wird der Entwurf zur Prüfung angenommen, wird er an einen Ausschuss verwiesen, dessen Aufgabe es ist, ihn zu prüfen und über das Ergebnis Bericht zu erstatten. Nach diesem Bericht beginnt die endgültige Debatte. Vor dem Bericht des Ausschusses muss jeder zugelassene Entwurf gedruckt und ausgeteilt werden. Für jeden dieser Schritte sind Fristen festgesetzt, doch die Versammlung kann diese verkürzen, wobei die Frist, die zwischen der Zulassung eines Gesetzesentwurfs und der abschließenden Beratung liegt, nur durch einen in geheimer Abstimmung gefassten Beschluss abgekürzt werden kann. Die Akten sollen auf ihrem Titel das Datum ihrer Zulassung, das des Berichts des Ausschusses und gegebenenfalls das der geheimen Abstimmung tragen, durch welche die gesetzlich festgelegten Fristen verkürzt wurden. Es wird deutlich, dass die Versammlung ihren Beratungen alle Schnelligkeit verleihen kann, die außergewöhnliche Umstände nötig machen können. Die einzig notwendigen Formalitäten: die Drucklegung eines Gesetzesentwurfs, die Beratung und Abstimmung in geheimer Wahl und der Ausschussbericht, können in solchen Fällen in sehr kurzer Zeit vonstatten gehen. Trotz dieser Eile wird jedoch, bevor ein Beschluss gefasst wird, jedes Mitglied der Versammlung den Entwurf gelesen haben und der Ausschuss wird überprüft haben, ob er im Widerspruch zu den bestehenden Gesetzen oder zu vorangegangenen Beschlüssen steht. Unter gewöhnlichen Umständen haben die Prüfung durch den Ausschuss und dessen Bericht noch den zusätzlichen Vorteil, dass sie zur Vereinheitlichung des Systems der

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Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen sowie zu einer klareren und methodischeren Abfassung der Gesetze beitragen. Sie verhindern, dass allzu häufig übereilte Entschließungen zurückgenommen werden müssen und dass die Arbeit einer gesetzgebenden Körperschaft jenen vielfältigen Interpretationen und Unsicherheiten unterliegt, die ihrer Würde so abträglich sind und die sie so schnell das Vertrauen des Volkes verlieren lassen. Die Zusammensetzung des Ausschusses hat uns vor Schwierigkeiten gestellt. Wir haben uns für eine geringe Mitgliederzahl entschieden und schlagen vor, ihn monatlich neu zu bilden. Jeder Ausschuss bleibt mit den Berichten betraut, die ihm einmal übertragen wurden. Da während der gesamten Dauer einer Versammlung kein Mitglied zweimal in den Ausschuss berufen werden kann, wird jeder Ausschluss stets vollzählig sein. Auch im zweiten Verfahren zur Verabschiedung eines Gesetzes hat die Versammlung die Möglichkeit, ihre Beratungen beschleunigen. Sie kann jedoch die abschließende Debatte nicht beginnen, ohne sich zuvor in zwei große Ausschüsse geteilt und dort jeweils eine vorbereitende Debatte eröffnet und wieder geschlossen zu haben. Diese unumgängliche vorbereitende Debatte verhindert übereilte, im Sturm der Begeisterung gefasste Entscheidungen, vor allem aber solche, die durch einen Zusammenschluss mehrerer Mitglieder der Versammlung beeinflusst werden könnten. Denn da die beiden vorbereitenden Ausschüsse im jeweiligen Augenblick gebildet werden, kann man keine Vorbereitungen zu ihrer Beeinflussung treffen. Diesem Verfahren fehlt der Vorzug, das Gesetz der gewissenhaften Prüfung durch einen Ausschuss von wenigen Mitgliedern zu unterwerfen. Doch an seine Stelle tritt derjenige einer ruhigeren Debatte, da in den getrennten Ausschüssen, in denen keine Entscheidung getroffen und kein Beschluss gefasst wird, diese Debatte nicht durch außerordentliche Eingaben oder Anträge zur Tagesordnung gestört werden kann - durch jene Unterbrechungen also, welche die Notwendigkeit sich dringenden Angelegenheiten zu widmen in einer Versammlung, die mit wichtigen Interessen und vielfaltigen Gegenständen befasst ist, so oft mit sich bringt. Man wird vielleicht einwenden, dass in Fällen, in denen die Bewegung der Versammlung eine überstürzte Beschlussfassung befürchten lässt, auch in den Ausschüssen keine Debatte stattfinden wird. Doch das setzt voraus, dass die Mehrheit beider Ausschüsse durchaus eine rasche Entscheidung will - was aber wiederum Anlass zu der Vermutung gäbe, dass das öffentliche Interesse eine solche rasche Entscheidung fordert. Beim dritten Gesetzgebungsverfahren ist eine Zweidrittelmehrheit der Stimmen in namentlicher Abstimmung erforderlich, um die Dringlichkeit festzustellen und die vom Gesetz geforderten Fristen außer Kraft zu setzen. Dieses Verfahren ist das einfachste von allen: Man wird gegen es einwenden, dass es die Zweidrittelmehrheit an Stelle der einfachen Mehrheit setzt. Aber die Einwände, die man gegen den Gebrauch solcher Abstufungen der Mehrheit erhoben hat, sind nur dann stichhaltig, wenn dieses Mittel in Fällen zur Anwendung kommen soll, in denen die Notwendigkeit besteht zu handeln, in denen man jedoch erst nach einer erneuten Entscheidung handeln kann, weil kein Grund vorhanden ist, einem der zur Entscheidung stehenden Anträge den Vorzug zu geben. Die Gesetze aller zivilisierten Völker fordern mehr als die einfache Mehrheit, um einen Angeklagten zu verurteilen, denn der Schaden, der durch die irrtümliche Verurteilung eines

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Unschuldigen entsteht, wiegt schwerer als der, sich zu täuschen, indem man einen Schuldigen freispricht. Man könnte mit Recht diese höhere Mehrheit auch bei wichtigen Angelegenheiten verlangen, die falsch zu entscheiden gefährlich wäre und deren Entscheidung aufgeschoben werden kann, ohne dass dadurch Nachteile entstehen, die dieser Gefahr gleichkommen. Man kann sie ebenso in Fällen verlangen, wo die Gründe für eine Entscheidung, wenn sie zutreffend sind, jedermann einleuchtend sein müssten, weil in solchen Fällen eine nur knappe Mehrheit diese Gründe in Frage stellen würde. Man kann sie schließlich auch verlangen, wenn es darum geht eine Ausnahme von einem allgemeinen Gesetz zu beschließen, dessen Güte anerkannt ist. Diese vier Bedingungen aber sind im vorliegenden Fall allesamt gegeben, da, wenn die Dringlichkeit einmal abgewiesen wurde und später neue Gründe für sie sprechen, nichts einer erneuten Beratung im Wege steht. Den Nachteilen, die aus einer Verzögerung um einen einzigen Tag erwachsen, muss man aber die Gefahr gegenüberstellen, die Zahl der übereilten Entscheidungen zu vervielfachen. Wir machen übrigens darauf aufmerksam, dass es hier keineswegs darum geht, die Mehrheit der Minderheit zu unterwerfen, sondern darum, dem Willen der Mehrheit der Nation zu gehorchen, die eine Ausnahme von einem allgemeinen Gesetz, das sie selbst beschlossen hat, unter den Vorbehalt der Zweidrittelmehrheit stellt. Hat diese Mehrheit nicht das Recht die Bedingungen der vorläufigen Unterwerfung festzulegen, zu der nur ihr Wille die Gesamtheit der Bürger hat verpflichten können? Indem wir so eine Versammlung der Repräsentanten des Volkes zum alleinigen Prinzip des gesellschaftlichen Handelns gemacht haben, gegenüber der die anderen Autoritäten nur Ausfuhrende der von ihr verabschiedeten Gesetze und Agenten der von ihr bestimmten Verwaltungsmaßnahmen sind, glauben wir, das sicherste Mittel gewählt zu haben, um die Einheit zu bewahren und die Freiheit mit dem Frieden zu versöhnen. Wir wissen wohl, dass die Einsetzung einer einzigen Gewalt, deren Autorität nur von geschriebenen Gesetzen begrenzt wird und keine andere echte Schranke als den Widerstand des Volkes hat, bei aufgeklärten Freunden der Freiheit gewisse Befürchtungen geweckt hat. Doch ihre Befürchtungen rührten allein daher, dass sie nur einen spontanen und von der Augenblicksmeinung gelenkten Widerstand vor Augen hatten. In unserem Entwurf vollzieht sich dieser Widerstand jedoch in Formen, die vom Gesetz selbst vorgeschrieben werden. Im Übrigen stößt man in allen Systemen, sowohl in denen, die auf einem Gleichgewicht der Gewalten, wie in denen, die auf der Handlungseinheit beruhen, immer wieder auf jene sowohl in politischer wie moralischer Hinsicht schwierige Frage des Widerstandsrechts gegen ein offensichtlich ungerechtes, jedoch auf regulärem Wege von einer gesetzgebenden Gewalt erlassenes Gesetz. Denn wenn man auch einerseits einen unbegrenzten Gehorsam als tief greifende Verleugnung der natürlichen Rechte betrachten muss, lässt sich andererseits fragen, wer sich zum Richter darüber machen will, ob ein Gesetz tatsächlich ungerecht ist. In unserem Entwurf ist der Richter, dessen Tätigkeit vom Gesetz selbst geregelt wird, die unmittelbare Mehrheit des Volkes, die oberste politische Macht, über die man nicht hinausgehen kann, ohne den gesamten Gesellschaftspakt in Frage zu stellen, ohne den Menschen in den Naturzustand zurückzu-

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versetzen, in dem keine andere Autorität herrscht als die der unveränderlichen aber zu oft verkannten Gesetze der Vernunft und der universellen Gerechtigkeit. Um die Handlungseinheit ebenso wie die Einheit der Prinzipien zu wahren, ist es erforderlich, dass die Verfassung zwischen die gesetzgebende Körperschaft und die Bürger, die dem Gesetz gehorchen müssen, sowie zwischen die gesetzgebende Körperschaft und die öffentlichen Beamten, die für die unmittelbare Ausführung der Gesetze verantwortlich sind oder die allgemeinen Verwaltungsmaßnahmen im Einzelfall vollziehen, einen Rat nationaler Beamter stellt. Dieser Rat ist sowohl dafür verantwortlich, die Einhaltung und Ausführung der Gesetze zu überwachen, wie dafür, die Einzelheiten der allgemeinen Verwaltungsmaßnahmen so abzustimmen, dass sie zügig ausgeführt werden können. Er muss gemäß den Anordnungen handeln, die der Wille der Nation getroffen hat und die Repräsentanten des Volkes über Umstände unterrichten, die neue Beschlüsse erforderlich machen können. Dieses für die gesellschaftliche Ordnung notwendige Verbindungsglied darf nicht als eine eigenständige Gewalt angesehen werden. Es ist nicht Aufgabe dieses Rates zu wollen, sondern zu wachen. Er muss dafür sorgen, dass der Wille der Nation, sobald er zum Ausdruck gebracht ist, mit Genauigkeit, Ordnung und Sicherheit ausgeführt wird. Es boten sich nur zwei Wege an, die für jede politische Aktivität notwendige Einheit dieses Rates sicherzustellen. Einerseits besteht die Möglichkeit, einen Vorsitzenden einzusetzen, bei dem alles zusammenläuft und dessen Unterschrift für alle Amtsgeschäfte notwendig ist. Die anderen Mitglieder, unter denen die Arbeit des Rats aufgeteilt wird, dürfen nur mit seiner Zustimmung handeln. Liegt diese Zustimmung vor, sind sie in ihrer Tätigkeit unabhängig von ihren Kollegen. Bei Meinungsverschiedenheiten muss entweder der Vorsitzende die Entscheidung treffen oder der Rat muss zwischen beiden entscheiden. Andererseits kann man den Rat als Ganzen mit der Verantwortlichkeit für die Amtsgeschäfte betrauen und ausschließlich ihm die Entscheidungsvollmacht geben, sodass die Ratsmitglieder nur kraft eines gemeinsamen Ratsbeschlusses einzeln tätig werden dürfen. Wenn man sich für den ersten Weg entscheidet, mag man noch so sorgfältig versuchen, alles zu vermeiden, was auch nur den geringsten Anlass zur Furcht um die Freiheit geben könnte, es wird zwangsläufig immer ein Schattenbild monarchischer Formen zurückbleiben. Der Vorstellung wird sich immer das Bild eines Menschen darbieten, wo es doch so wichtig ist, dass ihr nur das Bild des Gesetzes vor Augen steht. Im Übrigen würde die Notwendigkeit, Vorsichtsmaßnahmen gegen die Entstehung einer übermächtigen Autorität zu treffen, zwangsläufig dazu führen, diese Einrichtung mehr oder weniger nutzlos für den Zweck zu machen, für den allein sie eingesetzt wurde. Wir haben daher einem Rat aus untereinander gleichberechtigten und jeweils mit einem bestimmten Aufgabenbereich betrauten Beamten den Vorzug gegeben: jeder allgemeine Beschluss, jede Entschließung wird dort auf den Bericht desjenigen Beamten hin gefasst, der anschließend auch mit der Ausführung des Beschlusses betraut ist. Bei einem Rat, der aus wenigen, mit den Staatsgeschäften vertrauten Mitgliedern besteht, gibt es keinen Grund für die Befürchtung, dass er zu langsam arbeiten würde. Die

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Beratungen dort würden zügig vonstatten gehen. Sie würden sich fast immer darauf beschränken, mit einigen Änderungen die Entwürfe anzunehmen, die deijenige vorlegt, der für ein Departement die Berichte ausarbeitet und die Grundlagen der Entscheidungen zusammenstellt. Im Übrigen sind es nicht die allgemeinen Beschlüsse, bei denen Verzögerungen zu befürchten sind, sondern die Vorbereitung der Entscheidungen und die Zusammenstellung der Einzelheiten: beide Arbeiten würden jedoch von einer einzigen Person erledigt. Der Rat sollte jährlich zur Hälfte erneuert werden, damit er einerseits niemals ausschließlich aus Mitgliedern besteht, die in ihren Ämtern völlig unerfahren sind, und der Gang der Geschäfte nicht unterbrochen wird, man aber andererseits nicht befürchten muss, dass es dort zu jener Verfestigung von Meinungen und Systemen kommt, die sinnvolle Reformen verhindert und alles der Herrschaft der Routine unterwirft. Es ist falsch, zu glauben, nur ein und dieselbe Person könne Einheitlichkeit der Ansichten und Handlungsfähigkeit gewährleisten. Vernunft und Erfahrung zeigen gleichermaßen, dass diese Vorteile auch für eine begrenzte Zahl von Personen gelten. In einem einzelnen Menschen sowohl die notwendige Geisteskraft anzutreffen, um stets nach gleichen Prinzipien zu handeln, als auch eine Tatkraft, die sich gleichermaßen auf große Gegenstände wie auf Einzelheiten erstreckt, ist wahrscheinlich schwieriger, als mehrere Menschen zu finden, die diese Qualitäten in geringerem, jedoch fur entsprechend begrenzte Aufgaben ausreichenden Maße in sich vereinen. Die Mitglieder des Rates müssen unbedingt den Vertretern der legislativen Gewalt untergeordnet sein, da sonst das Prinzip der Einheit des staatlichen Handelns verletzt würde. Der Rat muss die Hand sein, mit der die Gesetzgeber handeln, ebenso wie das Auge, mit dem sie die Einzelheiten der Ausführung ihrer Beschlüsse und deren Wirkungen beobachten können. Die Institutionen eines freien Volkes dürfen jedoch kein Bild knechtischer Abhängigkeit bieten. Obwohl die Mitglieder des Rates Agenten der gesetzgebenden Körperschaft sind, dürfen sie doch nicht ihre Geschöpfe sein. Die gesetzgebende Körperschaft muss über Mittel verfugen, sie zum Gehorsam zu zwingen. Sie muss Autorität genug haben, um ihren Verirrungen Einhalt zu gebieten. Doch das Gesetz, Beschützer der Rechte aller, muss zwischen beide Einrichtungen treten können. Folglich dürfen die Mitglieder des Rates nicht von der gesetzgebenden Körperschaft gewählt werden, denn sie sind Beamte des Volkes, nicht seiner Repräsentanten. Die Möglichkeit der willkürlichen Entlassung dieser Beamten hätte eine zu große Abhängigkeit zur Folge. Die Repräsentanten des Volkes und die Mitglieder des Rates hätten unaufhörlich unter den Intrigen von Personen zu leiden, die, weil sie selbst auf diese Posten gelangen wollen, versuchen würden, möglichst häufige Wechsel im Rat herbeizuführen. Es wäre jedoch genauso gefährlich, wenn keine Möglichkeit zur Entlassung dieser Beamten vorhanden wäre, außer wenn sie durch schwerwiegende Pflichtverletzungen die Strenge des Gesetzes auf sich ziehen. Nachlässigkeit, Unfähigkeit, die kein noch so sorgfältiges Auswahlverfahren verhindern kann oder jener Verlust des öffentlichen Vertrauens, den unabsichtliche Fehler nach

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sich ziehen können: alle diese Ursachen können die Amtstätigkeit eines Mannes unheilvoll für das Vaterland machen, ohne einen Grund zu bieten, formelle Anklage gegen ihn zu erheben. Man wäre vor die Wahl gestellt, entweder Gefährdungen des Gemeinwohls hinzunehmen oder es durch Ungerechtigkeiten oder eine übertriebene Strenge - die fast immer ungerecht ist - zu retten. Wir glauben, ein Mittel gefunden zu haben, beide Nachteile zu vermeiden, indem wir der gesetzgebenden Körperschaft das Recht geben, eine gerichtliche Untersuchung gegen die Ratsmitglieder einzuleiten, bei der eine nationale Jury ausschließlich darüber entscheidet, ob der Angeklagte seines Amtes enthoben wird oder nicht. Auf diese Weise werden unfreiwillig begangene Fehler nicht mit Verbrechen auf eine Stufe gestellt, doch zugleich bedrohen die Mängel, die zu diesen Fehlern geführt haben, nicht länger die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl. Diese Art der Zensur, die im Namen des Volkes von Männern ausgeübt wird, die es gewählt hat, von Männern, denen kein anderes Amt ein politisches Interesse eingeben kann, die durch das Los auf diesen Richterstuhl berufen werden und deren Meinung man somit keine Gelegenheit hat, im Voraus zu beeinflussen - eine solche Kontrolle scheint die Unparteilichkeit zu haben, die dem Interesse und der Würde der Nation entspricht. Die gesetzgebende Körperschaft ist dabei nur mit der Aufgabe betraut, die ihr zukommt, nämlich die Aufsicht über dieses Verfahren zu führen, und es würde alles von ihr ferngehalten, was sie auch nur in den Verdacht bringen könnte, ihre Macht zu missbrauchen, alles, was jenes unbeschränkte öffentliche Vertrauen beschädigen könnte, dessen die Repräsentanten des Volkes am dringendsten bedürfen und das der wichtigste Grundpfeiler von Ruhe und Ordnung ist. Für die Zeit zwischen der Eröffnung des Verfahrens durch die gesetzgebende Körperschaft und dem Urteil, wäre das angeklagte Ratsmitglied von seinen Aufgaben entbunden und würde durch einen Stellvertreter ersetzt. Dieser würde durch das Los bestimmt, um dem Verdacht vorzubeugen, dass hier der Ehrgeiz eines dieser Stellvertreter vielleicht versucht haben könnte, die Entscheidung der Versammlung zu beeinflussen. Diese obersten Beamten der Regierung haben immer und überall das Misstrauen der Freunde der Freiheit auf sich gezogen. Der Umfang und die Dauer ihrer Vollmachten, der Einfluss, den sie auf die mit der gesetzgebenden Gewalt ausgestattete Person oder Körperschaft haben; die Menge ihrer Anhänger, die notwendig aus der großen Anzahl lukrativer und dauerhafter Posten folgt, die sie vergeben können - das sind die Gründe, die jenes Misstrauen hervorbringen und nähren und die zugleich das Trachten aller Ehrgeizigen auf den Erwerb dieser Posten lenken. Wir haben alle diese Gründe bis ins letzte ausgeräumt, und jene ehrenvollen und mühseligen Ämter werden in Zukunft weder den Ehrgeiz in Versuchung führen, noch die Tugend in Unruhe versetzen können. Wir haben die Verwaltung des Staatsschatzes vollkommen unabhängig vom Exekutivrat gemacht. Eine lange und unheilvolle Erfahrung hat bewiesen, dass das Gold, das den Nationen fur die Verteidigung ihrer Freiheit abverlangt wurde, allzu oft verwendet wurde, um sie zu knechten; dass Unruhen, die Republiken zerstört haben, ihre Hauptursache in der Unordnung der Finanzen hatten; dass die Leichtigkeit, mit der der Staatsschatz missbraucht werden konnte, dort Ursache der schlimmsten und beharrlichsten

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Korruption war und dass schließlich weder Strafgesetze noch Rechenschaftspflichten jemals die Gier oder den Ehrgeiz der Regierenden zu unterdrücken oder zu zügeln vermocht haben. Das sicherste Mittel, diesen Missbräuchen vorzubeugen, ist, die Verwalter der öffentlichen Gelder einzig an deren Erhaltung interessiert zu machen, indem man strikt zwischen ihnen und denjenigen, die im Rahmen der staatlichen Aufgaben von diesen Geldern Gebrauch machen, trennt. Wollte dann jemand das Geld des Volkes zu Zwecken verwenden, die nicht dem Gesetz entsprechen, könnte er seine Dreistigkeit nicht mehr durch Finanzgeschäfte verschleiern oder mit den nicht verbrauchten Geldern einer beschlossenen Ausgabe eine andere, nicht angeordnete, bezahlen. Ist diese Trennung einmal verwirklicht, würde die regelmäßige Ablösung sowohl der Mitglieder des Rates als auch der Verwalter des Staatsschatzes jeder Komplizenschaft ein wirklich unüberwindliches Hindernis in den Weg legen. Diese überaus einfache Einrichtung ist am besten geeignet, jegliche Heimlichkeit zu vermeiden und zugleich die einzige, die echte und dauerhafte Sicherheit gewähren kann. Aus diesen Gründen haben wir die Schatzkommissare zu den nationalen Beamten gerechnet, die unmittelbar und ausschließlich der gesetzgebenden Körperschaft unterstellt sind, und sie den gleichen Gesetzen unterworfen wie die Mitglieder des Exekutivrates. Dasselbe muss für die Leiter der Rechnungskammer gelten. Diese abschließende Prüfung, die für die ordnungsgemäße Bestätigung aller Geschäfte notwendig ist, darf nur von vollständig unabhängigen Beamten vorgenommen werden. Wir waren der Auffassung, dass für diese Aufgabe wenige Männer ausreichen, wenn man die Beurteilung der einzelnen Rechnungen in die Hände von Geschworenen legt. Diese Verfahrensweise gestattet es, die Anzahl der Beamten stets der anfallenden Arbeit anzupassen und hat darüber hinaus den wertvollen Vorteil, den Rechenschaftspflichtigen ein allen Bürgern zustehendes Recht zu gewähren: das Recht, einen Richter abzulehnen. Schließlich wird damit auch jeder Gedanke an Bestechlichkeit, jeder Vorwand zum Misstrauen von dieser Einrichtung ferngehalten. Die Liste dieser Geschworenen wird jedes Jahr von der gesetzgebenden Körperschaft aufgestellt. Die Gründe, die jeden Gedanken daran verbieten, öffentliche Beamte von der Nationalversammlung wählen zu lassen, können für diese bloße Aufstellung einer Liste von Geschworenen nicht gelten. Im Übrigen werden die Geschworenen in Anbetracht der Kürze der Legislaturperioden nur über Rechnungen urteilen, die vor dem Zusammentreten der gesetzgebenden Körperschaft, die sie eingesetzt hat, datieren. Diese allgemeinen Behörden, deren Zuständigkeiten sich auf die gesamte Republik erstrecken, betreffen alle Bestandteile des gesellschaftlichen Systems gleichermaßen. Doch in einer großen Nation kann die öffentliche Ordnung nicht aufrechterhalten werden, wenn es keine untergeordneten und jeweils nur fur einen Teil des Staatsgebiets oder für eine bestimmte Klasse von Gegenständen zuständigen Behörden gibt. Die Einrichtung dieser untergeordneten Behörden setzt jedoch voraus, dass man zuvor dem französischen Staatsgebiet eine Gliederung gegeben hat. Betrachtet man, wie sich die Menschen infolge der verschiedenen Arten der Landwirtschaft, des Gewerbes und des Handels, infolge ihrer Bedürfnisse und der alten poli-

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tischen Verhältnisse über das Gebiet der Republik verteilt haben, dann werden zunächst Gemeinschaften jeweils weniger Familien sichtbar, die durch das Bedürfnis nach gegenseitigem Schutz und die Notwendigkeit, bestimmte Handwerker in ihrer Nähe zu haben, zur Bildung von Dörfern veranlasst wurden. An verschiedenen Stellen sind aus wieder anderen Gründen größere Gemeinschaften dieser Art entstanden: Städte unterschiedlicher Bevölkerung und Größe. Von dort erheben wir uns schrittweise bis zu jener gewaltigen Stadt, die lange Zeit Hauptstadt eines mächtigen Reiches war und bis heute Sitz der nationalen Gewalten ist. Einstmals berühmt als Zentrum der Aufklärung, für den Glanz ihrer Künste, ihren Luxus und ihren Reichtum, ist sie dieser Berühmtheit heute umso würdiger durch ihre Liebe zur Freiheit und durch die Opfer, die sie gebracht hat, um diese Freiheit wiederzugewinnen, zu sichern und sich gänzlich zu erobern. Aus freiem Willen und entsprechend den Gegebenheiten der Landschaft, der Richtung der Flüsse, der Beschaffenheit des Bodens, der Art der Erzeugnisse und der Lebensgewohnheiten der Menschen hat sich die Bevölkerung sehr unregelmäßig über das Gebiet der Nation verteilt. Hier kommen auf eine Quadratmeile nur dreihundert Einwohner, dort hat eine Quadratmeile mehr als hunderttausend. Trotz dieser starken Missverhältnisse aber gilt es, durch die Organisation der gesellschaftlichen Gewalten die von der Gerechtigkeit geforderte Gleichheit wiederherzustellen - das heißt, soviel Gleichheit, wie die Natur der Dinge zulässt. Wir sind der Ansicht, dass jede Gemeinschaft von Familien, sobald sie abgesondert fur sich ist, einen Beamten des Gesetzes benötigt, der dort über die gemeinsame Sicherheit wacht. Seine Aufgaben müssen jedoch auf engste Grenzen beschränkt sein. Würde man sie anspruchsvoller machen, liefe man Gefahr, niemanden zu finden, der zu ihrer Ausübung fähig wäre, und würde zu viele Menschen von ihren notwendigen Tätigkeiten fernhalten. Wenn eine gewisse Anzahl solcher primärer Gemeinschaften über ein Gebiet verteilt ist, dessen Grenzen nur ein paar Wegstunden auseinander liegen, können sie sich zu Gemeinden zusammenschließen, in denen es die Anzahl der Bürger ermöglicht, Menschen zu finden, die in der Lage sind, anspruchsvollere Aufgaben wahrzunehmen. Diese Gemeinden werden damit zu einer Art von Städten, nur dass die Bevölkerung sich über ein größeres Gebiet verteilt. An Einwohnern und Reichtümern entsprechen sie etwa Städten mittlerer Größe. Es ergibt sich damit eine gleichsam natürliche Gliederung, deren Grenzen jedoch ebenfalls von der Natur bestimmt werden. Die Distanz zwischen dem am weitesten entfernten Wohnort und dem Ort, an dem die gesellschaftlichen Gewalten ausgeübt werden, darf nur so groß sein, dass ein Mensch, auch wenn er von schwacher Konstitution ist, sich bequem am selben Tag dorthin begeben, seine Geschäfte erledigen und an seinen Wohnsitz zurückkehren kann. Andernfalls wäre der natürliche Wirkungskreis einer Gewalt überschritten, die von denjenigen, die ihr unterstehen, regelmäßig in Anspruch genommen wird. Doch wenn man bei dieser Grenze halt macht und sich auf die Einteilung in Gemeinden beschränkt, dann ergibt sich eine zu starke Ungleichheit der Bevölkerungszahl, der Reichtümer, der Bedeutung und mithin des politischen Einflusses zwischen den Gemeinden und den großen Städten. Ein unmittelbarer Verkehr zwischen den Gemeinden

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und dem Nationalrat würde sich als übermäßig kompliziert oder sogar unmöglich herausstellen und in einem gefährlichen Durcheinander versinken. Man müsste entweder die in den Gemeinden eingerichteten Behörden sehr stark vergrößern, wodurch sich die Zahl der Beamten vervielfachen und man keine für diese Aufgaben geeigneten Anwärter mehr finden würde oder der Exekutivrat und seine Ausschüsse müssten sich zu vieler Dinge unmittelbar annehmen, wodurch der Gang der Staatsgeschäfte, die öffentliche Ordnung und sogar die Freiheit gefährdet wären. Entweder würde die Verwaltung gelähmt sein oder die gesamte Republik wäre mit Beamten des Nationalrats übersät, und anstatt einer neuen, gesetzlich festgelegten Ordnung zur Einteilung des Staatsgebiets, die einen nationalen Beamtenapparat einschließen würde, hätte man eine zufällig entstandene Ordnung, in der die Führung der Amtsgeschäfte in den Händen von Beamten läge, die nicht unmittelbar vom Vertrauen der Bevölkerung bestimmt wären. Folglich läuft alles darauf hinaus, dass eine dritte Stufe der Gliederung notwendig ist. Denn ohne eine solche könnten sich nur die großen Stadtgemeinden einen politischen Einfluss bewahren, dessen zwangsläufige Folge die Unterdrückung der Landbevölkerung und bald eine neue Revolution wäre. Folgendes System der Gliederung schien uns das beste zu sein: Große Gemeinden, deren Ausdehnung jedoch für die Bürger keine Unannehmlichkeiten mit sich bringen darf und deren Hauptort leicht zugänglich sein muss; dort eine Munizipalverwaltung. Wenn diese Gemeinden aus mehreren Wohnplätzen bestehen, soll jeder dieser Plätze einen Beamten der munizipalen Polizei als Sicherheitsoffizier haben. Eine festgelegte Zahl von Gemeinden bildet schließlich ein Departement. Dieses System schien uns den Vorteil zu bieten, dass es auf einer vorhandenen Einteilung aufbaut, gemäß der schon heute die Mitglieder der Nationalversammlung entsandt werden und die Aufteilung der direkten Steuern erfolgt und wo es bereits Zentren für die Strafjustiz und für öffentlichen Arbeiten und Anstalten gibt. Auf diese Einteilung beziehen sich in der bestehenden Ordnung der Verwaltung letztlich sogar die Aufgaben der Distrikte, sodass die Beibehaltung der Einteilung in Departements verhindert, dass aus der sinnvollen Abschaffung der Distrikte Nachteile erwachsen und seien sie auch nur vorübergehend. Zwar haben wir die Departementsverwaltungen beibehalten, wir hielten es jedoch gleichzeitig für angebracht, die Anzahl ihrer Beamten zu verringern, um selbst den Anschein einer Repräsentation auf Departementsebene zu vermeiden, die der Einheit und Unteilbarkeit der Republik in höchstem Maße widersprechen würde. Ebenfalls im Hinblick auf diese Ziele - zur Verbesserung der Handlungsfähigkeit der Regierung und zur Wahrung ihrer vollständigen Einheit - schlagen wir vor, den Prokurator-Syndikus durch einen vom Exekutivrat ausgewählten Beamten zu ersetzen, der dem Rat Bericht erstattet und nach dessen Ermessen abberufen werden kann, der jedoch notwendig einer der vom Volk gewählten Departementsverwalter sein muss. Auf diese Weise kann der Exekutivrat sein Vertrauen nur einem Mann gewähren, der bereits das seiner Mitbürger genießt. Dieser wird sein Amt nur dann dauerhaft ausüben können, wenn er vor allem darum bemüht ist, sich die öffentliche Zustimmung zu erhalten. Mit dieser Einrichtung wird zwischen den nationalen Gewalten und den lokalen

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Verwaltungen eine Verbindung geschaffen, die durch die genannten Vorsichtsmaßnahmen von jedem Verdacht der Korruption oder der Günstlingswirtschaft frei gehalten wird. Eine solche Verbindung aber ist ein notwendiges Gegengewicht gegen jenen Hang, sich abzuschotten und eigenen Prinzipien zu folgen, dem eigenständige und untereinander unabhängige Verwaltungen nur allzu leicht nachgeben würden. Wir sahen uns veranlasst, einige Veränderungen im Justizwesen vorzuschlagen. Es sind drei Möglichkeiten denkbar, um einem Urteil die notwendige Autorität zu verleihen: Entweder die Einrichtung eines großen Gerichtshofs, der schon durch die Zahl seiner Mitglieder Respekt einflößt; oder ein Gerichtshof, bei dessen Zusammensetzung die Würde und das persönliche Ansehen erfahrener Richter ihre geringe Zahl ausgleichen; oder aber Geschworenengerichte, denen aus dem in sie gesetzten Vertrauen eine gerechtere und weniger gefährliche Autorität erwächst. Die Prinzipien der Gleichheit, der Sparsamkeit und der Einfachheit, die für republikanische Institutionen gelten müssen, schließen die beiden ersten Möglichkeiten aus. Es bleibt also nur die dritte. Es erschien uns notwendig, sie für die Zivilgerichtsbarkeit zu übernehmen, nicht zuletzt im Hinblick auf den gegenwärtigen Zustand unserer Gesetze, deren Reform diese Änderung beschleunigen und auf eine feste Grundlage stellen wird. Für jedes Departement wird ein einziger Gerichtshof ausreichen, wenn man den Parteien die Verpflichtung auferlegt, erst vor die Geschworenen zu treten, nachdem sie sich der Entscheidung selbst gewählter Schiedsrichter unterworfen haben. Dieser Rückgriff auf den Gerechtigkeitssinn und die Weisheit unparteiischer Dritter ist ein Gebot der Natur selbst, das sogar für Menschen gelten würde, die durch keinerlei gesellschaftliche Bande miteinander verbunden sind. Die Gesellschaft hat daher das Recht zu fordern, dass zuerst dieses Mittel ausgeschöpft wird, bevor die strenge Autorität des Gesetzes den Ausgleich zwischen rein privaten Interessen schaffen muss. Diese Einrichtung ist nicht neu: Nachdem sie in der athenischen Republik eingesetzt wurde, hatte sie dort lange Zeit Bestand. Die Jury wird von den Parteien selbst ausgewählt. Der erst kürzlich erfolgte Übergang von monarchischen zu republikanischen Institutionen macht es dabei notwendig, das Urteil Menschen anzuvertrauen, denen unsere alten Gesetze und Verfahrensformen noch vertraut sind. Unter diesen können die Parteien die Geschworenen frei wählen. Aus diesem Grund werden auch die besonderen Handelsgerichte überflüssig, denn die Parteien in Handelsstreitigkeiten können in Zukunft selbst Geschworene unter den Kaufleuten auswählen. Alles, was die Friedensgerichtsbarkeit an Nützlichem hatte, haben wir sorgfältig bewahrt. So wie die Friedensgerichtsbarkeit tragen auch frei gewählte Schiedsrichter und von den Parteien bestimmte Geschworene dazu bei, jene leider unvermeidlichen Streitigkeiten und jene hartnäckigen Abneigungen auszuräumen, denen der Familiensinn manchmal eine unheilvolle Erblichkeit verleiht. Wenn nämlich diese aus persönlichen Interessen entstandenen Abneigungen überhand nehmen, wird die im politischen Meinungsstreit unvermeidliche Lagerbildung von ihnen vergiftet und verzerrt. Solche Familienparteien

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haben kleinere Republiken zerstört. In großen Republiken aber können sie zur Quelle von Verbrechen werden und den Bürgersinn untergraben. Die Institution der Geschworenen wird entwertet und pervertiert, wenn das Recht, die Geschworenenliste aufzustellen, einem öffentlichen Beamten anvertraut ist, welchen Titel oder welche Funktionen er auch haben mag. Denn damit wird dieser Beamte zum Richter über Leben oder Vermögen der Bürger. Wenn er aber Anfuhrer oder Werkzeug einer Partei ist, dann übt diese Partei von jenem Moment an eine echte Tyrannei aus. Die Liste der Geschworenen sollte also vom Volk selbst in den Primärversammlungen entsprechend der Zahl der Bürger aufgestellt werden. Jeder Bürger benennt einen Geschworenen, und die Wahl wird mit einfacher Mehrheit getroffen. Ohne Zweifel handelt es sich dabei nicht um eine echte Wahl, doch eine solche darf die Erstellung der Geschworenenliste auch nicht sein. Nicht alle Geschworenen dürfen der Mehrheit angehören, denn die Mehrheit, die als Dolmetscherin des Gemeinwillens allmächtig ist, darf nach den universellen Gesetzen der Gerechtigkeit ihre Macht nicht auf das individuelle Recht eines Bürgers ausdehnen. Das von uns vorgeschlagene Verfahren verhindert, dass eine Jury in ihrer Gesamtheit derselben Partei angehört oder auch nur dieselbe politische Überzeugung haben kann. Durch die scheinbare Unvollkommenheit des Wahlverfahrens stärken wir zusätzlich jene Unparteilichkeit, die den besonderen und heiligen Charakter dieser heilsamen Institution ausmacht. Die vollständige Unabhängigkeit der Justizämter ist die undurchdringlichste Schutzwehr der Freiheit, da sie das Leben und den Besitz der Bürger gegen die Angriffe aller Mächte sichert, die vielleicht mit der Tyrannei liebäugeln. Zugleich muss man die Freiheit jedoch gegen die Gefahren schützen, denen sie durch die Inhaber der Justizämter selbst ausgesetzt sein könnte, in Fällen, wo Vertreter anderer Gewalten wegen ihrer Amtsführung vor Gericht gestellt werden, sei es von einem Bürger, sei es von einem öffentlichen Ankläger. Dieselbe Überlegung kann auch für Delikte gelten, die als direkte Angriffe auf die Freiheit des Volkes oder die Sicherheit des Staates angesehen werden. Folglich darf man jemanden wegen dieser beiden Arten von Verbrechen nur auf Beschluss der gesetzgebenden Körperschaft vor Gericht stellen, beziehungsweise, wenn es sich um einen Munizipalbeamten handelt, auf Beschluss der Departementsverwaltung. Die Erhaltung der Einheit der Republik macht nicht allein diese Bestimmung erforderlich, sondern verlangt auch, dass derartige Verbrechen vor eine nationale Jury gebracht werden. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass jemand, der die Republik um der Laune eines ihrer Teile willen verraten hat, ungestraft bleibt, während jemand, der den Vorteil des ganzen Staates über den seines Geburtsorts gestellt hat, zu unrecht verurteilt wird und jeder öffentliche Beamte wäre, sobald diese Interessen einander zu widersprechen scheinen, hin- und her gerissen zwischen der Furcht vor dem Gesetz und der Furcht vor seinen Richtern. Die nationale Jury sollte sich aus Vertretern zusammensetzen, die in jedem Departement von den Bürgern gewählt werden. Die Funktion der Richter aber sollte von den Vertretern eines Departements übernommen werden, das entweder vom Gesetz bestimmt oder durch das Los ermittelt wird. Ohne die Unabhängigkeit der Jury zu beeinträchtigen, würde man so den Apparat und die Kosten eines großen Gerichtshofes sparen.

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Die den Bürgern geschuldete Gerechtigkeit, die Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung und die Gefahr, dass in den Departements unterschiedliche Rechtsbräuche entstehen und dadurch die ganze Einheit der Republik gefährdet wird, machen es notwendig, Urteile einer Revision zu unterwerfen, die feststellen kann, ob sie in Übereinstimmung mit dem Gesetz stehen und die diejenigen Urteile aufhebt, in denen die Richter das Gesetz missachtet haben. Man kann jedoch diese Aufgabe nicht einem Gerichtshof mit festem Sitz übertragen, ohne diese Institution unbrauchbar für jene Bürger zu machen, deren Wohnort weit von diesem entfernt liegt. Mit der Revision sollten dementsprechend Zensoren betraut werden, die nacheinander in den verschiedenen Departements Sitzung halten. Die Todesstrafe für Privatverbrechen wird abgeschafft. Dieser Beweis des Respekts vor dem menschlichen Leben, diese Ehrbezeigung gegenüber den Gefühlen der Menschlichkeit, die heilig zu halten so wichtig für eine freie Nation ist, schien uns dieselbe Art von Unwiderruflichkeit genießen zu müssen wie die Verfassungsgesetze. Wenn diese Strafe aber für Verbrechen, die sich direkt gegen die Sicherheit des Staates, die nationale Ruhe, die Freiheit oder die Souveränität des Volkes richten, beibehalten werden muss, dann muss auch jede Nationalversammlung, die ja die natürliche Richterin der nationalen Interessen ist, die Macht haben, eine Strenge ausdehnen oder einschränken zu können, die in den Augen der Natur und der Vernunft nur durch ihre absolute Notwendigkeit gerechtfertigt werden kann. Damit wird diese nicht wieder gutzumachende Strafe, die niemand ohne Schaudern verhängen kann, der je über die Unsicherheit menschlichen Urteils nachgedacht oder die Grenzen des Rechts untersucht hat, das Gesellschaften über Individuen haben, zumindest aus dem Privatrecht verbannt sein. Sie wird den Bürgern nur noch als ein schmerzhaftes aber notwendiges Opfer gelten, das um der öffentlichen Sicherheit willen mit gebieterischer Strenge gefordert und vom natürlichen Recht auf Selbstverteidigung begründet wird. Wenigstens in Friedenszeiten werden jene blutigen Schauspiele nicht länger der Milde der Sitten, dem Respekt vor den Mitmenschen und der Gewohnheit brüderlicher Gefühle im Weg stehen, ohne welche die Liebe zur Freiheit, wenn sie sich ihre Kraft erhält, die Natur oft durch schändliche und grausame Verirrungen seufzen macht. Nachdem wir nun die Organisation und Gestalt der Gewalten, die das konstitutionelle System bilden, dargelegt haben, müssen wir die Grundbestandteile und die Entstehung dieser Gewalten betrachten. Wem soll die Verfassung die Fähigkeit zuerkennen, die politischen Rechte auszuüben, welche die Menschen von der Natur erhalten haben und die, wie alle anderen Menschenrechte, wesentlich aus der Eigenschaft der Menschen folgen, fühlende, für moralische Ideen empfängliche und zu vernünftigem Denken fähige Wesen zu sein? Man hat zu dieser Frage zwei entgegengesetzte Ansichten vertreten. Die einen haben die Ausübung der politischen Rechte als eine Art öffentliches Amt betrachtet, das an Bedingungen geknüpft werden kann, die durch den gemeinsamen Nutzen begründet sind. Sie waren der Überzeugung, dass es möglich ist, einem Teil der Bürger die Ausübung der Rechte aller anzuvertrauen, vorausgesetzt, dass dieser Teil kein Interesse und

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keinen Grund haben kann, jene Rechte zu missbrauchen, vor allem aber dann, wenn man Anlass hat zu glauben, dass dieser Teil der Bürger besser geeignet ist, jene Rechte im allgemeinen Interesse der Gesellschaft auszuüben. Sie meinten, dass diese Unterscheidung keine wirkliche Ungerechtigkeit darstellt, solange die so Privilegierten keine Gesetze erlassen dürfen, die nur für sie selbst gelten, vor allem aber, wenn der gesetzlich festgelegte Ausschluss von den politischen Rechten, weil man sich ihm leicht entziehen kann, gewissermaßen als freiwillig betrachtet werden kann. Andere hingegen waren der Ansicht, dass die politischen Rechte allen Individuen in gleichem Maße zukommen müssen und dass man ihre Ausübung nur insoweit an legitime Bedingungen binden kann, als diese notwendig sind, um festzustellen, ob ein Mensch einer bestimmten Nation angehört und um, falls nicht alle Bürger am selben Ort wählen können, festzulegen, welcher Primärversammlung der einzelne Bürger angehören soll. Bis heute haben sich alle freien Völker der ersten Ansicht angeschlossen. Auch die Verfassung von 1791 war entsprechend eingerichtet, doch uns erschien die zweite Ansicht besser mit der Vernunft, der Gerechtigkeit und nicht zuletzt mit einer wirklich aufgeklärten Politik übereinzustimmen. Wir hielten es nicht für legitim, ein natürliches Recht, das der einfachsten Vernunft einsichtig ist, Überlegungen zu opfern, deren Stichhaltigkeit zumindest ungewiss ist. Wir hatten den Eindruck, dass wir uns entweder auf unbedeutende und mehr oder weniger gegenstandslose Unterscheidungen hätten beschränken müssen oder in einem Umfang Bürger von den politischen Rechten hätten ausschließen müssen, den zu billigen ein großzügiges und gerechtes Volk, das die Freiheit liebt, sich niemals herablassen würde. Uns schien es weder möglich, der Hälfte der Bürger einer über ihre Rechte aufgeklärten Nation vorzuschlagen, auf einen Teil dieser Rechte zu verzichten, noch schien es uns im Sinne der öffentlichen Ruhe zu sein, ein Volk, das sich aktiv politischen Interessen widmet, in zwei Teile zu teilen, von denen der eine kraft Gesetz alles, der andere nichts ist - gegen den Willen der Natur, die, indem sie alle gleichermaßen als Menschen geschaffen hat, wollte, dass sie alle gleich bleiben. In früheren Zeiten waren die Nationen ein Zusammenschluss von Familien, denen man einen gemeinsamen Ursprung zuschrieb oder der doch zumindest auf ein ursprüngliches Bündnis zurückging. Die politischen Rechte waren erblich und wurden durch legale Adoption auf neue Familien übertragen. Heute unterscheiden sich die Nationen durch ihr Gebiet, und die Mitglieder einer solchen Nation sind im Wesentlichen die Bewohner dieses Gebiets. Man hat behauptet, dass die politischen Rechte allein den Besitzern von Grund und Boden vorbehalten bleiben müssen. Doch wenn man die augenblickliche Einrichtung der Gesellschaften betrachtet, dann kann man diese Ansicht nur auf einen einzigen Grund stützen: Man kann sagen, dass nur die Grundbesitzer unabhängig auf einem Gebiet leben und nicht durch die Willkür eines anderen von dort vertrieben werden können. Wenn man dies zugesteht, dann zeigt sich zunächst, dass dieses Kriterium mit gleichem Recht für alle diejenigen gilt, die durch einen Vertrag das Recht erworben haben, für eine bestimmte Zeit auf diesem Gebiet unabhängig zu leben. Lässt man dies gelten, dann stellt

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sich heraus, dass der genannte Grund immer schwächer wird und dass die für den Erwerb der politischen Rechte erforderliche Dauer jener Aufenthaltsgenehmigung nur auf ungewisse und völlig willkürliche Weise festgelegt werden kann. Es würde sich ebenfalls bald herausstellen, dass die geforderte Unabhängigkeit nicht eindeutig genug bestimmt werden kann, um für eine so wichtige Unterscheidung wie die zwischen Genuss oder Entzug der politischen Rechte als Kriterium zu dienen. Eine Abhängigkeit, die vermuten lässt, dass ein Individuum nicht seinem eigenen Willen gehorcht, könnte zweifellos ein legitimer Grund sein, es vom Genuss der politischen Rechte auszuschließen. Doch unter einer wahrhaft freien Verfassung und bei einem Volk, bei dem die Liebe zur Gleichheit der hervorstechende Charakterzug des gesellschaftlichen Geistes ist, meinten wir das Vorhandensein einer solchen Abhängigkeit ausschließen zu können. Gesellschaftliche Verhältnisse, die eine solche Erniedrigung mit sich bringen, können bei uns keinen Bestand haben und müssen bald eine andere Gestalt annehmen. Und ist es nicht besser, wo schließlich in allen unseren Gesetzen die bürgerliche Gleichheit heilig gehalten wird, wenn auch völlige politische Gleichheit herrscht und dazu beiträgt, die Reste jener Abhängigkeit zu beseitigen, anstatt sie in irgendeiner Form in unseren neuen Gesetzen festzuschreiben? Andere Überlegungen haben uns vollends in unserer Entscheidung bestärkt: Dazu gehört die Schwierigkeit festzulegen, von welchem Punkt an ein menschliches Individuum in der Kette der Abhängigkeiten, die die gesellschaftliche Ordnung mit sich bringt, nicht mehr in der Lage ist, seine Rechte auszuüben. Dazu gehört ferner die Gefahr, die Abhängigkeit bestimmter Klassen von Menschen, die dem Ausschluss entgehen würden, zu vergrößern und für die Zukunft einen Vorwand für weitere Ausschlüsse zu geben; schließlich die Gefahr, eine große Zahl von Menschen der Gesellschaft zu entfremden, sie gleichgültig wenn nicht feindlich gegenüber einer Freiheit zu machen, die sie nicht teilen dürfen. Wir sind also zu der Überzeugung gekommen, dass das öffentliche Interesse im Einklang mit der Gerechtigkeit uns gebietet, das System unserer Gesetze durch keinerlei Ungleichheit zu beflecken und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit in den Institutionen eines großen Volkes die natürliche Gleichheit in vollem Umfang zu erhalten. In kleinen Staaten kann die öffentliche Sicherheit es erforderlich machen, die Ausübung der politischen Rechte durch strengere Bedingungen zu beschränken. Dort muss man vielleicht befürchten, dass Ausländer, die dieser Rechte teilhaftig werden, indem sie sich auf dem Staatsgebiet niederlassen, einen gefahrlichen Einfluss ausüben und dass sie sich nur deshalb für Bürger ausgeben, um Plänen zum Erfolg zu verhelfen, die gegen die Interessen jener Nation sind, die sie an ihren gesellschaftlichen Vorteilen gleichberechtigt hat teilhaben lassen. Je mehr sich benachbarte Völker in ihren Ansichten, Sitten und Prinzipien unterscheiden, desto begründeter wäre diese Furcht. Doch für ein Staatsgebiet wie dasjenige Frankreichs, vor allem aber in jenem so weisen System einer einheitlichen Republik, das bereits einstimmig vom Nationalkonvent beschlossen wurde, ist sie grundlos. Somit kommt jeder Mann, der einundzwanzig Jahre alt und in Frankreich geboren ist oder der erklärt, hier seinen Wohnsitz nehmen zu wollen, nach einem Jahr des Aufenthalts im Staatsgebiet in den Genuss aller Rechte eines französischen

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Bürgers. Nach drei Monaten Aufenthalt an dem Ort, an dem er seinen Wohnsitz genommen hat, erwirbt er die Fähigkeit, diese Rechte auszuüben. Eine Abwesenheit von sechs Jahren, die ihren Grund nicht in einem öffentlichen Dienst hat, macht einen ständigen Aufenthalt von sechs Monaten zur Voraussetzung, um wieder die Bürgerrechte auszuüben. Wir haben geglaubt, die Strenge des Gesetzes auf diese einfachen Ordnungsmaßnahmen beschränken zu dürfen, die notwendig sind, um die Zulassung zum Bürgerrecht nicht willkürlich werden zu lassen, sie unanfechtbar zu machen und auf dem gesamten Gebiet der Republik einheitlichen Prinzipien zu unterwerfen. Jeder Bürger soll für alle Posten wählbar sein, die vom Volk durch Wahl bestimmt werden. Einzige Voraussetzung ist ein Alter von fünfundzwanzig Jahren. Die Frist, die damit zwischen der Zulassung zur Ausübung der politischen Rechte und der Wählbarkeit für öffentliche Ämter liegt, gewährt die notwendige Zeit, um sich über den neuen Bürger ein Urteil zu bilden, sein Betragen zu beobachten und seine Prinzipien kennen zu lernen. Der junge Mensch, dessen individuelle und theoretische Erziehung abgeschlossen ist, genießt die persönlichen Rechte, die sich aus der Natur ableiten. Dann beginnt für ihn eine Art von politischer Erziehung, und die Ausübung jener ersten politischen Rechte ist Teil dieser zweiten Erziehung. Gleich, ob man das Recht derjenigen nimmt, die wählen und die dieses Recht frei ausüben können müssen, oder das Recht derjenigen, die wählbar sind und die Anspruch auf gleiche Chancen haben: es ist unmöglich, eine Bedingung für die Wählbarkeit aufzustellen, ohne die politische Gleichheit zu verletzen - es sei denn, dass eine solche Bedingung offensichtlich zweckmäßig wäre. Zweifellos kann bei Wahlen, an denen nur ein Teil des Volkes teilnimmt, die Mehrheit des Volkes und damit das Gesetz, das ihren Willen ausdrückt diesem Teil sagen: Ihr wählt nicht nur für euch selbst, sondern für alle, und das öffentliche Interesse erfordert, dass eure Wahl bestimmten Bedingungen unterliegt. Zweifellos kann die Mehrheit einer Minderheit ebenfalls sagen: Wir haben alle das Recht, frei zwischen allen Bürgern zu wählen. Doch wir wollen nur zwischen solchen Bürgern wählen, die bestimmte Bedingungen erfüllen, und wir haben das Recht, ein Wahlverfahren einzurichten, das unserem Willen entspricht. Wir haben also das Recht, ein Gesetz zu erlassen, das, indem es fur die Wählbarkeit eben diese Bedingungen stellt, die Einrichtung jenes Wahlverfahrens überflüssig macht, das für euch selbst ein Hindernis werden würde. Doch nach den Prinzipien der Gerechtigkeit betrachtet, ist das Recht der Mehrheit kein Recht zur Willkür. Sie darf der Minderheit aus einer bloßen Laune heraus keinen Zwang antun, und jede von der Mehrheit beschlossene Einschränkung kann nur durch ihren offensichtlichen Nutzen legitimiert werden. Welche Bedingungen für die Wählbarkeit könnte man also gemäß diesen Grundsätzen aufstellen? Wären es Bedingungen im Hinblick auf das Alter? Jedoch, ob die Menge dem Strom der herrschenden Meinung folgt oder der Vernunft gehorcht - die Jugend wird weder so noch so begünstigt werden. Die Jugend mag das Alter des Genies sein oder das der Begeisterung für die Tugend. Doch sie ist weder die Zeit echter Aufklärung noch die Zeit der durch die Vernunft ge-

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läuterten Tugenden. Man wird vielleicht manchmal jemanden, dessen Jugend Talente erkennen lässt, einem anderen vorziehen, dessen reifes Alter nur mittelmäßige Fähigkeiten zeigt, doch niemals einem Bürger, dessen Vortrefflichkeit das Siegel der Erfahrung trägt und sich die Autorität allgemeiner Anerkennung erworben hat. Soll man Reichtum zur Bedingung der Wählbarkeit machen? Da wir weder so töricht noch so niederträchtig sein können, zu denken, dass die Reichen gegen die Laster der Korruption eher gefeit sind als die Armen, wäre die einzige Begründung für ein solches Gesetz, dass Menschen zur Wahl stehen würden, bei denen man, aufgrund eines umfassenderen Unterrichts in ihrer Jugend, eine größere Aufgeklärtheit voraussetzen kann. Man müsste also ein ausreichend großes Vermögen verlangen. Folglich sind alle Bedingungen dieser Art entweder trügerisch oder fuhren zu einer echten Oligarchie. Soll man für gewisse Posten den Nachweis einer bestimmten Ausbildung oder das Bestehen von Examen verlangen? Doch solche Bedingungen, die meist umgangen werden, haben den Nachteil, Gewalten zu schaffen, die dem Wesen der Gesellschaft fremd sind, indem sie einigen Menschen oder bestimmten Klassen von Bürgern einen Einfluss gewähren, der der Gleichheit widerspricht. Man könnte weiterhin fordern, dass ein Amt, dem man eine gewisse Wichtigkeit beimisst, nur jemandem anvertraut werden darf, der bereits unbedeutendere Ämter bekleidet hat. Man könnte beispielsweise die Wählbarkeit für die Nationalversammlung an die Voraussetzung knüpfen, bereits ein Amt in einer Departementsverwaltung bekleidet zu haben und entsprechend in die Departementsverwaltung nur solche Bürger zu berufen, die bereits Ämter auf munizipaler Ebene ausgeübt haben. Doch diese Bedingungen haben einen schwerwiegenden Nachteil: Die Bürger wären innerhalb der politischen Ordnung nicht allein durch die Ämter unterschieden, die sie im Moment bekleiden - ein Unterschied, der sich aus der Sache selbst ergibt - sondern durch die Ämter, die sie in der Vergangenheit bekleidet haben, was zu einer an die Person gebundenen Unterscheidung führen würde. Die zu den verschiedenen Rängen von Ämtern zugelassenen Bürger würden verschiedene Klassen bilden und rasch Koalitionen eingehen, um sich gegen die anderen enger zusammenzuschließen und nur Menschen, die ihrem Stolz oder ihren Plänen genehm sind, Zutritt zu ihrer Klasse zu gewähren. Es ist vorauszusehen, dass auf die Dauer sogar eine Art von Erblichkeit entstehen würde. Die Söhne der für bestimmte Ämter Wählbaren würden leicht Möglichkeiten finden, ihren Vätern nachzufolgen, während man andererseits tausend kleine Listen ersinnen würde, um Neulinge von diesen Ämtern fernzuhalten. Der Hang zur Erblichkeit ist in der Politik ebenso natürlich, wie diese Erblichkeit als politische Einrichtung eine Beleidigung des Naturrechts ist. Diese Feststellung aber, die von der Geschichte aller Völker bestätigt wird, gestattet es nicht, Institutionen, die auch nur indirekt diesen unheilvollen Hang begünstigen, als ungefährlich fur die Freiheit anzusehen. Wir sind daher entschlossen, die Wählbarkeit an keinerlei Bedingungen zu knüpfen. Wir schlagen den Bürgern vor, sich ihre Wahlfreiheit unbeschränkt zu bewahren und wir halten sie für würdig, dieses Vertrauen auch zuversichtlich in sich selbst zu setzen. Art und Form der Wahlen sind ein wesentlicher Bestandteil der Verfassungsgesetze. Denn wenn die gesetzgebende Körperschaft sie nach ihrem Belieben ändern könnte, hätte

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sie die Macht, einerseits die Verfassung selbst zu entstellen oder sie unbrauchbar zu machen, um sie dann zu beseitigen, und andererseits unter Missachtung der Verfassung ihre eigene Amtszeit zu verlängern, wenn sie eine Tyrannei ausüben wollte. Die erste Frage, die es zu lösen galt, war die der Möglichkeit direkter Wahlen die Frage, ob es zweckmäßig ist, solche direkten Wahlen anstelle der seit 1790 durch Wahlversammlungen abgehaltenen einzuführen. Unter der alten Verfassung mussten die Wahlversammlungen der Departements zwangsläufig zu einer Stütze der königlichen Macht werden und dazu beitragen, diese Macht gegen die Versammlung der Repräsentanten des Volkes zu verteidigen. Das Wesen ihres Amtes musste ihnen zwangsläufig - wenn auch vielleicht unwillentlich - eine Neigung zu allem eingeben, was die Macht der Regierung stärken konnte und was zum Erhalt der Ruhe und zur Wahrung des Bestehenden beizutragen schien. Andererseits mussten die von den Bürgern gewählten Wahlmänner sich als deren unmittelbarste Repräsentanten oder gewissermaßen als von ihnen gewählte Deputierte verstehen und danach streben, in der politischen Ordnung ein größeres Gewicht zu erlangen als das einfacher Wählmänner. Zugleich jedoch mussten sie sich mit der Volkspartei der Nationalversammlung zusammenschließen und ihr behilflich sein, die Usurpationen der anderen Mächte abzuwehren. Unter diesem letzten Gesichtspunkt könnten sie als ein für die Freiheit wertvolles Gegengewicht erscheinen, das allerdings gefährlich für den Frieden, die allgemeine Ruhe und sogar fur die Einheit des Reiches ist. Doch da inzwischen die Republik an die Stelle des widersprüchlichen und knechtischen Systems der begrenzten Monarchie getreten ist, da alles uns wünschen lassen muss, dass eine einzige Körperschaft als Prinzip aller gesellschaftlichen Tätigkeit die Einheit in vollem Ausmaß bewahrt, könnten die Wahlversammlungen heute ihren Einfluss nur noch gegen die Versammlung der Repräsentanten der ganzen Nation ausüben. Sie würden allein zur Unterstützung der regionalen Verwaltungen gegen diese Versammlung und gegen die nationalen Beamten dienen. Sie beizubehalten würde eine ständige Bedrohung der Unteilbarkeit der Republik bedeuten und jeder Partei, welche die Verwandlung Frankreichs in eine Liga konföderierter Republiken beabsichtigte, eine gefährliche Kraft verleihen, da jedes Departement in den Wahlversammlungen noch eine Art von besonderer Repräsentantenversammlung hätte, die man nur zusammenzurufen und in Tätigkeit zu setzen braucht, um dort ein eigenständiges und unabhängiges Machtzentrum zu schaffen. Die Überzeugung, dass man auf die Wahlversammlungen verzichten kann, genügte, um uns darin zu bestärken, den Bürgern das Recht der direkten Wahl wiederzugeben, das man ihnen genommen hat. Betrachtet man die verschiedenen möglichen Wahlverfahren, dann zeigt sich, dass sie nur dann diejenigen anzeigen, welche die Mehrheit eines Amtes für würdig hält, wenn die Anzahl der Kandidaten zunächst durch eine Erklärung der Mehrheit eingegrenzt wird, dass sie ihre Wahl nur unter bestimmten Kandidaten treffen will, weil sie nur diese fur fähig hält, die mit diesem Amt verbundenen Aufgaben zu erfüllen. Um aber diese erste Bedingung auch nur annähernd zu erfüllen, wäre es notwendig, dass jeder Wähler ohne zahlenmäßige Begrenzung diejenigen benennt, die er fur fähig hält, das Amt aus-

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zuüben, und dass die Gesamtheit der Wähler sich dann über die Fähigkeit aller benannten Kandidaten äußert - und seien sie nur von einem einzigen Wähler benannt worden. Wollte man aber auf diese erste Auswahl verzichten, dann wäre man verpflichtet, selbst alle diejenigen, die nur ein einzelner Wähler benannt hat, als Kandidaten anzusehen. Es wäre weiterhin notwendig, dass jeder Wähler sein vollständiges Votum durch ein vergleichendes Urteil zwischen allen paarweise einander gegenübergestellten Kandidaten abgibt und dass man aus den Ergebnissen aller Gegenüberstellungen das Gesamtvotum der Mehrheit ableitet. Weiterhin muss bemerkt werden, dass dieses Wahlverfahren oft nicht zum gewünschten Ergebnis führt, indem es nämlich nicht immer diejenigen anzeigt, denen die Mehrheit den Vorzug gibt. Denn es kann der Fall eintreten, dass eine solche Präferenz in Wirklichkeit nicht existiert. Wenn man bedenkt, wie langwierig und kompliziert diese erste Erklärung über die Befähigung der Kandidaten ist und wie schwierig für die Wähler, aus der großen Zahl der Kandidaten eine nach deren Eignung geordnete Liste zu erstellen; wie viel Zeit es kostet, um aus diesen Listen das Votum eines jeden Wählers über alle einander paarweise gegenübergestellten Kandidaten abzulesen und wie viel Arbeit notwendig ist, um aus diesen Voten ein allgemeines Ergebnis abzuleiten, dann erkennt man, dass diese Methode, mit der sich noch dazu nur diejenigen ermitteln lassen, die eine relative jedoch keine absolute Mehrheit für am besten geeignet für ein Amt hält, sogar für eine Wahlversammlung untauglich ist, selbst wenn sie fast ausschließlich aus aufgeklärten und leidenschaftslosen Menschen bestehen würde. Da nun die einzige Methode, mit der diejenigen ausgewählt werden, die von der Mehrheit für am besten geeignet erklärt worden sind, nicht angewandt werden kann und weil mit allen anderen Methoden nur diejenigen ermittelt werden können, die eine größere Mehrheit als geeignet für ein Amt ansieht, galt es für uns, unter diesen Methoden die praktikabelste, einfachste und am wenigsten durch Parteien oder Intrigen beeinflussbare auszuwählen, diejenige schließlich, vermittels derer man am sichersten das einzige Ziel erreicht, nach dem man vernünftigerweise streben kann. Bei der Methode, für die wir uns entschieden haben, wird das Votum jeder einzelnen Primärversammlung zum Hauptort ihres Departements übermittelt, um dort das allgemeine Votum der Bürger des Departements zu bilden. Das Votum jedes Departements wird dann zum Sitz der gesetzgebenden Körperschaft übermittelt, damit dort das Votum aller Bürger der gesamten Republik ermittelt werden kann. Wie oft auch immer ein bestimmtes Amt zu besetzen ist, jeder Bürger braucht nur zwei Mal sein Votum abzugeben: einmal, um eine Kandidatenliste mit einer festgelegten Anzahl von Kandidaten aufzustellen, und ein zweites Mal, um die Wahl abzuschließen. Beim ersten Votum schreibt jeder Bürger eine festgelegte Anzahl von Namen auf. Geht es beispielsweise darum, in einem Departement die Deputierten zur Nationalversammlung zu wählen, dann schreibt jeder Bürger eine der Zahl der Deputierten entsprechende Anzahl von Namen auf. Die Kandidatenliste, die dreimal so viele Namen enthalten muss, wie Deputierte aufgestellt werden, wird aus denjenigen Namen gebildet, welche am häufigsten genannt wurden und nur unter diesen Kandidaten wird die Wahl getroffen.

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Wenn also ein Departement zehn Deputierte hat, dann besteht die Kandidatenliste folglich nur aus den dreißig Bürgern, die bei diesem ersten Votum am häufigsten genannt wurden. Beim zweiten Votum benennt jeder Bürger zunächst diejenigen unter den Kandidaten, die er für am tauglichsten hält, und zwar so viele, wie es Deputiertensitze gibt, und anschließend die, die er nach diesen für die tauglichsten hält, wiederum so viele, wie es Sitze gibt. Somit benennt beispielsweise jeder Bürger, wenn es zehn Sitze gibt, zunächst die zehn tauglichsten der dreißig Kandidaten und dann die zehn tauglichsten unter den zwanzig übrig gebliebenen. Man wird zunächst das Ergebnis der ersten Stimmen ermitteln. Diejenigen Kandidaten, die eine absolute Mehrheit erreicht haben - oder, wenn mehr Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht haben, als Sitze zu vergeben sind, diejenigen, die die höchste Stimmenzahl auf sich vereinen - sind gewählt. Wenn durch das Ergebnis der Erststimmen nicht alle Sitze besetzt wurden, dann zieht man die Zweitstimmen hinzu und diejenigen, die nach dem Gesamtergebnis die höchste Stimmenmehrheit erhalten haben, sind gewählt. Wenn man nämlich bei diesem Wahlverfahren beide Listen zusammennimmt, entspricht die Zahl der Kandidaten, die eine absolute Mehrheit erhalten, mindestens der Zahl der zu besetzenden Sitze. Wenn wir folglich weiterhin davon ausgehen, dass zehn Sitze zu besetzen sind, dann wird man zunächst die zehn Erststimmen jedes Wählers berücksichtigen, und gibt es beispielsweise 1.000 Wähler, die 10.000 Namen genannt oder aufgeschrieben haben, dann können 19 Kandidaten mehr als 501 Stimmen erhalten. Die Erststimmen allein entscheiden in diesem Fall die Wahl und ermöglichen es zugleich, unter den Kandidaten, die eine absolute Mehrheit erreicht haben, diejenigen zu ermitteln, welche die meisten Stimmen erhalten haben. Es ist jedoch ebenfalls möglich, dass niemand die absolute Mehrheit erreicht, da es geschehen kann, dass von den 30 Kandidaten die einen nur 334, die anderen aber 333 Stimmen erhalten. In diesem Fall würde man die Zweitstimmen der Zusatzliste zur Hilfe nehmen. Da jeder Wähler 20 Namen genannt hat, wäre die Gesamtzahl hier 20.000. Nehmen wir an, dass neun Kandidaten einstimmig gewählt worden sind, dass sie also 9000 Stimmen auf sich vereinen, dann lassen sich die 11.000 verbliebenen Stimmen nicht auf die 21 restlichen Kandidaten verteilen, ohne dass einer von ihnen mehr als 500 Stimmen und damit die absolute Mehrheit erhält. Dieses Wahlverfahren fordert von den Bürgern nur sehr kurze und sehr einfache Verrichtungen, die man ihnen noch erleichtern kann, indem man alles beseitigt, was den einfachsten Menschen Schwierigkeiten bereiten könnte. Die langwierigsten Tätigkeiten entfallen auf diejenigen, die damit betraut sind, die Ergebnisse zu ermitteln - sei es das Ergebnis des Votums der einzelnen Bürger, sei es das des Votums der einzelnen Versammlungen. Es gibt jedoch ebenfalls Verfahren, um diese Arbeit abzukürzen und zu vereinfachen. Wendet man sich nun dem Wahlverfahren selbst zu, so zeigt sich, dass die Beschränkung der Kandidatenliste auf die dreifache Zahl der zu vergebenden Sitze tatsächlich

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kaum eine Einschränkung der Wahlmöglichkeit der Bürger bedeutet. Kaum jemand, auf den das Votum der Bürger hätte fallen können, wird auf ihr fehlen. Es besteht die Möglichkeit, dass die Kandidatenliste nicht genügend Namen enthält, weil das Votum der Bürger sich auf eine zu geringe Zahl von Personen vereint hat. In diesem möglichen, jedoch ganz und gar unwahrscheinlichen Fall hätte man, um die Wahl zu beenden, einfache und dem Geist des Verfahrens entsprechende Möglichkeiten zur Verfugung. Bei der Abgabe der Erststimmen für die endgültige Wahl kommt der Wille jedes Bürgers auf die natürlichste, einfachste und vollständigste Art zum Ausdruck. Denn der Gedanke, durch sukzessive Stimmabgabe Männer zu vollkommen gleichen Ämtern zu wählen ist in sich widersprüchlich. Unter dem Anschein, denjenigen, den die Mehrheit allen anderen vorzieht, als ersten zu benennen - was in unserem Fall keinerlei Nutzen hat - verfälscht diese Einrichtung in Wahrheit das Ergebnis und fuhrt von dem weg, was eigentlich ermittelt werden soll, indem sie die Wahl oft gerade nicht auf diejenigen fallen lässt, die nach Meinung der Mehrheit berufen werden müssten. Ein solches Wahlverfahren öffnet Intrigen nicht nur Tür und Tor, sondern macht sie gewissermaßen notwendig und wenn es die Wahlen nicht dem Zufall ausliefert, dann gibt es sie dem Einfluss der Parteien anheim. Bei dem von uns vorgeschlagenen Verfahren hingegen ist sichergestellt, dass die Mehrheit diejenigen, die durch die Erststimmen einen Sitz erhalten haben, tatsächlich für würdiger befunden hat, diesen einzunehmen, als alle anderen Kandidaten. Doch auch wenn es notwendig wird, auf die Zusatzliste zurückzugreifen, wird das von der größten Mehrheit abgegebene Votum wiederum eben diejenigen anzeigen, denen diese Mehrheit den Vorzug gibt. Freilich wird dieses Votum nicht direkt für die letzteren abgegeben worden sein - es spricht nur stärker für sie als für irgendjemand anders. Doch damit liest man es so, wie es in Wirklichkeit gemeint war. Was aber würde man damit gewinnen, wenn man die Mehrheit zwänge, sich scheinbar deutlicher zu erklären, wenn man vorgeblich ein Votum einholen würde, das im Grunde nicht existiert? Die Posten der Stellvertreter sollen zunächst mit den Kandidaten besetzt werden, die, obwohl sie eine Mehrheit der Erststimmen erhalten haben, hinter anderen mit größerer Mehrheit zurückstehen mussten. Wenn man fur alle oder einige von ihnen auf die Zusatzliste zurückgreifen muss, dann soll auch hier die einfache Mehrheit entscheiden. Im Übrigen wird dieser Fall nur sehr selten eintreten, und der Nachteil der sich unter Umständen für die letztplatzierten Stellvertreter ergibt, wird durch den Vorzug, die Wahl durch ein einziges Votum und ein ebenso schnelles wie einfaches Stimmverfahren abschließen zu können, mehr als ausgeglichen. Wahlen, die sich auf diese Weise in getrennten Versammlungen vollziehen, werden deutlich weniger unter Intrigen zu leiden haben. Es wird praktisch unmöglich, durch eine Intrige zu verhindern, dass ein Mensch von echtem Verdienst auf die Liste der Kandidaten gesetzt wird, wenn die Wählerstimmen ihn natürlicherweise dorthin berufen müssen. Es wäre ebenso schwierig, die Mehrheit durch eine Kabale daran zu hindern, sich zugunsten eines vortrefflichen Mannes zusammenzufinden oder sie zugunsten eines wirklich unwürdigen Subjekts zu beeinflussen.

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Betrachten wir nun dieses Wahlverfahren unter der Annahme, dass die Bürger in zwei Parteien gespalten sind. Denn eine Wahlmethode, die unter solchen Umständen Schaden anrichten könnte, darf in einer guten Verfassung keinen Platz finden. Wenn es nämlich vielleicht auch möglich ist, in einer solchen Verfassung die Bildung politischer Parteien zu verhindern, so lässt sich doch nicht vermeiden, dass sich Meinungsparteien bilden und Bestand gewinnen. In diesem Falle aber bietet das von uns vorgeschlagene Verfahren sehr wesentliche Vorteile. Zunächst wird die stärkere Partei auf der Kandidatenliste mindestens so viele Kandidaten platzieren, wie die Gegenpartei dort einführen könnte. Doch die stärkere Partei könnte sich kaum der ganzen Liste bemächtigen. Diese Liste wird also niemals das stets traurige Schauspiel der Übermacht einer Partei bieten. Um bei der eigentlichen Wahl den Sieg der stärkeren Partei sicherzustellen, reicht es aus, wenn sie auf der Liste so viele Namen platziert hat, wie Sitze vergeben werden. Sie wird also zwangsläufig im Vorteil sein, ohne auf jene verderblichen und der öffentlichen Ruhe schädlichen Mittel zurückgreifen zu müssen, deren Gebrauch, wenn er in einem Land zur Gewohnheit wird, den Gemeinsinn auf Abwege führt und die Freiheit in Gefahr bringt. Es wird höchstens dazu kommen, dass ein Teil der Sitze an Männer beider Parteien vergeben wird, die durch ihren Charakter oder ihre Weisheit die Hochachtung oder Duldung durch die gegnerische Partei erworben haben, an solche Männer also, die, indem sie untereinander ein nützliches Gleichgewicht halten können, verhindern, dass sich aus Parteistreitigkeiten unheilvolle Spaltungen entwickeln. Kurz gesagt, da dieses Wahlverfahren der kleineren Partei die Hoffnung nimmt, durch Aufruhr oder Lärm erfolgreich zu sein, während es der Mehrheitspartei eine Gewissheit ihres Erfolges gibt, die es für sie unnötig macht, ihre Kräfte spielen zu lassen, werden die Wahlen zwangsläufig friedlicher verlaufen, selbst wenn die Bürger untereinander uneins sind. Die Wahlen werden dazu dienen, die Stärke der Parteien anzuzeigen, doch sie werden nicht das Werk dieser Parteien sein. Die Deputierten, die die gesetzgebende Körperschaft bilden, werden in den einzelnen Departements gewählt, wobei ihre Zahl ausschließlich nach deren Einwohnerzahl bestimmt wird. Damit wird ein weiteres Mal der Gleichheit die Ehre erwiesen. Das Verfahren, jedem Departement drei Deputierte zu geben, hat zweifellos jenen Vorteil wettgemacht, den die Verteilung eines Drittels der Sitze gemäß den Steuereinnahmen der Departements für die reicheren Departements darstellte. Doch wir haben es vorgezogen, jede Ungerechtigkeit von vornherein auszuschließen, anstatt sie später ausgleichen zu müssen. Die Idee, den Nationalrat von der Gesamtheit der Bürger wählen zu lassen, lässt sich sehr einfach verwirklichen, indem man das beschriebene Wahlverfahren anwendet. Man muss nur eine umfangreichere Kandidatenliste aufstellen, da es sich jeweils um ein in seiner Art einziges Amt handelt und man gleichzeitig mehrere Stellvertreter für jedes Amt nominieren muss. Es erschien uns in der Tat sehr wichtig, dass die obersten Beamten der nationalen Gewalten von den Bürgern selbst gewählt werden, dass bei dieser Wahl einzig das Ansehen den Ausschlag gibt, dass alle Intrige von ihr ferngehalten wird und dass schließ-

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lieh diese Ämter nicht so gut wie ausschließlich den Bewohnern einer einzigen Stadt vorbehalten bleiben - was die Folge wäre, wenn man die Repräsentantenversammlung oder eine einzelne Körperschaft mit dieser Wahl beauftragen würde. Es ist gut, wenn die Männer, zu deren obersten Pflichten es gehört, den engen Zusammenhalt aller Teile der Republik zu festigen, auch gleichermaßen allen diesen Teilen angehören. Es ist gut, wenn die Männer, die mit anderen Nationen über die Interessen des Vaterlandes verhandeln, deren Vertretern ausgestattet mit dem unmittelbaren Vertrauen der Mehrheit der Bürger gegenübertreten. Würde man in den Primärversammlungen eine Stimmabgabe durch Zuruf zulassen, so würde man dort Unordnung und Verwirrung stiften. Im Übrigen reicht bereits der Nachteil, dass diejenigen, die zuerst wählen, einen gewissen Einfluss auf die Stimmen der Nachfolgenden haben, aus, um dieses Wahlverfahren zu verwerfen. Darüber hinaus setzt es eine über die ganze Länge der Abstimmung dauernde Versammlung voraus, was bedeutet, die Bürger nutzlos aufzuhalten. Eine schriftliche Abstimmung muss jedoch nicht zwangsläufig eine geheime Abstimmung sein. Der Namen jedes Bürgers kann seinem schriftlichen Votum hinzugefugt werden und es besteht die Möglichkeit, bei der Auszählung der Stimmzettel diese Namen zu verlesen. Wir schlagen vor, dass bei der Abstimmung, in der die Liste der Kandidaten aufgestellt wird, der Stimmzettel mit dem Namen des Wählenden gezeichnet werden soll. Es schien uns in keiner Weise nachteilig, dass jeder Wähler der Öffentlichkeit über diesen Teil seiner Auswahl Rechenschaft ablegt. Doch waren wir zugleich der Ansicht, dass bei der entscheidenden Abstimmung die Namen der Wähler geheim bleiben müssen. Bei der ersten Abstimmung, bei der es sich um einen bloßen Vorschlag handelt, kann keine Gefahr davon ausgehen, wenn die Wähler einige Namen nach persönlichen Erwägungen auf die Liste setzen. Da die Namen erst nach Abschluss der Wahl verlesen werden, wird die Abstimmung nicht durch Gemurmel oder Missfallensbekundungen beeinflusst, die bei manchen Namen vielleicht laut werden. Den Sitten der Nation aber kann es förderlich sein, wenn die erste Abstimmung offen stattfindet, ohne dass es der Ruhe der Bürger schadet oder der Intrige zuviel Macht verleiht. Im Übrigen kann es bei einem Vorschlagsvotum, das die Meinung der Bürger über die besten Kandidaten kundgibt, sinnvoll sein, wenn die Meinung vertrauenswürdiger Menschen öffentlich wird. Es kann nützlich sein, wenn diejenigen, die selbst nicht genügend würdige Kandidaten kennen, sich nach dem öffentlich ausgesprochenen Urteil von Bürgern richten können, deren Redlichkeit und Verstand sie schätzen. Das aber ist ein weiterer Grund, den geschriebenen und unterzeichneten Stimmzettel der Stimmabgabe durch Zuruf vorzuziehen, bei der jeder Bürger nur das Votum der Mitglieder seiner eigenen Versammlung kennt. Die zweite Abstimmung hingegen ist ein Entscheidungsvotum und allein schon aus diesem Grund sollte jede Art von Einfluss von diesem Votum ferngehalten werden. Es sollte unabhängig von der öffentlichen Meinung und den Zusagen, die man vielleicht aus Schwäche gemacht hat, sein und man sollte dafür sorgen, dass es so frei wie nur möglich den Willen derjenigen ausdrückt, die es abgeben.

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III. Verfassung

Die Einfachheit der Wahlverfahren gestattet es, häufig Wahlen abzuhalten. So nützlich es sein mag, dieselben Prinzipien der Verwaltung beizubehalten und einmal beschlossene Maßnahmen mit Beständigkeit zu verfolgen, so überwiegt doch die Gefahr, das Vertrauen des Volkes zu ermüden. In einer wirklich freien Nation muss man vielmehr das Fundament jener so notwendigen Beständigkeit in den Prinzipien des Volkes selbst suchen. Was aber sind die Prinzipien des französischen Volkes? Es sind die Liebe zur Freiheit, die allen Nationen gemeinsam ist, die nicht durch Sklaverei erniedrigt wurden, und die Liebe zur Gleichheit, die gewissermaßen sein persönlicher Charakterzug ist. Es ist der Respekt vor den Menschenrechten, die in einer Erklärung festgeschrieben sind, die den Bürger lehrt, was er mit Recht von der Gemeinschaft erwarten und was die Gemeinschaft mit Recht von ihm fordern kann. Diese wohlbekannten und sorgfältig ausgearbeiteten Prinzipien aber reichen aus, um allen Gesetzen und allen Verwaltungsmaßnahmen jene Beständigkeit zu geben, die man sich vergeblich von der langen Dauer gewisser Ämter erhofft. Als wir diese häufige Neubesetzung der Ämter festlegten, waren wir der Ansicht, die Wiederwählbarkeit nicht beschränken zu dürfen. Solche Beschränkungen hatten ihre Berechtigung, solange die Wahlversammlungen mit den Wahlen betraut waren. Doch sobald sie den Bürgern selbst anvertraut sind, ist unbeschränkte Freiheit wenn nicht eine Folge der nationalen Souveränität so doch eine Huldigung, die das Gesetz der Souveränität des Volkes erweisen muss, ein Vertrauensbeweis, dessen das Volk sich durch seinen Mut bei der Verteidigung der Freiheit würdig gemacht hat. Übertriebene Vorsichtsmaßnahmen wären eine Beleidigung seines Eifers bei der Verteidigung seiner Rechte. Die Wiederwählbarkeit hilft im Übrigen, die Nachteile eines häufigen Wechsels in den Ämtern abzugleichen. Beide Einrichtungen scheinen zusammenzugehören und man sollte sie niemals voneinander trennen. Dass der Exekutivrat und die Direktorien der Departements stets nur zur Hälfte ausgetauscht werden und dass diese Institutionen verpflichtet sind, alle Entscheidungen gemeinschaftlich zu treffen, wirkt zusätzlich den Risiken jenes häufigen Wechsels entgegen, der so notwendig ist, weil es gefährlich wäre, wenn die Dauer der Ämter länger währt als das Vertrauen in die Amtsinhaber - jenes Vertrauen, das in wirklich freien Verfassungen die einzige echte Gewalt ist. Denn weil sie versucht haben, andere Gewalten einzusetzen, boten so viele Verfassungen, trotz ihrer republikanischen Form, nur den Anschein von Freiheit und hatten nur ein stürmisches und vorübergehendes Dasein. In den äußeren Beziehungen dürfen ohne den ausdrücklichen Willen der Nationalversammlung keine Verhandlungen auch nur begonnen und kein Vertrag auch nur vorläufig unterzeichnet werden. Die Nationalversammlung hat dabei einzig die Verpflichtung, sich vom Exekutivrat offiziell über jene Tatsachen unterrichten zu lassen, von denen nur er Kenntnis hat. Mithin wird der Exekutivrat seine Macht nach außen niemals dazu benutzen können, um die engen Grenzen zu überschreiten, die seiner Macht im Inneren gesetzt sind und wir haben auch diese Gefahr vermieden, der die Freiheit in anderen Verfassungen ausgesetzt ist und der sie tatsächlich so oft erlegen ist. Der Krieg darf von der gesetzgebenden Körperschaft nur kraft eines in namentlicher Abstimmung gefassten Beschlusses erklärt werden. Diejenigen, die einen Entschluss her-

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beiführen oder ihm zustimmen, der mehr als ein Volk zugleich schwerem wenn auch notwendigem Leid aussetzt, müssen sich dem Urteil ihrer Zeitgenossen wie auch demjenigen der Nachwelt stellen. Es genügt jedoch nicht, auf den Prinzipien der Gleichheit das Gebäude einer Verfassung errichtet und die Gewalten auf eine Art und Weise eingerichtet zu haben, welche die Freiheit und den Frieden sichert. Es reicht nicht aus, den Unternehmungen des Ehrgeizes und des Parteigeistes durch häufige Neubesetzung der Ämter und durch direkte Wahlen, die durch das Wahlverfahren vor Intrigen geschützt werden, vorgebeugt zu haben. Es ist nicht genug, dem Volk friedliche Mittel und Wege zur Beschwerde gegen Gesetze, die seinen Rechten oder seinen Ansichten widersprechen, eröffnet zu haben und ein Verfahren festgelegt zu haben, nach dem es sich eine neue Verfassung geben kann, wenn die bestehende seine Freiheit zu bedrohen scheint. Es ist darüber hinaus notwendig, dass die Nationalversammlung, die besser als die Bürger in der Lage ist, die Mängel der Verfassung zu erkennen und mögliche Missbräuche vorherzusehen, das Recht hat, den Bürgern die Fehler oder Gefahren dieser Verfassung darzulegen und sie darüber zu befragen, ob ein Nationalkonvent sich mit den Mitteln und Wegen befassen soll, die einen zu korrigieren und den anderen vorzubeugen. Es blieb uns schließlich noch, das Volk vor den Gefahren jener tiefen Gleichgültigkeit zu warnen, die oft den Revolutionen folgt, vor jenen schleichenden und verborgenen Missbräuchen, die auf die Dauer die menschlichen Einrichtungen entstellen und schließlich vor den Mängeln, die sich in der besten Verfassung einschleichen, wenn die Menschen, fur die sie gemacht ist, sich durch die Fortschritte der Aufklärung und der Zivilisation ändern, während sie sich gleich bleibt. Wir haben es daher für notwendig gehalten, in der Verfassung ein Verfahren festzuschreiben, durch das sie einer Reform unterzogen werden kann, unabhängig vom Verlangen des Volkes und zu einem festgesetzten Zeitpunkt. Ohne Zweifel würde eine solche Reform von einer inneren Erschütterung begleitet werden, wenn die Repräsentatiwersammlung plötzlich sowohl mit der Gewalt ausgestattet wäre, Gesetze zu geben, als auch mit der, einen Verfassungsentwurf vorzulegen, denn diese Häufung von Macht ließe sie vielleicht auf den Gedanken verfallen, sich im Voraus über jene Verfassung hinwegzusetzen, die sie in Begriff ist zu ändern. Man kann jedoch dieser Gefahr vorbeugen, wenn man alle Gewalten in ihrer alten Form bis zu dem Moment bestehen lässt, in dem eine neue Verfassung angenommen ist und wenn man mit der Aufgabe diese neue Verfassung auszuarbeiten und dem Volk vorzulegen, eine kleinere Versammlung betraut, die zwangsläufig ihre Sitzungen an einem anderen Ort als die Repräsentatiwersammlung abhalten muss, nur für diese Aufgabe gewählt wurde und keine andere ausüben darf. Die damit gesetzten Grenzen dürfen nicht überschritten werden. Die rein theoretische Aufgabe, eine Verfassung zu überprüfen und zu reformieren, um sie dann zur Annahme vorzulegen - bis zu der diese Verfassung nichts weiter ist als ein philosophisches Traktat - hat nichts gemein und darf nicht verwechselt werden mit der praktischen Aufgabe, Einzelgesetze mit vorläufiger Verbindlichkeit zu erlassen und Verwaltungsmaßnahmen zu ergreifen, die unmittelbar in die Tat umgesetzt werden.

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III. Verfassung

Wenn die Verfassung eines Volkes auf dem Prinzip eines Gleichgewichts schlecht eingerichteter Gewalten aufgebaut ist, die sich untereinander bekämpfen oder miteinander koalieren; wenn sie verschiedenen Klassen von Bürgern Vorrechte gewährt, die sich gegenseitig ausgleichen sollen; wenn sie Ämter einrichtet, die lange in den Händen derselben Personen bleiben oder wenn sie erbliche Körperschaften hervorbringt, dann wird der Moment, in dem die Überprüfung dieser Verfassung heranrückt, ein Augenblick der Unruhe sein, weil diese verschiedenen, aus ihr selbst hervorgegangenen Kräfte sich einen heftigen und unversöhnlichen Krieg liefern werden. Bei einer Verfassung, die auf dem Fundament der Handlungseinheit der staatlichen Gewalt, des häufigen Austausche aller Amtsträger durch direkte Wahlen und der vollständigen Gleichheit zwischen den Menschen beruht, wird es sich jedoch anders verhalten. Hier kann es bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung nur um formale Änderungen gehen, um die Vervollkommnung der Organisation der mit den öffentlichen Aufgaben betrauten Versammlungen oder Räte, um Verbesserungen des Verfahrens der Wahl ihrer Mitglieder oder darum, die Art, in der diese Autoritäten tätig werden, zu verbessern. Welche starke gesellschaftliche Kraft könnte dabei fur Unruhen sorgen? Und werden alle, denen Unruhen gelegen kommen könnten oder die vielleicht den Versuch machen, sie auszulösen, nicht durch das heilige Prinzip vollständiger Gleichheit daran gehindert, dem einzigen Fundament einer dauerhaften Freiheit, einem Prinzip, das in die Herzen der Menschen eingeschrieben ist und das, da seine Konsequenzen klar und jedermann einsichtig sind, wenn es einmal erkannt und verwirklicht wurde, nicht ungestraft verletzt werden kann. Wir haben uns in dieser Hinsicht darauf beschränkt, die allgemeinen Grundsätze, von denen wir uns haben leiten lassen, sowie die Gründe der wichtigsten Einrichtungen darzulegen. Eine Verfassung sollte, gemäß dem natürlichen Verständnis des Wortes, alle Gesetze enthalten, welche die Einrichtung, die Gestalt, die Organisation, die Aufgaben, die Handlungsweise und die Grenzen der gesellschaftlichen Gewalten betreffen. Doch sobald man die Verfassungsgesetze in besonderer Weise unwiderruflich macht, sobald sie nicht mehr wie die anderen Gesetze von einer in der Gesellschaft ständig bestehenden Gewalt geändert werden können, darf man unter die Verfassungsgesetze, die sich auf das gesellschaftliche System auswirken, nur noch solche aufnehmen, deren Unwiderruflichkeit das Funktionieren dieses Systems nicht behindert, sodass es nicht allzu oft erforderlich wird, eine außerordentliche Gewalt zur Reform der Verfassung einzuberufen. Zugleich dürfen Änderungen, die vom Willen einer einzigen gesetzgebenden Körperschaft abhängen, dieser nicht die Möglichkeit geben, die Macht an sich zu reißen oder den Geist der Verfassung zu verfalschen, indem sie vorgeblich rein formale Änderungen vornimmt. Denn bei einer Verfassung, die dem Volk legale Mittel gibt, ihre Reform zu erzwingen, würde dies ebenfalls dazu führen, dass der Nationalkonvent zu oft einberufen wird. Alles, was die gesetzgebende Körperschaft, die Grenzen der Gewalten, die Wahlen und die zur Garantie der Bürgerrechte notwendigen Einrichtungen betrifft, muss daher so genau wie möglich ausgearbeitet und so festgelegt werden, dass die gesellschaftliche Tätigkeit keine Verzögerungen, Behinderungen oder Erschütterungen erfahrt.

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Eine von den Bürgern ausdrücklich angenommene Verfassung, die reguläre Möglichkeiten zu ihrer Korrektur und Änderung enthält, ist das einzige Mittel, einer Gesellschaft eine feste und dauerhafte Ordnung zu geben, deren Mitglieder über ihre Rechte aufgeklärt und entschlossen sind, sie zu verteidigen - Rechte, die sie gerade eben wieder gewonnen haben und von denen sie vor kurzem noch fürchten mussten, sie erneut zu verlieren. Die übertriebene Begeisterung ebenso wie das übertriebene Misstrauen, die Wut der Parteien und die Furcht vor Fraktionsbildung, die Kleinmut, fiir die jede heftige Bewegung schon die Auflösung des Staates bedeutet und die Unruhe, die schon die Tyrannei wittert, wenn sie nur Ruhe und Frieden um sich sieht, müssen angesichts dieser heilsamen Vorkehrungen gleichermaßen verschwinden. In jeder großen Gesellschaft, die eine Revolution erlebt, lassen sich die Menschen in zwei Klassen unterteilen: Die einen widmen sich lebhaft den öffentlichen Angelegenheiten, sie sind, aus Eigeninteresse oder aus Patriotismus, überall dort zu finden, wo die Meinungen aufeinander prallen, verteilen sich auf alle Fraktionen, schlagen sich zu den verschiedenen Parteien: Man hält sie fur die ganze Nation, dabei sind sie oft nur ein kleiner Teil von ihr. Die anderen, die ihren Tätigkeiten nachgehen und sich aus Notwendigkeit oder dem Bedürfnis nach Ruhe mit ihren persönlichen Angelegenheiten beschäftigen, lieben ihr Land, ohne es regieren zu wollen und dienen dem Vaterland, ohne zu wollen, dass es von ihrer Meinung oder ihrer Partei beherrscht wird. Gezwungen, sich entweder einer Fraktion anzuschließen und den Meinungsführern zu vertrauen oder sich auf Untätigkeit und Schweigen zu beschränken, bedürfen sie einer Verfassung, die ihnen sicher zeigt, was ihr Interesse und ihre Pflicht ist, damit sie mühelos erkennen können, auf welches Ziel sie ihre Kräfte richten müssen. Wenn aber diese ungeheure Masse sich erst einmal auf dieses Ziel hin in Bewegung setzt, dann erscheint der aktive Teil der Bürger nicht länger als das ganze Volk. Von diesem Augenblick an sind die Individuen nichts mehr und es gibt nur noch die Nation. Daher muss man sich darauf gefasst machen, dass alle, deren Eitelkeit, Ehrgeiz oder Habgier auf Unruhen angewiesen sind, alle diejenigen, die furchten, dass sie in einer friedlichen Ordnung wieder in die Menge zurückfallen würden, wohin ihnen die Bewunderung der Öffentlichkeit nicht folgt; alle die, die in einer Partei etwas, in der Nation jedoch nichts wären - man muss sich darauf gefasst machen, dass alle diese Leute ihre Kräfte vereinen werden, um die Einführung einer neuen Verfassung zu verzögern, zu erschweren oder vielleicht gar zu verhindern. Ihnen werden diejenigen zur Seite eilen, die irgendetwas von dem, was die Revolution zerstört hat, vermissen, die behaupten, dass die Errichtung einer auf Gleichheit gegründeten Republik unmöglich ist, weil sie furchten, sie tatsächlich entstehen zu sehen und jene noch verbrecherischeren Leute, die darauf zählen, dass nur die lange Dauer unserer Uneinigkeit unseren ausländischen Feinden zu ihren für die Freiheit unheilvollen Erfolgen verhelfen kann. Daher eint die Intriganten aller Banner, die Aristokraten aller Ränge, die Verschwörer aller Art eine gemeinsame Abneigung gegen die Einfuhrung einer neuen Verfassung, daher bedienen sie sich derselben Mittel und sprechen dieselbe Sprache. Wenn sie eine Einrichtung, die zu offensichtlich nützlich und weise ist, nicht angreifen können, dann

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III. Verfassung

suchen sie bei denjenigen, die diese Einrichtung vorgeschlagen oder sich fur sie eingesetzt haben, nach verborgenen Absichten - denn es ist einfacher, einen Verdacht zu wecken als ein Argument zu widerlegen, und es braucht noch weniger Talent, eine Verleumdung in die Welt zu setzen als sich einen Sophismus auszudenken. Doch der Konvent wird diese schändlichen Hoffnungen zunichte machen: Er wird dem Volk in kurzer Zeit eine Verfassung vorlegen, die dem Volk und seiner selbst würdig ist. Er wird den Schlingen auszuweichen wissen, die man sich beeilen wird, auf seinem Weg zu legen. Die Bürger, die alle die Notwendigkeit empfinden, endlich feste Gesetze zu haben, werden sich mit dem Konvent zusammenschließen. Sie wissen, dass der Ruhm des Konvents und das weitere Schicksal seiner Mitglieder mit dem Erfolg dieses großen nationalen Willensakts verbunden sind. An ihm wird die Nation, wird Europa, wird die Nachwelt unsere Absichten und unseren Erfolg messen. Dieser Gedanke wird das Vertrauen des Volkes stärken, und es wird allein gemäß seiner Vernunft über den Entwurf entscheiden, den Eure Weisheit seiner souveränen Autorität vorlegen muss. Was uns betrifft, so legen wir Euch unsere Arbeit mit dem Vertrauen von Menschen vor, die nach dem Gerechten und Nützlichen gesucht haben - ohne Leidenschaften, ohne Voreingenommenheiten, ohne Parteigeist und ohne irgendeine Rücksicht auf persönlichen Vorteil oder Eitelkeit, jedoch mit jenem Misstrauen gegenüber uns selbst, zu dem uns sowohl die Schwierigkeit einer solchen Arbeit, als auch die Schwierigkeiten, mit denen die aktuellen Umstände sie umgeben, verpflichten mussten. Die Souveränität des Volkes, die Gleichheit zwischen den Menschen, die Einheit der Republik: das sind die Prinzipien, die uns stets gewärtig waren und von denen wir uns bei der Zusammenstellung unseres Entwurfs haben leiten lassen - und wir waren der Auffassung, dass die in sich beste und am meisten dem gegenwärtigen Geist der Nation entsprechende Verfassung diejenige ist, in der diese Prinzipien am meisten geachtet werden. Franzosen, wir sind euch die ganze Wahrheit schuldig. Vergeblich wird eine einfache und gut aufgebaute Verfassung, die von euch angenommen wurde, eure Rechte verkünden: Ihr werdet weder Frieden noch Glück und nicht einmal die Freiheit kennen, wenn die Unterordnung unter jene Gesetze, die sich das Volk selbst gegeben haben wird, nicht die erste Pflicht jedes Bürgers ist; wenn die gewissenhafte Achtung vor dem Gesetz, welche die freien Völker auszeichnet, sich nicht auch auf diejenigen Gesetze erstreckt, deren Änderung möglicherweise im öffentlichen Interesse wäre; wenn ihr, damit betraut, die Verwalter aller staatlichen Autoritäten zu bestimmen, dem Raunen der Verleumdungen nachgebt, anstatt auf die Stimme des Ansehens zu hören; wenn ein ungerechtes Misstrauen die Tugenden und die Talente zum Rückzug und zum Schweigen zwingt; wenn ihr den Anklägern glaubt, anstatt über die Anklagen zu urteilen; wenn ihr das Mittelmaß, das keinen Neid erregt, dem Verdienst vorzieht, den das Mittelmaß so gern grausam verfolgt; wenn Ihr die Menschen nach Gefühlen, die sich so leicht vorspiegeln lassen, beurteilt und nicht nach ihrem Tun, das schwierig durchzuhalten ist; wenn schließlich die Bürger in sträflicher Gleichgültigkeit die wichtigen Ämter, die das Gesetz ihnen vorbehalten hat, nicht mit Besonnenheit, Eifer und Würde ausüben. Wo

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wären die Freiheit und die Gleichheit, wenn das Gesetz, das die Rechte festlegt, die allen gemeinsam sind, nicht auch von allen gleichermaßen beachtet würde? Und welchen Frieden, welches Glück könnte sich ein Volk erhoffen, das unbedacht und fahrlässig seine Interessen in die Hände unfähiger oder korrupter Männer gelegt hat? Welche Fehler andererseits eine Verfassung auch haben mag, wenn sie einem Volk, das die Gesetze liebt, tätigen Bürgern, die der Stimme der Vernunft gern gehorchen, Mittel bietet, sie zu reformieren, dann werden diese Fehler schnell behoben sein, noch bevor sie Schaden anrichten konnten. So hat die Natur, die wollte, dass jedes Volk Herr seiner Gesetze ist, es auch zum Herrn seines Gedeihens und seines Glücks gemacht.

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III. Verfassung

Entwurf der Erklärung der natürlichen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte

Da der Zweck jeder gesellschaftlichen Vereinigung von Menschen die Wahrung ihrer natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte ist, sind diese Rechte die Grundlage des gesellschaftlichen Pakts. Ihre Anerkennung und Erklärung müssen der Verfassung vorausgehen, die ihren Schutz sicherstellt. Artikel I Die natürlichen, bürgerlichen und politischen Menschenrechte sind: die Freiheit, die Gleichheit, die Sicherheit des Eigentums, die gesellschaftliche Garantie und das Recht zum Widerstand gegen Unterdrückung. Artikel II Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was nicht den Rechten eines anderen widerspricht. Folglich hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen keine anderen Grenzen als diejenigen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss derselben Rechte sichern. Artikel III Die Erhaltung der Freiheit hängt von der Unterwerfung unter das Gesetz ab, welches Ausdruck des Gemeinwillens ist. Alles, was nicht durch das Gesetz verboten ist, darf nicht verhindert werden und niemand darf zu etwas gezwungen werden, was das Gesetz nicht gebietet. Artikel IV Jeder Mensch ist frei, seinen Gedanken und Meinungen Ausdruck zu verleihen. Artikel V Die Freiheit der Presse und jedes anderen Mittels, seine Gedanken zu veröffentlichen, darf nicht aufgehoben, ausgesetzt oder eingeschränkt werden. Artikel VI Jeder Mensch ist frei in der Ausübung seines Gottesdienstes.

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Artikel VII Die Gleichheit besteht darin, dass jeder dieselben Rechte genießt. Artikel VIII Das Gesetz muss für alle gleich sein, ob es belohnt oder bestraft, schützt oder verbietet. Artikel IX Allen Bürgern stehen alle öffentlichen Posten, Anstellungen und Ämter offen. Freie Völker richten sich bei der Auswahl ausschließlich nach Talenten und Tugenden. Artikel X Die Sicherheit besteht in dem Schutz, den die Gesellschaft jedem Bürger zur Erhaltung seiner Person, seiner Güter und seiner Rechte gewährt. Artikel XI Niemand darf vor Gericht gestellt, angeklagt, festgenommen oder inhaftiert werden, außer in den vom Gesetz bezeichneten Fällen und gemäß den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren. Jeder andere gegen einen Bürger vorgenommene Akt ist willkürlich und nichtig. Artikel XII Diejenigen, die solche willkürlichen Akte veranlassen, ausfertigen, unterzeichnen oder ausführen lassen, machen sich schuldig und müssen bestraft werden. Artikel XIII Die Bürger, gegen die man solche Akte vorzunehmen versucht, haben das Recht, Gewalt mit Gewalt abzuwehren. Doch jeder Bürger, der kraft Gesetz und gemäß den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren vorgeladen oder verhaftet wird, muss sogleich Folge leisten. Durch Widerstand macht er sich strafbar. Artikel XIV Da jeder Mensch solange als unschuldig gilt, bis er für schuldig erklärt wurde, muss das Gesetz, wenn entschieden wurde, dass es unumgänglich ist, ihn zu verhaften, jede Härte, die nicht notwendig ist, um sich seiner Person zu versichern, streng unterbinden. Artikel XV Niemand darf bestraft werden, außer aufgrund eines Gesetzes, das vor dem Delikt erlassen und bekannt gemacht wurde und rechtmäßig angewandt wird. Artikel XVI Ein Gesetz, welches Delikte bestraft, die vor seinem Bestehen begangen wurden, ist ein willkürlicher Akt. Einem Gesetz rückwirkende Gültigkeit zu verleihen, ist ein Verbrechen.

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III. Verfassung

Artikel XVII Das Gesetz darf nur Strafen verhängen, die ausschließlich und offenkundig für die allgemeine Sicherheit notwendig sind. Strafen müssen den Delikten angemessen und nützlich für die Gesellschaft sein. Artikel XVIII Das Recht auf Eigentum besteht darin, dass es jedem Menschen frei steht, nach seinem Belieben über seine Güter, sein Kapital seine Einkünfte und seinen Gewerbefleiß zu verfügen. Artikel XIX Keine Art von Arbeit, Handel oder Landwirtschaft darf ihm verboten werden. Er darf jede Art von Produkten herstellen, verkaufen und transportieren. Artikel XX Jeder Mensch darf seine Dienste und seine Zeit anderen abtreten, doch er kann sich nicht selbst verkaufen: seine Person ist kein veräußerliches Eigentum. Artikel XXI Niemandem darf ohne seine Einwilligung irgendein Teil seines Eigentums genommen werden, es sei denn, dass ein rechtmäßig festgestelltes öffentliche Interesse dies offensichtlich fordert und unter der Bedingung einer gerechten und im Voraus zu leistenden Entschädigung. Artikel XXII Abgaben dürfen nur zum allgemeinen Nutzen und zur Deckung der öffentlichen Ausgaben erhoben werden. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Repräsentanten an der Festsetzung der Abgaben mitzuwirken. Artikel XXIII Bildung ist ein Bedürfnis aller und die Gesellschaft schuldet sie all ihren Mitgliedern gleichermaßen. Artikel XXIV Die öffentlichen Unterstützungsleistungen sind eine heilige Pflicht der Gesellschaft. Es obliegt dem Gesetz, ihren Umfang und ihre Gewährung festzulegen. Artikel XXV Die gesellschaftliche Garantie der Menschenrechte beruht auf der nationalen Souveränität. Artikel XXVI Die Souveränität ist eins, unteilbar, unwandelbar und unveräußerlich.

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Artikel XXVII Sie kommt grundsätzlich dem gesamten Volk zu, und jeder Bürger hat das gleiche Recht, an ihrer Ausübung mitzuwirken. Artikel XXVIII Keine besondere Vereinigung von Bürgern und kein Individuum dürfen sich die Souveränität zuschreiben, irgendeine Autorität oder ein öffentliches Amt ausüben, ohne dass diese ihnen durch das Gesetz förmlich übertragen wurden. Artikel XXIX Die gesellschaftliche Garantie kann nur bestehen, wenn die Grenzen der Befugnisse der öffentlichen Ämter durch das Gesetz klar bestimmt sind und wenn die Verantwortlichkeit aller öffentlichen Beamten sichergestellt ist. Artikel XXX Alle Bürger sind gehalten, zu dieser Garantie beizutragen und das Gesetz durchzusetzen, wenn sie in seinem Namen dazu aufgefordert werden. Artikel XXXI Die in der Gesellschaft vereinigten Menschen müssen eine rechtmäßige Möglichkeit haben, um gegen Unterdrückung Widerstand zu leisten. Artikel XXXII Unterdrückung besteht dann, wenn ein Gesetz die natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte verletzt, die es schützen soll. Unterdrückung besteht dann, wenn öffentliche Beamte das Gesetz bei seinem Vollzug im Einzelfall verletzen. Unterdrückung besteht dann, wenn willkürliche Akte die Rechte der Bürger entgegen den Bestimmungen des Gesetzes verletzen. In einem freien Staatswesen muss die Verfassung die Art des Widerstands gegen diese unterschiedlichen Akte der Unterdrückung regeln. Artikel XXXIII Ein Volk hat immer das Recht, seine Verfassung zu überprüfen, zu reformieren und zu ändern. Eine Generation hat nicht das Recht, zukünftige Generationen ihren Gesetzen zu unterwerfen. Jede Erblichkeit von Ämtern ist unsinnig und tyrannisch.

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III. Verfassung

Entwurf der französischen Verfassung1

Die französische Nation verfasst sich als eine einzige und unteilbare Republik. Sie macht die Menschenrechte, die sie anerkannt und erklärt hat und die Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Souveränität des Volkes zur Grundlage ihrer Regierungsform und nimmt die folgende Verfassung an: Erster Titel Von der Gliederung des Staatsgebiets Artikel I Die französische Republik ist eins und unteilbar. Artikel II Die Unterteilung ihres gegenwärtigen Staatsgebietes in 85 Departements wird beibehalten. Artikel III Die Grenzen der Departements können jedoch auf Verlangen der Einwohner geändert oder berichtigt werden. In diesem Fall darf das Gebiet eines Departements 400 Quadratmeilen nicht überschreiten. Artikel IV Jedes Departement wird in Großgemeinden und die Gemeinden in Munizipalsektionen und Primärversammlungen unterteilt.

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Es gibt in diesem Entwurf vielleicht einige Artikel, die auf den ersten Blick ausschließlich Verfahrensfragen zu betreffen scheinen. Doch diese Artikel gehören so wesentlich zum Gesamtentwurf, dass Überlegung und Diskussion sie als echte Teile der Verfassung erweisen werden. Auf keinen Fall durfte das Komitee die Zwischenschritte überspringen, die für die Klarheit und den folgerichtigen Aufbau seiner Arbeit unerlässlich waren. Insbesondere, da das Dekret über seine Einsetzung bestimmte, dass es in dem Augenblick, in dem es das Ergebnis seiner Arbeit vorlegt, aufgelöst wird, und es somit die das Reglement und die Organisation betreffenden Artikel, welche die Folgen und Ergänzungen seiner Arbeit sind, nicht mehr hat darlegen können.

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Artikel V Die Unterteilung des Gebiets der Departements in Großgemeinden wird so vorgenommen, dass der Abstand zwischen dem Zentrum des Hauptortes der Gemeinde und dem am weitesten entfernten Wohnort nicht mehr als zweieinhalb Meilen beträgt. Artikel VI Das Gebiet der Munizipalsektionen soll nicht mit dem der Primärversammlungen übereinstimmen. Artikel VII In jeder Gemeinde gibt es eine der Departementsverwaltung untergeordnete Verwaltung und in jeder Sektion eine Unterbehörde.

Zweiter Titel Vom Bürgerstand und den notwendigen Bedingungen, um die Bürgerrechte auszuüben Artikel I Jeder Mann, der das einundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, der sich in die Bürgerliste einer Primärversammlung hat einschreiben lassen und danach während eines Jahres ohne Unterbrechung auf französischem Staatsgebiet gewohnt hat, ist Bürger der Republik. Artikel II Die französische Staatsbürgerschaft geht durch Naturalisierung im Ausland und durch die Strafe der Aberkennung der bürgerlichen Rechte verloren. Artikel III Jeder Bürger, der die vom Artikel I geforderten Bedingungen erfüllt hat, kann sein Stimmrecht in dem Teil des Staatsgebiets der Republik ausüben, in dem er einen gegenwärtigen Aufenthalt von drei Monaten ohne Unterbrechung nachweisen kann. Artikel IV Niemand darf sein Stimmrecht zum selben Gegenstand in mehr als einer Primärversammlung ausüben. Artikel V Es gibt zwei Gründe, die unfähig machen, das Stimmrecht auszuüben: Erstens der gerichtlich festgestellte Schwachsinn oder Wahnsinn; zweitens die rechtmäßige Verurteilung zu Strafen, welche die Aberkennung der bürgerlichen Rechte mit sich bringen.

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III. Verfassung

Artikel VI Jeder Bürger, der sechs Jahre lang seinen Wohnsitz außerhalb des Staatsgebiets der Republik hatte, ohne dass ihm im Namen der Nation ein Auftrag gegeben war, darf erst nach einem ununterbrochenen Aufenthalt von sechs Monaten das Stimmrecht wieder ausüben. Artikel VII Jeder Bürger, der ohne Auftrag ein Jahr lang seinem gewöhnlichen Wohnort ferngeblieben ist, muss sich erneut drei Monate dort aufgehalten haben, bevor er zur Ausübung des Wahlrechts in den Primärversammlungen zugelassen ist. Artikel VIII Die gesetzgebende Körperschaft setzt die Strafe für diejenigen fest, die das Wahlrecht in Fällen ausüben, in denen die Verfassung es ihnen verbietet. Artikel IX Die französische Staatsbürgerschaft und die Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres sind die einzig notwendigen Voraussetzungen für die Wählbarkeit zu allen Ämtern der Republik. Artikel X Unabhängig von seinem Wohnort kann ein französischer Bürger zu allen Ämtern und von allen Departements gewählt werden, auch wenn er sein Stimmrecht mangels Aufenthalt nicht ausüben darf.

Dritter Titel Von den Primärversammlungen

Erster Abschnitt Organisation der Primärversammlungen Artikel I Die Primärversammlungen, in denen die Franzosen ihre Bürgerrechte ausüben, sollen so über das Gebiet jedes Departements verteilt sein, dass keine weniger als 450 und keine mehr als 900 Mitglieder hat. Artikel II In jeder Primärversammlung wird eine besondere Liste der Bürger angelegt, aus denen sie besteht.

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Artikel III Nach Anfertigung dieser Liste wird in jeder Primärversammlung ein Ausschuss ernannt, der jeweils ein Mitglied fur 50 in die Liste eingeschriebene Bürger erhält. Artikel IV Der Ausschuss wird in einer einzigen Abstimmung und mit der einfachen Mehrheit der Stimmen gewählt. Jeder Wähler trägt nur zwei Personen auf seinem Wahlzettel ein, unabhängig von der Anzahl der Mitglieder, aus denen der Ausschuss bestehen soll. Artikel V Wenn die Wahl der Mitglieder des Ausschusses nach dem Ergebnis der ersten Abstimmung jedoch unvollständig sein sollte, wird zu seiner Vervollständigung ein zweiter Wahlgang abgehalten. Artikel VI Das älteste Mitglied hat während dieser ersten Wahl den Vorsitz der Versammlung. Artikel VII Die Aufgaben der Ausschussmitglieder sind: 1. das Register oder die Liste der Bürger aufzubewahren; 2. in dieses Register diejenigen einzutragen, die sich in dem Zeitraum zwischen zwei Versammlungen melden, um als Bürger zugelassen zu werden; 3. denjenigen Personen, die den Wohnort wechseln wollen, eine Bescheinigung auszustellen, die ihre Staatsbürgerschaft bestätigt; 4. die Primärversammlung in den von der Verfassung bestimmten Fällen einzuberufen; 5. im Namen der Versammlung bei der Departementsverwaltung oder im Ausschuss der Primärversammlungen der Gemeinde die für die Ausübung des Rechts der Zensur nötigen Anträge zu stellen. Artikel VIII Die Ausschussmitglieder werden in der Reihenfolge der auf sie entfallenen Stimmenzahl ernannt. Der Erstplatzierte übernimmt die Aufgaben des Vorsitzenden. Die drei Mitglieder, die ihm unmittelbar nachfolgen, übernehmen die Aufgaben der Sekretäre, die übrigen Ausschussmitglieder die Aufgabe der Stimmensammler. Bei Abwesenheit von Mitgliedern vertreten sie einander in derselben Reihenfolge. Artikel IX Bei jeder neuen Einberufung einer Primärversammlung darf diese erst ihre Tätigkeit aufnehmen, wenn der Ausschuss neu gewählt ist. Jeder Akt, der dieser Neuwahl vorhergeht, ist nichtig. Die Bürger, die Mitglieder des alten Ausschusses waren, können allerdings wiedergewählt werden.

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III. Verfassung

Artikel X Der Ausschuss wird nicht neu gewählt, wenn die Sitzungen der Versammlung nur vertagt und fortgesetzt werden und wenn der Gegenstand, zu dem die Versammlung einberufen wurde, noch nicht abschließend behandelt ist. Artikel XI Niemand darf in einer Primärversammlung wählen, in deren Liste er nicht eingeschrieben ist, wenn er nicht acht Tage vor Eröffnung der Versammlung dem Ausschuss die Dokumente vorgelegt hat, die sein Recht belegen. Der amtierende Ausschuss berichtet darüber der Versammlung, die entscheidet, ob der vorgestellte Bürger die von der Verfassung geforderten Bedingungen erfüllt.

Abschnitt II Aufgaben der Primärversammlungen Artikel I Die französischen Bürger kommen in Primärversammlungen zusammen, um die von der Verfassung festgesetzten Wahlen zu vollziehen. Artikel II Die französischen Bürger kommen weiterhin in Primärversammlungen zusammen, um über Gegenstände zu beraten, die das Wohl der Republik im Allgemeinen betreffen, so: 1. um einen Verfassungsentwurf oder eine Änderung der bestehenden Verfassung anzunehmen oder abzulehnen; 2. wenn die Einberufung eines Nationalkonvents beantragt wurde; 3. wenn die gesetzgebende Körperschaft über eine Frage, welche die gesamte Republik betrifft, die Abgabe des Votums aller Bürger veranlasst; 4. schließlich, wenn die gesetzgebende Körperschaft ersucht werden soll, einen Gegenstand in ihre Beratungen aufzunehmen oder, um im Hinblick auf die Akte der Nationalrepräsentation, gemäß den durch die Verfassung festgesetzten Verfahren und Regeln, die Zensur des Volkes auszuüben. Artikel III Wahlen und Beratungen der Primärversammlungen, die in ihrer Art, ihrem Gegenstand oder ihrem Verfahren nicht mit den von der Verfassung vorgeschriebenen Regeln übereinstimmen, sind nichtig und unwirksam.

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Abschnitt III Allgemeine Regeln fur die Wahlen in den Primärversammlungen Artikel I Die Wahlen werden vermittels zweier Abstimmungen abgehalten. Die erste, nur vorbereitende, dient einzig dazu, eine Vorschlagsliste zu bilden. Die zweite, in der ausschließlich über die auf der Vorschlagsliste eingeschriebenen Kandidaten abgestimmt wird, ist endgültig und schließt die Wahl ab. Artikel II Sobald die Versammlung gebildet, die Mitglieder zugelassen, der Ausschuss eingerichtet und der Gegenstand der Zusammenkunft verkündet worden sind, erhält jeder Wähler einen gedruckten Stimmzettel für die Vorschlagsabstimmung, auf dessen Rand sein Name vermerkt ist. Artikel III Die Abstimmung wird sofort eröffnet und in der Sitzung des folgenden Tages um vier Uhr abends geschlossen. Jeder Bürger schreibt auf seinen Stimmzettel eine mit der Anzahl der zu besetzenden Stellen übereinstimmende Anzahl von Namen oder lässt diese dort aufschreiben und hinterlegt den Stimmzettel in der genannten Frist beim Ausschuss. Artikel IV In der Sitzung des zweiten Tages um vier Uhr nimmt der Ausschuss die Überprüfung und Auszählung der Abstimmung vor, indem mit lauter Stimme der Name jedes Wählers und die Namen derjenigen, die er auf seinem Stimmzettel vermerkt hat, verlesen werden. Artikel V Alle diese Vorgänge sind öffentlich. Artikel VI Nachdem das Abstimmungsergebnis einer jeden Primärversammlung von ihrem Ausschuss festgestellt und verkündet wurde, wird es zum Hauptort des Departements gesandt, wo die Auszählung der Abstimmungsergebnisse aller Primärversammlungen öffentlich von den Verwaltungsbeamten vorgenommen wird. Artikel VII Die Vorschlagsliste wird aus denjenigen gebildet, die die meisten Stimmen erhalten haben. Sie enthält dreimal so viele Namen, wie Stellen zu besetzen sind.

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III. Verfassung

Artikel VIII Bei Stimmengleichheit wird immer dem Älteren der Vorzug gegeben. Wenn nur noch ein Platz auf der Liste zu besetzen ist, wird nur der Ältere eingeschrieben. Artikel IX Die allgemeine Auszählung der Abstimmungen der Primärversammlungen beginnt am achten Tag nach Eröffnung der Wahl. Abstimmungsergebnisse der Primärversammlungen, die der Departementsverwaltung erst nach diesem Datum übergeben werden, werden nicht mehr berücksichtigt. Artikel X Die Vorschlagsliste der Kandidaten wird nach Zählung der Abstimmungsergebnisse der Primärversammlungen nicht sofort endgültig festgelegt. Die Departementsverwaltung muss die Liste, die zunächst nur als einfacher Entwurf zu betrachten ist, unverzüglich drucken und veröffentlichen lassen. Sie enthält: 1. die Liste der Kandidaten, auf welche die meisten Stimmen entfallen sind, wobei dreimal so viele Kandidaten auf die Liste gesetzt werden, wie Stellen zu vergeben sind; 2. eine gleiche Anzahl von Stellvertretern, deren Plätze in Reihenfolge der Stimmenmehrheit mit denjenigen besetzt werden, die nach den zuerst eingeschriebenen Kandidaten die meisten Stimmen erhalten haben. Artikel XI In den vierzehn Tagen, die auf die Veröffentlichung dieser ersten Liste folgen, nimmt die Departementsverwaltung die Erklärungen derjenigen entgegen, die als Kandidaten oder Stellvertreter auf der Liste eingeschrieben sind, ihre Wahl jedoch nicht annehmen wollen oder können. Am fünfzehnten Tag wird die Liste endgültig fertig gestellt, wobei diejenigen, die ihre Wahl abgelehnt haben, zunächst durch die eingeschriebenen Stellvertreter ersetzt werden, für welche diejenigen nachrücken, welche nach ihnen die meisten Stimmen erhalten haben, stets in der Reihenfolge der Stimmenmehrheit. Artikel XII Nachdem die Vorschlagsliste auf diese Weise endgültig fertig gestellt und auf die dreifache Zahl der zu wählenden Personen beschränkt ist, wird sie unverzüglich von der Departementsverwaltung an die Primärversammlungen gesandt. Die Departementsverwaltung legt den Tag fest, an dem die Primärversammlungen die Schlussabstimmung der Wahl vollziehen sollen. Dieser Termin darf jedoch unter keinen Umständen nach dem zweiten Sonntag nach Schließung der Vorschlagsliste liegen. Artikel XIII Wenn sich die Versammlung zur zweiten und letzten Abstimmung zusammengefunden hat, erhält jeder Wähler vom Ausschuss einen Stimmzettel mit zwei Rubriken, die beide in so viele Zeilen unterteilt sind, wie Personen zu wählen sind. Die erste Spalte trägt den Titel: Erste Wahlrubrik, die zweite Spalte den Titel Ergänzungsrubrik.

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Artikel XIV Jeder Wähler trägt in die erste Rubrik so viele Personen, wie Stellen zu besetzen sind und in die Ergänzungsrubrik eine gleiche Zahl von Namen ein oder lässt diese dort eintragen. Dieser Wahlzettel wird nicht namentlich unterzeichnet. Artikel XV Es können nur Stimmen für Personen abgegeben werden, die auf der Vorschlagsliste eingeschrieben sind. Artikel XVI Die Auszählung der Stimmen in der ersten Wahlrubrik und in der Ergänzungsrubrik erfolgt in jeder Primärversammlung getrennt. Artikel XVII Die Ergebnisse werden zum Hauptort des Departements gesandt und dort bis zum achten Tag nach demjenigen, der für die Eröffnung der zweiten Abstimmung festgelegt wurde, entgegengenommen. Artikel XVIII Die Departementsverwaltung nimmt die allgemeine Auszählung der Abstimmungsergebnisse, die ihr von den Primärversammlungen übersandt wurden, öffentlich vor. Es wird zunächst, gesondert und getrennt, die Anzahl der Stimmen ausgezählt, die jeder Kandidat in der ersten Wahlrubrik erhalten hat, dann die Stimmenzahl in der Ergänzungsrubrik. Artikel XIX Wenn aufgrund der Anzahl der Stimmen in der ersten Rubrik niemand die absolute Mehrheit erhält, werden alle Stimmen zusammengezählt, die jeder Kandidat in beiden Rubriken erhalten hat. Die Ernennung der zu wählenden Personen wie auch ihrer Stellvertreter erfolgt nach der Reihenfolge der Stimmenmehrheit. Artikel XX Wenn einer oder mehrere Kandidaten die absolute Mehrheit der in die erste Rubrik eingetragenen Stimmen auf sich vereinen, dann sind sie gewählt. Auf die Addition der in beiden Rubriken eingetragenen Stimmen wird nur bei den Kandidaten zurückgegriffen, die in der ersten Rubrik keine absolute Mehrheit erhalten haben sowie für diejenigen Stellen, die nach der ersten Auszählung unbesetzt geblieben sind. Artikel XXI Stellvertreter werden zunächst die, die nach den gewählten Personen in der ersten Rubrik eine absolute Mehrheit mit der höchsten Stimmenzahl erhalten haben; danach diejenigen, die nach den gewählten Personen bei Zusammenziehung beider Rubriken die meisten Stimmen auf sich vereinigen, auch wenn sie nur eine relative Mehrheit erhalten haben.

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III. Verfassung

Artikel XXII Dasselbe Verfahren wird auch bei Ernennungen für eine einzige Stelle angewandt. Doch in diesem Fall 1. schreibt bei der Vorschlagsabstimmung jeder Abstimmende nur einen Namen auf seinen Wahlzettel; 2. enthält die Vorschlagsliste, die nach dieser Abstimmung aufgestellt wird, die Namen von 13 Kandidaten und ebenso vielen Stellvertretern und wird gemäß den Artikeln X und XI endgültig fertig gestellt. 3. Bei der endgültigen Abstimmung schreibt jeder Abstimmende den Namen der Person seiner Wahl in die erste Rubrik oder lässt ihn dort einschreiben und trägt in die Rubrik für die Stellvertreter die Namen von sechs weiteren Personen ein. 4. Wenn bei der allgemeinen Auszählung der in die erste Rubrik eingetragenen Stimmen einer der Kandidaten eine absolute Mehrheit auf sich vereinigt hat, ist er gewählt. Wenn niemand die absolute Mehrheit erhalten hat, zählt man die Stimmen zusammen, die in beiden Rubriken auf jeden Kandidaten entfallen sind. Derjenige, der die meisten Stimmen erhalten hat, ist gewählt, und die sechs Kandidaten, die nach ihm die meisten Stimmen auf sich vereinigt haben, werden nach der Reihenfolge der Stimmenmehrheit seine Stellvertreter. Artikel XXIII Bei der Auszählung der endgültigen Abstimmung werden die Stimmzettel, auf denen eine oder mehrere Stimmen Bürgern gegeben wurden, die nicht auf der Vorschlagsliste eingetragen sind, ebenso wie die Stimmzettel, die nicht in jeder Rubrik die erforderliche Anzahl der Stimmen enthalten, für ungültig erklärt. Artikel XXIV Derselbe Bürger kann gleichzeitig auf mehreren Vorschlagslisten für unterschiedliche Ämter eingetragen werden. Artikel XXV Es besteht jedoch Unvereinbarkeit zwischen allen öffentlichen Ämtern. Wenn ein Bürger ein neues Amt annimmt, dann gilt allein die Tatsache der Annahme dieses Amtes als Rücktritt von demjenigen, das er zuvor ausgeübt hat.

Abschnitt IV Von der inneren Ordnung der Primärversammlungen Artikel I Die innere Ordnung der Primärversammlungen wird grundsätzlich und ausschließlich von den Versammlungen selbst aufrechterhalten.

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Artikel II Die Höchststrafe, die eine Primärversammlung gegen eines ihrer Mitglieder verhängen kann, ist, nach dem Ordnungsruf und dem Verweis, der Ausschluss von der Sitzung. Artikel III Im Fall von Tätlichkeiten, schwerwiegenden Ausschreitungen oder von Verbrechen, die innerhalb des Sitzungssaales begangen werden, kann der Vorsitzende, nachdem er dazu von der Versammlung bevollmächtigt wurde, Vorführungsbefehle gegen die Beschuldigten verhängen und sie dem für die Sicherheit zuständigen Beamten vorführen lassen. Artikel IV Die Bürger dürfen sich nicht bewaffnet in die Primärversammlungen begeben.

Abschnitt V Formen der Beratung in den Primärversammlungen Artikel I Nachdem die Versammlung gebildet ist, gibt der Vorsitzende den Gegenstand der Beratung bekannt, der auf eine einfache, mit Ja oder Nein zu beantwortende Frage beschränkt ist. Am Ende der Sitzung vertagt er die Versammlung um acht Tage, damit sie ihre Entscheidung trifft. Artikel II Während der Vertagung steht das Versammlungslokal der Primärversammlung den Bürgern jeden Tag offen, damit sie den Gegenstand debattieren können, der ihnen zur Beratung vorgelegt wurde. Artikel III Der Saal soll auch an jedem Sonntag des Jahres für die Bürger geöffnet sein, die sich dort versammeln wollen. Der Ausschuss stellt eines seiner Mitglieder ab, das den Bürgern die verschiedenen, an die Primärversammlungen gerichteten Akte der verfassungsmäßigen Autoritäten verliest, und dem es obliegt, bei diesen privaten Zusammenkünften und friedlichen Konferenzen der Bürger Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Artikel IV Wenn die Versammlung am festgesetzten Tag zusammengekommen ist, um ihr Votum abzugeben, ruft der Vorsitzende nochmals den Gegenstand der Beratung in Erinnerung und legt die Frage dar, auf die mit Ja oder Nein geantwortet werden muss. Der Ausschuss lässt im Inneren des Saales ein Plakat anschlagen, das eine Zusammenfassung

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III. Verfassung

der der Versammlung vorgelegten Frage enthält sowie in zwei Rubriken die Wörter Ja und Nein, jeweils gefolgt von der genauen Erklärung, welche Entscheidung jedes dieser Wörter zum Ausdruck bringt. Artikel V Jeder Wähler schreibt Ja oder Nein auf seinen Stimmzettel oder lässt eines dieser Worte dorthin schreiben und unterschreibt ihn oder lässt ihn von einem Mitglied des Ausschusses mit seinem Namen unterschreiben, bevor er ihn in die Wahlurne legt. Artikel VI Die Abstimmung wird erst in der Abendsitzung des zweiten Tages um vier Uhr geschlossen. Bis dahin steht es jedem Bürger frei, sich zu der für ihn günstigsten Sitzungszeit einzufinden, um sein Votum abzugeben. Artikel VII Die Auszählung der Abstimmung wird mit lauter Stimme vorgenommen. Die Ausschussmitglieder, welche die Aufgabe der Stimmenzähler übernommen haben, verlesen den Namen jedes Wählenden zugleich mit seinem Votum. Artikel VIII Wenn alle Primärversammlungen eines Departements über denselben Gegenstand beraten, werden die Ergebnisse der Abstimmung mit Ja oder Nein aller Versammlungen der Departementsverwaltung übersandt, wo das Gesamtergebnis unverzüglich in den für die Wahlen vorgeschriebenen Fristen und Formen festgestellt wird. Artikel IX In dem Fall, dass alle Primärversammlungen der Republik zusammengerufen wurden, um über denselben Gegenstand zu beraten, wird das Gesamtergebnis des Votums der Bürger jedes Departements von dessen Verwaltung in einer Frist von 14 Tagen der gesetzgebenden Körperschaft übermittelt, die daraufhin in derselben Frist das Gesamtergebnis des Votums der Bürger feststellt und veröffentlicht. Artikel X Abstimmungen, bei denen die oben vorgeschriebenen Formen nicht eingehalten wurden, sind ungültig. Artikel XI Über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Stimmen entscheiden die Primärversammlungen, in denen sie abgegeben wurden. Artikel XII Über die Annullierung von Abstimmungen wegen der Nichtbeachtung der oben vorgeschriebenen Formen bei den verschiedenen Akten der Primärversammlungen entschei-

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den bei Wahlen, die ausschließlich lokal und auf ihr Departement bezogen sind, die Departementsverwaltungen, unter dem Vorbehalt, dass sie ihre Erlasse dem Exekutivrat übersenden, der diese bestätigen oder widerrufen muss und dass in jedem Fall bei der gesetzgebenden Körperschaft Berufung eingelegt werden kann. Artikel XIII Wenn die Primärversammlungen über Gegenstände, welche die ganze Republik betreffen, beraten oder wenn sie die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft oder öffentliche Beamte, die für die gesamte Republik zuständig sind, wählen, dann dürfen die Departementsverwaltungen der gesetzgebenden Körperschaft nur ihre Beobachtungen über die Ungültigkeit bestimmter Akte der Primärversammlungen mitteilen. Die gesetzgebende Körperschaft entscheidet abschließend über deren Gültigkeit.

Vierter Titel Von den Verwaltungskörperschaften Erster Abschnitt Von der Organisation und den Aufgaben der Verwaltungskörperschaften Artikel I Jedes Departement hat einen Verwaltungsrat, jede Gemeinde eine Gemeinde- oder Munizipalverwaltung und jede Gemeindesektion eine der Munizipalität unterstellte Behörde. Artikel II Der Verwaltungsrat eines Departements besteht aus 18 Mitgliedern. Artikel III Vier dieser Mitglieder bilden das Direktorium. Artikel IV Die Verwaltung einer Gemeinde besteht aus zwölf Mitgliedern und dem Bürgermeister, der den Vorsitz führt. Artikel V Die Unterbehörde jeder Sektion soll einem Bürger anvertraut werden, der Amtsgehilfen haben kann. Artikel VI Die Unterbeamten aller Sektionen bilden zusammen mit der Munizipalverwaltung den Generalrat der Gemeinde.

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III. Verfassung

Artikel VII Die Gemeindeverwaltungen sind den Departementsverwaltungen unterstellt. Artikel VIII Die Organisation der Munizipalitäten und ihrer Unterbehörden in den Sektionen, die ihnen zugewiesenen besonderen Aufgaben und das Verfahren ihrer Wahl durch die in Sektionsversammlungen vereinten Bürger werden durch ein besonderes Gesetz unabhängig von der Verfassung geregelt. Artikel IX Die Bürger der Gemeinden dürfen in ihren Sektionen nur über Gegenstände beraten, die besonders ihre Sektion oder Gemeinde betreffen. Sie dürfen in keinem Fall selbst Verwaltungsaufgaben übernehmen. Artikel X Die Departementsverwalter sind insbesondere fur die Erhebung der direkten Abgaben, für die Aufbewahrung der Gelder aus den öffentlichen Einkünften ihrer Gebiete und für die Überprüfung der Rechnungsbücher der Gemeindeverwaltungen zuständig. Weiterhin obliegt es ihnen, über die Eingaben zu beraten, die zugunsten ihres Departements gemacht werden können. Artikel XI In allem, was sich auf den Vollzug der Gesetze und die allgemeine Verwaltung bezieht, müssen die Verwaltungsbeamten überall in der Republik als Delegierte der nationalen Regierung betrachtet werden, in allen Angelegenheiten, die nur lokale und besondere Interessen betreffen, aber als unmittelbare Vertreter der Einwohner ihres Gebiets. Artikel XII In der ersten dieser beiden Funktionen sind sie grundsätzlich an die Anweisungen des Exekutivrates gebunden. Artikel XIII Die gesetzgebende Körperschaft legt durch besondere Gesetze die Regeln und die Art ihrer Aufgaben in allen Bereichen der ihnen anvertrauten Verwaltung fest. Artikel XIV Sie dürfen sich in keinem Fall in diejenigen allgemeinen Verwaltungstätigkeiten einmischen, die von der Regierung besonderen Beamten anvertraut wurden, wie die Verwaltung der Land- und Seestreitkräfte und die Verwaltung der mit diesen zusammenhängenden Einrichtungen, Arsenalen, Magazinen, Häfen und Bauten, außer wenn ihnen die Überwachung bestimmter Objekte übertragen wurde, deren Umfang und Art jedoch durch ein Gesetz festgelegt werden.

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Artikel XV Der Exekutivrat wählt in jeder Departementsverwaltung unter den Mitgliedern, die nicht dem Direktorium angehören, einen nationalen Kommissar aus, der mit der Korrespondenz mit dem Exekutivrat und mit der Überwachung und Beantragung des Vollzugs der Gesetze betraut ist. Die Aufgaben des nationalen Kommissars enden, wenn er aus der Departementsverwaltung ausscheidet. Artikel XVI Die Sitzungen der Verwaltungskörperschaft sind öffentlich. Artikel XVII Die Beamten der Departementsverwaltung haben das Recht, Akte der Unterbeamten aufzuheben, wenn diese den Gesetzen widersprechen. Artikel XVIII Sie haben ebenfalls das Recht, die Unterbeamten im Falle anhaltenden Ungehorsams oder wenn sie die öffentliche Sicherheit und Ruhe gefährden, von ihren Aufgaben zu entbinden. Sie sind verpflichtet, darüber unverzüglich den Exekutivrat zu informieren, der die Suspendierung aufheben oder bestätigen muss. Artikel XIX Die Verwaltungsbeamten dürfen in keinem Fall den Vollzug von Gesetzen aufschieben, Gesetze verändern oder ihnen zusätzliche Bestimmungen hinzufugen, noch in irgendeiner Form auf die Tätigkeit der Justiz und die Art und Weise ihrer Verwaltung Einfluss nehmen. Artikel XX In jedem Departement soll es einen Schatzmeister geben, der mit dem nationalen Schatzamt korrespondiert und dem ein Kassierer und ein Zahlmeister unterstellt sind. Der Schatzmeister wird vom Verwaltungsrat des Departements ernannt. Kassierer und Zahlmeister, die vom Schatzmeister vorgeschlagen werden, werden vom Verwaltungsrat bestätigt. Artikel XXI Die Mitglieder der Verwaltungen dürfen nicht wegen Handlungen, die mit ihren Ämtern zusammenhängen, gerichtlich belangt werden, außer auf Beschluss des Departementsdirektoriums für die ihm unterstellten Verwaltungsbeamten und des Exekutivrats für die Mitglieder der Departementsverwaltung und unter Vorbehalt des Rechts, bei der übergeordneten Autorität der gesetzgebenden Körperschaft Berufung einzulegen.

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III. Verfassung

Abschnitt II Vom Wahlverfahren für die Beamten der Departementsverwaltung Artikel I Die Wahl der Verwaltungsbeamten der Departements erfolgt unmittelbar durch die Bürger jedes Departements in den Primärversammlungen und gemäß dem in Abschnitt III des dritten Titels vorgeschriebenen Verfahren. Artikel II Im Falle der Ablehnung der Wahl, des Todes oder des Rücktritts im Zeitraum zwischen den Wahlen wird der ernannte Bürger durch einen der Stellvertreter ersetzt, wobei man der Reihenfolge der Stimmenmehrheit folgt. Artikel III Die Hälfte der Mitglieder der Verwaltungskörperschaften wird alle zwei Jahre neu gewählt, drei Monate nach dem fur die Wahl der gesetzgebenden Körperschaft festgesetzten Zeitpunkt. Artikel IV Die beiden Verwaltungsbeamten, die bei der Wahl die meisten Stimmen erhalten, werden Mitglieder des Direktoriums.

Fünfter Titel Vom Exekutivrat der Republik

Erster Abschnitt Von der Organisation des Exekutivrats der Republik Artikel I Der Exekutivrat der Republik besteht aus sieben Ministern und einem Sekretär. Artikel II Es gibt 1. einen Minister für die Gesetzgebung; 2. einen Kriegsminister; 3. einen Minister für die auswärtigen Angelegenheiten; 4. einen Seeminister; 5. einen Minister für die öffentlichen Abgaben; 6. einen Minister für Landwirtschaft, Handel und Manufakturen;

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7. einen Minister fur die Wohlfahrtsleistungen, die öffentlichen Arbeiten und Anstalten und fur die Wissenschaften und Künste. Artikel III Der Exekutivrat wird abwechselnd von den Ministern geleitet. Der Vorsitz wechselt alle 14 Tage. Artikel IV Es ist Aufgabe des Exekutivrates, alle Gesetze und Verordnungen, die von der gesetzgebenden Körperschaft verabschiedet werden, auszufuhren und ausführen zu lassen. Artikel V Ihm obliegt die Versendung der Gesetze und Verordnungen an die Verwaltungen und Gerichte. Er muss sich ihren Empfang bestätigen lassen und diese Bestätigung der gesetzgebenden Körperschaft nachweisen. Artikel VI Es ist ihm ausdrücklich verboten, die Bestimmungen der Gesetze und Verordnungen zu verändern, zu erweitern oder auszulegen, unter welchem Vorwand auch immer. Artikel VII Alle Beamten aller Teile der Verwaltung und der Regierung sind grundsätzlich dem Exekutivrat unterstellt. Das Gerichtswesen unterliegt jedoch nur seiner Aufsicht. Artikel VIII Er ist ausdrücklich verpflichtet, Akte der Beamten, die gegen das Gesetz verstoßen oder die öffentliche Ruhe oder die Sicherheit des Staates beeinträchtigen könnten, aufzuheben. Artikel IX Er kann Mitglieder der Verwaltungskörperschaften von ihren Aufgaben entbinden, ist jedoch verpflichtet, der gesetzgebenden Körperschaft unverzüglich darüber Rechenschaft abzulegen. Artikel X Im Falle von Pflichtverletzungen durch die Mitglieder der Verwaltungskörperschaften muss er diese der gesetzgebenden Körperschaft anzeigen, die darüber entscheidet, ob sie gerichtlich untersucht werden. Artikel XI Der Exekutivrat hat das Recht, die von ihm oder den ihm untergeordneten Verwaltungsbeamten ernannten zivilen und militärischen Agenten abzusetzen, zurückzurufen oder auszutauschen und im Falle eines von ihnen begangenen Verbrechens anzuordnen, dass sie vor den zuständigen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden.

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Artikel XII Der Rat ist verpflichtet, den Zensoren der Justiz die Akte und Urteile anzuzeigen, durch welche die Richter die Grenzen ihrer Macht überschritten haben könnten. Artikel XIII Dem Exekutivrat sind die Leitung und Inspektion der Land- und Seestreitkräfte und allgemein alles, was die Verteidigung des Staates nach außen betrifft, übertragen. Es obliegt ihm, die Anzahl von Männern, die jedes Jahr von der gesetzgebenden Körperschaft bestimmt wird, vollzählig in Bereitschaft zu halten, ihre Marschbewegungen festzulegen und sie auf dem Staatsgebiet der Republik zu verteilen; für ihre Bewaffnung, ihre Ausrüstung und ihre Verpflegung zu sorgen; alle dazu notwendigen Käufe und Geschäfte zu tätigen; die Agenten auszuwählen, die dabei behilflich sind und die Beachtung der Gesetze über die Verfahren der militärischen Beförderung und der Gesetze und Bestimmungen für die Disziplin der Armeen sicherzustellen. Artikel XIV Der Exekutivrat lässt die Patente oder Vollmachten an die öffentlichen Beamten ausgeben, die solcher bedürfen. Artikel XV Es obliegt dem Exekutivrat, die Liste der von der Nation vergebenen Entlohnungen aufzustellen, auf welche die Bürger nach dem Gesetz Anspruch haben. Diese Liste wird der gesetzgebenden Körperschaft vorgelegt, die bei der Eröffnung jeder Sitzungsperiode darüber beschließt. Artikel XVI Alle Angelegenheiten werden in der Ratsversammlung behandelt und es wird ein Register der Entscheidungen gefuhrt. Artikel XVII Jeder Minister wird daraufhin in seinem Zuständigkeitsbereich tätig und ergreift in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Rates alle Einzelmaßnahmen, die ihm am besten geeignet erscheinen. Artikel XVIII Die Einrichtung des nationalen Schatzamtes ist vom Exekutivrat unabhängig. Artikel XIX Die allgemeinen Zahlungsanweisungen werden im Rat beschlossen und in seinem Namen ausgefertigt.

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Artikel XX Die besonderen Anweisungen werden daraufhin von jedem Minister in seinem Zuständigkeitsbereich von ihm allein unterzeichnet ausgegeben, wobei auf jeder Anweisung der Ratsbeschluss und das Gesetz ausgewiesen sind, welche die jeweilige Ausgabe genehmigen. Artikel XXI Kein Minister darf im Amt oder außer Dienst ohne eine Verordnung der gesetzgebenden Körperschaft, welche die gerichtliche Untersuchung anordnet, wegen während seiner Amtszeit begangener Handlungen strafrechtlich belangt werden. Artikel XXII Die gesetzgebende Körperschaft hat das Recht in einer nur fur diesen Zweck einberufenen Sitzung die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung gegen eines oder mehrere Mitglieder des Exekutivrates zu beschließen. Artikel XXIII Es wird ein Bericht über die Vorfalle angefertigt. Die Debatte über die Eröffnung der gerichtlichen Untersuchung darf erst nach Anhörung des beschuldigten Mitglieds des Exekutivrats eröffnet werden. Artikel XXIV Wenn sie die gerichtliche Untersuchung beschließt, bestimmt die gesetzgebende Körperschaft zugleich, ob die einfache Entlassung betrieben oder Anklage wegen Pflichtverletzung erhoben werden soll. Artikel XXV Wenn die gesetzgebende Körperschaft meint, die einfache Entlassung betreiben zu sollen, dann muss innerhalb von drei Tagen eine Darlegung der Vorfälle abgefasst werden, die nicht als Straftaten qualifiziert werden können. Artikel XXVI Innerhalb von acht Tagen wird eine nur mit diesem Fall betraute nationale Jury einberufen. Sie entscheidet anhand der nicht als Straftaten qualifizierten Vorfalle, ob die Entlassung geboten ist oder nicht. Gemäß der Entscheidung der Jury erklärt das Gericht die Entlassung des Ratsmitgliedes oder die Rückkehr in seine Ämter. Artikel XXVII Wenn die gesetzgebende Versammlung eine Anklage wegen Pflichtverletzung anordnet, müssen der Bericht, auf dessen Grundlage die Verordnung erlassen wurde und die ihm zugrunde liegenden Beweise binnen 24 Stunden dem nationalen Ankläger übermittelt werden. In derselben Frist muss die nationale Anklagejury zusammengerufen werden.

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III. Verfassung

Artikel XXVIII In jedem Fall, sowohl bei der einfachen Entlassung, wie bei einer Anklage wegen Pflichtverletzung, zieht die Verordnung der gerichtlichen Untersuchung gegen ein Mitglied des Exekutivrates von Rechts wegen das Ruhen seiner Aufgaben bis zur Verkündung des Urteils nach sich. Während der Untersuchung wird er durch einen Stellvertreter ersetzt, der im Rat durch das Los ausgewählt wird. Artikel XXIX Wenn die gesetzgebende Körperschaft die gerichtliche Untersuchung gegen ein Mitglied des Exekutivrates beschließt, kann sie, wenn sie es für angebracht hält, anordnen, dass dieses unter Aufsicht gestellt wird. Artikel XXX Verordnungen der gesetzgebenden Körperschaft über eine gerichtliche Untersuchung gegen ein Mitglied des Exekutivrates werden in namentlicher Abstimmung gefasst und das namentliche Ergebnis der Stimmabgabe wird gedruckt und veröffentlicht. Artikel XXXI Bei Unfähigkeit oder schwerwiegender Vernachlässigung ihrer Amtspflichten werden die Mitglieder des Exekutivrates entlassen. Artikel XXXII Im Falle des Todes, des Rücktritts oder der Ablehnung des Amtes werden die Mitglieder des Exekutivrates durch ihre Stellvertreter in der Reihenfolge ihrer Einschreibung ersetzt. Artikel XXXIII Im Falle von Krankheit und nach Zustimmung des Rates dürfen sie vorübergehend einen ihrer Stellvertreter nach ihrer Wahl in ihre Aufgaben berufen.

Abschnitt II Vom Wahlverfahren für den Exekutivrat Artikel I Die Mitglieder des Exekutivrates werden unmittelbar von den Bürgern der Republik in ihren Primärversammlungen gewählt. Artikel II Jedes Mitglied des Rates wird in getrennter Abstimmung ernannt.

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Artikel III Für die Vorschlagsabstimmung benennt jeder Wähler auf seinem Wahlzettel den Bürger, den er fur den fähigsten hält. Artikel IV Die Abstimmungsergebnisse der einzelnen Primärversammlungen werden der Departementsverwaltung übermittelt, wo die Auszählung gemäß den Formen und Fristen, die in Abschnitt III des dritten Titels vorgeschrieben sind, vorgenommen wird. Artikel V Nachdem die Auszählung vorgenommen wurde, veröffentlicht die Departementsverwaltung die Namen der 13 Kandidaten, auf welche die meisten, jedoch mindestens 100 Stimmen entfallen sind. Artikel VI Es wird eine Ergänzungsliste mit den acht Kandidaten aufgestellt, die nach den 13 ersten die meisten Stimmen erhalten haben. Beide Listen weisen die Anzahl der Stimmen aus, die jeder Kandidat erhalten hat. Artikel VII Die Listen der Departements, auf denen keine 13 Kandidaten mehr als 100 Stimmen auf sich vereinigt haben, bleiben unvollständig, sind jedoch nichtsdestoweniger gültig. Artikel VIII Die Listen werden der gesetzgebenden Körperschaft innerhalb von acht Tagen übersandt. Diese lässt sie drucken und sendet sie an alle Departements. Artikel IX Einen Monat nach Veröffentlichung der Listen der einzelnen Departements erstellt die gesetzgebende Körperschaft in folgender Weise eine allgemeine und endgültige Vorschlagsliste: Artikel X Sie streicht auf den Listen der einzelnen Departements diejenigen Kandidaten, die erklärt haben, dass sie die Wahl nicht annehmen können oder wollen, und ersetzt sie durch Kandidaten von der Ergänzungsliste ihres Departements, in der Reihenfolge ihrer Einschreibung. Artikel XI Sie stellt daraufhin die endgültige Vorschlagsliste der Kandidaten zusammen, die von der größten Zahl von Departements benannt worden sind. Bei Gleichheit der Zahl der Departements entscheidet die Anzahl der Stimmen für den einzelnen Kandidaten.

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III. Verfassung

Artikel XII Die endgültige Vorschlagsliste für jeden Sitz im Exekutivrat besteht aus 13 Kandidaten. Artikel XIII Die gesetzgebende Körperschaft ruft die Primärversammlungen drei Wochen nach Veröffentlichung dieser Liste zur endgültigen Abstimmung zusammen. Artikel XIV Jeder Wähler trägt auf seinem Wahlzettel mit zwei Rubriken in der ersten Rubrik den von ihm bevorzugten Kandidaten ein, in der zweiten Rubrik die sechs Kandidaten, die er nach diesem für des Amtes am würdigsten hält. Artikel XV Die Abstimmungsergebnisse der Primärversammlungen jedes Departements werden von der Departementsverwaltung ausgezählt, gedruckt, veröffentlicht und in einer Frist von acht Tagen der gesetzgebenden Körperschaft übermittelt. Artikel XVI Innerhalb von 14 Tagen nach Ablauf dieser Frist gibt die gesetzgebende Körperschaft das allgemeine Ergebnis der Abstimmung in den Departements bekannt. Artikel XVII Der Kandidat, der bei der Auszählung der in der ersten Rubrik eingetragen Stimmen die absolute Mehrheit erhält, ist gewählt. Wenn keiner der Kandidaten diese Mehrheit erreicht, wird sie durch Zusammenziehung und Addition der in beiden Rubriken eingetragenen Stimmen gebildet. Derjenige, der die meisten Stimmen erhalten hat, ist gewählt. Artikel XVIII Aus den sechs Kandidaten, die nach dem gewählten Bürger die meisten Stimmen erhalten haben, wird eine Liste der Stellvertreter gebildet, die bestimmt sind, ihn zu ersetzen. Artikel XIX Auf alle Einzelfalle, die nicht in den vorangegangenen Artikeln geregelt sind, sollen die allgemeinen Wahlbestimmungen, die in Abschnitt III des dritten Titels ausgeführt sind, Anwendung finden. Artikel XX Die Mitglieder des Rates werden für zwei Jahre gewählt. Die Hälfte der Mitglieder wird jedes Jahr ausgetauscht. Die Mitglieder dürfen jedoch wiedergewählt werden.

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Artikel XXI Die Primärversammlungen kommen jedes Jahr am ersten Sonntag des Monats Januar zusammen, um die Mitglieder des Rates zu wählen. Alle Wahlen zu allen Sitzen des Rates finden in ein- und derselben Versammlung, jedoch in jeweils getrennter Abstimmung für jeden Sitz statt. Artikel XXII Nach der ersten Wahl werden die vier Mitglieder, die zuerst ausgetauscht werden sollen, durch das Los ermittelt. Die drei verbliebenen Mitglieder und der Sekretär werden bei der folgenden Wahl ausgetauscht.

Abschnitt III Von den Beziehungen zwischen dem Exekutivrat und der gesetzgebenden Körperschaft Artikel I Der Exekutivrat ist gehalten, jährlich zur Eröffnung der Sitzungsperiode der gesetzgebenden Körperschaft eine Übersicht über die in jedem Ressort notwendigen Ausgaben und den Rechenschaftsbericht über den Einsatz der Gelder, die im vorangegangenen Jahr für dieses Ressort bestimmt waren, vorzulegen. Er ist verpflichtet, auf eventuelle Missstände in der Regierung hinzuweisen. Artikel II Der Exekutivrat kann der gesetzgebenden Körperschaft vorschlagen, bestimmte dringliche Gegenstände zur Beratung anzunehmen. Er darf jedoch seine Ansichten zu Fragen der Gesetzgebung nur äußern, wenn er von der gesetzgebenden Körperschaft förmlich dazu aufgefordert wurde. Artikel III Wenn das Wohl der Republik außerhalb der Sitzungsperiode der gesetzgebenden Körperschaft ihren sofortigen Zusammentritt fordert, ist der Exekutivrat gehalten, sie einzuberufen. Artikel IV Die Akten der Korrespondenz zwischen der gesetzgebenden Körperschaft und dem Exekutivrat müssen vom Vorsitzenden des Rates und vom Sekretär unterzeichnet werden. Artikel V Die Mitglieder des Exekutivrates sind zu den Sitzungen der gesetzgebenden Körperschaft zugelassen, wenn sie Denkschriften zu verlesen oder Erläuterungen zu geben haben. Sie haben dort einen besonders bezeichneten Platz.

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III. Verfassung

Artikel VI Die gesetzgebende Körperschaft kann ein Mitglied des Rates ebenfalls einbestellen, um über seine Verwaltung Rechenschaft abzulegen und die Erläuterungen und Empfehlungen zu geben, die von ihm verlangt werden.

Sechster Titel Vom nationalen Schatzamt und vom Rechnungsausschuss Artikel I Es gibt drei nationale Schatzkommissare, die nach dem gleichen Verfahren und gleichzeitig wie die Mitglieder des Exekutivrates, jedoch in einer getrennten Abstimmung, gewählt werden. Artikel II Die Dauer ihres Amtes beträgt drei Jahre. Einer von ihnen wird jedes Jahr ausgetauscht. Artikel III Die beiden Kandidaten, die nach demjenigen, der gewählt worden ist, die meisten Stimmen erhalten haben, sind seine Stellvertreter. Artikel IV Es obliegt den Schatzkommissaren, die Einnahme aller nationalen Gelder zu beaufsichtigen, die Bezahlung aller öffentlichen Ausgaben anzuordnen, offene Bücher über alle Ausgaben und Einnahmen zu fuhren, in denen alle Empfanger und Zahler enthalten sind, die mit dem nationalen Schatzamt abrechnen müssen, und mit den Schatzmeistern der Departements und Verwaltungen die notwendige Korrespondenz zu fuhren, um den regelmäßigen und vollständigen Eingang aller Gelder sicherzustellen. Artikel V Sie dürfen Zahlungen nur leisten 1. aufgrund einer Verordnung der gesetzgebenden Körperschaft und nur bis zum Höchstbetrag der Mittel, die von dieser für einen Gegenstand bewilligt wurden; 2. nach einem Beschluss des Exekutivrates; 3. gegen die Unterschrift des jeweils zuständigen Ministers. Andernfalls können sie wegen Verletzung ihrer Amtspflicht belangt werden. Artikel VI Wenn die vom zuständigen Minister unterzeichnete Zahlungsanweisung nicht das Datum des Beschlusses des Exekutivrates und der Verordnungen der gesetzgebenden Körperschaft enthält, durch welche die Zahlung bewilligt wurde, dürfen sie ebenfalls keine

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Zahlung anordnen. Andernfalls können sie wegen Verletzung ihrer Amtspflicht belangt werden. Artikel VII Es werden drei Kommissare des nationalen Rechnungsausschusses ernannt, auf dieselbe Weise, zum selben Zeitpunkt und gemäß demselben Verfahren, welche für die Kommissare des nationalen Schatzamtes vorgeschrieben sind. Artikel VIII Sie werden ebenfalls für drei Jahre ernannt. Einer von ihnen wird jedes Jahr ausgetauscht und sie haben ebenfalls zwei Stellvertreter. Artikel IX Die Kommissare des Rechnungsausschusses lassen sich jährlich zu gesetzlich festgelegten Terminen die Rechnungsbücher der verschiedenen Rechnungspflichtigen zusammen mit den entsprechenden Belegen vorlegen und besorgen die Prüfung und Bereinigung dieser Rechnungsbücher. Artikel X Die gesetzgebende Körperschaft stellt zu diesem Zweck jedes Jahr eine Liste von 200 Geschworenen auf. Artikel XI Für die Prüfung und Bereinigung jeder Rechnung wird aus dieser Liste eine Jury von 21 Personen gebildet, von denen der Rechnungspflichtige sieben und der Exekutivrat sieben weitere ablehnen kann. Artikel XII Wenn die Anzahl der Geschworenen sich durch die Ablehnungen nicht auf sieben verringert, bringen sich die übrig gebliebenen Geschworenen durch Losentscheid auf diese Anzahl. Artikel XIII Ein Kommissar des Rechnungsausschusses legt jeder Jury die Unterlagen vor. Er gibt ihr alle Hinweise und Anweisungen, die er für notwendig hält, damit sie ihre Entscheidung treffen kann.

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III. Verfassung

Siebenter Titel Von der gesetzgebenden Körperschaft

Erster Abschnitt Von der Organisation der gesetzgebenden Körperschaft und vom Wahlverfahren für ihre Mitglieder Artikel I Die gesetzgebende Körperschaft ist eins. Sie besteht aus einer einzigen Kammer und wird jährlich neu gewählt. Artikel II Die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft werden von den Bürgern der Departements in den Primärversammlungen gemäß den Formen und Verfahren ernannt, die im Abschnitt III des dritten Titels vorgeschrieben sind. Artikel III Die Primärversammlungen kommen zu diesem Zweck jährlich am ersten Sonntag des Monats Mai zusammen. Artikel IV Die Anzahl der Abgeordneten, die jedes Departement in die gesetzgebende Körperschaft entsendet, wird ausschließlich aufgrund der Einwohnerzahl, im Verhältnis von einem Abgeordneten auf 50.000 Einwohner festgesetzt. Die Zahl der Stellvertreter ist gleich der Zahl der Abgeordneten. Artikel V Bei gebrochener Zahl erhält das Departement einen Abgeordneten mehr, wenn mehr als 20.000 Einwohner zu berücksichtigen sind. Sind es weniger, werden sie nicht berücksichtigt. Artikel VI Alle zehn Jahre gibt die gesetzgebende Körperschaft gemäß den Einwohnerzahlen, die ihr jährlich übersandt werden, die Zahl der Abgeordneten bekannt, die jedes Departement zu stellen hat. Während dieser Frist darf jedoch keine Veränderung in der Nationalrepräsentation vorgenommen werden. Artikel VII Die Abgeordneten der Departements kommen am ersten Montag des Monats Juli an einem durch Verfügung der vorhergehenden Legislatur bestimmten Ort zusammen oder am Ort ihrer letzten Sitzungen, wenn kein anderer bestimmt wurde.

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Artikel VIII Wenn während der ersten 14 Tage weniger als 200 Abgeordnete zusammengekommen sind, dürfen sie keine gesetzgebende Tätigkeit aufnehmen, sondern müssen die abwesenden Mitglieder auffordern, unverzüglich ihre Ämter anzutreten. Artikel IX In diesem Zeitraum werden die Sitzungen unter dem Vorsitz des ältesten Anwesenden abgehalten. Im Falle dringender Notwendigkeit darf die Versammlung Maßnahmen zur Wahrung der allgemeinen Sicherheit ergreifen, deren Geltung jedoch nur vorläufig ist und nach einer Frist von 14 Tagen endet, wenn diese Maßnahmen nicht durch einen erneuten Beschluss der gesetzgebenden Körperschaft nach ihrer endgültigen Konstituierung bestätigt werden. Artikel X Die Mitglieder, die sich nicht binnen eines Monats eingefunden haben, werden durch ihre Stellvertreter ersetzt. Artikel XI Sobald ihre Zahl 200 überschritten hat oder nach 14 Tagen unabhängig davon wie viele Abgeordnete sich eingefunden haben, konstituieren sich die Abgeordneten, nachdem sie ihre Vollmachten nachgewiesen haben, als nationale gesetzgebende Versammlung. Wenn die Versammlung durch die Wahl des Vorsitzenden und der Sekretäre förmlich eingerichtet ist, beginnt sie mit der Ausübung ihrer Aufgaben. Artikel XII Die Ämter des Vorsitzenden und der Sekretäre sind auf die Dauer eines Monats befristet. Artikel XIII Die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft dürfen zu keiner Zeit für das, was sie in Ausübung ihres Amtes gesagt oder geschrieben haben, gerichtlich verfolgt, angeklagt oder verurteilt werden. Artikel XIV Bei Kriminalverbrechen können sie auf frischer Tat festgenommen werden. Die gesetzgebende Körperschaft muss jedoch unverzüglich unterrichtet werden und die gerichtliche Verfolgung darf erst fortgesetzt werden, wenn die gesetzgebende Körperschaft entschieden hat, dass Anlass zu einer gerichtlichen Untersuchung besteht. Artikel XV Außer im Falle der Ergreifung auf frischer Tat dürfen die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft weder den Polizeibeamten vorgeführt noch verhaftet werden, bevor die gesetzgebende Körperschaft die gerichtliche Untersuchung beschlossen hat.

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III. Verfassung

Abschnitt II Von den Aufgaben der gesetzgebenden Körperschaft Artikel I Die gesetzgebende Körperschaft übt allein die volle und uneingeschränkte gesetzgebende Gewalt aus. Artikel II Nur die Verfassungsgesetze sind von der Bestimmung des vorigen Artikels ausgenommen. Artikel III Die Akte der gesetzgebenden Körperschaft teilen sich in zwei Klassen: Gesetze und Verordnungen. Artikel IV Gesetze zeichnen sich durch Allgemeinheit und unbegrenzte Dauer aus. Verordnungen zeichnen sich durch ihre örtlich begrenzte oder auf besondere Fälle beschränkte Anwendung aus und müssen zu einem festgelegten Zeitpunkt verlängert werden. Artikel V Unter die Bezeichnung Gesetze fallen alle Akte, welche das Zivilrecht, das Strafrecht und die Polizei betreffen: Die allgemeinen Bestimmungen über die Staatsgüter und die staatlichen Einrichtungen; über die verschiedenen Zweige der allgemeinen Verwaltung und der öffentlichen Einnahmen; über die öffentlichen Beamten; über Titel, Gewicht, Prägung und Benennung der Münzen; über die Art und die Verteilung der Abgaben und über die Strafen, die zur Sicherstellung ihrer Eintreibung festgelegt werden müssen. Artikel VI Unter die besondere Bezeichnung Verordnungen fallen alle Akte der gesetzgebenden Körperschaft betreffend die jährliche Aufstellung der Land- und Seestreitkräfte; die Erlaubnis oder das Verbot des Durchzugs ausländischer Truppen durch das französische Staatsgebiet und die Zulassung ausländischer Seestreitkräfte zu den Häfen der Republik; die jährliche Festlegung der öffentlichen Ausgaben; den Betrag der direkten Steuern und den Satz der indirekten Steuern; die dringenden Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ruhe; die jährliche und die sofortige Zuteilung der öffentlichen Unterstützungsleistungen und Arbeiten;

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alle unvorhergesehenen und außerordentlichen Ausgaben; die Anweisungen für die Herstellung von Münzen aller Art; lokale oder besondere Maßnahmen, die eine Gemeinde, ein Departement oder eine bestimmte Art von Unternehmung betreffen, wie die Anlage einer Landstraße, die Ausgrabung eines Kanals, usw. usw.; Kriegserklärungen, die Ratifizierung von Verträgen und alle Beziehungen zum Ausland; die Verantwortlichkeit der Mitglieder des Exekutivrats und der öffentlichen Beamten sowie die gerichtliche Verfolgung oder Belangung derjenigen, die Verschwörungen oder Anschlägen gegen die allgemeine Sicherheit der Republik anklagt sind; die innere Ordnung der gesetzgebenden Körperschaft; die Verfügung über die bewaffnete Kraft, die am Sitzungsort der gesetzgebenden Körperschaft aufgestellt wird. Artikel VII Die Dauer außergewöhnlicher Maßnahmen zur Wahrung der allgemeinen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung darf sechs Monate nicht überschreiten. Ihre Gültigkeit endet zu diesem Zeitpunkt von selbst, wenn sie nicht durch eine neue Verordnung verlängert werden.

Abschnitt III Abhaltung der Sitzungen und Zustandekommen der Gesetze Artikel I Die Beratungen der gesetzgebenden Körperschaft sind öffentlich und die Sitzungsprotokolle werden gedruckt. Artikel II Die Gesetze und Verordnungen werden mit absoluter Mehrheit der Stimmen verabschiedet. Artikel III Die Debatte darf nur über einen schriftlichen Entwurf eröffnet werden. Artikel IV Ausgenommen von diesem Artikel sind nur Beschlüsse hinsichtlich der Ordnung der Versammlung und der Abfolge und des Verlaufs der Beratungen sowie Entschließungen, die keinerlei Beziehung zur Gesetzgebung und zur allgemeinen Verwaltung der Republik haben. Artikel V Gesetze und Verordnungen dürfen nur nach zwei vorausgehenden Beratungen verabschiedet werden. In der ersten Beratung wird ausschließlich über die Zulassung des

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III. Verfassung

Entwurfs und seine Überweisung zur weiteren Prüfung entschieden, in der zweiten über die endgültige Annahme oder Ablehnung. Artikel VI Ein Gesetz- oder Verordnungsentwurf wird von dem Mitglied, das ihn einbringen will, dem Vorsitzenden der Versammlung zur Verlesung übergeben. Wenn die Versammlung die ihr vorgelegte Frage nicht aufgrund der einfachen Verlesung annimmt, wird sie gedruckt und verteilt, und darf erst acht Tage nach der Verteilung zur Beratung gestellt werden, außer die Versammlung verkürzt diese Frist. Artikel VII Nach der Debatte über seinen Inhalt, über Abänderungen und über zusätzliche Artikel, kann der Entwurf abgelehnt, vertagt oder zugelassen werden. Artikel VIII Im Falle der Zulassung des Entwurfs wird dieser zur Prüfung an den Ausschuss überwiesen, wobei wie folgt verfahren wird: Artikel IX Der Ausschuss legt seinen Bericht in einer Frist von 14 Tagen vor. Er hat die Befugnis, diese Frist zu verkürzen, wenn er es für angebracht hält. Artikel X Er kann entweder den eingebrachten Entwurf oder einen neuen Entwurf zum selben Gegenstand vorlegen. Wenn er jedoch einen neuen Entwurf oder ergänzende Artikel zu dem zugelassenen Entwurf vorlegt, darf erst acht Tage nach der Drucklegung und Verteilung dieser neuen Anträge darüber beraten werden. Artikel XI Die Versammlung kann nichtsdestotrotz dem ersten ihr vorgelegten Entwurf den Vorzug gegenüber dem Entwurf des Ausschusses geben, wenn sie dies für angebracht hält. Artikel XII Jeder neue Antrag, ob Zusatzartikel oder Entwurf einer Verordnung, kann erst dann angenommen und verabschiedet werden, nachdem er zugelassen und an den Ausschuss überwiesen wurde und nachdem gemäß den Vorschriften der obigen Artikel ein neuer Bericht über seine Prüfung vorgelegt wurde. Artikel XIII Die gesetzgebende Körperschaft kann die von den Artikeln IX und X festgelegten Fristen verkürzen, wenn sie es im öffentlichen Interesse für geboten hält. Dieser Beschluss darf jedoch nur in geheimer Abstimmung und mit Stimmenmehrheit gefasst werden.

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Artikel XIV Wenn die Dringlichkeit beschlossen wurde, bestimmt die gesetzgebende Versammlung den Tag der Beratung oder ordnet an, dass diese in der laufenden Sitzung aufgenommen werden soll. Artikel XV Der Titel des Gesetzes oder der Verordnung bescheinigt in folgender Weise, dass diese Formalitäten erfüllt worden sind: Eingebracht am..., zugelassen und an den Ausschuss überwiesen am ..., berichtet und beraten am ..., gemäß den Vorschriften der Verfassung oder kraft des Dringlichkeitsbeschlusses vom ... Artikel XVI Ein Gesetz oder eine Verordnung, die verabschiedet werden, ohne dass diese Formalitäten erfüllt wurden, hat keine Gesetzeskraft und darf nicht zur Ausführung gelangen.

Abschnitt IV Bildung des Ausschusses Artikel I In der gesetzgebenden Körperschaft wird jeden Monat ein aus 13 Mitgliedern bestehender Ausschuss gebildet, dem es obliegt, einen Bericht über jeden Gesetz- oder Verordnungsentwurf zu erstatten, der zugelassen und an ihn überwiesen wurde. Artikel II Die Mitglieder des Ausschusses werden in zweifacher Abstimmung, einer Vorschlagsund einer Wahlabstimmung ernannt. Artikel III Die Vorschlagsliste umfasst 26 Namen. Artikel IV Die Wahlabstimmung wird mit einem Stimmzettel mit einer Rubrik vorgenommen. Jedes Mitglied der Versammlung trägt auf seinem Wahlzettel die 13 Kandidaten ein, denen es den Vorzug gibt. Die Ernennung erfolgt aufgrund der Stimmenmehrheit. Artikel V Die Mitglieder, die einmal in den Ausschuss gewählt worden sind, dürfen in derselben Legislaturperiode nicht wiedergewählt werden.

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III. Verfassung

Artikel VI Jeder Ausschuss bleibt mit den Berichten über die zugelassenen Entwürfe betraut, die ihm während des Monats überwiesen wurden, fur den er gebildet wurde.

Achter Titel Von der Zensur des Volkes über die Akte der Nationalrepräsentation und vom Petitionsrecht Artikel I Wenn ein Bürger es fur angebracht oder notwendig hält, die Repräsentanten des Volkes zur Überprüfung von Verfassungs-, Gesetzgebungs- oder Verwaltungsakten aufzufordern, oder die Reform eines bestehenden oder die Verabschiedung eines neuen Gesetzes anzuregen, dann hat er das Recht, den Ausschuss seiner Primärversammlung aufzufordern, diese am nächstfolgenden Sonntag einzuberufen, um über seinen Vorschlag zu beraten. Artikel II Der Antragstext soll diesen Vorschlag in möglichst einfachen Begriffen darlegen. Artikel III Um wirksam zu sein, muss der Antrag mit der Billigung und Unterschrift von 50 Bürgern versehen sein, die im Bezirk derselben Primärversammlung wohnhaft sind. Artikel IV Der Ausschuss, an den der Antrag gerichtet ist, prüft auf der Mitgliederliste der Primärversammlung, ob der Unterzeichnende des Antrags sowie die Unterzeichnenden der Billigung Stimmrecht haben. In diesem Fall ist der Ausschuss verpflichtet, die Versammlung für den folgenden Sonntag einzuberufen. Artikel V An diesem Tag verliest der Vorsitzende, nachdem die Versammlung zusammengetreten ist, den Vorschlag. Die Debatte wird sofort eröffnet und kann während der folgenden Woche fortgesetzt werden. Die Entscheidung wird jedoch auf den folgenden Sonntag vertagt. Artikel VI Am bezeichneten Tag wird mit Ja oder Nein über die Frage abgestimmt: „Gibt es Anlass oder nicht, über den Antrag zu beraten?" Artikel VII Wenn die Mehrheit der Abstimmenden der Ansicht ist, dass es Anlass zur Beratung des Antrags gibt, muss der Ausschuss die Zusammenrufung aller Primärversammlungen be-

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antragen, deren Hauptorte im gleichen Gemeindebezirk liegen, um über den in dem Antrag dargelegten Gegenstand zu beraten. Artikel VIII Der Ausschuss muss seinem Antrag ein kurz gefasstes Protokoll der Beratung seiner Versammlung und eine auf Vollständigkeit und Richtigkeit geprüfte Abschrift der Eingabe des Bürgers, der die Beratung veranlasst hat, beifügen. Artikel IX Die Mitglieder der Ausschüsse der Primärversammlungen, an die der Antrag gesandt wurde, berufen in den vorgeschriebenen Fristen ihre Versammlungen ein und übermitteln die Ergebnisse dem Ausschuss, der den Antrag gestellt hat. Artikel X Wenn die Mehrheit der Bürger, die in den Primärversammlungen der Gemeinde ihre Stimme abgegeben haben, sich dafür ausgesprochen hat, dass es Anlass gibt, über den Vorschlag zu beraten, dann übersendet der Ausschuss an die Departementsverwaltung ein Protokoll über sein Vorgehen sowie das Gesamtergebnis der Abstimmungen der Primärversammlungen der Gemeinde. Zugleich fordert er die Verwaltung auf, die Primärversammlungen des Departements einzuberufen, um über den betreffenden Vorschlag zu beraten. Artikel XI Die allgemeine Einberufung der Primärversammlungen darf nicht verweigert werden und muss innerhalb einer Frist von 14 Tagen stattfinden. Die Primärversammlungen beraten in denselben Formen und übersenden der Departementsverwaltung das Ergebnis ihrer Beratungen. Artikel XII Die allgemeine Stimmenauszählung findet öffentlich statt. Das Ergebnis wird veröffentlicht und im Hauptort der Primärversammlungen des Departements öffentlich angeschlagen. Artikel XIII Wenn die Mehrheit der Bürger entscheidet, dass es Anlass zu Beratungen gibt, dann übersendet die Departementsverwaltung der gesetzgebenden Körperschaft das Abstimmungsergebnis sowie eine Darlegung des Vorschlags, der angenommen wurde, und fordert diese auf, den Gegenstand zu berücksichtigen. Artikel XIV Dieser Antrag wird unverzüglich gedruckt, allen Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaft ausgeteilt, im Sitzungssaal angeschlagen und an Kommissare überwiesen, die innerhalb von acht Tagen über ihn Bericht erstatten.

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III. Verfassung

Artikel XV Nach dem Bericht der Kommissare wird die Debatte über die vorgelegte Frage eröffnet. Nach einer Frist von acht Tagen wird sie fortgesetzt. Spätestens nach 14 Tagen muss entschieden werden, ob Anlass besteht, über den Vorschlag zu beraten oder nicht. Artikel XVI Über diese Frage wird in namentlicher Abstimmung entschieden. Das namentliche Abstimmungsergebnis wird gedruckt und allen Departements übersandt. Artikel XVII Wenn eine Mehrheit sich dafür entscheidet, verweist die gesetzgebende Körperschaft die angenommene Vorlage an Kommissare, welche ihr innerhalb einer Frist, die 14 Tage nicht überschreiten darf, einen Verordnungsentwurf vorlegen. Artikel XVIII Dieser Verordnungsentwurf wird daraufhin zur Debatte gestellt und abgelehnt oder zugelassen. Im Falle der Zulassung wird er gemäß den allgemeinen fur die Gesetzgebung vorgeschriebenen Regeln an den Ausschuss überwiesen. Artikel XIX Wenn eine Mehrheit die Vorlage ablehnt und erklärt, dass es keinen Anlass zu Beratungen gibt, wird das namentliche Ergebnis ebenfalls allen Departements übersandt. Sowohl bei Zulassung wie bei Ablehnung des Vorschlags durch die gesetzgebende Körperschaft kann die Entscheidung über die Vorfrage begründet werden und wird allen Departements übersandt. Artikel XX Wenn die Primärversammlungen eines anderen Departements den Widerruf des Beschlusses über die Vorfrage oder des Gesetzes, das aufgrund des Vorschlags verabschiedet wurde, fordern, ist die gesetzgebende Körperschaft verpflichtet, sofort alle Primärversammlungen der Republik einzuberufen, um ihr Votum über diesen Antrag einzuholen. Artikel XXI Die Frage wird verkürzt und in der Verordnung über die Einberufung der Primärversammlungen auf folgende Art gestellt: Gibt es Anlass über den Widerruf der Verordnung der gesetzgebenden Körperschaft vom ..., durch welche der folgende Vorschlag zugelassen oder abgelehnt wurde, zu beraten? Artikel XXII Wenn in den Primärversammlung mit Stimmenmehrheit entschieden wird, dass es Anlass gibt, über den Widerruf der Verordnung zu beraten, wird die gesetzgebende Kör-

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perschaft neu gewählt und die Mitglieder, welche für die Verordnung gestimmt haben, dürfen weder wiedergewählt noch während der nächsten Legislaturperiode zu Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaft ernannt werden. Artikel XXIII Die Bestimmung des vorstehenden Artikels, welche die Mitglieder betrifft, die für die Verordnung gestimmt haben, findet keine Anwendung, wenn zwischen der Verabschiedung der Verordnung oder des Gesetzes und der Ausübung der Zensur und der Forderung des Widerrufs eine Frist von mehr als einem Jahr beginnend vom Tag der Verabschiedung liegt. Artikel XXIV Wenn in dem Zeitraum zwischen der Verordnung und der Abgabe des allgemeinen Votums der Primärversammlungen die gesetzgebende Körperschaft neu gewählt wurde und dabei mehrere Mitglieder, die für die Verordnung gestimmt haben, wiedergewählt wurden, sind diese verpflichtet, sofort nachdem das allgemeine Votum über den Widerruf der Verordnung festgestellt wurde, ihre Sitze an ihre Stellvertreter abzugeben. Artikel XXV Wenn die Erneuerung der gesetzgebenden Körperschaft aufgrund von Artikel XXII stattfindet, dann wird der Termin der jährlichen Neuwahl nur vorgezogen. Die neue gesetzgebende Körperschaft beendet die Amtszeit der Legislatur, die sie ersetzt hat, und wird selbst erst zum vom Gesetz für die jährlichen Wahlen festgelegten Zeitpunkt erneuert. Artikel XXVI Nach der Neuwahl der gesetzgebenden Körperschaft ist die neue Legislatur innerhalb von 14 Tagen, nachdem sie sich als beratende Versammlung konstituiert hat, verpflichtet, die Frage des Widerrufs der Verordnung in der von den Artikeln XV, XVI und folgenden vorgeschriebenen Form erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Die Entscheidung, die sie über diesen Gegenstand trifft, unterliegt ebenfalls dem Recht der Zensur. Artikel XXVII Das Recht der Zensur kann über alle Gesetze und allgemein über alle Akte der Gesetzgebung ausgeübt werden, die im Widerspruch zur Verfassung stehen könnten. Artikel XXVIII Förmlich davon ausgenommen sind die einfachen Verwaltungsverordnungen und Verwaltungsakte, Entscheidungen über lokale oder Teilinteressen, die Ausübung der Aufsicht und Überwachung der öffentlichen Beamten und Maßnahmen der allgemeinen Sicherheit, wenn sie nicht verlängert wurden.

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III. Verfassung

Artikel XXIX Der vorläufige Vollzug der Gesetze erfolgt immer mit aller Strenge. Artikel XXX Immer wenn sie es fur angebracht hält, kann die gesetzgebende Körperschaft das Votum der in den Primärversammlungen vereinten Bürger über Fragen einholen, die wesentlich die gesamte Republik betreifen. Diese Fragen müssen so gestellt sein, dass sie mit der einfachen Entscheidung zwischen Ja und Nein beantwortet werden können. Artikel XXXI Unabhängig von der Ausübung des Rechts der Zensur über die Gesetze haben die Bürger das Recht, in ihrem persönlichen und privaten Interesse Petitionen an die bestehenden Behörden zu richten. Artikel XXXII Sie sind bei der Ausübung dieses Rechts nur an die von der Verfassung zwischen den verschiedenen bestehenden Behörden festgelegte Rangfolge gebunden. Artikel XXXIII Die Bürger haben weiterhin das Recht, im Falle von Machtmissbrauch oder Gesetzesverletzungen die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung gegen öffentliche Beamte zu erwirken.

Neunter Titel Von den Nationalkonventen Artikel I Immer wenn die Verfassungsakte reformiert oder einer ihrer Teile verändert oder genauer bestimmt werden soll oder irgendwelche neuen Bestimmungen hinzugefügt werden sollen, wird ein Nationalkonvent einberufen. Artikel II Die gesetzgebende Körperschaft ist zur Einberufung des Nationalkonvents verpflichtet, wenn diese von der Mehrheit der Bürger der Republik für notwendig befunden wurde. Die gesetzgebende Körperschaft bestimmt die Stadt, in welcher der Konvent seine Sitzungen abhalten soll. Diese muss jedoch immer wenigstens 50 Meilen von der Stadt, in welcher die gesetzgebende Körperschaft tagt, entfernt sein. Artikel III Der Konvent und die gesetzgebende Körperschaft haben das Recht, ihren Sitzungsort zu wechseln. Die Entfernung von mehr als 50 Meilen muss jedoch immer eingehalten werden.

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Artikel IV Im zwanzigsten Jahr nach der Annahme der Verfassungsakte ist die gesetzgebende Körperschaft verpflichtet einen Konvent auszuschreiben, um die Verfassung zu überprüfen und zu vervollkommnen. Artikel V Jeder Bürger hat das Recht, die Einberufung eines Konvents zur Reform der Verfassung zu erwirken. Dieses Recht unterliegt jedoch den Formen und Regeln, welche für die Ausübung des Rechts der Zensur gelten. Artikel VI Wenn die Mehrheit der Abstimmenden in den Primärversammlungen eines Departements die Einberufung eines Nationalkonvents verlangt, dann ist die gesetzgebende Körperschaft verpflichtet, unverzüglich alle Bürger der Republik in den Primärversammlungen zu befragen. Wenn die Mehrheit der Abstimmenden sich für die Einberufung ausspricht, muss der Konvent so schnell wie möglich stattfinden. Artikel VII Auch die gesetzgebende Körperschaft kann die Einberufung eines Nationalkonvents vorschlagen, wenn sie es für notwendig befindet. Dieser darf jedoch erst stattfinden, wenn die Mehrheit des französischen Volkes der Einberufung zugestimmt hat. Die Mitglieder der Legislatur dürfen in diesem Fall nicht zu Mitgliedern des Nationalkonvents gewählt werden. Artikel VIII Der Konvent wird aus zwei Mitgliedern je Departement gebildet, die zwei Stellvertreter haben. Sie werden auf dieselbe Weise gewählt wie die Mitglieder der Legislaturen. Artikel IX Der Konvent hat nur die Befugnis, dem Volk einen Verfassungsentwurf vorzulegen, der vervollkommnet und von den Mängeln befreit ist, welche die Erfahrung zu Tage gebracht hat. Artikel X Alle bestehenden Behörden bleiben weiter tätig, bis die neue Verfassung vom Volk nach dem von der geltenden Verfassung festgelegten Verfahren angenommen worden ist und bis die neuen Behörden eingerichtet sind und ihre Tätigkeit aufgenommen haben. Artikel XI Wird der Entwurf für eine Reform der Verfassung abgelehnt, muss der Konvent innerhalb von zwei Monaten nach dem Zeitpunkt der Feststellung des Votums des Volkes diejenigen Fragen den Bürgern zur Abstimmung vorlegen, über die er ihren Willen in Erfahrung bringen will.

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III. Verfassung

Artikel XII Der überarbeitete Entwurf, der nach diesem Votum ausgearbeitet wird, wird dem Volk in derselben Form zur Zustimmung vorgelegt. Artikel XIII Wird dieser überarbeitete Entwurf abgelehnt, wird der Nationalkonvent rechtmäßig aufgelöst und die gesetzgebende Körperschaft muss die Primärversammlungen unverzüglich befragen, ob ein neuer Konvent einberufen werden soll. Artikel XIV Die Mitglieder des Konvents dürfen zu keinem Zeitpunkt wegen dem, was sie in Ausübung ihrer Ämter gesagt oder geschrieben haben, gerichtlich verfolgt, angeklagt oder verurteilt werden. In allen anderen Fällen darf nur auf Beschluss des Konvents eine gerichtliche Untersuchung gegen sie eingeleitet werden. Artikel XV Der Konvent darf sogleich nach seiner Zusammenkunft die Ordnung und den Verlauf seiner Tätigkeit so festlegen, wie er es für angebracht hält. Seine Sitzungen müssen jedoch immer öffentlich sein. Artikel XVI In keinem Fall darf der Konvent seine Sitzungen über den Zeitraum von einem Jahr hinaus verlängern.

Zehnter Titel Vom Justizwesen

Erster Abschnitt Allgemeine Vorschriften Artikel I Die ganze Republik hat ein einheitliches Gesetzbuch des bürgerlichen Rechts und des Strafrechts. Artikel II Es wird öffentlich von Geschworenen und Richtern Recht gesprochen. Artikel III Die Richter werden auf Zeit gewählt und von der Republik besoldet.

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Artikel IV Sie dürfen nur zu den in der Verfassung bestimmten Terminen neu gewählt werden. Artikel V Die Aufgaben der Justiz dürfen in keinem Fall und unter keinem Vorwand von der gesetzgebenden Körperschaft, vom Exekutivrat oder von den Verwaltungskörperschaften oder den munizipalen Körperschaften ausgeübt werden. Artikel VI Die Gerichte und die Richter dürfen sich nicht in die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt einmischen. Sie dürfen die Gesetze weder auslegen noch erweitern und ihren Vollzug weder verhindern noch aufschieben. Sie dürfen weder Verwaltungsaufgaben übernehmen noch die Beamten der Verwaltung wegen ihrer Tätigkeit vorladen. Artikel VII Richter dürfen nur wegen rechtmäßig festgestellter Pflichtverletzungen abgesetzt werden und nur durch eine zugelassene Anklage ihres Amtes entbunden werden.

Abschnitt II Von der zivilen Gerichtsbarkeit Artikel I Das Recht der Bürger, Streitigkeiten endgültig auf dem Weg der freiwilligen Schiedsgerichtsbarkeit zu beenden, darf durch die Akte der gesetzgebenden Gewalt in keiner Weise eingeschränkt werden. Artikel II Es soll in jeder Gemeinde mindestens einen Friedensrichter geben. Artikel III Die Friedensrichter haben insbesondere die Aufgabe, die streitenden Parteien zu versöhnen und, wenn ihnen dies nicht gelingt, endgültig und kostenlos ein Urteil über ihre Streitigkeiten zu fallen. Sie werden jedes Jahr neu gewählt, können jedoch wiedergewählt werden. Artikel IV Die Anzahl und die Zuständigkeit der Friedensrichter werden von der gesetzgebenden Körperschaft bestimmt. Die Friedensrichter dürfen jedoch weder über Eigentums- noch über Kriminalfälle entscheiden, noch irgendwelche Polizei- oder Verwaltungsaufgaben ausüben.

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III. Verfassung

Artikel V Die Friedensgerichtsbarkeit ist niemals Teil der ordentlichen Zivilgerichtsbarkeit. Artikel VI In allen Streitigkeiten, die nicht in den Bereich der Friedensgerichtsbarkeit fallen, sind die Bürger verpflichtet, zunächst von ihnen selbst gewählte Schiedsrichter anzurufen. Artikel VII Im Falle des Einspruchs gegen die Entscheidung der Schiedsrichter gemäß dem vorstehenden Artikel finden sich die Bürger vor der zivilen Jury ein. Artikel VIII Es gibt in jedem Departement ein einziges ziviles Geschworenengericht: Es besteht aus einem Vorsitzenden, einem öffentlichen Berichterstatter, einem Nationalkommissar und den Geschworenen. Die Anzahl dieser Beamten kann von der gesetzgebenden Körperschaft nach den Bedürfnissen der Departements vergrößert werden. Artikel IX Die Liste der Zivilgeschworenen wird in jedem Departement auf folgende Art erstellt: 1. In jeder Primärversammlung wird alle sechs Monate für 200 auf der Bürgerliste eingeschriebene Bürger ein Geschworener gewählt. 2. Diese Wahl wird in einmaliger Abstimmung und mit einfacher relativer Mehrheit vollzogen. 3. Jeder Abstimmende unterzeichnet seinen Stimmzettel oder lässt ihn in seinem Namen von einem der Mitglieder des Ausschusses unterzeichnen und benennt dort nur eine einzige Person, gleichgültig wie viele Geschworene seine Primärversammlung zu ernennen hat. Artikel X Alle Bürger, die in einem Departement ihren Wohnsitz haben, sind von jeder Primärversammlung dieses Departements wählbar. Artikel XI Jede Primärversammlung übersendet ihrer Departementsverwaltung eine Liste der Bürger, welche die meisten Stimmen erhalten haben. Diese Liste enthält doppelt so viele Namen, wie die Primärversammlung Geschworene zu stellen hat. Nachdem die Verwaltung die Liste der Geschworenen angefertigt hat, obliegt es ihr, diese unverzüglich dem Vorsitzenden des Geschworenengerichts zu übermitteln. Artikel XII Jeder Bürger, der zwei Mal auf einer Geschworenenliste eingeschrieben war, kann nicht verpflichtet werden, diese Aufgabe nochmals auszuüben.

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Artikel XIII Die Geschworenen werden von den Gerichtsparteien aus der allgemeinen Geschworenenliste des Departements ausgewählt. Weigern sich die Parteien eine Auswahl zu treffen, übernimmt der Vorsitzende des Geschworenengerichts für sie die Auswahl. Bei Abwesenheit wird die Wahl fur die abwesenden Parteien durch den Nationalkommissar getroffen. Artikel XIV Der Vorsitzende, der Berichterstatter, der Nationalkommissar und ihre Stellvertreter werden unmittelbar von den Primärversammlungen der Departements gemäß den Formen und Verfahren, die für persönliche Nominierungen vorgeschrieben sind, gewählt. Sie werden für zwei Jahre ernannt und können wiedergewählt werden. Artikel XV Die Hauptaufgabe des Vorsitzenden des Geschworenengerichts ist die Leitung des Verfahrens; diejenige des Berichterstatters die Darlegung der Tatsachen vor der Jury. Die Hauptaufgaben des Nationalkommissars sind: 1. bei den zu fallenden Urteilen die Einhaltung der Formen und Gesetze einzufordern und zu überwachen und die gefällten Urteile vollstrecken zu lassen; 2. die Wahnsinnigen, die Geistesschwachen, die Abwesenden, die Unmündigen, die Minderjährigen, die Witwen und die Bedürftigen zu verteidigen.

Abschnitt III Von der Kriminalgerichtsbarkeit Artikel I Die Todesstrafe ist fur alle Privatverbrechen abgeschafft. Artikel II Das Recht der Begnadigung ist nichts anderes als das Recht, das Gesetz zu verletzen. In einem freien Staatswesen, in dem das Gesetz fur alle gleich ist, kann es keinen Bestand haben. Artikel III In Kriminalsachen darf ein Bürger nur von Geschworenen verurteilt werden. Die Strafe wird von den Kriminalgerichten verhängt. Artikel IV Eine erste Jury entscheidet, ob die Anklage zugelassen oder abgewiesen wird. Die Tat wird von einer zweiten Jury untersucht und abgeurteilt.

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III. Verfassung

Artikel V Der Angeklagte hat das Recht, ohne Angabe von Gründen die gesamte vom Gesetz bestimmte Zahl der Geschworenen abzulehnen. Artikel VI Die Anzahl der Geschworenen, die über die Tat urteilen, darf in keinem Fall geringer sein als zwölf. Artikel VII Der Angeklagte wählt einen Rechtsbeistand. Wenn er sich keinen wählt, dann benennt ihm das Gericht einen. Artikel VIII Niemand, der von einer Jury freigesprochen wurde, kann für dieselbe Tat nochmals belangt oder angeklagt werden. Artikel IX Jedes Kriminalgericht besteht aus einem Vorsitzenden, zwei Richtern und einem öffentlichen Ankläger. Diese vier Beamten werden vom Volk auf Zeit gewählt. Sie werden alle zwei Jahre neu gewählt, können jedoch wiedergewählt werden. Artikel X Es ist Aufgabe des öffentlichen Anklägers, dem Vorsitzenden entweder Kraft seines Amtes oder gemäß den Anweisungen, die er vom Exekutivrat oder von der gesetzgebenden Körperschaft erhalten hat, folgende Tatbestände anzuzeigen: 1. Vergehen gegen die persönliche Freiheit der Bürger; 2. Vergehen gegen das Völkerrecht; 3. Widerstand gegen den Vollzug von Urteilen und gegen alle Vollstreckungsakte der bestehenden Behörden; 4. Unruhen, die ausgelöst, oder Tätlichkeiten, die begangen wurden, um die Erhebung der Abgaben oder den freien Verkehr der Nahrungsmittel und anderer Handelsgüter zu behindern. Weiterhin gehört zu den Aufgaben des öffentlichen Anklägers: 5. Während der gerichtlichen Untersuchung zur Beachtung der vorgeschriebenen Formen und vor dem Urteil zur Anwendung des Gesetzes zu ermahnen; 6. Die Delikte aufgrund der von den ersten Geschworenen zugelassenen Anklageakten zu verfolgen; 7. Alle Polizeibeamten des Departements zu beaufsichtigen, die er im Falle der Nachlässigkeit zu ermahnen und im Falle schwererer Verfehlungen dem Kriminalgericht anzuzeigen verpflichtet ist.

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Abschnitt IV Von den Zensoren für das Gerichtswesen Artikel I Es werden Zensoren für das Gerichtswesen eingesetzt, die an festgelegten Terminen in jedem Departement, in dem Hauptort des zu diesem Zweck bestimmten Bezirks, über Folgendes entscheiden: 1. Über Aufhebungsgesuche gegen Urteile der Kriminalgerichte und der zivilen Jurys. 2. Über Gesuche, ein Verfahren wegen berechtigter Zweifel an der Unabhängigkeit des Gerichts an ein anderes Gericht zu verweisen. 3. Über die Bestimmung des zuständigen Gerichts fur ein Verfahren und über die gerichtliche Belangung von Richtern. Die Zensoren heben Urteile auf, in denen Formen verletzt oder Gesetze offensichtlich übertreten wurden. Artikel II Die Zensoren werden fur zwei Jahre ernannt. Sie werden von den Primärversammlungen der Departements in der für persönliche Nominierungen festgelegten Form gewählt. Artikel III Jede Abteilung der Zensoren muss aus wenigstens vier und höchstens sieben Mitgliedern bestehen. Die Zensoren dürfen ihre Aufgaben niemals in dem Departement, welches sie ernannt hat, ausüben. Artikel IV Sie entscheiden nicht über die Rechtssachen an sich. Nachdem sie das Urteil aufgehoben haben, verweisen sie den Prozess entweder an ein Kriminalgericht oder eine zivile Jury zurück, die ein neues Urteil fallen müssen. Artikel V Wenn nach zwei Aufhebungen das Urteil eines dritten Kriminalgerichts oder einer dritten zivilen Jury mit denselben Mitteln wie die beiden ersten angefochten wird, darf die Sache nicht mehr vor den Zensoren verhandelt werden, ohne zuvor der gesetzgebenden Körperschaft vorgelegt worden zu sein, die eine das Gesetz erläuternde Verordnung erlässt, an welche die Zensoren gebunden sind. Artikel VI Die Nationalkommissare und die öffentlichen Ankläger können, unbeschadet der Rechte der Verfahrensparteien, den Zensoren solche Akte anzeigen, mit denen die Richter die Grenzen ihrer Gewalt überschritten haben.

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III. Verfassung

Artikel VII Die Zensoren heben diese Akte gegebenenfalls auf und zeigen bei Verletzung der Amtspflichten das Vergehen der gesetzgebenden Körperschaft an. Artikel VIII Die gesetzgebende Körperschaft leitet gegebenenfalls eine Untersuchung gegen die Richter ein und verweist die Angeklagten vor ein zuständiges Gericht. Artikel IX Wenn die Verfahrensparteien gegen ein Urteil, in welchem die Formen oder die Gesetze verletzt wurden, keine Beschwerde eingelegt haben, bleibt das Urteil in Bezug auf die Parteien gültig. Jedoch soll es auf Anzeige des Nationalkommissars oder des öffentlichen Anklägers hin im öffentlichen Interesse aufgehoben werden. Die Richter, die es gesprochen haben, können wegen Verletzung ihrer Amtspflichten belangt werden. Artikel X Die Frist für die Einlegung einer Beschwerde bei den Zensoren darf in keinem Fall aus irgendeinem privaten Grund oder für irgendeine Person verkürzt oder verlängert werden. Artikel XI Im ersten Sitzungsmonat der gesetzgebenden Körperschaft übersendet jede Abteilung der Zensoren der gesetzgebenden Körperschaft eine Liste ihrer Entscheidungen, auf der neben jeder Entscheidung eine Zusammenfassung der Rechtssache und der Gesetzestext, welcher Grundlage der Entscheidung war, stehen soll. Artikel XII Im Laufe des folgenden Monats lässt sich die gesetzgebende Körperschaft über die Arbeit der Zensoren, über Missbräuche, die während der Ausübung ihres Amtes aufgekommen sein könnten, und über die Mittel, die Gesetzgebung und das Gerichtswesen zu vervollkommnen, Bericht erstatten. Artikel XIII Es wird im Namen der Nation Recht gesprochen. Die Vollstreckungsbefehle der Kriminalgerichte und der zivilen Geschworenengerichte werden wie folgt abgefasst: Die französische Republik. An alle Bürger ... Das zivile Geschworenengericht oder das Gericht von ... hat folgendes Urteil gesprochen: Abschrift des Urteils und Namen der Richter. Die französische Republik befiehlt und ordnet an, usw. usw. Artikel XIV Dieselbe Formel wird für die Entscheidungen der Zensoren verwendet, welche den Titel Akten der Zensoren des Gerichtswesens tragen.

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Abschnitt V Von der Nationaljury Artikel I Immer wenn über Verbrechen des Hochverrats geurteilt werden soll, wird eine Nationaljury gebildet. Diese Verbrechen werden vom Strafgesetzbuch ausdrücklich benannt. Artikel II Die Mitgliederliste der Nationaljury besteht aus drei Geschworenen fur jedes Departement und derselben Anzahl von Stellvertretern. Artikel III Sie werden, ebenso wie die Stellvertreter, von den Primärversammlungen in jedem Departement gemäß den für die Wahlen vorgeschriebenen Formen gewählt. Artikel IV Die Nationaljury besteht aus einer Anklage- und einer Urteilsjury. Artikel V Für die Entscheidung über die einfache Entlassung eines Mitglieds des Exekutivrates der Republik wird nur eine einzige Nationaljury gebildet. Artikel VI Die Richter des Kriminalgerichtshofes des Departements, in welchem das Delikt begangen wurde, nehmen gegenüber der Nationaljury dieselben Aufgaben wahr, welche sie gegenüber einer gewöhnlichen Jury ausüben. Artikel VII Handelt es sich um ein Hochverratsdelikt, welches außerhalb des Staatsgebiets der Republik begangen wurde, oder um eine von einem öffentlichen Beamten außerhalb dieses Gebiets begangene Pflichtverletzung, wählt die gesetzgebende Körperschaft durch das Los unter den sieben Gerichten, welche dem Ort des Delikts am nächsten liegen, dasjenige aus, welches über die Sache urteilen soll. Artikel VIII Dasselbe Verfahren soll angewandt werden, wenn aus dringenden Gründen des öffentlichen Interesses die Nationaljury nicht in dem Departement zusammentreten kann, in welchem das Delikt verübt wurde.

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III. Verfassung

Abschnitt VI Von den Mitteln zum Schutz der bürgerlichen Freiheit Artikel I Die Bürger dürfen den Richtern, welche die Verfassungsgesetze ihnen zuweisen, nicht entzogen werden. Artikel II Die Polizeigewalt wird durch ein besonderes Gesetz geregelt und darf nur zivilen Beamten anvertraut werden. Artikel III Jede Person, die aufgrund eines Gesetzes ergriffen wird, muss einem Polizeibeamten vorgeführt werden. Niemand darf in Haft genommen oder unter Arrest gestellt werden außer 1. aufgrund eines Befehls der Polizeibeamten, 2. aufgrund des Haftbefehls eines Gerichts, 3. aufgrund einer Arrestverordnung der gesetzgebenden Körperschaft, 4. aufgrund einer gerichtlichen Verurteilung zu Gefängnis oder Zuchthaus. Artikel IV Jede Person, die einem Polizeibeamten vorgeführt wird, muss sofort oder spätestens innerhalb von vierundzwanzig Stunden verhört werden, bei Strafe der Amtsenthebung und der Belangung wegen Amtsmissbrauch. Artikel V Wenn aus der Untersuchung des Polizeibeamten hervorgeht, dass kein Grund zur Anklage besteht, muss die festgehaltene Person sofort freigelassen werden. Wenn aber Grund besteht, sie ins Gefángnis zu überführen, muss sie so schnell wie möglich, spätestens aber innerhalb von drei Tagen, dorthin gebracht werden Artikel VI Der Vorsitzende der Anklagejury ist bei Strafe der Amtsenthebung verpflichtet, diese spätestens innerhalb eines Monats einzuberufen. Artikel VII In allen Fällen, in denen das Gesetz keine Ehren- oder Körperstrafen vorsieht, dürfen Inhaftierte nicht festgehalten werden, wenn sie eine ausreichende Kaution hinterlegen. Artikel VIII Die gesetzgebende Körperschaft regelt die verhältnismäßige Abstufung der Kautionen und Geldstrafen in einer Weise, welche die Grundsätze der Gleichheit wahrt und dem Wesen der Strafe nicht widerspricht.

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Artikel IX Personen, die kraft Gesetz inhaftiert sind, dürfen ausschließlich in gesetzlich und öffentlich zur Nutzung als Untersuchungsgefängnis, Justizgebäude oder Gefängnis bezeichnete Gebäude verbracht werden. Artikel X Ein Aufseher oder Gefängniswärter darf einen Menschen nur aufgrund des Befehls eines Polizeibeamten, eines Haftbefehls, eines Anklagebeschlusses oder eines Gerichtsurteils in Empfang nehmen und festhalten. In seinem Register muss eine Abschrift dieser Urkunde angefertigt werden. Artikel XI Jeder Aufseher oder Gefängniswärter muss dem zivilen Beamten, welcher die Aufsicht über das Gefängnis hat, jedes Mal wenn dieser es verlangt, den Häftling vorführen. Artikel XII Wenn der Häftling nicht aufgrund einer in das Register eingetragenen Anordnung des Richters in strengem Gewahrsam gehalten wird, darf seinen Verwandten und Freunden der Zugang zu ihm nicht verweigert werden, wenn sie eine Erlaubnis des zivilen Beamten vorweisen, der stets gehalten ist, diese zu gewähren. Artikel XIII Jeder, der einen Haftbefehl gegen einen Bürger ausstellt, unterzeichnet, vollzieht oder vollziehen lässt, ohne zu den Personen zu gehören, denen das Gesetz das Recht dazu verleiht; jeder, der im Falle einer gesetzlich autorisierten Verhaftung einen Bürger an einen nicht öffentlich und gesetzlich bezeichneten Haftort bringt, dort aufnimmt oder festhält sowie jeder Aufseher oder Gefängniswärter, der den Anordnungen der vorangehenden Artikel zuwiderhandelt, macht sich des Verbrechens der willkürlichen Inhaftierung schuldig und wird entsprechend bestraft. Artikel XIV Das Haus eines Bürgers ist eine unverletzliche Freistatt. Während der Nacht darf es nur bei Feuersbrunst oder nach Aufforderung aus dem Inneren des Hauses betreten werden. Während des Tages darf es über diese beiden Fälle hinaus aufgrund des Befehls eines Polizeibeamten betreten werden. Artikel XV Die Gerichte und jede andere bestehende Behörde dürfen die Bürger in ihrem Recht, sich friedlich und ohne Waffen unter Beachtung der Polizeigesetze zu versammeln und zu vereinigen, in keiner Weise behindern. Artikel XVI Die Freiheit der Presse ist unbeschränkt. Niemand darf aufgrund von Schriften zu welchem Gegenstand auch immer, die er hat drucken oder veröffentlichen lassen, gericht-

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lieh belangt oder verfolgt werden, außer wenn die Bürger, die Gegenstand der Schriften sind, Anklage wegen Verleumdung gegen den Autor oder Drucker erheben. Artikel XVII Niemand darf wegen gedruckter oder veröffentlichter Schriften von der Zivil- oder Kriminalgerichtsbarkeit verurteilt werden, ohne dass zuvor von einer Jury untersucht und festgestellt wurde: 1. ob in der angezeigten Schrift eine Straftat vorliegt, 2. ob die angeklagte Person sich dieser schuldig gemacht hat. Artikel XVIII Die Autoren behalten das Eigentum an den Werken, die sie haben drucken lassen. Nach Drucklegung gilt dieser gesetzliche Schutz jedoch nur während ihrer Lebenszeit.

Elfter Titel Von den öffentlichen Streitkräften Artikel I Die öffentlichen Streitkräfte bestehen aus allen Bürgern, die fähig sind, Waffen zu tragen. Artikel II Sie müssen so eingerichtet sein, dass sie fähig sind, die Republik gegen äußere Feinde zu verteidigen und im Inneren die Aufrechterhaltung der Ordnung und den Vollzug der Gesetze zu sichern. Artikel III Sowohl für die Verteidigung der Republik gegen äußere Feinde als auch für den Dienst im Inneren der Republik können besoldete Einheiten gebildet werden. Artikel IV Die Bürger dürfen als bewaffnete Einheiten beim Dienst im Inneren der Republik nur nach Aufforderung und mit Erlaubnis der zivilen Beamten tätig werden. Artikel V Die öffentlichen Streitkräfte dürfen von den zivilen Beamten nur in den Grenzen des von ihnen verwalteten Gebiets aufgeboten werden. Sie dürfen ohne die Erlaubnis der Departementsverwaltung nicht vom Gebiet einer Gemeinde aus in dem einer anderen Gemeinde tätig werden und ohne Befehle des Exekutivrates nicht von einem Departement aus in einem anderen Departement. Artikel VI Da jedoch in einer einzigen und unteilbaren Republik der Vollzug von Urteilen und die Verfolgung von Angeklagten oder Verurteilten nicht auf ein bestimmtes Gebiet begrenzt

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sind, bestimmt die gesetzgebende Körperschaft in einem Gesetz die Mittel, um den Vollzug von Urteilen und die Verfolgung von Angeklagten auf dem gesamten Gebiet der Republik sicherzustellen. Artikel VII Wenn der Exekutivrat aufgrund von inneren Unruhen Einheiten der öffentlichen Streitkräfte von einem Departement in ein anderes verlegt, ist er verpflichtet, die gesetzgebende Körperschaft sofort darüber zu unterrichten. Artikel VIII Alle Einheiten der öffentlichen Streitkräfte, die gegen äußere Feinde eingesetzt sind, stehen unter dem Befehl des Exekutivrates. Artikel IX Die öffentlichen Streitkräfte sind grundsätzlich zum Gehorsam verpflichtet. Keine bewaffnete Einheit darf Beratungen abhalten oder Beschlüsse fassen. Artikel X Die Oberkommandierenden der Land- und Seestreitkräfte werden nur im Kriegsfall und in Vollmacht ernannt. Sie erhalten diese Vollmacht vom Exekutivrat, der sie nach Belieben widerrufen kann. Ihre Dauer ist stets auf einen Feldzug begrenzt und muss jährlich erneuert werden. Artikel XI Das militärische Disziplinarrecht muss jedes Jahr erneuert werden. Artikel XII Die Kommandanten der Nationalgarde werden jährlich von den Bürgern der Gemeinden ernannt. Niemand darf die Nationalgarde mehrerer Gemeinden befehligen.

Zwölfter Titel Von den öffentlichen Abgaben Artikel I Die öffentlichen Abgaben dürfen niemals die Bedürfnisse des Staates überschreiten. Artikel II Nur das Volk hat das Recht, sie entweder selbst oder durch seine Repräsentanten zu bewilligen, ihre Verwendung zu überwachen und ihre Höhe, Veranlagung, Eintreibung und Dauer zu bestimmen.

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III. Verfassung

Artikel III Die öffentlichen Abgaben werden jährlich von der gesetzgebenden Körperschaft beraten und festgelegt und dürfen nicht über diesen Zeitraum hinaus erhoben werden, wenn sie nicht ausdrücklich verlängert wurden. Artikel IV Die Abgaben müssen je nach Vermögen gleich auf alle Bürger verteilt werden. Artikel V Auf den Teil des Ertrags des Gewerbes oder der Arbeit, die als notwendig für den Lebensunterhalt eines Bürgers festgestellt werden, dürfen keine Abgaben erhoben werden. Artikel VI Es darf keine Abgabe festgelegt werden, die durch ihre Beschaffenheit oder durch die Art und Weise ihrer Erhebung die freie Verfügung über das Eigentum, den Fortschritt des Gewerbes und des Handels und den Geldverkehr behindert oder die eine Verletzung der von der Verfassung anerkannten und erklärten Rechte mit sich bringen würde. Artikel VII Die Behörden der Departements und Gemeinden dürfen weder irgendeine öffentliche Abgabe erheben noch irgendeine Aufteilung von Abgaben vornehmen, die über die von der gesetzgebenden Körperschaft festgelegten Summen hinausgeht, noch ohne Bevollmächtigung durch die gesetzgebende Körperschaft irgendeine lokale Anleihe zu Lasten der Bürger des Departements oder der Gemeinde beschließen oder erlauben. Artikel VIII Die ausfuhrlichen Rechnungsbücher über die Ausgaben der Ministerien werden, von den Ministern unterzeichnet und beglaubigt, jedes Jahr zu Beginn der Legislatur veröffentlicht. Artikel IX Ebenso wird mit den Verzeichnissen der Erträge aus den verschiedenen Abgaben und aller öffentlichen Einnahmen verfahren. Artikel X In jedem Departement werden die Verzeichnisse dieser Ausgaben und Einnahmen jahresweise getrennt nach deren Art und unter Ausweis der eingenommenen und ausgegebenen Summen gefuhrt. Artikel XI Die Rechnungsbücher der besonderen Ausgaben der Departements sowie der Ausgaben für die Gerichte, die Beamten und allgemein für alle öffentlichen Einrichtungen werden ebenfalls öffentlich gemacht.

10. Verfassungsentwurf, der Nationalversammlung vorgeschlagen

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Dreizehnter und letzter Titel Vom Verhältnis der französischen Republik zu den ausländischen Nationen und ihren äußeren Beziehungen Artikel I Die französische Republik greift nur zu den Waffen, um ihre Freiheit zu erhalten, ihr Staatsgebiet zu schützen und ihre Verbündeten zu verteidigen. Artikel II Sie verzichtet feierlich darauf, ihrem Staatsgebiet fremde Gebiete einzuverleiben, außer nach dem frei abgegebenen Votum der Mehrheit der Einwohner und allein in dem Fall, wo die Gebiete, die um diese Vereinigung ersuchen, nicht aufgrund eines gesellschaftlichen Pakts, der in einer zu einem früheren Zeitpunkt frei beschlossenen Verfassung niedergelegt ist, Teil oder Bundesstaat einer anderen Nation sind. Artikel III In Ländern, die von den Armeen der französischen Republik besetzt sind, sind die Generäle verpflichtet, mit allen ihnen zur Verfugung stehenden Mitteln die Sicherheit der Personen und des Eigentums aufrecht zu erhalten und den Bürgern dieser Länder den Genuss ihrer natürlichen, bürgerlichen und politischen Rechte zu sichern. Sie dürfen unter keinem Vorwand und in keinem Fall durch die ihnen verliehene Autorität die Aufrechterhaltung von Gebräuchen begünstigen, die der Freiheit, der Gleichheit und der Souveränität der Völker widersprechen. Artikel IV In ihren Beziehungen zu den ausländischen Nationen achtet die französische Republik die Institutionen, die unter dem Schutz der Übereinkunft der Gesamtheit der Völker stehen. Artikel V Der Krieg wird von der gesetzgebenden Körperschaft erklärt. Die Kriegserklärung ist nicht den für andere Beschlüsse vorgeschriebenen Formen unterworfen. Sie kann jedoch nur in einer drei Tage im Voraus angekündigten Sitzimg in namentlicher Abstimmung und nach Anhörung des Exekutivrats über die Lage der Republik beschlossen werden. Artikel VI Im Falle von bevorstehenden oder begonnenen Feindseligkeiten und von Drohungen oder Kriegsvorbereitungen gegen die französische Republik ist der Exekutivrat gehalten, alle ihm zur Verfugung stehenden Mittel zur Verteidigung des Staates einzusetzen, unter der Auflage, die gesetzgebende Körperschaft unverzüglich darüber zu unterrichten. Er kann in diesem Fall auch Verstärkungen der Truppen und weitere von den Umständen erforderte Maßnahmen veranlassen.

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III. Verfassung

Artikel VII Alle Angehörigen der öffentlichen Streitkräfte sind bevollmächtigt, im Angriffsfall eine feindliche Aggression zurückzuschlagen, unter der Auflage, den Exekutivrat unverzüglich darüber zu unterrichten. Artikel VIII Verhandlungen dürfen nur begonnen und ein Waffenstillstand darf nur gewährt werden kraft einer Verordnung der gesetzgebenden Körperschaft, die über diese Gegenstände nach Anhörung des Exekutivrates beschließt. Artikel IX Friedens-, Bündnis- und Handelsverträge und Abkommen werden von nationalen Bevollmächtigten, die vom Exekutivrat ernannt und an dessen Weisungen gebunden sind, im Namen der Republik ausgehandelt. Ihr Vollzug ist jedoch ausgesetzt und sie treten erst nach Ratifikation durch die gesetzgebende Körperschaft in Kraft. Artikel X Von den vorstehenden Artikeln ausgenommen sind nur von den Generälen genehmigte kurzfristige Kapitulationen und Waffenstillstände.

Anhang

Anmerkungen und Textnachweise

OC = Condorcet: Œuvres. Hg. v. A. Condorcet O'Connor und F. Arago, 12 Bde. Paris 1847-1849 [Faksimile Stuttgart-Bad Cannstatt 1968].

1. Überlegungen zur Negersklaverei 1. Aufl. Neuchatel 1781, 2. erw. Aufl. Paris 1788. OC Bd. 7, S. 61-140. S. 64, Anm.: Ephémérides du Citoyen gegründet vom Abbé de Baudeau, von 1765 bis 1772 zweimal wöchentlich erscheinendes Journal, von 1767 an unter dem Titel Ephémérides du citoyen ou bibliothèque raisonnée des sciences morales et politiques. Regelmäßige Autoren sind u. a. Mirabeau und TurgoL S. 66: Sobald Jupiter ... Odyssee 17, 23f. S. 67, Anm.: Henri Bernardin de Saint-Pierre, Voyages à l'île de France, à l'île de Bourbon, au Cap de Bonne-Espérance, etc. avec des observations nouvelles sur la nature et sur les hommes, par un officier du Roi. Amsterdam, Paris 1773. S. 70: partus ventrem sequitur Wie der Bauch, so das Kind S. 70: partus colorem sequitur Wie die Farbe, so das Kind S. 70, Anm.: Le Gentil: Voyage dans les mers de l'Inde fait par ordre du roi à l'occasion du passage de Vénus sur le disque du soleil le 6 juin 1761 et le 3 du même mois 1769, 2 Bde., Paris 1779-1781. S. 70, Anm.: Ile de France Heute: Mauritius S. 76: Es wird auf die Prinzipien angespielt, dass ein Verbrechen kein anderes rechtfertigt, bzw. dass eine aus Menschlichkeit vollbrachte Tat kein Verbrechen rechtfertigt. S. 81, Anm.: Théodore de Bèze, De haereticis a civili magistratu punendis libellus [Genf 1554], Reprint Frankfurt/M. 1973. S. 82, Anm.: Plutarchi vitae parallelae, Band 1, Fase. 1, hrsg. v. Konrat Ziegler, 3. Aufl. Stuttgart, Leipzig 1960. S. 85, Anm.: Predigt über das verkehrte Gewissen Vermutlich ein ironischer Verweis auf eine Predigt selben Namens, die der Jesuitenprediger Louis Bourdaloue (1632 - 1704) am Hof von Ludwig XIV gehalten hat. Vgl. Louis Bourdaloue, Sermon sur la fausse conscience, in: Œuvres complètes, Paris 1833, S. 144-193. S. 88, Anm.: île de Sable Heute: île de Tromelin

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Anmerkungen und Textnachweise

S. 88: île de France s. o. S. 92: die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes geboren sind Im Original heißt es fälschlich „nach dem Inkrafttreten" [né après la loi]. S. 92, Anm.: Recherches historiques et politiques sur les États-Unis Filippo Mazzei: Recherches historiques et politiques sur les États-Unis de l'Amérique septentrionale ... par un citoyen de Virginie, avec quatre lettres d'un bourgeois de New Heaven sur l'unité de la législation. 4 Bd., Paris 1788. Die vier enthaltenen Briefe stammen von Condorcet, vgl. ders., Lettres d'un bourgeois de New-Haven a un citoyen de Virginie sur l'inutilité de partager le pouvoir législatif entre plusieurs corps (1787), in: OC, Bd. 9, S. 1-93.

2. Ideen über den Despotismus [1789] OC Bd. 9, S. 145-173. S. 100: Plänen Pitts Mit dem auf den britischen Premier William Pitt d. J. zurückgehenden India Act wurde 1783 als Maßnahme der Korruptionsbekämpfiing eine staatliche Aufsicht über die East India Company etabliert. S. 100: denen von Fox und des Grafen Stanhope Charles James Fox brachte 1783 mit der East India Bill einen konkurrierenden Gesetzesentwurf ein, der jedoch abgelehnt wurde. S. 100: Verfasser der Theorie der Steuer Victor Riqueti de Mirabeau: Théorie de l'Impôt. Paris 1760. Sein Sohn Honoré-Gabriel Riqueti de Mirabeau ist zudem Verfasser des in diesem Zusammenhang wichtigen Essai sur le despotisme. London 1775. S. 101: stathouderat Statthalterschaft in den Niederlanden; vgl. Honoré-Gabriel Riqueti de Mirabeau: Aux Bataves sur le stathouderat. o. O. 1788. S. 104: die am 1. Juni 1776 beschlossen wurde Die Virginia Bill of Rights wurde am 12. Juni 1776 verabschiedet. S. 104: Dem Autor dieses Werkes ... Maßgeblicher Autor der Erklärung war George Mason.

3. Über die Zulassung der Frauen zum Bürgerrecht [1790] Journal de la société 1789, Nr. 5. OC Bd. 10, S. 119-130. S. 112: bailliages Den ländlichen Gemeinden und städtischen Pfarreien übergeordnete alte französische Verwaltungseinheit. Auf der Ebene des bailliage wurden in entsprechenden Wahlversammlungen die Deputierten fur die Generalstände gewählt.

4. Von der Natur der politischen Gewalten in einer freien Nation [1792] OC 10, S. 587-613. 5. 113: schon die Bezeichnung Gewalt Die Bedeutung des französischen Begriffs „pouvoir" schwankt hier zwischen „Macht" und „Gewalt". Insofern Condorcet auf den folgenden Seiten die Ausübung und Institutionalisierung von Macht in den staatlichen oder gesellschaftlichen „Gewalten" der Legislative

Anmerkungen und Textnachweise

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und Exekutive in den Blick nimmt, schien eine durchgängige Übersetzung mit „Gewalt" möglich und angemessen. S. 121: Sparkassen im Original „caisses d'accumulation"

5. Vom Einfluss der Revolution in Amerika auf Europa [1786] Zuerst in Filippo Mazzei: Recherches historiques et politiques sur les États-Unis de l'Amérique septentrionale. Paris 1788. OC Bd. 8, S. 1-42. S. 129: der von Monsieur Abbé Raynal ausgesetzte Preis Abbé Raynal, Autor des Werkes Histoires des deux Indes (Amsterdam 1770), begründete 1780 an der Akademie von Lyon einen Preis auf die Frage nach den Vor- und Nachteilen der Entdeckung Amerikas. S. 137: taille direkte Abgabe in Frankreich seit dem 11. Jahrhundert, dauerhaft seit dem 15. Jahrhundert Das im Original sich anschließende, hier nicht aufgenommene Supplement enthält die französische Übersetzung der US Verfassung von 1787 und den Kommentar von Condorcet.

6. Der wahre und der falsche Volksfreund [ 1 7 9 0 - 1 7 9 1 ] OC Bd. 1 , S . 529-533.

7. Über die Bedeutung des Wortes revolutionär [1793] Journal d'Instruction sociale. OC Bd. 12, S. 615-624. S. 157: Die Notwendigkeit, der Tyrannen ... John Milton, Paradise Lost, Buch IV, 393f.: „So spake the Fiend, and with necessity / The tyrant's plea, excused his devilish deeds"

8. Über die Notwendigkeit, die Verfassung durch die Bürger ratifizieren zu lassen [1789] OC Bd. 9, S. 413-430. Der Text ist vor dem Hintergrund der Diskussion um die Kompetenzen der Nationalversammlung entstanden und thematisiert die zentrale Frage, ob die Deputierten das Recht besitzen, eine vollkommen neue Verfassung auszuarbeiten. S. 164: mémoires Versammlungsprotokolle, die Informationen zum Verlauf der Diskussion und zu den Abstimmungsergebnissen enthalten. S. 164: Die Gründe hierfiir ... Condorcet: Essai sur la constitution et les fonctions des assemblées provinciales (1788), in: OC, Bd. 8, S. 115-659. S. 166: bailliage s. o. S. 167: In einer anderen Schrift ... Condorcet: Lettres d'un bourgeois de New-Haven à un citoyen de Virginie sur l'inutilité de partager le pouvoir législatif entre plusieurs corps (1787), in: OC, Bd. 9, S. 1-93.

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Anmerkungen und Textnachweise

S. 168: als einfacher Bürger ... Condorcet scheiterte bei dem Versuch, in die Ständeversammlung von 1789 gewählt zu werden. S. 169: Rechteerklärung Gemeint ist die zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht fertiggestellte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, über deren Form und Inhalt ebenso wie über ihr Verhältnis zur künftigen Verfassung im Sommer 1789 zunächst in der Nationalversammlung und dann in einem gesonderten Ausschuß beraten wurde. Condorcet, der auch einen eigenen Entwurf zu den Beratungen beisteuerte, gehörte zu den produktivsten und einflußreichsten Publizisten, welche die Debatte von außen begleiteten und in ihrem Sinne zu steuern versuchten. In der endgültigen Form der Erklärung, die am 26. August 1789 von der Nationalversammlung angenommen wurde, fand sein Vorschlag einer zeitlich befristeten Geltung der Verfassung jedoch keine Berücksichtigung.

9. Brief eines jungen Mechanikers an die Verfasser des Républicain [1791] Erschienen in: Le Républicain, Juli 1791. OC Bd. 12, S. 239-241. S. 171: Ami des patriotes Der Ami des patriotes ist dem Lager der gemäßigten Monarchisten zuzurechnen. S. 171: Zivilliste Bei der Zivilliste handelt es sich um die Abgaben, aus denen der Königshof finanziert wird. Die Bemerkung ist insofern doppeldeutig, als auch die Kosten für den Ami des patriotes aus den Mitteln der Zivilliste stammen. S. 171 : Großämter hohe repräsentative Ämter des Königshauses, meist die direkten Diener des Königs. S. 171: des turnusgemäßen Vorsitzenden Der Vorsitz in der Nationalversammlung wechselte ca. alle zwei Wochen nach dem Rotationsprinzip.

10. Verfassungsentwurf, der Nationalversammlung vorgeschlagen [1793] OC Bd. 12, S. 333-501.

Personenregister

Ajax 154 Arendt, Hannah 11, 19, 27, 30, 41 Aristides 84 Aristoteles 14 Aulus Gellius 151 Barnave, Antoine 151 Baudeau, Abbé 271 Benjamin, Walter 33 Bertier de Sauvigny, Louis Bénigne François 151 Bèze, Théodor de 81,271 Bourdaloue, Louis 271 Burke, Edmund 109 Calvin, Jean 81 Cäsar 82 Catod. Ä. 82 Catod. J. 84 Chamillard 109 Charles II 156 Cicero 89 Comte, Auguste 16 Constant, Benjamin 12, 15, 20, 41 f. Courtin, Jean 109 D'Alembert, Jean-Baptiste 13 Danton, Georges 29 De la Fargue, Jean 88 De Sartine, Antoine 88 Des Forges 88 De Staël, Germaine 12 Elisabeth I 109 Epameinondas 84

Foulon de Doué, Joseph 151 Fox, Charles James 100,272 Franklin, Benjamin 142 Frossard, Benjamin Sigismond 20 George I 156 George III 156 Guicciardini, Francesco 14 Heinrich IV 90,109 Hérault de Séchelles, Marie-Jean 36 Hobbes, Thomas 12,34 Homer 66, 154 Hugo Capet 146 Hume, David 14,33 Jefferson, Thomas 32 Kant, Immanuel 24, 33 Karl der Große 154 Karl V 81 Katharina I 109 Katharina II 109 Kempelen, Wolfgang von 33, 171 La Fayette 129 Le Gentil, Guillaume 70,271 Locke, John 14 Ludwig XIV 109,171,271 Ludwig XV 109 Ludwig XVI 34 Luther, Martin 81 Lykurg 116 Macaulay, Catharine

109

Personenregister

276 Machiavelli, Niccolo 14, 36,134, 140 Madame de Lambert (Anne-Thérèse de Marguenat de Courcelles) 109 Madame de Maintenon (Françoise d'Aubigné) 171 Marat, Jean Paul 29 Marc Aurei 84 Maria-Theresia 109 Marquise de Châtelet, Émilie 109 Mason, George 272 Mazzei, Filippo 129, 272f. Melanchthon, Philipp 81 Milton, John 273 Mirabeau, Honoré-Gabriel Riqueti de 27 lf. Mirabeau, Victor Riqueti de 272 Montaigne, Michel de 109 Montesquieu, Charles de Secondât 28, 37, 70, 133 Moreau, M. 88 Page, M.

88

Paine, Thomas 12, 15, 32, 34 Phokion 150 Pitt, William 100, 109, 272 Plutarch 82,271 Princesse des Ursins, Marie-Anne de la Trémoille 109 Raynal, Abbé 129,273 Rivière, M. 88f. Robespierre, Maximilien de 29, 36

Rosanvallon, Pierre 39, 42 Roullié, M. 109 Rousseau, Jean-Jacques 11 f., 19, 26, 29f., 33-36, 42 Saint-Pierre, Abbé 132, 138 Saint-Pierre, Henri Bernardin de 271 Saint-Simon, Henri de 16 Schmitt, Cari 31,38 Schoelcher, Victor 20 Servet (Michael Servetus) 81 Sieyes, Abbé 11,14, 25, 29, 39f. Smith, Adam 12,14 Sokrates 117 Solon 116 Stanhope, Charles 100,272 Ternai, Chevalier de (Charles-Henry-Louis d'Asac) 88 Terrai, Abbé 100 Theophrast 150 Tocqueville, Alexis de 20-22,42 Tromelin, Chevalier de 88,271 Turgot, Anne Robert Jacques 14, 34f., 271 Urbinati, Nadia 42 Vaucanson, Jacques de 33, 171 Voltaire 13, 122, 133, 141 Zwingli, Ulrich 81