BAND 1 Kleine Politische Schriften: Herausgegeben von Harald Bluhm 9783050085098, 9783050041759

Bislang ist von Alexis de Tocqueville, dem sozialwissenschaftlichen Klassiker, nur ein Teil seiner großen und kleineren

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German Pages 223 [224] Year 2006

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BAND 1 Kleine Politische Schriften: Herausgegeben von Harald Bluhm
 9783050085098, 9783050041759

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Alexis de Tocqueville Kleine politische Schriften

Schriften zur europäischen Ideengeschichte Herausgegeben von Harald Bluhm

Alexis de Tocqueville

Kleine politische Schriften Herausgegeben von Harald Bluhm unter Mitwirkung von Skadi Krause

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung und der Friedrich-Naumann-Stiftung

Abbildung auf dem Frontispiz: Theodore Chasseriau: Alexis de Tocqueville (Lithographie) © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

ISBN 3-05-004175-7 ISBN 978-3-05-004175-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Daten Verarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Veit Friemen, Berlin Druck: MB Medienhaus Berlin GmbH Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Einleitung: Tocqueville - der klassische Analytiker der modernen Demokratie

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1. Über die politischen Wissenschaften [1852]

49

2. Denkschrift über den Pauperismus [1835]

61

3. Die sozialen und politischen Verhältnisse Frankreichs vor und nach 1789 [1836]

81

4. Gedanken über Algerien [Oktober 1841]

109

5. Bericht über die Demokratie in der Schweiz [1848]

163

6. Rede vor der Deputiertenkammer [27. Januar 1848]

179

7. Rede zur Frage des Rechts auf Arbeit [12. September 1848]

191

8. Bericht der Antragskommission zur Verfassungsänderung [8. Juli 1851] Personenverzeichnis

. .

203 221

Vorwort

Während im vorigen Jahr der 200. Geburtstag von Alexis de Tocqueville im angelsächsischen und französischen Sprachraum ausgiebig und ertragreich akademisch begangen wurde, rief das Jubiläum hierzulande wenig Resonanz hervor. Einmal mehr zeigte sich, dass dieser Klassiker der Politik- und Sozialwissenschaften - trotz seiner Aktualität - in der Bundesrepublik ein randständiges Dasein fristet. Der vorliegende Band kann solche Desiderata nicht beseitigen. Er kann jedoch durch das Verfugbarmachen der kleinen politischen Schriften von Tocqueville Einblicke in sein komplexes politisches Denken geben und vielleicht mehr Neugier wecken. Auch dieses Buch ist das Ergebnis kooperativen Zusammenwirkens - ohne die Förderung der Übersetzung durch die Robert Bosch Stiftung wäre es nicht entstanden. Dafür danke ich der Stiftung und Herrn Dr. Hahn. Insbesondere bin ich Skadi Krause und auch Joachim Wilke für die gedeihliche Kooperation bei der Übersetzung verpflichtet. Alle Texte beziehen sich auf die (Euvres completes, Edition definitive unter der Leitung von Jacob Peter Mayer (18 Bd. Paris 195Iff.), deren Schatz an Erklärungen selektiv für einige Fußnoten genutzt wurde. Bereits vorliegende Teilübertragungen ins Deutsche (Text 1, 3 und die Auszüge aus den Reden - Text 6, 7 und 8) mussten komplett neu übersetzt werden. Die Anfange der Arbeit an diesem Band fielen in die Zeit, als ich eine Professur an der Humboldt-Universität vertrat und während der Frau Guske und Frau Hoffmann tatkräftig die Literaturbeschaffung und Texterfassung beförderten. Gedankt sei auch der Friedrich-Naumann-Stiftung, die das Projekt unterstützt hat. Seitens des Akademie Verlages war die Ermutigung des Projektes durch Herrn Giesler und die intensive Zusammenarbeit mit Herrn Dammaschke wesentlich für das Gelingen. Herr Friemert hat umsichtig die Druckvorlage erstellt. Mit den kleinen politischen Schriften von Tocqueville wird die Reihe Schriften zur europäischen Ideengeschichte eröffnet, in der jährlich ein bis zwei Editionen erscheinen sollen. Berlin, im Juli 2006

Harald Bluhm

Einleitung Tocqueville - der klassische Analytiker der modernen Demokratie

I. Republikanisches Denken und stereoskopischer Blick Tocqueville ist der herausragende politische Denker des 19. Jahrhunderts. Er hat als erster die moderne Demokratie analysiert und ihren unaufhaltsamen Siegeszug diagnostiziert. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass dieser Siegeszug viel komplizierter war und ist, dass auf Wellen der Demokratisierung Gegenbewegungen und Rückschläge folgen. Zudem hatte Tocqueville nur den Beginn der Demokratie vor Augen, denn die Ausdehnung des Wahlrechts auf die Bürger aller Schichten und vor allem auf alle volljährigen Männer und Frauen fand erst im 20. Jahrhundert statt. Seine Werke zu historisieren und in die Zeit zu versetzen, ist wichtig, jedoch verdienen die Schriften mehr als antiquarische Aufmerksamkeit. Was diesen unkonventionellen Klassiker auszeichnet und bis heute interessant macht, ist nicht eine ausgearbeitete Theorie. Dazu war er viel zu sehr ein Analytiker der Entstehung, des Funktionierens und der Pathologien der Demokratie. Vielmehr als seine politischen Konzepte im engeren Sinn oder seinen verschiedenen Diagnosen, überzeugt und fasziniert noch immer seine Denkweise. Neben der fur seine Zeit neuartigen Bildung idealtypischer politischer Begriffe wie Demokratie und Revolution, Freiheit und Gleichheit sowie Individualismus, beeindruckt sein stereoskopischer Blick, der auf Ambivalenzen zielt, der Vor- und Rückseiten von Prozessen betrachtet, ihre Paradoxien analysiert. Tocquevilles multifaktorielle Analysen sind komplex und wenden sich mit nüchternem Realismus und Engagement gegen die Verächter der Demokratie ebenso wie gegen ihre naiven Bewunderer. Als republikanischer politischer Denker steht er zwischen den verschiedenen politisch-ideologischen Strömungen wie dem Liberalismus und Konservatismus, ist vom Primat der Politik überzeugt und kritisiert den im 19. Jahrhundert raumgreifenden Ökonomismus. Bei dieser Denkweise verwundert es nicht, dass Tocqueville keine Schule gebildet, sondern als Solitär gewirkt hat, der in seinen Texten politische und sozialwissenschaftliche Beobachtungen mit philosophischen und moralischen Überlegungen verband. Diese hybride Form ist nicht nur stilistisch interessant, sondern erlaubt Einsichten aus verschiedenen Perspektiven zu formulieren und zu diskutieren. Tocqueville argumentiert erfahrungsnah. Seine Arbeiten sind nicht an ein fachwissenschaftliches Publikum adressiert, sondern an die gesellschaftlichen Eliten und gebildeten Schichten. Gleichwohl hatte er keinen exklusiven Bürgerbegriff wie andere Zeitgenossen, die die Demokratie

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Einleitung

nur für einen kleinen Kreis begüterter und gebildeter Personen, Menschen von „capacite" (Francis Guizot) reservierten. Aber gibt es weitere Gründe Tocqueville, der erst ist im 20. Jahrhundert zu einem Klassiker gemacht wurde, zu lesen? Warum sollte man sich außer den Hauptwerken auch noch weiteren Schriften zuwenden? Die vorliegende Auswahl kleiner politischer Schriften geht davon aus, dass es dafür mehrere gute Gründe gibt. Erstens ist Tocqueville als politischer Autor kleiner Texte und politischer Reden hierzulande kaum bekannt, da diese Arbeiten nur vereinzelt übersetzt und schwer zugänglich sind. Dieses Manko lässt die europäische Dimension seines Denkens, das neben den USA und Frankreich auch noch andere Länder im Blick hatte, in den Hintergrund treten. Zweitens zeigt Tocqueville in verschiedenen Rollen und in unterschiedlichen Textgenres, unter anderem als politischer und akademischer Redner sowie als Politikberater, dass der Übergang zur Demokratie besonders schwierig ist. Das war nicht nur unlängst, nach der Implosion der kommunistischen Regime ein großes Thema, sondern bleibt es im weltweiten Rahmen. Drittens hat Tocqueville die Entstehung der Demokratie im nationalstaatlichen Rahmen in ihren Stärken und Gefahren von einem neuen Standpunkt beobachtet und beschrieben. Für ihn ist die Demokratie nicht nur eine politische Struktur und Form, sondern in die Gesellschaft eingebettet und darüber hinaus eine Lebensform. Von dieser Warte aus, kann man auch die gegenwärtige Ablösung der Demokratie vom Nationalstaat denken, und zwar gleichgültig, ob man sie pessimistisch als Ende der Demokratie und Beginn eines postdemokratischen Zeitalters deutet oder ob man sie als einen Gestaltwandel hin zu Formen transnationaler Demokratie begreift - in beiden Fällen ist eine Vergewisserung über die Speziflka der vergehenden Form der Demokratie mit Tocqueville möglich. Wenn jedoch seine Denkweise für die Analyse der Entstehung und das Vergehen von neuen Phänomenen und Strukturen genutzt werden kann, wenn die Vor- und Nachteile der Demokratie jenseits des Nationalstaates mit dieser Denkweise erkundet werden können, dann ist Tocqueville kein periodisch von Staub zu reinigender Klassiker, sondern ein Autor, der uns helfen kann, die Gegenwart zu verstehen. Sein Werk bietet zudem eine wissenschaftliche und zugleich eine für die alltägliche Auseinandersetzung mit der Demokratie und ihren Krisen taugliche Begrifflichkeit und Sprache, die in die Selbstbeschreibung der Demokratie eingesickert sind, und in dieser Verknüpfung liegt seine ungebrochene Attraktivität. Der vorliegende Band soll dazu beitragen, Tocqueville den Platz einzuräumen, der ihm gebührt, nämlich den Rang eines europäischen Klassikers. Gerade deshalb wird mit seinen Texten die Reihe Kleine Schriften europäischen Denkens eröffnet. Die Auswahl politischer Schriften von Tocqueville aus den Jahren 1835-1852 präsentiert Texte, in denen er seine Zeit zu begreifen sucht und mit seinen Schriften wissenschaftlich inspirierte Interventionen vorgelegt hat, die von Reflexionen über die Rolle der modernen politischen Wissenschaften, Analysen zur Demokratie und die demokratische Revolution in Frankreich, in der Schweiz und ihren Auswirkungen bis zur soziale Lage und der Armut (Pauperismus) reichen und auch sein Engagement bei der französischen Kolonisierung Algeriens und aktuelle Stellungnahmen zur französischen Revolution von 1848 enthalten. Diese Schriften zeigen Tocqueville als einen Autor, der eine „neue politische

Tocqueville - der klassische Analytiker der modernen Demokratie

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Welt" erschließt, der mit Hoffnung und Sorge die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen beobachtet und aus mannigfachen politischen Enttäuschungen lernt, seine Positionen revidiert und korrigiert. Um seine Denkweise und ihre Attraktivität, die zum Mitund Selbstdenken anregt, verständlich zu machen, sind knappe Erläuterungen zum Leben und Werk, zu grundlegenden demokratietheoretischen Überlegungen und den Kontexte der ausgewählten Texte nötig.

II. Leben und Werk im Zeitalter der Revolution Das Denken von Alexis de Tocqueville (1805-1859), seine wissenschaftliche und politische Arbeit standen Zeit seines Lebens im Kontext der Französischen Revolution von 1789. Alle seine Schriften kreisen unmittelbar oder mittelbar um die Ursachen und Folgen dieses epochalen Geschehens. Tocqueville hielt stets an ihrem großartigen Anfang fest, kritisierte jedoch ihre Radikalisierung und das Ausbleiben einer stabilen liberalen Ordnung. Von 1848 an thematisierte Tocqueville das offene Ende der Revolution und beobachtete deren Wiederkehr in der Form politischer und sozialer Umwälzungen. So schrieb er in den 1850 verfassten Erinnerungen·. „Auf das Ancien regime war die konstitutionelle Monarchie gefolgt, auf die Monarchie die Republik, auf die Republik das Kaiserreich, auf das Kaiserreich die Restauration; dann war die Julimonarchie gekommen. Nach jeder dieser Wandlungen hatte man erklärt, daß die französische Revolution das, was man voll Dünkel als ihre Aufgabe bezeichnete, erfüllt habe und nun beendet sei: man hatte es gesagt und geglaubt. Leider hatte auch ich diese Hoffnung gehegt... Jetzt lebt die französische Revolution wieder neu auf, denn sie ist immer dieselbe. Je mehr sie fortschreitet, um so mehr entfernt und verdunkelt sich ihr Ziel." (Tocqueville 1954, S. 113) Das große Thema der Revolution wird von Tocqueville auf besondere Weise erschlossen. Er hat, wie das Zitat verdeutlicht, ein weites Verständnis von Revolution, das heißt sie realisiert sich in großen Zeiträumen und ist nicht auf den politischen Wandel beschränkt, sondern geht mit einem langfristigem strukturellem Wandel der Gesellschaft einher. Die Revolution wird zudem kaum auf direktem Weg thematisiert. Vielmehr sind die Demokratie in den USA, die Vorgeschichte der Revolution in Frankreich, Demokratisierungsprozesse in Europa und auch Kolonisierungsprozesse die unmittelbaren Gegenstände seiner Schriften. Positiv gefasst, stehen die sozio-kulturellen Bedingungen einer freiheitlichen demokratischen Ordnung sowie das Verhältnis von Freiheit und politische Gleichheit im Zentrum. Statt um Revolutionsgeschichte im engeren Sinn geht es um Probleme der Moderne und um Gegenwartsdiagnostik. Der am 29. Juli 1805 in Paris geborene Tocqueville entstammte einer alten normannischen Adelsfamilie. Er lehnte es aber frühzeitig ab, seine Titel zu fuhren, und realisierte eine durch eigene Leistungen getragene aristokratische Lebensform als politischer

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Einleitung

Schriftsteller und Politiker. Allein sein Lebensweg war nicht sehr lang, Tocqueville starb bereits mit 54 Jahren an den Folgen einer Tuberkulose-Erkrankung am 16. April 1859 in Cannes. Tocquevilles Familie stand der Revolution von 1789 zunächst positiv gegenüber. Dies änderte sich, als der Urgroßvater Chretien de Malesherbes - er war Reformminister unter Ludwig XVI. und hatte mit nobler Geste die Verteidigung des angeklagten Königs vor dem Nationalkonvent übernommen - 1794 guilliotiniert wurde. Dieses einschneidende Ereignis und weitere Verluste, die die Familie unter der Schreckensherrschaft der Jakobiner zu erleiden hatte, führten bei den meisten Familienmitgliedern zu einer distanzierten bis ablehnenden Haltung gegenüber der Revolution. Die nach 1814 erfolgende und bis 1830 währende Restauration wurde von ihnen dann als eine Zeit der Beruhigung der turbulenten Verhältnisse wahrgenommen. In dieser Periode verbrachte Tocqueville seine Jugend. Der ehrgeizige junge Mann unternahm Reisen, betrieb seine Ausbildung als Jurist und arbeitete ab 1827 als Hilfsrichter. Daneben vervollkommnete er seine Bildung, hörte 1828/30 unter anderem die legendären Vorlesungen zur Geschichte Frankreichs und zur Geschichte der europäischen Zivilisation von Francois Guizot, der Politik und Gesellschaft strukturell und vergleichend behandelte.1 Seinerzeit lernte er auch Gustave de Beaumont kennen, der bald zu seinem engsten Vertrauten wurde. Mit ihm eignete er sich das Gedankengut der liberalen Doctrinaires an und studierte die Werke Pierre Paul Royer-Collards (vgl. Craiutu 1999). Bewusst nahm Tocqueville an den politischen Ereignissen seiner Zeit erstmals in der Julirevolution von 1830 teil, einer politischen Revolution durch die innerhalb von vierzehn Tagen der Bürgerkönig Louis-Philippe und das gehobene Bürgertum an die Macht kamen. Tocqueville, der früh eine politische Karriere anstrebte, leistete widerwillig den Amtseid, da er den neuen bürgerlichen Herrschern wenig Respekt entgegen brachte. Er entfloh dieser unbequemen Situation durch eine Amerikareise, die dem Studium des Gefangnissystems der USA diente und die ihn zusammen mit seinem Freund Gustave de Beaumont vom 11. Mai 1831 bis 20. Februar 1832 durch einen großen Teil der 13 Bundesstaaten führte.2 Die Beobachtungen, Reflexionen und Erfahrungen der Reise wurde zur Grundlage für sein Hauptwerk, die Schrift Über die Demokratie in Amerika (im Folgenden DA). Erweitert wurde diese Basis durch seine „zweite Reise nach Amerika" (George Pierson), nämlich jene umfangreichen Studien von Materialien, die Tocqueville 1833/34 in Paris zum Ausbau seiner Kenntnisse unternahm, wobei ihm zwei in Paris lebende Amerikaner als Forschungsassistenten hilfreich zur Seite standen.

1 2

Zu Guizot vgl. Rosanvallon 1985 und 1988 und zu seinem Einfluss auf Tocqueville vgl. Siedentop 1994, 1997. 140 von 271 Tage, hielten sich Tocqueville und Beaumont in großen Städten auf. Vgl. zu allen biographischen Angaben die Biographie von Andre Jardin (1991). Zur Reise vgl. http:// www.tocqueville.org/chap4b.htm. Das Ergebnis der Reise im engeren Sinn, die mit Beaumont verfasste Studie zum Gefangnissystem, erschien 1833 (dt. 1833).

Tocqueville - der klassische Analytiker der modernen Demokratie

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Der erste Band über die Demokratie wurde - durch immer neue Forschungsarbeiten mehrfach verzögert - am 23. Januar 1835 publiziert und machte Tocqueville umgehend zu einem prominenten Autor.3 Das Buch ist die erste umfassende Analyse der amerikanischen Demokratie. Die Darstellung setzt bei der Geographie und den besonderen geschichtlichen Ausgangspunkten wie der Ansiedlung ausgewanderter Engländer und der Gründung einer Republik ein. Davon ausgehend untersucht Tocqueville die Umsetzung der Volkssouveränität auf der Ebene der Gemeinde, der einzelnen Staaten bis zur Bundesregierung und geht dabei besonders auf die Verfassung, das Rechtssystem und die politischen Institutionen ein. Aus der Perspektive der Zeitgenossen enthielt das Werkt drei Diagnosen, die es in besonderer Weise lesenswert machten. Erstens diagnostizierte Tocqueville die Existenz einer gesellschaftlichen Elite auch unter demokratischen Bedingungen, ohne dass er dafür exklusiv die gebildete Mittelschicht ausmachte. Zweitens setzte er die moderne Form von Demokratie mit repräsentativer Demokratie gleich, und drittens hob er hervor, dass die Demokratie nicht nur ein politisches Regime ist, sondern zugleich auch eine Gesellschaft- und Lebensform darstellt.4 Der zweite Band von Über die Demokratie in Amerika erschien im April 1840 in Paris, nahezu zeitgleich die Übersetzung in London und Ende des Jahres in New York. Viele neue Anregungen, hauptsächlich durch die Englandreise von 1835, immer wieder changierende konzeptionelle Erwägungen und mehrere Anläufe einer politischen Karriere, die erst 1839 mit der Erlangung eines Angeordnetenmandates gekrönt wurden, hatten zu Verzögerungen gefuhrt. Wurde nach der Publikation des ersten Bandes Tocqueville bereits viel öffentliche Anerkennung zu Teil - 1838 wurde er etwa zum Mitglied der Academie des Sciences Morales et Politiques in Cherbourg ernannt - , so trat er ein Jahr nach der Publikation des zweiten Bandes über die Demokratie, der eine viel reserviertere öffentliche Aufnahme erfuhr, mit seiner Mitgliedschaft in der renommierten Academie Fran^aise in den Kreis der großen Denker Frankreichs ein. Die Karriere des politischen Schriftstellers und des Politikers waren eng miteinander verbunden, und die publizistischen Erfolge dienten lange Zeit dem Ziel, politisch zu reüssieren. Der bekannte Autor suchte sich als Algerien-Experte zu profilieren. Während der 1848er Revolution, die ein modernes und allgemeines Wahlrecht durchsetzte, wurde Tocqueville Mitglied der konstituierenden Versammlung. 1849 erfolgte die Ernennung zum Außenminister. Aufgrund einer Erkrankung zog er sich 1850 aus der Politik zeitweilig zurück und schrieb während der Rekonvaleszenz seine Erinnerungen (1850/51, dt. 1954). Mitte 1851 engagierte er sich noch einmal in der Verfassungskommission, doch endete seine politische Karriere abrupt mit dem Staatsstreich von Louis-Napoleon Bonaparte im Dezember 1851. Der Neffe von Napoleon I. schuf ein Jahr später ein Kaiserreich. Von den politischen Ereignissen enttäuscht zog sich 3

4

Die Originalausgabe von 500 Exemplaren war rasch vergriffen. Im gleichen Jahr erschienen eine zweite und dritte Auflage (2.000 Ex.) und bis 1839 insgesamt sieben weiter französische Ausgaben (vgl. Melonio 1998, S. 28f). Eine englische Übersetzung erschien 1835 in London und 1838 eine amerikanische Ausgabe. Zur politischen Rezeption von Tocquevilles Büchern in Frankreich vgl. Melonio 1998, Kap. 1 und 2.

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Einleitung

Tocqueville in die innere Emigration zurück. Er schrieb historische Studien über das Ancien Regime vor 1789, die freilich einen enormen Gegenwartsbezug hatten. Nach wie vor interessierten ihn die Wirkungen der französischen Revolution und die Frage, warum sich der revolutionär-egalitäre Geist in Frankreich halten und eine stabile liberale Ordnung verhindern konnte. Das 1856 erschienene desillusionierte Spätwerk, L 'Ancien Regime et la Revolution (im Folgenden AR, dt. 1978) entwickelt eine Deutung der französischen Revolution, die im universalistisch-religiösen Charakter die Ursache ihrer Radikalisierung und Unabgeschlossenheit erkennt. Darüber hinaus enthält diese Schrift eine Darstellung der Verselbständigung staatlicher Strukturen sowie die erste große Kritik des Intellektuellen als einem engagierten Schriftsteller, der kaum Erfahrungen mit politischer Praxis hat. Tocqueville - so zeigt der knappe Überblick - war Autor wegweisender Werke, renommiertes Mitglied von Akademien und ein ambitionierter Politiker. Seine unorthodoxen Positionen bezeichnete er als „Liberalismus neuer Art" 5 , womit er sein Engagement fur Freiheit, Vielfalt und Individualität unter den neuen Bedingungen der modernen Massendemokratie treffend umschrieben hat. Alan Kahan (1992) prägte dafür die Formel vom „aristocratic liberalism", mit der er auf ein Engagement für Freiheit und Demokratie abzielt, welches eine Distanz zu den Massen wahrt und die Bedeutung von Individualität betont. Wie John Stuart Mill ergriff Tocqueville Partei für Minderheitenschutz und räumte den gebildeten Schichten eine Vorrangstellung in der Gesellschaft ein. Dennoch ist das Denken Tocquevilles nicht aus einem Guss. Es akzentuiert Freiheit, Vielfalt und öffentliche Tugend und geht von einer zentralen Bedeutung der Politik aus, aber nicht primär im Sinne der Steuerung von Prozessen oder nur mit Blick auf das Handeln von Eliten, sondern es betont den Bürger und dessen Engagement, es intendiert die Selbstregierung durch eine Bürgerschaft. In diesem Rahmen variiert Tocqueville seine politische Position in vier Phasen: Bis Mitte der 1830er Jahre ist der junge Tocqueville ein skeptischer Bewunderer der amerikanischen Demokratie, deren dynamischer Zivilgesellschaft und der unbürokratischen Regierungsform. Spätestens ab 1840, sichtbar mit dem zweiten Band über die amerikanische Demokratie, schließt sich eine Phase des wachsenden Pessimismus und der Distanz zu den liberalen Doctrinaires an. Der Autor betrachtet das Schicksal der Demokratie und der Freiheit in Frankreich mit zunehmender Sorge. Tocqueville sucht in dieser Situation nach Möglichkeiten, um Frankreich und dessen Mittelklasse politisch zu vitalisieren und nationale Größe zu gewinnen - beide Motive mit ihren nationalistischen und imperialen Momenten tragen Tocquevilles Engagement bei der Kolonisierung Algeriens. Die dritte Phase seines politischen Denkens gewinnt in der Zeit der 1848er Revolution Konturen. Tocqueville agiert als Politiker, als Minister, als Abgeordneter und sucht dem Geist der Revolution, der drohenden sozialen Umwälzung mittels einer liberalen Ordnung zu begegnen. Er revidiert dabei außenpolitische Positionen, betont Frieden und Sicherheit und unterstützt sogar sozial-

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Vgl. Tocquevilles Brief vom 24. Juli 1836 an Eugene Stoffels in: (Euvres (Ed. Beaumont) Bd. I, S. 433, dort spricht er von sich als „un liberal d'une espece nouvelle".

Tocqueville - der klassische Analytiker der modernen Demokratie

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politische Programme. Jedoch kaum eines seiner Ziele wird realisiert und nach dem bonapartistischen Staatsstreich von Ende 1851 betrachtet er die demokratische Entwicklung in Frankreich als gescheitert. Die vierte Phase von Tocquevilles Denken beginnt mit dem Rückzug aus der praktischen Politik jenseits der Aktualität, aber mit kritischem Blick auf die Gegenwart. Tocqueville vergräbt sich in historische Studien zur Vorgeschichte von 1789, um das politische Erbe der großen Revolution „zu retten". Er ist nunmehr nur Bürger eines „geistigen Vaterlandes", während ihn der zeitgenössische Bonapartismus abschreckt.

III. Analytiker der Demokratie Tocqueville ist ein Analytiker der Demokratie, der die sich entwickelnden gesellschaftlichen und politischen Strukturen in Europa und den USA untersucht. Dabei nutzt er immer wieder den Vergleich als wissenschaftliche Methode, um auf diese Weise die Vielfalt der Institutionen und Handlungsformen herauszuarbeiten. In seine Analyse der Demokratie bezieht Tocqueville unterschiedliche gesellschaftliche Sphären (Politik, Soziales, Kultur, Wirtschaft) und unterschiedliche Strukturen politischer Systeme (Gemeinde, Staaten bzw. Verwaltungsbezirke, Nationalstaaten) ein, weshalb er als ein Mehrebenentheoretiker der Politik bezeichnet werden kann. Seine Denkweise kombiniert spezifische strukturelle, handlungsbezogene, soziokulturelle Einsichten mit Erkenntnissen, die sich erst durch die Verschränkung von Perspektiven erschließen, wodurch er komplexe sozio-politische Wechselwirkungen aufzuzeigen vermag (Elster 1991,1993). Bei diesem umfassenden methodischen Herangehen ist es nicht verwunderlich, dass seine Analysen durch einen vielfaltigen Gebrauch des Demokratiebegriffs getragen werden, der nicht leicht zu bestimmen ist.6 Auf einer elementaren Ebene wird die Demokratie mit der Durchsetzung gleicher Bedingungen identifiziert. Damit ist sowohl die tendenzielle Einebnung traditioneller hierarchischer Strukturen gemeint als auch eine zunehmende Gleichheit politischer Bedingungen im Sinne des Wahlrechts. Die demokratische Revolution führt dazu, dass immer mehr Menschen aus lokalen und traditionalen Bindungen der agrarischen Gesellschaften herausgelöst und in die Politik, die einen offenen Zukunftsbezug hat, hineingestellt werden, was sie in mobilisierbare Akteure verwandelt. Diese Durchsetzung gleicher politischer Verhältnisse betrachtet Tocqueville als allgemein und unaufhaltsam (DA Bd. 1, S. 14), und er weiß genau, worauf dies hinausläuft, nämlich „man gewährt entweder jedem Bürger Rechte oder keinem" (DA Bd. 1, S. 81). Demokratische Ordnung oder Tyrannei lautet demnach die Alternative, die mehr als ein einfacher Gegensatz ist.

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Vgl. Rosanvallon 1995 und Schleifer 2000 Kap. 19. Rosanvallon zeigt, dass in Frankreich die Verbreitung des Demokratiebegriffs nach 1830 einsetzt und dass er ab 1848 als politischer Kampfbegriff und als wissenschaftlicher Begriff allgemein genutzt wird. Bei der politischen Linken löst er den emphatischen Republikbegriff sukzessive ab.

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Einleitung

Die weite Fassung des Demokratiebegriffs, der neben der politisch-institutionellen Dimension auch das Handeln von politischen Akteuren sowie die soziale Schichtung und die zivile Gesellschaft einzubeziehen versucht, ist neu und verweist zugleich auf eine Besonderheit von Tocquevilles Analysen. Seine generelle Annahme lautet, wenn politischen Institutionen und Gesetze den sozialen Institutionen und Handlungsweisen der Individuen entsprechen und wenn diese wiederum mit deren geistig moralischen Orientierungen sowie Tugenden konform gehen, dann könne eine Demokratie stabil sein. Demokratie hat hier eine deutlich normative Dimension und ist als komplexes System verschiedener Wechselwirkungen und Entsprechungen zu begreifen. Der enge Demokratiebegriff von Tocqueville umfasst die legitime Herrschaft des Volkes in einem gegliederten politischen System mit kommunaler, staatlicher bzw. bundesstaatlicher Ebene und trägt ebenfalls normative wie deskriptive Züge. So fließen in Tocquevilles klassischer Schrift über Amerika, vor allem im ersten Band, zwei Analyseebenen ineinander, nämlich die Darstellung der amerikanischen Demokratie und die der Demokratie überhaupt.7 Die Darstellung der amerikanischen Demokratie betont deren geographische und historische Besonderheiten: eine Demokratie ohne vorhergehenden Feudalismus und ein nation-building ohne vorhergehendes state-bulding. Diese Demokratie wächst gleichsam von unten nach oben, und die Gemeinde gilt als Hort von Freiheit und Selbstverwaltung. Der Idealtyp der Demokratie, den Tocqueville in den Bänden über Amerika skizziert, und zwar im ersten Band eher indirekt und im zweiten dann direkt, setzt damit eine funktionierende Öffentlichkeit sowie starke soziale Bindungen und Überzeugungen voraus. In ihrer Angewiesenheit auf Identität, Tradition und gelebtes Engagement ist das Funktionieren von Demokratie bei Tocqueville an Voraussetzungen und Bedingungen geknüpft, die in der modernen Gesellschaft nicht ein für allemal gegeben sind, sondern immer wieder neu, nämlich durch politisches Handeln erzeugt werden müssen. Vor dem Hintergrund dieses spezifischen Verständnisses moderner Demokratie diagnostiziert Tocqueville Se/foigefahrdungstendenzen, bei denen die mögliche Tyrannei der Mehrheit vor allem im ersten Band ganz oben auf der Agenda steht. Diese Gefahr von Willkür wird im zweiten Band über die Demokratie mit der Tendenz zur Mikrotyrannei verbunden, da die gewerbliche Geschäftigkeit darauf hinauslaufe, dass die Individuen sich gleichgültig werden (vgl. Offe 2004, S. 3 lf.). Ihre Folge ist eine Tyrannei der Seele, welche die Menschen an der entscheidenden Aufgabe hindert, nämlich „Herr ihrer selbst zu bleiben" (DA Bd. 2, S. 208). Während die Tyrannei der Mehrheit im Sinne antiker Klassiker als „Entartung der Demokratie" gedacht ist, die nur den egoistischen Interessen der Vielen folgt, ist die Tyrannei der Seele eine freiwillige Knechtschaft, die mit der Zentralisation der Verwaltung oder einem neuen Despotismus der Industrie einhergeht und einen Verfall von politischer Kultur und Politik impliziert. Die Gefahren der Demokratie bzw. der Moderne, ihre eventuelle Verkopplung und der möglichen Umschlag ins Gegenteil, nämlich in neue Formen politischer oder sozialer Tyran-

7

Zum Demokratiebegriff als Idealtypus vgl. Nisbet 1988 und jüngst Boudon 2005a bzw. 2005b.

Tocqueville - der klassische Analytiker der modernen Demokratie

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nei, erwachsen demnach aus ihrem Kern. Sie können, und das ist entscheidend, nur mit mehr Demokratie eingeschränkt werden - vorausgesetzt es gibt ein angemessenes Institutionensystem. Bei diesem komplexen Argument wird die enorme Distanz zu konservativen Autoren deutlich, die auf Hegung und Begrenzung der Demokratie durch vor- bzw. außerpolitische Kräfte und Ressourcen wie Religion und Tradition setzen, ohne zu erkennen, dass diese Ressourcen nicht gegeben sind, sondern in der Moderne unter neuen Bedingungen künstlich reproduziert und erhalten werden müssen. Demokratie ist für Tocqueville also eine dynamische und zugleich fragile Gesellschaftsform, die aus sich heraus ihren Untergang und ihr Gegenteil produzieren kann. Die Spannung von Freiheit und Gleichheit sowie der moderne Individualismus spielen dabei eine besondere Rolle. Der Zauber der Freiheit und der Sog der Gleichheit Die Demokratie gefährdet sich für Tocqueville selbst, weil sie die Freiheit und die Unabhängigkeit der Bürger durch zunehmende Gleichheit und deren Folgewirkungen unterminiert. Diese Gefahr wird anhand ihrer amerikanischen und der französischen Variante in struktureller und ideell-kognitiver Hinsicht aufgezeigt. Dabei werden eine föderale und eine zentralisierte etatistische Ordnung und die jeweiligen politische Kultur mit ihren Werten, Sitten und Leidenschaften, in die die Ideen eingebettet sind, kontrastiert. Die amerikanische Demokratie - der evolutionäre Königsweg - ruht bei aller Ausbreitung der Gleichheit auf der Freiheit, die die Auswanderer aus England mitbrachten, die leitend fur die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung war und die in den Institutionen der liberal-republikanischen Ordnung und lokaler Selbstverwaltung Gestalt annahm. Die französische Demokratie, das Muster des revolutionären Umbruchs, ist sozialer und kultureller Art. Sie ruht auf spezifischer Gleichheit und einer starken Gleichheitsidee, die bereits im Zeitalter des Absolutismus, der die aristokratischen Freiheiten vernichtet und eine Nivellierung betrieb, entstanden. Um diese Diagnosen zu begreifen, muss man die normativen Grundlagen von Tocquevilles Beurteilung genauer klären, nämlich wie die Idee der Freiheit und Gleichheit bestimmt und in ein Spannungsverhältnis gesetzt werden. Erst dann kann man die historischen Erklärungen und Mechanismen begreifen. Die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit ist für Tocqueville ein dynamischer Treibsatz, der unterschiedliche Dominanzen haben und nicht jenseits der jeweiligen gesellschaftlichen und sittlichen Kontexte verstanden werden kann. Die politische Freiheit des Bürgers wird von Tocqueville als Selbstzweck, als Eigenwert begriffen. Diese Idee ist unmittelbar weniger motivierend bzw. mobilisierend als die Gleichheit. Das größte Potential der Freiheit steckt zunächst im Kampf gegen Unfreiheit. Dauerhaftes Engagement für diesen Selbstzweck, für freies Handeln als generellen Wert, für die freie, unabhängige Lebensform, ist dagegen nur möglich, wenn von unmittelbaren Vorteilen abgesehen wird und wenn selbst bestimmtes Handeln als Lebensform geschätzt wird. Eine derart verstandene Freiheit setzt freilich ökonomische Unabhängigkeit ebenso voraus wie den Zugang zu den Mitteln der Politik. Diese Sicht kennzeichnet Tocquevilles aristokratischen Liberalismus, der die objektive und subjek-

Einleitung

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tive Seite von Chancen zur Realisierung von Freiheit betont. Insgesamt wird der Freiheitsidee eine spezifische Attraktivität zugeschrieben, da nur jemand, der von ihrem Zauber gefangen genommen wurde, Freiheit als solche schätzt, ihr länger folgt und die gesamte Lebensführung in diesem Sinne ausrichten kann.8 Die generelle Annahme lautet, dass Individuen, menschliche Gemeinschaften und Gesellschaften nur durch die Praxis der Freiheit ihr Potential entfalten können. Hier spricht allerdings weder ein Republikaner, der sich eigentlich ein Dauerengagement von Bürgern wünscht, noch ein Liberaler der nur den Schutz individueller Freiheiten sichern will. Vielmehr hebt Tocqueville auf eine institutionelle Ordnung ab, welche die Freiheit bewahren und zugleich republikanische Selbstregierung durch aktive Bürger ermöglichen kann. Was damit gemeint ist, wird im Text Die Verhältnisse in Frankreich vor und nach 1789 deutlich, in dem Tocqueville das moderne Freiheitsverständnis präzise mit dem aristokratischen kontrastiert. Es heißt dort: „Diese aristokratische Freiheitsauffassung erzeugt bei denen, die sie angenommen haben, ein übersteigertes Selbstwertgefühl und ein leidenschaftliches Unabhängigkeitsbedürfnis. Sie gibt dem Egoismus einzigartige Energie und Macht. Von Einzelnen gehegt, hat sie die Menschen oft zu den ungewöhnlichsten Handlungen bewegt; von einer ganzen Nation übernommen, schuf sie die größten Völker, die es je gab. ... Der modernen, demokratischen, und ich wage zu sagen, der richtigen Freiheitsauffassung zufolge ist jeder Mensch, da er mutmaßlich von der Natur mit dem notwendigen Wissen ausgestattet wurde, sich ihrer zu bedienen, von Geburt an Träger eines gleichen und unantastbaren Rechts, in allem, was nur ihn selbst betrifft, unabhängig von seinesgleichen zu leben und sein eigenes Los so zu gestalten, wie er es beabsichtigt. Sobald diese Freiheitsauffassung tief in den Geist eines Volkes eingedrungen ist und sich dort festgesetzt hat, ist die absolute und willkürliche Macht nur noch eine materielle Tatsache, ein vergängliches Akzidenz. Denn da jeder ein absolutes Recht auf sich selbst hat, ergibt sich, dass der souveräne Wille nur aus dem vereinten Willen aller hervorgehen kann. Dann hat auch der Gehorsam seine Sittlichkeit verloren, und es gibt nichts mehr außer den mannhaften und stolzen Bürgertugenden und der niedrigen Willfahrigkeit des Sklaven." [Text 3, S. 105] Tocqueville misst der Verfassung, den Rechten und vor allem den angemessenen rechtlichen Verfahren, die einen geregelten und vernünftigen Umgang der Bürger ermöglichen, enorme Bedeutung zu. Aber nur wenn die rechtlich-institutionellen Regelungen mit einer entsprechenden politischen Kultur korrespondierenn kann sich eine freiheitliche Ordnung erhalten. Denn „die Grundsätze der Ordnung, der Mäßigung der Gewal-

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Vgl. AR: 168 und Weber 1988, S. 7.

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ten, der wahren Freiheit, der aufrichtigen und tiefen Achtung vor dem Recht sind allen Republiken unentbehrlich" (DA Bd. 1, S. 7).9 Wenn die Freiheit geradezu poetisch durch einen besonderen Zauber gekennzeichnet wird, so kann, um im Bild zu bleiben, bei der Gleichheit wohl nur von Sog geredet werden. Die Gleichheit und die Leidenschaft für sie rufen eine permanente Dynamik hervor, da dieser Wert primär auf das Angleichen materielle Güter gerichtet ist - ein Prozess, der in Hinblick auf Konsum und Statusverbesserung im Prinzip unbegrenzt ist. Die Zunahme der Gleichheit bannt den Menschen in den Raum der Privatheit jenseits öffentlicher Freiheit, indem sie sich allenthalben im Hinblick auf ihre Güter miteinander vergleichen. Tocqueville unterscheidet eine berechtigte Leidenschaft für die Gleichheit im Sinne einer Aufstiegsorientierung, bei der die Kleinen den Rang der Großen erreichen wollen, von einer Gleichheitssucht, dem Versuch der Schwachen, die Großen auf ihre Stufe herunterzuziehen. Letztere läuft darauf hinaus, „einer Ungleichheit in der Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft vorzuziehen" (DA Bd.l, S. 81). Die Idee der Gleichheit und das Umsetzen von Gleichheitsvorstellungen führen nach Tocqueville zu Zentralisierungsprozessen in Verwaltung und Regierung und damit, zugespitzt formuliert, zur politischen Entmündigung, ja zur „Enteignung" der Bürger. Denn durch die Zentralisierung wird die Entwöhnung praktischer Freiheit verstärkt, und statt selbst zu handeln, rufen die Bürger nach dem Staat. Es ist dieser sich selbst verstärkende Kreislauf, der dem Etatismus zugrunde liegt. Gleichheit definiert Tocqueville nicht nur weniger präzise als Freiheit, vielmehr bekommen beiden Ideen einen divergierenden Status zugewiesen. Die Gleichheit - heißt es ohne nähere historische oder analytische Qualifikation - werde immer komparativ und nach ihrem Nutzen betrachtet. Aus dieser Quelle speist sich die qualitativ andere, breitenwirksamere Mobilisierungskraft dieses Wertes. Gleichheit ist für breitere Schichten attraktiv, weil sich Menschen immerzu vergleichen.10 Wenn die Gleichheit zur leitenden Idee avanciert, wie es für Demokratie typisch ist, wird aus dem Vergleichen jedoch leicht eine lähmende Beschäftigung, die in Neid mündet und obsessive Züge annimmt. Dies ist nach Tocqueville umso wahrscheinlicher, je mehr hinter dem Hang zur Gleichheit die Liebe zum Wohlstand steckt (DA Bd. 2, S. 43). Obwohl der Begriff der Gleichheit bei Tocqueville vage bleibt und, wie John Stuart Mill (1977b, S. 191) es formulierte, den Platz des Zivilisationsbegriffs einnimmt, unterscheidet er dennoch bei Bedarf zwischen bürgerlicher, politischer und später - insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus - sozialer Gleichheit. Tocquevilles Bestimmung von Freiheit und Gleichheit ist aus heutiger Sicht freilich überholt, da beide Kategorien nicht einfach als Gegenbegriffe mit derart unterschiedlichem Status konzipiert werden können. Gleichheit ist ein essentieller Bestandteil der 9 Neben den amerikanischen Juristen, als Form und Ordnung wahrender Elite, schätzte Tocqueville die Beteiligung der Bürger im Jury-System der USA außerordentlich hoch, so werde der Umgang mit dem Recht geübt und die Urteilskraft der Bürger bis in die untersten Schichten gebildet (vgl. DA Bd. 1, S. 394—415). 10 Zu Tocquevilles Rousseau Rezeption vgl. Hennis 1982 und Hecht 1998.

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Idee der Menschen- und Bürgerrechte. Außerdem ist der systematische Gegenbegriff zur Gleichheit nicht Freiheit, sondern Differenz. Bei Tocqueville wird dies nur indirekt deutlich, wenn er den Siegeszug der Gleichheit und die damit einhergehende Ausbreitung des Konformismus geißelt. Seine Überlegungen sind aber weniger wegen ihrer begrifflichen Konstruktionen interessant, wertvoll sind vor allem seine Diagnosen, in denen er absichtsvoll die Gefahren der Gleichheit dramatisiert und die endogen verursachten Gefahrdungen der Freiheit in politische Apathie, Tyrannei und Despotismus aufzeigt. Politik und moderner Individualismus Der Sache nach sind Individualisierung und Individualismus in der Moderne seit der Frühen Neuzeit und den Vertragstheorien ein Dauerthema; aber Konjunktur machte der Begriff des Individualismus erst ab den 1830er Jahren, und das wurde von Tocqueville wesentlich beeinflusst. Er prägt diesen Begriff erst im zweiten Band von Über die Demokratie in Amerika aus, wo er ihn vom Egoismus abgrenzt (DA Bd. 2, S. 147ff.; vgl. Schleifer 2000, S. 360)". Der Egoismus, die Selbstsucht, so Tocqueville, sei ein blinder Trieb, der Individualismus hingegen sei ein reflektiertes Gefühl, da es sich um die bewusste, privatistische Absonderung der Einzelnen, ihrer Familien und kleiner Gemeinschaften von der großen Gesellschaft handele. Beide Verhaltensweisen haben problematische Konsequenzen: „Die Selbstsucht dörrt alle Tugenden im Keim aus, der Individualismus legt vorerst nur den Quell der öffentlichen Tugenden trocken; mit der Zeit aber greift er alle anderen an und zerstört sie und versinkt schließlich in die Selbstsucht." (DA Bd: 2, S. 147). Hier wie auch beim emotiven Subjektverständnis knüpft Tocqueville an Rousseau an, der die Amour de Soi, eine natürliche Selbstliebe, die auf Selbsterhaltung zielt, und die Amour-propre, die Selbstsucht, unterscheidet, wobei er die Selbstsucht auf die Vergesellschaftung zurückfuhrt (vgl. Fetscher 1993, S. 65-75). Vor und parallel zu Tocqueville ist der Begriff des Individualismus im Saint-Simonismus geprägt worden, in einer sozialistische Denkströmung, die den mit der Aufklärung und der bürgerlichen Welt einsetzenden Vereinzelungsprozessen und der Konkurrenz durch Assoziation auf der Ebene der Familie, der Gemeinde, der Nation und der Staaten entgegentreten wollte.12 Tocqueville schließt hier ohne expliziten Bezug an und gibt dem Problem einen spezifischen Akzent. Tocqueville denkt soziale Integration in der Moderne nämlich als ein Problem der Generierung nicht mehr vorgegebener, sondern erst zu erzeugender und dabei stets instabiler Bindungen. Wenngleich er die Freisetzung des Individuums aus 11 Das Konzept wird in dem Band über das Ancien Regime historisch fundiert, Tocqueville entdeckt dort die paradoxe Form des kollektiven Individualismus. Vgl. AR, S. 103. Vgl. darüber hinaus zu den USA die Arbeit von Chain 1994, der den ursprünglichen amerikanischen Individualismus als Mythos behandelt. 12 In diesem Sinne nutzen Saint-Simonisten wie Saint-Amand Bazard, Michel Chevalier und Louis Blanc den neuen Begriff Anfang der 1830er Jahre (vgl. Koebner 1934).

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feudalen Bindungen nicht in den Mittelpunkt rückt, sind diese Bindungen ein Muster sozialer Integration, das in dieser Form in der modernen Gesellschaft nicht mehr greift. Desintegrationsprozesse von Gemeinschaften und Assoziationen sind der Moderne inhärent, während sie Bindungen nur zeitweilig ermöglicht. Das Individuum ist daher stets gefährdet, weil der aller solidarischen Bindungen und gemeinschaftlichen Verpflichtungen enthobene Einzelne ohnmächtig einer dominanter werdenden Staatsgewalt gegenübersteht. Die tätige Dimension des Individualismus forciert diese Gefahrdung und der Rückzug in den privaten Bereich trägt zum Verfall demokratischer Strukturen bei. Tocqueville nutzt hier die Denkfigur eines autokatalytischen Kreislaufes, um die Probleme sozialer Desintegration zu dramatisieren, und sein normatives Freiheitsverständnis erlaubt ihm, den Individualismus mit freiwilliger Knechtschaft in Verbindung zu bringen. Anders als die Sozialisten verschiedener Couleur bleibt Tocqueville aber nicht bei einer Diagnose der Individualisierungsprozesse in der Moderne stehen, die Rettung in der Industrie und in vagen Assoziationsformen sucht und im Individualismus fremdbestimmtes Handeln sieht. Vielmehr wird der republikanische Denker hier konkret und beschreibt, welche Formen von bürgerlicher und politischer Assoziation wichtig sind. Er untersucht die Rolle der Gemeinden, der Staaten und des Bundesstaates ebenso wie die bürgerlichen und politischen Vereine und streicht die Rolle der Presse für die Schaffung von Vereinigungen heraus. Dabei spielen Gemeinwohl, Gemeinsinn und politische Erfahrung als Gegenkräfte zum modernen Individualismus eine wesentliche Rolle. Während Gemeinwohl als inhaltliche Handlungsorientierung der Bürger und Politiker gefasst wird, ist Gemeinsinn eine Fähigkeit für öffentliches Engagement, das Assoziationen ebenso stiftet wie es durch das assoziative Engagement habitualisiert wird. Assoziationen sind für Tocqueville nicht allein auf Interessen gegründet, da Interessen immer schwanken und Stetigkeit erst gewinnen, wenn sie auch mit Gefühlen und Leidenschaften verbunden sind. Mit dieser Verknüpfung von Interessen und Leidenschaften werden von vornherein sowohl kognitivistische als auch utilitaristische Akteurskonzepte abgelehnt. Ein zentrales Mittel gegen den Individualismus entdeckt Tocqueville bei der Untersuchung der amerikanischen Demokratie im Eigeninteresse. Das wohlverstandene Eigeninteresse sei ein handlungsleitendes Prinzip, mit dem private und individuelle Interessen durch Bezug auf die Interessen anderer Akteure und der Gemeinschaft reflektiert werden, (vgl. DA II, S. 179-188).13 Es sei der pragmatische Geist und die demokratische Erfahrung, die dieses „Heilmittel" gegen den Individualismus fördern und das unabhängige und reflektierte praktische Handeln unterstützen. Bleibt dieses dosierte Engagement aus, so schlagen Demokratie und Individualismus in ihr Gegenteil um, nämlich in eine soziale und staatliche Macht, die auf fügsame, beschränkte Menschen ohne Individualität trifft. Der theoretische Ansatzpunkt, um eine solche Zukunft zu vermeiden, ist die systematische Einbettung individuellen Handelns in Gemeinschaf-

13 Zum Interessenkonzept vgl. auch Drolet 2003 S. 36-94, Lawler 1995, Mansfield 1995 sowie generell zum Verhältnis von Interessen und Leidenschaften Hirschman 1987.

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ten (Assoziationen, Organisationen, Schichten, Eliten), womit von vornherein die sozialen und politischen Bindungen wie ihre Reproduktion als Grundlage individuellen Handelns gedacht werden. Nur Individuen, die sich assoziieren und engagieren, die sich auf die politische Praxis einlassen, verfugen über die Erfahrungen, des Kompromisses, des Verhandeins und über die begrenzten Möglichkeiten von Strategien im politischen Raum. Gestaltung der Demokratie ist danach auf Ebene der individuellen Lebensführung nötig, um den nahe liegenden Rückzug ins Private, seine individualistischen Konsequenzen zu vermeiden und die soziomoralischen Voraussetzungen der Demokratie in einer zivilen Gesellschaft zu erzeugen. Auf der Ebene der politischen Ordnung und Institutionen ist die Gestaltung der Demokratie ebenso nötig, da eine sich selbst überlassene Ausbreitung der Gleichheit neue Formen der Tyrannei wahrscheinlich macht, die, wenn sie durch egalitäre Orientierungen verstärkt werden, kaum aufgehalten werden können.

IV. Themen und Texte Es gibt viele Lesarten von Tocqueville. Die einen sehen in ihm einen Gründer der Soziologie, andere einen philosophisch inspirierten Autor, weitere Deutungen betonen den Moralisten, und manche unterstreichen die Vielschichtigkeit seines Werkes und begreifen ihn als einen prinzipiell widersprüchlichen Autor. Doch jede Interpretation seines Werkes muss unvollständig bleiben, solange nicht neben den großen Arbeiten auch seine kleinen politischen Schriften systematisch mit in die Interpretation seines Werkes einbezogen werden. Für den vorliegenden Band konnte freilich nur ein wichtiger Ausschnitt des Werkes berücksichtigt werden, nämlich politische Schriften aus dem Zeitraum von 1835-1852, d.h. Aufsätze und Reden aus der Zeit nach der Amerika-Erfahrung. Sie zeugen von einer Periode vertiefter Auseinandersetzung mit der französischen Geschichte, von Studienreisen nach England und in die Schweiz sowie von einer immer wiederkehrenden Thematisierung der europäischen Revolution von 1848. Die Texte werden, bis auf den ersten Text, in der zeitlichen Reihenfolge ihres Entstehens wiedergegeben. Politik und politische Wissenschaften Die Rede Über die politischen Wissenschaften von 1852 ist ein Resümee von Tocquevilles Denken und verdeutlicht den konzeptionellen Ansatz seiner Arbeiten. Zugleich kann man an diesem Schlüsseltext ablesen, wie hellsichtig wiederholte Enttäuschung macht. Der Vortrag wird zu einem Zeitpunkt an der Academie des Sciences Morales et Politiques gehalten, als der von ihm schon länger befürchtete Rückfall in die autoritäre Form des Bonapartismus in Frankreich bereits vollzogen war. Tocqueville spricht als Präsident der Akademie und sein Thema ist das Verhältnis von Politik und Politikwissenschaft. Die politischen Wissenschaften müssten wie die Akademie stets institutionell und geistig unabhängig sein, sonst wären sie ohne Wert. Eine Voraussetzung dafür ist, dass man deutlich zwischen der Politikwissenschaft und

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der Politik unterscheidet. Die politischen Wissenschaften untersuchen die festen Bestandteile der Politik - genannt werden unter anderem die menschliche Natur sowie individuelle und gesellschaftliche Interessen. Sie trachten danach ihren Gegenstand theoretisch zu durchdringen, und zwar sowohl bei den allgemeinen als auch bei praktischempirischen Problemen. Ganz anders sehe es bei der praktischen Regierungskunst aus, die gerade nicht der theoretischen Logik folgte, sondern wechselnden praktischen Anforderungen. Tocqueville macht diesen Punkt sehr stark und betont, dass politische Schriftsteller, denen es als souveränen Autoren in ihrem Schaffen auf Kohärenz ankommt, nicht besonders geeignet sind, als Politiker oder unmittelbare Politikberater zu fungieren. Ihr Denken stünde der Politik mit ihren Kompromissen und vielfaltigen Verwicklungen fern. Selbst ein differenzierter Denker wie Montesquieu wäre wahrscheinlich ein schlechter Politiker gewesen. Diese Kritik an Montesquieu hat auch eine selbstkritische Note - gilt Tocqueville seinen Zeitgenossen doch als Montesquieu des 19. Jahrhunderts. Die politischen Wissenschaften haben im Sinne von Tocqueville ein praktisches Ziel. Es geht letztlich um das richtige, das angemessene Handeln, womit sich der Analytiker der Demokratie in die Tradition der praktischen Philosophie von Aristoteles und Rousseau stellt (vgl. Hennis 1982, S. 387). Zu ihnen zählen die Philosophie, die Moralwissenschaften überhaupt, die Ökonomie und die verschiedenen Zweige der Rechtswissenschaft, angefangen vom nationalen und internationalen Recht bis zum Zivilrecht. Diese Disziplinen hätten die Ordnung und Führung der Gesellschaft zum Gegenstand. Sie sind - hier muss an den weiten Demokratiebegriff erinnert werden - keine Staatswissenschaften, sondern wenden sich an politische und gesellschaftliche Eliten und an die Bürger. Tocqueville, in der Regel ein distanzierter Aufklärer, spricht davon, dass die politischen Wissenschaften ,jede Gesellschaft gleichsam in eine Art Begeisterung ein[hüllen], die den Geist von Regierten und Regierenden gleichermaßen belebt und woraus die einen wie die anderen, oft ohne es zu wissen und manchmal ohne es zu wollen, die Prinzipien ihres Handelns ableiten. Die Ungebildeten sind die einzigen, die in der Politik nur die Praxis erkennen." [Text 1, S. 53] Dass die politischen Wissenschaften einflussreich sein können, sehe man insbesondere an der großen Französischen Revolution, die ohne die politischen Schriftsteller, die sie vorbereitet hätten, kaum zu denken gewesen wäre. Indem er das Wirken dieser Autoren mit vielen ambitionierten Zielen wie der Aufhebung der Ungleichheit und der Umwälzung der ganzen Gesellschaft bei gleichzeitiger Praxisferne in ein kritisches Licht rückt, plädiert er zugleich für ein praktisches Verständnis von politischer Wissenschaft. Es ist dieses weite Verständnis, dass seine Denkweise trägt, welches philosophische, moralische, historische, rechtlich-politische und sozialwissenschaftliche Fragen verbindet. Die Konsequenzen von Tocquevilles realistischer Position treten hervor, wenn er die Rolle des Rechtes und der Institutionen betont und die freien Völker als große Querulanten bezeichnet, die Rechtsauseinandersetzung nicht scheuen und daher den Verfahrensregeln große Bedeutung zumessen [Text 1, S. 55]. Hier findet sich auch die glänzende Charakterisierung des französischen Nationalcharakters, den die Schriftsteller und Richter geprägt hätten:

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„Erstere gaben dem französischen Geist das bekannte energische und zugleich feinsinnige Temperament, aber wir besitzen auch das vorwitzige, kühne, unruhige, oft aufrührerische und immer widerspenstige Naturell, das Europa und uns selbst unablässig erschüttert. Letzteres haben uns die Rechtstraditionen vermacht, wozu ein gewisser Respekt der individuellen Unabhängigkeit und ein beharrlicher Sinn für die Rechtsformen und Sicherheitsleistungen gehören, die uns selbst während der Sittenlosigkeit der Revolutionen und der nachfolgenden Gleichgültigkeit anhafteten." [Text 1, S. 56] Am Ende des Akademievortrages wird Rechenschaft über das 1851 er Preisausschreiben gegeben und die neuen Preisfragen formuliert. Diese Abschnitte verdeutlichen, welche Fragen interessant erschienen, und auch die Schwierigkeiten solche Wettbewerbe. So muss die Frage nach dem Wahren und Falschen bzw. dem Gültigen und Zeitbedingten bei Piaton und Aristoteles im Vergleich zu den neueren Philosophen wiederholt werden, da kein Preis vergeben werden konnte. Noch interessanter ist, dass die Akademie einen Preis für ein Lehrbuch auslobt, in dem den Arbeitern erklärt werden soll, welche Rolle Moral und die politische Ökonomie für sie haben. Der ausdrückliche Hinweis, dass die Mittel zur Linderung der Armut bei den Arbeitern selbst lägen, spiegelt Tocquevilles eigene Position wider. Pauperismus Schon 1835 hat sich Tocqueville prinzipiell mit der modernen Massenarmut auseinandergesetzt - einem Problem, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Titel Pauperismus zu den viel diskutierten Fragen gehörte. Das Thema fand seinerzeit nicht nur viel Aufmerksamkeit, sondern es gab neben Stellungnahmen ungerührter Akzeptanz auch jede Menge wohlwollende Konzepte, wie man die neue Armut rasch beseitigen oder vermeiden könne. Von solchen Positionen grenzt sich Tocqueville ab. Dass seine Überlegungen nach wie vor aktuell sind, zeigen vor allem amerikanische Neokonservative, die seine Denkschrift über den Pauperismus seit den 1970er Jahren periodisch für die Kritik am Wohlfahrtstaat in den USA in Anspruch nehmen.14 Gilt die Denkschrift den einen als Muster konservativer Wohlfahrtsstaatskritik, so halten sie andere für eine liberale Stellungnahme. Ein Blick auf den Entstehungskontext und ein Resümee der hauptsächlichen Argumente soll die tatsächliche Intention verdeutlichen. Vorab sei darauf hingewiesen, dass der vorliegende Band den von Tocqueville selbst veröffentlichten Text enthält, den er Anfang 1835 verfasste. Auf den späteren 1837er Vortrag zum gleichen Problem, mit dem Tocqueville wegen mangelnder Originalität und unklarer Lösungsvorschläge nicht zufrieden war und der erst posthum publiziert wurde, sei hier nur verwiesen.

14 Gertrud Himmelfarb (1997) hat sie herausgegeben. Der Public Interest, lange Zeit das Flaggschiff der Neokonservativen, und deren Vordenker Irving Kristol erwähnen sie häufig als Muster.

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Tocqueville hat einen speziellen Blick auf das Problem des Pauperismus, der bereits vor seiner zweiten Reise nach England im Mai und Juni 1835 ausgeprägt war.15 An den Motiven seiner Reise lässt sich allerdings der Kontext der Denkschrift verdeutlichen. Ziel der Reise war es, gleichsam vom Apfel auf den Baum zurückgehend zu erkunden, welche Institutionen des angelsächsischen Mutterlandes fur die USA wichtig wurden. Doch er findet in England weniger Amerika und weniger Demokratie als gedacht; das Mutterland ist durch relativ offene aristokratische Strukturen gekennzeichnet und besitzt, trotz der starken Dominanz des Geldes, in allen gesellschaftlichen Bereichen freiheitliche Institutionen. Infolge dessen konzentriert sich Tocqueville statt auf die historischen Gemeinsamkeiten auf die neuesten politischen Entwicklungen in England, die Effekte der Wahlrechtsreform von 1832, die neuen Armengesetze von 1834 und die entsprechenden sozialen Veränderungen. Den Ausgangspunkt der Schrift von 1835 bildet ein paradoxer Befund: Arme Länder haben weniger Bedürftige und reiche Länder mehr, drastischer formuliert, je reicher ein Land ist, umso mehr Armut, Arbeitslose und Hilfsbedürftige hat es. Das erinnert an Marxens Polarisierungsthese, wonach wachsende Kapitalakkumulation zu wachsender Armut führt. Diese empirische Beobachtung sucht Tocqueville durch zwei Argumentationen zu erklären, die erste ist geschichtstheoretischer Art, die zweite orientiert sich an den spezifisch englischen Gegebenheiten. Dennoch mangelt es dem Text an einer überzeugenden Lösung für das Problem der Massenarmut. Das ist allerdings keine gedankliche Schwäche des Autors, gab es doch damals viele Rezepte, die sich alle als unterkomplex erwiesen haben. Im geschichtstheoretischen Teil zeigt Tocqueville ein stetiges Wachstum von Bedürfnissen und von sozialer Ungleichheit, das seit dem Übergang von den Jägern zum Ackerbauern und von dort zur gewerblichen Produktion beobachten lässt. Er löst sich dabei von naturrechtlichen Begründungen des Eigentums und akzentuiert soziale und historische Faktoren. Die exzeptionelle Konzentration des Grundbesitzes in England, die viele Bauern freigesetzt habe, sowie die gestiegene Effektivität in der Landwirtschaft hätten zur neuartigen modernen Massenarmut gefuhrt. Diese Armut sei eine relative Armut, da sie an den gestiegenen Bedürfnissen zu messen sei. Die „Doppelbewegung" von gesteigertem Reichtum und wachsender Armut sei kaum aufhaltbar, und die bekannte Form der Wohltätigkeit, die individuelle Mildtätigkeit, genüge nicht, um das Problem zu lösen. Sie stifte zwar Bindungen und sei damit moralisch bedeutsam, aber für das Massenphänomen Armut ein unzureichendes Mittel. Die in protestantischen Ländern, vor allem in England, entwickelte planmäßige Wohltätigkeit scheine vor diesem Hintergrund eine akzeptable Lösung zu sein.

15 Die erste Englandreise war 1833. Vgl. dazu Drescher 1964. Dort findet sich auch eine ausführliche Würdigung der 1835er Reise als Wendepunkt in Tocquevilles Denken, da nun die Frage der Zentralisation und der Industrie wesentlich werden. (Ebenda, S. 81). Die Reise Tagebücher sind in den ОС V 2 zu finden. Vgl. auch die englische Ausgabe Tocqueville 1988. Vgl. dazu auch Jardin 1991, S. 2 0 5 215, Wolin 2001, Kap. XVII.

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Allerdings kommt Tocqueville in dem Abschnitt, in dem die englischen Erfahrungen genauer diskutiert werden, zu dem Resultat, dass diese Lösung ebenfalls defizitär ist. Zum einen argumentiert er, dass ein Rechtsanspruch auf Unterstützung zu Faulheit fuhrt, da er die „menschliche Leidenschaft für das Nichtstun" unterstützt und Motivation wie Sittlichkeit untergräbt. Dieses vage anthropologische Argument urteilt von einem Maßstab der bürgerlichen Tugenden und lässt die Bedingungen des Nichtstuns im Unklaren. Auch eine rein rechtliche Regelung käme ohne eine Prüfung von Ansprüchen nicht aus. Das heißt, es muss die Bedürftigkeit nachgewiesen und kontrolliert werden bzw. es ist notwendig, über sinnvolle Beschäftigung nachzudenken - insofern erzeugen beide Lösungen problematische Folgen. Die Prüfling der Bedürftigkeit setzt eine Bürokratie in Gang, und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, so möchten man aktualisierend sagen, führen dazu, dass auch seltsame Aufgaben fur nützlich erklärt werden. Beides müsste kontrolliert werden, was wiederum einen enormen Verwaltungsaufwand generiere.16 In der Konsequenz ist die planmäßige Wohltätigkeit fur Tocqueville prinzipiell problematisch. Zwar deutet er an, dass die Perspektive zu ändern sei und man über vorbeugende Maßnahmen nachdenken müsse, hier unterstützt er ausdrücklich die Idee, Kinder der Armen in der Schule auszubilden. Doch selbst in der 1837er Rede zu Pauperismus werden nur tentative Lösungsansätze vorgestellt, nämlich Arbeiter an die Fabrik zu binden, was für die Besitzer, insofern es ihre Handlungsspielräume einschränkt, kaum wünschenswert ist. Auch dies sind für Tocqueville keine tragfahigen Lösungen, da sie instabil und zu wenig effizient seien, weshalb ihm nur noch die Sparkassenidee, die zur Selbstvorsorge anhalten soll, als Vorschlag bleibt. Auch wenn Tocqueville letztlich vor dem Problem der Massenarmut kapituliert, sprechen die Texte für seinen ausgeprägten Realismus, der sich naiven Lösungen verweigert und auf Ambivalenzen insistiert. So sieht Tocqueville in der Industrialisierung eine in sich widersprüchliche Entwicklung, die nicht nur den Pauperismus hervorbringt, sondern möglicherweise zu einem neuen harten Despotismus der Industriellen führt (vgl. DA Bd. 2, S. 235ff.). Neben dieser gravierenden Gefahr für die Demokratie erkennt Tocqueville anhand der Diskussion des Pauperismus und der Notwendigkeit, ihn in den Griff zu bekommen, dass die Zentralisierung der Verwaltung keine historisch bedingte Besonderheit der französischen Entwicklung ist, sondern aus dem Kern der Demokratie erwächst. Für ihn ist das Streben nach Zentralisierung eine generelle demokratische Leidenschaft. Dieses Problem diskutiert er im zweiten Band über die amerikanische Demokratie in allgemeiner Hinsicht (vgl. DA Bd. 2, S. 430ff.). Wegen der insgesamt mageren Lösungsvorschlä-

16 In den Tagebüchern der 1835er Reise wird dann akzentuiert, dass es in England keine Immunität der Beamten wie in Frankreich gäbe, sondern das Rechtsprinzip auch in der Verwaltung gelte. Entscheidungen seien gerichtlich überprüfbar und zwar bis hin zum Berufungsgericht (vgl. Drescher 1964, S. 83). Tocqueville hält dies für eine Lösung des Problems der Zentralisierung von Verwaltung, jedoch hat dieses Prinzip eine Kehrseite, die seinerzeit noch nicht hervortrat und in einem Prozess von Verrechtlichungen besteht; ein Weg, der in England im Arbeitsrecht übrigens nicht eingeschlagen wurde (vgl. Kaufmann 2003, Kap. 4.1).

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ge kann Tocqueville zwar als Ahnherr der Kritik am Wohlfahrtsstaat bezeichnet werden, der einige seiner Folgen erahnt hat, aber sein Funktionieren und die unglaubliche Erfolgsgeschichte dieser Staatsform können mit seinen theoretischen Mitteln nicht erschlossen werden. Frankreich vor 1789 Tocquevilles Aufsatz zu den Sozialen und politischen Verhältnissen Frankreichs vor und seit 1789 (1836)17 nimmt im Prinzip die These aus dem späten, unvollständig gebliebenen Buch 18 über das Ancien Regime und die Revolution vorweg. Als Artikel für eine englische Zeitschrift geschrieben, ist sein Untersuchungsgegenstand die Vorgeschichte der Revolution. Die Revolution selbst und ihre Folgen sind indes nicht Gegenstand einer weitergehenden Überlegung, vielmehr interessieren Tocqueville die Differenzen zwischen der britischen und französischen Gesellschaft. Zwei Punkte sind für Tocqueville dabei von zentraler Bedeutung. Zum einen entwickelt er anhand der Französischen Revolution ein neuartiges Revolutionsverständnis. Danach hat die Revolution eine lange Vorgeschichte und kann nicht ausschließlich auf die Ereignisse zwischen 1789 und 1794 beschränkt werden. Aber auch dann hat sie keinen Abschluss gefunden, weil ihre politischen Ziele unerfüllt geblieben sind. Demokratische Umwälzungen gelten für Tocqueville nämlich erst mit der Schaffung eines allgemeinen Wahlrecht und einer stabilen Verfassung als abgeschlossen. Tocqueville nutzt hier eine Art idealtypischen Begriff demokratischer Revolution, von dem aus evolutionäre Wege wie in England sowie Sonderfälle wie die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution verstanden werden können. Die demokratische Revolution vollzieht sich in einer größeren Epoche und kann, wie in Frankreich, auch die Form wiederholter gewaltsamer Eruptionen annehmen. Zum anderen sind es die Spannungen zwischen Gleichheit und Freiheit, die die politischen Umbrüche in Frankreich charakterisieren, wobei die Gleichheit strukturell und intellektuell das Übergewicht bekommt. Die Vorläufer der Revolution vollziehen sich im Ancien Regime, dem Übergangsregime des Absolutismus, wobei der Akzent auf dem 18. Jahrhundert liegt. Im Kern wird ein Prozess der Zentralisierung von Macht dargestellt, der mit einer Entmachtung der Noblesse und des Geburtsadels verknüpft ist. Der König verbündet sich mit dem Volk gegen den Adel, der an Einfluss verliert, sich aus der Verwaltung zurückzieht und an den Hof geht oder aus Geldnot verbürgerlicht. Die Aristokratie in England ist nach Tocqueville damit kaum zu vergleichen. Der englische Adel ist eine offene Schicht, die

17 Inzwischen ist im Band 3 der Bibliotheque de la Pleiade Ausgabe von Tocquevilles Schriften eine kritische Edition des Textes erschienen. Sie bringt nur marginale Veränderungen. Dort gibt es eine bedeutende Einfuhrung von Füret und Melonio, die zuvor auf englisch in der historisch-kritischen Ausgabe Ancien Regime and the Revolution, hg. von Melonio und Füret, übers, von A. Kahan 1998, publiziert wurde. 18 Vgl. zu weiteren Entwürfen ОС II 1 und II 2, englisch Tocqueville 1959 (Ed. Lukes).

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einen Kompromiss mit dem Bürgertum eingegangen ist, wohingegen sich die französische Aristokratie aufspaltet; sie ist zum einen der abgeschüttete Stand des Geburtsadel, der sich zunehmend am Hof konzentriert, und sie ist zum anderen eine aristokratische Schicht, die nach Einfluss strebt, ihn aber nicht erlangt. Schließlich gibt es eine Art Leistungsaristokratie, die im Wesentlichen dem dritten Stand zuzuordnen ist. Der dritte Stand in Frankreich umfasse nicht wie in England die Mittelklasse, sondern alle die nicht Priester oder Adel sind, von der Aristokratie bis zum kleinen Ladenbesitzer. Tocqueville folgt Sieyes, der schon in seinem Traktat über den Dritten Stand ausdrücklich festgehalten hat, dass es sich bei diesem Stand um eine komplette Nation handele. In seiner Analyse der Strukturen, der Lagerung der Schichten, ihres Selbstverständnisses und Verhältnisses zu einander beschränkt sich Tocqueville nicht auf sozialökonomische Faktoren, wenngleich ihnen ein erheblicher Stellenwert zugewiesen wird. So ruhen die Tendenzen zur Gleichheit und zur Verwaltungszentralisierung, neben der Zerstückelung des Grundeigentums und der zunehmenden Verarmung weiter Teile des Geburtsadels, im Wesentlichen auf kulturellen Faktoren. Die Einflusslosigkeit der Aristokratie lasse Gleichheitsideen bei ihren eigentlichen Trägern, nämlich dem Landadel, dem aufsteigenden Bürgertum und den Literaten aufkommen. Bei ihnen spielen sowohl faktische wie imaginierte Gleichheit eine Rolle. Nicht freie Institutionen, deren Nutzen darin bestehe, „dass sie die Freiheit während jener Zeiten, wo sich der menschliche Geist mit etwas anderem beschäftigt, unterstützten und ihr eine Art von Eigenleben verleih[t]en" und es so gestatten „vorübergehend der Freiheit überdrüssig zu werden, ohne sie zu verlieren" [Text 3: S. 106] - prägten nach Tocqueville die französische Entwicklung vor und nach 1789, sondern die Zentralisierung und die Orientierung an der Gleichheit. Der strukturgeschichtliche und langfristigen Wandel, den Tocqueville gegen die Sicht vom 1789er Bruch setzt, läuft darauf hinaus, dass diese Revolution nur beschleunigt und zu Ende fuhrt, was ohnehin in Gang war. - Hier kann man eine Vorwegnahme der These aus dem Buch über das Ancien Regime erkennen, das diese Sicht ausbaut. Francis Füret hat in einem Artikel über Tocqueville und das Ancien Regime gleichwohl zu Recht die Differenzen zwischen dem Aufsatz von 1836 und dem Buch von 1856 herausgestellt. Die gesamte systematische Anlage und das Verhältnis von Ursachen-Folgen seien verschieden. Im frühen Aufsatz gebe es keinen Versuch, das Geheimnis der Revolution zu erfassen, und die Revolution beschleunige nur ihr vorausgehende Tendenzen. Die späte Deutung betone politische und kulturelle Faktoren und ziele auf eine Erklärung der revolutionären Leidenschaft in Frankreich, während die frühe Erklärung lediglich soziale Faktoren akzentuiere.19

19 Wie anregend die Schriften von Tocqueville sind, hat Füret in seinem Werk mehrfach gezeigt, indem er mit ihnen alle drei Elemente der traditionellen linken Deutung von 1789 - als Bruch, als Block, der die gesamte Revolution von 1789 bis 1799 bzw. 1814 umfasst, und vor allem die Analogisierung mit der Oktoberrevolution von 1917 - attackiert (vgl. Füret 1989). Seine Sicht ist spätestens seit dem Bicentennaire eine der bestimmenden Deutungen geworden. Zur Tocqueville Rezeption von Füret vgl. Melonio 1998, S. 202-208.

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Republikanisches Denken und liberaler Imperialismus - Gedanken über Algerien Tocqueville hat sich bewusst für eine politische Karriere entschieden und dabei das Feld der Außenpolitik gewählt. Ab Mitte der 30er Jahre setzt er sich mit dem Algerienthema auseinander und wird in seiner parlamentarischen Laufbahn ein Algerien-Experte. Aus dem Jahr 1837 stammt sein erster Text zu Algerien; 1841 bereist er Algerien und wird zu einem vehementen Befürworter der Eroberungspolitik. 1846 reist er erneut nach Algerien und 1848 arbeitet er in einer außerparlamentarischen Kommission zur Algerien-Problematik mit. Alle in diesem Zusammenhang entstandenen Schriften sind international in jüngerer Zeit viel diskutiert worden, weil hier ein anderer Tocqueville hervortritt, der nationalistisch und auch imperial argumentiert. Debattiert wird, ob diese Motive zum Kern seines Denkens gehören oder peripher sind.20 Besonders sichtbar wird der unbekannte Tocqueville im umfangreichen Entwurf Gedanken über Algerien von 1841 — daher wird dieser erst posthum veröffentliche und umstrittene Text in diesem Band erstmals auf Deutsch zugänglich gemacht.21 Ein paar Eckdaten22 sollen zunächst den Kontext des Manuskripts konturieren. Das heutige Algerien war lange unter osmanischer Vorherrschaft und ein lose verknüpftes politisches Gebilde. Die von seiner Küste ausgehende Seeräuberei hatte immer wieder zu Konflikten geführt, so auch im Sommer 1830, als Frankreich sie durch Angriffe auf Algier zu unterbinden suchte. Der rasche Erfolg der militärischen Operationen - Algier kapitulierte bereits am 5. Juli - leitete die französische Eroberung ein. Sie wurde in der Julimonarchie (27. Juli 1830-24. Februar 1848) fortgesetzt. Eine erste Wende brachte das Jahr 1841, als die Kolonisation, die bis dahin wesentlich von privaten Kräften vorangetriebene Okkupation zum substantiellen Teil staatlicher Politik mit der Absicht vollständiger Eroberung wurde. Ein wichtiges Ziel wurde 1847 erreicht, als Abd el-Kader, der arabische Anführer des Widerstandes gegen Frankreich, der verschiedene Stämme vereint und zeitweilig erfolgreich agiert hatte, sich General Lamoriciere ergab. Zeitgleich wurde die Eroberung mit Razzien, Verfolgung und auch dem Ausräuchern von Gebirgslagern „Aufständischer" vorangetrieben. Auch nach der Revolution von 1848 trat kein Politikwechsel gegenüber Algerien ein. Napoleon III. betont zwar, dass es den Arabern nicht wie den Indianern in den USA ergehen dürfe, weshalb er im Rahmen seines Sozialimperialismus stärker auf Kooperation setzte. Dies führte dazu, dass Algerien nicht als Kolonie, sondern als Teil Frankreichs angesehen wurde. Die zunächst überraschende Kolonisation Algeriens, das lange unter türkischer Herrschaft gestanden hatte und kein selbständiger Staat geworden war, blieb in Frankreich jedoch umstritten.

20 Pitts (2005) betont eine allgemeine imperiale Wende des Liberalismus, die Tocqueville mit vollzieht. Dabei akzentuiert sie wie Richter (1963), Tododrov (1988,1993) und Welch (2003) die Spannungen zwischen theoretischen und politischen Positionen. 21 Der Text wurde zuerst 1962 in ОС VI. 1 veröffentlicht und längere Zeit bis auf Richter 1963 kaum diskutiert. Dies hat sich seit den 1980er Jahren verändert. Vgl. u.a. Pitts 2001 und 2005, Todorov 1988 und Welch 2003. 22 Vgl. Stora 1991 und 2001.

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Schon 1833 hatte Tocqueville französische Kolonialerfahrungen in Louisiana und Kanada dahingehend zusammengefasst, dass Frankreich nicht für Kolonisierung geeignet sei, da der Nationalcharakter bodenständig an Herd und Gemeinde orientiert sei. Franzosen, so kann man Tocquvilles Argumentation zusammenfassen, ziehen in der Fremde das unzivilisierte wilde Leben des Jägers dem städtisch-zivilen Leben als Kolonisatoren vor. Hinzu komme, dass die Franzosen politisch wenig eigenständig agierten und auch keine Autonomie zuließen, da sie ein staatlich-zentralisiertes Regime gewöhnt seien.23 In diesem Kontext verwundert es etwas, dass Tocqueville wenige Jahre später drei unterschiedliche Konzepte für die französische Kolonisierung Algeriens entwickelt hat. Sein erstes Konzept zielte auf Assimilation der arabischen Bevölkerung und wurde 1837 von der Erwartung getragen, Frankreichs nationaler Größe und Ehre zu dienen. In Verbindung mit seiner ersten Algerien-Reise und der erwähnten staatlichen Wende in der Algerienpolitik formulierte er 1841 ein zweites Konzept, nämlich die totale Eroberung, die Tocqueville zwar als problematisch, aber unabdingbar ansah. Von einer Assimilation zwischen arabischer und französischer Bevölkerung war keine Rede mehr. Als sich Tocqueville ab 1846, also nach dem Ende des Krieges, erneut intensiv mit Algerien auseinandersetzte, hielt er im Wesentlichen am einst begonnenen Projekt, aber mit einer anderen Strategie fest. Wenn man sein drittes Konzept beschreiben will, so läuft es auf „eine moderate Form der Exklusion, die Errichtung eines Apartheid-Regimes" hinaus (Bohlender 2005:533). Alle drei Konzepte sind primär von einer innenpolitischen Sichtweise getragen.24 Im unabgeschlossenen Manuskript von 1841 kann man dem Autor beim Entwickeln seiner breiten Analysen der Geographie, der Stämme, Gruppen, Kultur, Herrschaftsprobleme und militärischen Fragen über die Schultern sehen. Tocqueville argumentiert als wissenschaftlicher Politikberater, der das Kolonisierungsprojekt und die dauerhafte französische Herrschaft befürwortet. Er geht dabei kühl kalkulierend vor, wägt Risiken ab und zieht Konsequenzen aus dem status quo. All das ist oft als zynisch gedeutet worden, man vermisst den Freund der amerikanischen Demokratie, der auf legitimen Machtgebrauch setzt und moralische Überlegungen zur Gestaltung demokratischer Ordnung anstellt. Sein machtpolitischer Ansatz suspendiert normative Fragen weitgehend, wenngleich er auch die Gefahren für eine demokratische Ordnung durch Expansion thematisiert. Am Anfang des Manuskriptes steht Tocquevilles Plädoyer, die für Frankreich neue Situation am Mittelmeer als Chance zu begreifen und strategisch zu nutzen. Sein machtrealistisches Konzept unterstellt, dass die einmal begonnene Kolonisierung Algeriens fortgeführt werden muss, da Frankreich sonst symbolisch einen Prestigeverlust erleiden

23 Dagegen werden amerikanische und britische Erfahrung in Indien ins Feld geführt, die auf Selbstständigkeit, Dezentralisierung und Zivilität setzen. Vgl. ОС Beaumont Bd. 8, S. 267-72 (Englisch, in: Pitts (ed.) 2001, S. 1-4). 24 Vgl. Clinton 2003. Erkundungen zur Praxis der englischen Kolonisierung von Indien holt Tocqueville bei John St. Mill ein und auch Besiedlung des Westens der USA reflektiert (vgl. Pitts 2005, S. 2 0 4 239).

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würde, der auch die reale Position der Grande Nation gefährde. Mit dieser Argumentation rücken Fragen nach Grund und Sinn des Ganzen sowie ethische Überlegungen, wie eine vernünftige Gesellschaft der Nationen aussehen könne, in den Hintergrund. Als unmittelbares politisches Ziel der Kolonialisierung nennt Tocqueville die Entmachtung des arabischen Fürsten und des Kriegsherrn Abd el-Kader. Die Kriegsführung müsse davon ausgehen, dass es sich nicht um einen Staatenkrieg mit entsprechenden Regeln handele, sondern um einen Krieg gegen miteinander verbündete Nomadenstämme. Sie seien nur zu besiegen, wenn neben großen militärischen Einsätzen, die die Macht Frankreichs demonstrierten, kleine bewegliche Einheiten treten würden, die in der Lage wären, Unruhen rasch zu unterbinden. Damit spricht sich Tocqueville klar für einen Guerillakrieg und eine rigorose Eroberungspolitik gegen die Einheimischen aus. Doch damit sei es nicht getan. Neben die gewaltsame Eroberung ganzer Gebiete müsse die Besiedlung dieser Gebiete durch die Franzosen und die Etablierung einer dauerhaften Ordnung treten. Der einfache Import französischer Institutionen wird von Tocqueville allerdings ausgeschlossen, da dafür die Voraussetzungen fehlten. Dennoch betont er, dass die wesentlichen politischen Prinzipien Frankreichs angewandt und kontinuierlich befolgt werden müßten, wobei ihre Bekanntheit und Dauerhaftigkeit fur die Siedler und auch für die Einheimischen ausschlaggebend sind. Tocqueville weist die moderne Demokratie in seinen Gedanken über Algerien als eine in ihrer außenpolitischen Dimension und Wirkungen expansive Zivilisation und Lebensform aus. Wie die Volkssouveränität nichts über sich dulde, so dulde die Demokratie auf Dauer kein anderes politisches System neben sich. Da Algerien in die Moderne hinein gerissen wurde, muss man die Konsequenzen ziehen. Schon mit Blick auf die U S A und das Schicksal der Indianer und der Afroamerikaner hatte Tocqueville erkannt, dass die Demokratie innergesellschaftlich eine expansive Lebensform ist. Nun kommt hinzu, dass sie sich auch außenpolitisch expansiv verhält. Damit ist nicht gemeint, dass sie auf direkte Eroberung setzt, sondern dass sie dazu tendiert, ihre Lebensform, die Demokratie und Marktwirtschaft, durchzusetzen. Traditionale Gesellschaften, die mit ihr in Kontakt kämen, würden zwangsläufig einer Erosion ausgesetzt. Im Falle einer militärischen Eroberung und aktiven Kolonisierung werde dieser Prozess freilich enorm beschleunigt. Auch in Bezug auf die Kolonialpolitik Frankreichs ist der Analytiker der Demokratie nicht von einem platten Fortschrittsoptimismus eingenommen oder redet gar einer voluntaristischen Demokratisierung der Welt das Wort. Vielmehr bezieht er die Position eines harten Realismus, der Unvermeidliches einsieht und die Widersprüche aufdeckt. Trotz der Aussparung normativer Fragen ist die Argumentation komplexer als mancher Kritiker vermutet. Das zeigt unter anderem die kritische Volte am Ende des Textes. Dort heißt es gegen die Regierenden in Paris gewandt: „Insgesamt glaube ich, dass die schnelle Kolonisation eines Teils von Algerien durch Frankreich machbar ist. Die größten Hindernisse liegen weniger im Land als bei uns. Ändern wir die Methoden, werden wir das Blatt wenden. Aber auf die Art, wie wir die Sache in Angriff genommen haben und immer noch nehmen,

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würden wir nicht einmal die Ebene Saint Denis besiedeln können, wenn sie noch unbewohnt wäre." [Text 4, S. 162] Hier tritt noch einmal die schwierige Position vor Augen, aus der heraus Tocqueville argumentiert: Er plädiert strategisch für die Kolonisation Algeriens, wiewohl er die Voraussetzungen dafür in Frankreich kaum als gegeben ansieht. Trotzdem befürwortet er das risikoreichen Unternehmen und wünscht vom Schatten des napoleonischen Endes der Französischen Revolution begleitet: „Gott bewahre uns davor, jemals erleben zu müssen, dass Frankreich von einem Offizier der Afrika-Armee gelenkt wird!" [Text 4, S. 127]. Über die Demokratie in der Schweiz Die Rede über die Schweizer Demokratie zeigt in erster Linie die Stärken des analytisch-komparativen Ansatzes von Tocqueville, mit dem er eine der ältesten und lange Zeit neben Venedig einzigen europäischen Republik mit der amerikanischen Demokratie vergleicht und als überholt und mittelalterlich beurteilt. Schon 1836 hatte die Reise in die Schweiz zu dem harten Urteil geführt - England sei republikanischem Denken und republikanischer Praxis viel näher als die Schweiz.25 Als Tocqueville seinen Vortrag am 15. Januar 1848 hielt, standen Frankreich und Europa am Vorabend einer Revolution. Ungeachtet dieser politischen Lage werden von Tocqueville die Konstruktionsprinzipien einer liberalen Demokratie wie Gewaltenteilung und Repräsentation erörtert, ohne die Situation für eine Apologie der Demokratie zu nutzen. Der Form nach stellt Tocqueville in der Academie des Sciences Morales et Politique die Schrift De la dimocratie en Suisse (Band 1 und 2, Paris 1843) von Antoine Elisee Cherbuliez vor. Cherbuliez (1797-1869) war Anwalt und Professor für politische Ökonomie und Staatsrecht in Genf. Aus einer konservativen Sichtweise hat er eine kritische Darstellung der Demokratie in der Schweiz in ihrer ganzen Breite gegeben, angefangen von den Kantonen und Institutionen, über Sitten und Moral bis zur Religion. Tocqueville geht weit über die Vorlage hinaus und entwickelt grundsätzliche demokratietheoretische Überlegungen insbesondere im Hinblick auf föderale Regierung und die Gewaltenteilung. Die jüngeren politischen Umwälzungen in der Schweiz, wie sie im Gefolge der napoleonischen Besetzung und dann im Anschluss der 1830er Bewegungen, die eine Regeneration der Kantone brachten und die „Ära der Demokratie" eröffneten, umgesetzt wurden, gelten als Exempel für die These der unaufhaltsamen Durchsetzung demokratischer Verhältnisse. Systematisch unterscheidet Tocqueville ältere Formen direkter Demokratie, die er als Überbleibsel des Mittelalters bewertet, von neuen Institutionen repräsentativer Demokratie. Die demokratische Umwälzung der Kantone habe zwei gegensätzliche Ergebnisse erbracht. Zum einen stärke sie ihre Eigenständigkeit, zum anderen aber habe sie die ganze Schweiz in Lager geteilt und ihr außenpolitische Relevanz

25 Vgl. ОС V 2, S. 171-188.

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verliehen, was nicht die Kantone, sondern die föderale Regierung stütze. Die Schweiz kennzeichne, dass die moderne Demokratie auf den Ruinen der alten errichtet wurde, was dazu geführt habe, dass ihre Prinzipien unvollkommen verwirklicht werden konnten. Anhand einer Verfassungsanalyse erörtert Tocqueville die starke Stellung der Kantone und die schwache Position der eidgenössischen Regierung. Diese Darstellung wird durch die Analyse der realen Verfasstheit, der Mittel der Kantone und des Bundes ergänzt. Hier erkennt Tocqueville eine verfestigte Unentschiedenheit und Ineffizienz des Schweizer Institutionensystems, das durch die Zentralisierung allerdings zwangsläufig zu repräsentativ-bundesstaatlichen Strukturen gedrängt werde.26 Tocqueville geht von der Annahme aus, dass die Kompetenzen und Mittel einer föderalen Regierung eindeutig bestimmt sein müssen. Beides sei in der Schweiz bisher nicht der Fall. „Nie wurde eine Regierung besser in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit versetzt und außerdem durch die Unvollkommenheit ihrer Organe zur Machtlosigkeit verurteilt." Dies sei vor allem deshalb ein Manko, weil föderale Regierungen, die im Namen von Staaten und nicht des Volkes handeln, stets langsamer wirken und „gewöhnlich weniger kühn in ihren Entschlüssen und langsamer in ihren Entscheidungen sind als andere Regierungsformen". [Text 5, S. 174] Unzulänglich definierte Kompetenzen und Vermittlungsinstanzen stärken demnach strukturelle Defizite föderaler Regierungen. Hinzu kämen im Falle der Schweiz eine wenig entwickelte Gewaltenteilung: die Exekutive werde nicht gewählt, die Unabhängigkeit der Justiz sei nicht gewährleistet und viele Freiheiten blieben unzureichend institutionalisiert, weshalb es auch an demokratischer Erfahrung mangle. Dem wird das moderne amerikanische Muster mit moderner Gewaltenteilung gegenüber gestellt, bei dem die höheren Gerichte nicht gewählt, sondern vom Gouverneur eingesetzt werden. Die Richter, denen Tocqueville generell große Bedeutung zuschreibt, seien daher von den Launen des Volkes unabhängiger und könnten mäßigend wirken. Wie weit das Plädoyer für repräsentative Demokratie geht, verdeutlicht die folgende Schlüsselpassage, in der die Ausübung der Souveränität geradezu auf den Wahlakt eingegrenzt wird und die republikanischen Motive des Autors in den Hintergrund rücken. „Im Staat New York herrscht, wie in den Schweizer Kantonen, die durch das allgemeine Wahlrecht umgesetzte Souveränität des Volkes. Aber das Volk übt seine Souveränität nur an dem einen Tag aus, an dem es seine Delegierten wählt. Es behält in keinem Fall irgendeinen Anteil an der Legislative, Exekutive oder Judikative inne. Es wählt diejenigen, die in seinem Namen regieren sollen, und dankt bis zur nächsten Wahl ab." [Text 5, S. 170] Tocqueville begrüßte die wenige Monate nach seiner Rede beginnende Gründung der modernen Schweiz durch die Bundesverfassung, die im März entworfen und im September 1848 in Kraft gesetzt wurde. Für ihn war dies eine erfolgreiche demokratische

26 Nach wie vor instruktiv zu Tocquevilles Sicht der Schweiz ist Dürr 1925.

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Revolution und seine Prognosen, dass ein stärkerer Bundesstaat zwangläufig sei und dass es eine Volksvertretung auf Bundesebene geben müsse, waren zutreffend. Die Zukunft der unmittelbaren Demokratie in der Schweiz hat er freilich verkannt, sie ist bekanntlich bis heute fur das politische System auch oberhalb der Gemeinde wesentlich, wurde aber, entgegen verbreiteter Vorstellungen, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert (vgl. Hettling et al., 1998, S. 15). Tocqueville als politischer Redner und Ideologiekritiker im Kontext der 1848er Revolution Für Tocqueville stellt die 1848er Revolution die gesellschaftliche und nicht nur die politische Ordnung infrage. Sie habe einen sozialistischen Charakter, der vor allem in der Juniinsurrektion, dem Aufstand der Arbeiter, die sich nach Schließung der Nationalwerkstätten weigerten in ihre Departements zurückzukehren, zum Ausdruck käme. Die sozialistische Ideologie, und zwar ihre Kernannahme, dass Eigentum Diebstahl sei, hätte die Leidenschaften aufgestachelt.27 Daneben werden allerdings deutlich soziale Ursachen wie die industrielle Umwälzung und die Ausbreitung neuer Schichten von Handarbeitern insbesondere in Paris sowie die Missachtung der herrschenden Klasse und die soziale Unsicherheit als Ursachen ausgemacht. Die 48er Revolution hat Tocqueville zum Gegenstand mehrer bedeutender und dramatischer Reden gemacht. Drei von ihnen sind in die vorliegende Auswahl aufgenommen worden, weil sie den liberalen Kern seines Denkens vortrefflich offen legen. Die erste prognostiziert die bevorstehende Revolution, die zweite diskutiert das Recht auf Arbeit und setzt sich prinzipiell mit dem Sozialismus auseinander. Die dritte Rede schließlich ist ein Bericht der Verfassungskommission, der neben den Problemen der Verfassung das Auslaufen der Revolution in einer autoritären Regierungsform erkennt und diskutiert. In allen drei Reden nutzt Tocqueville das Gegensatzpaar von Freiheit und Gleichheit zur Differenzierung von politischer und sozialer Revolution. Die Kammerrede vom 27. Januar 1848 ist eine beschwörende Rede, da Tocqueville Frankreich 18 Jahre nach der Juli-Revolution am Abgrund einer neuen Revolution sieht. Er fordert die Regierung auf, ihren Geist, die Art und Weise des Handelns zu ändern, um die bevorstehende Revolution - sie bricht ja tatsächlich im Februar aus - noch zu verhindern. Worauf stützt sich diese Diagnose? Sie setzt bei einer allgemeinen Analyse der Sitten und dem verbreiteten Gefühl der Instabilität an. Tocqueville erkennt einen Sittenverfall, der die gesamte herrschende Schicht betrifft, damit meint er die 240.000 Aktivbürger in einem Land von 35 Millionen Einwohnern. Sie würden nicht einem uneigennützigen öffentlichen Empfinden folgen, wie noch die Revolution von 1789. Schwer wiege, wie

27 Vgl. dazu Erinnerungen, S. 109 und die Deutung des Gesellschaftstheoretikers Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (Marx 1975), die bei aller Differenz zu Tocqueville auch einige Gemeinsamkeiten etwa in der Kritik an der Juli-Monarchie und Louis-Napoleon aufweist.

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in einem nächsten Schritt erklärt wird, dass so die Interessen der von der Politik ausgeschlossenen Arbeiter, gar nicht berücksichtigt würden. Mehr noch: Es werde verkannt, dass sich bei den Arbeitern ein Wandel von politischen zu sozialen Interessen, zur Veränderung der Gesellschaftsordnung vollzogen hat. In dieser Lage sei die Mittelmäßigkeit, die verbreitete Korruption und Initiativlosigkeit der Regierung außerordentlich problematisch. Nach einer Schichtungsanalyse werden die unmittelbaren Ursachen der politischen Krise eruiert. Sie lägen in einer dauerhaften Steigerung der Vollmachten des Regierungspersonals und einem Absinken der individuellen Freiheiten. Besonders Konflikt verschärfend wirkten der sichtbare Verfall der politischen Moral und die Korruption. Frankreich stehe vor einer Revolution, weil die Regierung und die herrschende Schicht nicht würdig seien, die Macht auszuüben. Dadurch fehle den durch sie verkörperten Institutionen jede Legitimität. Diese treffende Analyse ist historisch binnen kürzester Zeit bestätigt worden, und zeigt die Stärke von Tocquevilles praktisch-politischen Einsichten, die theoretisch auf einer differenzierten Analyse der sozialen und politischen Revolutionsursachen beruhen. Dabei handelt es sich vor allem um jene Delegitimierungsprozesse, die durch den Verfall der Sitten innerhalb der gesellschaftlichen Elite hervorgerufen werden. Tocqueville hat diese Ursache später noch um die These ergänzt, dass Revolutionen auch dann ausbrechen, wenn nach Perioden von Unfreiheit und Unterdrückung vorsichtige Liberalisierung einsetzt. Dann käme es zu einer Erwartungseskalation, die die politische Ordnungen fortlaufend in Frage stelle und zwangsläufig zu Neuregelungen führe. Die Rede Zur Frage des Rechts auf Arbeit hat Tocqueville am 12. September 1848 vor der Verfassungsgebenden Versammlung gehalten. Die Februarrevolution hatte eine Konstituante geschaffen, die seit dem 4. September an einem Verfassungsentwurf arbeitete. Eine besondere Rolle kam der Debatte um den Artikel 8 zu, dessen Thema die öffentliche Wohlfahrt war. Der Ausschuss hatte folgenden Wortlauf vorgeschlagen „Die Republik hat den Bürger in seiner Person, seiner Familie, seinem Eigentum, seiner Arbeit und seiner Wohnung zu schützen sowie jedem die fur alle Menschen unentbehrliche Bildung so zugänglich zu machen, dass Intelligenzen entwickelt werden, die dem Vaterland dienen und ihm Ehre bereiten können; sie schuldet unglücklichen Bürgern den Lebensunterhalt, indem sie ihnen (in den Grenzen ihrer Ressourcen) Arbeit beschafft, oder sonst, indem sie der Familie von Arbeitsunfähigen die Existenzmittel sichert."28 Die aufgelisteten sozialen Leistungen entfachten heftigste Kontroversen. Befürworter des Rechts auf Arbeit wollten den Staat noch deutlicher verpflichten, den Erwerbslosen Beschäftigung zu beschaffen, und zwar durch eine Politik großer Bauprojekte oder durch subventionierte Werkstätten, die das Experiment der Nationalwerkstätten in variierter Form fortsetzen sollten. Dem entsprach der Zusatzantrag, den Mathieu (Departement Dröme) tags zuvor am Rednerpult verfochten hatte: „Die Republik hat den Bürger in seiner Person, seiner Familie, seiner Religion und seinem Eigen-

28 Zitiert nach ОС III 3, S. 167, Fn. 2.

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tum zu schützen. Sie gewährt allen Bürgern das Recht auf Bildung, auf Arbeit und auf Unterstützung."29 Tocqueville reagiert in seiner Rede auf den weit reichenden Vorschlag mit einer prinzipiellen Kritik am Sozialismus bzw. Kommunismus, die von ihm nicht weiter unterschieden werden. Er fordert, diese Problematik müsse unbedingt zum Thema gemacht werden, weil aus dem Recht aufArbeit zwangsläufig der Sozialismus/Kommunismus erwachse - eine Gesellschaft, in der alles geplant werde und in der es keine individuelle Freiheit gebe, die also kurz eine „Gesellschaft von Bienen oder Bibern" [Text 7, S. 196] sei. Wie kommt der politische Redner in seinem polemischen und rhetorisch geschickten Vortrag zu diesen Folgerungen? Das Argument lautet, ein tatsächliches Recht auf Arbeit führe dazu, dass der Staat alle Bedürftigen mit Arbeit versorgen müsse. Dadurch werde es keine Konkurrenz mehr geben. Der Staat werde zum Unternehmer und am Ende gar zum einzigen Eigentümer. Das jedoch sei Sozialismus bzw. Kommunismus. Mit Sozialismus ist nicht ein besonderes System gemeint, wiewohl Tocqueville auf Francis-Noel Babeuf, den Schüler Filippo Buonarrotis, und Pierre-Joseph Proudhon angespielt. Tocqueville attackiert den Sozialismus und Kommunismus ideologiekritisch als einen Appell an materielle Leidenschaften (Konsum und Arbeit), einen Angriff auf das individuelle Eigentum und einen prinzipiellen Argwohn gegen die Freiheit. Der Sozialismus sei nicht einfach egalitär, sondern muss, um soziale Gleichheit realisieren zu können, die ganze Gesellschaft regeln. Er ist daher, unabhängig davon, was seine Protagonisten als Ziele ausgeben, etatistisch und undemokratisch. Deshalb könne er nicht als legitimer Erbe von 1789 auftreten, da diese Revolution für Demokratie und das Recht auf Eigentum eingetreten sei. Die Französische Revolution stehe für die Größe und Freiheit des Menschen, während der Sozialismus/Kommunismus nur eine neue Knechtschaft erbringe. Auffällig am Vorgehen von Tocqueville ist die Ausklammerung von Gemeinschaftsideen, Solidarität und Gerechtigkeit, die in der sozialistischen Bewegung und bei ihren Theoretikern stets eine Rolle gespielt haben. Den rhetorischen Höhepunkt der Rede bildet die Passage zu Robespierre, dessen Äußerungen Tocqueville dazu dienen, die Planungs- und Regelungswut des Sozialismus zu geißeln. Damit vereinnahmt er einen von ihm überhaupt nicht geschätzten Autor und verwandelt den Kopf des Wohlfahrtsausschusses in einen Kritiker des Rechtes auf Arbeit. Theoretisch wird die Unterscheidung zwischen politischer Revolution, die die Klassen aufhebt, und für gleiches Wahlrecht aller Bürger sorgt, und sozialer Revolution, welche die Aufhebung von sozialen und ökonomischen Unterschieden anstrebt, verstärkt. Tocqueville bekennt, dass er die Februarrevolution nicht gewünscht habe. Aber in dem Augenblick, da sie nicht mehr verhindert werden könne, müsse ihr ein Sinn gegeben werden, der nur darin liegen könne, dass sie christlich und demokratisch, also keine soziale Revolution sei. Auch im Konzept der Gleichheit wird nun die politische und soziale Seite deutlich differenziert, und die Ablehnung staatlicher Sozialpolitik, die im Pauperismus-Aufsatz dominierte, wird nun um effektive Wohlfahrt variiert, sofern sie der Staat leisten kann. 29 Zitiert nach ОС III 3, S. 169, Fn. 1.

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Die Rede zur Verfassungsänderung (8. Juli 1851) steht im Kontext des neuen Bonapartismus. Louis-Napoleon Bonaparte war 1848 auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechtes, das eine enorme Ausweitung der Stimmberechtigen gegenüber der Julimonarchie brachte, durch eine überwältigenden Mehrheit (mit 5,4 von 7,5 Millionen Stimmen) als Präsident gewählt worden. Seit 1850 suchte er nach Wegen, um die auf vier Jahre befristeten Amtszeit und ausgeschlossener Wiederwahl (Art. 45 der Verfassung) zu umgehen. Dabei nutzte er sein Amt weidlich aus. Vor diesem Hintergrund muss der Bericht der Verfassungskommission gelesen werden, den Tocqueville im Juli 1851 präsentiert. In ihm wird trotz schwieriger Umstände eine legale Verfassungsrevision vorgeschlagen. Dieser Vorschlag hätte einer Dreiviertelmehrheit des Parlamentes bedurft und ist abgelehnt worden. An dem Text sind die Überlegungen zur Rolle von Verfassungen, des allgemeinen Wahlrechtes, des Verhältnisses der Gewalten und die Vorhersage eines autoritär-plebiszitären Regimes auch über den konkreten politischen Anlaß hinaus bemerkenswert. Tocqueville hält, wie die Mitglieder des Ausschusses, deren Bericht er präsentiert, eine legale Veränderung der Verfassung für gefährlich, und zwar vor allem dann, wenn sich die Gesellschaft in einer Krise befindet. Dennoch plädiert er für eine Revision, da sie der einzig legale Weg sei, das Verhältnis zwischen der starken präsidentiellen Macht und der Nationalversammlung zu verändern. Dabei weist er als Kenner der amerikanischen Verhältnisse auf die besondere Position des amerikanischen Präsidenten hin, der nicht direkt, sondern durch Wahlmänner gewählt wird und dem anders als in Frankreich keine zentralisierte Exekutive zur Verfugung steht. Indirekt erörtert Tocqueville hier die Möglichkeit eines Plebiszites fur Louis-Napoleon, das er klar ablehnt. Aufgrund seiner anhaltenden Popularität würde ein Plebiszit zu seinen Gunsten die politischen Gewichte noch weiter verschieben. Dies wäre eine Bedrohung für die Demokratie und die Freiheit. Um einen Bürgerkrieg zu verhindern, unterstützte Tocqueville allerdings nicht nur die Verfassungsänderung, sondern sogar die darin enthaltene Wiederwahlmöglichkeit für den Präsidenten. Gleichzeitig plädierte er für eine Neugewichtung von Exekutive und Nationalversammlung. Diese wurde jedoch durch den Staatsstreich vom Dezember 1851, der Auflösung der Nationalversammlung und einer Proklamation von LouisNapoleon Bonaparte zum Präsidenten für die nächsten 10 Jahre mit voller Souveränität bei der Ministerernennung, exekutiver Macht, dem Recht zur Gesetzesinitiative u.a.m. verhindert. Geschickt nutzte Louis-Napoleon Bonaparte das allgemeine Wahlrecht und erhielt dann durch das Plebiszit vom 20./21. Dezember 1851 den Auftrag zu einer Neuausarbeitung der Verfassung. Damit war die zweite Republik faktisch zu Ende auch wenn es noch ein Jahr dauerte, bis sich der Präsident als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen erklärte. Tocqueville opponierte 1851 gegen die Auflösung der Nationalversammlung. Er wurde inhaftiert und zog sich nach seiner Freilassung in die innere Emigration zurück. In seiner Enttäuschung über die politischen Erfahrungen sprach er dem französischen Volk, das nach Ruhe und Ordnung giere und voller Angst vor den Sozialisten sei, den Verdienst der Freiheit ab. Jedoch bewahrte Tocqueville die theoretische Einsicht des Analy-

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tikers, dass der Übergang zur Demokratie schwierig sei und zu ihrer Einschränkung oder gar zeitweiligen Ablehnung fuhren könne, wenn die demokratischen Sitten und Erfahrungen fehlten. Tocqueville lebte und wirkte in einer Zeit, in der die moderne politische Sprache ausgeprägt wurde - einer Zeit, in der jede Menge Abstraktionen und Ideologien aufkamen und in der die Begriffe ihres Erfahrungsgehaltes entleert wurden. Gegen diesen Trend hat er seine Begriffe konkret erfahrungswissenschaftlich bestimmt, wobei die vielfach konstatierten Ungenauigkeiten häufig darauf zurückzufuhren sind, dass verschiedene Aspekte aufgezeigt werden sollen. Dennoch hat er mit seinen idealtypischen Begriffen, deren Status oft nicht genau geklärt ist, auch einen Beitrag zu den abstrakt-ideologischen, erfahrungsfernen Begriffen geleistet, indem er ungeachtet aller Differenzierungen die Kollektivsingulare Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Revolution prominent gemacht hat. Dem doppelten Bezug politischer Begriff, nämlich analytisch und zugleich handlungsorientierend zu sein, kann man in Schriften, die politische Interventionen sind, nicht entkommen.

V. Konzeptuelle Fragen der Übersetzung Man kann Tocqueville auf verschiedene Weise übersetzen, und da jede Übersetzung eine Interpretation ist, soll die Herangehensweise an die politische Schriften verdeutlicht werden. Die akademischen und politischen Reden sind politische Interventionen, deren Gehalt verdeutlicht werden soll. Daher wird im Gegensatz zu den älteren zum Teil etwas epischen Übertragungen eine Variante gewählt, die dicht dem Original folgt. Das ist allerdings aus einem prinzipiellen Grund schwierig, da die Schlüsselbegriffe oft nicht eindeutig sind und die Schriften Analysen enthalten, die deskriptive und normative Momente mischen. Einige terminologische Entscheidungen seien ausdrücklich markiert. Der Begriff Klasse changiert bei Tocqueville notorisch, mal ist es eine Schicht, ein Stand, eine Führungsgruppe oder auch eine Berufsgruppe. Was Klasse bei ihm bedeutet, wird kontrovers diskutiert. So schreibt Jon Elster, solche Aggregate würde Tocqueville aus individuellem Handeln ableiten, denn: „he was, [...], apractitioner of methodological individualism" (vgl. Elster 1993: 136). Dagegen hält Füret fest, dass er „diesen Grundbegriff ständig in zweideutiger Weise" verwende und ihn auch für Stände und Eliten nutze (vgl. Füret 1989: 167). Dennoch ist der Begriff nicht beliebig, denn oft erklärt Tocqueville explizit, was gemeint ist, wenn es nicht bereits der Kontext verdeutlicht. In der vorliegenden Übersetzung ist „class" meist mit Schicht wiedergegeben, um die Differenz zu anderen Klassenkonzepten zu verdeutlichen. Ein anderes Beispiel ist der Begriff Industrie, den wir aktualisierend als große Industrie lesen würden, bei Tocqueville aber nur selten Industrie im modernen Sinne meint und hier deshalb meist mit Gewerbe übersetzt wird. Wenngleich Tocqueville der Religion erhebliche Relevanz für eine demokratische und freiheitliche Ordnung zuschreibt, so ist für ihn diese Thema selbst im Buch über die USA nicht zentral. Er bezieht seine Terminologie aus der Philosophie, politischen Wis-

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senschaft und der politischen Ökonomie. Daher ist in der Denkschrift über den Pauperismus von Mildtätigkeit die Rede und nicht von Barmherzigkeit, einem eher religiös konnotierten Begriff. Dies liegt auch deshalb nahe, weil Tocqueville dieses Verhalten strukturell innerhalb der zivilen Gesellschaft und nicht der religiösen Gemeinschaft verortet. Die Übersetzung stößt auch auf Probleme, die sich aus späteren Debatten ergeben haben. So verwendet Tocqueville recht unbefangen den Begriff Rasse und bestimmt damit unterschiedliche Lebenskulturen aber auch Differenzen im historisch bestimmten Nationalcharakter verschiedener Völker. Sein Begriff von Rasse ist daher nicht rassistisch. Explizit hat er sich von Gobineau und dessen Rassenkonzept abgesetzt .30 James Schleifer (2000, Kap. 5), der der Frage nachgegangen ist, ob und inwieweit Rasse und Blut für den Nationalcharakter der Amerikaner bei Tocqueville wichtig sind, hat dies anhand von drei Punkten verneint: Erstens gehe Tocqueville vergleichend vor und beschreibe die Unterschiede der Amerikaner vor allem da, wo sie sich durch den Einfluss von Rasse nicht erklären lassen. Zweitens wende er sich gegen den fatalistischen Ansatz, nach dem die Rasse determiniere, was getan werden könne. Dies widerspreche nicht nur dem Begriff der Freiheit bei Tocqueville, sondern auch der großen Bedeutung, die er der Praxis der Freiheit beimisst. Und drittens schlössen Tocquevilles Arbeiten die Möglichkeit der Selbstveränderung von Nationen immer ein, die er zudem ausschließlich aus sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren ableite. Editorische

Notiz

Die Übersetzung von Skadi Krause und Joachim Wilke folgt den Texten der (Euvres Completes Edition definitive, unter der Leitung von Jacob Peter Mayer, 18 Bde. Paris 195 Iff. (ОС). Die Endredaktion aller Texte hatte Skadi Krause. Hervorhebungen im Text, soweit sie nicht anders gekennzeichnet sind, stammen von Tocqueville. Die Titel sind redaktionelle Titel und werden in der ersten Note komplett mit Quellennachweis angegeben. Diese Note enthält jeweils auch einige Hinweise zum Entstehungskontext. Die erläuternden Noten stammen von den Übersetzern oder dem Herausgeber. Nur im Text Gedanken über Algerien gibt es Noten von Tocqueville, der den Entwurf bearbeiten wollte und Randnotizen erstellt hat.

30 Er betont zwischen ihm und Gobineau liege eine „intellektuelle Welt" (vgl. Schleifer S. 94). In ОС IX ist der gesamte Briefwechsel beider Autoren ediert. In Tocqueville 1959 sind viele Briefe auf Englisch zugänglich.

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VI. Literatur

1. Werke von Alexis de Tocqueville 1.1. Gesamtausgaben (Eeuvres completes d'Alexis de Tocqueville, hg. von Mme de Tocqueville, 9 Bde., Paris 1864-1866. Edition des (Euvres completes, 18 Bde., Paris (Gallimard) 1951 ff. 1.2. Ausgewählte Einzelschriften Amerikas Besserungssystem und dessen Anwendung auf Europa (mit Gustave de Beaumont), Berlin 1833 - Engl.: On the Penitentiary System in the United States and its Application in France, übers, von Francis Lieber (1833), Carbondale/Edwardsville 1964 (Reprint 1979). Der alte Staat und die Revolution, vollst. Ausg., übers, von Theodor Oelckers, mit einem Nachwort von Jacob P. Mayer, München 1978, 19893. - Fr.: L'Ancien Regime et la Revolution, Paris 2004. - Engl.: The Old Regime and the Revolution, übers, von Alan Kahan, Chicago 1998. Erinnerungen, Stuttgart 1954. - Fr.: Lettres choisies, Souvenirs, 1814-1859, hg. von Franfoise Melonio und Laurence Guellec, Paris 2003. In der nordamerikanischen Wildnis, Stuttgart 1969. - Fr.: Regards sur le Bas-Canada, hg. und eingel. von Claude Corbo, Montreal 2003. Journeys to England and Ireland, hg. von Jacob P. Mayer (1958), New Brunswick (USA)/ Oxford (UK) 1988. Memoir on Pauperism, hg. von Gertrude Himmelfarb, Chicago 1997. Über die Demokratie in Amerika (183 5/40), Zürich 1987,2 Bde. - Fr.: De la Democratic en Amerique, 2 Bde., Paris 1992. - Engl.: Democracy in America, hg. von Olivier Zunz, übers, von Arthur Goldhammer, New York 2004. Writings on Empire and Slavery, hg. und übers, von Jennifer Pitts, Baltimore/London 2001. 1.3. Ausgaben, Übersetzungen und Reader (für ausgewählte Länder) Frankreich Kritische Ausgaben von De la Democratic en Amerique 1990 hg. von Eduardo Nolla, 2 Bde., Paris; 1992 hg. von Jean-Claude Lamberti/James T. Schleifer, Paris.

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Kritische Ausgabe von L 'Ancien Regime et la Revolution 2004 hg. von Francis Füret und Franfoise Μέΐοηίο, in: CEuvres, Bd. III, Bibliotheque de la Pleiade, S. 42-720, Paris (enthält die geplanten Fortsetzungen und Entwürfe). USA/angelsächsischer

Sprachraum

Übersetzungen Über die Demokratie in Amerika 1835 von Henry Reeve, Bd. 1 in London und 1838 in New York; Bd. 2 1840 in London auch von Reeve, und 1841 in New York - klassische durch Tocqueville betreute Ausgabe. 2000 von Harvey С. Mansfleld/Delba Winthrop, Chicago/London. 2004 von Arthur Goldhammer, New York. Der Alte Staat und die Revolution 1998: The Old Regime and the Revolution. The Complete Text, hg., eingel. und mit krit. Apparat von Franfoise Füret und Fran9oise Melonio, übers, von Alan Kahan, Chicago. Weitere Texte 1959: The European Revolution & Correspondence with Gobineau, hg. von John Lukacs, Westport (enthält die unveröffentlichten Fortsetzungen von Der Alte Staat und die Revolution). 1985: Selected Letters on Politics and Society, hg. von Roger Boesche, Berkeley/Los Angeles/London. Reader: 2002: The Tocqueville Reader. A Life in Letters and Politics, hg. von Olivier Zunz und Alan Kahan, Oxford. Deutschland Übersetzungen 1987: Über die Demokratie in Amerika, übers, von Hans Zbinden, mit einem Nachwort von Theodor Eschenburg, 2 Bde., Zürich (zuerst 1959/62 Stuttgart). Die Reclam Ausgabe von Über die Demokratie in Amerika zuletzt 2004 (stark gekürzte Ausgabe). 1978: Der Alte Staat und die Revolution, übers. Thomas Oelckers, hg. von Jacob P. Mayer, München (zuerst 1867 Leipzig, dann 1959 übers, und hg. von Jacob P. Mayer Bremen). 1954: Erinnerungen, übers, von Dirk Förster, Einl. von Carl J. Burckhardt, Stuttgart. Reader 1935: Autorität und Freiheit, hg. von Albert Salomon, Zürich (enthält Auszüge aus den Hauptwerken, Auszüge und gekürzte Übersetzung wichtiger Aufsätze und Briefe). 1967: Das Zeitalter der Gleichheit, hg. von Siegfried Landshut, Köln/Opladen 1967 (enthält Auszüge aus den Hauptwerken, Auszüge und gekürzte Übersetzungen wichtiger Aufsätze und Briefe).

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Über die politischen Wissenschaften [1852]1

Meine Herren, die Akademie, in deren Namen zu sprechen ich heute die Ehre habe, war seit ihrer Gründung dubiosen Urteilen ausgesetzt; man hat ihr sogar das Daseinsrecht abgesprochen.2 Man gesteht gern zu, dass das Handeln des Privatmanns einem von Dauer geprägten Muster zu folgen hat und dass die Moral eine Wissenschaft ist. Aber steht es ebenso um die menschlichen Ansammlungen, die man Gesellschaften nennt? Gibt es eine Wissenschaft von der Politik? Man ist so weit gegangen, das zu bestreiten, und, was schon seltsam genug ist, es sind vor allem die Politiker, also jene, die selbstverständlich diese Wissenschaft betreiben müssten, die sich ihr gegenüber solch eine Freiheit herausnehmen. Sie haben sich zuweilen erlaubt, sie als aus der Luft gegriffen oder zumindest als gehaltlos zu bezeichnen. Es sei, sagten sie, etwas leicht Kindisches daran, sich einzubilden, dass es eine spezielle Kunst gebe, die das Regieren lehre. Das Feld der Politik sei zu vielfaltig und beweglich, als dass es möglich sei, in ihm die Fundamente einer Wissenschaft zu legen. Die Ereignisse, die ihren Stoff ausmachen würden, hätten untereinander nur eine eingebildete und irreführende Ähnlichkeit. Die Zeit, in der sie geschehen, die Lebensbedingungen der Völker, bei denen man sie beobachtet, der Charakter der Menschen, die sie schaffen oder erdulden, machten sie so grundsätzlich verschieden, dass sie nur für sich sinnvoll betrachtet werden können. Der Fürst, der versuchte, sein Volk mit Hilfe von Theorien und Sinnsprüchen zu regieren, die er sich beim Studium der Philosophie und Geschichte angeeignet hat, könnte sich in einer misslichen Lage befinden; zu erwarten wäre, dass ihm der einfache gesunde Menschenverstand von größerem Nutzen sei.

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Der Text gibt die Rede von Tocqueville auf der öffentlichen Jahressitzung der Academie des Sciences Morales et Politiques am 3. April 1852 wieder, die er als Präsident dieser Akademie hielt. Historisch ist bemerkenswert, dass Napoleon Bonaparte 1803 die fünfte Klasse des 1795 gegründeten Institut national geschlossen hatte. 1832, kurze Zeit nach der Julirevolution, empfahl Francois Pierre Guillaume Guizot (1787-1874) als Minister des öffentlichen Unterrichts, sie als Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften wieder zu etablieren.

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Über die politischen Wissenschaften

Dies ist die etwas hochmütige Redeweise, die ich von Politikern in Bezug auf die Wissenschaften, die die Politik zum Gegenstand haben, und jenen, die sie betreiben, vernommen habe. Ich fand immer, dass sie Unrecht hatten. In der Politik gibt es zwei Teile, die man nicht zusammenwerfen darf: der eine steht fest, der andere ist veränderlich. Der erste gründet sich auf die Natur des Menschen, auf seine Interessen, seine Vermögen, seine von der Philosophie und der Geschichte offenbarten Bedürfnisse und Instinkte, die zwar mit der Zeit das Objekt, doch nicht ihr Wesen wechseln, und die ebenso unsterblich sind wie seine Natur. Dieser erste Teil, sage ich, lehrt, welche Gesetze der allgemeinen und bleibenden Lage der Menschheit am besten angepasst sind. Das alles ist Wissenschaft. Und dann gibt es eine praktische und tätige Staatskunst, die mit den alltäglichen Schwierigkeiten ringt, der Vielfalt der Vorkommnisse folgt, für die vorübergehenden Bedürfnisse des Augenblicks Sorge trägt und die flüchtigen Leidenschaften der Zeitgenossen abfedert. Das ist die Regierungskunst. Diese Kunst unterscheidet sich wahrlich von der Wissenschaft - die Praxis weicht oft ab von der Theorie, ich leugne es gar nicht; ich gehe sogar noch weiter, wenn man so will, und mache das Zugeständnis, dass meines Erachtens Glanzleistungen in der einen kein Grund fur Erfolge in der anderen sind. Ich weiß nicht, meine Herren, ob in einem Land, das unter seinen großen Publizisten und Schriftstellern so viele herausragende Staatsmänner zählte 3 , wirklich gesagt werden darf, dass das Schreiben guter Bücher, auch solcher über Politik oder das, was sich darauf bezieht, ziemlich schlecht zum Regieren von Menschen und zum Umgang mit gesellschaftlichen Angelegenheiten vorbereitet. Ich erlaube mir dennoch, das zu glauben und zu denken, dass jene hervorragenden Schriftteller, die sich zugleich als Staatsmänner ausgewiesen haben, deshalb überzeugen konnten, nicht, weil sie berühmte Autoren waren, sondern obwohl sie es waren. Die Kunst zu schreiben legt denen, die sie lange gehandhabt haben, eine Geisteshaltung nahe, die sich wenig zur Führung öffentlicher Angelegenheiten eignet. Sie unterwirft diese der Logik der Gedanken, während die Menge immer nur jener der Leidenschaften gehorcht. Sie beschert ihnen den Gefallen am Endgültigen, am Schwierigen, am Geistreichen und am Ursprünglichen, während gerade die großen Gemeinplätze die Welt umtreiben. Selbst das Studium der Geschichte, das oft den Bereich der gegenwärtigen Ereignisse erhellt, verdunkelt diesen mitunter. Wie viele unter uns haben nicht, den Geist von gelehrtem Schleier umhüllt, im Jahr 1789 das Jahr 1640 und im Jahr 1830 das Jahr 1688 3

Tocqueville spielt hier u.a. auf seine Zeitgenossen Benjamin Constant (1767-1830) und Pierre-Paul Royer-Collard (1763-1845), Abel Francis Villemain (1790-1870), Adolphe Thiers (1797-1877) und vor allem Francois Pierre Guillaume Guizot an, die nicht nur wegen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten angesehen waren, sondern auch einen Ruf als herausragende Politiker genossen. Tocqueville stand mit ihnen in Briefkontakt.

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erblickt 4 , und, immer um eine Revolution verspätet, letztere wie erstere behandeln wollen. Sie ähnelten jenen Ärzten, die sich mit der Heilung alter Krankheiten des menschlichen Körpers auskennen, jedoch jenes spezifische und neue Leiden verkennen, dass ihren Patienten plagt, so dass sie ihn vor lauter Gelehrsamkeit beinahe umbringen! Ich habe manchmal bedauern hören, dass Montesquieu zu einer Zeit gelebt habe, in der er nicht die Politik erproben konnte, die er zur Wissenschaft erhoben hat. Ich habe in diesem Bedauern immer viel Unbesonnenheit entdeckt; vielleicht hätte ihn die etwas überfeinerte Scharfsinnigkeit seines Geistes in der Praxis den entscheidenden Punkt verfehlen lassen, an dem sich der Erfolg entscheidet; es hätte wohl geschehen können, dass er anstatt der bedeutendste Literat zu sein, nur ein recht schlechter Minister geworden wäre, was nichts Ungewöhnliches bedeuten würde. Erkennen wir also, meine Herren, dass die politische Wissenschaft und die Kunst, zu regieren, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Aber folgt daraus, dass die politische Wissenschaft nicht existiert oder nutzlos ist? Wenn ich untersuche, was manche Gemüter daran hindert, sie zu erkennen, so finde ich, dass es gerade ihre Größe ist. Die Wissenschaft, die sich mit der Führung der Gesellschaften beschäftigt, deckt nämlich den unermesslichen Raum ab, der sich von der Philosophie bis zu den elementaren Arbeiten zum Zivilrecht erstreckt. Weil sie nahezu grenzenlos ist, bietet sie dem Blick keinen eindeutigen Gegenstand. Man verwechselt sie mit allen Kenntnissen, die sich direkt oder indirekt auf den Menschen beziehen, und in dieser Grenzenlosigkeit verliert man sie aus den Augen. Doch wenn man sich bemüht, diese große Wissenschaft aufmerksam zu betrachten, wenn man das beiseite lässt, was sie berührt, ohne Teil von ihr zu sein, dann treten die verschiedenen Bestandteile, die sie wirklich ausmachen, in Erscheinung, und man erhält schließlich eine klare Idee vom Ganzen. Man sieht sie dann über regelmäßige Stufen vom Allgemeinen zum Besonderen und von der reinen Theorie zu den Gesetzestexten und den Tatsachen hinabsteigen. Für denjenigen, der sie derart betrachtet, hören die Autoren, die sich einen Ruf erworben haben, auf, eine verworrene Menge zu bilden; sie scheiden sich in sehr unterschiedliche Gruppen und jede von ihnen kann für sich untersucht werden. Die einen forschen, ob mit Hilfe ausfuhrlicher Geschichtsdarstellungen oder durch abstraktes Studium des Menschen, welches die Naturrechte sind, die dem Gesellschaftskörper zukommenden und welche Rechte der Mensch formt, welche Gesetze den Gesellschaften je nach deren ursprünglich gegebenen oder übernommenen Formen am besten entsprechen und welche Regierungssysteme nach den konkreten Bedingungen, dem Ort und

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Der Vergleich zwischen der Englischen Revolution und der Französischen Revolution, der sich u.a. in den Werken von Augustin Thierry (1795-1856), Francois-Rene de Chateaubriand (1768-1848) und Francois Auguste Mignet (1796-1884) findet, steht auch im Mittelpunkt der historischen Werke Guizots. Vgl. Franfois Pierre Guillaume Guizot: Histoire de la revolution d'Angleterre, depuis l'avenement de Charles Ier jusqu'ä la restauration de Charles II., 2 Bde., Paris 1826/1827 (dt.: Geschichte der englischen Revolution bis zum Tode Karls I., Leipzig 1850) und ders.: Memoires pour servir a l'histoire de mon temps, Bd. III, La Revolution de 1830, Paleo 2003.

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der Zeit anwendbar sind. Das sind die Literaten: Das sind Piaton, Aristoteles, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau, um nur einige glanzvolle Namen zu nennen. Andere unternehmen dieselbe Arbeit in Bezug auf jene Gesellschaft der Nationen, wo jedes Volk als Bürger auftritt, wahrlich eine immer etwas barbarische Gesellschaft, selbst in den am meisten zivilisierten Jahrhunderten, sosehr man sich auch immer müht, die Beziehungen zwischen ihren Gliedern abzumildern und zu richten. Sie enthüllen und zeigen, über einzelne Verträge hinausgehend, was das Völkerrecht ist. Das ist das Werk von Grotius und Pufendorf. Wiederum andere, indem sie der politischen Wissenschaft ihren allgemeinen und theoretischen Charakter belassen, beschränken sich auf einen einzigen Teil ihres umfassenden Gegenstandsbereichs: Das ist Beccaria5 mit der Aufstellung der für alle Völker geltenden Regeln des Strafrechts; das ist Adam Smith6 mit seinem Versuch, die Ursachen des Wohlstandes der Nationen zu entdecken. Wir gelangen so, indem wir unseren Untersuchungsgegenstand immer weiter einengen, bis zu den Rechtsgelehrten und den großen Kommentatoren, zu Cujas 7 , zu Domat 8 , zu Pothier9 und zu all denen, welche die bestehenden Institutionen, Verträge, Verfassungen und Gesetze auslegen und erklären. In dem Maß, wie wir von der Idee zu den Tatsachen hinab gestiegen sind, hat sich das Feld der politischen Wissenschaft verengt und konkreter gestaltet; allein es bleibt immer dieselbe Wissenschaft. Man kann sich davon überzeugen, wenn man alle Autoren, die sich mit den soeben genannten unterschiedlichen Stoffen befassen, untereinander vergleicht und darauf achtet, wie sie sich, so entfernt sie auch voneinander zu stehen scheinen, dennoch die Hände reichen und einander unablässig beistehen. Es gibt keinen Kommentator, der sich nicht immer wieder auf die von den Literaten gefundenen abstrakten und allgemeinen Wahrheiten berufen hätte, und jene müssen ihre Theorie auf die einzelnen Gegebenheiten und bewährten Institutionen stützen, welche die Kommentatoren enthüllt und beschrieben haben. Was mich jedoch verwundert, meine Herren, ist die Existenz der politischen Wissenschaften in einem Land demonstriert zu haben, wo ihr Vermögen allerseits augenfällig ist. Sie bestreiten, was die politischen Wissenschaften sind und was sie können! Schau-

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Cesare Beccaria (1738-1794) wurde durch sein 1764 erschienenes und in viele Sprachen übersetztes Buch Dei delitti e delle репе (dt.: Über Verbrechen und Strafen, Berlin 2005) berühmt. Vgl. Eberhard Weis: Cesare Beccaria (1738-1794), Mailänder Aufklärer und Anreger der Strafrechtsreformen in Europa, Bayrische Akademie der Wissenschaften 1992. Tocqueville bezieht sich hier auf Smith's (1723-1790) The Wealth of Nation. Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776 (dt.: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, Tübingen 2005). Jacques Cujas (1520-1590), Quae de iure fecit, Hannover 1602. Gemeint ist Jean Domat (1625-1696), dessen fiinfbändiges Werk Les lois civiles dans leur ordre naturel, das zwischen 1689 und 1695 erschien, bis heute als wichtigste Quelle für den Code civil gilt. Robert-Joseph Pothier (1699-1772): Oeuvres completes, 26 Bde., Paris 1821/1824.

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en Sie sich um, sehen Sie diese Monumente, sehen Sie diese Ruinen. Wer hat die einen errichtet, wer die anderen gemacht? Wer hat der Welt von heute ein derart anderes Gesicht gegeben, dass Ihr Großvater, könnte er wiedergeboren werden, weder die Gesetze, die Sitten und Vorstellungen noch die Kleider und Bräuche wieder erkennen könnte, mit denen er vertraut war; ja nicht einmal die Sprache, derer er sich bediente? Wer hat diese Französische Revolution, kurz gesagt, das größte Ereignis der Geschichte hervorgebracht? Ich sage: das größte und nicht das zuträglichste, denn diese Revolution dauert noch an und ich warte noch, bevor ich sie mit solch einem Wort kennzeichne, auf die Kenntnis ihrer endgültigen Wirkung; doch, nichtsdestotrotz, wer hat sie hervorgebracht? Waren es die Politiker des 18. Jahrhunderts, die Könige, die Minister, die großen Lehnsherren? Diese sind weder zu preisen noch zu verdammen; sie sind zu beklagen, denn sie haben fast alle etwas anderes geschaffen, als sie wollten, und letzten Endes etwas hervorgerufen, was sie völlig ablehnten. Die großen Urheber dieser gewaltigen Revolution sind gerade die Menschen jener Zeit, die nie im Geringsten an den öffentlichen Angelegenheiten teilhatten, die Schriftsteller - keiner, der das nicht weiß - ; es ist die politische Wissenschaft, und das bedeutet oftmals abstraktes Wissen, die im Geist unserer Väter all jene neuen Keime säte, aus denen plötzlich so viele politische Institutionen und bürgerliche Gesetze, die unseren Vorfahren unbekannt waren, keimten. Angemerkt: Was die politischen Wissenschaften da mit so unwiderstehlicher Macht und so wunderbarem Leuchten vollbracht haben, das machen sie überall und immer, obgleich mit mehr Zurückhaltung und Gemächlichkeit; bei allen zivilisierten Völkern sind die politischen Wissenschaften Schöpfer oder zumindest Gestalter jener allgemeinen Ideen, aus denen dann die spezifischen gesellschaftlichen Umstände erwachsen, unter denen die Politiker handeln, wie auch die Gesetze, die sie zu ersinnen glauben; sie hüllen jede Gesellschaft gleichsam in eine Art Begeisterung ein, die den Geist von Regierten und Regierenden gleichermaßen belebt und woraus die einen wie die anderen, oft ohne es zu wissen und manchmal ohne es zu wollen, die Prinzipien ihres Handelns ableiten. Die Ungebildeten sind die einzigen, die in der Politik nur die Praxis erkennen. Unsere Akademie, meine Herren, ist berufen, diesen notwendigen wie Furcht erregenden Wissenschaften eine Heimstatt und eine Ordnung zu bieten.10 Sie muss sie in voller Freiheit pflegen und darf sie nicht ausschließen, außerdem muss sie sich stets vergegenwärtigen, dass sie eine Gelehrtenversammlung und keine politische Körperschaft ist. Die Würde ihres Handelns hängt davon ab. Sie ist im Übrigen immer so verfahren; und man hat jetzt von ihr nur zu verlangen, sie solle sich selbst treu bleiben. Immer war die Akademie darauf bedacht, im Unterschied zu den Parteien, sich in dem ruhigen Gewässer der reinen Theorie und der ab-

10 Beaumont verweist in seiner Ausgabe darauf, das (heute verschollene) Manuskript der Rede weiche an dieser Stelle erheblich von dem Redetext ab, der 1852 in der Sammlung der Abhandlungen der Akademie herausgegeben wurde. Eine Anspielung Beaumonts in einem Brief an Tocqueville vom 1. April 1852 scheint anzudeuten, dass Tocqueville darauf verzichten musste, diese Passage vorzutragen.

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strakten Wissenschaft aufzuhalten. Nicht nur, dass sie sich dort selbst zurückgezogen hat, sie unternahm auch alle Anstrengungen, um dorthin die unaufhörlich von den Leidenschaften des Augenblicks und dem Lärm der Geschäfte zerstreuten Gedanken zu lenken und zurückzuhalten. Das belegen die Themen für ihre Preisausschreiben, und der Wettbewerb, den wir heute zu beurteilen haben, bestätigt es vollauf. Die erste Frage, die sie gestellt hat, lautete: „Vergleichen Sie die Moralphilosophie und die politische Philosophie von Piaton und Aristoteles mit den Lehren der größten modernen Philosophen zu denselben Gegenstandsbereichen. Würdigen Sie, was an diesen verschiedenen Systemen zeitabhängig und falsch und was daran wahr und unsterblich ist." Das so gewiesene Untersuchungsfeld ist unermesslich weit; es umfasst nahezu die gesamte Geschichte der moralischen und politischen Wissenschaften; nun sind dies unter allen Wissenschaften diejenigen, womit sich der menschliche Geist als erstes und unablässig befasst hat. Ein so altes und anhaltendes Studium muss eine fast unendliche Anzahl unterschiedlicher Begriffe und Theorien hervorgebracht haben. Diese gewaltige Arbeit des Geistes aufzuarbeiten und zu beurteilen, scheint eine Aufgabe zu sein, die die Grenzen eines Gedächtnisses und selbst die eines Buchs überschreitet. Das Unternehmen ist tatsächlich schwierig, doch es ist nicht unausführbar. Es gibt zwischen den physikalischen und den moralischen Wissenschaften, neben vielen anderen, den großen Unterschied, dass das Feld der ersteren nahezu ohne Grenzen ist, weil es nur die Grenzen der Natur kennt, während die anderen auf das Studium eines einzigen Gegenstands beschränkt sind, den Menschen, und obwohl dieser Gegenstand viele Aspekte hat, je nach den Menschen und Zeiten, und außerdem der Schleier, der ihn immer umgibt, Anlass zu allerlei Täuschungen und Irrtümern gibt, ist doch die Anzahl der Grundvorstellungen, welche diese Wissenschaften hervorgebracht haben, nicht so groß, wie man annehmen könnte, wenn man an all diejenigen denkt, die sich damit befasst haben. Es ist unglaublich, wie viele Vorstellungen über Moral und Politik nacheinander entdeckt, vergessen, wieder aufgegriffen und abermals vergessen wurden, um etwas später erneut die Welt zu bezaubern oder zu überraschen, als ob sie neu seien, und so die Unwissenheit der Menschen, nicht aber die Produktivität des menschlichen Geistes zu bezeugen. Es wäre vielleicht erlaubt, auf die moralischen und politischen Wissenschaften das zu übertragen, was Frau de Sevigne in vollendeter Weise von der Liebe gesagt hat: dass sie nämlich einen ständigen Neubeginn darstellt.11 Sie wiederholen oft, was sie bereits auf andere Art ausgesagt haben. Sie bieten nur eine kleine Anzahl an Wahrheiten an, die nicht besonders alt sind, und einige wenige Irrtümer, die nicht veraltet schienen, würde man ihre Entstehungszeit kennen. So würden uns die meisten jener Sozialtheoretiker, die wir heutzutage beobachten und die uns mit Recht so gefahrlich erscheinen, uns obendrein nichts sagend vorkommen, hätten wir nur mehr Belesenheit und ein besseres Gedächtnis.

11 Vgl. Lettres de Mme de Sevigne, hg. von A. Regnier, Paris 1925, Bd. I, S. 397 (dt.: Marie de Rabutin-Chantal de Sevigne : Briefe, Frankfurt am Main 1998).

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Es ist also möglich, durch das Studium der berühmtesten Autoren, die sich im Lauf der Jahrhunderte mit den moralischen und politischen Wissenschaften beschäftigt haben, die Hauptgedanken wieder zu entdecken, die auf diesem Gebiet Geltung hatten, und sie, nachdem sie auf eine recht geringe Anzahl von Theoriesträngen zurückgeführt wurden, miteinander zu vergleichen und zu beurteilen. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe scheint jedoch den Geist der Bewerber abgeschreckt zu haben. Ein einziger hat sich vorgestellt; seine Arbeit fand aufrechte Anerkennung seitens der Akademie, die sie auch verdient hat; allerdings konnte sie diese nicht dazu bewegen, in diesem Jahr einen Preis zu vergeben. Die Akademie hofft, dass sich weitere Bewerber vorstellen, und vor allem wünscht sie, dass der Verfasser der einzigen eingereichten Schrift die bereits beachtliche Arbeit, die er vorgelegt hat, wieder aufnimmt und verbessert. Sie schreibt die Preisfrage deshalb erneut für das Jahr 1853 aus. Alle jene, welche diese Studien pflegen, in denen ohne Zweifel der Mensch und die Gesellschaft Gegenstand des Denkens sind, werden zweifellos zustimmen, so hoffte die Akademie, dass es kaum ein schwierigeres Themenfeld zu bearbeiten gibt, als das von der Akademie gestellte, aber auch kein größeres und schöneres. Die Sektion Gesetzgebung hatte zugleich folgende Frage gestellt: „Welches sind die Reformen, die aus juristischer und philosophischer Sicht notwendig sind, um unsere Zivilprozessordnung zu verbessern?" Sie sehen, meine Herren, hier wird der Horizont enger. Das letztgenannte Thema ist so spezifisch, wie das andere allgemein war. Es geht nicht mehr um den Menschen, sondern um die Rechtsperson. Das Gerichtsverfahren steht in der Öffentlichkeit, das bleibt wohl zuzugeben, nicht sehr in Ehren; man erlaubt sich oft, es mit Rechtsverdrehung zu verwechseln. Es ist indessen besser als sein Ruf, und es ist unrecht, es anhand des Missbrauchs, der vorkommt, zu beurteilen; denn ohne Gerichtsverfahren würden der Richter und der Ankläger in allem, was der Entscheidung vorausgeht und folgt, ohne Regeln handeln, und der Wirkungsbereich des Gesetzes wäre in vielen Fällen noch das Reich von Willkür. Aber richterliche Willkür ist gerade das Siegel der Barbarei; daher haben die zivilisierten Völker den Verfahrensregeln immer große Bedeutung beigemessen. Vor allem die freien Völker waren immer große Querulanten; sie nutzten die Rechtsformen zum Schutz ihrer Freiheit, und man sah, wie sie mit Hilfe tausend kleiner Formalitäten, das, was die Prozessordnung sichern sollte, nämlich die verfassungsmäßig garantierten allgemeinen Rechte, verteidigten; so wie sich die Küstenbewohner besser vor der Zerstörungskraft der See schützen, indem sie kleine Strandgräser anpflanzen, die die Meeresfluten zerteilen und abbremsen, statt hohe Deiche zu errichten, die das Wasser einreist. Dieser wichtige Teil unserer Gesetze blieb gleichwohl der unvollständigste. Die Neuerer, die seit sechzig Jahren alles in Frankreich umgestalteten, haben sozusagen, trotz ihres Verlangens, nichts an den gesetzlichen Regelungen des Zivilrechts verändert. Selbst Napoleon ist daran gescheitert. Viele vereinte Anstrengungen vermochten lediglich diese Gesetze anders anzuordnen, nicht aber ihr Wesen zu ändern. Die Befehle unserer alten Könige hat man nur in unsere Gesetzbücher übertragen. Deshalb dachte ich immer, wenn man behauptete, bei uns sei nichts sicher vor Revolutionen, man übertreibe, denn die Zivilprozessordnung wäre ein Beispiel dagegen. Es ist anzunehmen,

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dass sie dieses seltene Vorrecht solange bewahrt, bis ein großer Schriftsteller für sie das leistet, was Filangieri12 und Beccaria in Bezug auf die Strafprozessordnung vollbracht haben, indem sie sie aus dem Staub und der Dunkelheit der Studierzimmer und Kanzleien hervorgeholt und ans Tageslicht gebracht haben, und so erreichten, dass sie den Vorurteilen der Praxis entrissen und den allgemeinen Vorstellungen der Philosophie und des gesunden Menschenverstandes unterworfen wurden. Gleiches hat die Akademie beabsichtigt, als sie die ausgeschriebenen Fragen stellte; und zehn Bewerber haben darauf geantwortet. Drei Denkschriften haben ihre Anerkennung verdient; dem Ziel hat man sich genähert, aber es ist noch nicht erreicht, und da die Akademie aufgrund der eingereichten Schriften die Bedeutung des Themas beurteilen und Hoffnungen auf den Nutzen der damit angeregten Arbeiten setzen kann, stellt sie die Preisfrage erneut für das Jahr 1853. Drei Preise waren für dieses Jahr vorgesehen. Die Akademie bedauert, die beiden ersten verweigern zu müssen. Sie ist erfreut, den dritten vergeben zu können. Dieser Preis ist Herrn Dr. jur. Bodin, Anwalt am Berufungsgericht zu Paris, überreicht worden.13 Angeregt wurde die Denkschrift, oder eher das Buch Herrn Bodins, denn die Arbeit, von der wir gleich sprechen werden, hat den Umfang und das Verdienst einer großen Abhandlung über das Thema, von folgender Fragestellung: „Untersuchen Sie den Ursprung der Rechtsordnung in Frankreich, indem Sie die Geschichte und die Grundzüge seiner jetzigen Organisation darstellen und beleuchten." Alle Völker, meine Herren, müssen sich für die Geschichte und die Beschaffenheit der Justiz interessieren; denn die Judikative ist vielleicht, alles in allem, diejenige, welche die Lebensumstände jedes Bürgers am meisten beeinflusst. Aber haben wir Franzosen denn nicht besondere Gründe, uns danach zu fragen, welche Rolle die Justiz bei uns spielte? Suche ich nach den beiden Menschenklassen, die am meisten dazu beigetragen haben, die Züge unseres Nationalcharakters auszuprägen, dann finde ich, dass es die Schriftsteller und die Richter waren. Erstere gaben dem französischen Geist das bekannte energische und zugleich feinsinnige Temperament, aber wir besitzen auch das vorwitzige, kühne, unruhige, oft aufrührerische und immer widerspenstige Naturell, das Europa und uns selbst unablässig erschüttert. Letzteres haben uns die Rechtstraditionen vermacht, wozu ein gewisser Respekt der individuellen Unabhängigkeit und ein beharrlicher Sinn für die Rechtsformen und Sicherheitsleistungen gehören, die uns selbst während der Sittenlosigkeit der Revolutionen und der nachfolgenden Gleichgültigkeit anhafteten.14

12 Gaetano Filangieri (1752-1788) hatte mit seiner Scienza della legislatione, die in sieben Bänden zwischen 1780 und 1785 in Neapel publiziert wurde, großen Einfluss auf die französische Strafgesetzgebung. Sein Werk, das zwischen 1786 und 1798 auch in Frankreich übersetzt und zwischen 1822 und 1824 erneut herausgegeben wurde, fand starke Kritik in Benjamin Constants Commentaires sur l'ouvrage de Filangieri, Paris 1822/1824. 13 Das Werk Charles-Edmond Bodins wurde nicht veröffentlicht. 14 Tocqueville hat die Richter des Ancien Regimes mehrmals gepriesen. Vgl. Alexis de Tocqueville: La Dimocratie en Amerique, 1. Buch, 6. Kap. (dt.: Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987,

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Die Geschichte der Literatur und der Justiz in Frankreich zu schreiben, heißt unsere eigenen Ursprünge zu erforschen. Herr Bodin hat diese Aufgabe in Bezug auf die Justiz in sehr beachtlicher Weise erfüllt. Er schildert uns die Wandlungen der Rechtsordnungen in Frankreich von den Römern bis in unsere Zeit. Die Detailfülle in dieser umfassenden Darstellung hindert nicht daran, das Ganze zu verstehen, und der Gesamteindruck ist Anerkennung gebietend. Der historische Teil dieser Schrift hat unser Lob daher sehr verdient. Der philosophische Anteil des Werks kommt dem anderen nicht gleich und schadet ihm etwas. Es ist wirklich leichter, etwas gut zu beschreiben, als es angemessen zu beurteilen. Die Akademie hätte sich auch mehr Klarheit im Denken und mehr Stilsicherheit gewünscht. Der Autor scheint eher ein besserer Zeichner denn ein großer Maler zu sein. Aber sein Werk bleibt nichtsdestoweniger eine schöne Arbeit, die den, der sie geschaffen hat, ebenso ehrt wie die wissenschaftliche Körperschaft, die sie angeregt hat. Nachdem die Akademie die Denkschriften des 1851 er Wettbewerbs beurteilt hatte, musste sie sich damit befassen, neue Themen auszuwählen. Für dieses Jahr hat sie zwei vorgegeben. Das erste wurde von der Sektion Philosophie gestellt: Es betrifft eines der rätselhaftesten Phänomene, die das geheimnisvolle Wesen, das man Mensch nennt, vorweisen kann. Was ist der Schlaf? Welcher Wesensunterschied besteht zwischen Träumen und Denken? Gibt es die künstlich erzeugte Trance, die nichts anderes ist, als die Vervollkommnung des Traums, sozusagen der nutzbar gemachte Traum? Was ist dieser eigenartige Zustand, während dessen mehrere Fähigkeiten des menschlichen Geistes eher erweitert als eingeschränkt scheinen, außer der allerersten, dem Willen, der darin blind oder untergeordnet bleibt? Kann man sich diesem Phänomen mit Hilfe einer vernünftigen philosophischen Methode nähern? Die zweite Frage, die in diesem Jahr gestellt wurde, berührt sowohl die Gesellschaft als auch die Familie. Die Akademie fordert auf zu prüfen, wie aus moralischer und ökonomischer Sicht Eheverträge am besten beschaffen sein sollten. Sie wissen, meine Herren, dass Baron Felix de Beausejour15 einen alle fünf Jahre zu vergebenden Preis für den Verfasser der besten Arbeit über die Linderung der Armut gestiftet hat.16 Die Schrift, welche die Akademie in diesem Jahr von den Bewerbern verlangt, ist ein Lehrbuch der Moral und der politischen Ökonomie für die Schichten der Arbeiter.

Bd. 1, Teil I, Kap. 6). Im 2. Buch von L'Ancien Regime et la Revolution (dt.: Der alte Staat und die Revolution, München 1978) wiederholt er diese Lobrede im 11. Kapitel. 15 Baron Louis-Auguste-F61ix de Beausejour (1765-1836), war seit 1834 korrespondierendes Mitglied der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften und ab 1836 ständiges Akademiemitglied. Im April 1834 hatte er einen alle fünf Jahre zu vergebenden Preis von 5.000 Franc für den Verfasser einer Schrift über die besten Mittel zur Verhinderung und Milderung der Armut gestiftet. Für den Wettbewerb des Jahres 1854 hatte die Akademie das Preisgeld sogar auf 10.000 Franc erhöht. 16 Die Massenarmut wird seinerzeit unter dem Titel des Pauperismus diskutiert. Vergleiche dazu Tocquevilles Denkschrift zum Pauperismus von 1835 in diesem Band.

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Zu allen Zeiten haben Lohnarbeiter und Arme gelebt; aber das Besondere an unserer Zeit scheint die heute so verbreitete Meinung 2x1 sein, dass es irgendwo ein Gegenmittel für diese unheilbare Erbkrankheit der Armut und der Arbeit gebe und dass die Regierenden es mit einigem guten Willen leicht entdecken könnten. Man ist sich darin einig, jeder neu entstandenen Regierung eine vernünftige Frist für die Aufdeckung und Anwendung dieses neuartigen Heilverfahrens einzuräumen, und wenn sie darin versagt, ist man stets bereit, den unkundigen Mediziner zu verjagen, um einen neuen Arzt zu rufen. Die Versuche folgen aufeinander und die Generationen lösen einander ab, ohne dass Fehleinschätzungen berichtigt würden; vielmehr läuft man immer wieder demselben Trugbild und denselben Irrtümern hinterher. Die Akademie stellt die soeben dargelegte Frage mit dem Ziel, dieser falschen Vorstellung, der so viele Übel entspringen, entgegenzuwirken. Sie wünscht zu diesem Zweck, dass sich die Bewerber bemühen, den Arbeitern, die ihre Adressaten sind, einige der elementarsten und bedeutendsten Begriffe der politischen Ökonomie verständlich zu machen und unter ihnen zu verbreiten, zum Beispiel welches die ökonomischen Gesetze sind, welche die Lohnhöhe ausmachen; weshalb diese Gesetze dem göttlichen Recht gewissermaßen gleichgestellt sind, insofern sie, aus der Natur des Menschen und den Strukturen der Gesellschaften selbst hervorgehend, von den gesellschaftlichen Umwälzungen nicht berührt werden, und weshalb die Regierung nichts gegen Lohnsenkungen machen kann, wenn die Nachfrage nach Arbeit sinkt, ebenso wenig, wie man Wasser daran hindern kann, nach der Seite auszulaufen, nach der das Glas kippt. Aber was die Akademie vor allem wünscht, ist, dass die verschiedenen Autoren, die von ihr angeregt wurden, die Wahrheit ans Licht rücken, dass sich das Hauptmittel gegen die Armut im Armen selbst findet, in seinem Handeln, seiner Bedürfnislosigkeit und seiner Fürsorge; überdies im guten und klugen Gebrauch seiner Fähigkeiten; und wenn auch der Mensch sein Wohlergehen in gewisser Weise den Gesetzen verdankt, so verdankt er es vor allem sich selbst; auch könnte man sagen, dass er es sich selbst erarbeitet; denn je weiter der Bürger ist, desto weiter ist auch das Gesetz. Ist es nicht seltsam, meine Herren, dass eine so einfache und so klare Wahrheit unablässig wieder belebt werden muss und dass sie in unserer Zeit, die von der Aufklärung geprägt ist, zu verblassen scheint? Leider ist die Ursache dessen leicht aufzuzeigen; die mathematischen Wahrheiten beruhen auf Beobachtungen und Tatsachen; aber um die moralischen Wahrheiten zu erkennen und von ihnen überzeugt zu sein, bedarf es der Sitten. Die Akademie verlangt von den Bewerbern keine Abhandlung, sondern ein Lehrbuch, das bedeutet, dass sie zu einer kurzen, praktischen und allgemeinverständlichen Schrift auffordert, die für das Volk geschrieben sein sollte, allerdings ohne den Anspruch, die Sprache des Volkes wiedergeben zu wollen, denn dies wäre eine Zweckbestimmung, die der Verbreitung der Wahrheit in den niederen Klassen ebenso abträglich wäre wie das Streben nach Schöngeistigkeit. Die Bedeutung, die die Akademie diesem Büchlein beimisst, beläuft sich auf die Summe von 10.000 Franc, die sie dem kommenden Verfasser verspricht. Aber sie kündigt an, dass sie diesen Preis nur vergeben wird, wenn aus dem Wettbewerb ein bedeutendes und ihrer Absicht voll entsprechendes Werk hervorgeht.

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Ich halte hier inne, meine Herren; es ist Zeit, dem Ständigen Sekretär das Wort abzutreten. Er wird einen unserer Amtskollegen vorstellen, dessen Verlust die Akademie bedauert und dessen Andenken sie ehrt, ich spreche von Herrn Droz.17 Dessen Schriften zu loben und sein Schaffen zu schildern, bedeutet weder den Kreis unserer Studien zu verlassen noch gegen unsere große Mission zu verstoßen, denn das Ehrenswerte wird durch Beispiele noch besser gelehrt als durch Vorschriften, und die beste Moralvorlesung - verzeihen Sie mir bitte, werte Kollegen der Sektion Philosophie - bleibt immer das Leben eines guten Menschen, das von einem Historiker geschildert wird, der die Tugend versteht und liebenswert zu machen weiß.

17 Joseph-Franfois-Xavier Droz (1773-1850), seit 1825 Akademiemitglied, veröffentlichte 1829 sein Hauptwerk Economiepolitique, ouprincipes de la science des richesses (dt.: Politische Oeconomie oder Grundsätze der Wissenschaft der Reichtümer, Berlin 1830). Er schrieb ferner eine Histoire du regne de Louis XVI, pendant les annees ou I 'on pouvait prevoir et diriger la Revolution frangaise, 3 Bde., Paris 1839-1842 (dt.: Geschichte der Regierung Ludwig's XVI., in den Jahren da die französische Revolution verhütet oder geleitet werden konnte, übersetzt v. Heinrich Luden, Jena 1842/ 43), die Tocquevilles rezipiert hat.

Denkschrift über den Pauperismus [1835]1

Erster Teil Über das fortschreitende Wachstum der Massenarmut in der Moderne und die angewandten Mittel, sie zu bekämpfen Wenn man die verschiedenen Länder Europas betrachtet, stutzt man über ein sehr ungewöhnliches und anscheinend unerklärliches Schauspiel. Die Länder, die am ärmsten scheinen, zählen in Wirklichkeit die wenigsten Bedürftigen, und bei den Völkern, deren Reichtum Sie bewundern, braucht ein Teil der Bevölkerung, um leben zu können, die Unterstützung des anderen. Durchqueren Sie die Landgebiete Englands, so glauben Sie sich am Geburtsort der modernen Zivilisation. Ausgezeichnet unterhaltene Straßen, frische und saubere Wohnstätten, fette Viehherden auf satten Wiesen, von Kraft und Gesundheit strotzende Bauern, der Reichtum blendend wie sonst in keinem Land der Welt, der bloße Wohlstand prächtiger und erlesener als anderswo; überall der Anblick von Fleiß, Wohlergehen und freier Zeit; ein Eindruck von allgemeinem Gedeihen, den man überall zu gewinnen meint, so dass einem auf jedem Schritt das Herz bebt; das ist der Anblick, den England auf den ersten Blick dem Reisenden bietet. 2 Dringen Sie dann in das Innere der Gemeinden ein, prüfen Sie die Gemeinderegister, dann entdecken Sie mit unbeschreiblichem Erstaunen, dass ein Sechstel der Einwohner dieses blühenden Königreichs von der öffentlichen Wohltätigkeit lebt. Verlegen Sie ihre Beobachtungen nach Spanien und besonders nach Portugal, so erblicken Sie ein vollkommen entgegengesetztes Schauspiel. Sie treffen auf Schritt und

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Das Memoire sur le Pauperisme wurde zu erst in den Memoires de la Societe academique de Cherbourg, Jg. 1835, S. 293-344 veröffentlicht. Der Text wurde von Tocqueville zwischen Januar und April 1835 verfasst. Tocqueville war seinerzeit Anwalt am Königlichen Gerichtshof zu Paris, und korrespondierendes Mitglied der Königlichen Akademischen Gesellschaft zu Cherbourg. 1837 schreibt Tocqueville einen Second Memoire sur le Pauperisme, der nicht veröffentlicht wurde, er ist in ОС XVI, Paris 1989, S. 140-161 zu finden. Auf seiner Englandreise im Sommer 1833 hatte Tocqueville den Süden der Insel von Weymouth bis nach London durchquert und einige Tage bei Lord William Pleydel Bouverie Radnor (1779-1869) in der Nähe von Salisbury verbracht. Er gewann dabei hauptsächlich einen Eindruck vom agrari-

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Tritt eine schlecht genährte, schlecht gekleidete, unausgebildete und ungesittete Bevölkerung, die in elenden Behausungen zwischen halb brachliegenden Felder lebt; dennoch ist in Portugal die Anzahl der Bedürftigen geringfügig. Herr de Villeneuve schätzt, dass in diesem Königreich ein Armer auf 25 Einwohner kommt.3 Der berühmte Geograph Balbi hatte zuvor einen Bedürftigen pro 98 Einwohner angegeben.4 Stellen Sie, statt fremde Länder miteinander zu vergleichen, verschiedene Teile desselben Landes einander gegenüber, so gelangen Sie zu einem ähnlichen Ergebnis: Sie sehen proportional zur Anzahl der im Wohlstand Lebenden die Anzahl derer steigen, die für ihren Lebensunterhalt auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind. Das Verhältnis der Hilfsbedürftigen in Frankreich fallt nach den Berechnungen eines gewissenhaften Schriftstellers, dessen Theorien ich übrigens längst nicht alle gutheiße, so aus, dass ein Hilfsbedürftiger auf 20 Einwohner kommt.5 Aber man bemerkt zwischen den verschiedenen Teilen des Königreichs enorme Unterschiede. Im Departement Nord, dem sicherlich reichsten, am dichtesten bevölkerten und in allen Dingen am weitesten fortgeschrittenen Bezirk, bedarf fast ein Sechstel der Bevölkerung wohltätiger Unterstützung. In der Creuse, unserem ärmsten und am wenigsten industrialisierten Departement, kommt nur ein Bedürftiger auf 58 Einwohner. In derselben Statistik ist für die Region Manche ein Armer auf 26 Einwohner angegeben. Ich halte es nicht fur unmöglich, eine vernünftige Erklärung für dieses Phänomen zu geben. Die Auswirkung, die ich soeben angeführt habe, beruht auf mehreren allgemeinen Ursachen, die zu weitläufig sind, um sie zu vertiefen, aber wenigstens angedeutet seien. An dieser Stelle möchte ich, um meine Gedanken gut verständlich zu machen, für einen Moment an den Ursprung der menschlichen Gesellschaften zurückkehren. Anschließend werde ich die Entwicklung der Menschheit bis in unsere Tage verfolgen.6 Hier sind also die Menschen, die sich zum ersten Mal zusammenschließen. Sie kommen aus den Wäldern; sie sind noch Wilde; sie vereinigen sich nicht, um das Leben zu genießen, sondern um gemeinsam ihr Leben zu bestreiten, Unterschlupf vor den Unbilden der Witterung zu den verschiedenen Jahreszeiten zu suchen und genügend Nahrung zu finden. Das ist das Ziel ihrer Anstrengungen. Ihr Geist reicht nicht über diese Güter hinaus, und wenn sie sie ohne Mühen erhalten, fühlen sie sich zufrieden mit ihrem Los und verweilen in ihrer ungezwungenen Natürlichkeit. Ich habe bei den wilden Volk-

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schen England. Mit Lord Radnor, der sich vor allem mit Sozialrefoimen beschäftigte, blieb Tocqueville bis zu dessen Tod eng verbunden. Vgl.: Alban de Villeneuve-Bargemont, Economiepolitique chretienne ou Recherches sur la nature et les causes du paupirisme en France et en Europe et sur les moyens de le soulager et de le prevenir, 3 Bde., Paris 1834. Vgl.: Adriano Balbi, Essai statistique sur le royaume de Portugal et d'Algarve compari aux autres Etats del'Europe, Paris 1822. Die Angaben, die Tocqueville hier macht, finden sich allerdings nicht bei Balbi. Es handelt sich hier ebenfalls um Alban de Villeneuve-Bargemont. Die nun folgende Darstellung lehnt sich an Jean-Jacques Rousseaus Discours sur les origines de l 'inegalite an.

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Stämmen Nordamerikas gelebt; ich habe ihr Los beklagt, aber sie empfanden es gar nicht als grausam. In den Rauchschwaden seiner Hütte liegend, bekleidet mit grobem Material, das das Werk seiner Hände ist oder aus seiner Jagdbeute stammt, sieht der Indianer unsere Kunstfertigkeiten mitleidig an, betrachtet er die Fortschritte unserer Zivilisation als ermüdende und schändliche Unterjochung; einzig unsere Waffen regen seine Begierde. In diesem ersten Zeitalter der Zivilisation haben die Menschen also noch sehr wenige Wünsche; sie verspüren fast nur ähnliche Bedürfnisse wie die Tiere; sie haben in den sozialen Bindungen nur die Möglichkeit entdeckt, sie mit geringerem Aufwand zu befriedigen. Bevor ihnen der Ackerbau bekannt war, lebten sie von der Jagd; in dem Augenblick, in dem sie die Kunst erlernten, Ernten einzubringen, wurden sie Bauern. Jeder gewinnt aus dem ihm zufallenden Feld das, was er für sich selbst und seine Kinder als Nahrung braucht. Der Grundbesitz ist geschaffen, und mit ihm sieht man das treibende Element des Fortschritts entstehen. Von dem Zeitpunkt an, wo die Menschen Land in Besitz nehmen, werden sie sesshaft. Sie finden in der Bestellung des Bodens reichlich Mittel gegen den Hunger. Mit der Absicherung des Überlebens beginnen sie zu ahnen, dass sich im menschlichen Dasein andere Quellen des Wohlbehagens finden als nur die Befriedigung der ersten und zwingendsten Bedürfnisse des Lebens. Solange die Menschen Nomaden und Jäger waren, konnte sich Ungleichheit zwischen ihnen nicht bleibend einstellen. Es gab kein äußeres Zeichen, dass sich die Überlegenheit eines Menschen und vor allem einer Familie über eine andere Familie oder einen anderen Menschen dauerhaft etablieren könnte; und wäre ein solches Ungleichgewicht aufgetaucht, hätte man es nicht seinen Kindern weitergeben können. Aber von dem Moment an, in dem das Grundeigentum bekannt war und die Menschen die weiten Wälder in reiches Brachland und saftige Wiesen verwandelt hatten, sah man, wie einzelne sich viel mehr Land aneigneten, als zu ihrer Ernährung erforderlich war, und wie sie das Eigentum auf ihre Nachkommen übertrugen. Von daher rührt der Überfluss; mit ihm entsteht der Gefallen an anderen Genüssen als der Befriedigung der gröbsten Bedürfnisse der physischen Natur. An dieser Stelle der menschlichen Zivilisation ist der Ursprung fast aller Aristokratien zu verorten. Während einige Menschen bereits um die Kunst wissen, mit Reichtum und Macht fast alle geistigen und materiellen Genüsse, die das Dasein bieten kann, in den Händen weniger zu konzentrieren, kennt die große Mehrheit, die nur halb zivilisiert ist, noch nicht das Geheimnis, wie Wohlstand und Freiheit unter allen zu verteilen sind. In jener Epoche der Geschichte des Menschengeschlechts haben die Menschen bereits die ungeschliffenen und selbstgefälligen Eigenschaften, die in den Wäldern aufgekommen waren, abgelegt; sie haben die Vorzüge der Barbarei verloren, ohne das zu erlangen, was die Zivilisation zu bieten vermag. An die Bestellung des Bodens als einzige Nahrungsgrundlage gebunden, wissen sie nicht um die Kunst, die Früchte ihrer Arbeit zu verteidigen. Zwischen wilder Unabhängigkeit, die sie nicht mehr auskosten können, und staatsbürgerlicher und politischer Freiheit, die sie noch nicht zu nutzen wissen, sind sie schutzlos

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der Gewalt und List ausgeliefert und zeigen sich bereit, alle Tyrannei zu erdulden, solange man ihnen gestattet, nahe ihrer Ackerfurchen zu leben oder noch eher zu vegetieren. Zu der Zeit häuft sich der Grundbesitz immer mehr und konzentriert sich die Verwaltung in wenigen Händen. Der Krieg, der heutzutage die politischen Verhältnisse der Völker gefährdet, bedrohte damals das individuelle Eigentum jedes Bürgers, so dass die Ungleichheit in der Welt ihre äußersten Grenzen erreichte und sich der Geist der Eroberung ausbreitete, der gleichsam zum Vater wie zur Mutter aller dauerhaften Aristokratien wurde. Die Barbaren, die am Ende des 4. Jahrhunderts in das Römische Reich einfielen, waren Wilde, die ahnten, welchen Nutzen das Grundeigentum bietet, und sich ausschließlich die Vorteile, die es zu verschaffen vermag, aneignen wollten. Die meisten römischen Provinzen, die sie angriffen, waren von Menschen bewohnt, die seit langem mit dem Ackerbau vertraut waren, weshalb ihre Sitten unter der friedlichen Besitznahme der Felder gemäßigt wurden. Denn die Zivilisation war bei ihnen so weit vorangeschritten, dass sie sie befähigte, die ursprüngliche Wildheit ihrer Feinde zu bekämpfen. Der Sieg der Barbaren gab ihnen nicht nur die Verwaltung, sondern auch den Grundbesitz in die Hand. Der Bauer wurde vom Eigner zum Pächter. Die Ungleichheit zog auch in den Wäldern ein; sie wurde zum Recht, nachdem sie Tatsache geworden war. Die Feudalgesellschaft organisierte sich, und man sah das Mittelalter entstehen. Wenn man darauf achtet, was sich in der Welt seit dem Entstehen der Gesellschaft vollzieht, wird man ohne Mühe entdecken, dass man die Gleichheit nur an den beiden Enden der Zivilisation findet. Die Wilden sind untereinander gleich, weil sie alle gleichermaßen verwundbar und unwissend sind. Die sehr zivilisierten Menschen können alle gleich werden, weil sie alle die gleichen Mittel zur Verfugung haben, Wohlstand und Glückseligkeit zu erzielen. Zwischen diesen beiden Extremen herrschen die Ungleichheit der Stände, des Reichtums und der Bildung: Macht auf der einen Seite, auf der anderen Armut, Unwissenheit und Ohnmacht. Fähige und kundige Gelehrte haben bereits daran gearbeitet, das Mittelalter bekannt zu machen; andere arbeiten noch daran, und zu diesen dürfen wir den Sekretär der Akademischen Gesellschaft zu Cherbourg rechnen.7 Ich überlasse also diese große Aufgabe Menschen, die dazu mehr befähigt sind als ich; ich will hier nur einen Teil des gewaltigen Bildes untersuchen, das die feudalen Jahrhunderte unseren Augen bieten. Im 12. Jahrhundert gab es den Dritten Stand, wie er seither genannt wurde, sozusagen noch gar nicht. Die Bevölkerung war nur in zwei Gruppen geteilt: auf der einen Seite die, die den Boden bearbeiteten, ohne ihn zu besitzen, auf der anderen Seite jene, welche den Boden besaßen, ohne ihn zu bearbeiten. Was jene erste Gruppe der Bevölkerung angeht, stelle ich mir vor, dass ihr Los weniger beklagenswert war als das der Menschen aus dem Volk von heute. Die Menschen, die zu ihr gehörten, besaßen mehr Freiheit, Erhabenheit und Sittlichkeit als die Sklaven 7

Der Sekretär der Akademischen Gesellschaft zu Cherbourg war Joseph-Laurent Couppey. In derselben Sammlung von Tocquevilles Denkschrift erschien Couppeys Tableau de l'Administration de la justice criminelle en Normandie, dans le cours du Moyen Age et specialement dans le temps de l'Empire anglo-normand, S. 73-156.

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unserer Kolonien, die sich in einer ähnlichen Lage befinden. Ihr Lebensunterhalt war fast immer gesichert; das Interesse des Herrn stimmte in diesem Punkt mit dem ihren überein. In ihrem Verlangen ebenso begrenzt wie in ihrem Können, ohne Sorge um die Gegenwart, ungerührt von einer Zukunft, zu der sie keinen Bezug hatten, genossen sie jene Art von unbekümmertem Glück, dessen Reiz der äußerst zivilisierte Mensch ebenso schwer begreift wie er seine Existenz bestreiten kann. Die andere Gruppe bot einen gegensätzlichen Anblick. Dort fand sich neben dem überkommenen Müßiggang eine gewohnte und gesicherte Handhabe mit großem Überfluss. Ich glaube jedoch längst nicht, dass das Streben nach den Genüssen des Lebens selbst in dieser privilegierten Klasse so weit ging, wie man gemeinhin annimmt. Luxus kann es auch in einer noch halb barbarischen Nation geben, aber nicht Wohlstand. Wohlstand setzt eine Schicht mit zahlreichen Angehörigen voraus, die sämtlich und zugleich damit befasst sind, das Leben leichter und bequemer zu machen. Doch in den Zeiten, von denen ich rede, war die Anzahl derer, die sich nicht einzig und allein um ihren Lebensunterhalt bemühten, sehr gering. Deren Dasein war glänzend, luxuriös, aber nicht behaglich. Man aß mit den Fingern von versilberten oder stählernen Schüsseln; die Kleidung war mit Hermelin und Gold besetzt und Wäsche noch unbekannt; man hauste in Palästen mit nassen Wänden und saß auf reich verzierten Holzsesseln neben riesigen Herdfeuern, die ganze Bäume verzehrten, ohne ringsum Wärme zu spenden. Ich bin überzeugt, dass heute in jeder Provinzstadt die wohlhabenden Einwohner in ihren Wohnsitzen mehr Annehmlichkeiten des Lebens vereinen und leichter die tausend Bedürfnisse befriedigen können, die mit der Zivilisation entstandenen, als der anmaßendste Freiherr des Mittelalters. Wenn wir unseren Blick auf die feudalen Jahrhunderte richten, entdecken wir also, dass die große Mehrheit der Bevölkerung fast ohne Bedürfhisse lebte und der Rest nur wenige davon verspürte. Grund und Boden reichten sozusagen für alle. Wohlstand gab es nirgends, aber überall genug zum Leben. Es war notwendig, diesen Punkt zu Beginn festzuhalten, um verständlich zu machen, was ich nun sage. Je länger diese Zeit dauerte, umso mehr veränderten sich die Neigungen der Bevölkerung, die den Boden bearbeitete. Die Befriedigung der gröbsten Bedürfnisse konnte sie nicht mehr zufrieden stellen. Der Bauer strebte, ohne seine Äcker preiszugeben, nach einer besseren Behausung und passender Kleidung; er ahnte die Annehmlichkeiten des Wohlstands und trachtete danach, sie sich zu beschaffen. Gleichzeitig erweiterte die Schicht, die vom Land lebte, ohne den Boden zu bearbeiten, den Kreis ihrer Genüsse; ihre Vergnügen waren weniger prunksüchtig, aber komplizierter und vielfältiger. Tausenderlei Bedürfnisse, von denen die Adligen des Mittelalters nichts ahnten, beherrschten jetzt ihre Nachfahren. Viele Menschen, die zuvor auf dem Land und vom Land lebten, verließen nun die Felder und bestreiten ihren Lebensunterhalt, indem sie dafür arbeiten, diese neu entstehenden Bedürfhisse zu befriedigen. Die Bestellung des Bodens, einst das Arbeitsgebiet für alle, wurde dies nur noch für die Mehrheit. Neben jene, die von den Produkten des Bodens leben, ohne zu arbeiten, ist nun eine zahlenmäßig starke Schicht getreten, die von Gewerbearbeit lebt, ohne noch den Boden zu bearbeiten.

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Jedes Jahrhundert, das zunehmend den Händen des Schöpfers entgleitet, wird immer mehr dem Menschenverstand unterworfen, indem es den Kreis seines Denkens erweitert, seine Wünsche steigert und die Macht des Menschen vergrößert; der Arme und der Reiche hegen, jeder in seinem Bereich, den Gedanken an neue Genüsse, von denen ihre Vorfahren nichts ahnten. Um diese neuen Bedürfnisse zu befriedigen, denen der Ackerbau nicht mehr genügen kann, verlässt Jahr für Jahr ein Teil der Bevölkerung seine Arbeit auf den Feldern und widmet sich fortan einem Gewerbe. Wenn man aufmerksam betrachtet, was sich in Europa seit mehreren Jahrhunderten vollzieht, dann gelangt man zu der Überzeugung, dass in dem Maß, in dem die Zivilisation Fortschritte machte, eine große Verschiebung in der Bevölkerung stattfand. Die Menschen ließen ab vom Pflug, um zum Weberschiffchen und zum Hammer zu greifen; ihr Weg führte von der Strohhütte in die Manufaktur; als sie so handelten, folgten sie den unabänderlichen Gesetzen, die das Wachstum der arbeitsteiligen Gesellschaften bestimmen. Man kann deshalb dieser Bewegung ebenso wenig ein Ende setzen, wie man der menschlichen Vervollkommnungsfahigkeit Schranken aufzwingen kann. Die Grenze der einen wie der anderen kennt nur Gott. Was war und was ist die Folge der fortschreitenden und unumkehrbaren Entwicklung, die wir soeben beschrieben haben? Eine riesige Summe neuer Güter wurde in die Welt eingeführt; der Schicht, die beim Ackerbau geblieben war, stand plötzlich eine Menge von Genüssen zur Verfügung, die das Jahrhundert davor nicht gekannt hatte; das Leben des Bauers ist angenehmer und einfacher geworden, das Leben des Großgrundbesitzers vielfaltiger und luxuriöser; Wohlstand wurde für die große Mehrzahl zugänglich, aber diese begrüßenswerten Erfolge wurden nicht erzielt, ohne dass man dafür zu zahlen hatte. Ich habe gesagt, im Mittelalter habe es trotz günstiger Lebensbedingungen nirgends Wohlstand gegeben. Diese Formulierung resümiert von vornherein, was nun folgen wird. Als fast die gesamte Bevölkerung vom Ackerbau lebte, traf man überall auf großes Elend und grobe Sitten, aber die dringendsten Bedürfhisse des Menschen wurden befriedigt. Es kam sehr selten vor, dass die Erde denjenigen, der sie mit seinem Schweiß tränkte, nicht wenigstens soweit versorgen konnte, dass die Hungersnot gestillt wurde. Die Bevölkerung war also arm, aber sie lebte. Heute ist die Mehrzahl glücklicher, aber es findet sich immer eine Minderheit, die nicht überleben kann, wenn ihr die öffentliche Unterstützung entzogen wird. Eine solche Entwicklung ist leicht zu verstehen. Der Bauer erzeugt Grundnahrungsmittel. Der Verkauf kann mehr oder minder vorteilhaft sein, aber er ist nahezu sicher; und wenn ein Zufall den Absatz der Waren verhindert, dann geben die Lebensmittel demjenigen, der sie geerntet hat, wenigstens etwas, wovon er leben und bessere Zeiten abwarten kann. Der Gewerbetreibende spekuliert dagegen auf künstliche und zweitrangige Bedürfnisse, die tausend Ursachen einschränken und große Ereignisse völlig versiegen lassen können. Wie schlecht auch immer die Zeiten und wie überteuert oder preiswert die Lebensmittel auch sind, so braucht doch jeder Mensch eine bestimmte Menge an Nahrung, ohne die er darbt und stirbt, und man kann sicher sein, ihn große Opfer bringen zu sehen,

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um sie sich zu verschaffen; doch schon unglückliche Umstände können die Bevölkerung bewegen, sich gewisse Freuden zu versagen, die sie sich zu anderen Zeiten ohne Zögern leistet. Nun setzt der Gewerbetreibende, um zu leben, gerade auf den Geschmack und die Gewohnheiten. Wenn sie ihm entgleiten, bleibt ihm keine Einnahmequelle. Sein Einkommen ist vernichtet und seine Erwerbsmöglichkeiten sind eingedämmt, und sobald sich ein solcher Zustand hinzieht, erwartet ihn nur unsagbares Elend und der Tod. Ich sprach nur von dem Fall, dass die Bevölkerung ihre Bedürfnisse einschränkt. Viele andere Ursachen können dieselbe Wirkung zur Folge haben: eine Überproduktion im Inland, die Konkurrenz aus dem Ausland usw. Die ein Gewerbe treibende Schicht, die so stark zum Wohlergehen der anderen beiträgt, ist deshalb viel mehr diesen plötzlichen und nicht wieder gut zu machenden Übeln ausgesetzt. Im großen Getriebe der menschlichen Gesellschaften betrachte ich die Gewerbe treibende Schicht als von Gott mit der speziellen und gefahrvollen Mission betraut, auf eigenes Risiko für das materielle Glück aller anderen zu sorgen. Nun neigt die natürliche und unumkehrbare Entwicklung der Zivilisation dazu, die relative Zahl derer zu erhöhen, die sie bilden. Von Jahr zu Jahr vermehren und vervielfältigen sich die Bedürfnisse, und mit ihnen wächst die Anzahl der Individuen, die darauf hoffen, sich einen größeren Wohlstand zu erarbeiten, indem sie die neuen Bedürfnisse befriedigen, statt in der Landwirtschaft weiter tätig zu sein - ein sehr bedenkenswertes Thema für die Staatsmänner von heute! Dieser Ursache ist hauptsächlich das zuzuschreiben, was sich in den reichen Gesellschaften ereignet, wo Wohlstand und Bedürftigkeit stärker verbreitet sind als anderswo. Die industrielle Schicht, die den Besitz der großen Mehrzahl vermehrt, ist selbst Notlagen ausgesetzt, die nahezu unbekannt wären, gäbe es nicht diese Schicht. Aber auch andere Ursachen steuern zur fortschreitenden Entfaltung der Massenarmut bei. Der Mensch wird mit Bedürfnissen geboren und er schafft sich Bedürfnisse. Erstere sind seiner physischen Konstitution geschuldet, letztere sind aus seinen Gewohnheiten und seiner Erziehung abzuleiten. Ich habe gezeigt, dass die Menschen zu Beginn der Gesellschaftsformation nicht viele Bedürfnisse hatten, sondern nur zu überleben suchten; aber in dem Maß, in dem die Lebensfreuden immer größere Ausmaße annahmen, übernahmen sie die Gewohnheit, sich einigen davon hinzugeben, und diese wurden schließlich für sie fast so selbstverständlich wie das Leben selbst. Ich erwähne nur die Gewöhnung an den Tabak, weil der Tabak ein Luxusprodukt ist, das bis in die Wüsten vorgedrungen ist und unter den Wilden ein künstliches Bedürfnis geschaffen hat, das man um jeden Preis befriedigen muss. Da der Tabak für die Indianer fast ebenso wenig entbehrlich geworden ist, wie die Nahrung, sind sie versucht, gegenüber ihresgleichen Mildtätigkeit einzufordern, wenn sie auf ihn angewiesen sind, wie sie zu erweisen, wenn er anderen mangelt. Sie haben also einen Grund für Bettlerei, den ihre Väter nicht kannten. Was ich über den Tabak sagte, gilt für eine Vielzahl von Dingen, auf die man in der Zivilisation nicht verzichten kann. Je reicher, geschäftiger und blühender eine Gesellschaft ist, desto vielfaltiger und dauerhafter werden die Gelüste der großen Mehrzahl; je ausdifferenzierter und lang anhaltender sie sind, desto mehr werden sie durch Gewohn-

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heit und Beispiel zu wirklichen Bedürfnissen. Der zivilisierte Mensch ist daher den Wechselfallen des Schicksals unendlich stärker ausgesetzt als der Wilde. Was letzterem nur ab und an und unter gewissen Umständen zustößt, kann ersteren unaufhörlich und unter sehr gewöhnlichen Bedingungen treffen. Mit dem Umfang seiner Genüsse hat er den Kreis seiner Bedürfnisse ausgedehnt und Schicksalsschlägen größeren Raum geboten. Daher kommt es, dass der Arme aus Frankreich den Armen aus England für nahezu reich hält, ganz zu schweigen von der Perspektive des bedürftigen Spaniers. Was der Engländer entbehrt, war niemals im Besitz des Franzosen. Und genauso sieht es aus, wenn man die soziale Leiter hinabsteigt. Bei den sehr zivilisierten Völkern gilt Mangel an einer Vielzahl von Dingen als Elend; im wilden Zustand besteht Armut nur darin, nichts zu essen zu finden. Die Fortschritte der Zivilisation setzen nicht nur die Menschen vielen neuen Notlagen aus, sie nötigen auch die Gesellschaft, Notlagen zu lindern, die in einem halbzivilisierten Zustand undenkbar wären. Wer sollte in einem Land, wo die Mehrheit schlecht gekleidet, erbärmlich untergebracht und unterernährt ist, dem Armen saubere Kleidung, gesunde Nahrung und eine behagliche Unterkunft geben wollen? Bei den Engländern, wo die große Mehrzahl im Besitz aller dieser Güter ist, sieht man es als schreckliches Unglück an, sich ihrer nicht länger zu erfreuen, so dass die Gesellschaft meint, jene unterstützen zu müssen, die all diese entbehren, weshalb sie Übel bekämpft, die sie anderswo überhaupt nicht bemerken würde. In England liegt der Durchschnitt der Genüsse, die ein Mensch im Leben erhoffen kann, höher als in jedem anderen Land der Welt. Das begünstigt die Ausbreitung der Massenarmut in diesem Königreich auf einzigartige Weise. Wenn alle diese Erwägungen zutreffen, wird man ohne weiteres zu dem Schluss gelangen, dass, je reicher die Nationen sind, desto größer auch die Anzahl derjenigen ist, die auf die öffentliche Wohltätigkeit zurückgreifen, denn zwei sehr starke Ursachen tendieren zu diesem Ergebnis: Bei diesen Nationen wächst unaufhörlich die Klasse an, die ganz natürlich den Bedürfnissen ausgesetzt ist, und zum anderen vermehren und vervielfältigen sich die Bedürfnisse selbst bis ins Unendliche; die Wahrscheinlichkeit, von einigen abhängig zu werden, wird von Tag zu Tag größer. Geben wir uns also nicht gefahrlichen Illusionen hin, richten wir einen festen und gelassenen Blick auf die Zukunft der modernen Gesellschaften. Lassen wir uns nicht vom Anblick ihrer Großartigkeit berauschen und von der Sicht auf ihre Notlagen entmutigen. In dem Maße, wie die jetzigen Fortschritte der Zivilisation andauern, wird man den Lebensstandard der großen Mehrzahl zunehmen sehen; die Gesellschaft wird sich weiter entwickeln und sachkundiger werden; das Leben wird angenehmer, leichter, luxuriöser und länger werden; aber zugleich wissen wir, dass die Anzahl derer unablässig steigen wird, die auf die Unterstützung durch ihresgleichen angewiesen sind, um einen geringen Anteil an dieser Entwicklung zu haben. Man wird diese Doppelbewegung verzögern können; die besonderen Umstände, in denen sich die verschiedenen Völker befinden, werden ihren Gang beschleunigen oder bremsen; aber niemandem ist es gegeben, sie zum Stillstand zu bringen. Beeilen wir uns also, nach den Mittel zu suchen, jene unvermeidlichen Übel zu lindern, die sich bereits absehen lassen.

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Zweiter Teil Es gibt zwei Arten von Wohltätigkeit: Die eine trägt dazu bei, den Einzelnen zu unterstützen und das Leid in seinem Umkreis so weit zu lindern, wie es seine Möglichkeiten erlauben. Diese ist so alt wie die Welt; sie erwuchs aus menschlichen Notlagen; das Christentum erhob sie zur göttlichen Tugend und nannte sie Nächstenliebe. Die andere, weniger instinktiv, eher überlegt, weniger schwärmerisch aber oft wirksamer, fordert von der Gesellschaft, sich ihrer unglücklichen Angehörigen anzunehmen und planmäßig für die Linderung ihrer Nöte zu sorgen. Diese entstand aus dem Protestantismus und konnte nur in den modernen Gesellschaften Fuß fassen. Die erste ist eine private Tugend, die sich dem gesellschaftlichen Handeln entzieht; die zweite wird dagegen von der Gesellschaft hervorgebracht und gesteuert. Mit dieser haben wir uns insbesondere zu befassen. Keine Idee erscheint auf den ersten Blick schöner und großartiger als jene der öffentlichen Wohltätigkeit. Die Gesellschaft, indem sie einen ständigen Blick auf sich selbst wirft, täglich ihre Schwachstellen auslotet und sich bemüht, diese auszubessern; die Gesellschaft, die den Reichen den Genuss ihrer Güter sichert und zugleich die Armen vor einem Übermaß an Elend bewahrt, fordert von den einen, etwas von ihrem Überfluss abzugeben, um den anderen das Notwendige zu gewähren. Das bietet gewiss einen großartigen Anblick, angesichts dessen der Geist sich erhebt und die Seele nicht umhin kann, gerührt zu sein. Weshalb zerstört die Erfahrung zwangsläufig einen Teil dieser schönen Vorstellung? Das einzige Land Europas, das die Theorien der öffentlichen Wohltätigkeit ausgearbeitet und in großem Maßstab angewandt hat, ist England. Zur Zeit der religiösen Umwälzung unter Heinrich VIII., die Englands Antlitz maßgeblich veränderten, wurden fast alle wohltätigen Gemeinschaften des Königreichs abgeschafft, und da die Güter dieser Gemeinschaften an die Adligen übergingen und nicht an das Volk verteilt wurden, ergab es sich, dass die Anzahl der damals lebenden Armen gleich blieb, während die Mittel zur Deckung ihrer Bedürfhisse zum Teil vernichtet waren. Das Elend der Armen wuchs daher über die Maßen, so dass Elisabeth, die Tochter Heinrichs VIII., von dem abstoßenden Anblick der Leiden des Volks dermaßen betroffen war, dass sie daran dachte, die wegen der Abschaffung der Klöster stark geschmälerten Almosen durch alljährliche Zuwendungen seitens der Gemeinden zu ersetzen. Ein im dreiundvierzigsten Herrschaftsjahr dieser Fürstin erlassenes Gesetz8 bestimmt, dass in jeder Pfarrgemeinde Armenaufseher ernannt werden und dass diese Aufseher ermächtigt sind, die Einwohner zu besteuern, um die arbeitsunfähigen Bedürftigen zu ernähren und den anderen Arbeit zu geben. Mit der Zeit wurde England immer mehr dazu genötigt, das Prinzip der gesetzlichen Wohltätigkeit anzuwenden. Die Massenarmut wuchs in Großbritannien schneller als anderswo. Allgemeine und spezifische Ursachen 8

Gemeint ist der 1601 verabschiedete Act for the Relief of the Poor. Er diente noch 1834 als Grundlage für den Poor Laws Amendment Act.

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in diesem Land führten zu diesem traurigen Ergebnis. Die Engländer waren den anderen Nationen Europas auf dem Weg der Zivilisation voraus; alle Erwägungen, die ich zuvor angestellt habe, treffen daher in besonderer Weise auf sie zu, aber es gibt weitere, die nur für sie allein gelten. Englands Gewerbe treibende Schicht versorgte nicht nur die Bedürfnisse und Genüsse des englischen Volks, sondern auch diejenigen eines Großteils der Menschheit. Ihr Wohlstand oder Elend sind daher nicht nur vom Geschehen in Großbritannien abhängig, sondern gewissermaßen von allem, was sich unter der Sonne abspielt. Wenn ein Inder seine Ausgaben und seinen Verbrauch einschränkt, hat ein englischer Hersteller darunter zu leiden. England ist deshalb dasjenige Land der Welt, wo es den Bauern am stärksten zur Arbeit in der Industrie hinzieht und wo er gleichzeitig den Wechselfallen des Glücks am meisten ausgesetzt ist. Seit einem Jahrhundert vollzieht sich zudem bei den Engländern eine Entwicklung, die man als Besonderheit betrachten kann, wenn man beachtet, was sich in der übrigen Welt ereignet. Seit hundert Jahren wird das Grundeigentum in allen bekannten Ländern unablässig aufgeteilt; in England ballt es sich unablässig zusammen. Die mittelgroßen Ländereien gehen in die ausgedehnten Landsitze ein; der Großanbau löst den kleinteiligen ab. Man müsste zu diesem Thema noch mehr Erläuterungen geben, die vielleicht nicht ohne einiges Interesse wären, aber sie würden mich von meinem Thema ablenken: Die Tatsache genügt mir, sie gilt unveränderlich. Daraus ergibt sich, dass der Bauer aus eigenem Interesse den Pflug verlässt und in die Manufakturen überwechselt, zugleich aber auch durch die Zusammenballung des Grundeigentums zu diesem Tun getrieben wird. Denn für den Anbau auf einem großen Gut werden verhältnismäßig weitaus weniger Arbeitskräfte gebraucht als auf einem kleinen Feld. Das Land braucht ihn nicht mehr und das Gewerbe ruft ihn. Diese zweifache Entwicklung reißt ihn mit sich fort. Von den fünfundzwanzig Millionen Einwohnern Großbritanniens bestellen nur noch neun Millionen den Boden; vierzehn Millionen oder fast zwei Drittel der Einwohner riskieren ihr Glück im Handel oder der Industrie. Die Massenarmut musste deshalb in England schneller anwachsen als in Ländern mit vergleichbarem Zivilisationsstand. Als England erst einmal das Prinzip der gesetzlichen Wohltätigkeit akzeptiert hatte, konnte es sich nicht mehr davon lösen. Folglich erweist sich die englische Armengesetzgebung seit zweihundert Jahren nur als eine Fortentwicklung der elisabethanischen Gesetze. Fast zweieinhalb Jahrhunderte sind verflossen, seit das Prinzip der gesetzlichen Wohltätigkeit bei unseren Nachbarn voll akzeptiert wurde, und man kann heute beurteilen, welche verhängnisvollen Konsequenzen sich aus der Annahme dieses Prinzips ergaben. Untersuchen wir sie der Reihe nach. Hat der Arme erst einmal sein unbeschränktes Anrecht auf Unterstützung seitens der Gesellschaft und findet er allerorts eine öffentliche Verwaltung, die dazu eingerichtet wurde, ihm diese zu gewähren, so erlebt man binnen kurzem die Wiedergeburt und allgemeine Verbreitung der Missbräuche, welche die Reformation einzelnen katholischen Ländern aus guten Gründen vorgeworfen hatte. Der Mensch hat wie alle sozialen Wesen eine natürliche Leidenschaft für das Nichtstun. Er hat indessen zwei Motive, die ihn zum Arbeiten bewegen: das Bedürfnis zu leben und den Wunsch, seine Lebensbe-

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dingungen zu verbessern. Die Erfahrung hat bewiesen, dass die meisten Menschen nur von dem ersten Motiv ausreichend zum Arbeiten angetrieben wurden und das zweite nur bei einer geringen Anzahl wirksam war. Eine Wohltätigkeitseinrichtung aber, die unterschiedslos allen Bedürftigen offen steht, oder ein Gesetz, das allen Armen, woher auch immer ihre Armut rührt, ein Recht auf Unterstützung seitens der Öffentlichkeit zugesteht, schwächt oder zerstört den ersten Anreiz und lässt nur den zweiten unversehrt. Der englische wie der spanische Bauer, soweit sie nicht zu sehr den zaghaften Wunsch hegen, ihre von Geburt an gegebene Stellung zu verbessern und ihr Milieu zu verlassen, der bei den meisten Menschen leicht ausgelöscht wird; die Bauern dieser beiden Länder, sage ich, haben kein Interesse am Arbeiten, und wenn sie arbeiten, dann fehlt ihnen das Interesse am Sparen; sie bleiben also untätig oder geben den kostbaren Ertrag ihrer Mühen unüberlegt aus. In dem einen wie in dem anderen Land gelangt man aus unterschiedlichen Gründen zu dem einen Ergebnis, dass der arbeitsamste, tätigste und geschäftigste Teil der Nation seine Beihilfe dafür verwendet, jene zu versorgen, die nichts tun oder schlechten Gebrauch von ihrer Arbeit machen. Da sind wir gewiss recht fern von der schönen und verführerischen Vorstellung, die ich zuvor darstellte, angelangt. Ist es möglich, aus diesen unseligen Konsequenzen einen neuen Ansatz abzuleiten? Für mein Teil gestehe ich, dass ich dies für unmöglich halte. Hier gebietet man mir Einhalt und sagt: Sie unterstellen, was auch immer die Ursachen des Elends sind, dass man es durch Hilfsmaßnahmen nur fördert; Sie fugen hinzu, dass öffentliche Hilfeleistungen die Armen von der Pflicht zu arbeiten abhalten; das bedeutet, etwas zu behaupten, was zweifelhaft bleibt. Wer hindert die Gesellschaft daran, sich nach den Ursachen der Bedürftigkeit zu erkundigen, bevor Unterstützung gewährt wird? Weshalb wird dem arbeitsfähigen Bedürftigen, der an das Mitleid der Öffentlichkeit appelliert, nicht zur Bedingung gemacht, dass er für seinen Lebensunterhalt selbst aufkomme? Ich erwidere, dass die englischen Gesetze die Vorstellung solcher Maßnahmen enthielten; aber sie haben versagt, und das ist leicht zu begreifen. Nichts ist so schwer, wie die Nuancen zu unterscheiden, die zwischen einem unverdienten Unglück und einer durch Laster entstandenen Notlage liegen. Wie viel Elend erwächst nicht aus beiden Ursachen zugleich! Welch umfangreiche Kenntnisse des Charakters eines jeden Menschen und seiner Lebensverhältnisse verlangt das Urteil über solch einen Fall: was für Einsichten, welch sicheres Unterscheidungsvermögen und welch kalte und unbarmherzige Vernunft werden hier vorausgesetzt! Wo fände sich der Richter, der den Verstand, die Zeit, das Talent und die Mittel zu solch einer Prüfung hat; wer ließe einen Armen verhungern, weil er selbstverschuldet stirbt; wer würde angesichts seiner Schreie über seine Laster urteilen! Angesichts der Nöte unseresgleichen verstummt das persönliche Interesse; sollte die öffentliche Hand hierin stärker sein? Und wäre die Seele des Armenaufsehers für diese schönen, wenngleich irreführenden Gefühle unzugänglich, bliebe sie dann auch gegenüber der Angst verschlossen? Hielte er die Leiden und Freuden, Leben und Tod eines beträchtlichen Teils seiner Mitmenschen in seinen Händen - freilich der zügellosesten, rohsten und pöbelhaftesten - würde er da nicht vor der Ausübung dieser schrecklichen Macht zurückscheuen? Und gewänne man einen so

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furchtlosen Menschen, fände man davon noch mehrere? Indes ist solch ein Amt nur in einem kleinen Gebiet auszuüben; man muss also eine Vielzahl von Bürgern damit betrauen. Die Engländer mussten Armenaufseher in jeder Gemeinde einsetzen. Was folgt also unweigerlich aus alledem? Ist die Notlage eingetreten, so bleiben die Ursachen der Katastrophe doch ungewiss: Zum einen ist sie eine offenkundige Tatsache, zum anderen beruht sie auf fraglichen Erwägungen; die Hilfsmaßnahmen können nur außerhalb der Gemeinschaft schaden, die Verweigerung derselben aber den Armen und dem Aufseher unmittelbar Nachteile bringen, so dass die Entscheidung des letzteren außer Zweifel steht. Laut Gesetz ist nur die unverschuldete Notlage zu unterstützen, in der Praxis wird in allen Notlagen geholfen. Auch in Bezug zum zweiten Aspekt, werde ich die gleichen, auf Erfahrung beruhenden Argumente vorbringen. Man möchte, dass das Almosen der verrichteten Arbeit entspricht. Doch sind immer öffentliche Arbeiten zu verrichten? Sind sie ferner so gleichmäßig über das ganze Land verteilt, dass die Zahl der auszuführenden Arbeiten jener der zu versorgenden Personen entspricht, oder findet man in manchen Bezirken nicht mehr Unterstützungsbedürftige als zu verrichtende Arbeiten? Wenn dieses Problem jederzeit auftritt, wird es dann nicht unüberwindlich, wenn infolge der fortschreitenden Entwicklung der Zivilisation, das Bevölkerungswachstums und nach den Gesetzmäßigkeiten der Armut die Anzahl der Bedürftigen, wie in England, auf ein Sechstel und nach anderen Angaben auf ein Viertel der Gesamtbevölkerung steigt? Doch gesetzt, es fände sich wirklich überall ausreichend Arbeit: Wer übernähme es, ihre Dringlichkeit festzustellen, ihre Ausübung zu kontrollieren und ihre Kosten festzusetzen? Der Aufseher? Dieser Mensch soll, neben den Qualitäten eines großen Verwaltungsbeamten, auch die Talente, die Tatkraft und das Fachwissen eines guten Impresarios haben; er soll aus Pflichtbewusstsein das entwickeln, was er aus persönlichem Interesse vielleicht nicht könnte: die Kühnheit, den untätigsten und lasterhaftesten Teil der Bevölkerung zu beständiger produktiver Arbeit zu nötigen. Wäre es weise, sich damit zu brüsten? Ist es vernünftig, dies zu glauben? Von den Bedürfnissen der Armen bedrängt, wird der Aufseher eine fiktive Arbeit vergeben oder sogar, wie das fast immer in England gehandhabt wird, Lohn auszahlen, ohne Arbeit abzuverlangen. Es ist notwendig, dass die Gesetze fur Menschen gemacht werden und nicht für ein Ideal, das die menschliche Natur nicht hervorzubringen vermag oder das es nur ab und zu bei Vorbildern gibt. Jede Maßnahme, welche die gesetzliche Wohltätigkeit auf eine beständige Grundlage gründet und ihr eine administrative Form gibt, erzeugt damit eine untätige und faule Schicht, die auf Kosten der Gewerbe treibenden und arbeitenden Schichten lebt. Das ist, wenn auch nicht ihr unmittelbares Ergebnis, so doch ihre unvermeidbare Folge. Sie reproduziert alle Laster des Klostersystems abzüglich der hehren Ideen von Sittlichkeit und Religion, mit denen sie oft einhergingen. Solch ein Gesetz ist ein giftiger Keim im Inneren der Gesetzgebung; die Umstände können, wie in Amerika, den Keim daran hindern, sich rasch zu entwickeln, vermögen ihn aber nicht zu zerstören; und wenn die gegenwärtige Generation seinem Einfluss entrinnt, wird er doch den Wohlstand der künftigen Generationen aufzehren.

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Wenn Sie den Zustand der Bevölkerungen, bei denen solch eine Gesetzgebung seit langem in Kraft ist, näher untersuchen, werden Sie mühelos entdecken, dass diese sich auf die Sittlichkeit nicht weniger misslich auswirkt als auf das öffentliche Wohl und dass sie die Menschen noch mehr verdirbt, als sie sie verarmt. Generell gibt es nichts, das den menschlichen Geist so erbaut und nährt wie die Idee der Rechte. In der Idee des Rechts findet sich etwas Großes und Mannhaftes, das dem Gesuch den bittstellerischen Charakter nimmt und den Antragsteller auf dieselbe Ebene hebt wie den Stattgebenden. Aber das Recht des Armen auf Unterstützung seitens der Gesellschaft hat die Besonderheit, dass es demjenigen, der es ausübt, nicht die Seele stärkt, sondern ihn demütigt. In den Ländern, wo die Gesetzgebung nicht derartige Rechtsmittel eröffnet, erkennt der Arme, der um die individuelle Barmherzigkeit nachsucht, allerdings sein Abhängigkeitsverhältnis in Bezug auf seine Mitmenschen an; doch wird er dessen im Geheimen und zeitweilig gewahr; sobald ein Bedürftiger in die Armenliste seiner Pfarrgemeinde eingetragen ist, kann er mit Sicherheit Unterstützung beanspruchen, aber was ist der Gewinn dieses Anrechts sonst, als die rechtskräftige Festschreibung des Elends, der Bedürftigkeit und der Unzucht desjenigen, der es erhielt? Die üblichen Rechte werden Menschen wegen einer von ihnen errungenen persönlichen Überlegenheit gegenüber ihresgleichen gewährt. Dieses hier wird wegen einer anerkannten Abhängigkeit zugestanden. Erstere betonen einen Vorzug und unterstreichen ihn; letzteres hebt eine Abhängigkeit hervor und bestätigt sie amtlich. Je größer und gesicherter die einen sind, desto mehr ehren sie; je andauernder und weitreichender das andere ist, desto mehr erniedrigt es. Der Arme, der das Almosen im Namen des Gesetzes beansprucht, ist also in einer noch beschämenderen Position als der Bedürftige, der seinesgleichen aus Frömmigkeit darum im Namen dessen bittet, der den Armen und den Reichen mit demselben Blick anschaut und sie gleichen Gesetzen unterwirft. Aber das ist noch nicht alles; das individuelle Almosen schafft wertvolle Bande zwischen dem Reichen und dem Armen. Ersterer nimmt durch die Wohltat selbst Anteil am Schicksal desjenigen, dessen Elend er zu lindern trachtete; letzterer fühlt sich, weil er durch Beihilfen unterstützt wurde, die er nicht von Rechts wegen fordern konnte und vielleicht nicht erhofft hatte, zu Dankbarkeit verpflichtet. Eine moralische Verbindung entsteht zwischen diesen beiden Gruppen, die sonst durch so viele Interessen und Leidenschaften getrennt sind, und hat das Glück sie auch geschieden, so bringt ihr Wille sie doch einander näher; bei der gesetzlichen Wohltätigkeit ist das keineswegs so. Diese ersetzt das Almosen, nimmt ihm aber seine Sittlichkeit. Der Reiche, dem das Gesetz ohne seine Zustimmung einen Teil seines Überflusses nimmt, sieht in dem Armen nur einen gierigen Fremdling, den der Gesetzgeber zur Teilhabe an seinen Gütern berufen hat. Der Arme empfindet seinerseits keine Dankbarkeit für eine Wohltat, die man ihm nicht verweigern darf und die ihn außerdem nicht befriedigen kann; denn das öffentliche Almosen zur Absicherung des Lebens macht ihn nicht glücklicher und freier als das individuelle Almosen; die öffentliche Wohltätigkeit verhindert also keineswegs, dass es in der Gesellschaft Arme und Reiche gibt, dass die einen hass- und angsterfüllte Blicke um sich werfen und die anderen mit Verzweiflung und Neid an ihr Schicksal denken.

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Weit davon entfernt, diese beiden rivalisierenden Gemeinschaften, die seit Anbeginn der Welt bestehen und die man die Reichen und die Armen nennt, zu ein und demselben Volk zu vereinen, zerreißt sie die einzige Bindung, die sich zwischen ihnen einstellen konnte; stattdessen schart sie eine jede zu einer Partei, zählt sie durch, stellt sie einander gegenüber und bereitet sie zum Kampf vor. Ich habe gesagt, das unvermeidliche Ergebnis der gesetzlichen Wohltätigkeit sei es, die große Mehrzahl der Armen in der Untätigkeit zu belassen und ihr Nichtstun auf Kosten derer zu unterhalten, die arbeiten. Wenn der Müßiggang im Reichtum, d.h. der vererbte Müßiggang, der durch Dienste oder Arbeiten anderer ermöglicht wird, von öffentlichem Ansehen begleitet ist, mit der Zufriedenheit des Geistes einhergeht, an den Vergnügen des Verstandes interessiert und durch das Denkens gesittet ist; wenn dieser Müßiggang, sage ich, so vieler Laster hervorgebracht hat, was soll dann aus einem verdorbenen Müßiggang werden, der durch Feigheit und durch schlechtes Betragen erworben wurde, den man im Zustand der Schande genießt und der nur ertragen werden kann, wenn die Seele dessen, der ihn hinnimmt, völlig verderbt und heruntergekommen ist? Was soll man erhoffen von einem Menschen, dessen Stellung sich nicht verbessern kann, solange er die Achtung seiner Mitmenschen verloren hat, diese erste Bedingung alles Vorwärtskommens; dessen Schicksal nur noch schlimmer werden kann, denn es ist nicht sicher, dass selbst bei einer Beschränkung auf die Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse, diese für immer zufrieden gestellt werden? Was sollen Gewissen und menschliche Tatkraft noch bei einem Wesen ausrichten, das so allseitig beschränkt ist, das ohne Hoffnung und ohne Furcht lebt, weil es um die Zukunft ebenso wenig weiß, wie das Tier, weil es die Unbeständigkeiten des Schicksals ignoriert, da es einzig und allein in der Gegenwart und in dem, was die Gegenwart an gemeinen und flüchtigen Genüssen für eine verrohte Natur bieten kann, lebt? Lesen Sie alle in England verfassten Bücher über die Massenarmut; studieren Sie die vom britischen Parlament angeordneten Erhebungen; überfliegen Sie die im Oberhaus und im Unterhaus geführten Debatten zu dieser schwierigen Frage; eine einzige Klage wird Ihnen in den Ohren klingen: Man bedauert den Zustand der Verkommenheit, in den die unteren Schichten dieses großen Volks geraten sind! Die Anzahl der unehelichen Kinder steigt unaufhörlich; jene der Verbrecher wächst rapide; die bedürftige Bevölkerung nimmt übermäßig zu; der Sinn für Vorsorge und Sparsamkeit geht dem Armen immer mehr verloren; während bei der übrigen Nation die Bildung steigt, die Sitten sich mildern, der Geschmack sich verfeinert, die Gewohnheiten freundlicher werden, bleibt dieser Teil stehen oder entwickelt sich zurück; man möchte sagen, dass er in die Barbarei zurückfallt, und inmitten der Meisterwerke der Zivilisation scheint er sich mit seinen Ideen und seinen Neigungen offenbar wieder in die Nähe des Wilden zu begeben. Die gesetzliche Wohltätigkeit wirkt sich auf die Freiheit des Armen nicht minder unheilvoll aus als auf seine Sittlichkeit. Das ist leicht zu zeigen: In dem Moment, wo man es den Gemeinden zur Pflicht macht, die Bedürftigen zu unterstützen, hat das unmittelbar und zwangsläufig zur Folge, dass die Gemeinden sich nur gegenüber den auf ihrem Gebiet ansässigen Armen verpflichtet fühlen; das ist das einzig angemessene Mit-

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tel zum Ausgleich der aus dem Gesetz erwachsenden öffentlichen Lasten und ihrer Anpassung an die Mittel derjenigen, die sie zu tragen haben. Da man aber in einem Land, wo die öffentliche Wohltätigkeit organisiert ist, so gut wie keine individuelle Mildtätigkeit kennt, ergibt sich daraus, dass derjenige, der auf Grund von Unglücksfällen oder einiger Fehler unfähig ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, bei Strafe des Todes dazu verurteilt ist, seinen Geburtsort nicht zu verlassen. Wenn er sich dennoch davon entfernt, so marschiert er nur durch Feindesland; das Eigeninteresse der Gemeinden, das viel mächtiger und reger ist, als es die bestorganisierte nationale Polizei sein könnte, verrät seine Ankunft, belauert seine Schritte, und wenn er sich an einem neuen Ort niederlassen will, meldet es ihn der öffentlichen Gewalt, die ihn an seinen Herkunftsort zurückschafft. Durch ihre Armengesetzgebung haben die Engländer ein Sechstel ihrer Bevölkerung unbeweglich gemacht. Sie haben sie ebenso an den Heimatboden gebunden, wie es die Bauern des Mittelalters gewesen waren. Die Leibeigenschaft zwang den Menschen, gegen seinen Willen an seinem Geburtsort zu bleiben; die gesetzliche Wohltätigkeit verhindert, dass er sich von diesem zu entfernen sucht. Ich sehe nur diesen Unterschied zwischen den beiden Systemen. Die Engländer gingen noch weiter, und sie zogen aus dem Prinzip der öffentlichen Wohltätigkeit noch schlimmere Konsequenzen, die sich meines Erachtens vermeiden ließen. Die englischen Gemeinden befürchten dermaßen, ein Bedürftiger könne bei ihnen wohnhaft werden und ihnen zur Last fallen, dass das Gemeindeamt von einem Fremden, der sich kurzzeitig dort aufhalten will, aber nicht reich aussieht, oder der von einem unerwarteten Unheil getroffen wurde, eine Sicherheitszahlung für seine künftige Notlage fordern; und wenn der Fremde diese Kaution nicht stellen kann, wird er ausgewiesen. So hat die gesetzliche Wohltätigkeit nicht nur den Armen Englands, sondern auch allen, denen Armut droht, den Freiheitsdrang genommen. Ich kann dieses traurige Bild, so meine ich, nicht besser vervollständigen als durch die Wiedergabe des folgenden Auszugs aus meinen Notizen über England. Als ich 1833 durch Großbritannien reiste, waren andere verblüfft von dem Wohlstand des Landes; ich dagegen dachte an die schleichende Unruhe, die sich offensichtlich des Geistes aller Einwohner bemächtigte. Ich vermutete, dass sich große Notlagen unter dem prächtigen Schein verbergen müssten, den ganz Europa bewundert. Dieser Gedanke brachte mich dazu, mit ganz besonderer Aufmerksamkeit die Massenarmut, diese scheußliche und riesige Wunde an einem von Kraft und Gesundheit strotzenden Körper, zu untersuchen. Ich wohnte damals im Haus eines Großgrundbesitzers im Süden Englands 9 ; es war die Zeit, da sich die Friedensrichter versammelten, um über die Beschwerden der Armen gegen die Gemeinden oder der Gemeinden gegen die Armen zu urteilen. Mein Gastgeber war Friedensrichter, und ich folgte ihm regelmäßig zum Gerichtshof. Ich finde in meinen Reiseaufzeichnungen diese Darstellung der ersten Sitzung, an der ich teilnahm; sie fasst in wenigen Worten alles Wesentliche zusammen, was vor sich ging. Ich

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Es handelt sich um Longford Castle. Der Gastgeber war Lord Radnor.

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übertrage sie äußerst genau, um dem Bild den unmittelbaren Eindruck der Wirklichkeit zu belassen.10 „Als erster erscheint ein alter Mann vor den Friedensrichtern, der eine aufrichtige und frische Erscheinung hat. Er trägt eine Perücke und einen ausgezeichneten schwarzen Anzug, er sieht ganz aus wie ein Rentier, tritt jedoch vor das Gericht und beschwert sich empört über die Ungerechtigkeit seiner Gemeindeverwaltung. Dieser Mann gehört zu den Armen, und man hat ihm den Betrag, den er von der öffentlichen Wohltätigkeit bezogen hat, zu Unrecht gekürzt. Die Sache wird vertagt, um die Gemeindeverwaltung anzuhören. Nach diesem rüstigen und munteren alten Mann erscheint eine schwangere junge Frau, deren Kleidung erst unlängst aufgetretene Armut anzeigt und auf deren bleiche Gesichtszüge sich Kummer gelegt hat. Sie gibt an, ihr Ehemann sei vor etlichen Tagen zu einer Seereise aufgebrochen, und sie habe von ihm seitdem weder Nachrichten noch Unterstützung erhalten; sie beantrage öffentliche Almosen, aber der Armenverwalter scheue sich, sie ihr zu bewilligen. Der Schwiegervater dieser Frau ist ein wohlhabender Kaufmann, er wohnt in der Stadt, wo das Gericht tagt, und man hofft, dass er in Abwesenheit seines Sohns für den Unterhalt seiner Schwiegertochter sorgen werde; die Friedensrichter lassen diesen Mann kommen; doch er weigert sich, die Pflichten zu erfüllen, welche ihm die Sitten auferlegen, aber das Gesetz nicht gebietet. Die Richter bestehen darauf; sie versuchen, Reue oder Mitgefühl in der egoistischen Seele dieses Manns zu wecken; ihre Mühen scheitern, und die Gemeinde ist dazu verurteilt, die beantragte Unterstützung zu zahlen. Auf diese arme verlassene Frau folgen fünf oder sechs große und kräftige Männer. Sie stehen in der Blüte ihrer Jugend, ihr Auftreten ist bestimmt und fast beleidigend. Sie klagen gegen die Verwalter ihrer Dörfer, die sich weigerten, ihnen Arbeit oder, in Ermanglung von Arbeit, eine Unterstützung zu geben. Die Verwalter erwidern, die Gemeinde habe im Augenblick keine Arbeiten zu verteilen; was die freie Unterstützung angehe, sei sie nicht notwendig, weil die Antragsteller leicht eine Beschäftigung in ihrem Gewerbe bei Privatleuten finden könnten, wenn sie nur wollten. Lord X 11 , mit dem ich gekommen war, sagt mir: Sie sahen soeben im engsten Rahmen einen Teil der vielen Missbräuche, zu denen das Armengesetz führt. Dieser alte Mann, der als erster erschien, hat sehr wahrscheinlich seinen Lebensunterhalt, aber er meint, er habe das Recht zu verlangen, dass man ihm seinen Lebensstandard aufrechterhält, und er schämt sich nicht, öffentliche Unterstützung zu beantragen, die in den Augen des Volks ihren peinlichen und demütigenden Charakter verloren hat. Diese junge Frau, die ehrlich und unglücklich wirkte, würde gewiss von ihrem Schwiegervater unterstützt, wenn es das Armengesetz nicht gäbe, aber das Eigeninteresse unterdrückt bei 10 Aufzeichnungen von der Sitzung des Friedensgerichts am 3. September 1833 finden sich in der Voyage en Angleterre de 1833, ОС V 2, S. 20-23. Tocqueville spitzt seine Darstellung allerdings zu. 11 Die Rede ist wiederum von Lord Radnor.

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ihm den Aufschrei der Scham, und er entledigt sich in aller Öffentlichkeit einer Verpflichtung, die er selber einzulösen hätte. Was die zuletzt an der Reihe gewesenen jungen Leute angeht, so kenne ich sie, denn sie wohnen in meinem Dorf; es sind sehr gefährliche Bürger und wirklich üble Personen; sie verschleudern das Geld, das sie verdienen im Handumdrehen in Schenken, weil sie wissen, dass der Staat ihnen zu Hilfe kommen wird; wie Sie sehen, wenden sie sich, sobald sie selbstverschuldet in Bedrängnis geraten, an uns. Die Anhörung ging weiter. Eine junge Frau tritt mit einem Kind vor das Gericht, gefolgt vom Armenaufseher der Gemeinde; sie nähert sich ohne jedes Zögern, ja die Scham senkt ihr nicht einmal den Blick. Der Aufseher bezichtigt sie, das Kind, das sie in den Armen hält, unehelich empfangen zu haben. Sie gesteht dies ohne weiteres ein. Da sie hilfsbedürftig ist und das uneheliche Kind, wenn der Vater unbekannt bliebe, mit seiner Mutter der Gemeinde zur Last fallen würde, fordert der Aufseher sie dazu auf, den Vater anzugeben; das Gericht nimmt sie unter Eid. Sie bezichtigt einen Bauern aus der Nachbarschaft. Dieser, bei der Anhörung zugegen, bestätigt die Tatsache bereitwillig, und die Friedensrichter verurteilen ihn, den Unterhalt für das Kind zu zahlen. Der Vater und die Mutter treten zurück, ohne dass der Vorfall die geringste Emotion in der Versammlung auslöst; die solche Schauspiele gewohnt zu sein scheint. Nach dieser jungen Frau stellt sich eine weitere vor. Sie kommt freiwillig; sie nähert sich den Richtern mit ebensolcher Unbekümmertheit und Unverschämtheit wie die erste. Sie erklärt, sie sei schwanger, und benennt den Kindesvater; dieser Mann ist nicht zugegen. Das Gericht vertagt die Sache, um ihn vorzuladen. Lord X sagte zu mir: Da haben Sie weitere unheilvolle Wirkungen derselben Gesetze. Die unmittelbarste Wirkung der Armengesetzgebung ist es, dass der Unterhalt im Stich gelassener Kinder, der Bedürftigsten aller Bedürftigen, der Öffentlichkeit anheim fallt. Daraus entsteht das Bestreben, die Gemeinden von der Unterhaltspflicht gegenüber jenen unehelichen Kindern zu entlasten, deren Eltern in der Lage sind, sie zu ernähren. Daher auch die von den Gemeinden bewirkte Aufklärung der Vaterschaft, deren Nachweis die Frau zu erbringen hat. Denn welche andere Art von erbrachtem Nachweis kann man sich in solcher Angelegenheit vorstellen? Indem wir die Gemeinden verpflichteten, sich der unehelichen Kinder anzunehmen, und ihnen frei stellen, die Vaterschaft zu erkunden, um sich dieser drückenden Last zu entledigen, haben wir die Unzucht der Frauen in den niedrigen Klassen gefordert. Die uneheliche Schwangerschaft trägt fast immer dazu bei, ihre materielle Lage zu verbessern. Wenn der Kindesvater reich ist, können sie ihm die Sorge aufbürden, die Frucht ihrer gemeinsamen Verirrungen aufzuziehen; wenn er arm ist, übertragen sie diese Sorge der Gemeinde; die Unterstützungen, die ihnen von dieser oder jene Seite gewährt werden, übersteigen fast immer den Bedarf des Neugeborenen. Sie bereichern sich also gerade durch ihre Laster, und es kommt oft vor, dass das Mädchen, das mehrmals Mutter geworden ist, eine günstigere Ehe schließt als die Jungfrau, die nur über ihre Tugenden verfugt. Die erste hat durch ihre Ehrlosigkeit eine Art von Mitgift erhalten."

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Ich wiederhole, dass ich nichts an dieser Passage aus meinem Tagebuch geändert habe: ich habe sie in denselben Worten wiedergegeben, weil mir schien, dass sie die Eindrücke, die ich dem Leser vermitteln wollte, schlicht und glaubhaft wiedergibt. Seit meiner Englandreise ist das Armengesetz geändert worden.12 Viele Engländer bilden sich ein, diese Änderungen hätten großen Einfluss auf das Los der Bedürftigen, auf ihre Sittlichkeit und ihre Anzahl. Ich würde diese Hoffnungen gern teilen, aber ich bin dazu nicht im Stande. Die Engländer von heute haben mit dem neuen Gesetz den vor zweihundert fünfzig Jahren von Elisabeth angenommene Grundsatz erneut bekräftigt. Wie diese Königin haben sie der Gesellschaft die Verpflichtung auferlegt, die Armen zu unterstützen. Das reicht aus; alle Missbräuche, die ich zu beschreiben versuchte, sind in dieser Grundentscheidung eingeschlossen wie die größte Eiche in der Eichel, die ein Kind in seiner Hand verbergen kann. Sie braucht nur Zeit, um sich zu entfalten und zu wachsen. Ein Gesetz einfuhren zu wollen, das den Bedürftigen regelmäßige, ununterbrochene und gleichmäßige Unterstützung zusichert, ohne dass die Anzahl der Bedürftigen wächst, ohne dass ihre Faulheit mit ihren Bedürfnissen, ihrem Müßiggang und ihren Lastern zunimmt, heißt, die Eichel zu pflanzen und sich darüber zu wundern, dass daraus erst ein Stiel hervorkommt, dann Blüten und Blätter und schließlich Früchte, die sich weiter ausbreiten und eines Tages einen üppigen Wald aus dem Schoß der Erde sprießen lassen. Ich bin weit davon entfernt, hier der Wohltätigkeit, dieser natürlichsten, schönsten und frommen Tugend, den Prozess machen zu wollen. Aber ich denke, dass es keinen noch so guten Vorsatz gibt, dessen Konsequenzen man sämtlich gutheißen kann. Ich glaube, dass die Wohltätigkeit eine kraftvolle und vernünftige Tugend sein muss und keine schwächliche und unüberlegte Neigung sein darf; dass man das Gute nicht so umsetzen soll, wie es demjenigen, der es fordert, am besten gefällt, sondern so, wie es dem Empfanger am meisten nutzt; nicht so, dass es die Notlagen einiger möglichst vollständig beseitigt, sondern so, dass es dem Wohlergehen der großen Mehrzahl dient. Ich kann Wohltätigkeit nur auf diese Art begreifen; in einem anderen Sinn verstanden, ist sie immer noch ein hehres Anliegen; aber sie verdient meines Erachtens nicht mehr den Namen Tugend. Ich erkenne an, dass die individuelle Mildtätigkeit fast immer nützlichen Einfluss hat. Sie kümmert sich um die größten Notlagen, sie verfolgt ohne Aufheben das Unglück, sie behebt spontan und im Stillen die Schäden, die es angerichtet hat. Sie zeigt sich überall, wo es Unglückliche zu unterstützen gibt; sie wächst mit ihren Leiden, und doch wäre es fahrlässig, sich auf sie zu verlassen, denn tausend Zufälle können ihren

12 Es handelt sich um das Armengesetz (Poor Laws Amendment Act) von 1834. Zu diesem Gesetz siehe Tocquevilles Notizen in den Voyages en Angleterre, ОС V 2, S. 230-232. Das Gesetz von 1834 schafft die Unterstützung in Form von Geld und Lebensmitteln für arbeitslose Arme ab. Stattdessen werden Arbeitshäuser errichtet, in denen problematische Zustände und unmittelbare Kontrolle dominieren. Seinerzeit wurden allerdings auch die Anfänge der Armenmedizin geschaffen.

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Gang hemmen oder gar anhalten; man weiß nicht, wo man sie findet, und nicht jeder Schmerzensschrei dringt bis zu ihr. Ich gebe zu, dass der Verstand wohltätiger Personen dadurch, dass er die Hilfsmaßnahmen regelt, die individuelle Wohltätigkeit aktivieren und kräftigen kann. Ich gestehe nicht nur die Nützlichkeit, sondern auch die Notwendigkeit einer öffentlichen Wohltätigkeit ein, die sich so unvermeidlicher Notlagen zuwendet wie der Schutzbedürftigkeit der Kindheit, der Gebrechlichkeit des Alters, Krankheit und Wahnsinn; ich halte sie auch momentan, in den Zeiten öffentlicher Notstände, die ab und an von Gottes Hand ausgehen und den Nationen seinen Zorn anzeigen, für nützlich. Das staatliche Almosen ist dann so plötzlich, so unverhofft und so vorübergehend zur Stelle wie das Unheil selbst. Ich verstehe auch diejenige öffentliche Wohltätigkeit, die den Kindern der Armen die Schulen öffnet und dem Verstand unentgeltlich die Möglichkeit bietet, durch Arbeit den Leib zu versorgen. Aber ich bin zutiefst überzeugt, dass jedes reguläre, ständige und administrative System, das für die Bedürfhisse des Armen sorgen soll, mehr Notlagen erzeugen wird, als es beheben kann. Es wird die Bevölkerung, die es finanziell und ideell unterstützen soll, verderben. Die Reichen werden zu bloßen Wirten der Armen erniedrigt. Die Quellen der Ersparnis werden versiegen, die Vermögenssteigerung wird zum Stillstand kommen, der Aufschwung des Handels wird erliegen, die Arbeit und das Gewerbe werden erstarren und letzten Endes eine gewaltsame Revolution im Staat herbeifuhren, wenn die Anzahl derer, die Almosen empfangen, fast ebenso groß sein wird wie die Anzahl derjenigen, die sie bezahlen, und der Bedürftige, der von den verarmten Reichen nicht mehr genügend zur Befriedigung seiner Bedürfnisse erhält, es fiir leichter hält, sie auf einen Schlag zu enteignen, statt ihre Unterstützung zu verlangen. Fassen wir das Vorangegangene in wenigen Worten zusammen. Die fortschreitende Entwicklung der modernen Zivilisation erhöht nach und nach sowie mehr oder minder rasch die Anzahl derer, die auf Wohltätigkeit angewiesen sind. Welches Mittel hilft in solchen Notlagen? Die gesetzliche Beihilfe kommt als erstes in Betracht; die gesetzliche Wohltätigkeit in jeglicher Form, entweder ohne Gegenleistung oder in Form eines Lohns, entweder zeitweise und vorübergehend oder regelmäßig und beständig. Aber bei gründlicher Prüfung zeigt sich unverzüglich, dass dieses so natürliche und wirksam scheinende Mittel im Gebrauch sehr gefahrlich ist, dass es nur eine trügerische und vorübergehende Linderung des individuellen Leids bringt und die Verluste der Gesellschaft verschlimmert, wie man es auch immer anwendet. Bleibt also die individuelle Barmherzigkeit; diese kann nur günstige Auswirkungen haben. Ihre Schwäche schützt allein schon vor negativen Auswirkungen; sie erleichtert viele Notlagen und lässt keine neuen entstehen. Aber angesichts der erwerbstätigen Schichten und all der Übel, welche die Zivilisation den von ihr hergestellten unschätzbaren Gütern beimengt, erscheint die individuelle Barmherzigkeit unzureichend und kraftlos. Sie war hinreichend im Mittelalter, als der religiöse Eifer ihr enorme Energie verlieh und ihre Tragweite weniger umfangreich war; ist sie es jedoch noch heutzutage,

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wo ihre Bürde groß und ihre Kräfte geschwächt sind? Die individuelle Mildtätigkeit ist ein starkes Mittel, das die Gesellschaft nicht gering schätzen darf, aber es wäre unklug, sich allein auf sie zu verlassen; sie ist eines der Mittel und kann nicht das einzige sein. Was bleibt also zu tun? Wohin soll man blicken? Wie soll man die Übel lindern, die man absehen, aber nicht heilen kann? Bisher habe ich die das Elend fördernden Mittel untersucht. Aber gibt es nur diese Art von Mittel? Nachdem man darüber nachgedacht hat, wie die Übel zu lindem seien, wäre es da nicht sinnvoll zu untersuchen, wie man ihnen vorbeugen kann? Könnte man das rasche Abwandern der Bevölkerung nicht verhindern, so dass die Menschen nur soweit das Land verlassen und ein Gewerbe aufnehmen, wie es ihren Bedürfnissen entspricht? Kann die Menge der nationalen Reichtümer nicht weiter ansteigen, ohne dass ein Teil derer, die diese Reichtümer produzieren, den entstandenen Wohlstand verflucht? Ist es unmöglich, ein stabiles und ausgewogenes Verhältnis zwischen Erzeugung und Verbrauch der produzierten Waren herzustellen? Kann man es den arbeitenden Schichten nicht erleichtern, Ersparnisse zu sammeln, die es ihnen erlauben, in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation zu überleben, bis das Schicksal sich wieder wendet? Hier vergrößert sich mein Blickfeld. Mein Thema erweitert sich; ich sehe, wie sich ein Untersuchungsfeld öffnet, aber ich kann es hier nicht mehr abschreiten. Die vorliegende Denkschrift, zu kurz für das, was ich zu behandeln hatte, geht bereits über die Grenzen dessen, was ich glaubte behandeln zu müssen. Die Hilfsmaßnahmen, von denen man erhofft, dass man mit ihnen die Massenarmut vorbeugend bekämpfen kann, werden Gegenstand einer zweiten Untersuchung sein, die ich der Akademischen Gesellschaft zu Cherbourg im nächsten Jahr darzureichen gedenke.

Die sozialen und politischen Verhältnisse Frankreichs vor und nach 1789 [1836]1

Erster Teil Hatte Frankreich einen heilsamen oder verhängnisvollen Einfluss auf das Los der heutigen Menschen? Allein die Zukunft wird es zeigen. Aber nichts könnte in Frage stellen, dass es diesen Einfluss gab und dass er noch immer groß ist. Sucht man nach den Ursachen dieses bedeutenden Einflusses, den die Franzosen mit ihren Waffen, ihren Schriften oder ihrem Vorbild bewirkt haben, so entdeckt man unter vielen anderen folgende, die man als Hauptursache betrachten muss: Seit mehreren Jahrhunderten arbeiten alle alten Nationen Europas im Stillen daran, die Ungleichheit in ihrem Inneren zu beseitigen. Frankreich hat die Revolution, die sich im übrigen Europa mühsam dahinschleppte, im eigenen Land beschleunigt. Als erstes Land hat es klar gesehen, was getan werden muss, während die anderen nur das Gefühl hatten, unsicher umherzutasten. Weil es sich in kürzester Zeit die wichtigsten Anschauungen aneignete, die seit fünf Jahrhunderten in der Welt kursierten, konnte es als erstes Land auf dem europäischen Kontinent die neue Wissenschaft mit einem Schlag verkünden, während seine Nachbarn unter vielerlei Mühen deren verschiedene Bestandteile zusammentrugen. Es riskierte zu sagen, was die anderen noch nicht einmal zu denken wagten und was sie sich für eine ungewisse Zukunft erträumten. Es scheute sich nicht, sie im Heute zu erproben. Das feudale Europa war in tausend verschiedene Herrschaftsordnungen zersplittert. Jede Nation und auch jede Stadt hatte, isoliert von der Menschheit, Fähigkeiten und Überzeugungen entwickelt, an denen die Menschen festhielten, nicht, weil sie ihnen vernünftig oder gerecht erschienen, sondern weil es ihre eigenen waren.

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Der Übersetzung liegt das längere französische Original De l 'etat social et politique de la France avant et depuis 1789 (ОС II, S. 31-66) zugrunde. Der Text erschien zuerst 1836 in der London and Westminster Review Bd. 25, S. 137-169. John Stuart Mill, der seinerzeit bei dieser Zeitschrift engagiert war, hatte den Text erbeten. Er stand mit Tocqueville seit 1835, seit dem ersten Band von Über die Demokratie in Amerika in Kontakt. Tocquevilles Artikel nimmt dessen spätere Kontinuitätsthese vorweg, wonach der eigentliche Wandel schon vor der Revolution im absolutistischen Regime erfolgt. Die These wird dann im Buch L 'Ancien Regime et la Regime et la Revolution (1856; dt. Der alte Staat und die Revolution München 1987) ausgearbeitet.

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Im ausgehenden Mittelalter entsteht Verwirrung: Die Nationen betrachten sich gegenseitig, sie verschmelzen, lernen sich untereinander kennen und imitieren einander. Jedes Volk verliert das Vertrauen in die selbst geschaffene Ordnung, ohne bei seinen Nachbarn etwas Besseres zu finden. Da bietet sich naturgemäß die Vorstellung einer gemeinsamen Ordnung an, die, weil eben weder national noch fremd, jederzeit für alle Menschen Geltung besitzt. Während die Vorstellungskraft des Menschen noch zögert, obwohl sie sich bereits bemüht, aus den alten Bahnen, in denen sie gefangen ist, herauszukommen, zerreißt das französische Volk ruckartig die Bande der Erinnerungen, tritt es seine alten Bräuche mit Füßen, verabschiedet es seine uralten Sitten, trennt es sich gewaltsam von Familientraditionen und ständischem Denken, vom Provinzgeist, von nationalen Vorurteilen und von der Herrschaft der Glaubenssätze. Es verkündet, dass es nur eine Wahrheit gibt, dass sie weder von der Zeit noch vom Ort abhängig ist, dass sie nicht relativ, sondern absolut gedacht werden muss, dass man sie im Wesen der Dinge und nicht in ihrer Form zu suchen hat und dass jeder sie entdecken kann und sich nach ihr richten muss. Man redet von dem Einfluss, den Frankreichs Ideen gehabt hätten, und man täuscht sich. Solange sie nur in Frankreich verbreitet waren, erlangten diese Ideen nur begrenzten Einfluss. Aufgegriffen wurden sie indes in ihrer allgemeinen und, wenn ich das sagen darf, in ihrer menschlichen Dimension. Die Franzosen erlangten stärkeren Einfluss mit der philosophischen Methode, die sie sich mit aller Macht als erste anzueignen gewagt hatten, als mit ihrer Weltanschauung. Sie waren einflussreicher in der Art und Weise, wie sie ihre Anstrengungen lenkten, als mit dem Ergebnis ihres Handelns. Ihre Weltanschauung war nur ihnen zu Eigen, aber ihre Methode erwies sich als zweckmäßiges Werkzeug für alle Hände, die etwas stürzen wollten. Frankreich trat mithin an die Spitze zweier großer Revolutionen - der politischen und philosophischen, der nationalen und intellektuellen - aber es hat sie nicht allein hervorgebracht. Daher ihre breite Wirkung. Ihre wichtigste Kraft erwuchs nicht aus dem, was sie im Land selbst vorfanden, sondern aus dem, worauf sie bei denen stießen, die sie in Bewegung setzten. Sie wirkten wie Rom, das die entfernten Nationen mit Fremden unterwarf. Frankreich hat nicht um sich herum die Keime der Revolution gesät, es hat diejenigen weiterentwickelt, die bereits da waren; es hatte nicht die Position inne, Dinge zu erschaffen, sondern es war wie der Sonnenstrahl, der alles erblühen lässt. Fast alle Nationen Europas haben mehr oder weniger diesen revolutionären Einfluss der Franzosen in den letzten 50 Jahren erfahren; aber die meisten unter ihnen haben ihn erlebt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie folgten einem gemeinsamen Impuls, ohne dessen Ursprung zu kennen. Der Beobachter, der Frankreichs Nachbarländer durchquert, entdeckt mühelos, dass dort viele Ereignisse, Bräuche, Ideen direkt oder indirekt aus der Französischen Revolution folgen, und zugleich wird er gewahr, dass an denselben Orten gründliche Unkenntnis über die Ursachen und Wirkungen dieser Revolution herrscht. Niemals hat ein Land größeren Einfluss auf seine Nachbarn ausgeübt und ist ihnen so unbekannt geblieben. Uns schien das in England besonders offensichtlich zu sein.

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Seit zwanzig Jahren herrscht tiefer Friede zwischen den beiden großen westlichen Nationen. Zwischen beiden fand ein bedeutender Austausch statt. Mehrere Bräuche wurden Gemeingut beider Völker. Viele Überzeugungen wurden gegenseitig übernommen. Die Franzosen schöpften aus den englischen Gesetzen die Prinzipien der konstitutionellen Freiheit und die Idee der rechtlichen Ordnung. Einige der demokratischen Überzeugungen, die es in England gibt, und die meisten dort verfochtenen Theorien der staatsbürgerlichen Gleichheit scheinen französischen Ursprungs zu sein. Aber die beiden Nationen sind ihrem natürlichen Wesen nach so verschieden, dass sie zwar nicht mehr verfeindet sind, sich aber auch noch nicht kennen lernen konnten; sie haben einander nachgeahmt, ohne sich zu verstehen. Die Engländer, die Frankreich Tag fur Tag in allen Richtungen durchqueren, wissen im Allgemeinen nicht, was dort geschieht. Man veröffentlicht in London ausgezeichnete Berichte darüber, was sich in Indien ereignet, man weiß in etwa, in welchem sozialen und politischen Zustand die Völker am Ende der Welt leben. Aber die Engländer haben nur eine oberflächliche Vorstellung von den Institutionen Frankreichs, sie kennen nur bruchstückhaft die dort kursierenden Ideen, die noch herrschenden Vorurteile, die eingetretenen Veränderungen und die weiter gehegten Bräuche. Sie wissen nicht, wie es bei ihren Nachbarn um die Konstituierung der Parteien, die Zusammensetzung der Bevölkerung oder die Interessengegensätze steht, und wenn sie etwas von diesen Dingen erfahren haben, dann vom Hörensagen. Jeder begnügt sich mit einem Halbwissen, das gefahrlicher ist als vollständige Unwissenheit, und kaum jemand denkt daran, sich fortzubilden. Daher kommt es, dass die beiden großen Völker voneinander nur eine Ahnung besitzen, sich nur im Halbdunkel gewahr werden und einander wie zufällig begegnen. Gegenstand dieser Briefe2 ist es nicht, Frankreichs gegenwärtigen Zustand im Einzelnen darzustellen; dafür würde ein ganzes Leben kaum ausreichen. Einziges Ziel des Verfassers ist es, einige wichtige Punkte herauszugreifen, deren Untersuchung aufmerksamen Lesern zugleich ein Wissen über alle anderen vermittelt. Unsichtbare, aber nahezu allmächtige Bande verknüpfen das Weltbild eines Jahrhunderts mit der vorangegangenen Epoche und die Vorlieben der Söhne mit den Neigungen der Väter. Eine Generation mag ihren Vorvätern gut und gern den Krieg erklären; es ist leichter, gegen sie zu kämpfen, als ihnen nicht zu ähneln. Man kann deshalb nicht von einer Nation in einem vorgegebenen Zeitraum reden, ohne zu sagen, was sie ein halbes Jahrhundert zuvor gewesen ist. Das ist vor allem notwendig, wenn es sich um ein Volk handelt, das sich während der letzten fünfzig Jahre nahezu ununterbrochen in den Fängen von Revolutionen befand. Die Ausländer, die von diesem Volk nur reden hören, und die Veränderungen, die es nacheinander durchlaufen hat, nicht aufmerksam verfolgt haben, wissen nur, dass sich bei ihm große Erneuerungen ereigneten, aber sie wissen nicht, in welchem Umfang der alte Zustand beseitigt wurde und was davon unter so anhaltenden Schicksalsschlägen erhalten geblieben ist.

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Tocqueville plante, eine Reihe von Briefen zu diesem Thema zu veröffentlichen, er hat aber nur diesen einen Artikel verfasst.

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In diesem ersten Teil gebe ich einige Erläuterungen zum Zustand Frankreichs vor der großen Revolution von 1789, mangels derer der jetzige Zustand sehr schwer zu verstehen ist. Am Ende der alten Monarchie bot die Kirche Frankreichs in einigen Punkten einen ähnlichen Anblick wie heutzutage die etablierte Kirche Englands. Ludwig XIV., der alle großen persönlichen Einkommen zunichte machte, alle Körperschaften auflöste oder erniedrigte, hatte nur dem Klerus den Anschein eines unabhängigen Lebens belassen. Der Klerus veranstaltete weiterhin Jahresversammlungen, auf denen er sich selbst mit Steuern belegte; er besaß beträchtliche Anteile am Grund und Boden des Königreichs und griff auf tausenderlei Art und Weise in die öffentliche Verwaltung ein. Obwohl weiter an die wichtigsten Glaubenslehren der katholischen Kirche gebunden, bezog der französische Klerus eine bestimmte und nahezu feindselige Haltung zum Heiligen Stuhl. Als Ludwig XIV. die französischen Priester von ihrer geistigen Führung isolierte, ihnen aber Reichtümer und Macht beließ, verfolgte er nur dieselben despotischen Absichten, die alle Taten seiner Regentschaft bestimmten. Er glaubte, dass er immer Herr über den Klerus, dessen Ämter er selbst besetzte, bleiben würde, und dass es in seinem Interesse läge, wenn der Klerus so stark sei, dass er ihm helfen könne, die Völker zu beherrschen und sich den Bestrebungen des Papstes zu widersetzen. Die Kirche Frankreichs war unter Ludwig XIV. sowohl eine religiöse als auch eine politische Institution. In der Zeit zwischen dem Tod dieses Königs und der Französischen Revolution wurden die religiösen Überzeugungen immer schwächer und Priesterschaft und Volk einander fremder. Dieser Prozess entstand aus Ursachen, die sich hier nicht alle anführen lassen. Im ausgehenden 18. Jahrhundert besaß der französische Klerus noch sein gesamtes Habe; er mischte sich noch in alle Staatsangelegenheiten ein; aber das Empfinden der Bevölkerung entzog sich ihm allenthalben, und die Kirche wurde nun weit mehr zu einer politischen als einer religiösen Institution. Es ist vielleicht nicht ganz leicht, heute Engländern zu erklären, was Frankreichs Adel war. Die Engländer haben in ihrer Sprache keinen Ausdruck, der die alte französische Vorstellung von Noblesse genau wiedergibt. Nobility besagt mehr und Gentry weniger. Aristokratie ist auch kein Begriff, dessen man sich kommentarlos bedienen darf. Generell wird unter Aristokratie, im landläufigen Sinn, die Gesamtheit der oberen Klassen verstanden. Die französische Noblesse war eine aristokratische Körperschaft; aber es wäre ein Fehler zu sagen, dass sie allein die Aristokratie des Landes gebildet hätte, denn ihr zur Seite waren schon ebenso gebildete, reiche und fast genauso einflussreiche Schichten gestellt. Der französische Adel stand also, bezogen auf die heute in England lebende Aristokratie, wie die Art zur Gattung·, er bildete eine Schicht, nicht aber einen Adelsstand. Darin glich er dem Adel auf dem ganzen Kontinent. Nicht bloß in Frankreich wurde man durch Ämterkauf oder durch ein Wort des Königs unmittelbar zum Adligen; doch die Adelung, die einen Menschen aus den Reihen des Dritten Standes hob, führte ihn nicht wirklich in jene des Adels ein. Als Neuling befand sich der Edelmann gewissermaßen an der Grenze der beiden Stände: höher als der eine, niedriger als der andere. Er erblickte von fern das Gelobte Land, das erst seine Söhne betreten konnten. Die

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Geburt war in Wirklichkeit die einzige Quelle, aus der der Adel entsprang; man war adlig geboren, man wurde es nicht. Etwa zwanzigtausend Familien3 im ganzen Königreich bildeten diese große Körperschaft. Diese Familien beanspruchten auf Grund des gemeinsamen Privilegs ihrer Geburt eine Art hypothetischer Gleichheit untereinander. „Ich bin nur", hatte Heinrich IV. gesagt, „der erste Edelmann meines Königreichs." Dieses Wort steht fur das Selbstverständnis, das noch im ausgehenden 18. Jahrhundert im französischen Adel herrschte. Tatsächlich entdeckte man jedoch leicht gewaltige Unterschiede unter den Adligen; die einen hatten noch großen Landbesitz, während andere auf dem väterlichen Landsitz kaum genug zum Leben hatten. Erstere verbrachten den größten Teil ihres Lebens bei Hofe; letztere bewahrten in ihren Provinzen voller Stolz ein unklares Erbe. Den einen öffnete ihre Herkunft den Weg zu den hohen staatlichen Würden, während die anderen, nachdem sie in der Armee einen nicht zu hohen Dienstgrad erworben hatten, der zugleich das Ende ihrer Aufstiegsmöglichkeiten bedeutete, friedlich in ihr Heim zurückkehrten, um nicht mehr von dort wegzugehen. Derjenige, der den Adelsstand getreu schildern wollte, hätte also viele Abstufungen beachten und den Schwertadel vom Amtsadel, den Hofadel vom Landadel und den alten Adel vom jüngeren Adel unterscheiden müssen; er hätte in dieser kleinen Gruppe fast ebenso viele Abstufungen und Schichten gefunden wie in der gesamten Gesellschaft, dessen Teil sie bildete. Stets wurde jedoch deutlich, dass in dieser großen Körperschaft ein gewisser einheitlicher Geist herrschte; sie befolgte feststehende Regeln, orientierte sich an unveränderlichen Bräuchen und bewahrte von allen Mitgliedern geteilte Überzeugungen. Der französische Adel, der wie die anderen Adelsstände des Mittelalter aus der Landnahme hervorgegangen war, genoss einst wie jene und vielleicht mehr als jeder andere enorme Privilegien. Er hatte fast alle Bildung und allen Reichtum der Gesellschaft an sich gebracht; er besaß das Land und herrschte über die Bewohner. Aber am Ende des 18. Jahrhunderts war der französische Adel nur noch ein Schatten seiner selbst; er hatte mit einem Mal seinen Einfluss auf den König und das Volk verloren. Der König wählte die wichtigsten Staatsbeamten noch aus ihm aus, doch er folgte damit eher unbewusst einem alten Brauch als einem anerkannten Recht. Seit langem konnte kein Adliger mehr dem Monarchen gefahrlich werden und von ihm verlangen, an der Regierung beteiligt zu werden. Der Einfluss des Adels auf das Volk war noch geringer. Zwischen dem König und dem Adel besteht eine natürliche Verwandtschaft, die bewirkt, dass sie sich, ohne da-

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Anmerkung von Tocqueville: Aus den Arbeiten der Herren Moheau und de la Michodiere sowie aus denen des berühmten Lavoisier geht hervor, dass sich 1791 die Anzahl der Adligen und Geadelten auf 83.000 Personen belief, wovon nur 18.323 imstande waren, Waffen zu tragen. Der Adel hätte demnach nur den dreihundertsten Teil der Bevölkerung des Königreichs gebildet. Trotz der Autorität, die der Name Lavoisiers seinen Berechnungen verleiht, fällt es mir schwer, sie für vollkommen zu halten. Mir scheint, dass die Anzahl der Adligen größer gewesen sein muss. Siehe De la richesse territoriale du royaume de France, von Lavoisier, 1791, S. 10.

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nach zu streben und gewissermaßen unbewusst, annähern. Aber ein Bund von Aristokratie und Volk gehört nicht zur natürlichen Ordnung der Dinge, und er kann nur dank großer Geschicklichkeit und ständiger Bemühungen entstehen und bestehen bleiben. Es gibt eigentlich für eine Aristokratie nur zwei Mittel, um ihren Einfluss auf das Volk zu festigen: es zu beherrschen oder sich mit ihm zu verbünden, um diejenigen, die es regieren, zu mäßigen. Mit anderen Worten: Die Adligen müssen seine Herren bleiben oder seine Anfuhrer werden. Doch statt der französische Adel die Führung der anderen Klassen übernommen hätte, um sich mit ihnen den Übergriffen der königlichen Macht zu widersetzen, hatte sich im Gegenteil die königliche Macht mit dem Volk verbündet, um die Tyrannei des Adels zu bekämpfen, und danach mit den Adligen, um das Volk zum Gehorsam zu zwingen. Zudem kam, dass der Adel es seit langem aufgegeben hatte, an den Regierungsgeschäften beteiligt zu sein. Meist führten Adlige die allgemeinen Staatsangelegenheiten: Sie befehligten die Armeen, nahmen Ministerposten ein, füllten den Hof; aber sie befassten sich überhaupt nicht mit der eigentlichen Verwaltung, das heißt mit jenen Dingen, die in unmittelbarem Kontakt zum Volk stehen. In seinem Schloss verborgen, beim König nicht bekannt, den Bewohnern der Nachbarschaft entfremdet, verharrte Frankreichs Adel unbeweglich inmitten der alltäglichen Veränderungen der Gesellschaft. Rings um ihn waren es die Beamten des Königs, die Recht sprachen, Steuern erhoben, die Ordnung aufrechterhielten, für das Wohl der Einwohner sorgten und sie regierten. Ihres Müßigganges überdrüssig, begaben sich diejenigen Edelleute, die noch große Güter hatten, nach Paris und lebten bei Hofe, den einzigen Orten, wo sie ihre Würde noch zur Schau stellen konnten. Der Kleinadel, der notgedrungen auf dem Lande festsaß, führte dort ein müßiges, unnützes und unzufriedenes Leben. Unter den Adligen gingen also diejenigen, die dank ihres Reichtums, wenn schon nicht ihrer Macht, womöglich einigen Einfluss auf das Volk errungen hätten, aus freien Stücken von ihm fort. Diejenigen aber, die zwangsläufig in seiner Nachbarschaft leben mussten, stellten dem Volk nur das Unnütze und Hinderliche einer Körperschaft zur Schau, deren einzige Repräsentanten sie ihm zu sein schienen. Indem der französische Adel die öffentliche Verwaltung im Einzelnen an andere abtrat und nur die großen Staatsämter anstrebte, zeigte er, dass ihm mehr am Schein der Macht als an der Macht selbst gelegen war. Das Wirken der zentralen Regierung ist für den Einzelnen nur ab und an und schwer fassbar. Die Außenpolitik und die allgemeinen Gesetze haben nur indirekten und oft unmerklichen Einfluss auf die Lage und das Wohlergehen jedes Bürgers. Die lokale Verwaltung hat mit ihnen jeden Tag zu tun; sie berührt sie unablässig an den empfindlichsten Stellen; sie beeinflusst all die kleinen Belange, die zusammen das Leben ausmachen. Sie ist Hauptgegenstand ihrer Sorgen; auf sie richten sich ihre wichtigsten Erwartungen; sie hält sie an tausend unsichtbaren Fäden, die sie ohne ihr Wissen mitschleppen. Indem sie die Dörfer verwaltet, legt eine Aristokratie die Fundamente der Machtbefugnisse, die ihr danach dazu dienen, den gesamten Staat zu lenken. Zum Glück für die noch vorhandenen Aristokratien kennt die Kraft, die sie stürzen will, dieses Geheimnis ihrer Macht nicht besser, als sie selbst. Wenn ich für meinen Teil

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danach streben würde, eine mächtige Aristokratie in meinem Land zu stürzen, würde ich mich nicht darum bemühen, ihre Repräsentanten in der Regierung zu vertreiben; ich würde mich nicht beeilen, ihre eklatantesten Privilegien in Frage zu stellen; ich würde nicht gleich ihre legislativen Befugnisse anfechten; aber ich würde sie von den Wohnstätten der Armen fernhalten; ich würde ihr untersagen, Einfluss auf die alltäglichen Interessen der Bürger zu nehmen, ich würde ihr eher erlauben, an der Ausarbeitung der allgemeinen Staatsgesetze teilzuhaben, als die Verwaltung eines Gemeinwesens zu regeln. Ihr die Steuerung der großen gesellschaftlichen Angelegenheiten abzutreten, würde mich weniger schmerzen, als sie die kleinen arrangieren zu lassen. Ich würde ihr, während sie alle äußerlichen Zeichen ihrer Würde behält, das Herz des Volkes aus ihren Händen reißen, denn da liegt die wahre Quelle der Macht. Die französischen Adligen hatten allerdings noch eine Anzahl von Sonderrechten, die sie gegenüber den anderen Bürgern auszeichneten und hervorhoben; aber es war leicht zu sehen, dass der französische Adel von den Privilegien seiner Väter fast nur noch jene, welche die Aristokratien verhasst machen, behalten hatte und nicht diejenigen, die man an ihnen liebt oder furchtet. Die Adligen genossen das Vorrecht, die Offiziere fur die Armee zu stellen. Das wäre gewiss ein wichtiges Vorrecht gewesen, wenn die Adligen eine gewisse individuelle Größe oder ein starkes Standesbewusstsein bewahrt hätten. Aber da ihnen beides fehlte, waren sie in der Armee wie sonst auch überall nur passive Werkzeuge in den Händen des Königs. Von ihm allein erwarteten sie Beförderung und Gunsterweisungen, und auf dem Schlachtfeld wie bei Hofe dachten sie nur daran, ihm zu gefallen. Das erwähnte Recht war also vorteilhaft für die Adelsfamilien, aber nicht von Nutzen für den Adel als politische Körperschaft. Bei einer wesentlich kriegerischen Nation, wo der militärische Ruhm stets als erstes Gut gegolten hat, erregte dieses Vorrecht heftigen Hass und gnadenlose Eifersucht aufjene, die es genossen. Es lieferte die Soldaten nicht den Adligen aus; aber es machte den Soldaten zum natürlichen Feind der Adligen. Die Edelleute waren von einem Teil der Steuern befreit. Außerdem erhoben sie von den Einwohnern ihrer Güter unter vielen verschiedenen Bezeichnungen eine Vielzahl von jährlichen Abgaben. Diese Rechte vermehrten den Reichtum der Adligen nicht sehr, aber sie machten den Adel zum allgemeinen Gegenstand von Hass und Neid. Für ihre Inhaber sind die pekuniären Vorrechte die gefährlichsten Privilegien. Jeder schätzt ihr Ausmaß auf den ersten Blick ein, sieht sie überdeutlich und fühlt sich dadurch zurückgesetzt; die Beträge, die sie abwerfen, sind gleichsam lauter genaue Gradmesser, an denen leicht einzuschätzen ist, wie viel Hass sie erregen müssen. Es gibt nur einige Menschen, die Ehren begehren und danach streben, den Staat zu lenken; aber es gibt sehr wenige, die nicht reich sein wollen. Viele Menschen kümmert es wenig, wer sie regiert; aber niemandem ist gleichgültig, was mit seinem Privatvermögen geschieht. Die Privilegien, die Geld eintragen, sind demnach weniger bedeutend und zugleich gefahrlicher als diejenigen, die Macht verleihen. Da die französischen Adligen lieber erstere bewahrten als letztere, behielten sie das Verletzende an der Ungleichheit bei, und nicht das Dienliche. Sie erpressten das Volk und ließen es verarmen, doch sie regierten

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es nicht. Inmitten des Volkes erschienen sie als vom König begünstigte Fremde, und nicht als Anführer und Gebieter; sie hatten nichts zu geben und weckten so in den Herzen keine Hoffnungen; nehmen konnten sie nur in einem festgelegten, von vornherein unveränderlichen Maß, schürten damit aber den Hass, ohne Furcht zu erregen. Abgesehen von diesen einträglichen Rechten hatte der französische Adel sehr viele reine Ehrenrechte behalten - darunter Titel, bestimmte festgelegte Plätze im öffentlichen Raum, das Tragen bestimmter Gewänder und bestimmter Waffen. Diese Privilegien waren zum Teil einst selbstverständliches Zubehör ihrer Macht; die anderen kamen seit dem Schwinden dieser Macht gleichsam als Entschädigung für deren Verlust zustande. Die einen wie die anderen nützten kaum und konnten Unheil stiften. Hat man in Wirklichkeit auf die Macht verzichtet, so wird es zu einem gefahrlichen Spiel, ihren Anschein wahren zu wollen; kraftvolles Auftreten kann bisweilen einem geschwächten Körper Halt geben, aber meist wirft es ihn ganz zu Boden. Man erscheint noch groß genug, um verhasst zu sein, und ist nicht mehr stark genug, um die Hassausbrüche abzuwehren. Mächte, die erst entstehen und solche, die im Niedergang begriffen sind, müssen sich eher vor Ehrenrechten hüten, als sie anzustreben. Nur eine fest etablierte und groß gewordene Macht kann sich erlauben, sie zu gebrauchen. Was ich von den Gesetzen und Bräuchen gesagt habe, gilt auch für die Überzeugungen. Die modernen Adligen hatten die meisten Prinzipien ihrer Vorfahren preisgegeben, sich aber hartnäckig an einige sehr schädliche Überzeugungen geklammert; obenan ist das Vorurteil zu stellen, das den Edelleuten Handel und Gewerbe untersagte. Dieses Vorurteil war im Mittelalter entstanden, als Landeigentum und Herrschaft über die Menschen ein und dasselbe waren. In jenen Jahrhunderten hatte sich die Vorstellung des Besitzes eng mit jener von Größe und Macht vereint; die Vorstellung des beweglichen Vermögens verwies dagegen auf Abhängigkeit und Schwäche. Obwohl seitdem das Landeigentum inzwischen nicht mehr Herrschaft zur Folge hatte und das bewegliche Eigentum enormes Wachstum erfahren und ganz neue Bedeutung gewonnen hatte, war man derselben Ansicht geblieben, und das Vorurteil hatte die Ursachen seiner Entstehung überlebt. So kam es, dass die Adelsfamilien zwar wie alle anderen in Armut geraten konnten, aber sich die üblichen Mittel, zu Reichtum zu gelangen, versagten. Der Adel als Stand verarmte daher unablässig; und nachdem er den direkten Weg zur Macht aufgegeben hatte, gab er auch die anderen Wege auf, die zu ihr führen konnten. Konnten die Adligen schon nicht selber durch Handel und Gewerbe reicher werden, so untersagten ihnen die Sitten obendrein, durch Bündnisse an derart erworbenem Reichtum teilzuhaben. Ein Edelmann hätte es für unter seiner Würde gehalten, die Tochter eines reichen Nichtadligen zu ehelichen. Nicht selten war jedoch zu sehen, dass solch ein Bund geschlossen wurde, denn ihre Vermögen schwanden schneller dahin als ihr Begehren. Diese unwürdigen Beziehungen, die einigen Angehörigen des Adels zu Reichtum verhalfen, nahmen schließlich dem Stand die Macht über die Überzeugungen, die einzigen, die ihm noch geblieben waren.

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Man hat sehr wohl auf die Motive der Menschen zu achten, bevor man sie dafür lobt, dass sie sich über ein Vorurteil hinwegsetzen. Um sie zu beurteilen, muss man den besonderen Standpunkt des jeweils Handelnden einnehmen, und nicht den allgemeinen und absoluten Standpunkt der Wahrheit. Einer allgemeinen Ansicht zuwider zu handeln, weil man sie für falsch hält, ist gewiss schön und tugendhaft. Aber es ist fast ebenso gefahrlich für die menschliche Moral, ein Vorurteil zu missachten, weil es hinderlich ist, wie eine wahre Idee deswegen preiszugeben, weil sie gefährlich ist. Die Adligen hatten zuerst zu unrecht geglaubt, sie würden sich erniedrigen, wenn sie die Töchter von Nichtadligen heirateten, und dann vielleicht noch einen größeren Fehler begangen, indem sie sie heirateten, obwohl sie jene Überzeugung pflegten. Im 18. Jahrhundert waren die feudalen Erbfolgegesetze noch in Kraft, aber sie boten dem Vermögen der Adligen nur schwachen Schutz. Ich bin versucht zu glauben, dass man den Einfluss jener Gesetze oft übertreibt. Meiner Ansicht nach brauchen sie, um große Wirkungen zu erzielen, besondere Umstände, die sie selbst nicht hervorrufen und die nicht von ihnen abhängen. Plagt die Adligen nicht der Wunsch, reicher zu werden, und begnügen sich die anderen Schichten der Nation ihrerseits einigermaßen mit ihrem von Gott gegebenem Los, so erzeugt das die Anschauungen und Sitten wahrende Erbfolgegesetz schließlich allgemeinen Stillstand und Unbeweglichkeit. Da die Nichtadligen kaum mehr Aussicht auf Erwerb von Reichtum haben als die Edelleute und die Edelleute ihren Reichtum nicht verlieren können, fallen ihnen weiterhin alle Vorteile zu, und jede Generation verbleibt ohne weiteres auf dem Rang, den die vorige Generation innehatte. Doch in einer Nation, wo alle außer den Edelleuten danach streben, reicher zu werden, würden die Güter des Adels bald zu der von den anderen Klassen begehrten gemeinsamen Beute. Jeder würde das Desinteresse der Adligen, ihre Vorlieben und Schwächen nach Herzenslust nutzen, um die Vielzahl der unproduktiven Güter, die sie besitzen, in den allgemeinen Warenaustausch einzubinden. Es ist anzunehmen, dass sich der Adel selbst bald an diesen Bemühungen beteiligen würde. Da die Nichtadligen nur das gemeinsame Privileg des Reichtums besitzen, das sie von den Privilegien aller Art, die ihre Gegner genießen, unterscheidet, würden sie unverzüglich vor deren Augen allen Überfluss des Reichtums zur Schau stellen. Dieser würde zum Objekt des Wetteifers für die Adligen, die den Glanz der anderen nachzuahmen suchen würden, ohne dessen Quellen zu kennen. Ihrem Vermögen wären bald Grenzen gesetzt, ihre Einkünfte schließlich niedriger als ihre Bedürfnisse. Sie würden das Gesetz, das sie schützt, letzten Endes selber als feindlich betrachten und sich mit aller Macht anschicken, es zu umgehen. Ich will nicht sagen, dass die Erbfolge auch dann nicht den Ruin der Adligen hinauszögerte; aber ich glaube nicht, dass sie ihn verhinderte. Es gibt etwas Wirksameres als das konstante Wirken der Gesetze in einem bestimmten Sinn; das ist das beständige Gegenwirken der menschlichen Leidenschaften. Zurzeit, als die Revolution ausbrach, bestimmte das französische Gesetz noch, dass der älteste Sohn eines Edelmanns fast allen Besitz der Familie übernehmen und ihn unversehrt seinen Nachfahren übergeben solle. Dennoch war eine Vielzahl ursprünglich

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feudaler Güter nicht mehr im Besitz des Adels; viele andere waren aufgeteilt. 4 Nicht nur, dass es sehr reiche und sehr arme Adlige gab, was den Stand nicht in Frage stellen würde; es gab darüber hinaus eine Menge von Individuen, die, weder arm noch reich, ein mittelmäßiges Vermögen besaßen: ein Sachverhalt, der bereits eher zur Demokratie passt als zur Aristokratie. Und bei näherer Untersuchung der Verfasstheit des Adels hätte man wirklich entdecken können, dass er in Wirklichkeit eine gegenüber den anderen Schichten mit den Rechten einer Aristokratie ausgestattete demokratische Körperschaft war. Aber die Gefahr, die die Existenz der Adligen in Frankreich bedrohte, erwuchs weit mehr aus dem, was um sie herum geschah, als aus dem, was in ihren Reihen vorging. In dem Maß, wie der französische Adel an Reichtum einbüßte und an Macht verlor, brachte eine andere Schicht der Nation das bewegliche Vermögen rasch an sich und näherte sich der Regierung. Der Adel verlor so auf zweierlei Weise; er wurde an sich und in Bezug auf andere schwächer. Die neue, besitzergreifende Klasse, die offenbar auf seinen Trümmern aufsteigen wollte, nannte sich Dritter Stand. Ebenso wie es schwierig ist, den Engländern verständlich zu machen, was der französische Adel war, ist es nicht leicht ihnen zu erklären, was man unter dem Dritten Stand verstand. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, in Frankreich hätten die Mittelschichten einen dritten Stand gebildet, der zwischen der Aristokratie und dem Volk anzusiedeln wäre. Aber dem war nicht so. Der Dritte Stand umfasste tatsächlich die Mittelschichten, aber er bestand auch aus Teilen, die ihnen von Natur aus fremd waren. Der reichste Kaufmann, der vermögende Bankier, der tüchtigste Industrielle, der Literat und der Gelehrte konnten dem Dritten Stand ebenso angehören wie der kleine Pächter, der Ladenbesitzer in der Stadt und der Bauer, der das Land bearbeitete. In der Tat gehörte jeder, der weder Priester noch Adliger war, zum Dritten Stand: Im Dritten Stand gab es Reiche und Arme, Ungebildete und Gebildete. An und für sich genommen, hatte der Dritte Stand seine eigene Aristokratie, er umschloß bereits alle Elemente eines Volkes oder bildete vielmehr von allein ein vollständiges Volk, das zugleich mit den privilegierten Ständen existierte, aber auch ohne sie und aus eigener Kraft existieren konnte; er hatte seine eigenen Ansichten, Vorurteile, Glaubenssätze und ein eigenes Nationalbewusstsein. Das zeigt sich sehr deutlich in den Cahiers, die 1789 vom Dritten Stand als Anweisung für seine Deputierten verfasst worden waren. Der Dritte Stand war fast ebenso darum besorgt, sich nicht mit dem Adel zu vermischen, wie es jenem darum gehen mochte, sich nicht mit ihm zu verbinden; er wendete sich gegen den Kauf von Titeln, der es einigen seiner Mitglieder gestatten würde, in die Reihen der Adligen aufzusteigen. Bei den Wahlen, die den Generalstände vorausgingen, wollte der berühmte Chemiker Lavoisier5 im Dritten Stand abstim-

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Anmerkung von Tocqueville [in der englischen Fassung von 1836]: Man liest in den Cahiers de la Noblesse von 1789, dass das Land voller Schlösser und Herrenhäuser ist, die früher vom französischen Adel bewohnt waren, jetzt aber verlassen sind - Resume des Cahiers, Bd. II, S. 10. Der Bankier Antoine Laurent de Lavoisier (1743-1794) gilt als einer der größten Chemiker des 18. Jahrhunderts. Bereits mit 25 Jahren wurde er aufgrund seiner exzellenten wissenschaftlichen Arbei-

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men; er wurde aus der Wählerschaft mit der Begründung ausgeschlossen, dass er mit dem Kauf eines Amtes, das ihm Adelsrang verlieh, das Recht auf Stimmabgabe bei den Nichtadligen verloren habe. So waren Dritter Stand und Adel auf demselben Boden miteinander vermischt; aber sie bildeten dort gleichsam zwei unterschiedliche Nationen, die zwar unter denselben Gesetzen lebten, jedoch einander fremd blieben. Das eine der beiden Völker erneuerte unablässig seine Kräfte und erwarb neue hinzu, das andere verlor Tag für Tag und gewann nichts zurück. Die Entstehung dieses neuen Volkes inmitten der französischen Nation bedrohte die Existenz des Adels. Aber die Isolierung, in der die Adligen lebten, war für sie eine noch größere Gefahrenquelle. Diese vollständige Trennung von Dritten Stand und Adel beschleunigte nicht nur dessen Sturz; sie drohte in Frankreich jegliche Aristokratie zu vernichten. Aristokratien entstehen und bestehen nicht zufallig; sie unterliegen, wie alles andere, feststehenden Gesetzen, die man möglicherweise aufdecken kann. Unter Menschen gibt es, in welcher Gesellschaft sie auch immer leben und unabhängig von den Gesetzen, die sie sich gegeben haben, eine gewisse Menge wirklicher oder anerkannter Güter, die ihrer Natur nach nur wenigen zu Eigen sein können. Obenan stelle ich die Geburt, den Reichtum und das Wissen; ein Gesellschaftszustand, in dem alle Bürger adlig, gebildet und reich wären, ist unvorstellbar. Die Güter, von denen ich rede, sind untereinander sehr verschieden, aber sie haben das gemeinsame Merkmal, dass sie nur wenigen zuteil werden können und aus ebendiesem Grund allen, die sie besitzen, besondere Neigungen und Ansichten vermitteln; diese Güter bilden daher gleichsam lauter aristokratische Elemente, die sich, ob getrennt oder in denselben Hände vereinigt, bei allen Völkern und in jeder historischen Epoche finden lassen. Wenn alle, die mit diesen außerordentlichen Vorzügen ausgestattet sind, zusammen die Regierungsarbeit leisten, gibt es eine starke und dauerhafte Aristokratie. Im 18. Jahrhundert besaß der französische Adel in seinen Reihen nur einige dieser natürlichen Eigenschaften; mehrere fehlten. In dem sich die Adligen von den reichen und gebildeten Nichtadligen abgrenzten, glaubten sie dem Beispiel ihrer Väter treu zu bleiben. Sie bemerkten nicht, dass sie sich auf diese Art von dem Ziel entfernten, das jene erreicht hatten. Im Mittelalter war die Geburt tatsächlich die Hauptquelle aller sozialen Vorteile; aber im Mittelalter war der Adlige der Reiche, und er hatte den Priester, der der Gebildete war, zu sich gerufen; die ganze Gesellschaft war diesen beiden Männern ausgeliefert, weil man meinte, sie müsse es sein. Aber im 18. Jahrhundert waren viele Reiche nicht mehr adlig, und viele Adlige waren nicht mehr reich; und eben dies ließ sich auch in Bezug auf die Bildung sagen. Der Dritte Stand bildete also einen der natürlichen Teile der Aristokratie, der, vom Haupt-

ten in die französische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Aufgrund seiner Tätigkeit als Generalsteuerpächter wurde er am 8. Mai 1794 guillotiniert.

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körper abgetrennt, diesen schwächen musste, weil er ihm nicht dienlich war, und dann dazu überging, ihn zu bekriegen und zu vernichten. Das sich absondernde Denken der Adligen führte letztlich dazu, dass nicht nur die Anführer des Dritten Standes, sondern auch alle, die eines Tages Anführer zu werden hofften, von der Aristokratie abfielen. Die meisten Aristokratien gingen nicht unter, weil sie die Ungleichheit auf Erden begründeten, sondern weil sie diese zugunsten Einiger und zulasten anderer verewigen wollten. Die Menschen hassen eher eine bestimmte Art von Ungleichheit als die Ungleichheit im Allgemeinen. Man darf auch nicht glauben, dass eine Aristokratie an einem Übermaß von Privilegien zugrunde gehe; es kann im Gegenteil vorkommen, dass das Ausmaß dieser Privilegien sie sogar erhält. Wenn jeder glaubt, eines Tages zu einer Elite gehören zu können, wird das Ausmaß ihrer Rechte auch denjenigen teuer, die ihr noch nicht angehören. Auf diese Weise machen sogar die Mängel dieser Institution ihre Stärke aus, solange man nicht sagen kann, die Aussichten auf Erfolg seien schlecht. Darauf kommt es an, wenn das Ziel hoch ist. Was das Menschenherz am höchsten schlagen lässt, ist weit weniger die Gewissheit eines kleinen Erfolgs als die Möglichkeit eines großen Glückstreffers. Erhöhen Sie die Größe des erstrebenswerten Ziels, und Sie können die Chancen, es zu erreichen, unbeschadet schmälern. In einem Land, wo es nicht unmöglich ist, dass der Besitzlose Teil an der Regierung hat, kann man die Armen leichter für immer von der Staatsführung ausschließen als dort, wo er nicht auf diese Möglichkeit hoffen kann; diese Vorstellung, eines Tages berufen werden zu können, verstellt ihm den Blick für sein tatsächliches Elend. Es ist ein Glücksspiel, bei dem die Möglichkeit eines riesigen Gewinns die Wahrscheinlichkeit des Verlustes verdrängt. Er liebt die Aristokratie wie die Lotterie. Wegen dieser Spaltung, die in Frankreich zwischen den verschiednen aristokratischen Elementen existierte, entstand innerhalb der Aristokratie eine Art von Bürgerkrieg, der allein der Demokratie nutzen sollte. Vom Adel zurückgestoßen, mussten sich die wichtigsten Vertreter des Dritten Standes im Kampf gegen ihn auf Mittel stützen, die im Moment der Anwendung nützlich, aber gerade wegen ihrer Wirksamkeit auch gefahrlich waren. Der Dritte Stand war ein Teil der Aristokratie, der gegen den anderen rebellierte und sich gezwungen sah, die Idee der Gleichheit zu verfechten, um die ihm entgegengehaltene Vorstellung der Ungleichheit zu bekämpfen. Innerhalb des Adel wurde die Ungleichheit ebenfalls Tag für Tag attackiert, wenn auch nicht im Prinzip, so doch in einigen Folgeerscheinungen. Der Schwertadlige warf dem Amtsadligen Dünkel vor, und dieser beschwerte sich über die Vormachtstellung, die ersterer innehatte. Der Adlige am Hof verspottete die Landadligen gern wegen ihrer geringen Herrenrechte, und diese wiederum wetterten gegen die Gunst, die der Höfling genoss. Der Edelmann von altem Adel verachtete den Geadelten, und dieser neidete dem anderen seine Ehren. Die wechselseitigen Vorwürfe der verschiedenen Privilegierten schadeten dem allgemeinen Ansehen der Privilegien. Als unbeteiligter Zuschauer entnahm das Volk den Streitereien seiner Führer nur das, was es gebrauchen konnte. So verbreitete sich allmählich die Vorstellung in der Nation, dass allein die Gleichheit der

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natürlichen Ordnung der Dinge entspreche, dass sie als einfacher und allgemeiner Grundsatz beim Aufbau einer wohl geregelten Gesellschaft umgesetzt werden müsse. Diese Theorien eigneten sich sogar die Adligen an, die zwar noch ihre Privilegien genossen, aber begannen, deren Besitz eher als glückliche Tatsache statt als ein verdientes Recht zu betrachten. Die Bräuche folgen im Allgemeinen mehr den Vorstellungen als den Gesetzen. Der politische Ausbau der Gesellschaft richtete sich noch nach den Prinzipien der Aristokratie, da wurden die Sitten bereits demokratisch und es entstanden tausenderlei verschiedene Bande zwischen Menschen, welche die Gesetzgebung voneinander trennte. Einzigartig gefordert wurde diese soziale Vermischung durch die Stellung, die die Literaten Tag für Tag errangen. Bei den Nationen, wo der Reichtum das einzige oder auch nur tragende Fundament der Aristokratie bildet, bringt das Geld, das in allen Gesellschaften Vergnügen bereitet, auch Macht ein. Mit diesen beiden Vorzügen versehen, bindet es schließlich das gesamte Vorstellungsvermögen des Menschen und wird letzten Endes zum einzig verfochtenen und errungenen Standesmerkmal. In diesen Ländern wird die Literatur im allgemeinen wenig gepflegt, und dementsprechend zieht das literarische Verdienst die Blicke der Öffentlichkeit nicht auf sich. Bei den Völkern, wo der Geburtsadel herrscht, sieht man nicht denselben allgemeinen Drang zum Erwerb von Reichtümern. Da das Menschenherz dort nicht von ein und derselben Leidenschaft in eine einzige Richtung getrieben wird, ergeht es sich in der natürlichen Mannigfaltigkeit seiner Neigungen. Wenn diese Nationen gebildet sind, finden sich dort immer viele Individuen, welche die geistigen Vergnügen schätzen und diejenigen verehren, die sie erzeugen. Viele ehrgeizige Menschen, die das Geld gering schätzen und wegen ihrer plebejischen Herkunft von der Geschäftswelt ausgegrenzt werden, flüchten sich dann in literarische Studien, die gleichsam ihr letzter Zufluchtsort sind, und streben nach literarischem Ruhm, dem einzigen, der ihnen offen steht. Sie schaffen sich so außerhalb der politischen Welt eine herausragende Stellung, die ihnen selten streitig gemacht wird. In den Ländern, wo das Geld Macht einbringt, also die Stellung der Menschen von ihrem Reichtum abhängt, der Reichtum aber jeden Augenblick verloren oder gewonnen werden kann, müssen die Angehörigen der Aristokratie ständig befürchten, von der eingenommenen Stellung absteigen zu müssen oder andere Bürger an den Privilegien teilhaben zu sehen. Diese zur Gewohnheit gewordene Wechselhafitigkeit der politischen Welt versetzt ihre Seele in eine Art von Dauererregung, sie genießen ihr Vermögen nur mit Unruhe und greifen gleichsam in Eile nach den Gütern, die es ihnen spendet. Ohne Unterlass betrachten sie sich selbst mit unruhigem Blick, um festzustellen, ob sie nicht etwas vermissen. Auf alle anderen werfen sie Blicke voller Furcht und Neid, um herauszufinden, ob sich etwas in ihrer Umgebung verändert hat. Und alles, was irgendwo aufsteigt, stellt sie schließlich in den Schatten. Die Aristokratien, die sich allein auf die Geburt besinnen, zeigen sich wenig vom Anblick dessen beunruhigt, was außerhalb ihrer hervorsticht, denn sie besitzen einen Vorzug, der weder geteilt noch verloren gehen kann. Man wird reich, aber von Adel muss man gebürtig sein.

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Immer hatte der französische Adel den Schriftstellern die Hand gereicht, die sich ihm näherten. Vor allem aber war das so im 18. Jahrhundert, der Epoche des Müßiggangs, in der die Edelleute fast ebenso von den Regierungspflichten entlastet waren wie die Nichtadligen und die vordringende Aufklärung allen den feinen Geschmack an literarischen Vergnügungen vermittelt hatte. Unter Ludwig XIV. verehrten und protegierten die Adligen die Schriftsteller; doch sie machten sich nicht mit ihnen gemein. Die einen und die anderen bildeten zwei gesonderte Schichten, die sich zwar oft berührten, aber nie vermischten. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war dem nicht mehr so. Zwar wurde weder zugelassen, dass die Schriftsteller die Privilegien der Aristokratie genossen, noch hatten sie eine anerkannte Stellung in der politischen Welt erworben. Der Adel hatte sie keineswegs in seine Reihen aufgenommen, aber viele Adlige hatten unter den Literaten Fuß gefasst. Die Literatur wurde somit gleichsam zum neutralen Gebiet, worin sich die Gleichheit flüchtete. Der Literat und der Grandseigneur trafen sich dort, ohne sich gegenseitig zu suchen oder zu furchten, und man sah dort außerhalb der realen Welt eine Art von imaginärer Demokratie entstehen, wo jeder nur seine natürlichen Vorzüge vorzuweisen hatte. Dieser Zustand, der die rasche Entwicklung der Wissenschaften und Literatur so sehr begünstigte, befriedigte diejenigen, die sie betrieben, bei weitem nicht. Sie hatten, das ist wahr, eine glänzende Position bezogen, doch war diese nicht anerkannt und unentwegt angefochten. Sie teilten die Vergnügen der Großen und waren von deren Rechten ausgeschlossen. Der Adlige kam ihnen so nahe, dass sie alle Vorteile sehen konnten, die dem Geburtsadel zukamen, aber er hielt sich so weit fern von ihnen, dass sie diese Vorteile weder teilen noch auskosten konnten. Man hielt ihnen gleichsam ein Zerrbild der Gleichheit vor Augen, das in dem Maß entschwand, wie sie näher kamen und es greifen wollten. So bildeten die vom Adel derart geförderten Schriftsteller den aufgewühltesten Teil des Dritten Standes, und man hörte selbst in den Palästen der Privilegierten, wie sie über die Vorrechte herzogen. Diese demokratische Tendenz machte sich nicht nur bei den Literaten, die Umgang mit den Adligen pflegten, sondern auch bei den zu Literaten gewordenen Adligen bemerkbar. Letztere bekannten sich zumeist laut zu den politischen Lehren, denen die Literaten generell anhingen, und statt den Geist des Adels in die Literatur hineinzutragen, förderten sie, sozusagen, den literarischen Geist im Adel. Während die obersten Schichten allmählich abstiegen und die Mittelklassen schrittweise aufstiegen, so dass sie sich tagtäglich einander annäherten, fanden bei der Verteilung des Grundeigentums Veränderungen statt, die auf einzigartige Weise die Errichtung und Herrschaft der Demokratie erleichterten. Fast alle Ausländer glauben, in Frankreich habe die Aufteilung des Landeigentums erst begonnen, nachdem die Erbfolgegesetze verändert worden sind, nämlich zu der Zeit, als die meisten Adelsgüter beschlagnahmt wurden; aber das ist ein Irrtum. Zu dem Zeitpunkt, als die Revolution ausbrach, war der Boden in vielen Provinzen schon stark parzelliert. Die Französische Revolution hat nur auf dem ganzen Territorium das vollstreckt, was zuvor Besonderheit einiger seiner Teile gewesen war.

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Es gibt viele Gründe, weshalb das Landeigentum in wenigen Händen vereint wird. Der erste von allen ist die physische Gewalt. Ein Eroberer nimmt den Besiegten das Land weg und verteilt es an einige wenige Anhänger. In diesem Fall werden die alten Eigner um ihr Recht gebracht. Aber es gibt andere, wo sie es selbst freiwillig abtreten. Ich stelle mir ein Volk vor, bei dem das Gewerbe und der Handel zahlreich und sehr produktiv sind und das so weit aufgeklärt ist, dass jeder die Gewinnmöglichkeiten kennt, die durch Handel und Gewerbe möglich sind. Ich unterstelle, dass infolge des Zusammenwirkens von Gesetzen, Sitten und alten Vorstellungen das Landeigentum bei demselben Volk noch Hauptursprung von Ansehen und Macht ist. Der kürzeste und schnellste Weg, um reicher zu werden, wird darin bestehen, das Land zu verkaufen, um den Ertrag im Handel zu investieren. Am besten anlegen wird man das erworbene Vermögen dagegen, wenn man sein Geld aus dem Handel abzieht und Land erwirbt; das Land wird dann Luxusobjekt, Gegenstand des Ehrgeizes und nicht der Geldgier. Der Erwerb soll nicht Ernten eintragen, sondern Ehren und Macht. Dabei werden kleine Güter zum Verkauf angeboten, während man nur noch die sehr großen kaufen wird. Denn Ziel und Stellung des Anbieters und des Käufers sind unterschiedlich. Ersterer ist im Vergleich zu Letzterem ein Bedürftiger, der dem Geld hinterherläuft, der andere ein Vermögender, der Überflüssiges zu seinem Vergnügen anlegen will. Bedenken Sie außer diesen allgemeinen Ursachen die Wirkung einer Gesetzgebung, die zwar die Übertragung des beweglichen Eigentums erleichtert, aber den Landerwerb kostspielig und schwierig macht, so werden Sie ohne weiteres verstehen, dass bei einem solchen Volk die kleinen Grundbesitztümer verschwinden und zu wenigen sehr großen verschmelzen werden. In dem Maße, wie die handwerklichen Herstellungsverfahren vollkommener und zahlreicher werden und sich die Bildung verbreitet und dem Armen diese neuen Möglichkeiten offenbart, wird sich die soeben beschriebene Bewegung beschleunigen. Das Aufblühen von Handel und Gewerbe wird den kleinen Eigentümer noch stärker zum Verkauf drängen, und gleichzeitig ein enormes bewegliches Vermögen erzeugen, das dann seinen Besitzern erlauben wird, riesige Güter zu erwerben. Auf diese Weise kann es geschehen, dass die Anhäufung von Landeigentums an den beiden äußersten Polen der Zivilisation zu beobachten ist: wenn die Menschen noch halb Barbaren sind und nichts anderes schätzen, ja sozusagen nichts anderes kennen als Landeigentum; und wenn sie zivilisiert geworden sind und tausenderlei andere Möglichkeiten zu Wohlstand zu gelangen entdecken. Nichts von alledem, was ich soeben gesagt habe, konnte jemals für Frankreich gelten. Es ist sehr zu bezweifeln, dass in Frankreich das Land zur Zeit der Eroberung durch die Barbaren so ausnahmslos und systematisch unter den Siegern aufgeteilt worden war, wie es zum Beispiel in England nach dem Einfall der Normannen geschah. Die Franken waren weit weniger zivilisiert als letztere, und sie verstanden sich weniger als jene auf die Kunst, die Gewalt zu zügeln. Die fränkische Eroberung fiel außerdem in eine weit frühere Epoche, und ihre Wirkungen ließen früher nach. Außerdem hat es den Anschein, dass viele Güter niemals den Feudalgesetzen unterstellt gewesen sind, und diejenigen, die ihnen unterlagen, hatten offenbar ein geringeres Ausmaß als in vielen anderen Staa-

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ten Europas. Somit waren die Landgüter nie oder mindestens seit langem nicht mehr sehr groß. Wie wir sahen, war der Landbesitz schon lange vor der Revolution nicht mehr die Hauptquelle von Ansehen und Macht. Währenddessen blieben Handel und Gewerbe nur mäßig entwickelt und das Volk, obwohl schon aufgeklärt genug, um sich Besseres vorzustellen und anzustreben, hatte noch nicht so viel Bildung erworben, um über die Mittel zu verfügen, dies auch unverzüglich umzusetzen. Das Land, bald schon nicht mehr Luxusobjekt für den Reichen, wurde für den Armen zum einzigen Erwerbsgegenstand. Der eine verkaufte es, um leichter und öfter seinen Vergnügungen nachzugehen, der andere kaufte es, um sein Ansehen zu erhöhen. Auf diese Weise verteilte sich der Landbesitz, der leise den Händen der Adligen entglitt, allmählich im Volk. In dem Maß, wie die alten Eigner ihren Landbesitz verloren, konnten viele Nichtadlige nach und nach Grund und Boden erwerben. Aber es gelang ihnen nur unter viel Mühen und mittels sehr unvollkommener Verfahren. Die großen Territorialvermögen schrumpften also von Tag zu Tag, ohne dass sich große bewegliche Reichtümer angehäuft hätten; und an Stelle ausgedehnter Güter entstanden viele kleine, die der mühselige Ertrag von Sparsamkeit und Arbeit waren. Diese Veränderungen in der Landverteilung leisteten der großen politischen Revolution, die bald eintreten sollte, einzigartigen Vorschub. Wer glaubt, die vollständige Gleichheit dauerhaft in der politischen Welt errichten zu können, ohne zugleich eine Art von Gleichheit in der Gesellschaft durchzusetzen, der scheint mir einen gefahrlichen Fehler zu begehen. Ich denke, dass man den Menschen nicht ungestraft die Wahl zwischen Stärke oder Schwäche überlassen darf, d.h. sie einerseits an die äußerste Gleichheit herankommen und sie andererseits die krasseste Ungleichheit erleiden lassen kann, ohne dass sie anfangen, nach mehr Macht zu streben, oder handlungsunfähig werden. Aber die gefahrlichste aller Ungleichheiten ist diejenige, die aus der verhinderten Teilung des Landbesitzes herrührt. Der Besitz von Land verleiht dem Menschen einige besondere Ideen und Gewohnheiten, die der Besitz von beweglichen Gütern nicht oder in geringerem Grad hervorruft. Es ist sehr wichtig, diese zu kennen. Die großen Güter beschränken gewissermaßen den Einfluss des Reichtums auf ein Gebiet und machen ihn, da er sich zwangsläufig an bestimmten Orten und auf bestimmte Menschen auswirkt, gewichtiger und dauerhafter. Ungleichheit im mobilen Vermögen erzeugt Reiche, Ungleichheit bei den Gütern schwerreiche Familien; sie bindet die Reichen aneinander, vereint Generationen miteinander und erzeugt im Staat ein abgesondertes kleines Volk, dem es immer gelingt, eine gewisse Macht über die große Nation, inmitten derer es sich befindet, zu erlangen. Gerade dies schädigt eine demokratische Regierung am meisten. Dagegen ist nichts günstiger für die Herrschaft der Demokratie als die Aufteilung des Bodens in kleine Güter. Wer ein kleines bewegliches Vermögen besitzt, ist fast immer mehr oder minder abhängig von den Begierden eines anderen. Er muss sich den Regeln einer Vereinigung oder den Wünschen eines Menschen beugen. Er ist den geringsten Schwankungen im

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Handel und Gewerbe seines Landes ausgesetzt, sein Leben ist immer zwischen Wohlstand und Not hin und her gerissen, und häufig fuhrt die Unstetigkeit in seinem Los zu Unausgeglichenheit in seinen Überzeugungen und zu Sprunghaftigkeit in seinen Neigungen. Der kleine Grundbesitzer folgt dagegen nur dem eigenen Antrieb; sein Bereich ist eng, aber er lebt in Freiheit. Sein Vermögen mehrt sich langsam, ist aber nicht plötzlichen Wechselfällen ausgesetzt. Sein Gemüt ist ruhig wie sein Leben, seine Neigungen sind so gleichmäßig und friedlich wie seine Arbeiten; und gerade weil er niemanden braucht, bewahrt er den Geist der Unabhängigkeit auch inmitten der Armut. Man kann nicht bezweifeln, dass diese Gemütsruhe, diese Gelassenheit und Einfachheit der Wünsche, diese praktizierte und geschätzte Unabhängigkeit, insofern sie weit verbreitet sind, die Errichtung und den Bestand demokratischer Einrichtungen einzigartig begünstigen. Wenn ich sehen würde, dass demokratische Institutionen bei einem Volk entstehen, bei dem große Ungleichheit in den Voraussetzungen herrscht, würde ich diese Institutionen für ein vergängliches Zufallsprodukt halten. Ich würde glauben, dass die Eigentümer und die Arbeitenden in Gefahr seien. Die einen liefen Gefahr, gewaltsam ihr Eigentum zu verlieren und die anderen müssten befurchten, dass ihnen ihre Unabhängigkeit genommen wird. Die Völker, die zur demokratischen Herrschaft gelangen wollen, haben daher nicht nur ein Interesse daran, dass sich unter ihnen keine zu großen Vermögensunterschiede etablieren, sondern vor allem daran, dass die Ungleichheit nicht den Grundbesitz betrifft. In Frankreich beherrschte noch im ausgehenden 18. Jahrhundert das Prinzip der Ungleichheit der Rechte und Vermögen die politische Gesellschaft. Die Franzosen hatten nicht nur eine Aristokratie, sondern einen Adel, das heißt, sie hatten von allen Herrschaftssystemen, die auf Ungleichheit gründen, das absoluteste, und, ich wage zu sagen, das unerbittlichste bewahrt. Um dem Staat zu dienen, musste man adlig sein. Ohne Adel durfte man sich kaum dem König nähern, den die Albernheiten der Etikette vor dem Kontakt mit Nichtadligen bewahrten. Im Einzelnen entsprachen die Institutionen diesem Prinzip. Die Erbfolgegesetze, das Erstgeburtsrecht, die Abgaben, die Herrenrechte, die gesamten Überbleibsel der alten Feudalgesellschaft bestanden noch. Frankreich hatte eine Staatsreligion, deren Priester nicht nur Vorrechte genossen, wie heute noch in manchen aristokratischen Ländern, sondern ausschließlich an der Macht beteiligt waren. Die Kirche, Eigner von Landesteilen wie im Mittelalter, griff in die Regierung ein. Im Land lief indessen alles schon lange auf die Demokratie hinaus. Wer nicht beim äußeren Schein verharrte und sich ein Bild vom Zustand moralischer Ohnmacht, in den der Klerus geraten war, von der Verarmung und dem Niedergang des Adels, dem Reichtum und der Bildung des Dritten Standes, der schon vorhandenen einzigartigen Aufteilung des Landbesitzes, der Vielzahl der kleinen und der geringen Zahl der großen Besitztümer gemacht hätte; wer die zu jener Zeit verfochtenen Theorien und die stillschweigend fast allgemein akzeptierten Prinzipien bedacht hätte; wer, so sage ich, diese verschiedenen Gegenstände alle unter demselben Gesichtspunkt betrachtet hätte, der wäre unweigerlich zu dem Schluss gelangt, dass das damalige Frankreich mit seinem Adel,

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seiner Staatsreligion und seinen aristokratischen Gesetzen und Bräuchen die in Wahrheit demokratischste Nation Europas war; und dass die Franzosen am Ende des 18. Jahrhunderts in ihrem sozialen Zustand, ihrer Zivilverfassung, ihren Ideen und ihren Sitten selbst den Völkern, die heute am deutlichsten zur Demokratie neigen, weit voraus waren.

Zweiter Teil Nicht nur in Bezug auf die Gleichheit stand das Frankreich des 18. Jahrhunderts dem heutigen Frankreich nahe. Viele andere nationale Eigenschaften, die wir als neu betrachten, ließen sich bereits erkennen. Man kann allgemein sagen, dass nichts dem Entstehen und Erhalt eines lokalen Verwaltungssystems dienlicher ist als eine Aristokratie. Immer und überall finden sich in dem von einem aristokratischen Volk besiedelten Gebiet ein oder mehrere Einzelne, die durch Geburt oder Reichtum höhergestellt sind als die anderen und so die Regierung übernehmen und erhalten. In einer egalitären Gesellschaft erscheint es den untereinander nahezu gleichgestellten Bürgern als natürlich, alle Aufgaben der Verwaltung der Regierung zu übertragen, statt demjenigen, der die Menge überragt und die Blicke auf sich zieht. Und selbst wenn sie ihn nicht gern damit beauftragen, müssen sie, weil sie einzeln zu schwach sind und sich miteinander schwer einigen können, oft dulden, dass er diese Pflichten übernimmt. Es ist wahr; wenn eine Nation erst einmal das Prinzip der Volkssouveränität akzeptiert hat, die Aufklärung Fuß fassen und das Wissen über die Regierung sich vervollkommnen konnte und auch die Hindernisse einer zu stark zentralisierten Verwaltung offensichtlich geworden sind, kann man beobachten, dass die Bürger, die in den Provinzen und Städten leben, sich bemühen, in ihrer Mitte eine kollektive Gewalt zu schaffen, die ihre eigenen Angelegenheiten lenkt. Manchmal ist auch die oberste Gewalt so vom Gewicht ihrer Vorrechte überlastet, dass sie versucht, die öffentliche Verwaltung an bestimmte Orte zu binden, und mit mehr oder minder klugen Überlegungen versucht, an den verschiedenen Orten künstlich eine Art von gewählter Aristokratie zu schaffen. Ein demokratisches Volk neigt instinktiv zur Zentralisierung. Institutionen auf dem Land erlangt es nur durch Reflexion. Aber die ländliche Freiheit ist immer großen Zufallen ausgesetzt. Bei den aristokratischen Völkern gibt es oft eine lokale Regierung neben der zentralen Macht, und zwar so, dass letztere sich nicht einzumischen braucht, um erstere ins Leben zu rufen. Bei den demokratischen Völkern ist die lokale Regierung oft eine Kreation der Zentralmacht, die duldet, dass man ihr einige ihrer Privilegien nimmt, oder sich ihrer freiwillig entledigt. Diese natürliche Neigung, die demokratische Völker dazu verleitet, die Macht zu zentralisieren, zeigt sich hauptsächlich und verstärkt sich zudem in Epochen des Kampfes und des Übergangs, wo sich die beiden Prinzipen die Steuerung der öffentlichen Angelegenheiten streitig machen. Das Volk, das in dem Moment, wo es eine Macht zu werden beginnt, gewahr wird, dass die Adligen alle lokalen Angelegenheiten steuern, greift die Landesregierung nicht

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nur als lokale Regierung an, sondern vor allem als aristokratische. Sobald diese lokale Macht den Händen der Aristokratie entrissen ist, muss entschieden werden, wer sie erhalten soll. In Frankreich übernahm sie nicht nur die Zentralregierung, sondern der König, der als einziger damit beauftragt wurde, sie auszuüben. Das geschah aus Gründen, die man leicht aufzählen kann. Ich glaube, dass der demokratische Teil der Gesellschaften einen natürlichen Wunsch empfindet, die Verwaltung zu zentralisieren; aber ich behaupte bei weitem nicht, er neige von Natur aus dazu, die Macht allein in den Händen des Königs zu bündeln. Das ist von den Umständen abhängig. Hat es freie Wahl, so wird ein Volk die Verwaltung immer lieber einer Versammlung oder einem von ihm gewählten Amtsträger anvertrauen als einem außer seiner Kontrolle stehenden Fürsten. Aber diese Freiheit entbehrt es oft. Der demokratische Teil der Gesellschaft besteht in dem Moment, wo er beginnt, seine Kräfte zu verspüren und sich zu erheben, nur erst aus einer Menge von Einzelnen, die gleich schwach und gleich unfähig sind, einzeln gegen die großen Vertreter Adels anzukämpfen. Er hat den instinktiven Wunsch zu regieren, ohne eines der Mittel der Regierung zu besitzen. Diese Einzelnen, die außerdem sehr verstreut und sehr wenig gewohnt sind, sich zu vereinigen, empfinden instinktiv das Bedürfnis, irgendwo außerhalb ihrer selbst und der Aristokratie eine bereits konstituierte Kraft zu finden, in deren Umkreis sie, ohne sich abstimmen zu müssen, ihre Anstrengungen vereinen und in der Verbindung von allen die Stärke erlangen können, die jedem einzelnen von ihnen mangelt. Wenn die Demokratie noch nicht rechtlich etabliert ist, bleibt als einzige außerhalb der Aristokratie bereits bestehende Macht, auf die das Volk als Sachverwalter zurückgreifen kann, nur der König. Zwischen dem König und den Adligen besteht zwar eine natürliche Gleichheit, aber keine vollständige Identität. Wenn sich ihre Neigungen gleichen, sind ihre Interessen doch oft gegensätzlich. Die Nationen, die sich der Demokratie zuwenden, mehren deshalb gewöhnlich zunächst die Befugnisse der königlichen Macht. Der König erweckt dort weniger Eifersucht und weniger Furcht als die Adligen; und außerdem ist in Zeiten der Revolution schon damit viel getan, die Macht in andere Hände zu geben, sei es auch dadurch, dass man sie dem einen Feind entreißt und einem anderen Feind anvertraut. Die englische Aristokratie hat es meisterhaft verstanden, den demokratischen Schichten der Gesellschaft so lange weiszumachen, der gemeinsame Feind sei der König, bis es ihr gelang, deren Repräsentant zu werden, statt ihr Hauptgegner zu bleiben. Im allgemeinen denkt ein demokratisches Volk erst, nachdem es die Aristokratie mit Hilfe der Könige vollständig gestürzt hat, daran, von diesen Rechenschaft für die ihnen gestattete Machtergreifung zu verlangen; erst dann bemüht es sich, sie in seine Abhängigkeit zu bringen oder die Autorität, womit es sie ausgestattet hatte, auf abhängige Gewalten zu verlagern. Aber selbst, wenn es den demokratischen Schichten der Gesellschaft bereits gelungen ist, ihren wahren Repräsentanten die Verwaltung zu übertragen, und sie nun deren Ausübung teilen wollen, wird das oft für sie sehr mühsam, sei es, weil es immer schwer

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fällt, Bedürfhisse ihren Inhabern zu entziehen, oder sei es, weil man nicht weiß, wem man deren Ausübung anvertrauen soll. Die demokratischen Schichten finden in ihren Reihen immer genügend viele gebildete und gewandte Männer, um daraus eine politische Versammlung oder eine zentrale Verwaltung bilden zu können. Aber womöglich sind sie auf Provinzebene nicht in solcher Zahl zu finden, dass dort ländliche Körperschaften gebildet werden können; es kann vorkommen, dass sich die ländliche Bevölkerung nicht von der Aristokratie regieren lassen will, aber noch nicht imstande ist, sich selbst zu regieren. Bis dieser Moment eintritt, weiß man die Ausübung der administrativen Gewalt nur der zentralen Autorität anzuvertrauen. Außerdem verstreicht recht viel Zeit, bevor ein den Händen der Aristokratie entronnenes Volk das Bedürfnis und die Neigung verspürt, die Macht zu zentralisieren. Bei den Nationen, die lange einer Aristokratie unterworfen waren, ist jeder Angehörige der niederen Schichten von Geburt an gewohnt, den Mitmenschen zu suchen, der ihm hauptsächlich Furcht oder Neid einflößt. Zugleich ist er gewohnt, die Zentralmacht als den unumschränkten Herrscher zu betrachten, der zwischen ihm und jenem heimischen Unterdrücker steht, und ihm schließlich eine Überlegenheit an Bildung und Weisheit zuzuschreiben. Diese beiden Eindrücke überdauern ihre Entstehungsbedingungen. Noch lange nach dem Sturz der Aristokratie blicken die Bürger mit einer Art von instinktiver Furcht auf alles, was sich an ihrer Seite erhebt; sie haben Mühe, Wissen, Unparteilichkeit der Rechtsprechung oder die Achtung des Gesetzes unter sich zuzulassen; sie sind eifersüchtig auf ihre Nachbarn, die ihnen gleich gewordenen sind, nachdem sie ihre Vorgesetzten waren. Letzten Endes fürchten sie sich gewissermaßen vor sich selbst, und die Zentralregierung, die sie nicht mehr als Schutz vor der Tyrannei des Adels ansehen, betrachten sie noch als Sicherung vor ihren eigenen Ausschweifungen. Die Völker, deren sozialer Zustand demokratisch wird, konzentrieren daher die Macht anfangs fast immer allein auf den Fürsten; wenn sie später die notwendige Energie und Stärke aufbringen, zerschlagen sie das Werkzeug und übertragen dieselben Vorrechte einer von ihnen abhängigen Gewalt; noch stärker, einheitlicher und gebildeter geworden, unternehmen sie eine neue Anstrengung, entziehen ihren allgemeinen Repräsentanten einige Teile der Verwaltung und übergeben sie zweitrangigen Bevollmächtigten. Das scheint die instinktiv und sozusagen zwangsläufig befolgte natürliche Entwicklung von Gesellschaften zu sein, die in ihrem sozialen Zustand, ihren Ideen und ihren Sitten der Demokratie zustreben. In Frankreich stand die Ausdehnung der königlichen Gewalt auf alle Bereiche der öffentlichen Verwaltung in einem engen Wechselverhältnis mit der Entstehung und allmählichen Entwicklung der demokratischen Schichten. In dem Maße, wie sich die Bedingungen anglichen, griff der König tiefer und selbstverständlicher in die lokale Regierung ein; die Städte und die Provinzen verloren ihre Privilegien oder versäumten nach und nach sie einzufordern. Das Volk und der Dritte Stand unterstützten diesen Prozess mit aller Kraft, und es kam vor, dass sie, soweit sie zufallig eigene Rechte besaßen, diese freiwillig preisgaben,

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um zugleich auch jene des Adels zunichte zu machen. Landesregierung und Adelsmacht schwanden also auf dieselbe Art und zur selben Zeit. Frankreichs Königen wurde in diesem Prozess einzigartige Hilfe durch den seit Jahrhunderten gewährten Beistand der Rechtsgelehrten zuteil. In Gegenden, wo es einen Adel und Klerus gibt, also Stände, die gebildet sind sowie fast alle Reichtümer des Landes innehaben, sind die Rechtsgelehrten die natürlichen Anfuhrer der Demokratie. Bevor die französischen Juristen danach strebten, selber im Namen des Volkes zu regieren, arbeiteten sie aktiv darauf hin, den Adel zugunsten des Throns zu schädigen; man sah, wie sie sich äußerst gewandt und geschickt den despotischen Wünschen der Könige beugten. Das ist übrigens keine Besonderheit in Frankreich, und man darf annehmen, dass die französischen Juristen, indem sie für die königliche Gewalt arbeiteten, ebenso ihren natürlichen Instinkten wie den Interesse der Schicht folgten, deren Anfuhrer sie zufallig waren. Cuvier6 sagt, es gebe eine notwendige Beziehung zwischen allen Teilen von komplexen Körpern, so dass der Mensch, der einen abgetrennten Teil eines solchen findet, imstande ist, das Ganze zu rekonstruieren. Mit einer gleichen analytischen Arbeit ließen sich die meisten Gesetze erkennen, die alle Dinge bestimmen. Wenn man aufmerksam untersuchte, was in der Welt geschah, solange die Erinnerung der Menschen daran zurückreicht, würde man ohne weiteres entdecken, dass in allen zivilisierten Ländern einem gebieterischen Despoten fast immer ein Rechtsgelehrter beistand, der die willkürlichen und eigenmächtigen Willensakte des ersteren in Ordnung und in Einklang brachte. Sie ergänzen die allgemeine und grenzenlose Machtliebe der Könige durch den Sinn für die Methode und das Wissen um Details des Regierens, die sie natürlich besitzen. Erstere wissen die Menschen zu kurzzeitigem Gehorchen zu zwingen; letztere verstehen sich auf die Kunst, sie zu freiwilligem und anhaltendem Gehorsam zu bewegen. Die einen wenden Gewalt an, die anderen führen Recht ein. Zur höchsten Macht gelangen jene durch Willkür, diese durch Recht. An der Schnittstelle, wo sie sich begegnen, etabliert sich ein Despotismus, der kaum Menschlichkeit zulässt; wer nur eine Vorstellung vom Fürsten, nicht aber vom Juristen hat, kennt nur einem Teil der Tyrannei. Man muss beide im Auge haben, um das Ganze zu begreifen. Unabhängig von den eben genannten allgemeinen Ursachen gab es noch mehrere andere, zufallige und nebensächliche, welche die Bündelung aller Befugnisse in den Händen des Königs beschleunigten. Paris hatte frühzeitig eine einzigartige Vormachtstellung im Königreich inne. In Frankreich gab es bedeutende Städte, aber nur eine große Stadt, nämlich Paris. Schon im Mittelalter hatte Paris begonnen zum geistigen, wirtschaftlichen und politischen Zen-

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Baron Georg Leopold Chretien Frederic Dagobert de Cuvier (1769-1832) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Paläontologie und Vergleichenden Anatomie. Tocqueville bezieht sich hier vermutlich auf sein vierbändiges Werk Le regne animal; distribue d 'apres son organisation; pour servir de base ä l'histoire naturelle des animaux et d'introduction ä l'anatomie comparee, das in deutsch unter dem Titel Das Thierreich, geordnet nach seiner Organisation: als Grundlage der Naturgeschichte der Thiere und Einleitung in die vergleichende Anatomie (Leipzig 1831) erschien.

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trum des Königreiches zu werden. Die Bündelung der politischen Macht in Paris steigerte die Bedeutung der Stadt unablässig, und ihre zunehmende Größe erleichterte es wiederum, die Macht dort zu bündeln. Der König leitete alle Obliegenheiten nach Paris, und Paris konzentrierte alle Vorgänge auf den König. Frankreich entstand einst aus vertraglich erworbenen oder mit Waffengewalt eroberten Provinzen, die sich noch lange untereinander als Völkern betrachteten. In dem Maße, wie es einer Zentralmacht gelang, diese verschiedenen Teile des Landes demselben Verwaltungssystem zu unterwerfen, verschwanden allmählich die deutlichen Unterschiede zwischen ihnen; und in dem Maße, wie diese Unterschiede verschwanden, bekam die Zentralgewalt größere Möglichkeiten, ihren Wirkungsbereich auf alle Landesteile auszudehnen. So erleichterte die nationale Einheit die Einheit der Regierung, und die Einheit der Regierung diente der nationalen Einheit. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war Frankreich noch in 32 Provinzen unterteilt. 13 Parlamente legten die Gesetze dort unterschiedlich und selbstständig aus. Die politischen Verfassungen dieser Provinzen unterschieden sich deutlich. Einige hatten eine Art von nationaler Repräsentation bewahrt, andere hatten sie schon immer vermisst. In den einen befolgte man das feudale Recht, in anderen kam das römische Recht zur Anwendung. Diese Unterschiede waren sämtlich oberflächlich und sozusagen äußerlich. Ganz Frankreich hatte eigentlich bereits eine einzige Seele. Dieselben Vorstellungen kursierten von einem zum anderen Ende des Königreichs; überall traf man auf dieselben Bräuche, dieselben Ansichten; der menschliche Verstand, überall auf dieselbe Weise angeregt, wandte sich allerorten in dieselbe Richtung. Kurzum, die Franzosen mit ihren Provinzen, ihren Parlamenten, ihrem unterschiedlichen Zivilrecht, der bizarren Mannigfaltigkeit ihrer Bräuche bildeten unbestreitbar das einheitlichste Volk Europas und dasjenige, das am ehesten dazu neigte, sich notfalls wie ein Mann zu erheben. Im Zentrum dieser großen Nation, die aus so homogenen Teilen bestand, befand sich eine königliche Macht, die sich der Steuerung der großen Angelegenheiten bemächtigt hatte und bereits dazu überging, die kleinsten Dinge durch Verordnungen zu bestimmen. Alle starken Gewalten versuchen, die Verwaltung zu zentralisieren, aber das gelingt ihnen gemäß ihrer Natur mehr oder minder. Wenn die Macht überwiegend eine Versammlung innehat, ist die Zentralisierung mehr Schein als Realität. Sie kann nur durch die Gesetze ausgeübt werden. Nun können Gesetze nicht alles vorsehen, und selbst wenn dies der Fall wäre, ließen sie sich nur durch Bevollmächtigte und mittels einer ständigen Überwachung umsetzen, wozu eine Legislative nicht imstande ist; die Versammlungen vereinigen die Regierung, aber nicht die Verwaltung. In England, wo das Parlament das Recht hat, in fast alle Gebiete der Gesellschaft einzugreifen, ob groß oder klein, ist die Zentralisierung der Verwaltung kaum bekannt, und die nationale Macht belässt letztlich den Einzelnen eine große Unabhängigkeit. Ich denke nicht, dass dies auf eine natürliche Zurückhaltung dieser großen Körperschaft zurückzuführen ist. Sie schont die lokale Freiheit nicht, weil sie sie respektiert, sondern weil sie selbst als gesetzgebende Gewalt nicht die wirksamsten Mittel zur Verfügung hat, jene zu unterwerfen.

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Wenn die Macht dagegen überwiegend bei der Exekutive liegt, verfügt derjenige, der gebietet, zugleich über die Freiheit, seinen Willen ohne weiteres bis ins kleinste Detail vollstrecken zu lassen. Auf diese Weise kann die zentrale Macht ihr Wirken allmählich auf alles erstrecken oder findet zumindest in ihrer eigenen Verfassung nichts, was sie einschränkt. Entsteht sie bei einem Volk, bei dem naturgemäß alles zum Zentrum strebt; wo jeder Bürger außerstande ist, persönlich Widerstand zu leisten; wo sich mehrere nicht legal in ihrem Widerstand vereinigen dürfen; wo sich schließlich alle, da sie fast dieselben Gewohnheiten und Sitten haben, ohne weiteres einer gemeinsamen Regel beugen; so ist weder zu erkennen, wo die Grenzen der administrativen Tyrannei liegen sollten, noch weshalb sie, wenn sie schon die großen Staatsinteressen regelt, es nicht schaffen sollte, auch die familiären Dinge zu beherrschen. Dieses Bild bot Frankreich bereits vor 1789. Die königliche Gewalt hatte bereits die Führung aller Dinge, sei es direkt oder indirekt, an sich gerissen, und fand die Schranken ihres Handelns eigentlich nur in ihrem eigenen Willen. Den meisten Städten und Provinzen hatte sie bis auf den Anschein einer lokalen Regierung alles genommen; den übrigen hatte sie nicht mehr belassen. Die Franzosen waren zugleich das europäische Volk, dessen nationale Einheit bereits am stärksten ausgeprägt war, als auch dasjenige, dessen Verwaltung am besten organisiert war und wo das, was man seither Zentralisierung nennt, bereits im höchsten Grade existierte. Ich habe soeben gezeigt, dass in Frankreich die Verfassung tendenziell immer despotischer wurde und dennoch, im Kontrast dazu, die Gewohnheiten und Ideen von Tag zu Tag freier werden konnten. Die Freiheit verschwand aus den Institutionen und wurde mehr denn je in den Sitten bewahrt. Sie erschien dem Einzelnen desto teurer, je weniger Sicherheiten sie hatten, und man hätte sagen können, jeder von ihnen habe das Erbe der Vorrechte angetreten, die man den großen Körperschaften des Staates entzogen hatte. Nachdem sie ihre wichtigsten Gegner gestürzt hatte, hielt die königliche Gewalt wie von selbst inne; sie war durch ihren Sieg milder gestimmt und schien eher gekämpft zu haben, um Vorrecht zu erhalten, als sich ihrer zu bedienen. Oft wurde irrtümlich angenommen, in Frankreich sei die Liebe zur Freiheit erst mit der Revolution von 1789 entstanden. Diese Liebe gehörte jederzeit zu den Charakterzügen dieser Nation; aber sie hatte sich in Intervallen und sozusagen mit Unterbrechungen gezeigt. Sie war mehr instinktiv als bewusst gewesen; irregulär und zugleich heftig und schwach. Nie war ein Adel stolzer und in seinen Ansichten und Handlungen unabhängiger als der französische Adel zu Feudalzeiten. Nie zeigte sich die demokratische Liebe zur Freiheit energischer und, ich möchte beinahe sagen, heftiger als in den französischen Kommunen des Mittelalters und bei den Generalständen, die bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts (1614) immer wieder zusammentraten. Selbst als sich die königliche Gewalt alle anderen Gewalten untergeordnet hatte, unterwarfen sich ihr die Gemüter, ohne sich zu erniedrigen. Man muss zwischen dem Gehorsam und seinen Ursachen unterscheiden. Manche Nationen beugen sich der Willkür des Königs, weil sie meinen, er habe das absolute Recht, zu gebieten. Andere betrachten ihn als den alleinigen Repräsentanten des Landes oder als Vertreter Gottes auf Erden. Es gibt solche, die eine königliche Gewalt verehren,

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weil sie die tyrannische Oligarchie eines Adels ablöst, und finden sich damit ab, ihr in einer Mischung aus Vergnügen und Anerkennung zu gehorchen. Bei diesen verschiedenen Arten von Gehorsam findet man zweifelsohne Vorurteile; sie zeugen aber eher von mangelnder Aufklärung und Fehlurteilen als von niederer Gesinnung. Die Franzosen des 17. Jahrhunderts unterwarfen sich eher dem Königtum als dem König. Sie gehorchten ihm nicht nur, weil sie es für überlegen hielten, sondern weil sie glaubten, es sei wohltätig und legitim. Sie hatten sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, frei zum Gehorsam verpflichtet. So verliehen sie der Unterwerfung etwas Unabhängiges, Standhaftes, Anfalliges, Sprunghaftes und Aufbrausendes, das zur Genüge zeigte, dass sie zwar einen Herrscher akzeptierten, aber die Liebe zur Freiheit bewahrt hatten. Dieser König, der unkontrolliert über den Staatsschatz verfugen konnte, sah sich oft außerstande, die kleinsten Handlungen der Menschen zu unterbinden oder die unbedeutendsten Ansichten zu verbieten; und im Fall einer Zuwiderhandlung wäre der Untertan durch die Sitten oft besser geschützt gewesen, als der Bürger freier Länder es durch das Gesetz ist. Aber diese Gefühle und Anschauungen sind unbegreiflich für Nationen, die immer unabhängig waren, oder auch für jene, die es geworden sind. Erstere haben sie nie gekannt, letztere haben sie längst vergessen. Die einen wie die anderen sehen im Gehorsam gegenüber einer willkürlichen Macht nur eine schändliche Erniedrigung. Bei Völkern, die die Freiheit verloren, nachdem sie sie gekostet hatten, besitzt der Gehorsam tatsächlich immer diesen Charakter. Aber in der Unterwürfigkeit von Völkern, die nie frei gewesen sind, liegt oft eine Sittlichkeit, die man anerkennen muss. Ausgangs des 18. Jahrhunderts hatte sich jener Unabhängigkeitsgeist, der für die Franzosen immer bezeichnend war, einzigartig entwickelt und einen ganz anderen Charakter erhalten. Auf diese Weise hatte die Freiheitsauffassung der Franzosen im 18. Jahrhundert eine Veränderung erfahren. Die Freiheit kann sich dem menschlichen Verstand nämlich in zwei unterschiedlichen Formen darbieten. Man kann in ihr den Gebrauch eines allgemeinen Rechts oder den Genuss eines Privilegs sehen. In seinen Handlungen oder einigen seiner Handlungen frei sein zu wollen, nicht weil alle Menschen ein allgemeines Recht auf Unabhängigkeit haben, sondern weil man selbst ein besonderes Recht auf Unabhängigkeit besitzt auf diese Weise verstand man die Freiheit im Mittelalter, und so hat man sie fast immer in den aristokratischen Gesellschaften gehandhabt, wo die Bedingungen sehr ungleich sind und wo der menschliche Geist, sobald er Privilegien gewohnt ist, es schließlich als Vorrecht ansieht, alle Güter dieser Welt gebrauchen zu dürfen. Diese Freiheitsauffassung, die sich nur auf den Menschen, der sie hegt, oder höchstens auf die Klasse, der er angehört, bezieht, kann nur in einer Nation bestehen, wo es keine allgemeine Freiheit gibt. Es kommt bisweilen sogar vor, dass die Freiheitsliebe bei einigen desto lebhafter ist, je mehr es allen an den notwendigen Garantien der Freiheit mangelt. Die Ausnahme ist dann umso kostbarer, je seltener sie ist. Diese aristokratische Freiheitsauffassung erzeugt bei denen, die sie angenommen haben, ein übersteigertes Selbstwertgefühl und ein leidenschaftliches Unabhängigkeitsbedürfnis. Sie gibt dem Egoismus einzigartige Energie und Macht. Von Einzelnen ge-

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hegt, hat sie die Menschen oft zu den ungewöhnlichsten Handlungen bewegt; von einer ganzen Nation übernommen, schuf sie die größten Völker, die es je gab. Die Römer dachten, unter den Menschen dürften nur sie Unabhängigkeit genießen; denn sie glaubten, sie hätten das Recht, frei zu sein, weniger von Natur aus als von Rom. Der modernen, demokratischen, und ich wage zu sagen, der richtigen Freiheitsauffassung zufolge ist jeder Mensch, da er mutmaßlich von der Natur mit dem notwendigen Wissen ausgestattet wurde, sich ihrer zu bedienen, von Geburt an Träger eines gleichen und unantastbaren Rechts, in allem, was nur ihn selbst betrifft, unabhängig von seinesgleichen zu leben und sein eigenes Los so zu gestalten, wie er es beabsichtigt. Sobald diese Freiheitsauffassung tief in den Geist eines Volkes eingedrungen ist und sich dort festgesetzt hat, ist die absolute und willkürliche Macht nur noch eine materielle Tatsache, ein vergängliches Akzidenz. Denn da jeder ein absolutes Recht auf sich selbst hat, ergibt sich, dass der souveräne Wille nur aus dem vereinten Willen aller hervorgehen kann. Dann hat auch der Gehorsam seine Sittlichkeit verloren, und es gibt nichts mehr außer den mannhaften und stolzen Bürgertugenden und der niedrigen Willfahrigkeit des Sklaven. In dem Maße, wie sich die Schichten des Volkes einander angleichen, wird diese Freiheitsauffassung naturgemäß vorherrschen. Frankreich hatte indessen bereits seit langem dem Mittelalter den Rücken gekehrt und seine Ideen und Sitten im demokratischen Sinn abgewandelt, und doch wurde die feudale und aristokratische FreiheitsaufFassung noch allgemein gehegt. Jeder, der seine individuelle Unabhängigkeit vor den Ansprüchen der Macht schützte, hatte weit weniger die Anerkennung eines allgemeinen Rechts im Blick als die Verteidigung eines partikulären Vorrechts, und in dem Kampf stützte er sich weit weniger auf ein Prinzip als auf eine Tatsache. Im 15. Jahrhundert hatten einige verwegene Geister die demokratische Freiheitsidee vorausgesehen, aber sie wurde sogleich wieder fallen gelassen. Erst während des 18. Jahrhunderts, kann man sagen, vollzog sich der Wandel. Die Vorstellung, dass jeder Einzelne, und im weiteren Sinn jedes Volk, das Recht hat, seine eigenen Handlungen zu lenken, diese noch unklare und unvollkommen beschriebene sowie schlecht formulierte Idee, bemächtigte sich nach und nach aller Gemüter. Sie erlangte bei den gebildeten Klassen die Gestalt einer Theorie; sie drang als eine Art Instinkt bis zum Volk vor. Das ermöglichte einen neuen und mächtigeren Schub in Richtung Freiheit: Der Sinn für Unabhängigkeit, den die Franzosen immer gehabt hatten, wurde alsdann zur begründeten und systematischen Überzeugung, die sich Schritt für Schritt ausbreitete und schließlich sogar von der königliche Gewalt übernommen wurde, die der Theorie nach weiter absolut blieb und doch in ihrer Ausübung stillschweigend anzuerkennen begann, dass das öffentliche Bewusstsein bedeutender war. „Ich ernenne meine Minister", hatte Ludwig XV. gesagt, „aber die Nation gibt ihnen den Abschied." Und als Ludwig XVI. in seinem Kerker seinen letzten und geheimsten Gedanken nachging, sprach er von seinen Untertanen als von meinen Mitbürgern.1 7

Anmerkung von Tocqueville: Siehe das am Vorabend seines Todes geschriebene Testament Ludwigs XVI.

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In diesem Jahrhundert hörte man erstmals von den allgemeinen Rechten der Menschheit, deren Genuss gleichermaßen jeder Mensch als legitimes und unantastbares Erbteil einfordern kann, und von den allgemeinen Naturrechten, die jeder Bürger in Anspruch nehmen darf. Im Namen eines der ersten Gerichtshöfe des Königreichs sagte Malesherbes8 1770, zwanzig Jahre vor der Revolution, dem König: „Gekrönt wurden Sie nur von Gott, Majestät; aber Sie werden sich nicht der Genugtuung verweigern, zu wissen, dass Sie ihre Macht auch der freiwilligen Unterwerfung Ihrer Untertanen verdanken. Es gibt in Frankreich einige unantastbare Rechte, die der Nation zustehen; Ihre Minister werden nicht die Kühnheit besitzen, Ihnen das zu bestreiten, und wenn es belegt werden müsste, würden wir Eure Majestät selbst als Beweis heranziehen. Nein, Majestät, allen Mühen zum Trotz hat man Sie noch nicht davon überzeugt, dass es keinen Unterschied zwischen der französischen Nation und einem Sklavenvolk gebe." Und weiter sagte er: „Weil alle Zwischeninstanzen machtlos oder zerstört sind, befragen Sie also die Nation selbst, denn außer ihr gibt es niemanden, bei dem Sie Gehör finden können."9 Dieser Freiheitssinn äußerte sich im Übrigen eher in Schriften als in Taten, mehr in individuellen Anstrengungen als in gemeinsamen Handlungen, eher in kindischer und unvernünftiger Opposition als in ernsthaftem und durchdachtem Widerstand. Die Macht der öffentlichen Meinung, die selbst jene erkannten, die sich oft über sie hinwegsetzten, schwankte sehr zwischen Stärke und Schwäche: einmal allmächtig, ein andernmal nicht greifbar; immer zügellos, launisch, unbeschreiblich; ein Körper ohne Organe; eher der Schatten einer Volkssouveränität als diese selbst. So wird es, denke ich, allen Völkern ergehen, die den Sinn und Wunsch nach Freiheit hegen, solange sie es noch nicht vermochten, freie Institutionen zu errichten. Ich glaube nicht etwa, die Menschen würden in Ländern, wo es solche Institutionen nicht gibt, keinen Spielraum genießen. Dafür können die Sitten und Überzeugungen genügen. Aber es ist nicht abgesichert, dass sie frei bleiben, weil sie sich nie sicher sind, ob sie es auch immer wollen. Es gibt Zeiten, da lassen die Völker, die am meisten ihre Unabhängigkeit schätzen, es zu, dass sie nur als Nebensache betrachtet wird. Der große Nutzen der freien Institutionen besteht darin, dass sie die Freiheit während jener Zeiten, wo sich der menschliche Geist mit etwas anderem beschäftigt, unterstützen und ihr eine Art von Eigenleben verleihen, das Zeit lässt, um wieder zu ihr zu kommen. Die Formen gestatten den Menschen, vorübergehend der Freiheit überdrüssig zu werden, ohne sie zu verlieren. Das erkenne ich ihnen als ihr Hauptverdienst an. Wenn ein Volk unterdrückt

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Chretien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes (1721-1794) war Präsident des cour de aides des Pariser Parlamentes, später auch Minister unter Ludwig XVI. (1754—1793), dessen Verteidigung er 1792 übernahm. Zwei Jahre später wurde er auf Grund seines Engagements für den König guillotiniert. Anmerkung von Tocqueville: Siehe Remontrances de la Cour des Aides, 1770.

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sein will, kann man es nicht daran hindern; aber ich denke, dass es Mittel gibt, seine Unabhängigkeit eine Zeit lang zu bewahren, ohne dass es sich selber hilft. Eine Nation, die vergleichsweise weniger Arme und weniger Reiche, weniger Mächtige und weniger Schwache umfasst als jede andere Nation, die derzeit in der Welt existiert; ein Volk, bei dem, ungeachtet seines politischen Zustande, die Theorie der Gleichheit die Geister erfasst hat und der Gleichheitssinn in die Herzen vorgedrungen ist; ein Land, das in allen seinen Teilen besser verbunden ist als jedes andere; das einer zentralen, geschickten und starken Gewalt unterworfen ist und wo die stets lebhaft gebliebene Freiheitsliebe in jüngerer Zeit einen allgemeinen, bewussteren, demokratischeren und unruhigeren Charakter gewonnen hat: Das sind die Hauptzüge, die Frankreichs Physiognomie im ausgehenden 18. Jahrhundert kennzeichnen. Wenn wir jetzt das Buch der Geschichte schließen und erst fünfzig Jahre später betrachten, was die Zeit hervor gebracht hat, dann bemerken wir, dass sich gewaltige Veränderungen vollzogen haben. Aber inmitten aller dieser neuen und unbekannten Dinge werden wir dieselben Charakterzüge, die uns ein halbes Jahrhundert zuvor aufgefallen sind, leicht ausmachen. Man übertreibt also gemeinhin die Auswirkungen der Französischen Revolution. Zweifellos gab es nie eine mächtigere, schnellere, zerstörerische und schöpferische Revolution als die Französische Revolution. Es hieße jedoch, sich seltsam zu täuschen, wenn man glaubte, aus ihr sei ein ganz neues französisches Volk hervorgegangen und sie habe ein Gebäude auf vorher nicht vorhandenen Fundamenten errichtet. Die Französische Revolution schuf eine Menge von nebensächlichen und sekundären Dingen, aber in den prinzipiellen Dingen ließ sie nur die Saat aufgehen, die bereits vorher gesät wurde. Sie hat die Folgen einer großen Entwicklung bestimmt, koordiniert und legalisiert, statt selber Beweggrund gewesen zu sein. In Frankreich waren die Bedingungen gleicher als anderswo; die Revolution hat die Gleichheit der Bedingungen gesteigert und das Gleichheitsgebot in die Gesetze eingeführt. Die französische Nation hatte das zersplitternde und vereinzelnde feudale System des Mittelalters vor allen anderen und vollständiger als alle anderen abgeschafft; der Revolution war es gelungen, alle Landesteile zu vereinen und daraus einen einzigen Körper zu bilden. Bei den Franzosen hatte sich die zentrale Gewalt bereits mehr als in jedem anderen Land der Welt die Provinzregierungen untergeordnet. Die Revolution hat diese Gewalt fähiger, stärker und kühner gemacht. Die Franzosen hatten eher und klarer als alle anderen an die demokratische Vorstellung von Freiheit geglaubt; die Revolution hat der Nation, wenn auch noch nicht in Wirklichkeit, so doch dem Anschein nach, die höchste Gewalt gegeben. Wenn diese Dinge neu sind, so sind sie es der Form und Ausführung nach, nicht aber im Prinzip oder inhaltlich. Alles, was die Revolution vollbracht hat, hätte sich, daran zweifle ich nicht, auch ohne sie vollzogen; sie war nur ein gewaltsamer und rascher Vorgang, mit dessen Hilfe man den politischen Zustand dem sozialen Zustand, die Tatsachen den Ideen und die Gesetze den Sitten angepasst hat.

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Welchen Teil ihres alten Staates haben die Franzosen behalten? Was wurde aus den Teilen, aus denen sich der Klerus, der Dritten Standes und der Adels zusammensetzten? Welche neue Ordnung nahm den Platz dieser Einteilung der alten Monarchie ein? In welche neuen Formen kleideten sich die aristokratischen und die demokratischen Interessen? Was änderte sich am Landbesitz und was war die Ursache? Welchem Wandel unterlagen die Vorstellungen, Gewohnheiten und Bräuche, der gesamte Geist der Nation? Das werden die Hauptthemen der folgenden Briefe sein.

Gedanken über Algerien [Oktober 1841]1

Ich glaube nicht, dass Frankreich allen Ernstes daran denken kann, Algerien zu verlassen. Auf Algerien zu verzichten, hieße, der Welt seinen sicheren Niedergang anzuzeigen. Es wäre weit weniger unangenehm, wenn sie zu sehen bekäme, dass uns eine rivalisierende Nation unsere Eroberung gewaltsam wegnimmt. Ein Volk kann trotz all seiner Stärke und Expansionskraft im Krieg Unglück haben und dadurch Provinzen verlieren. Das hat sich gezeigt, als die Engländer 1783 einen Vertrag unterzeichnen mussten, der ihnen ihre schönsten Kolonien entriss, und es keine dreißig Jahre danach dennoch schafften, die allgemeine Seeherrschaft zu erringen und die günstigsten Handelsplätze auf allen Kontinenten zu besetzen. Würde Frankreich aber vor einem Unternehmen zurückweichen, bei dem es nur den schwierigen Bedingungen des Geländes und dem Widerstand kleiner Barbarenstämme, die dort zu Hause sind, begegnete, dann müsste es der Welt so erscheinen, als ob es unter der eigenen Machtlosigkeit zusammenbrechen und seinen inneren Gebrechen erliegen würde. Jedes Volk, das leichthin aufgibt, was es sich einmal angeeignet hat, und von sich aus friedlich hinter seine alten Grenzen zurückkehrt, verkündet damit, dass die schönsten Zeiten seiner Geschichte vorbei sind. Es tritt für alle ersichtlich in seine Verfallsperiode ein. Sollte Frankreich jemals auf Algerien verzichten, so offensichtlich nur dann, wenn man sehen kann, dass es in Europa Großes leistet, und nicht in Zeiten wie den unseren, wo es im Begriff ist, auf den zweiten Rang abzusteigen und sich damit abzufinden, die Vorherrschaft in der europäischen Politik in andere Hände übergehen zu lassen.2 Unabhängig von diesem Grund, der aus meiner Sicht der entscheidende ist, sehe ich mehrere andere, deretwegen wir an unserer Eroberung festhalten müssen. 1

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Das von Tocqueville nicht veröffentlichte umfangreiche Manuskript Travail sur l 'Algerie wird in den O.C., Bd. III, Paris 1962, auf die Zeit nach seiner Rückkehr von der mit Gustave de Beaumont (1802-1866) absolvierten Algerien-Reise (Mai bis Juni 1841) datiert. Tocqueville hat sich seit Anfang der 1830er Jahre mehrfach mit Algerien auseinandergesetzt. Ihn interessiert, wie man die einmal gewaltsam begonnene Kolonisierung rationell organisieren kann. Das Manuskript ist redaktionell zur besseren Übersicht wie in den O.C. nach der Einleitung in drei große Abschnitte gegliedert: I. Herrschaft und Mittel, diese zu etablieren, II. Kolonisierung und III. Notwendige Reformen. Diese Zeilen entstanden kurz nach der Krise von 1840. Tocqueville kritisiert Francis Guizots (1787— 1874) Beschwichtigungspolitik. Guizot war 1840 erst Gesandter in London und ab Oktober dann Außenminister.

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Diejenigen, die sagen, dass wir die Vorteile, die uns Algerien bieten kann, mit zu großen Opfern erkaufen, haben Recht.3 Doch sie haben Unrecht, wenn sie diese Vorteile auf ein Nichts zusammenschmelzen lassen. In Wahrheit bekämen wir weit mehr Einfluss in der Weltpolitik, wenn wir uns an dieser Küste Afrikas dauerhaft halten und sie friedlich in Besitz nehmen könnten. Algerien bietet zwei strategische Ausgangspunkte, die im Mittelmeer sehr gewichtig sind oder werden könnten: Der erste ist der Hafen von Mers-el-Kebir. Direkt gegenüber von Carthagene, fünfzig Meilen davon entfernt, befindet sich dieser Hafen an der Spitze jener Meerenge, die von den Küsten Afrikas und Spaniens gebildet wird und die sich immer weiter verengend bis Gibraltar erstreckt. Es liegt auf der Hand, dass man mit einer solchen Position den Zugang zum Mittelmeer und seine Handelswege beherrscht. Unsere vor Ort bei den Angehörigen der Marine und besonders bei Kapitän d'Assigny, einem verdienten, in seiner Stellung seit fast zwei Jahren erprobten Mann, durchgeführten Ermittlungen4 belegen, dass der Hafen von Mers-el-Kebir im jetzigen Zustand, also ohne erneuten Aufwand, eine Flotte von wenigstens 15 Schiffen bergen kann und praktisch weder vom Land noch von See her angreifbar ist.5 Der zweite strategische Ausgangspunkt ist Algier selbst. Die dort geleisteten Anstrengungen machen Algier bereits heute zu einem recht beachtlichen Handelshafen. Weitere geplante Arbeiten, deren zukünftiger Erfolg als nahezu sicher gelten darf, können Algier zu einem großen Kriegshafen mit kompletter Ausrüstung machen.6 Diese beiden Stützpunkte, die sich gegenseitig absichern und gegenüber der französischen Küste liegen, würden Frankreichs Macht auf dem politischen Meer von heute mit Sicherheit stärken.7 Das ist unbestreitbar. Ebenso sicher ist meiner Ansicht nach, dass diese Stellungen, wenn wir sie nicht halten, von einer anderen europäischen Nation besetzt werden. Sind sie jedoch nicht auf unserer Seite, so werden sie gegen uns gerichtet werden, egal ob sie nun direkt in die Gewalt unserer Feinde oder in deren unmittelbaren Einflussbereich geraten. In Afrika können wir beobachten, was wir schon in Ägypten erlebt haben, und was jedes mal geschieht, wenn es - und sei es im Krieg - zum Kontakt zwischen zwei Völkern8 kommt, einem aufgeklärten und einem unwissenden, einem aufsteigenden und

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Randbemerkung von Tocqueville: Unsere Eroberung Afrikas ist unser Teil an der Aufteilung des Orients. Die Aufzeichnungen befinden sich in Tocquevilles Reisenotizen aus Mers-el-Kebir. Randbemerkung von Tocqueville: Tagebuchnotiz als Fußnote einfügen. Der Hafen von Algier hatte 1830 nur bescheidene Ausmaße und bot kaum Schutz. 1833 begann der Ingenieur Poirel mit den Hafenarbeiten. Sieben Jahre später wurde Raffeneau de Lisle entsandt, um die Arbeiten zu inspizieren. Er entwarf einen ehrgeizigen Plan, der Algier zu einem großen Kriegshafen machen sollte. Seine Entwürfe wurden jedoch nicht umgesetzt. Ein weiterer Stützpunkt, der erobert werden muss, um das Ensemble zu komplettieren und die beiden anderen zu halten, ist Mah0n. Das ist so augenfällig, wie es offensichtlich verrückt wäre, dies am Rednerpult zu verkünden. Tocqueville spricht an dieser Stelle von races.

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einem absteigenden. Die enormen Anstrengungen, die wir bereits in Algerien geleistet haben, das Beispiel unserer Kultur, unserer Weltanschauung sowie unserer Herrschaft haben in großem Maße auf den Geist selbst jener Bevölkerungsteile eingewirkt, die uns aufs leidenschaftlichste bekämpfen und unser Joch aufs energischste zurückweisen. Wahrscheinlich würde, wenn wir Algier aufgäben, das Land unmittelbar unter die Herrschaft einer christlichen Nation geraten; doch angenommen, dass Algier, was durchaus möglich ist, zunächst wieder den Muslimen in die Hände fiele, so kann man doch im voraus sagen, dass die muslimische Herrschaft, die an unsere Stelle treten würde, ganz anders geartet wäre als diejenige, die wir gestürzt haben; nämlich dass sie höhere Ziele anstreben, andere Mittel einsetzen und in regelmäßigen Kontakt mit den christlichen Nationen treten und sich auf diese Weise von einer derselben lenken lassen würde. Kurzum, für mich ist offensichtlich, dass Afrika, was auch immer geschehe, nunmehr in die Entwicklung der zivilisierten Welt eingetreten ist und nicht mehr davon loskommen wird. Man muss also Algier behalten. Aber was ist zu tun, damit das gelingt? Ein erster Gedanke ist nahe liegend: Die Zeit drängt. Man muss sich beeilen, und das aus zwei offensichtlichen Gründen: 1. Kommt es noch während dieser ersten Phase der Ansiedlung zum Krieg, so werden wir einfach hinausgeworfen und sind um die Früchte aller bereits gebrachten Opfer betrogen. 2. Solange diese Phase dauert, können wir nicht in der Welt agieren, und Frankreichs Arm ist wie gelähmt, ein Zustand, der um unserer Sicherheit wie unserer Ehre willen rasch beseitigt werden muss. Man muss sich also beeilen und alles bewilligen, was nötig ist, um das selbstgesteckte Ziel baldmöglichst zu erreichen. Für mich wird dabei immer zu fragen sein: Ist das, was man macht, wirksam? Und nicht: Wie viel kostet es? In dieser Sache rechnet sich jede sinnvolle Ausgabe. Aber was sind die Mittel, um erfolgreich zu sein? Herrschaft und Kolonisation sind nicht zu trennen Ein Land lässt sich auf zweierlei Art erobern. Bei der ersten bringt man die Einwohner in Abhängigkeit und regiert sie direkt oder indirekt. Das ist das System, das die Engländer in Indien anwenden. Bei der zweiten werden die alten Bewohner von den Eroberern verdrängt. So sind die Europäer fast immer verfahren. Die Römer machten für gewöhnlich beides. Sie ergriffen die Herrschaft über das Land und gründeten in mehreren Landesteilen Siedlungen, die nichts anderes waren als kleine römische Gesellschaften in der Ferne. Mit Blick auf Algerien wurde häufig gesagt, und manche denken es noch immer, die Franzosen sollten sich darauf beschränken, das Land zu beherrschen, ohne sich dort anzusiedeln. Eine intensive Beschäftigung mit dieser Frage belehrte mich jedoch eines Besseren. Zugestanden, die Herrschaft würde erleichtert, wenn man das Land nicht kolonisieren wollte; denn was die Araber vor allem stärkt, ist die Vorstellung, dass wir sie enteig-

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nen und uns über kurz oder lang das Erbe ihrer Vorväter aneignen wollen. Hätten wir von diesem Grundsatz ausgehend von Anfang an gesagt und glaubhaft gemacht, dass wir nur die Herrschaft anstreben und nicht nach Grund und Boden trachten, so hätte es uns vielleicht gelingen können, dass sie unsere Herrschaft anerkennen. Aber dieser erste Augenblick ist vorbei. Jetzt sind die Vorurteile, die wir geweckt haben, so stark, dass wir einen Politikwechsel kaum glaubwürdig machen könnten, sei er auch noch so ehrlich und aufrichtig; zwar neige ich zu der Annahme, dass unsere Herrschaft auch jetzt noch leichter akzeptiert werden würde, wenn Frankreich auf die Kolonisation verzichtete. Doch handelte es sich dann um eine unrentable und unsichere Herrschaft. Ich bin überzeugt, dass es mit der Zeit möglich sein wird, die Araber auf eine bessere Weise zu regieren, als man es heute tut, d.h. mit weniger Soldaten und weniger Geld 9 , und man es schafft, von ihnen erheblich mehr Steuern zu bekommen als jetzt. Gleichwohl muss man feststellen, dass es auf unabsehbare Zeit kostspielig bleiben wird, die Araber zu beherrschen. Das liegt an der sozialen Struktur dieses Volkes, an der wir auf lange Sicht nichts, vielleicht auch nie etwas ändern können: die Aufteilung nach Stämmen und die nomadische Lebensweise.10 Sehr kleine und umherstreifende Gesellschaften erfordern große Mühen und Kosten, um sie auf eine letztlich immer unvollkommene Weise zu verwalten. Und der große Verwaltungsaufwand trägt wenig ein, weil dieselben Gründe, die sie so schwer fassbar machen, dazu beitragen, dass sie geringe Bedürfnisse haben und wenig produzieren. Außerdem ist solch eine Herrschaft, wie ich in Bezug auf Abd el-Kader noch weiter ausführen werde, immer instabil. Eine Regierung, die Stämme und vor allem Nomadenstämme verwaltet, hat keinen festen Stand. Das gilt für die einheimischen Stammesführer. Und es gilt noch weit mehr für Ausländer und Ungläubige. Außer Zweifel steht, dass solch eine Herrschaft bei der ersten Krise zu zerfallen droht. Ohne Besiedlung ließe sich die Herrschaft also leichter errichten - doch lohnte sie weder die Zeit noch das Geld und die Männer, die sie uns kosten würde. Totale Beherrschung und partielle Besiedlung Diese Einsicht brachte einfaltige Gemüter zu der Überzeugung, Frankreich solle gleich ganz darauf verzichten, das Landesinnere zu beherrschen, und sich statt dessen darauf beschränken, die strategisch wichtigen Stützpunkte an der Küste zu besetzen und ringsum zu besiedeln. Wir werden letztendlich darauf zurückkommen und das Thema unter diesem Aspekt aufgreifen müssen. Aber nach meiner tiefsten Überzeugung ist das ein großer Fehler, und man muss sich aufs energischste bemühen, beide Strategien gemeinsam zu verfolgen, bevor man einer von ihnen den Vorzug gibt.

9 Anmerkung von Tocqueville: An einer Stelle sagen wie. 10 Anmerkung von Tocqueville: Hier vielleicht als Anmerkung und im Text einfügen, was über die Nomaden und ihre Organisation in Stämmen zu sagen ist.

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Kolonisierung ohne Herrschaft wird meines Erachtens immer ein unvollständiges und instabiles Werk sein. Wenn wir die Araber sich selbst überlassen und gestatten, dass sie sich in unserem Hinterland zu einer regulären Macht formieren, dann hat unsere Ansiedlung in Afrika keine Zukunft. Sie wird infolge der andauernden Feindschaft der Eingeborenen entweder Stück für Stück zugrunde gehen, oder sie wird von denselben Eingeborenen mit einem Schlag gestürzt werden, sobald diese Unterstützung von einer anderen christlichen Macht erhalten. Sich einzubilden, man könne jemals beständigen Frieden mit einem arabischen Fürsten aus dem Landesinneren schließen, hieße meines Erachtens, einem offensichtlichen Irrtum zu erliegen. Für solch einen Souverän wird der Krieg mit uns der Dauerzustand sein, was auch immer seine persönlichen Absichten sein mögen, sei er von Natur aus auch friedliebend und im Glauben so gemäßigt wie nur vorstellbar. Das leuchtet ein, sobald man folgendes beachtet: Ein Emir hat nicht, wie die Könige Europas, Befehlsgewalt über einzelne Menschen, die von der sozialen Macht, die der Fürst besitzt, unter Druck gesetzt werden können; er befehligt vielmehr Stämme, das heißt, vollständig organisierte kleine Nationen", die sich gewöhnlich nur so lenken lassen, wie es ihren natürlichen Gewohnheiten entspricht. Nun werden aber die religiösen und räuberischen Leidenschaften der arabischen Stämme sie immer zum Krieg gegen uns treiben. Der zeitweilige Friede mit den Christen und der regelmäßige Krieg gegen sie - das entspricht dem Naturell der Gemeinschaften, die uns umgeben. An der Macht lassen werden sie nur jemanden, der ihnen erlauben wird, ihm zu folgen.12 Obwohl die Stämme, die den arabischen Bevölkerungsanteil der Regentschaft13 bilden, dieselbe Sprache und recht ähnliche Vorstellungen und Gewohnheiten haben, differieren sie doch außerordentlich in ihren Interessen und sind zudem durch alte Feindschaften zutiefst gespalten. Wie leicht konnten wir zu unseren Gunsten die einen gegen die anderen bewaffnen. Die große Schwierigkeit besteht darin, diesen Völkern ein Gemeinschaftsempfinden oder eine allen gemeinsame Idee einzuflößen und greifbar zu machen, mittels derer man sie alle zusammenhalten und auf dieselbe Seite ziehen könnte. Der einzige gemeinsame Nenner jedoch, der als Band zwischen allen uns umgebenden Stämmen dienen könnte, ist die Religion; das einzige gemeinsame Empfinden, woran man anknüpfen könnte, um sie gemeinsam zu unterjochen, ist der Hass auf den Fremden und Ungläubigen, der in ihr Land eingedrungen ist. Der Fürst, der diese Stämme regieren wird, wird um so mächtiger und unantastbarer sein, je mehr er diese gemeinsamen Empfindungen und Ideen anstachelt und je heftiger er sie entflammt. Das heißt, seine Herrschaft wird desto sicherer und stärker sein, je mehr Fanatismus und Hass er gegen uns schürt. Das gilt vor allem für eine neu etablierte Herrschaft, die sich weder 11 Anmerkung von Tocqueville: Hier die Anmerkungen, die ich über die Organisation von Stämmen habe, einfügen. 12 Randbemerkung von Tocqueville: Möglicherweise das streichen. 13 Bezeichnung für die ehemaligen türkischen Vasallenstaaten in Nordafrika.

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auf überkommenen Gehorsam stützen kann, noch auf jene abergläubische Erfurcht, die schließlich allem gezollt wird, was Dauer hat. Die Geschichte lehrt außerdem, dass die Araber zu gemeinsamen großen Taten nur auf diese Weise zu bewegen waren. Mohammed hat so agiert; aber auch die ersten Kalifen und die verschiedenen Fürsten, die im Mittelalter immer wieder an der Küste Afrikas Fuß fassten. Um diese Völker zu vereinigen, muss man entweder ihre Spaltung in Stämme beseitigen oder bei allen Stämmen gleichzeitig eine gemeinsame Leidenschaft schüren, die sie künstlich und gewaltsam zusammenhält, obwohl die Mängel ihrer sozialen Struktur unaufhörlich dazu tendieren, sie zu spalten. Abd el-Kader, der offensichtlich einen äußerst ungewöhnlichen und gefahrlichen Charakter besitzt14, ein Gemisch aus aufrichtiger Schwärmerei und gespielter Begeisterung, ein muslimischer Cromwell gewissermaßen; Abd el-Kader, sage ich, hat das großartig verstanden. Wenn er handelt, dann nicht als Fürst, sondern als Heiliger: Er versteckt seine Intentionen unaufhörlich unter dem Deckmantel der Religion, deren Diener er zu sein vorgibt; mit dem Koran in der Hand und ihn auslegend gebietet und verdammt er; er verkündet die Erneuerung der Religion ebenso sehr wie er zu deren Einhaltung aufruft, seine Demut wächst mit seiner Macht. Der religiöse Hass, den wir hervorgerufen haben, hat ihn geschaffen, hat ihn erstarken lassen und hält ihn an der Macht; würde dieser Hass gedämpft, würde er seine Macht verlieren. Abd el-Kader wird ihn daher nicht eindämmen, sondern fortwährend schüren, und er wird uns stets verdeckt oder offen bekriegen, denn im Frieden, wenn die Stämme wieder ihren natürlichen Interessen folgten, würde der Bund, der ihn stützt, alsbald zerfallen. Im Übrigen könnten sich weder Abd el-Kader noch irgendein anderer Fürst, der die Stämme Algeriens unter seiner Herrschaft vereinigte, mit den von uns geschaffenen Bedingungen abfinden und sie akzeptieren. Unser Sicherheitsbedürfhis zwingt uns, alle Häfen in unserer Gewalt und die Küste insgesamt unter unserer Kontrolle zu halten. Dort irgendeine wichtige Stelle in arabischer Hand zu belassen, hieße, der ersten christlichen Macht, die sich im Krieg gegen uns befindet, einen festen Stützpunkt und Zufluchtsort zu gewähren. Alle Feinde, die wir haben, bekämen so die Mittel in die Hand, Verbindung zu den Eingeborenen aufzunehmen und sie zum Krieg gegen uns aufzuwiegeln. Denn eine zahlreiche arabische Bevölkerung, zwischen uns und der Wüste eingezwängt, wäre in einer äußerst bedrängten Lage; und obwohl die Araber weniger Bedürfnisse haben als die zivilisierten Nationen Europas, wäre es falsch zu glauben, sie hätten derer nicht mehr als die Wilden. Vor der Eroberung Algeriens wurde an verschiedenen Küstenplätzen ein beachtlicher Handel betrieben. Die Araber verkauften dort Getreide, Vieh, Häute, Wolle und Wachs15; und sie kauften, wenn auch in geringer Menge, europäische Artikel. Anders als wir uns das wünschten, würde eine arabische Nation aus dem Landesinneren ohne diesen notwendigen Austausch in eine äußerst schwierige Lage geraten; das wird heute deutlich. Das größte Übel, das wir den Eingeborenen zufügen

14 Anmerkung von Tocqueville: Sagen, was ich darüber weiß. 15 Randbemerkung von Tocqueville: Genaue Details suchen; Philippeville erwähnen.

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könnten, wäre ein Verbot des Handels. Ihre Führer hätten unter dieser Situation ebenso zu leiden wie sie selbst. Denn aus Europa beziehen sie die meisten Dinge, die sie benötigen, um ihre Macht zu stärken. Mit den Künsten und selbst mit den Vorstellungen Europas können sie darauf hoffen, die Araber zu unterwerfen und die Franzosen zu besiegen. Wir können ihnen keinen Stützpunkt an der Küste gewähren und können diesen auch nicht entbehren. Folglich kann es zwischen ihnen und uns nicht zu einem überzeugenden und bleibenden Frieden kommen. Somit ist es lebenswichtig für die Zukunft der Kolonisierung, dass wir im Binnenland, also hinter unserem Rücken, keine große arabische Macht aufkommen lassen.16 Ich wiederhole, dass man meines Erachtens nur unter diesen Bedingungen darauf hoffen kann, eine erfolgreiche und dauerhafte Besiedlung Afrikas zu ermöglichen. Ich mache mir keine Illusionen über die Natur und den Preis der Herrschaft, die Frankreich über die Araber errichten kann. Ich weiß, dass wir dort, selbst wenn wir das so gut wie nur möglich anpacken, niemals etwas anderes errichten werden als ein störanfälliges und dauerhaft kostspieliges Regime. Ich vernachlässige dabei auch nicht, dass unsere Macht durch dergleichen nicht gestärkt wird. Deshalb kann Gewalt für Frankreich nicht das ausschließliche Ziel sein; sie ist das erforderliche Mittel, das ihm ermöglicht, zum wirklichen und emstzunehmenden Ziel seiner Mühen zu gelangen, nämlich die Küstengebiete ungestört in Besitz zu nehmen und einen Teil des Gebietes zu besiedeln. Wir werden an der Küste nie Sicherheit oder gar Zukunftsaussichten erlangen, wenn wir unsere Autorität nicht auch im Binnenland mehr oder minder durchzusetzen in der Lage sind oder wenigstens zu verhindern wissen, dass sich die verschiedenen Stämme, die dort ansässig sind, unter einem Anführer vereinen. Kurzum, partielle Kolonisierung und totale Herrschaft - das ist das Ziel, das meiner Überzeugung nach anzustreben ist, solange es sich nicht als unerreichbar erweist.

[I. - Herrschaft und Mittel, diese zu etablieren] Es bleibt keine Zeit zu verlieren, wenn Abd el-Kader entmachtet werden soll Ich brauche nicht zu betonen, dass sich eine Macht desto leichter stürzen lässt, je jünger sie ist. Das ist augenfällig. Ich will damit sagen: Lässt man Abd el-Kader Zeit, sich zu etablieren, so steht bei seinem Vorgehen zu befurchten, dass er bald so mächtig und dauerhaft herrscht, dass wir kaum noch in der Lage sein werden, ihn zu stürzen. Das Regime Abd el-Kaders ist bereits jetzt fester, handlungsfähiger und stärker, als es dasjenige der Türken jemals war. Er bringt mit geringerem Aufwand mehr Menschen und mehr Geld zusammen. Das folgt zum Teil aus dem, was ich gerade als unvermeidli16 Anmerkung von Tocqueville: Es wäre schon viel erreicht, wenn die Stämme nicht denselben Führer anerkennen würden - selbst wenn wir sie nicht dazu bewegen könnten, unsere Herrschaft zu akzeptieren.

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che Konsequenz des Kontakts der Europäer mit anderen Völkern angeführt habe: Abd el-Kader ist einerseits Araber genug, um seine Landsleute zu begeistern, andererseits hat er sich von uns alles angeeignet, was er braucht, um sie zu unterwerfen. Für einen Fürsten, der einen arabischen Stammesverband regieren will, ist Folgendes am schwierigsten: Er kann jederzeit auf eine Kraft stoßen, die sich ihm widersetzt, doch er kann nie sicher sein, dass er nötigenfalls die Mittel zur Hand hat, um seine Macht durchzusetzen. Macht und selbst Existenz solch eines Fürsten haben deshalb zur ersten Voraussetzung, dass er, unabhängig davon, was für Truppen ihm die Stämme gegebenenfalls stellen können, ein eigenes Heer besitzt, ein Heer, das möglicher Weise außerstande ist, eine allgemeine Revolte zu besiegen, aber doch in der Lage ist, die vereinzelten Widerstände, die Tag für Tag auftreten, niederzuschlagen. Abd el-Kader konnte sich ein solches Heer verschaffen. Mehr noch: Vom Beispiel der Türken belehrt, dass zur Überwindung des Ungehorsams der Araber nicht nur Reitertruppen nötig sind, sondern auch Infanterie gebraucht wird 17 , formierte er Regimenter beider Waffengattungen; dies war sehr schwierig, weil die Araber die Infanterie ebenso gering schätzen wie einst die Christen des Mittelalters. Abd el-Kader gelang es jedoch, eine Anzahl von Männern zu Bataillonen zusammenzuziehen und, unsere Erfahrungen ebenso wie jene der Türken nutzend, gab er den Bataillonen eine europäische Organisationsstruktur. Damit kann er zwar gegen uns nichts ausrichten, aber sie machen ihn zum Herren über seine Landsleute.18 Es war schwer, so weit zu kommen, aber einmal dort angelangt, wurde das Übrige leicht. Mit seinem Heer erhob er ordentliche Steuern, die ihm wiederum erlaubten, sein Heer aufrecht und kampfbereit zu erhalten. Mit Hilfe dieser ständig verfügbaren Truppen legte er Vorratslager an, hegte er Einnahmequellen, entwarf er langwierige Vorhaben, die er dann in Ruhe bis zu Ende ausführen konnte. Dank ihrer ist er nun jederzeit bereit, allen Widerständen zuvorzukommen oder sie einzeln zu zerschlagen, wogegen die Betroffenen sich erst vereinigen und verständigen müssen, um erfolgreich angreifen zu können. So lenkt er die Mehrheit durch Begeisterung und die Minderheit durch Schrekken. Das ist das Geheimnis seiner Macht, das nicht schwer zu begreifen ist, denn was Abd el-Kader versucht, ist nicht so neu in dieser Welt. Zurzeit vollzieht sich in den halbwilden Gegenden Afrikas ein sehr ähnlicher sozialer Prozess wie im Europa des ausgehenden Mittelalters. Abd el-Kader, der wahrscheinlich nie davon gehört hat, was im 15. Jahrhundert in Frankreich geschah, handelt gegenüber den einzelnen Volksstämmen auf genau die gleiche Art, in der unsere Könige und besonders Karl VII. gegen das

17 Anmerkung von Tocqueville: Da die Araber in Gebirgsnähe leben, können sie als Nomaden immer dorthin ausweichen, wo die Kavallerie sie nicht verfolgen und niederschlagen kann. Man braucht Berittene, um sie zu überraschen, und Fußvolk, um den Sieg zu vollenden und sich der Menschen und der Herden zu bemächtigen. 18 Diese von europäischen Deserteuren ausgebildeten Truppen des Emirs (insgesamt 8.000 Infanteristen, 2.000 Kavalleristen und eine Artillerieeinheit mit 20 Geschützen) konnten den französischen Truppen auf dem Gefechtsfeld nie standhalten, dienten aber dazu, die Stämme gefugig zu halten.

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Feudalsystem vorgegangen sind. Er bildete Ordnungseinheiten. Und mit dieser unabhängigen Streitkraft rang er die kleinen Machthaber, die ihm vereint leicht ihren Willen hätten aufzwingen können, einzeln nieder. Die Könige von Frankreich nutzten jede kleine Rebellion aus, um die großen Lehnsherren abzusetzen und weitere Gebiete unter ihre direkte Verwaltung zu bringen. Abd el-Kader nutzt dieselben Vorwände, um in jedem Stamm die bedeutendsten Männer, die ihn in den Schatten stellen könnten, nacheinander auszuschalten. Es ist dasselbe Verfahren, etwas anders angewandt. Ohne die Geschichte unserer Fürsten zu kennen, aber den gleichen Grundsätzen folgend wie sie, vertreibt oder vernichtet er Tag für Tag die alten mächtigen Familien und lässt neue aufsteigen, die ihm ihre ganze Macht verdanken aber selbst keine alten und angestammten Befugnisse besitzen, um seine Macht zu bedrohen. Er bekriegt nicht nur die Franzosen, sondern bekämpft auch den Erbadel seines Landes. Das alles ist auch bei den Arabern nicht ganz neu. Dieselben Ambitionen wie Abd elKader zeigten auch viele andere mit mehr oder minder großem Erfolg. Doch ihm gelang es als Erster, durch seinen Kontakt mit Europa jene Ideen zu entwickeln, die seinem Unternehmen dauerhaften Erfolg ermöglichen. Man darf sich deshalb nicht auf die Vergangenheit verlassen und glauben, seine Macht werde, nachdem sie kurzfristig erfolgreich war, wie so viele andere wieder erlöschen. Vielmehr ist stark zu befurchten, dass Abd el-Kader im Begriff ist, bei den uns umgebenden Arabern eine Herrschaft zu errichten, die straffer organisiert, handlungsfähiger, stärker, erfahrener und anerkannter ist als alle jene, die seit Jahrhunderten nacheinander in diesem Weltteil geschaffen wurden. Man muss sich also bemühen, dass er diese unselige Arbeit nicht vollenden kann.

Man darf nicht die Hoffnung aufgeben, dass Abd el-Kader zu stürzen ist Niemand, der im Kriegsdienst oder als einfacher Reisender in Algerien gewesen ist, bildet sich ein, dass Abd el-Kader auf einen Schlag mit Waffengewalt beseitigt werden könnte. Abd el-Kader weiß, dass er nicht die geringste Chance hat, uns im offenen Kampf zu besiegen. Er wird deshalb nie eine solche Schlacht von sich aus anstreben, und es gibt kein Mittel, ihn dazu zu zwingen. Das, was einen europäischen Fürsten dazu zwingt, sich der Schlacht zu stellen, selbst wenn sie nur Nachteile bietet, ist die Notwendigkeit, die eigene Bevölkerung zu schützen, die, wenn er sich zurückzöge, unter das Joch des Feindes geriete; auch weil Vorratslager, die Geschütze, Städte und der Regierungssitz zu schützen sind. Kurzum, für die zivilisierten Mächte Europas gibt es mancherlei Schlimmeres als eine Schlacht zu verlieren. Dergleichen gibt es nicht in Algerien. Die Bevölkerung flüchtet ohne weiteres vor dem Feind; die Heere fuhren alles mit sich; es gibt keine Stadt oder wichtige Stellung, derer man sich auf Dauer bemächtigen könnte; es gibt also nichts, was die Araber zwingt, sich zu verteidigen, wenn sie es nicht selbst fur notwendig erachten, und es wäre fur sie Unsinn, dies zu tun. Der Krieg mit ihnen ist also nicht mit einem großen Schlag zu beenden.

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Wenn Abd el-Kader jemals gestürzt wird, dann jedenfalls nur mit Hilfe einiger Stämme, die ihm heute unterstehen; sein Machtbündnis ist eher aufzulösen als zu zerschlagen. Abd el-Kader hat zwar viele mächtige Männer unter seinen Landsleuten beseitigt; dennoch sind noch viele übrig, die seine Macht verärgert und verletzt; diese könnten gegen ihn eine Rebellion anstiften, immer vorausgesetzt, dass die Bevölkerung mitzöge. Er hat zwar eine von den Stämmen unabhängige Macht errichtet, aber die einzelnen Stämme nicht vernichtet. Mehrere von ihnen sind wahrhafte Nationen 19 , deren Abfall von ihm alsbald zu seinem Sturz fuhren würde. Je länger Abd el-Kaders Macht andauert, desto unwahrscheinlicher wird dieses Ereignis. Das ist es heute noch nicht. Es gibt zwei Mittel, die wir ausnützen müssen, um bei den Arabern die Spaltung voranzutreiben: Man kann einige der Stammesführer durch Versprechungen oder Freigiebigkeit gewinnen. Man kann die Stämme bekriegen, bis sie zermürbt sind. Ich scheue mich nicht zu sagen, dass beide Mittel zugleich angewandt werden können und müssen und dass es noch nicht an der Zeit ist, auf sie zu verzichten. Wie die Erfahrung bereits tausendmal gezeigt hat, besitzen, bei allem Fanatismus und Patriotismus der Araber, doch der persönliche Ehrgeiz und die Geldgier oft noch größere Macht über ihre Herzen. Diese fuhren sie gelegentlich dazu, Lösungen anzustreben, die in krassem Gegensatz zu ihren üblichen Neigungen stehen. Derartiges konnte immer wieder bei halbzivilisierten Völkern beobachtet werden. Das Herz eines Wilden ist wie ein ständig aufgewühltes Meer, wo der Wind nicht immer aus derselben Richtung bläst. Die Erfahrung lehrt uns heute wie früher, dass die gleichen Araber, deren Hass auf die Christen sich ins Unermessliche steigern kann, plötzlich fur die Christen und gegen ihre Landsleute zu kämpfen bereit sind. Man darf also nie aufgeben, sie gewinnen zu wollen, sei es, indem man ihrem Ehrgeiz schmeichelt, sei es, indem man ihnen Geld anbietet. Dies ist immer sinnvoll, denn die Araber bilden eine sehr aristokratische Gesellschaft; die Bedeutung, die sie der Geburt, dem Reichtum und dem Glauben beimessen, ist sehr groß. Die Männer halten fest zueinander, und gewinnt man einen für sich, so erreicht man fast immer, dass ihm mehrere andere folgen. Die Regeln dieser notwendigen Vorgehensweise lassen sich offensichtlich nicht im Voraus festlegen. Alles liegt hier an der schnellen und einfühlsamen Bewertung der Tatsachen, alles hängt von der Rechtschaffenheit und dem Sicherheitsbedürfnis desjenigen ab, der handelt. Man braucht in Afrika offensichtlich enorme Geheimhaltung; aber der zu erwartende Erfolg ist ganz und gar abhängig von der Auswahl desjenigen, der in seinem Interesse handelt. Unsere Sache wurde oft von den Falschen auf ziemlich klägliche Art betrieben. So wie die Dinge stehen, wäre Diplomatie ohne Kriegführung im Übrigen sinnlos. 19 Anmerkung von Tocqueville: Einzelheiten über die Stämme aus der Provinz Oran.

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Bevor Abd el-Kaders Macht entstand und sich festigte, wäre es meiner Überzeugung nach sogar möglich gewesen, ohne Kriegführung, nur durch Ausnutzen der Leidenschaften der Araber und das gegenseitige Ausspielen der einen gegen die anderen zu verhindern, dass einer von ihnen die Oberhand gewinnt, und sie so alle von uns abhängig zu machen. Dieser Moment ist längst vorbei. Heute, da Abd el-Kader ein stehendes Heer anfuhrt, das jederzeit und bei dem geringsten Verdacht über diejenigen herfallen kann, die ihn verraten wollten, kann man Abtrünnigkeit nur unter zwei Bedingungen erhoffen: erstens, dass wir militärische Positionen besetzen, von denen aus wir diejenigen, die sich auf unsere Seite stellen, wirksam vor unvorhergesehenen Schlägen Abd el-Kaders schützen können; zweitens, den Anführern, die sich uns anschließen möchten, den Rückhalt derjenigen Stämme zu verschaffen, die des Lebens, zu dem die Herrschaft Abd el-Kaders sie verurteilt, überdrüssig sind. Beide Bedingungen sind nur durch Kriegführung zu gewährleisten. Welche Art Krieg kann und muss man gegen die Araber fuhren? Zur Art und Weise, diesen Krieg zu führen, habe ich zwei sehr gegensätzliche Meinungen vernommen, die ich beide gleichermaßen ablehne. Der ersten zufolge muss man die Araber, um sie zu unterwerfen, mit aller Gewalt und nach Art der Türken bekriegen, das heißt, alles töten, was sich findet. Ich hörte dies von Offizieren, die sich sogar bitter darüber beklagten, dass man hier und da anfange, Gefangene zu machen. Mir wurde außerdem mitgeteilt, viele würden ihre Soldaten ermuntern, niemand zu verschonen. Ich selbst habe in Afrika den schmerzhaften Eindruck gewonnen, dass wir zurzeit weitaus barbarischer Krieg führen als die Araber selbst. Klare Regeln erkennen nur sie an. Diese Art der Kriegführung erscheint mir als ebenso dumm wie grausam. Sie widerspiegelt nur den Geist eines groben und brutalen Soldaten. Es lohnt sich wirklich nicht für uns, an die Stelle der Türken zu treten und das zu wiederholen, was ihnen die Verachtung der Welt eingetragen hat. Selbst unter dem ausschließlichen Blickwinkel des Interesses schadet uns ein solches Vorgehen mehr, als es nutzt; denn wie mir ein anderer Offizier sagte, ständen wir faktisch noch schlechter da als die Türken, wenn wir es ihnen nur gleichtun wollten; im Vergleich von Barbaren mit Barbaren würden die Türken gegen uns immer den Vorteil behalten, muslimische Barbaren zu sein. Man muss also einer höheren Idee folgen als sie. Zum anderen sagten mir in Frankreich oft Menschen, die ich achte, ohne ihnen zuzustimmen, es sei schlecht, dass man Ernten niederbrenne, Speicher ausräume und letztlich sogar Unbewaffnete, Frauen und Kinder in Gewahrsam nehme. Ich halte das für leidige Notwendigkeiten, denen sich jedes Volk, das gegen Araber Krieg führen will, beugen muss. Und wenn ich sagen soll, was ich denke, so empören mich diese Taten nicht mehr, sondern weit weniger als andere, die offenbar nach dem Kriegsrecht erlaubt sind und in allen Kriegen Europas begangen werden. Inwiefern ist es denn schändlicher, Felder niederzubrennen und Frauen und Kinder gefangen zu nehmen, als die unschuldige Bevölkerung einer belagerten Stadt zu bombardieren oder Handelsschiffe, die unter der Flagge einer feindlichen Macht fahren, auf hoher See aufzu-

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bringen? Das eine halte ich für viel schwerer und weniger zu rechtfertigen als das andere. Wenn man in Europa nicht die Felder niederbrennt, dann deswegen, weil man im allgemeinen Regierungen und nicht Völker20 bekriegt; wenn man nur Soldaten gefangen nimmt, dann deswegen, um die Heere aufzuhalten, denn die Zivilbevölkerung kann nicht vor der Eroberung fliehen. Es geschieht, kurz gesagt, deswegen, weil man überall das Mittel findet, sich der politischen Herrschaft zu bemächtigen, ohne die Beherrschten anzugreifen oder sich von ihnen die für den Krieg nötigen Ressourcen zu verschaffen. Abd el-Kader wird man nur entmachten, indem man die Stämme, die zu ihm halten, in eine so unerträgliche Lage bringt, dass sie von ihm abfallen. Daran fuhrt kein Weg vorbei. Man muss sich darauf einstellen oder die eigenen Ambitionen aufgeben. Meiner Ansicht nach muss man von allen Mitteln Gebrauch machen, um den Stämmen zuzusetzen, ausgenommen jene, die gegen die Menschlichkeit und das Völkerrecht verstoßen. Das wirksamste Mittel, dessen man sich bedienen kann, um die Stämme zu zermürben, ist ein Handelsverbot. Wie bereits gesagt, haben die Araber mehr Bedarf an Kauf und Verkauf, als man bisher annahm. Sie leiden sehr darunter, zwischen unseren Bajonetten und der Wüste eingepfercht zu sein. In der Provinz Algier sprach ich lange mit klugen Männern, die kurz zuvor wegen eines Abkommens über den Austausch von Gefangenen bei benachbarten Stämmen, vor allem bei den Hadjoutes, geweilt hatten. Sie versicherten mir alle, dass diese Araber, obwohl sie Abd el-Kader die Treue hielten, bitter den leidvollen Zustand beklagten, in dem sie sich in Folge der Handelssperre befinden. Sie hätten ihre Herden gezeigt und gesagt: Was nutzt es, alle diese Tiere aufzuziehen, wenn es bei uns und ringsum keine Stadt gibt, wo man sie verkaufen kann, um das zu erstehen, was wir brauchen und nicht selbst herstellen können? Dieser Zustand wird vielleicht in der Provinz Oran wegen der Nachbarschaft zu Marokko weniger stark empfunden als in der Provinz Algier; dennoch zweifle ich nicht daran, dass das Elend auch dort sehr groß ist. Das zweitwichtigste Mittel nach dem Handelsverbot ist die Verheerung des Landes. Ich glaube, dass das Kriegsrecht uns erlaubt, das Land zu verwüsten, ja, dass wir das tun müssen, sei es durch Vernichten der Ernte zur entsprechenden Jahreszeit, sei es durch fortwährende militärische Überfalle, die so genannten Razzien, die dazu dienen, bestimmter Menschengruppen oder Herden habhaft zu werden. In Frankreich wettert man viel gegen die großen militärischen Exkursionen, denen die Afrika-Armee den Namen „Feldzüge" gibt. Man hat insofern Recht, als diese mörderischen Unternehmungen oft nur durchgeführt werden, um dem Ehrgeiz der Befehlshaber zu genügen. Doch sie scheinen mir mitunter unentbehrlich zu sein, und in diesen Fällen wäre es sehr unbesonnen, auf sie zu verzichten. Das, was auf Dauer unerträglich für einen arabischen Stamm ist, ist nicht der gelegentliche Marsch einer großen Armee durch sein Gebiet, sondern die ständige Nähe einer beweglichen Streitmacht, die jederzeit unversehens über ihn herfallen kann. Eben20 Variante von Tocqueville: die Bevölkerung.

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so muss man einsehen, dass der wirksamste Schutz für unsere Verbündeten nicht in einer großen Armee besteht, die hin und wieder zu ihnen käme, um den gemeinsamen Feind zu bekämpfen, sondern in der Möglichkeit, uns augenblicklich zu Hilfe zu rufen, wenn Abd el-Kader heranrückt. Man kann also zusammenfassen, dass es besser wäre, wenn man mehrere kleine und bewegliche Einheiten hätte, die unaufhörlich um feste Stützpunkte herum tätig werden würden, als große Armeen, die in langen Abständen ein enormes Territorium des Landes durchquerten. Überall, wo man eine Einheit so stationieren kann, dass sie bei Bedarf einsatzbereit ist und ausschwärmen kann, muss man dementsprechend handeln. Das ist meines Erachtens das Gebot. Aber um diese kleinen Einheiten stationieren oder mit Nachschub versorgen zu können, sind von Zeit zu Zeit beachtliche Feldzüge nötig. Die großen Feldzüge erscheinen mir auch noch aus anderen Gründen hin und wieder erforderlich, und ich will sagen, warum: 1. um den Arabern und unseren Soldaten weiterhin zu zeigen, dass es im Land kein Hindernis gibt, das uns aufhalten kann, 2. um alles zu zerstören, was einer beständigen Zusammenrottung der Bevölkerung, mit anderen Worten, einer Stadt ähnlich sieht. Ich halte es für höchst wichtig, im Machtbereich Abd el-Kaders keine Stadt entstehen oder bestehen zu lassen. Hierzu habe ich oft zwei Einwände vernommen, die aber den Tatsachen nicht standhalten. Man sagt: Weshalb soll man die Araber daran hindern, Städte zu gründen? Sobald sie sich in Städten festsetzen, werden sie ihnen nicht mehr entrinnen. Und weiter: Lassen Sie diese Städte entstehen; bald werden daraus lauter militärisch bedeutsame Punkte, die Sie dann besetzen können. Ich habe vorgebracht, das entspräche im Moment nicht den Tatsachen. Sollte Abd el-Kader versuchen, den Stämmen ihre nomadische Lebensweise zu nehmen und sie in Städten und Dörfern fest anzusiedeln, müsste man sich wirklich hüten, ihn bei diesem Unternehmen aufzuhalten. Doch hat er weder die Möglichkeit noch Lust, dergleichen zu versuchen. Ganz im Gegenteil: Seit er Politiker ist, hat Abd el-Kader nicht mehr in einem Haus geschlafen. Er lässt sie bauen, wohnt aber nicht darin. Sein Zelt steht im Freien, und er liebt es, jeden Abend darin schlafen zu gehen. Er weiß nämlich gut, dass das Nomadenleben der Stämme sein sicherster Schutz gegenüber uns ist. Seine Leute wären von dem Tag an, da sie sesshaft werden, unser. Außerdem gibt sich Abd el-Kader, wiewohl er einige Ideen und mehrere Bräuche von uns entlehnt hat, gegenüber seinen Landsleuten als Repräsentant und Erneuerer ihrer alten Sitten und ihres althergebrachten Ruhmes, und er hütet sich sehr wohl, Vorurteile, die bis heute gelten und deretwegen die Araber an ihren Zelten festhalten und die Städte meiden, anzutasten. Alle halbbarbarischen Völker hegen große Verachtung für die Stadtbewohner. Diese Verachtung ist bei den nomadisierenden Barbaren noch viel größer. Die Araber aber treiben dieses Gefühl auf die Spitze. Mit Stadtbewohnern treten sie nur in Verbindung, um Handel zu treiben; sie verbünden sich mit ihnen nur selten und verlassen sich niemals auf sie. Sie sprechen ihnen sogar die gleiche Herkunft ab und geben ihnen nicht die Bezeichnung „Araber", sondern nennen sie verächtlich agads oder Städter.

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Deshalb werden wir, wenn wir eine Stadt einnehmen, bald entdecken, dass wir nichts in Händen haben außer Steinen. Die städtische Bevölkerung hat keine Beziehungen zu den übrigen Bewohnern des Landes; sie hat keinerlei Einfluss auf diese; sie kann uns ebenso wenig dienen wie schaden. Dennoch brauchen die Araber die Städte mehr, als sie es sich selbst vorstellen. Keine wenigstens halb zivilisierte Gesellschaft kann ohne Städte leben. Dörfer kann sie entbehren, aber nicht Städte. Nomadenvölker unterliegen dieser Notwendigkeit nicht weniger als andere, sie sind sogar stärker als andere daran gebunden, denn das Wanderleben, das sie fuhren, verhindert, dass sie selber auch nur im Geringsten Wissenschaften und Künste pflegen, die selbst fur eine noch so dürftig entwickelte Kultur unentbehrlich sind. Deshalb hatten alle Nomaden der Welt, soweit sie nicht reine Wilde waren 21 , zu jeder Zeit entweder im eigenen Land oder in dessen Nähe Städte, in die sie von Zeit zu Zeit zogen, um zu verkaufen und zu kaufen; Städte, in denen sie Werkstätten, Gotteshäuser, Bücher, Schulen, Müßiggänger und damit lauter Quellen von Wohlleben und Wissen fanden, aus denen sie oft unwissentlich schöpften. Die Araber der Regentschaft können folglich der Städte nicht entbehren; trotz ihres leidenschaftlichen Gefallens am Wanderleben brauchen sie einige feste Niederlassungen; es ist höchst wichtig, nicht zuzulassen, dass auch nur eine davon bei ihnen gedeiht, und alle Feldzüge, die dazu dienen, die alten und die neu entstehenden Städte zu besetzen oder zu zerstören, erscheinen mir nützlich. Mittel, die anzuwenden sind, um den Krieg ökonomischer und mit weniger Verlusten zu fuhren Ich denke, dass es wünschenswert ist, den Krieg energisch weiterzufuhren. Ich furchte, dass er noch eine Weile dauern wird. Doch selbst wenn man ihn so vorantreibt, dass er zu Ende geht, wird meines Erachtens das Land danach noch immer in einem Zustand der Unruhe und Instabilität sein, so dass eine gewisse Anzahl von Truppen dort verbleiben muss, wo sie ein rastloses und anstrengendes Leben fuhren wird. Es ist daher wohl notwendig, nach Mitteln zu suchen, die den Aufenthalt in Afrika fur unsere Soldaten weniger mörderisch gestalten und die Kosten ihres Aufenthaltes senken. Ich habe schon Hygiene und Sparsamkeit in Verbindung gebracht, denn man wird fast überall sehen: Was dazu dient, die Sterblichkeit zu verringern, hilft zugleich, die Ausgaben zu senken. Um die Sterblichkeit in der Armee zu verringern, gibt es mehrere sofort einleuchtende Maßnahmen.

21 Anmerkung von Tocqueville: Wenn die Wilden erst einmal in Kontakt mit den Städten treten, können sie auf diese nicht mehr verzichten. In den Vereinigten Staaten schlagen die wildesten Indianerstämme mindestens einmal im Jahr ihr Lager in der Nähe einer festen Ansiedlung auf, wo die Europäer Handel mit ihnen treiben. Für die USA besteht das stärkste Mittel, ihren Bürgern bis in die Tiefe der Wüste Respekt zu verschaffen, darin, dass ein Stamm, bei dem ein Diebstahl oder ein Mord bekannt wurde, von diesem Markt ausgeschlossen wird.

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Wie die Erfahrung beweist, ist das, was in Afrika so ungesund ist, weniger das Klima als die Verhältnisse, unter denen man lebt. Das hat sich in Philippeville deutlich gezeigt. Im Jahr 1840 verlor die Garnison ... Mann; von den ... Einwohnern starben dagegen im selben Zeitraum nur 152. Diese Zahlen sind umso bedrückender, als die Einwohnerschaft von Philippeville Greise, Frauen und Kinder einschließt, während die Armee nur aus Männern im besten Alter besteht. Diese traurigen Zahlen sind nur auf eine Weise zu erklären·. Die Einwohner schliefen in Häusern und die Soldaten in Holzbaracken, in erstickender Hitze, vom Regen durchnässt und vom Ungeziefer zerfressen. Offenkundig müssen überall, wo wir beabsichtigen sollten, feste Stützpunkte einzurichten, schleunigst Kasernen gebaut werden.22 Die gibt es, außer in der Umgebung von Algier, bislang fast nirgends. In Philippeville und Constantine fehlen sie fast ganz. Diese Investition ist jedoch dringlich, nicht nur, weil es um Menschenleben geht, sondern auch, weil sie viele andere und erheblichere Ausgaben erspart. Ein Soldat im Lazarett kostet 20 Sou pro Tag; außerdem muss man, während er dort liegt, oft einen anderen mit hohem Kostenaufwand aus Frankreich holen. Man kann sich nicht vorstellen, welch enorme Summen man hätte einsparen können, wenn man das Leben der Menschen geschont hätte. Inzwischen wurden an fast allen wichtigen Stellen der Küste große Lazarette gebaut. Dafür lobe ich die Regierung; aber ich komme nicht umhin zu bemerken, dass nicht nur diese Investition wichtig ist; ich weiß nicht einmal, ob man sie für die wichtigste halten muss. Ein gutes Lazarett sorgt dafür, dass der Soldat wieder gesundet; aber wäre es nicht noch sparsamer und menschlicher, zu verhindern, dass er krank wird? Es gibt eine sanitäre Maßnahme, die, wie mir scheint, von sehr urteilsfähigen Menschen verlangt wird. Zu ihnen gehört General Lamoriciere, dem man gewiss nicht zu viel Menschenfreundlichkeit vorwerfen wird, und den ich hier zitieren möchte.23 Der Soldat ist für die Aufgabe, die man ihm abverlangt, nicht gut genug ernährt. So wie ich hier, hat der General mir gegenüber argumentiert. Er sagte mir: „Legen Sie bei der Verpflegung 2 Sou zu, und Sie werden noch sparen, denn der Soldat wird nicht so oft krank, während jeder kranke Soldat Sie 20 Sou kostet. Ich weiß wohl, dass die Zulage von 2 Sou auf alle Soldaten angerechnet werden muss, während die Summe von 20 Sou heute nur für einen Teil von ihnen entfällt. Ich bin jedoch überzeugt", fügte er hinzu, „dass man erheblich mehr Gewinn erzielen könnte, wenn man das durchsetzen würde." Wenn jemand danach strebt, den Krieg bezahlbar zu machen, weil er ihn langfristig führen will, und diesem jemand das Leben seiner Mitmenschen so wenig bedeutet wie dem General, dann bin ich der Meinung, dass man ihm darin glauben muss.

22 Randbemerkung von Tocqueville: Information über den medizinischen Dienst. Siehe den Brief des Chefarztes der Armee. 23 Louis Christoph Leon Juchault de Lamoriciere (1806-1865), General, befehligte damals die Truppen in Oran. Tocqueville kannte ihn seit Oktober 1828 durch seinen Freund Louis de Kergorlay (1804-1880). Er stand wohl mindestens seit 1837 in Briefverbindung mit ihm. Aufjeden Fall hat er ihn auf seiner Algerienreise besucht und mit ihm am 15. Mai und den Folgetagen in Mostaganem und Oran gesprochen (siehe ОС V 2, S. 195-197).

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D o c h die Frage, die ich nun aufwerfen werde 2 4 , ist weit wichtiger. Sie birgt, meiner Ansicht nach, die ganze Zukunft unserer Eroberung. Siebzigtausend Mann in Afrika zu unterhalten, w o v o n alljährlich ein Teil in den Lazaretten stirbt, was Frankreich hundert Millionen kostet 2 5 , ist ein unhaltbarer Zustand, der, w e n n er noch länger dauert, unser Handeln in der Welt zunichte machen und bald bewirken würde, dass wir Afrika aufgeben müssten. Man muss deshalb ein Mittel finden, dasselbe Vorhaben mit weniger Menschen, weniger Kranken und weniger Geld durchzufuhren. Das beste Mittel, u m dies zu erreichen, ist die Bildung einer besonderen Afrika-Armee. 2 6 Ich erläutere: Will man den Krieg in Algerien auf die dort übliche Art fuhren, so wird, glaube ich, kein einziger der in Afrika stationierten Offiziere bestreiten, dass ein Regiment w i e das der Zuaven 2 7 mindestens z w e i aus Frankreich k o m m e n d e Regimenter aufwiegt, und zwar nicht so sehr in der Kampftechnik w i e im Ertragen der Strapazen und Entbehrungen, die das Alltagsleben der Soldaten bestimmen. Man kann meiner Ansicht nach be24 Variante von Tocqueville: Doch was daraus folgt. 25 Variante am Rande von Tocqueville: man gibt mehr für Wundsalbe als für Kanonenpulver aus. 26 Anmerkung von Tocqueville: Auf der Hand läge, besoldete Einheiten von Einheimischen zu bilden. Diese Idee ist ausgezeichnet, wenn man sie wie folgt abändert: Es wird immer unmöglich sein, eine einheimische Infanterie auszuheben, es sei denn unter den Coulouglis, die noch in sehr geringer Anzahl in der Regentschaft leben. (So wurde in der Provinz Constantine ein Bataillon aufgestellt, das unserer Armee an Disziplin und Mut nicht nachsteht. Die Soldaten und ein Teil der Unteroffiziere dieses Bataillons sind Coulouglis. Die Offiziere sind Franzosen.) Die Araber haben, wie bereits gesagt, einen fast unüberwindlichen Widerwillen gegen den Dienst in der Infanterie. Von ihnen könnte man dafür nur Notleidende einziehen, die bei der ersten Gelegenheit mit Waffen und Gepäck ins Landesinnere desertieren würden, wo sie für uns nicht mehr greifbar wären. Die Araber könnten und sollten uns eines Tages ausgezeichnete Reiter stellen, vorausgesetzt aber, so denke ich, man lässt ihnen ihre nationale Organisation. Man hat versucht, eine Kavallerie europäischer Art aus Einheimischen zu formieren. Wenn ich mich nicht irre, hat dieser Versuch unseren Generälen gezeigt, dass dies zwecklos ist. Es gelang zwar, Männer dafür anzuwerben, darunter sogar mehrere aus angesehenen Familien, aber gerade sie gaben m s rasch den Laufpass; die kleinlichen Einzelheiten unserer militärischen Disziplin vergraulten ihnen den Dienst für immer. Wir werden also stets nur mit viel Mühe und Geld eine reguläre Kavallerie aus Arabern bilden können; aber wenn wir die Stämme, die unsere Autorität anerkennen, in unsere Feldzüge gegen Sold integrieren und sie auf ihre Art und unter ihren Anführern Krieg führen lassen, werden wir eine ausgezeichnete irreguläre leichte Kavallerie haben, die uns mindestens ebensoviel Dienste leisten kann wie die Kosaken den Russen. So kämpfen die Duair und die Smela seit langem an unserer Seite. Aber solche Hilfstruppen sind nicht immer marschbereit, und sie könnten uns gerade dann fehlen, wenn wir ihre Hilfe am meisten brauchten. Wir werden also in Afrika nicht auf eine starke französische Armee mit Infanterie und Kavallerie verzichten können. Aber ich glaube, es gibt Mittel, diese Armee zahlenmäßig zu beschränken, ohne ihre Stärke zu beschneiden, und ihre Kosten zu senken und doch mehr von ihr erwarten zu dürfen als heute. 27 Unmittelbar nach der Eroberung hatte Bourmont die Dienste eingeborener Söldner akzeptiert, zumeist von Kabylen aus der Djurdjura vom Stamm der Zwawa; das war der Ursprung der Zuaven. Am

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haupten, dass viertausend Mann Infanterie, versehen mit einer Kavallerie, die ihrer Stärke entspricht, ohne weiteres alles leisten könnte, was heute ein Heer von achttausend Infanteristen ausrichtet, das heißt, überall durch das Land zu ziehen, ohne ernstlich etwas furchten zu müssen. Für meinen Teil bezweifele ich nicht, dass dreißigtausend Mann dieser Art mehr vollbringen werden als die siebzigtausend, die heute in Algerien sind. Das ist leicht verständlich: Kein Land der Welt ähnelt Europa so wenig wie Algerien. Im Frieden wie im Krieg ist dort alles anders; die Art dort zu leben, zu kämpfen und es sich gut gehen zu lassen, ist eigentümlich. Die Ausbildung in Europa hat den Soldaten weder auf diese Art von Krieg vorbereitet, noch war sie dafür vorgesehen. Nach der Landung muss er deshalb als erstes Kleidung und Waffen wechseln und neue Regeln erlernen. Jeder Krieg verlangt eine Lehrzeit, aber dieser hier mehr als alle anderen. Man muss ihn zu führen lernen, nicht nur um zu siegen, sondern um zu überleben. Es wurde hundertmal bemerkt, dass dort, wo der Neuankömmling aus Frankreich vor Kälte oder Hunger umkam, der Soldat aus Afrika sich noch stärken und aufwärmen konnte. Nehmen Sie noch hinzu, dass das Klima anders ist als das unsere und dem Körper plötzlich völlig veränderte Bedingungen aufzwingt. Dieses Gewöhnen an den Krieg und das Land gelingt einer Truppe, die nur in Afrika ist, um dort wieder abzuziehen, nie vollständig. Soldaten und Offiziere, die wissen, dass sie bald nach Frankreich heimkehren, verwenden nur die Hälfte ihres Verstandes, um das Handwerk zu erlernen, das man sie ausüben lässt; sie sind nicht mit dem Herzen bei der Sache und bleiben distanziert; schließlich wollen sie fast alle nur wieder weg, eine schlechte Voraussetzung, um dort ordentlich zu dienen.28 Gebraucht werden also allein und speziell für Afrika bestimmte Regimenter; sie sollen aus Soldaten bestehen, die eigens für diesen Dienst ausgewählt wurden, und von Offizieren geführt werden, die sich selbst dafür beworben haben. Frankreich wird die einen und die anderen in großer Anzahl hervorbringen. Anders ausgedrückt: Notwendig ist nicht nur, dass die nach Afrika entsandten französischen Armeeeinheiten dort lange bleiben; Afrika muss auch seine eigene Armee haben. Dabei ist übrigens nur das auszubauen, was schon existiert. Ich bin überzeugt, dass man, wenn man diesem Weg folgt, nur halb soviel Geld und nur ein Drittel an Männern aufwenden muss, um Bedeutenderes zu leisten als jetzt. 1. Oktober 1830 bildete Clauzel daraus zwei von französischen Offizieren geführte Bataillone; im nächsten Jahr wurden dort auch Europäer aufgenommen. Nachdem sie zeitweilig auch Reiterei besessen hatten, wurden die Zuaven zu einer reinen Einheit eingeborener Fußtruppen; an ihrer Spitze zeichneten sich Heerführer wie Duvivier und Lamoriciere aus. Aber das Edikt vom 7. Dezember 1841 über den Aufbau der algerischen Schützen machte die Zuaven zu einem vorwiegend europäischen Regiment; von den neun Kompanien seiner drei Bataillone bestand nur noch eine aus angeworbenen Eingeborenen. 28 Anmerkung von Tocqueville: Nichts ist mir in Afrika mehr aufgefallen als der Unterschied in Haltung und Sprache bei den auf Dauer in Algerien stationierten Offizieren und den Offizieren von Regimentern, die dort nur zeitweilig sind. Man sagt, die einen wie die anderen seien auf dem Gefechtsfeld ebenso tapfer. Das will ich gern glauben. Aber in allem anderen differieren sie dermaßen, dass man denken müsste, sie bildeten zwei unterschiedliche Rassen. Erstere sind leidenschaftlich, ehrgeizig, disponiert; sie lieben das Land und begeistern sich fur seine Eroberung. Die anderen sind

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Ich habe gesagt, dass man auf diese Art und Weise viel weniger Männer verschleißen wird. Man hat bemerkt, dass die auf lange Zeit in Afrika stationierten Einheiten im Vergleich zu den anderen fast keine Kranken haben. Das erklärt sich nicht nur daraus, dass sie schon lange da und daher das dortige Leben gewohnt sind, sondern auch, und ich möchte beinahe sagen, hauptsächlich daraus, dass sie ein anderes Verhältnis zu diesem Leben entwickeln. Sie haben es akzeptiert, denken nicht mehr daran, heimzukehren, und verfolgen ihre Mission entschieden. Geistesschwankungen, Langeweile und Heimweh können bei ihnen durch das Klima weder erschwert noch verstärkt werden. Die Seele unterstützt den Körper. Dagegen macht der Soldat, der aus Frankreich eintrifft und bald dorthin heimkehren soll, keine Anstalten, sich mit seiner Lage anzufreunden. Der fremde und unmenschliche Anblick dieses Krieges bedrückt ihn am letzten Tag genauso stark wie am ersten. Sosehr ich auch die Schaffung spezieller Afrika-Regimenter befürworte, so glaube ich doch längst nicht, dass man in Afrika nur derartige Einheiten einsetzen sollte. Das gäbe Anlass zu mehreren sehr schwerwiegenden Einwänden. Die Folge davon wäre, dass nur einige Regimenter ständig Krieg führten und ihn fuhren lernten, während der ganze Rest den Schlachtfeldern fernbliebe. Die kleine in Afrika dienende Armee würde sich dann ganz anders entwickeln und viel höher angesehen sein, als die französische Armee im allgemeinen; man kann sogar sagen, dass sie diese schwächen würde; denn sie würde nach und nach alle geistig Aktiven und kriegerischen Temperamente anziehen. Man würde beobachten, wie in Algerien einige Offiziere befördert würden, während die in Frankreich Gebliebenen sehr langsam vorankämen. Das wäre nicht hinzunehmen.29 Es gibt eine weitere Gefahr, die man kaum beachtet, die mich aber sehr beschäftigt: Man kann nicht verhehlen, dass ein Offizier, der sich in Afrika erst einmal eingerichtet hat, bald Gewohnheiten sowie Denk- und Handlungsweisen annimmt, die überall, aber besonders in einem freien Land sehr gefährlich sind. Er findet Geschmack an einem harten, gewaltsamen, willkürlichen und groben Führungsstil. Das ist eine Entwicklung, die ich nicht verallgemeinert und verbreitet sehen möchte. In militärischer Hinsicht bewundere ich diese Männer; aber ich bekenne, dass sie mir Furcht einflößen und ich mich frage, was wir mit einer Vielzahl solcher Männer machen sollten, wenn sie zu uns zurückkehrten. Ich beobachte mehrere von denen, die dort aufsteigen. Afrika ist heute der einzige Platz, wo die Waffen nicht schweigen. Alle Blicke richten sich dorthin. Dort verschafft man sich, oft sehr billig, einen Ruf, der keinen Verdacht weckt; dort bilden sich Männer heraus, die in der öffentlichen Wahrnehmung übermäßigen Anteil gewinnen, weil allein sie inmitten der allgemeinen Lethargie handeln und einen kämpferischen Ruf bei einem Volk erwerben, das den Krieg liebt und keinen Anteil an ihm

trübsinnig, mürrisch, schlaff, entmutigt; sie denken nur an Frankreich und reden ausschließlich von ihm. Offen gestanden, führen die einen den Krieg, die anderen erdulden ihn. 29 Anmerkung von Tocqueville: Warum eigentlich nicht? Jeder würde nach Verdienst aufsteigen. Ist es im Übrigen nicht besser, eine ausgezeichnete kleine Einheit statt einer mittelmäßigen, aber großen Armee zu haben?

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hat. Ich furchte, sie könnten eines Tages den auswärts und oft plötzlich gewonnenen Einfluss auf die öffentliche Meinung benutzen, um in unsere inneren Angelegenheiten einzugreifen. Gott bewahre uns davor, jemals erleben zu müssen, dass Frankreich von einem Offizier der Afrika-Armee gelenkt wird! Ich halte es deshalb für notwendig, nach Afrika eine gewisse Anzahl von Regimentern zu entsenden, die nicht dauerhaft dort bleiben, sondern binnen weniger Jahre nach Frankreich zurückkehren. Aber ich denke zugleich, dass die Art, wie das heute geschieht, unsere Finanzen ebenso belastet wie unser Mitgefühl. Der Afrika-Krieg gleicht nicht unseren großen Kriegen in Europa, wo das von riesigen Heeren angegriffene Land alle einsetzbaren Soldaten auf die Schlachtfelder schikken muss, auf die Gefahr hin, viele von ihnen in den Lazaretten zu verlieren. Wenn man dabei zu sehr auf die Auswahl der Männer achten würde, könnte man nie genügend starke Truppenverbände formieren. Aber in Afrika verhält es sich nicht so. In Afrika wird eine geringe Anzahl ausgewählter Männer gebraucht, und die französische Armee wird diesen Bedarf immer ausreichend decken. Zurzeit schickt man ein gesamtes Regiment nach Afrika: die schwachen wie die starken Soldaten, die Rekruten ebenso wie jene, die bereits seit mehreren Jahren dienen. Was ist die Folge? Im ersten Jahr wird jeder, der den Dienst nicht gewohnt ist, der schwach oder kränklich ist, krank und stirbt. Unter den Waffen bleiben nur die entschlossenen und kräftigen Männer. Ist es nicht sehr kostspielig und geradezu unmenschlich, diese Auslese dem Tod zu überlassen, statt dass wir uns selbst darum kümmern? Der gesunde Menschenverstand und die Philanthropie gebieten, ein Regiment, bevor es nach Algerien geschickt wird, peinlich genau zu inspizieren. Alle schwachen oder entkräfteten Soldaten müssen im Lager bleiben. Ich halte es auch für wesentlich, alle Soldaten, die weniger als zwei Jahre dienen, auszugliedern. Nicht nur, dass die Regimenter, die nach Afrika gehen, Rekruten aufnehmen, sondern sie werden, so glaube ich, auch während sie in Afrika sind, mit den jährlich Eingezogenen aufgefüllt. So handeln heißt, ich wiederhole es, mutwillig und ohne Not viele unserer Landsleute in den Tod zu schicken; es bedeutet, in Afrika mit sehr hohen Kosten viel mehr Männer zu unterhalten als nötig. Fast immer kommen gerade die jungen Soldaten um, nicht nur, weil sie noch nicht vollständig ausgebildet sind und sich noch nicht an die Strapazen des Dienstes gewöhnt haben, sondern vor allem, weil ihr Geist noch nicht die Zeit hatte, sich zu stählen. Gerade erst ihre Dörfer hinter sich lassend, befremdet die kaum an den Krieg gewöhnten der fremde und schreckliche Anblick dieses Krieges, und sie fallen dem Heimweh und den Krankheiten, die ihre Stimmung hervorruft, zum Opfer. Sie sind es in der Regel, die während der langen Sommermärsche in den Fieberwahn fallen und aus Angst, den Kolonnen nicht mehr folgen zu können, Selbstmord begehen.30 30 Anmerkung von Tocqueville: Jeder weiß, dass die aus Frankreich kommenden Artilleristen und Sonderkommandos in Afrika nicht mehr unter den Strapazen und dem Klima zu leiden haben als die Zuaven. Woher kommt das? Diese Männer haben mit Sicherheit keine anderen Lungen und Mägen als die Soldaten der Infanterie. Als einziger Grund lässt sich angeben, dass sie im Allgemeinen phy-

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Wenn man diese Männer eines Regiments ausgliedert, bevor man es nach Algerien schickt, wird man vielleicht ein kriegsstarkes Bataillon formieren können. Und was wäre daran schlecht? Alle Regimenter Frankreichs führten nacheinander in Afrika Krieg und würden kampferprobt; das wäre ein großer Nutzen. Dieses Ziel wird ebenso gut erreicht, wenn jedes Regiment nur durch die Männer, die seine Elite bilden, repräsentiert wird, wie wenn es geschlossen dorthin zieht, um sich elendig dezimieren zu lassen. Eine notwendige Vorkehrung wäre meines Erachtens noch, ein Regiment vor der Entsendung nach Afrika ein oder zwei Jahre lang in Südfrankreich zu stationieren. Die Umstellung wäre weniger hart. Ich wiederhole, dass so viele Vorkehrungen bei einem großen Krieg in Europa unmöglich zu treffen sind, was aber den Krieg in Afrika angeht, wäre es unentschuldbar, wenn die Verwaltung sie nicht träfe. Welchen Offizieren müssen Kommandostellen anvertraut werden? Was ich über die Soldaten sagte, gilt auch für die Offiziere, besonders für diejenigen, welche große Manöver lenken. Dieser Krieg gleicht keinem anderen, wie jeder weiß; alle Erfahrungen aus den europäischen Gefechten sind unbrauchbar und oft schädlich. Offiziere, die ihn lange geführt haben und dadurch aufgestiegen sind, müssen daher vorzugsweise ausgewählt werden, ihn fortzuführen. Aber ich sehe noch einen anderen Grund, der mir überzeugender erscheint. Man kann leider zur Zeit kaum darauf hoffen, in der französischen Armee einen General zu finden, dessen Handlungsweise in Algerien weniger vom Streben nach persönlichem Ruhm als von dem Wunsch bestimmt ist, für das Land die erforderlichen Dinge zu tun. Die Afrika-Offiziere sind sicher von dieser gewöhnlichen persönlichen Ambition nicht mehr ausgenommen als andere, und man muss sich vergegenwärtigen, dass der eine oder andere durch Krieg oft jene Dinge erreichen will, die man auch ohne ihn erreicht hätte, oder sich unnütz in mörderische Vorhaben stürzt, nur um damit glänzen zu können. Jedenfalls kann man sagen, dass der Ehrgeiz der Offiziere, die auf Dauer in Afrika stationiert sind, sachkundiger und zurückhaltender ist als derjenige der Generäle, die geradewegs aus Frankreich kommen und nur eine kurze Zeit im Land bleiben sollen: Erstens kennen sie die Schwierigkeiten besser, so dass sie Unternehmen zurückhaltender angehen; zweitens lassen sie sich, da sie eine feste Stelle in Algerien haben, weniger leicht zu waghalsigen Expeditionen hinreißen, die ihnen hinterher große Scherereien eintragen. Kurz gesagt, weil ihre Zukunft an eine erfolgreiche Eroberung gekoppelt ist, handeln sie überlegter, ohne ehrlicher zu sein.31

sisch kräftiger, dienstälter und vor allem willensstärker und rigoroser sind. Man muss sich bemühen, alle nach Afrika entsandten Einheiten, soweit möglich, aus solchen Soldaten zusammenzustellen. 31 Anmerkung von Tocqueville: Der bedeutendste dieser Offiziere, der vielleicht alles in allem am meisten nutzen könnte, ist General Lamoriciere. Dieser Mann hat sehr große Schwächen und sogar sehr große Fehler, die meines Erachtens in einem hemmungs- und maßlosen Ehrgeiz, extremer Geringschätzung für Menschenleben und einer unerbittlichen und unnahbaren Persönlichkeit beste-

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Mit anderen Worten: meiner Ansicht nach müsste in Algerien die Anzahl der Truppen, die zum ständigen Verbleib bestimmt sind, stark erhöht werden, und was die aus Frankreich kommenden Truppen angeht, so sollten es nicht an die afrikanische Küste verlegte Regimenter sein, sondern Spezialeinheiten, für die die kräftigsten, dienstältesten und willensstärksten Soldaten ausgewählt wurden. Ich wage zu behaupten, dass dann in Algerien bald mit einer halb so großen Armee und einem halb so großen Budget Größeres ausgerichtet werden könnte als heute.

II. Kolonisierung Ich habe soeben dargelegt, welche Mittel ich für brauchbar halte, um Krieg zu fuhren und die Herrschaft zu erlangen. Aber die Herrschaft ist, wie ich ebenfalls gesagt habe, nur ein Mittel zur Kolonisation. Deshalb wende ich mich jetzt der Besiedlung zu. Muss man mit der Besiedlung bereits unter instabilen Herrschaftsverhältnissen und vor Kriegsende beginnen? Die erste Frage, die man sich stellen sollte, lautet: Soll man mit der Besiedlung beginnen, solange die Herrschaft noch nicht gesichert und der Krieg noch nicht beendet ist? Ich zögere keinen Augenblick lang mit der Antwort: Ja. Niemand kann sagen, wann der Krieg aufhören wird. Sein Ende abzuwarten und dann erst zu kolonisieren, hieße, das Wichtigste unbegrenzt aufzuschieben. Ich habe es schon gesagt und ich wiederhole, dass wir, solange wir nicht eine europäische Bevölkerung in Algerien haben, an der Küste Afrikas nur provisorisch eingerichtet, aber nicht ansässig sind. Man muss also, wenn möglich, Kolonisation und Eroberung gleichzeitig betreiben. Der Kriegszustand erschwert unser Vorhaben übrigens nicht so sehr, wie man annehmen könnte. Die Beherrschung von halbkultivierten, halbsesshaften Stämmen wie jenen, die uns umgeben, kann nie so vollständig sein, dass eine zivilisierte und sesshafte Bevölkerung ohne Sorge und Vorsichtsmaßnahmen neben ihnen siedeln könnte. Bewaffnetes Marodieren wird auch lange nach dem Krieg noch vorkommen. Wäre der Krieg auch beendet, wäre er dennoch vor der Kolonisation notwendig, um bestimmte Mittel anzuwenden, die uns Sicherheit gewähren und zur Verteidigung gebraucht werden. Die Art von Krieg, die wir zu befurchten haben, zwingt uns also nicht zu größeren

hen. Aber er kennt das Land vortrefflich, hat einen eisernen Willen und eine unverwüstliche Energie. Seine Vorstellungen sind zwar bizarr und unvollkommen, aber in gewisser Hinsicht sehr weitgreifend. Er liebt Afrika, betrachtet es als sein Land und identifiziert sich mit ihm. Er ist der einzige Offizier, der sich mir gegenüber für die Kolonisierung und die Siedler aufgeschlossen gezeigt hat. Zudem weiß er, dass eine bürgerliche Gesellschaft nicht mit dem Säbel regiert werden kann. Gleichwohl ist er kein Liberaler; doch in dieser Hinsicht lenken ihn seine Erkenntnisse dorthin, wohin ihn seine Neigungen nie führen würden. Ich denke, dass man es mit Lamoriciere an der Spitze versuchen muss. Doch ist er ein Mensch, den man gleichwohl jetzt wie künftig überwachen muss.

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Vorkehrungen, als sie uns die Vorsicht auch nach dem Ende dieses Krieges gebieten würde. Schließlich ist es zwar schwer, eine europäische Bevölkerung in Afrika während des Krieges anzusiedeln, doch würde diese Bevölkerung, sobald sie sich niedergelassen hätte, den Krieg leichter, kostengünstiger und endgültiger machen, indem sie den Operationen unserer Armeen eine solide Basis böte.32 In welchen Teilen der Regentschaft soll man mit der Kolonisation beginnen? Die französische Öffentlichkeit hat eine kindliche Vorliebe für Vorhaben, die gemeinsam ein ansehnliches Ganzes bilden. In der Politik wie in der Architektur würde sie lieber falsche Fenster anordnen als der Regelmäßigkeit des Anblicks zu schaden. Man muss zugeben, dass die Verwaltung dieser Vorliebe entgegenkommt. Ob Kanäle oder Bahnstrecken anzulegen sind ..., sie wird der Öffentlichkeit gleich beim ersten Mal Pläne vorlegen, die mit einem Mal alle jetzigen und künftigen Bedürfnisse jedes Teils des Landes abdecken sollen. Mit der leichtesten und dringlichsten Sache zu beginnen, erschiene ihr als ihrer selbst und der Öffentlichkeit absolut unwürdig. Denselben Geist zeigt sie bei der Lenkung der afrikanischen Vorhaben. Algerien besteht aus drei großen Provinzen, folglich muss jede ihren Kolonisationsplan haben, denn wie könnte man mit einem unvollständigen33 Plan vor das Land treten? Lieber sollte man gar nichts tun. Auf dieser Grundlage erklärte Herr Laurence im vorigen Jahr vor den Kammern, die Kolonisierung solle gleichzeitig an drei Orten begonnen werden: in der Westprovinz bei Mostaganem, in der Zentralprovinz in der Umgebung von Algier und rings um Böne in der Ostprovinz. Nachdem ich die Orte gesehen habe, erkläre ich, dass ich nichts für absurder hielte als jetzt in Mostaganem kolonisieren zu wollen. Dafür sind mehrere Gründe anzugeben; sie sind meines Erachtens unanfechtbar. Nichts reizt und erschreckt die Einheimischen mehr als die Ansiedlung europäischer Bauern; der gesunde Menschenverstand gebietet also, dass man das Werk der Kolonisation nicht in der Provinz beginnen darf, in der bereits heftige Feindseligkeit gegen uns herrscht und die wir nur mit den größten Schwierigkeiten unterwerfen können. Gerade dort kommt es vor allem darauf an, die Kriegsfrage nicht mit der Kolonisationsfrage zu vermengen. Denn dort wäre die Kolonisation am schwierigsten, nicht nur wegen der Stärke und Feindseligkeit der Stämme, die um unsere Ansiedlung hemm leben, sondern auch wegen der natürlichen Unwegsamkeiten des Landes. Das Land um Mostaganem ist wirklich sehr fruchtbar. Aber es ist fünf Tagesmärsche weit von unserem Hauptstützpunkt Oran entfernt, und man kann die Distanz nur mit einer Armee überwinden; vom Meer ist der Zugang zu Mostaganem so gefahrlich, dass man selbst in den Sommermonaten Menschen und Waren selten sicher an Land setzen kann. Tatsächlich liegt unweit von Mostaganem ein guter Hafen, Arzeu. Aber in Arzeu gibt es wenig Wasser, und

32 Randbemerkung von Tocqueville: weiter ausbauen. 33 Randbemerkung von Tocqueville: hinkenden.

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die Feindseligkeiten der umliegenden Stämme sind so stark und anhaltend, dass man buchstäblich sagen könnte, die Franzosen besetzten dort nur den Raum, den ihre Körper einnnehmen. Außerdem ist es trotz der Nähe oft ganze Wochen lang unmöglich, von Arzeu aus Mostaganem zu erreichen. Selbst wenn also die Siedlung in Mostaganem sich gegen Angriffe der Araber wehren könnte, bliebe sie doch einen Teil des Jahres lang von der zivilisierten Welt abgeschnitten. Das alles, sagen wir es, ist unsinnig. Die Wahrheit ist, dass man sich davor hüten muss, in der Westprovinz Siedlungen aufzubauen, außer vielleicht rings um Oran; der Boden ist dort zwar mittelmäßig, aber die ländliche Bevölkerung könnte sich wenigstens auf eine Stadt und einen Hafen stützen. Im restlichen Teil der Provinz darf man nur daran denken zu kämpfen und zu siegen. Das allein ist schon recht schwierig. Viel später wird man sehen, ob die Besiedlung folgen kann. Bleiben also die beiden anderen Provinzen. Es ist eine große und heikle Frage, ob man bereits jetzt in der Ostprovinz bzw. der Provinz Bone kolonisieren sollte. Ich für meinen Teil neige nicht dazu, das zu glauben. Es ist wahr, um Böne und Philippeville gibt es wirklich fruchtbares Gelände, vor allem in der Nähe der namhaften Städte und an einigen Stellen der Küste, die zwar nicht leicht, aber fast jederzeit angelaufen werden können. Außerdem herrscht in dieser Provinz und besonders in Küstennähe Frieden, und die Einwohner geben sich von Natur aus friedfertiger und weniger unzivilisiert als anderswo. Das sind große Vorteile. Man wird sie über kurz oder lang nutzen müssen. Ist die Zeit dafür gekommen? Ich zweifle daran. Wie ich schon sagte: Was die Eingeborenen mit Recht am meisten beunruhigt und erzürnt, ist, uns dabei zu beobachten, wie wir das Land in Besitz nehmen und bestellen. Das erzürnt nicht nur die Enteigneten, sondern die ganze Bevölkerung. Die Araber sind seit drei Jahrhunderten gewohnt, von Fremden regiert zu werden. Solange wir nur die Regierung an uns reißen, sind sie recht geneigt, uns gewähren zu lassen; doch sobald hinter dem Soldaten der Bauer auftaucht, schließen sie daraus, dass es darum geht, sie nicht mehr nur zu erobern, sondern zu enteignen; der Konflikt wird nicht mehr nur zwischen den Regierungen ausgetragen, sondern zwischen den Völkern. Es ist also wahrscheinlich, dass die jetzt so ruhige Provinz Böne an dem Tag, an dem der Pflug eines Europäers den Boden berührt, in Aufruhr gerät. Das ist umso wahrscheinlicher, als man, um entsprechend umfassend kolonisieren zu können, nicht nur gewaltsame, sondern auch ersichtlich widerrechtliche Maßnahmen ergreifen müsste. Man müsste mehrere Stämme enteignen und dorthin umsiedeln, wo es ihnen vermutlich schlechter ginge. Die zu diesem Thema den Kammern vorgelegten Dokumente enthalten Angaben, die entweder von großer Unkenntnis sind oder eine schamlose Absicht bezeugen, uns zu betrügen. Man behauptet, dass der Fürst, weil der Boden fast überall ihm gehöre, einem Stamm sein Gebiet jederzeit absprechen könne, ohne dass die Rechte der Bewohner dadurch verletzt würden. Dem ist aber nicht so. Es ist wahr, dass nach dem muslimischen Gesetz und altem Brauch des Landes34 der ganze Boden dem Fürsten gehört; doch wenn der Fürst dieses formale Recht gebraucht und einem Stamm dessen Gebiet abspricht, ohne dass

34 Anmerkung von Tocqueville: Ähnliches gilt im Orient. Ich habe es bereits geprüft.

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dieser Stamm ihm durch Rebellion Anlass zu dieser Behandlung gegeben hätte, begeht er einen ungerechten Gewaltakt, der das öffentliche Bewusstsein empört. Es wäre, als ob im Mittelalter der König einem Lehnsherren das Lehen entzogen hätte, ohne dass Lehnsfrevel vorlag. Nun haben die Stämme, die man berauben müsste, uns nicht nur nicht bekriegt, sondern sich auch immer als unsere besten Freunde erwiesen. Sie zu hintergehen wäre politisch um so nachteiliger, als diese Tat nicht einzeln dastünde; vielmehr würde sie sich wie ein letzter Beleg zu vielen anderen gesellen, die den Arabern tendenziell bewiesen, dass sie letztlich weniger zu befurchten hätten, wenn sie gegen uns, statt für uns wären. Wir haben in Afrika das getan, was wir seit zehn Jahren bald im kleinen, bald im großen Stil überall in der Welt getan haben: Wir haben so gehandelt, dass unsere Freundschaft immer verhängnisvoll wurde. Fast alle Stämme oder Menschen, die sich für uns entschieden hatten, wurden von uns entweder im Stich gelassen oder geschlagen. Der Vertrag von Tafiia trat Abd el-Kader das vortreffliche Gebiet ab, das die Duair und die Smela bewohnt hatten. Derselbe Vertrag gab den unglücklichen kleinen Culugli-Stamm der Beni Zetoun, den einzigen aus dem Mitidja, der sich leidenschaftlich für unsere Sache einsetzte, in seine Gewalt. Er ließ sie alle vor unseren Augen hinrichten.35 Ein ähnliches Beispiel in der Provinz Böne würde unweigerlich unserem Ruf unermesslichen Schaden zufügen und unsere Macht erschüttern. Wäre es nicht endlich an der Zeit, wenigstens in einem kleinen Zipfel der Wüste zu zeigen, dass man zu Frankreich halten kann, ohne sein Vermögen oder sein Leben zu verlieren? Anzunehmen ist also, dass, wie man es auch anstellt, der Versuch der Kolonisation in der Provinz Bone zum Krieg führen würde. Ein solcher Hergang wäre zu jeder Zeit ein großes Unglück, ganz besonders aber in diesem Augenblick. Solange die Provinz Oran nicht befriedet und Abd el-Kader nicht geschlagen worden ist, wird es stets äußerst gefahrlich sein, die Provinz Bone gegen uns aufzubringen. Das versteht sich von selbst. Aber unabhängig davon müssen wir aus einem weiteren Grund bestrebt sein, jede Revolte, ja sogar nur jede Unruhe in der Provinz Bone zu vermeiden. Diese Provinz ist der Ort Afrikas, wo Araberstämme unsere Herrschaft wirklich anerkannt und sich darauf eingelassen haben, uns Steuern zu zahlen und Gehorsam zu leisten, fast so wie sie es unter der Herrschaft der Türken taten. Dieser Zustand besteht erst seit drei Jahren. Er wird von maßgebender Bedeutung für die Zukunft unserer Eroberung sein. Die Vorsicht gebietet uns, so scheint mir, die Ausübung des Gehorsams nicht zu stören, solange sie sich nicht gefestigt hat. Lassen wir unsere Macht auf den Sitten wurzeln und ruhen, die

35 Die Culugli-Bevölkerung des Oued Zei'toun, eines Nebenflusses des Isser ostwärts von Algier, hatte einen von der französischen Administration ausgewählten Kaid akzeptiert. Im Januar 1838 überfiel Abd el-Kader (1808-1883) sie mit seinem Heer, um seine Macht ostwärts des Oued Khadra, also hinter der französischen Grenziehung, zu demonstrieren. Die in die Berge geflüchteten Culuglis unterlagen nach verzweifelter Verteidigung. Der von den Franzosen ernannte Kaid wurde enthauptet. Der Generalgouverneur Valee zwang kurz darauf Abd-el-Kader zum Rückzug und rettete 1.600 Männer, Frauen und Kinder.

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den einzigen soliden Grund für die Regierungen in Afrika wie in Europa bilden, ehe wir sie für allzu schwierige und gefahrliche Dinge gebrauchen. Aufgrund dieser Überlegungen bin ich davon überzeugt, dass die Kolonisierung der Umgebung von Bone aufgeschoben werden sollte und dass Frankreich alle Mittel und Vorkehrungen auf die Provinz Algier und die Umgebung dieser Hauptstadt richten muss. Algier ist das Zentrum unserer Macht in Afrika. Dort müssen wir uns auf eine starke agrarische Bevölkerung stützen können. Gerade Algier bietet die meisten Absatzmärkte für Agrarprodukte, und deshalb wird es die Siedler am schnellsten locken und zum Bleiben bewegen. Außerdem blickt alles gerade auf Algier. Dort wurde der Pflug zuerst in den Boden gesenkt und die Kolonisation begonnen; dort ist zu beweisen, dass wir Afrika besiedeln können. In Algier ist alles Schlimme, was die Kolonisation bei den Einheimischen auslöst, schon geschehen. Denn seit zehn Jahren laufen die Kolonisationsversuche. Bleiben wir beim jetzigen Stand, so wird die Verärgerung, die wir gestiftet haben, nicht verebben, sondern durch den Fehlgriff, den unsere Unfähigkeit hervorgerufen hat, gesteigert. In Algier können wir uns, wie anderswo auch, nur ansiedeln, indem wir den Stämmen ihr Land wegnehmen, aber in Algier brauchen wir wenigstens nur Stämme zu enteignen, die uns bekriegt haben. Die Maßnahme ist gewaltsam, aber nach den Landessitten ist sie nicht ungerecht. Ich fuge eine letzte Erwägung hinzu: Das, was am meisten die Zukunft unserer Ansiedlungen in Afrika gefährdet, sind die Mängel und Fehler deijenigen, die beauftragt werden, sie zu verwalten, ob nun als Soldaten oder als Zivilisten. Diese Leute sind in Algier und Umgebung weit eher zu kontrollieren als sonst wo. Die Nähe Frankreichs und die Anwesenheit einer starken europäischen Bevölkerung, deren Beschwerden binnen weniger Tage in den Zeitungen der Metropole widerhallen, bewirken tendenziell eine gewisse Zurückhaltung der Behörden, sodass sie moderater und vernünftiger agieren als an einem beliebigen anderen Ort der Regentschaft. In Algier ist die Regierungspraxis schlecht. Aber an fast allen anderen Orten fanden wir sie sinnlos oder verwerflich. In Algier sind also große Anstrengungen zugunsten der Kolonisation notwendig. Die materiellen Voraussetzungen für den Erfolg Die erste Bedingung für den Erfolg, die einem schon der gesunde Menschenverstand nahe legt, besteht darin, um Algier ein Gebiet zu schaffen, wo Sicherheit herrscht. Als bestes Mittel, diesem Zweck gerecht zu werden, betrachte ich die Errichtung einer durchgehenden Sperre. Viele ausgezeichnete Offiziere schienen mir von dieser Idee eingenommen zu sein. Was ich selbst in Afrika gesehen habe, lässt mich glauben, dass dies tatsächlich der einzige Verteidigungsmodus ist, der erfolgreich gegen die Araber angewendet werden kann, und dass er wirksamer und kostengünstiger anwendbar ist, als man gemeinhin annimmt. Eine der ersten Beobachtungen, die man bei der Ankunft in Afrika machen kann, besteht in den Schwierigkeiten oder vielmehr der Unfähigkeit der Araber, irgendeine Befestigung zu besetzen. Überall findet man schlechte Bauwerke, die einer Belagerung ausgesetzt waren und nicht eingenommen wurden. Das, was eine europäische Truppe keinen Augenblick lang aufhalten würde, ist für ein arabisches Heer uneinnehmbar. Überdies werden die Einheimischen immer davor zurückscheuen, in eine

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Ummauerung einzudringen, weil sie sich nie sicher sind, ob sie samt ihren Pferden und ihrer Beute wieder herauskommen können. Man muss also als Erstes zugestehen, dass eine durchgehende Umgrenzung um jenes Territorium angelegt werden muss, das für die Siedler bestimmt ist. Welchem Verlaufhat dieses Befestigungswerk zu folgen? Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. General Berthois will anscheinend seinen Graben längs vom Meer aufwärts über Colea bis Blida, dann abwärts nach Boufarik bis zum Harrach und dessen Mündung anlegen. Dieses Vorhaben hat den Vorzug, dass es das gesamte Hochland und den fruchtbaren Teil der Mitidja abdeckt und von den Bergketten bis Blida reicht. Seine Nachteile sind: 1. dass es die fruchtbarsten Böden der Mitidja nicht einschließt, 2. dass es dagegen den gesamten entweder versumpften oder unfruchtbaren Teil dieser Ebene umfasst und 3. dass es dazu zwingt, die Anlage durch ein verpestetes Gelände zu führen, das die Gesundheit der Bauarbeiter und künftig auch der zum Wachdienst eingeteilten Kräfte schwer schädigt. Es scheint, dass der Bauplan der Siedler dem anderen widerspricht, indem er die Grenze von Blida entlang des Atlasgebirges bis zum Hamiz führt, der dann als natürliches Hindernis dienen würde. Nach diesem Plan wäre die Grenze vier Meilen länger, würde aber den fruchtbarsten Teil der Mitidja abdecken und, weil über den Sümpfen und dem Wüstenwind gelegen, weder diejenigen, die ihn errichten, noch diejenigen, die ihn bewachen, in Gefahr bringen. Dieser Plan wäre an sich viel besser als der andere. Soviel ist sicher. Aber ist es auch klug, von Beginn an ein so großes Territorium einzuschließen? Muss man sich nicht anfangs darauf beschränken, wie es der Regierungsplan vorsieht, das Hochland und einen Abschnitt im Westen zu sichern? Dieser Ansicht ist General Lamoriciere, ein guter Kenner der Lage. Meinerseits bin ich außerstande, ein Urteil zu treffen. Dazu müsste man Auskünfte besitzen, die ich nicht habe, und vor Ort gewesen sein. Entwässerung der Ebene Es gibt eine andere Vorarbeit, die ebenso notwendig ist, wie die Grenzziehung, wenn man das Hochland überschreiten und die Mitidja kolonisieren möchte, nämlich die Entwässerung. Alle Sümpfe, deretwegen die Ebene ungesund ist, liegen am Fuß des Hochlands, weil das Hochland die vom Atlas zum Meer ablaufenden Wassermassen stoppt und sie zwingt, nach rechts und links auf Flächen mit geringem Gefalle abzufließen, wo sie zu Tage treten und langsam und schwerlich ablaufen. Ich weiß nicht, ob schon versucht wurde, etwas daran zu ändern. Wenn wirklich daran gedacht wird, die Mitidja zu bevölkern, muss man sich jedoch unverzüglich darum kümmern, weniger, um die recht dürftigen Sumpfböden für den Ackerbau zu erschließen, als um die sehr fruchtbaren Böden zu erhalten und bewohnbar zu machen, die sich in unmittelbarer Nähe befinden.36 36 Anmerkung von Tocqueville: Jede Kolonisierung ist zu Beginn gesundheitsgefährdend, davon muss man wohl ausgehen. Selbst in den gesündesten Landstrichen trat zunächst Fieber auf, als man sie

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Die erste fur das Werk der Kolonisierung notwendige Operation liegt auf der Hand. Sie besteht darin, sich ein Territorium zu verschaffen, das man kolonisieren kann. Wie schon oft gesagt, gibt es ein solches noch nicht. Konsolidierung des Eigentums Ich bin im Allgemeinen sehr gegen Gewaltmaßnahmen, die mir für gewöhnlich unnütz und ungerecht erscheinen.37 Aber hier muss man wohl anerkennen, dass man aus dem Land rings um Algier nur mit einer Reihe solcher Maßnahmen Gewinn erzielen kann, und sich folglich fur sie entscheiden muss. Die Mitidja-Ebene gehört größtenteils Araberstämmen, die heute freiwillig oder unfreiwillig zu Abd el-Kader halten. Es war daher notwendig, dass die Verwaltung, als sie die Führung des Gebietes übernahm, nichts davon hergeben durfte, auch nicht um des Friedens willen. Die Stämme, die dort ansässig waren, haben uns bekriegt; ihr Land konnte nach muslimischem Recht konfisziert werden. Das ist ein hartes Recht, das man in diesem Fall mit aller Strenge anzuwenden hat. Die Ländereien, die entweder in der Mitidja oder im Hochland liegen und die nicht arabischen Stämmen, sondern den Mauren gehören, sollte die Regierung nahezu vollständig aufkaufen, sei es im gegenseitigen Einvernehmen oder zwangsweise. Die maurische Bevölkerung verdient wegen ihrer Friedfertigkeit Rücksichtnahme. Aber auf dem Lande behindert sie uns, ohne uns irgendwie zu nutzen. Sie kann, wie oben gesagt, nicht zwischen den Arabern und uns vermitteln, und inmitten unserer Landbevölkerung wäre sie ein widerspenstiges Element, das sich nie mit ihr assimilieren würde. Diese Vertreibung der Einheimischen ist nicht das Schwierigste an dem Vorhaben. Die Araber sind schon abgezogen und die Mauren sind zahlenmäßig nur gering vertreten. Es sind die europäischen Grundbesitzer, die am meisten die Frage erschweren. Gerade in der Mitidja-Ebene sind sehr große Flächen unbewohnt, gehören aber Europäern, die sie von Eingeborenen erworben haben. Ebenso steht es um fast alle noch brachliegenden Teile des Hochlands. Diese Leute kultivieren weder den Boden noch verkaufen sie ihn an die Bauern, und zwar aus zwei Gründen: die meisten sind Bodenzum ersten Mal bestellte. Diese Erfahrung hat man überall gemacht, wo sich Europäer niederließen. Man muss also die leidigen, aber vorübergehenden Begleiterscheinungen jeder beginnenden Kolonisation gut von den bleibenden Folgen andauernder und in Europa ebenso wirkender Ursachen unterscheiden. Die einen verschwinden von selbst und brauchen einen nicht weiter zu erschrecken; die anderen dauern an und verschlimmern sich häufig, wenn ihnen nicht abgeholfen wird. Als die Europäer anfingen, die östlichen Hänge und Täler des Hochlands bei Couba, Hussein Dey usw. zu kultivieren, bekamen sie Fieber; daraufhin glaubte man, die Gegend wäre ungesund, ohne dass man die Ursachen ausgemacht hätte. Nach einigen Jahren, als der Boden bestellt und die Bevölkerung angewachsen war, wurde man nicht mehr krank. Aber an den südlichen Hängen, wo die Sümpfe liegen, wird sich der Gesundheitszustand mit aller Wahrscheinlichkeit auch mit der Zeit nicht bessern, denn das Fieber rührt von einer tieferen und ständigen Quelle her, die sich immer bemerkbar machen und in jeder Gegend, wo sie auftritt, Krankheiten herbeifuhren wird. 37 Randbemerkung von Tocqueville: Anders beginnen und mit den vorangegangenen Sätzen verbinden.

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Spekulanten, die nicht verkaufen, weil sie meinen, zu gegebener Zeit könnten sie bessere Geschäfte machen als jetzt; viele sind aber nicht in der Lage zu verkaufen, denn ihr Eigentum ist ungewiss, entweder weil das Land keine anerkannten Grenzen hat oder weil es zweifelhaft ist, ob sie das Verkaufsrecht besitzen. Viele Grundstücke wurden an verschiedene Personen gleich mehrmals verkauft, bei der überwiegenden Zahl sind die Grenzen nicht genau bestimmt worden oder die Begrenzungen sind so schlecht markiert, dass man sie nicht wieder erkennt.38 Es gibt keinen vernünftigen Siedler, der solch ein Grundstück haben möchte, um sich darauf niederzulassen und einen solchen Besitz fruchtbar zu machen. Fast alles Land, selbst im Hochland vor den Toren von Algier, ist also, wie ich bereits oben behauptet habe, in unserem Besitz, wird aber nicht von uns besetzt. Das ist nicht zu dulden, und ich kann nicht verstehen, wieso eine Verwaltung, die fortwährend so leichthin das Recht verletzt, solchen Missbrauch derart lange hingenommen hat. Im Allgemeinen ist in einem neuen Land nichts so gefahrlich wie der häufige Gebrauch der erzwungenen Enteignung. Ich werde diesen Gedanken im Weiteren ausfuhrlicher entwickeln. Ich kann den tagtäglich in Algerien begangenen Missbrauch kaum genug beklagen. Aber im vorliegenden Fall und bei diesem ungeheuerlichen Durcheinander der Eigentumsverhältnisse ist solch ein Mittel, einmalig angewendet und für alle gleichermaßen geltend, notwendig. Erreicht werden muss dabei dies: mit Hilfe eines Sammelverfahrens und eines Sondergerichtshofes, der eigens zu diesem Zweck geschaffen wird, das Land und seine Grenzen zu sichern. Ist der Eigentümer bestimmt und kann das Land veräußert werden, so ist zu verordnen, dass, falls der rechtmäßige Eigner seinen Boden nicht binnen einer angegebenen Frist kultiviert39, dieser Boden gegen Rückerstattung des Kaufpreises dem Staat zufällt. Dies ist sicherlich ein gewaltsames und irreguläres Verfahren, aber ich weiß nicht, wie man anders aus dem Missstand herauskommen soll, in dem wir uns befinden. Eine Handlung, die dem vorausgehen muss und die ermöglicht, dass die anderen richtig ausgeführt werden, ist das Anlegen eines Grundbuchs. Es ist unverständlich und unverzeihlich, dass das Grundbuch für das Hochland, also einem Canton in der Größe eines Arrondissements in Frankreich, noch nicht angelegt wurde. Das allein genügt als Nachweis der unergiebigen und schlechten Arbeit, die die Zivilverwaltung von Algier kennzeichnet.40 38 Nach der Eroberung Algiers wurden neben allerlei Grundstücken auch nicht vorhandene Bodenwerte sowie unveräußerlicher Besitz des Dey, des im Lehnsverhältnis des osmanischen Reich stehenden Statthalters von Algier, veräußert. Die Rechtmäßigkeit der im Allgemeinen vor dem Kadi getätigten Kaufgeschäfte war äußert zweifelhaft; eine Königliche Kommission befasste sich von 1842-1844 eingehend mit dem Problem. Die Edikte vom 1. Oktober 1844, 21. Juli 1845 und 21. Juli 1846 sollten das heikle Problem ein für alle Mal lösen. 39 Anmerkung von Tocqueville: Kultivieren bedeutet für mich sowohl das Pflanzen von Bäumen als das Erzielen von Ernteerträgen. Wie es scheint, sind Baumpflanzungen vor allem in den Randhöhen die bestmögliche und nützlichste landwirtschaftliche Option. 40 1842 gab es lediglich Grundbücher für die Städte Algier, Blida, Cherchel, Philippeville und Mostaganem.

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Errichtung der Dörfer Gesetzt, die Regierung wäre schließlich Eigentümer eines Großteils des Grundes und Bodens, sei es durch Eroberung, durch freiwilligen Ankauf oder durch zwangsweise Enteignung. Was ist damit anzufangen und wie ist er zu besiedeln? Hierfür gibt es mehrere Lösungsansätze, die aber, unvermeidlich, alle auf den einen Punkt hinauslaufen, nämlich auf die Notwendigkeit, die Siedler daran zu hindern, sich auf dem Lande zu zerstreuen, und sie dazu zu zwingen, in Dörfern zu leben, die der Staat auf seine Kosten anzulegen hat und deren Schutz er einem Offizier seiner Wahl anvertraut. Alle, betone ich, laufen auf diesen Punkt hinaus - und zwar mit Notwendigkeit. In allen anderen Hinsichten aber unterscheiden sie sich. Ich habe dazu allerlei Theorien vernommen. Es gibt keinen besseren Beleg dafür, dass die meisten von ihnen, wie auch heute in unserem Land, dazu tendieren, das individuelle Leben allmählich auszumerzen, um aus jeder Gesellschaft ein einziges Ganzes zu machen. In Frankreich hat diese Tendenz den Fourierismus und den Saint-Simonismus hervorgebracht. Unwillentlich folgen ihr sogar Abbe Landmann 41 , General Bugeaud42 und so viele andere, die von der Kolonisierung gesprochen oder geschrieben haben. Alle neigen dazu, Algerien mit regelrechten Phalanxen theokratischer, militärischer oder ökonomischer Prägung zu überziehen, mit anderen Worten, alle wollen kleine Gemeinwesen gründen, worin Eigentum und individuelles Leben kaum oder gar nicht vorkommen und wo jeder Bürger wie die Biene nach gleichem Plan für das einheitliche Ziel arbeitet, und zwar nicht vom Einzelinteresse geleitet, sondern von jenem des Bienenstocks. Die Pläne Landmanns und Bugeauds unterscheiden sich indessen insofern, als ersterer das Gemeineigentum und eine gemeinsame Lebensweise zum Dauerzustand erheben will, während letzterer, wenn ich mich nicht irre, dies nur als Übergangszustand betrachtet. Die Bewohner seiner Militärsiedlung, ehemalige Soldaten, bestellen den Boden anfangs gemeinsam und unter einer gemeinsamen Führung, doch nach einer bestimmten Anzahl von Jahren sollen sie, so glaube ich jedenfalls, freie Eigentümer werden. Alle diese Pläne können in einem bestimmten Fall und während einer gewissen Zeit erfolgreich sein; man hat dergleichen in Amerika erlebt. Abbe Landmann wird vielleicht einige deutsche Familien überreden, sich um ihn zu scharen, und sie durch seinen Eifer auch zusammenhalten. General Bugeaud wird vielleicht in seiner Armee genug willige ehemalige Soldaten finden, um mit ihnen in der Lage zu sein, eine oder zwei Siedlungen

41 Abbe J.-M. Landmann veröffentlichte mehrere Broschüren über die Kolonisation Algeriens (Les fermes du Petit Atlas, Paris 1841; Memoires au roi sur la colonisation de l'Algerie, Paris 1845). Landmann gründete 1847 die Agrarsiedlung Medjez-Amar im Arrondissement Bone. 42 Vgl. De l'itablissement de legions de colons militaires dans les possessions franqaises du Nord de l'Afrique, Paris 1838 sowie L'Algerie. Des moyens de conserver et d'utiliser cette conquete, Paris 1842. Den Beitrag des Marschalls zur Kolonisierung untersuchte Victor Demontes: La colonisation militaire sous Bugeaud, Paris 1918.

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aufzubauen 43 , und ausreichend fähige Offiziere gewinnen, um sie zu befehligen. Reine Träumerei ist jedoch die Vorstellung, man werde mit einer dieser ungewöhnlichen Methoden das ganze Land besiedeln können. Allen diesen schönen Gesellschaftsprojekten fehlt die erste Voraussetzung, um erfolgreich sein zu können, nämlich Menschen, die sie erproben. Was die Militärsiedlungen angeht, so ist zunächst zu sagen, dass man sie wenigstens anfangs nur mit unverheirateten Männern aufbauen kann. Das ist ein enormer Nachteil. Besiedlung findet mit Familien, nicht mit Alleinstehenden statt. Bedenkt man des Weiteren unsere Sitten, den in Frankreich herrschenden Wohlstand der ländlichen Klassen, aus denen die Soldaten stammen, ihre anhängliche Liebe zu ihrem Heimatort, ihren generell empfundenen Hass auf Afrika und vor allem ihre Abscheu vor dem Krieg, dem Herumkommandieren und der militärischen Disziplin, die sich ihnen tief einprägt, so lässt sich sagen, dass es sehr unvernünftig ist, zu glauben, man werde viele Soldaten finden, die nach ihrer Dienstzeit in Algerien bleiben wollen, um in militärischer Manier den Boden um nicht greifbarer und ungewisser Vorteile willen zu bestellen. Unter den Anständigen werden Sie nur wenige oder gar keine Leute finden, und selbst wenn sie kurzzeitig zu Ihnen kommen, werden sie Ihnen doch bald wieder davonlaufen. Das ist der Eindruck, den viele aufgeklärte Menschen in Afrika haben. Ich schließe mich dem voll und ganz an. Militärsiedlungen baut man nur so auf, dass man die neuen Bewohner zwangsweise dorthin schafft und festhält, das heißt, man baut solche Siedlungen nur auf, wenn man sie mit Leibeigenen bevölkern kann. Über die religiös oder wirtschaftlich inspirierten Siedlungen, deren Mittel und Zweck einfach das Gemeinschaftsleben und das Gemeineigentum sind, beabsichtige ich mit noch größerem Nachdruck zu sagen, dass es unvernünftig ist, sich einzubilden, dass viele Menschen ihr Vaterland verlassen und sich dem Elend wie auch den Gefahren der Kolonisation in Algerien aussetzen werden - um was zu erlangen? Dass sie weder Herr ihres Lebens noch ihres Besitzes sind und dass alle ihre Erwartungen feste Grenzen haben? So etwas, wiederhole ich, hat man nie erlebt und wird man nie erleben, weil solches Bestreben den natürlichen Regungen des menschlichen Herzens direkt zuwiderläuft.44 Alle diese nachgeahmten und komplizierten Methoden, Afrika zu besiedeln, konnten nur Männern der Theorie einfallen, die nie mit Kolonialgesellschaften konfrontiert wurden. Wer diese Dinge praktisch untersucht hat, weiß im Gegenteil: Um gegen die zahllosen Schwierigkeiten einer ersten Ansiedlung anzukämpfen, braucht man nichts weniger als die ganze Energie der Leidenschaften, die das individuelle Eigentum hervorbringt; bei dieser ersten und harten Arbeit muss dem Siedler so viel Bewegungsfreiheit und so viel Raum für seine Hoffnungen belassen werden wie nur möglich. Man darf nie aus den Augen verlieren, dass die Siedler, wie bereits gesagt, nicht Leibeigene, sondern unabhängige und ungebundene Menschen sind, die nach Belieben kommen und bleiben kön-

43 Variante von Tocqueville: zu formen. 44 Vgl. hierzu auch die von Saint-Simon geprägten Projekte, die in der Broschüre Colonisation l'Algerie, Paris 1843 von Barthelemy-Prosper Enfantin dargestellt sind.

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nen; dass es also nicht darauf ankommt, α priori und per Federstrich das bestgeeignete System fur das Erblühen der kleinen Gesellschaft, der sie angehören sollen, zu erfinden, sondern das wirksamste Mittel auszumachen, um alle zu begeistern und zu halten, die sie mitgestalten sollen. Die Kolonien aller europäischen Völker bieten dasselbe Bild. Die Rolle des Einzelnen ist dort überall größer als im Mutterland, und nicht geringer. Seine Handlungsfreiheit ist weniger eingeschränkt. Das muss uns eine Lehre sein. Ich weiß wohl, dass vieles, wie sonst auch, von den Umständen abhängt. Es ist klar, dass die Zivilverwaltung, und zwar in einer Kolonie wie Algier mehr als in jeder anderen Kolonie, die ich kenne, der Dinge annehmen und die Einzelnen leiten und kontrollieren muss. Dass ihre Rolle umfassender zu sein hat, bestreite ich nicht. Ich will nur nicht aus den Augen verloren wissen, dass man sie nur das Notwendige und nichts weiter zu tun heißt und, um den Erfolg zu sichern, hauptsächlich auf das freie, leidenschaftliche und tatkräftige Handeln jedes Menschen setzt. Wenn ich danach suche, welche Rolle der Verwaltung unter den besonderen Umständen in unserer Kolonie zufallt, dann finde ich, dass diese Rolle in Folgendem besteht: Die Verwaltung muss den zu besiedelnden Grund und Boden rechtlich sichern und ihn, soweit möglich, erwerben, um ihn wiederum zu einem günstigen Preis und ohne Auflagen an die Siedler zu verkaufen.45 Sie muss den Standort der Dörfer festlegen, sie befestigen, sie bewaffnen, Straßen bauen, einen Brunnen, eine Kirche, eine Schule, ein Gemeindehaus anlegen und für die Bedürfnisse des Pfarrers und der Besitzer sorgen. Sie muss jedem Einwohner vorschreiben, dass er selbst samt seinem Vieh innerhalb der Mauern zu bleiben und sein Feld einzufrieden hat. Sie muss alle Siedler den Wach- und Verteidigungsvorschriften, welche die Sicherheit gebietet46, unterwerfen und an die Spitze ihrer Bürgerwehr einen Offizier setzen, der die Einwohner in einigen militärischen Gepflogenheiten schult und sie draußen befehligen kann. Außerdem muss sie entweder selbst oder mittels Kolonialgesellschaften den Siedlern Vieh, Geräte oder Lebensmittel bereitstellen, um das Entstehen der Siedlung zu fordern und sicherzustellen. Vor allem, und das ist ausschlaggebend, müssen die Verpflichtungen, die sie festsetzt, wohl definiert und von vornherein bekannt sein. Am meisten verärgert es den Siedler eines neuen Landes, wenn er nicht weiß, womit er zu rechnen hat. Setzen Sie, wenn Sie wollen, sehr strenge Auflagen fest, aber ändern Sie sie nicht nach Lust und Laune. Soweit zu den Aufgaben der Verwaltung. Sind sie erfüllt, muss der Siedler sich, wo er will, niederlassen können, und das Land nach eigenem Gutdünken bestellen dürfen. Er soll möglichst nur den Einschränkungen und Pflichten unterliegen, die ihm auch in Frankreich auferlegt werden, und sein Dorf sollte ihm, wenn es geht, das Abbild jener Gemeinde sein, in der er unter uns gelebt hat.

45 Anmerkung von Tocqueville: Am besten wäre es, ihn in bestimmten Fällen gegen die Verpflichtung zum Militärdienst einzulösen. 46 Variation von Tocqueville: den Schutz- und Sicherheitsregeln

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Es muss eine goldene Brücke für jene gebaut werden, die nach Afrika gehen 47 Man müht sich sehr damit ab, die richtigen Mittel zu finden, um Bauern nach Afrika zu locken und dort zu halten. Es gibt ein Mittel, woran diese großen Utopisten nicht denken und das mehr wert ist als alle militärischen oder konfessionellen Siedlungen der Welt, nämlich dafür zu sorgen, dass man mit der Bearbeitung des Bodens Gewinne erzielt; und damit man davon reich wird, muss man vom Handel leben und seine Produkte bequem und einträglich verkaufen können. Senken Sie die Zinssätze so, dass man sich die meisten Dinge, die nützlich sind oder das Leben angenehmer machen, selbst im Ausland preisgünstig beschaffen kann. Lassen Sie alle Produkte Algeriens ungehindert nach Frankreich hinein, vor allem diejenigen, die nicht der einheimischen Produktion, sondern dem kolonialen Gewerbe entstammen. Kaufen Sie doch zum Beispiel den Tabak, den sie brauchen, nicht mehr in Amerika, sondern vorzugsweise in Algier, wo er wunderbar gedeiht und exzellent ist. Die Aussicht auf Gewinn und Wohlstand wird alsbald so viele Siedler, wie Sie sich nur wünschen können, in das Hochland und die Mitidja locken.48 Ich weiß wohl, dass Handel und Gewerbe der Metropole dann schreien werden, dass man sie aufopfere, dass es der Hauptvorzug einer Kolonie sei, dem Mutterland einen günstigen Markt zu bieten und ihm keineswegs Konkurrenz zu machen. Das alles mag an sich wahr sein, rührt mich aber nicht. Beim jetzigen Stand der Dinge darf man Algier nicht vom kommerziellen, gewerblichen oder kolonialen Gesichtspunkt aus betrachten; man muss einen höheren Standpunkt einnehmen, um die wesentliche Frage zu beantworten. Hier besteht nämlich ein großes politisches Interesse, das alle anderen überlagert. Unsere gegenwärtige Situation in Afrika ist unerträglich; sie ist ruinös für die Staatskasse, verheerend für unseren Einfluss in der Welt und zu alledem noch sehr prekär. Es ist unser dringlichstes und, so möchte ich sagen, nationalstes Interesse, ihr ein Ende zu setzen. Diese Situation kann nur durch das Entstehen einer von Europäern gebildeten Nation beendet werden, die das Gebiet, das wir erobert haben, verwaltet und sichert. Man muss die Kolonisten also um jeden Preis dorthin bringen, auch wenn dies momentan unseren verschiedenen Produzenten schadet. Ich sage momentan, denn es ist leicht zu sehen, dass dieser Übelstand nur vorübergehend wäre; sobald Algerien einen großen französischen Bevölkerungsanteil hätte, würde man - und mit großem Vorteil - wieder die Schutzzölle einfuhren, die unseren Produzenten jetzt fast nichts nutzen, weil das Land unbewohnt ist und keinen Markt darstellt. Ich wiederhole an dieser Stelle das, was ich schon des Öfteren gesagt habe und noch viele Male sagen werde: Schauen Sie nicht auf das Geld, das Algerien Sie kostet, sondern kümmern Sie sich darum, dass es nutzbringend verwendet wird, denn nichts ist kostspieliger und zugleich gefahrlicher als unser jetziger status quo. Ich für meinen Teil glaube: Sollte Frankreich dadurch, dass es denjenigen, die sich in Afrika ansiedeln möchten, sozusagen eine goldene Brücke baut, in wenigen Jahren erreichen, dass sich zahl47 Anderer Titel von Tocqueville am Rande: Andere Bedingungen des Erfolgs; Gesetzesänderungen 48 Randbemerkung von Tocqueville: Exakte Angaben zu den Zollbestimmungen... Das alles ist ein Grundgedanke, der nur dann interessant ist, wenn man ihn ausführt, was ich bisher versäumt habe.

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reiche Bewohner dort niederlassen, dann hätte es ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht, selbst wenn man dabei nur das Geld in Betracht zieht.

Von den sozialen und politischen Institutionen sowie dem Regierungsstil, die sich am besten dazu eignen, die Kolonisierung einzuleiten und abzusichern Gelingt es uns, eine europäische Bevölkerung nach Algerien zu locken und anzusiedeln, so nicht nur, um Straßen anzulegen, Wassergräben auszuheben, Mauern zu errichten, Grundstücke zuzuweisen und Dörfer aufzubauen. Die Aufgabe ist schwieriger und bedeutender. Ich scheue mich nicht zu sagen, dass jede noch so große materielle Anstrengung misslingen wird, um in Algier eine lebendige und blühende Kolonie zu errichten, wenn man die Institutionen, die das Land zurzeit regieren, nicht gründlich ändert. Diese Wahrheit aufzuzeigen, ist das Wichtigste an meiner Aufgabe. Die Regierung Algeriens hat mehrere, geradezu konträre Fehler, die bei ein und derselben Gewalt selten in dieser Form anzutreffen sind. Sie ist gewaltsam, willkürlich und tyrannisch, aber zugleich auch schwach und ohnmächtig. Die Ursache dessen ist leicht zu benennen. Die Regierung ist willkürlich und tyrannisch, weil nichts die Bürger vor dem Zugriff der Behörde und ihrer Bediensteten schützt; und sie ist schwach und ohnmächtig, weil es in der Kolonie keine Zentralgewalt gibt, die alle diese verschiedenen Beamten zwingen könnte, vereint an der Ausführung derselben Vorhaben mitzuwirken, um so ein kraftvolles und stetiges soziales Handeln zu erzeugen. Es ist äußerst dringlich, die Verwaltung ein für allemal stärker und rigoroser zu machen, wenn man will, dass Europäer, die es gewohnt sind, bei den Behörden ihrer Metropolen eben jene Eigenschaften zu finden, nach Algier kommen und dort bleiben. Ich habe angedeutet, weshalb die Regierung Algeriens schwach und ohnmächtig ist. Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. Diese Schwäche und Ohnmacht hat zwei Ursachen; die erste ist die fehlende Zentralisierung in Algier. Man kann sich kein größeres Durcheinander vorstellen als bei der dortigen Zivilverwaltung. Jeder Amtsvorsteher ist in seinem Bereich unabhängig, und da die Ausführung fast aller Projekte das gleichzeitige Mitwirken eines jeden von ihnen erfordert und diese Zusammenarbeit nicht zu erreichen ist, wird nichts rechtzeitig begonnen und nichts zu Ende geführt. Zwar sind die Amtsvorsteher dem Gouverneur unterstellt, der das Recht hat, ihren Gehorsam zu erzwingen. Aber dieser Gouverneur ist ein General, der keine klaren Vorstellungen und keine Praxis in Fragen der Zivilverwaltung hat, obendrein stark mit Kriegsunternehmungen beschäftigt ist und zumeist in der Feme Armeen befehligt. Solch ein Mensch, wie auch immer geartet, ist wenig geeignet, Verwaltungspläne auszuarbeiten; und selbst wenn ihm dieser Gedanke in den Kopf käme, würden ihm die mangelnde Detailkenntnis, das vorrangig militärische Anliegen und die räumliche Entfernung fast nie ermöglichen, seine Gedanken in die Praxis umzusetzen und zu erreichen, das die Amtsvorsteher ununterbrochen und zusammen auf deren Realisierung hinarbeiten.

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Die Zivilverwaltung muss in Algier eine Führungsspitze haben; es muss dort einen Mann geben, der berufen ist, dass all die verschiedenen Bediensteten der Verwaltung bei der Ausführung sowohl ihrer eigenen Projekte als auch der Projekte des Generalgouverneurs zusammenwirken. Ich weiß, dass die Schwierigkeiten bei der Ausführung hier sehr groß sind. Vielen erscheint es beim jetzigen Stand der Dinge als schwierig, die oberste Leitung in Afrika nicht einem General anzuvertrauen. Die Kriegführung, so sagt man, beanspruche zurzeit einen so großen Raum bei der Leitung der Kolonie, dass die Übergabe dieser Regierung an einen Zivilbeamten nur bedeuten könne, dass man die Kriegsaufgaben schlecht ausführen wolle, wenn jener vorgibt, sie zu leiten, dass man vorhabe, denjenigen, in dessen Namen er sie lenkt, zum eigentlichen Gouverneur zu machen, oder schließlich, dass man dauerhafte Konflikte herauf zu beschwören beabsichtige.49 Weiter wird gesagt, der Sturz Abd el-Kaders würde nicht viel an dieser Situation ändern, denn die Methoden, mittels derer man arabische Stämme selbst im Frieden regieren müsste, wären den Verfahren im Kriege sehr ähnlich. Sie verlangten einschlägige Kenntnis und Übung. Man hat daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass man einen Militärgouverneur noch lange brauchen werde. Doch andererseits, welcher Mann von Charakter wird einwilligen, die Zivilverwaltung unter einem Befehlshaber der Armee inne zu haben und eine Kolonie zu leiten, in der die tatsächliche Macht und das öffentliche Ansehen der Armee zufallt? Man muss vermuten, dass man für diesen wichtigen Posten nur sehr mittelmäßige Leute finden würde, die keinerlei wirkliche Gewähr für Befähigung oder gar Moral böten. Falls es jedoch gelingt, einen fähigen Menschen für diese Beschäftigung zu gewinnen, der diesen Dienst mit Leidenschaft übernimmt, so wird er bald gegen die unbedeutende Rolle rebellieren, die ihm die Militärbehörde überlässt, womit die Anarchie in anderer Gestalt wieder auftritt. Das ist meines Erachtens die größte Schwierigkeit an der gesamten Algier-Frage.50 Ich werde die große Frage, ob man das Generalgouvernement Algerien einem Zivilbeamten oder einem Angehörigen der Armee anvertrauen sollte, noch eingehender erörtern. Alles, was ich jetzt herausarbeiten möchte, ist, dass es wichtig ist, die eigentliche Verwaltung der Kolonie tatsächlich und wirksam in den Händen eines Beamten zu vereinen, sei dieser Beamte der Gouverneur selbst oder jemand, der diesem unmittelbar unterstellt ist. Die erste Ursache für die Schwäche und Ohnmacht unserer Kolonialregierung war die fehlende Zentralisierung in Algier. Die zweite ist die absurde Zentralisierung, die es in Paris gibt.

49 Durchgestrichene Randbemerkung von Tocqueville: Allerdings haben es die Engländer in Indien fast immer so gemacht. Die wichtigen Projekte, die wir selbst in jenem Land begonnen haben, wurden von Männern ausgeführt, die keine Militärs waren, etwa Dupleix. Man kann sogar sagen, dass die Regierung Indiens im Wesentlichen ziviler Natur ist, obwohl sie von der Armee geschaffen wurde und gestützt wird. 50 Randbemerkung von Tocqueville: Anmerkung für Beaumont: Alles was folgt wird Beaumont meine Zweifel hinsichtlicht jener wichtigen Fragen offenbaren. Er wird sehen, dass ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass die Regierung zivil sein muss.

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Vergeblich wäre die Einführung einer für alle Bediensteten der Zivilverwaltung verbindlichen Zentralregierung in Afrika, solange der Vertreter dieser Behörde in jeder Hinsicht den Weisungen der in Paris ansässigen allerhöchsten Behörde unterstellt bleibt. Zwischen den Befugnissen der Zentralregierung und denen der Kolonialbehörde besteht eine Kluft, die die Vernunft gebietet: Alle Maßnahmen, die einen legislativen oder politischen Charakter haben und die allgemeine Richtlinien enthalten, vor allem jene, die auf strafrechtliche Vorkehrungen hinauslaufen, kurzum, alles, was von allgemeinem und bleibendem Einfluss auf den Status von Gütern und Personen ist, darf nur mit Zustimmung und Genehmigung der Regierung geregelt werden. Dies deswegen, weil diese Maßnahmen große Bedeutung haben, weil ihre Notwendigkeit oder ihre Angemessenheit in Paris ebenso gut und oft besser beurteilt werden kann als in Algier; weil sie fast nie so dringlich ergriffen werden müssen, dass ein Aufschub von einigen Wochen schaden könnte, und weil es schließlich sehr wichtig ist, auf diesem Gebiet weder leichthin noch häufig neue Methoden einzuführen, selbst wenn man etwas besser machen will, denn Wechselhaftigkeit ist die natürlichste und gefährlichste Krankheit aller Gesellschaften, die vor der Selbstaufgabe stehen. Dagegen muss der in der Kolonie regierenden Gewalt alles überlassen bleiben, was die Anwendung des allgemeinen Rechtes, Verwaltungsangelegenheiten oder die Auswahl von Bediensteten betrifft. Die diesbezügliche Zentralisierung ist meines Erachtens selbst in Frankreich und in der Umgebung von Paris nachteilig, aber sie wird umso gefahrlicher, je weiter man sich vom Zentrum entfernt, und wenn sie in einem von Frankreich verschiedenem Land ausgeübt wird, das weit entfernt ist und dessen fast immer dringlicher administrativer Handlungsbedarf nur wirklich der kennt, der ihn verspürt, so endet sie damit, alles still zu legen und alles zu zerstören, indem sie alles zu steuern sucht. Das ist sicherlich, was sein soll. Sehen wir jetzt, was wirklich ist: Es kommt täglich vor, dass der Gouverneur von Algerien Verfügungen über den europäischen Teil der Bevölkerung erlässt, die als Gesetze betrachtet werden können, weil sie die Umstände51 grundlegend verändern52 und zugleich alle Landesbewohner betreffen. 53 Die Ministerialverfügung vom , welche die Befugnisse des Gouverneurs beschränkte, erlaubte ihm zugleich, seine Kompetenzen in dringenden Fällen zu überschreiten, wenn er später darüber dem Minister Meldung erstattete. Diese Notstandserklärung wurde nun mit der Zeit, wie die Notare sagen, eine Formalität. Jede Verfügung des Gouverneurs ist mittlerweile davon betroffen. Der Gouverneur erhält damit faktisch legislative Gewalt, und zwar eine legislative Gewalt ohne Garantien und Gegengewicht, denn nichts ist vorgesehen, damit sie gefahrlos ausgeübt werden kann. Die Gouverneure haben keinen Beirat, der sie aufklären und bei dieser so fremden Arbeit in ihren Gewohnheiten mäßigen könnte; es gibt nichts, was eine ähnliche Stellung hätte wie der Staatsrat 51 Anmerkung von Tocqueville: Beispiele. 52 Variante von Tocqueville: und modifizieren. 53 Leerstelle im Text.

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gegenüber dem König. Man hat wohl gemeint, man habe es mit dem Gouverneur von Paris zu tun. Weil die erwähnte Sicherung fehlt, bleibt aber nur die reine Willkür eines Soldaten, der zivile Institutionen ersetzt. In der eigentlichen Verwaltung können die Gouverneure dagegen fast nichts ausrichten. Alle Gelder für die Kolonisation sind in Paris zentralisiert, und es bedarf unendlicher Formalitäten, um über die geringste Summe verfugen zu dürfen; das gleiche gilt für Ländereien und für jede Kleinigkeit im Verkehr. Alle Akten müssen wieder und wieder von den Büros des zuständigen Ministers bestätigt werden. Der Schriftverkehr nimmt die gesamte Zeit der Beschäftigten in Anspruch. Der Finanzleiter, den ich fragte, weshalb das Grundbuch für das Hochland noch nicht angelegt worden sei, erwiderte, seine Zeit und diejenige seiner Gehilfen reiche kaum, um die laufenden Geschäfte zu erledigen. Er allein habe allein im Jahr 1839 rund 9.000 Briefe an den Minister geschrieben. Man hat oft erlebt und sieht noch immer, dass Siedler ankommen und nach mehreren Monaten wieder davongehen oder verhungern, weil die Verwaltungsaufgaben, die erforderlich sind, um ihnen einen Flecken Erde zuzuteilen und zu übergeben, noch nicht abgeschlossen sind. Man muss Franzose sein, um derartige Absurditäten zu verstehen und zu ertragen. Somit gibt es gleichzeitig zuwenig und zuviel Zentralisierung. Der Gouverneur hat dort freie Hand, wo er kontrolliert werden müsste. Und ihm sind die Hände dort gebunden, wo er frei agieren sollte. Man kann ihm noch mehr als dem König nachsagen, dass er regiere, aber nicht verwalte; das steht sicherlich im Gegensatz zum gesunden Menschenverstand. Dieser Zustand darf nicht andauern - das sage ich aus tiefster Überzeugung - , sonst wird die Kolonisation nahezu unausführbar. Die Verwaltung muss einen Chef bekommen, der diese neue Gesellschaft zu erschaffen und zu kontrollieren hat, und dieser Chef muss in einem vernünftigen Rahmen unabhängig von den Pariser Büros sein. Man muss ihm für die ganze administrative Arbeit einen Teil der Befugnisse abtreten, die sich der Minister zurzeit vorbehält. Das ist es, was in Bezug auf die Regierung zu tun ist. Sehen wir jetzt, was die Bürger brauchen. Sicherheiten, die den Bürgern zu gewähren sind Bei der Kolonisierung darf man eine sehr einfache und offensichtliche Erkenntnis nicht aus den Augen verlieren. In unserer Zeit und in dem Teil Europas, den wir bewohnen, kann man nicht einen Teil der Bevölkerung ergreifen und ihn nach Gutdünken von da nach dort versetzen. Man muss ihm Mut machen, zu kommen.54 Es ist nicht leicht, Europäer dazu zu bewegen, ihre Heimat zu verlassen, denn im Allgemeinen sind sie dort glücklich und im Genuss von Rechten und Gütern, die sie schätzen. Aus eben diesem 54 Anmerkung von Tocqueville: Es geht hier nicht darum, ein natürliches Hindernis zu überwinden, wozu die Regierung nur gute Ingenieure und Geld brauchte; auch nicht darum, eine bestimmte Anzahl von Menschen, die durch die Bande der militärischen Disziplin zwangsweise miteinander

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Grund ist es schwierig, ihnen ein Land schmackhaft zu machen, wo man sogleich in ein glutheißes, ungesundes Klima und an einen schrecklichen Feind gerät, der sie unablässig umkreist, um ihnen Habe und Leben zu nehmen. Um Menschen in solch ein Land zu holen, muss man ihnen erstens große Chancen einräumen, dort ihr Glück zu machen; und zweitens müssen sie ebenda einen Zustand der Gesellschaft vorfinden, der ihren Gewohnheiten und Neigungen entspricht. Denn wenn die unvermeidlichen Übel des Landes noch um die Pannen und Verlegenheiten einer schlechten Regierung vermehrt werden, würde niemand dorthin ziehen und bleiben wollen. Schauen wir nun, ob der Siedler, der in Algerien an Land geht, dort irgendeine der Garantien für Sicherheit und Freiheit vorfindet, die mehr oder minder in allen Ländern Europas anzutreffen sind und von deren Einwohnern gewöhnlich als Erleichterung ihres Lebens und als ihr wichtigstes Bedürfnis angesehen werden. In seinem Land nimmt der Franzose teil an der Regierung, sei es direkt durch Wahlen oder indirekt durch die Pressefreiheit. Die Gesetze werden von den Gewalten ausgearbeitet, die er geschaffen hat und überwacht. Die allgemeinen Verordnungen und die wichtigsten Anordnungen der Exekutive werden vom Staatsrat getroffen, einer großen Körperschaft, die nicht der Verwaltung angehört, sondern diese lenkt und zügelt. Was die lokalen Angelegenheiten angeht, so werden die wichtigsten von Versammlungen geregelt, die aus Bürgern zusammengesetzt sind. Der Franzose kann im eigenen Land nur auf den Befehl eines unabhängigen Richters inhaftiert werden. In Untersuchungshaft genommen wird er ebenfalls von einem unabhängigen Gericht, unter Anklage gestellt von einem anderen, abgeurteilt schließlich von seinen zum Geschworenengericht versammelten Mitbürgern. Sein Eigentum ist in jeder Hinsicht gesichert. Der Staat darf es sich nur gegen vorherige Bezahlung und unter Einhaltung unumstößlicher Vorschriften aneignen. In Streitfallen mit der Regierung entscheiden unabsetzbare Richter oder zumindest eine große Versammlung, die infolge ihrer Stellung unabhängig ist. Das also hinterlässt er in Frankreich. Betrachten wir nun, was er in Algerien vorfindet: Die Anhörung der Angeklagten, die Pressefreiheit, das Geschworenengericht oder das Wahlrecht gibt es in Afrika nicht. Diese Dinge, das muss man zugestehen, kann es zurzeit dort nicht geben. Aber man kann dort nicht einmal die Spur einer Institution entdecken, die sich selbst in den absoluten Monarchien Europas findet und, soweit mir bekannt, selbst in keiner Kolonie irgendeiner Nation jemals vollständig fehlte. Ich möchte über jene Körperschaften reden, welche - ob gewählt oder ernannt - dazu da sind, die rein lokalen Angelegenheiten zu lenken oder wenigstens jene zu beraten, die sie lenken. In Afrika gibt es nichts, was einer kolonialen Versammlung gleicht. Man hatte dem Prinund mit ihrem Vorgesetzten verbunden sind, zum Handeln zu bewegen. Die Aufgabe ist in anderer Hinsicht kompliziert. Das wird offenbar unaufhörlich vergessen. Hört man diejenigen, die jeden Tag von der Organisation Algeriens reden, so hat das den Anschein, als habe man die Menschen ganz und gar in Besitz und brauche sie nur in schönster Ordnung aufzustellen. Alle diese großen Gründer von Kolonien würden einen Amerikaner oder einen Engländer sehr zum Lachen reizen.

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zip nach in Algier einen Gemeinderat gebildet, dessen Mitglieder von den Behörden ausgesucht wurden. Selbst diesen Schatten eines Gemeinderates empfanden die Organe, welche die Angelegenheiten Afrikas lenken, noch als hinderlich. Man ließ ihn verschwinden. Mehr noch, indem man in Paris die lokalen Einnahmen sowie die Verwendung55 dieser Gelder in einer gemeinsamen Kasse verwaltete, zerstörte man das kommunale Leben vollkommen. Zur Stunde weiß kein Siedler in Algerien, ob die Gemeinde, in der er wohnt, Einkünfte hat, welchen Umfang sie haben und wozu sie verwendet werden. Es gibt niemanden, der direkt oder auch nur entfernt Einblick in die Verwaltung seines Dorfes, die Kosten der Errichtung oder Reparatur der Kirche, der Schule, des Pfarrhauses oder des Brunnens hätte; alle diese bedeutenden Angelegenheiten werden in Paris geregelt. Das ist unglaublich und absurd. Alle Kolonien besitzenden Völker, von den Griechen und Römern bis zu den Engländern, waren bemüht, das kommunale Leben in den Ländern, in denen sie siedeln wollten, weitgehend unabhängig und frei zu gestalten, sei es, weil sie es als unmöglich empfanden, kleine, weit von der Metropole entfernte und vor andere Aufgaben gestellte Gemeinden in allen Einzelheiten zu steuern, sei es, weil sie die Absicht hatten, ihren Siedlern eine neue Heimat zu schaffen und sie dadurch aneinander zu binden, dass sie ihnen die gemeinsame Leitung ihrer geteilten Interessen anvertrauten. Was die oberste Verwaltung und die allgemeinen Bestimmungen anbetrifft, die das Vermögen und oft auch die Freiheit und das Leben eines jeden berühren, genießen die Siedler, wie schon angedeutet, keinerlei institutionellen Schutz, weder jenen, den wir in Frankreich besitzen, noch irgendeinen anderen. Zum einen kommen die geltenden Regelungen fix und fertig aus dem Kriegsministerium, ohne dem Staatsrat unterbreitet worden zu sein. Zum anderen werden sie in Algier vom Generalgouverneur und dem so genannten Gouverneursrat entworfen, wobei dieser Rat nur aus Amtsvorstehern besteht, die jeweils von ihren speziellen Aufgaben ausgelastet sind und weder einen Gesamtüberblick noch Unabhängigkeit besitzen. Was daraus folgt, sind nicht nur schlechte Anordnungen, sondern, schlimmer noch, andauernd veränderte Maßgaben. Im Einzelnen ist die Verwaltung nicht weniger zu tadeln. Man versteht zugleich den Missbrauch, zu dem die militärische Führung neigt, die mit dieser Verwaltung betraut wurde. Diese Unzuträglichkeit fallt aus der Ferne mehr auf als aus der Nähe. Die Armee setzt zwar von Zeit zu Zeit brutale Zwangsmaßnahmen durch, aber das geschieht nicht jeden Tag. Ich bin überzeugt, dass alles in allem die Zivilverwaltung in Algier willkürlicher und schlechter handelt. Nicht, dass sie sich große Willkürakte erlaubt. Aber sie tritt ständig und überall hervor, um unaufhörlich alles zu regulieren, zu dirigieren, zu modifizieren und zu verkehren. Man wird ohne weiteres begreifen, welchen Zwang und welches soziale Unbehagen sie hervorruft, wenn man sich vorstellt, wie unsere französische Verwaltung mit all den herrschsüchtigen, inquisitorischen und schikanösen Zügen, die sie vom Kaiserreich geerbt hat, sowie der Eigenart unnützer Verwaltungsarbeiten, die ihr die Restauration vollends beigebracht hat, in

55 Variante von Tocqueville: und ihre Verwendung.

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einem Land agiert, wo man weder die öffentliche Meinung noch die Zivilgerichte, weder Straf- noch Verwaltungsgerichte anrufen kann.56 Diese Fehler der Institutionen werden um die Laster der Menschen vermehrt. Die Zivilverwaltung von Algier ist im Allgemeinen schlecht besetzt. Das kommt daher, dass man dort eine Menge von Kreaturen unterbringen wollte, die man in Frankreich nicht in aller Öffentlichkeit zu beschäftigen wagte. Die Zivilverwaltung ist außerdem im Verhältnis zur Größe des Landes und zur Einwohnerzahl überproportional groß. Man hat in Algerien mehrere öffentliche Dienstzweige eingerichtet, die eine vollständige, fortgeschrittene Gesellschaft voraussetzen, die aber in dieser kleinen und neuen Gesellschaft nur sehr mühsam etwas finden, womit sie sich beschäftigen können. Stellen Sie also generell in Rechnung: In allen Verwaltungsfragen ist Algier nach Ansicht der Regierung ein Land, das im wesentlichen Frankreich gleicht und in das man alle unsere Verwaltungsstellen und administrativen Gepflogenheiten einfuhren muss. In Fragen der Bürger gilt die Kolonie dagegen durchweg als Ausnahmegesellschaft, in der man keine der Freiheiten und Rechte, die man im Mutterland genießt, gefahrlos bewilligen darf. Algier ist deshalb voller Beamter, und da keiner von ihnen seinen Einfluss auf viele Einwohner geltend machen kann, beliebt es ihnen, sich jederzeit bei jedermann auf jegliche Art bemerkbar zu machen. Dieser Übereifer, bei jeder Gelegenheit bis ins kleinste Detail wirksam zu werden, überall mitzumischen und Sachen wie auch Menschen Tag für Tag zu verwalten, entsteht noch aus einer anderen Ursache: In Algier ist die Zivilverwaltung in einer falschen und demütigenden Position. Sowohl die Armee als auch die Pariser Zentralregierung bedrängen und überschatten sie: Sie sucht durch die ständige Handhabung der kleinen Angelegenheit einen Teil der Bedeutung wiederzuerlangen, der ihr im Großen zustehen müsste. Algerien ist somit ein Land, in dem man keine der großen Sicherheiten und Freiheiten hat, derer man sich in Europa erfreut, dafür aber all die kommerziellen, finanziellen und administrativen Zwänge, die man in seiner Heimat hinter sich zu lassen glaubte und dazu noch viele andere, die man noch nicht kannte.57

56 Anmerkung von Tocqueville: In Algerien gibt es nämlich keine dieser Schranken, die den Behörden in Frankreich gesetzt sind. Wenn sich ein Beamter in Frankreich bei der Anwendung von Gesetzen oder Anweisungen vergreift, legt man Beschwerde gegen dessen Entscheidung beim Staatsrat ein, damit dieser sie korrigiert. Wenn er ein Vergehen oder Verbrechen verübt, zeigt man ihn bei demselben Staatsrat an, um die Erlaubnis zu erhalten, den Delinquenten vor Gericht zu stellen. In Afrika erfüllt der Gouvernementsrat diese verschiedenen Funktionen des Staatsrates; weiß man aber, woraus dieser Gouvernementsrat besteht? Aus allen Amtsvorstehern der verschiedenen Dienstzweige. Das heißt, wenn man sich über Fehlgriffe eines Beamten beschweren will, muss man sich an ihn selbst oder an seinen Vorgesetzten wenden; hat ein Beamter ein Vergehen oder Verbrechen verübt, so muss man bei seinen unmittelbaren Vorgesetzten oder Kollegen um die Erlaubnis zur Strafverfolgung nachsuchen. Habe ich nicht allen Grund zu sagen, dass die inhärenten Fehler unseres Verwaltungssystems in Afrika ungehindert sprießen und dass die Verwaltung dort zusätzlich an den spezifischen Mängeln, die aus den Umständen und dem Land entspringen, krankt? 57 Randbemerkung von Tocqueville: Noch weiter ausführen.

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Man kann zu Recht sagen, dass in Algerien die erste aller zivilen Freiheiten, die individuelle Freiheit, nicht gesichert ist. Nicht genug damit, dass ihr nicht die in Frankreich gegebenen Sicherheiten gewährt werden, sie besitzt nicht einmal diejenigen, welche ihr die meisten absoluten Monarchien des Kontinents zugestehen. Die Dinge sind dort so arrangiert, dass fast das ganze Strafgericht in den Händen der Staatsanwaltschaft liegt. Nicht der Untersuchungsrichter, sondern der Generalstaatsanwalt lässt Beschuldigte festnehmen und inhaftieren. Er zieht das Verfahren so lange hin, wie er will, unterbricht es, wenn es ihm beliebt, oder beschleunigt es. Er allein und nicht die beratende Kammer oder die Anklagekammer entscheidet, ob die vorliegenden Indizien ausreichen, um gegen die Beschuldigten den Prozess zu eröffnen. Er ist es, der den Ausgang des Verfahrens bestimmt und bei der Inhaftierung mitredet, denn in Algerien gibt es den Anwaltsberuf nicht. Die Stelle der Anwälte übernehmen Verteidiger, eine Art öffentliche Bedienstete, die es nur in geringer Zahl gibt und die die Regierung in ihrer Hand hat. So verliert der Franzose, der nach Afrika geht, nicht nur die Sicherheit des Geschworenengerichts und der Unabsetzbarkeit der Richter, die ihm nur schwer erhalten bleiben könnten, sondern auch mehrere andere, sehr wichtige Sicherheiten, die ihm keineswegs verweigert zu werden brauchten. Er wird ohne richterliche Anordnung verhaftet, ohne Einspruchsmöglichkeit in Haft gehalten, ohne vorangegangene Ermittlung durch eine beratende Kammer und eine Anklagekammer vor Gericht gestellt, von einer kleinen Anzahl abhängiger Männer verurteilt und von Anwälten verteidigt, die nicht frei sind. Entgeht er schließlich all diesen Fallen, so kann ihn der Generalgouverneur nichtsdestotrotz je nach Lust und Laune festnehmen, zwangsweise einschiffen und binnen vierundzwanzig Stunden aus der Kolonie abschieben lassen. Ein weiteres, an sich weniger kostbares, vielleicht aber von Menschen, die ihre Heimat verließen, um vermögend zu werden, höher geschätztes Recht, nämlich das Recht auf Eigentum, ist noch weniger gewährleistet. Es wird auf verschiedene Art unablässig bedroht und verletzt: zunächst von der Militärbehörde, die von Zeit zu Zeit für den Dienstbedarf bald Vieh, bald Erntegut beschlagnahmt. Während meines Aufenthalts in Algier habe ich mehrere Fälle selbst miterlebt. So verfährt die Armee nicht nur aus Nachlässigkeit und Nichtachtung der Rechte, sondern, man muss es wohl so sagen, aus Lust. Etwas, das demjenigen, der in Afrika ankommt, besonders auffallt, ist die scheeläugige und feindselige Haltung der Soldaten gegenüber den Siedlern. Ich habe das bereits angemerkt, ich kann es nicht oft genug wiederholen. Dieser Punkt verdient die ganz besondere Aufmerksamkeit der Regierung. Denn da liegt eines der Haupthindernisse für die Kolonisierung. Die Hass- und Neidgefuhle tragen nicht nur die Offiziere im Herzen, sondern auch die Generäle; man wird gewahr, dass sie alle mit einer mehr oder minder geheimen Gereiztheit zusehen, wie die Siedler reicher werden, und gern bei Gelegenheit deren Gewinn schmälern oder deren Unternehmen ruinieren. Wo solche Herren das Regiment fuhren, ist das Eigentum stets in Gefahr; dennoch sage ich hier erneut, wie schon zuvor, dass mir alles in allem die Zivilbehörde noch gefahrlicher erscheint als die Armee. Am meisten bedroht wird das Eigentum nämlich tagtäglich einerseits durch die übermäßige Anwendung zwangsweiser Enteignung seitens der Zivilverwaltung und die Art

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und Weise ihres Vorgehens, andererseits durch die unzureichenden rechtlichen Sicherheiten in Bezug auf das Eigentum. In Algerien vollzieht sich die Enteignung in ungezügeltem Tempo: Der Gouverneur deklariert ein öffentliches Interesse und binnen vierundzwanzig Stunden beschlagnahmt die Verwaltung das Gebäude ohne vorherige Entschädigung. Während dieser vierundzwanzig Stunden hat der Eigner einen Sachverständigen zu stellen, der zusammen mit dem Sachverständigen der Verwaltung den Wert des Gebäudes schätzt. Kann oder will der Eigner keinen Sachverständigen stellen, benennt das Gericht einen solchen für ihn. Auf diese Weise könnte jemand, der für acht Tage Algier verlässt, um nach Toulon zu vereisen, bei seiner Rückkehr ein abgerissenes Haus vorfinden. Überdies ist für bestimmte Häuser, die zwecks Straßenbaus beschlagnahmt werden, gar keine Entschädigung fällig. In der Verfügung von 1834, die in puncto Zwangsenteignung als Gesetz dient 58 , heißt es: für den Fall, dass die Verwaltung zustimmt, für die beschlagnahmten Häuser zu zahlen, behält sie sich das Recht vor, nicht das Kapital zurückzuerstatten, sondern nur den Zins zu zahlen. Ich habe während der kurzen Zeit, die ich in Algier weilte, mehrere solcher Fälle miterlebt, unter anderem folgenden: Das Haus eines Franzosen erschien dem Leiter des Inneren als passender Amtssitz. Er machte ein öffentliches Interesse geltend, war aber nur bereit, Miete zu zahlen. Der Eigentümer war ein armer Mann, der in Algier schlechte Geschäfte gemacht hatte, seine Frau war unlängst dort verstorben. Er wollte Afrika verlassen und nach Frankreich heimkehren. An Mietzins in Algerien lag ihm nichts, er wollte sein kleines Kapital mitnehmen. Aber die Verwaltung gab nicht nach, und der arme Teufel wird dann wohl sonst wohin abgeschoben worden sein. Leicht verständlich ist, weshalb die Verwaltungsangestellten in Afrika für enteignete Häuser lieber Zins zahlen, als das Kapital zu erstatten. Eine Zinsabbuchung fällt im Haushalt der Kolonie kaum auf, und so kann man sich viele Enteignungen leisten, ohne allzu sichtbar die Staatskasse zu belasten. Fürchterlich ist aber nicht nur das Enteignungsgesetz, sondern vor allem dessen tagtägliche Anwendung. Vor allem darin entwickelt die Verwaltung Afrikas eine schädliche Geschäftigkeit. Unvorstellbar ist die frevelhafte Leichtfertigkeit, mit der die Regierung in Algier jeden Tag ihre unerhörte Befugnis, Bürger zu enteignen, ausnutzt. Ihre Pläne ändern sich andauernd, und jede Änderung mündet in Zwangsenteignung, die, kaum verkündet, schon vollstreckt ist. Deshalb kann kein Eigentümer in den Städten und in ihrer Umgebung davon ausgehen, dass er seinen Garten oder sein Wohnhaus behält. In Philippeville habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie man große und schöne Häuser, die neu errichtet worden waren, abreißen ließ, obwohl sie nach einem Bebauungsplan der Verwaltung gebaut worden waren, denn inzwischen hatte die Verwaltung ihre Projekte geändert. Klagen über einen derartigen Machtmissbrauch habe ich aus allen Provinzen gehört. Während ich in Algier war, kam General B. auf die Idee, den Soldaten Ackerland in der Nähe ihrer Lager zuzuweisen. Die Idee war nicht schlecht, aber der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass sie nur auf Neuland in der Umgebung etwas entfernt

58 Gemeint ist wohl die Verfugung vom 17. Oktober 1833 über die Enteignung im öffentlichen Interesse.

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liegender Lager angewandt werden kann. Stattdessen begann man, die Anweisung auch auf die Felder vor den Toren Algiers anzuwenden, das heißt, auf eine beachtliche Menge von bereits bearbeitetem und hochwertigem Grundstückseigentum. Ich habe die Verfugung gesehen, womit die Enteignung dieser Felder angeordnet wurde.59 Ich frage: Kann man sich eine rücksichtslosere, unsinnigere und gefährlichere Maßnahme vorstellen als die Enteignung bereits etablierter Siedler, um auf deren Kosten ein neues Kolonisierungssystem zu erproben? Ich habe gesagt, das Recht auf Eigentum wird in Algerien noch nicht von den in Europa gewohnten rechtlichen Sicherheiten begleitet. In Algerien gibt es nämlich fast ebenso wenig eine Zivilgerichtsbarkeit wie eine Strafgerichtsbarkeit. Statt die rechtlichen Bräuche und Gesetze Frankreichs einfach in die Kolonie zu importieren, hat man sie auf tausenderlei Weise abgeändert, sodass die Rechtsprechung in dieser aus der Vermischung60 von französischer Gesetzgebung und Kolonialverfügung entstandenen Konfusion unsicher schwankt und die Richter nahezu aufs Geratewohl entscheiden. Das haben mir die meisten von ihnen gestanden. Diese Einfuhrung eines neuen Justizsystems ist ein großer Fehler, selbst wenn man annimmt, dass die Neuerungen gut gewesen sind, denn auf nichts achten die ihr Land verlassenden Europäer so sehr, als darauf, dass sie in dem neuen Land wieder jene Rechtsbräuche vorfinden, die sie in der Metropole gewohnt waren. Ich möchte zudem behaupten, dass mehrere dieser Neuerungen aus meiner Sicht an sich selbst sehr unheilvoll sind. Ich erwähne hier die Institution des Einzelrichters. Es ist eine große Frage unter den Gelehrten, ob man statt der vielen Richter, die an den bestehenden Rechtsverfahren beteiligt sind, nicht eher einen einzigen Mann heranziehen und ihm die Gesamtverantwortung auferlegen sollte. So argumentieren etwa die Engländer, und sie fahren gut damit. Aber in England sind diese Menschen, die allein über das Schicksal der Kläger zu entscheiden haben, sehr wenige und sie haben eine sehr hohe Stellung im Staat und beziehen enorme Besoldungen, sodass man sie unter den besten Rechtskundigen und Rechtsanwälten des Landes auswählen kann und die Personen, die der Zuständigkeit des obersten Gerichtshofes unterliegen, alle Sicherheiten haben. Außerdem beurteilen sie in den meisten Fällen nur die Rechtslage, nachdem eine Prüfungskommission den Sachverhalt geprüft hat. Es ist eine recht linkische Nachahmung der Engländer, die Institution des Einzelrichters von ihnen zu übernehmen, wenn dieser ein niederer kleiner Beamter aus den untersten Rängen der Richterschaft oder der Rechtsanwaltschaft ist und man ihm sowohl das Recht, die Sachlage festzustellen, wie auch die Befugnis, die Rechtslage zu beurteilen, zuerkennt. Diese Einzelrichter, die in Afrika unsere obersten Gerichte ersetzen, stoßen bei der Bevölkerung, wie mir scheint, auf großes Misstrauen. Und ich kann nicht umhin hinzuzufügen, dass mir dieses Misstrauen äußerst berechtigt erscheint. Wäre diese neue und außerordentliche Rechtssprechung, die man sich bemüht in der Kolonie zu schaffen, wenigstens wie die unsrige der Aufsicht und Kontrolle des

59 Tocqueville verweist auf die Verfügung des Generalgouverneurs vom 21. April 1841. 60 Variante von Tocqueville: Zusammenstoß.

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Kassationsgerichts unterworfen, so würden sich die Fehler oder Irrtümer der Richter in gewissen Grenzen halten lassen. Aber das königliche Edikt vom ... 184161, das der Kriegsminister unverfroren als Fortschritt ausgab, hat die Berufung in Zivilsachen abgeschafft und den Siedlern so mit einem Schlag die erste aller rechtlichen Sicherheiten genommen, welche die Franzosen besitzen. Dieser Gewaltakt beruhte zum Teil auf dem Wunsch, dem Kassationsgericht die Möglichkeit des Missbrauchs zu nehmen. Ich spreche von dem schrankenlosen Ausbau der Verwaltungsjustiz. In Algerien urteilt der Generalgouverneur in Streitfällen ebenso souverän wie der König in Frankreich. Ohne weiteres begreiflich wird, dass er, wenn die Verwaltung zerstritten ist, dazu neigt, alle Verfahren an sich zu ziehen, die die Behörden betreffen. In Algerien findet er dazu tausenderlei Gelegenheiten, die der König in Frankreich nicht hat. Fast alle Eigentumstitel in Afrika gehen entweder auf den Beylik zurück, den die Regierung vertritt, oder auf die Regierung selbst, die Grundstücke verkauft oder abtritt. Außerdem ist der Staat in Afrika als der Großproduzent und Großverbraucher an fast allen Geschäften beteiligt. Es gibt deshalb kaum Verfahren, die nicht Anlass zu einer amtlichen Auslegung geben und mühelos vor den Regierungsrat gezogen werden können. Nun besteht dieser Regierungsrat, wie ich schon sagte, nicht wie die Rechtsabteilung des Staatsrates aus Verwaltungsbeamten oder dem aktiven Verwaltungspersonal. Ihn bilden vielmehr die Amtsvorsteher, die in den meisten Fällen sowohl als Richter wie auch als Rechtspartei fungieren können. Gibt es in Frankreich noch die Fiktion, wonach die Verwaltungsjustiz sozusagen als unbeteiligter Dritter zwischen Bürgern und Staat stehen soll, so ist sie hier verschwunden, und sichtbar wird nur, dass die Verwaltung in eigener Sache entscheidet und die zivile Rechtsbehörde allmählich aufhebt, um sich selbst an deren Stelle zu setzen. Ich habe bislang eine Reihe relativ schwerwiegender sozialer Missstände geschildert, doch ich habe noch nicht ihren größten Fehler genannt: der darin besteht, dass sich die Zustände jeden Tag ändern können und auch tatsächlich ändern. Nicht nur, dass die Siedler die schützenden Institutionen in Algerien nicht vorfinden, die in ihrer Heimat existieren, sie wissen auch nicht, was für Behörden sie morgen haben werden. Kein Teil der französischen Gesellschaft in Algerien beruht auf dem Gesetz. Das königliche Edikt regelt seinerseits nur einige Angelegenheiten; mehrere der wichtigsten werden nur geregelt durch Ministerialverfügungen, die im Dämmerlicht eines Büros von einem Tag auf den anderen, je nach Laune eines Angestellten, abgeändert werden können. Die Urkunde, die den Generalgouverneur bevollmächtigt und ihm erlaubt, allgemeine Regelungen zu erlassen, Strafen zu verhängen, Steuern einzuführen, Dienstzweige zu schaffen, jemanden nach Belieben aus der Kolonie abzuschieben; diese Urkunde, die ihm so exorbitante Befugnisse verleiht, ist selbst nur eine Ministerialverfugung. Unbeständig ist demnach

61 Leerstelle im Text. Es handelt sich um das Edikt vom 28. Februar 1841. Siehe: Jean-Baptiste Duvergier, Collection complete des lois, decretes, traites internationaux, arretes, circulaires: avec un choix d'actres inedits, d'instruction ministerelles, et des notes sur chaque loi, Paris 1841, S. 94-101.

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nicht nur die Verwaltung an sich, unbeständig ist auch die Gesetzgebung. Die Fundamente der Gesellschaft haben keinen festen Boden und werden in der Tat fortwährend umgestoßen. Das ist ein großes Übel, selbst in etablierten Gesellschaften, wo immerhin Sitten, Traditionen und Bräuche an Gesetzes statt existieren; absolut untragbar jedoch ist solch ein Zustand in einer gerade erst entstehenden Gesellschaft, deren naturgemäß lose Elemente besonders fest und unveränderlich zusammengefügt werden müssen. Die Wahrheit ist, dass es in Afrika das, was Europäer unter einer Gesellschaft verstehen, noch gar nicht gibt. Es gibt dort Individuen, aber keinen sozialen Körper. Für mich, das erkläre ich ganz bewusst und nach reiflicher Prüfung, steht fest: Wenn mir beschieden wäre, an der Küste Afrikas leben zu müssen, würde ich lieber unter der Herrschaft von Tunis wohnen als unter der Regentschaft von Algier. Dass so wenige Siedler nach Algerien kommen, überrascht mich nicht, erstaunlich finde ich, dass überhaupt jemand dort hingeht und bleibt. Das ist nur mit Unwissenheit oder Verlegenheit zu erklären.

[III. Notwendige Reformen] Veränderungen in der Gesetzgebung Ich habe an passender Stelle gesagt, was getan werden könnte, um das Land mit einer kleineren sowie weniger kostspieligen und verlustreichen Armee zu besetzen. Ich habe ebenfalls gesagt, worin meines Erachtens die materiellen Voraussetzungen für den Erfolg der Kolonisierung bestehen. Ich habe gezeigt, dass es noch nicht genügt, diese Bedingungen zu erfüllen, weil die Gesetzgebung des Landes noch keine Garantie dafür bietet, dass die materiellen Vorteile, die die Regierung womöglich verspricht, erhalten bleiben. Die Vorteile allein, so erheblich sie auch sein mögen, können nicht bewirken, dass sich eine große europäische Bevölkerung dauerhaft an der Küste Afrikas ansiedelt. Ich muss noch angeben, welchen notwendigen Änderungen die Gesetzgebung unterzogen werden müsste. Was für Institutionen man auch immer in Algerien errichten mag, das wichtigste ist, dass sie im Voraus wohlbekannt sind und dass man auf ihre Dauerhaftigkeit setzen kann, denn Unübersichtlichkeit und Unbeständigkeit des Gesetzes sind das schlimmste aller sozialen Übel. Um dahin zu gelangen, gibt es nur ein Mittel: das Gesetz oder zumindest das königliche Edikt zur Grundlage der kolonialen Gesellschaft zu machen. In Algerien wird nie etwas Dauerhaftes entstehen, bevor nicht die Legislative die Form und die Grenzen der verschiedenen in der Kolonie regierenden Gewalten bestimmt hat. Auch in Frankreich ist die Gesetzgebung sehr wechselhaft, doch wie die Erfahrung lehrt, war das, was sich darauf gründete, immerhin noch unendlich beständiger als alles andere. Weshalb sollten die Kammern bei einer so großen und so lebenswichtigen Frage

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ausgeschlossen werden? Weshalb sollten sie nicht die Schranken setzen, innerhalb derer dann das königliche Edikt und die Ministerialverfugung angewendet werden können? Ich sehe keinen einzigen guten Grund, um zu verhindern, dass dies so sein sollte. Man sagt, die französische Gesellschaft in Afrika müsse im Ausnahmezustand belassen werden. Einverstanden. Aber dennoch ist es notwendig, im Voraus und zuverlässig anzugeben, worin die Ausnahme besteht und wo die Regel gilt. Was soll schwierig daran sein, das, was diejenigen Grundverordnungen, die den Aufbau und die Teilung der Gewalten betrafen, bereits begründet haben, nun durch das Gesetz zu etablieren? Ist es nicht unsinnig, die Befugnisse des Generalgouverneurs durch eine simple Verfugung zu regeln? Jenes Vorgehen wäre nicht nur insofern nützlich, als es der Regierung der Kolonie eine feste Grundlage böte, sondern auch insofern, als es den Ausländern und den Siedlern selbst beweisen würde, dass sich Frankreich in der Frage der Inbesitznahme und Kolonisierung Afrikas sichtlich engagiert.62 Im jetzigen Zustand der kolonialen Gesellschaft kann das Gesetz mit nur wenigen Verordnungen sehr weitreichend angewendet werden. Ist dieses durchgesetzt, verbleiben noch sehr wichtige, wiewohl geringfügigere Punkte, die dem königlichen Edikt oder dem Ministerialerlass zu überlassen sind. Ich habe bereits bemerkt, dass der Generalgouverneur aufgrund seiner Befugnisse oder, um diese zu erweitern, rater dem Vorwand der Dringlichkeit regelrechte Verwaltungs-, Steuerund sogar Strafgesetze erlässt. Das sind offenkundige Hoheitsrechte, deren Ausübung den nationalen Gewalten zu überlassen sind. Ich bin nicht dagegen, dass man die Dringlichkeitsregelung beibehält. Sie ist notwendig; aber statt zu sagen, dass die im Dringlichkeitsfall erlassene Verfugung von der Regierung bestätigt werden müsse, um gültig zu sein, muss man eine Frist setzen, jenseits derer diese Verfugung nicht mehr rechtskräftig ist, wenn sie nicht ratifiziert wurde. Was die Teile der Verwaltung angeht, würde ich sie fast alle in Algier zentralisieren. Ich komme wieder auf den Punkt, den ich bereits erwähnt habe: ich würde die Regierungsbefugnisse des Generalgouverneurs einschränken und seine administrativen Befugnisse erweitern. Seine Leitung würde dadurch regelmäßiger und fester, weniger willkürlich und viel wirksamer. Die Rechte der Bürger wären besser gewährleistet und die öffentliche Macht würde gestärkt. Nächst der Frage, welche Rolle der Zentralregierung bei der Verwaltung der Kolonie einzuräumen sei, ist zu klären, wer der Repräsentant der Zentralregierung sein soll. In dieser Sache ist der gegenwärtige Zustand absolut unhaltbar. Das Zivilregime in Afrika den Büros des Kriegsministeriums zu übertragen, bedeutet einerseits anzustreben, dass die Sachen schlecht erledigt werden, und andererseits, dass niemand für diese schlechte Erledigung verantwortlich gemacht werden kann. Es liegt auf der Hand, dass die Männer, die am wenigsten dazu geeignet sind, eine bürgerliche Gesellschaft und auch eine koloniale bürgerliche Gesellschaft aufzubauen und zu ersinnen, die Angestellten des Kriegsministeriums sind. Es besteht eine natürli62 Anmerkung von Tocqueville: Zum Teil deswegen will man es nicht und wird man es nicht tun.

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che Abneigung zwischen den vorgefassten Meinungen und erworbenen Gewohnheiten dieser Menschen und der Aufgabe, die man ihnen stellt. Außerdem ist niemand fur ihre Fehlgriffe verantwortlich. Wie groß das Projekt Algier auch immer sei, es bleibt in dem riesigen Komplex des Kriegsministeriums doch nur ein Teil und, ärger noch, ein fremder Teil, sodass ein Generalfeldmarschall ein ausgezeichneter Kriegsminister sein kann und doch von diesem Teilgebiet überhaupt nichts verstehen muss. Das ist nicht nur möglich, sondern den Kammern bekannt und vom Minister auch beinahe zugegeben worden, womit seiner Verantwortlichkeit jede Verhältnismäßigkeit abgeht. Wünschenswert wäre, dass Algerien, dem man auch alle anderen Kolonien zufügen könnte, ein gesondertes Ministerium bilden würde.63 Hält man es jedoch für unmöglich, die algerischen Obliegenheiten während des jetzigen Kriegszustandes ganz dem Kriegsministerium zu entziehen, so ist es doch dringend geboten, in diesem Ministerium einen Unterstaatssekretär für Afrika einzusetzen, dessen einzige Aufgabe darin besteht, die Kolonien zu verwalten und den Kammern Rechenschaft über die Art und Weise dieser Verwaltung zu geben. Die Regierung Algiers muss ein Politiker repräsentieren, an den man sich ständig wenden kann. Vor allem ist es geboten, den notorisch unwürdigen Herrn Laurence64 fortzujagen, dessen Ehrlosigkeit allgemein bekannt ist. Ich glaube, dass die Regierung Algeriens in Paris in den Händen eines verantwortlichen Beamten zusammengeführt werden muss. Ich glaube ebenso, dass es notwendig ist, die Verwaltung in Algier in den Händen eines einzigen Beamten zu bündeln, der den Leitern aller Dienstzweige einen gemeinsamen Impuls zu geben hat. Soll dieser Beamte auch der Gouverneur sein? Mit anderen Worten, kann man einem Zivilbeamten die generelle Aufsicht über unsere Vorhaben in Afrika übertragen? Ich war lange gegenteiliger Ansicht. Doch die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema führt mich von Tag zu Tag mehr zu der Überzeugung, dass das Einsetzen eines zivilen Gouverneurs nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass, solange die Führung dem Militär überlassen bleibt, die Kolonisation, unser Hauptanliegen, nicht oder nur schlecht umgesetzt wird; sei es, weil der Gouverneur weder das nötige Wissen hat, noch die Notwendigkeit sieht, solch ein Unternehmen erfolgreich zu leiten, sei es, weil er nicht die Zeit hat, sich darum zu kümmern. Der Krieg wird, was auch immer geschieht, sein Hauptanliegen sein. Einer Zivilverwaltung unter militärischer Leitung den ihr zukommenden Platz einräumen zu wollen, scheint mir, nahezu unmöglich zu sein. Ein Gouverneur der Armee wird die Zivilregierung nie richtig ausführen. Ist es aber auch wahr, dass ein ziviler Gouverneur (insbesondere nach dem Sturz Abd el-Kaders, wenn er sich denn ereignen sollte) nicht in der Lage ist, die Aufgaben der Armee zu bestimmen und zu überwachen? 63 Ein gesondertes Ministerium fur Algerien zu bilden oder, in Ermangelung dessen, das Präsidium des Ministerrates für Algerien zuständig zu machen, hatte Marschall Valee (1773-1846), damals Generalgouverneur Algeriens, in einem Bericht vom 27. Juli 1838 gefordert. 64 Justin Laurence (1794-1863), Abgeordneter der Assemblee Nationale, war ab 1837 Directeur des affaires d'Afriques.

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Wenn Sie aus unserem zivilen Gouverneur einen zweitrangigen Beamten machen, etwa einen Präfekten, dessen Gewohnheiten und Stellung allgemeine Fähigkeiten und politische Abwägungen fern liegen, dann verstehe ich das. Wenn Sie die Regierung Algiers aber zu einer der höchsten Staatsstellungen erheben und diese Regierung einem ihrer wichtigsten Politiker anvertrauen, sollte dann solch ein Mann nicht imstande sein, zu beurteilen, wann und wie Krieg geführt werden muss, selbst wenn er das Handwerk nicht im einzelnen kennt, und den Generälen, die die Truppen fuhren, nicht als Zentrum dienen kann? Dupleix, der kurz davor stand, Indien für Frankreich zu erobern, war kein General.65 Die englischen Gouverneure Indiens, die in einer Reihe erfolgreicher Kriege schließlich ein riesiges Imperium in diesem Weltteil geschaffen haben, hatten fast alle keine militärische Ausbildung; um Krieg zu fuhren, muss man General sein, aber um zu wissen, unter welchen Umständen es sich anbietet, ihn zu fuhren, muss man es nicht sein, womöglich ist es sogar schädlich. Ein Militärgouverneur kann um seiner selbst willen Krieg fuhren wollen, ein ziviler Gouverneur wird das jeweils nur um der Kolonie willen tun. In dieser Sache muss man übrigens je nach den Umständen verfahren. Wenn sich ein General mit Sinn für die zivile Verwaltung fände, müsste man ihn gewiss schleunigst an die Spitze unserer Vorhaben in Afrika stellen. Aber auf diesen Zufall darf man nicht setzen. Ich sehe voraus, dass die Schaffung einer Zivilregierung bei der Regierung und vielleicht sogar in der öffentlichen Meinung auf sehr große Hindernisse stoßen wird. Auf jeden Fall muss, wenn die allgemeine Leitung einem Militär überlassen bleibt, wenigstens die Zivilverwaltung in den Händen eines Beamten konzentriert werden, der an der Spitze aller Dienstzweige diesen eine gemeinsame und dauerhafte Ausrichtung gibt. Das ist dringlich und duldet keinen Aufschub. Eine weitere Handlung ist nicht minder dringlich: die Bildung eines Regierungsrates, der anders zusammengesetzt ist, als der bestehende, und über weitreichendere Befugnisse verfügt. Die Zivilverwaltung hat zweierlei Obliegenheiten: die Entscheidung im eigentlichen Geschäftsbereich, d.h. in Einzelfallen; des Weiteren die Angabe von allgemeinen Regeln, die für Beamte oder Bürger bindend sind. Letztere sind gleichsam Gesetze, die den Aufgabenbereich von Legislative und Exekutive berühren. Ich habe gesagt, dass die wichtigsten dieser Richtlinien, die für Algerien gelten sollen, nicht vom Gouverneur der Kolonie, sondern von der zentralen Regierung festgesetzt werden müssten: einige vom König, andere von den Kammern. Unbestreitbar ist jedoch, dass die meisten davon in den Wirkungsbereich der kolonialen Behörde eingreifen werden. 65 Joseph Francis Dupleix (1696-1763) wurde 1742 Generalgouverneur der französischen Besitzungen in Indien. Er konnte nicht nur die britische Belagerung von Pondichery abwehren, sondern auch große Teile Südindiens (Karnatakka und sechs Provinzen des Dekkan-Gebiets) annektieren. Nach einem britischen Gegenfeldzug wurde er vom französischen König und der Compagnie des Indes öffentlich angeprangert und sogar um die Gelder gebracht, die er der Compagnie geliehen hatte. Er kehrte 1755 nach Frankreich zurück.

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In den meisten Ländern der Welt bestehen neben der Exekutive Körperschaften, die dazu da sind, die Nützlichkeit der Bestimmungen zu beurteilen und deren Abfassung vorzubereiten oder zu kontrollieren. Das ist eine der großen Funktionen des Staatsrates in Frankreich. Etwas Vergleichbares ist in einem Land notwendig, in dem die Zivilverwaltung einer militärischen Gewalt anvertraut ist. Daher hat man dem Generalgouverneur einen Rat beigesellt, dessen Meinung er in bestimmten Fällen einzuholen hat. Aber dieser Rat besteht ganz und gar aus den Leitern der Dienstzweige.66 Infolgedessen bietet er keinerlei Sicherheit. Die mit den laufenden Geschäften ausgelasteten Beamten haben weder die Zeit noch die geeignete Einstellung, um die allgemeinen Richtlinien vernünftig zu prüfen.67 Es ist dringlich, dieser militärischen Gewalt, der man das Recht gibt, Zivilgesetze zu verkünden, einen Rat an die Seite zu stellen, der sie in dieser Sache effektiv leiten und mäßigen kann, das heißt, er muss aus Männern bestehen, die keine Funktionen ausüben und unabhängig sind. Der Gouverneur darf gewiss nicht in Abhängigkeit von diesem Rat gelangen, aber in Sachen, wo er das Gutachten dieses Rates einzuholen hat und damit nicht einverstanden ist, darf ihm nicht erlaubt sein, sich darüber hinwegzusetzen; er muss den Fall dann der zentralen Regierung weiterleiten. Ist ein derartiger Rat schon notwendig, um die Verfügungen der öffentlichen Verwaltung vorzubereiten, so ist seine Zusammensetzung erst recht erforderlich, weil er dazu bestimmt ist, die Obliegenheiten der Verwaltungsjustiz auszuüben. In Frankreich haben bereits in der ersten Instanz aktive Angehörige der Verwaltung nichts zu entscheiden. Die Rechtsbeistände der Amtsbezirke, denen so viele Sicherheiten fehlen, besitzen wenigstens diese. In Algier gibt es auch diese nicht, und ich habe gezeigt, weshalb sie dort tausendmal nötiger sind als in Frankreich, weil der Kreis der Verwaltungsjustiz dort natürlich viel weiter gezogen wurde und es viel leichter ist, das so genannte Recht zu missbrauchen. Sicherheiten, die den Bürgern einzuräumen sind Derart müsste also, glaube ich, die Regierung verfasst sein. Hier nun meine Überlegungen zu den Sicherheiten anderer Art, die den Bürgern gewährt werden sollten: Ich finde, dass man die Notwendigkeit, in Afrika erheblich anders zu verfahren als in Frankreich, grenzenlos übertreibt. Die Beamten, die man nach Algerien geschickt hat, 66 Der Verwaltungsrat war als Beirat des Gouverneurs durch das Edikt vom 22. Juli 1834 gebildet worden. Er umfasste den Gouverneur als Vorsitzenden, den kommandierenden General, den Konteradmiral, den Generalstaatsanwalt und den Zivilintendanten. Der Gouverneur, der in letzterem einen Rivalen erblickte, erreichte mit dem Edikt vom 31. Oktober 1838, dass dieser ausgeschlossen und der Gouvernementsrat so reorganisiert wurde, dass er aus drei Unterstellten bestand: dem Leiter des Inneren, dem Leiter der Finanzen und dem Generalstaatsanwalt. Diese Regelung blieb bis zum 15. April 1845 bestehen. 67 Unvollendete Anmerkung von Tocqueville: Zum Staatsrat werden die Leiter der Dienstzweige in Frankreich nur geladen, um dem Rat die speziellen Informationen, die sie besitzen, zu erläutern; die nicht in aktiven Funktionen tätigen Staatsratsmitglieder ...

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hatten viel Anlass zu behaupten, dass sie ganz außerordentliche Vollmachten erhalten müssten, denn das war sehr komfortabel für sie, und sie fanden es sehr angenehm, außerhalb unserer unbequemen Gesetzlichkeit zu leben. In Frankreich hat die Öffentlichkeit, die im Grunde eine gewisse naturgegebene Vorliebe für gewaltsames und entschlossenes Vorgehen hegt, solange sie nicht selbst die Leidtragende ist, sich beeilt, ihnen aufs Wort zu glauben. Man kam letztlich zu dem Schluss, dass es angebracht sei, in Afrika anders zu verfahren als in Frankreich; man erhob die Ausnahme zum Maßstab. So hat, wie ich schon gesagt habe, Algerien alle bekannten Rechte erhalten, als es um den Wirkungsbereich der Regierung ging, aber es ging leer aus bei den Sicherheiten, die unsere Gesetze den Bürgern bieten. Ich glaube, das sind falsche Ansichten und sehr unvernünftige Vorgehensweisen. Ich habe bereits mehrmals gesagt und will es nochmals sagen: Wenn man eine Kolonie gründen und rasch entwickeln will, ist es am wichtigsten, dass die Neuankömmlinge von der Heimat so wenig wie möglich entwurzelt werden und, wenn es irgend geht, ein vollkommenes Abbild derselben vorfinden. Alle Kolonialvölker haben so gehandelt. Die tausendfach von den Griechen an den Küsten des Mittelmeeres gegründeten Kolonien waren alle buchstäblich Kopien jener Stadtstaaten, aus denen sie stammten. Die Römer haben an fast allen Orten der ihnen bekannten Welt Gemeinden gegründet, die nichts anderes waren als Rom in Miniatur. In der Neuzeit sind die Engländer stets ebenso verfahren. Was hindert uns, diese Beispiele in Afrika nachzuahmen? Wenn ich mich nicht irre, sind die Gutgläubigen aus den folgenden zwei Gründen überzeugt, dass in Algerien alles ganz anders sein müsse als in Frankreich: 1. Da die Bevölkerung der Kolonie aus Arabern und Europäern, Muslimen und Christen bestehe, könne man sie nicht in derselben Weise regieren wie unsere homogenen Gesellschaften. 2. In der gefährlichen Lage, in der sich unsere Kolonie befinde, eingekreist von bewaffneten Feinden, gegen die sie jederzeit Krieg führen müsse, sei es notwendig, ihre Regierung mit außerordentlichen Vollmachten auszustatten, worauf die unsere verzichten könne. Den ersten Einwand können nur Leute vorbringen, die noch nie in Afrika waren. Wer dort gewesen ist, weiß, dass die muslimische Gesellschaft und die christliche Gesellschaft leider in keinerlei Verbindung stehen, dass sie zwei nebeneinander, aber vollkommen getrennt existierende Organismen bilden. Er weiß, dass sich dieser Zustand aus Ursachen, gegen die man nichts tun kann, tendenziell von Tag zu Tag zuspitzt. Der arabische Teil isoliert sich immer mehr und löst sich allmählich auf. Die muslimische Bevölkerung nimmt tendenziell ständig ab, während die christliche Bevölkerung unaufhörlich weiter wächst. Die Verschmelzung dieser beiden Populationen ist ein Hirngespinst, das man sich erträumt, wenn man nicht vor Ort gewesen ist. Es kann und muss also in Afrika zwei sehr verschiedene Gesetzgebungen geben, weil dort zwei streng geschiedene Gesellschaften bestehen. Sofern es um die Europäer geht, hält uns also absolut nichts davon ab, sie so zu behandeln, als ob sie allein wären, weil die für sie aufgestellten Regeln immer nur für sie gelten müssen.

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Den zweiten Einwand, dem zufolge der Kolonie von innen Gefahr drohe, wenn die Regierung nicht mit außerordentlichen und willkürlichen Befugnissen ausgestattet sei, finde ich kindisch. Wir haben in Afrika viermal soviel Soldaten wie Siedler. Letztere sind dermaßen zwischen den Arabern und dem Meer platziert, dass sie jederzeit das Bedürfnis verspüren, die Macht, die sie verteidigt, zu unterstützen und ihr zu helfen. Man wird mir nicht einreden, dass es außer 80.000 Soldaten noch einer gewaltsamen, irregulären und willkürlichen Zivilregierung bedarf, um die Ordnung unter solch einer Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Das, ich wiederhole es, ist kindisch. Es darf also nicht heißen, die soziale Struktur in Afrika müsse, abgesehen von einigen Gemeinsamkeiten, eine Besonderheit bleiben, sondern im Gegenteil: Abgesehen von einigen Besonderheiten müssen die Geschäfte in Afrika ebenso wie in Frankreich geführt werden. Dass es diese Besonderheiten geben muss, gebe ich durchaus zu. Aber bereits dieser eine Unterschied im Ansatz würde bald zu einem enormen Unterschied im Handeln fuhren. Welche Besonderheiten halte ich also fur erforderlich? Wie bereits gesagt, glaube ich nicht, dass man zurzeit unsere großen politischen Errungenschaften in Afrika einfuhren kann: das Wahlsystem, die Pressefreiheit, das Geschworenengericht. Diese Institutionen werden im Kleinkindalter der Gesellschaften nicht gebraucht. Umgekehrt gibt es einige Freiheiten, die man in Frankreich nicht gewährt, in Afrika aber ohne Nachteile einräumen könnte. Ich nenne zum Beispiel die Lehrfreiheit.68 Ist es nicht unsinnig, andauernd nur davon zu reden, dass man in Afrika Ausnahmen machen müsse, und zugleich die universitären Sonderrechte Frankreichs dorthin zu übertragen? Heißt das nicht, auf der einen Seite die Anpassungslust bis ins Extrem zu steigern, während man sich andererseits so maßlos am Neuen erprobt? Wenn es irgendeinen Ort auf Erden gibt, wo man die Lehrfreiheit zulassen muss, dann ist das gewiss Algerien, wo die Bedürfnisse in dieser Hinsicht so unterschiedlich, so veränderlich und so verschieden von denen sind, die man in Frankreich empfindet. Wie dem auch sei, so kann man doch verallgemeinernd sagen, dass alle politischen Freiheiten in Algerien aufgehoben werden müssen. Doch bei fast allen anderen, dafür stehe ich ein, wäre es nur vorteilhaft und keineswegs nachteilig, in Afrika das, was es bei uns gibt, getreu zu reproduzieren. Die Siedler fordern seit langem die Bildung irgendeiner Körperschaft, die als ihr Sprachrohr bei der Regierung fungieren könnte. Eine Verfugung hat allen Zivilbeamten und Militärs untersagt, Besitz in Afrika zu erwerben.69 Daraus ergibt sich, dass alle

68 Randbemerkung von Tocqueville: Man könnte weitere Beispiele finden. 69 Siehe Artikel 26 des Edikts vom 1. Oktober 1844 zum Recht auf Eigentum in Algerien, in: JeanBaptiste Duvergier, Collection complete des lois, decretes, traites internationaux, arretes, circulaires: avec un choix d'actres inidits, d'instruction ministerelles, et des notes sur chaque loi, Paris, 1844, S. 482f.: „Kein Offizier der Land- oder Seeestreitkräfte, kein Beamter oder Angestellter im Militäroder Zivildienst darf während seiner Dienstzeit in Algerien Grundstücke direkt oder indirekt, selbst oder durch Mittelspersonen erwerben oder länger als auf neun Jahre Pächter oder Mieter solcher Besitztümer werden, sofern er nicht von unserem Kriegsminister eine Sondergenehmigung erhalten hat."

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Beamten der Kolonie nicht weiter mit ihr verbunden sind, dass sie während ihres dortigen Aufenthalts weder die Interessen noch die Gedanken der Einwohner teilen können und dass sie im Grunde dort nur auf der Durchreise sind. Die Siedler können zu Recht behaupten, dass eine so verfasste Verwaltung ihre Bedürfnisse nur sehr unzureichend zu berücksichtigen vermag. Sie fordern eine Art von Kolonialrat, der aus einer gewissen Anzahl nicht gewählter, sondern vom Gouverneur ernannter Vertreter gebildet wird, und der unter bestimmten Umständen Wünsche äußern dürfen soll; ähnlich etwa wie die Industrie- und Handelskammern in Frankreich. Anscheinend hatte sich Marschall Valee70, als man ihn abberief, gerade damit beschäftigt, solch eine indirekte Vertretung zu schaffen. Es ist sehr zu wünschen, dass dieses Vorhaben wieder aufgenommen wird. Die Existenz dieses Rates würde viele übertriebene Befürchtungen mildern und viele Vorurteile zerstreuen, die heute auf beiden Seiten eine verdeckte aber fortdauernde Rivalität zwischen der Regierung und der Bevölkerung, die sie führen soll, hervorrufen. Ebenso dringlich, wichtig und unaufschiebbar ist die Schaffung oder vielmehr die Wiederherstellung einer Stadtverwaltung. Alle Kolonien sind anfangs Gemeinden gewesen; dem Gemeindegeist verdankten und verdanken sie ihre Entstehung und Entwicklung. Man hat in den letzten Jahren erlebt, wie die Regierung diesen in Afrika ruinierte, indem sie den Stadtrat in Algier beseitigte und gewissermaßen seine Grundvoraussetzungen verschwinden ließ, als sie die kommunalen Einnahmequellen in Paris zentralisierte. Das ist ein abscheulicher Zustand, der schleunigst geändert werden muss. Meines Erachtens spricht kaum etwas dagegen, die Gemeindevertreter (nicht den Bürgermeister) von der Bevölkerung selbst wählen zu lassen. Aber ich gebe zu, dass die Bevölkerung noch nicht homogen genug ist, um Nachteiliges an einer Wahl auszuschließen. Setzen Sie also nicht auf gewählte Stadträte. Aber lassen Sie wenigstens ausgewählte zu und übertragen Sie diesen Räten, von denen Sie nichts zu befürchten haben, weil sie von Ihnen bestimmt wurden und von Ihnen abhängig sind, die Sorge für die Verwendung der Gemeindeeinnahmen. Bemühen Sie sich, die Einwohner an diesen neuen Boden zu binden, indem Sie ihnen zu kollektiven Interessen und gemeinsamem Handeln verhelfen. Eben an jenen Interessen und Aktionen fehlt es, doch ohne sie kann man keine Gesellschaften schaffen. Es ist ein Fehler zu glauben, dass die städtischen Befugnisse in Algerien geringer sein müssten als in Frankreich. Sie müssen im Gegenteil größer sein. Eine aktiver Stadtrat ist dort notwendiger und weniger gefahrlich als anderswo: notwendiger, weil dort ein soziales Leben, das noch nicht existiert, geschaffen werden muss; weniger gefahrlich, weil nicht zu befürchten ist, dass die städtische Freiheit dort zur politischen Unabhängigkeit führt. Die Umstände, in denen sich Algerien befindet, die geringe Anzahl der Siedler, ihre Isolierung, die Stärke der Armee, die unumgängliche Dominanz des militärischen Denkens und der Militärverwaltung werden der Regierung dort immer eine unwiderstehliche Macht geben. Man will andauernd zwei deutlich verschiedene Vorstellungen verschmelzen: die Militärregierung jeder Örtlichkeit und ihre zivile Verwaltung. Dass man den Siedler in 70 Sylvain-Charles, Comte Valee (1773-1846), kommandierte 1837 die Reiterei im Sturm gegen Constantine. Nach dem Tod von General Denis de Damremont übernahm er dessen Posten.

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Algerien zu bestimmten militärischen Gepflogenheiten nötigen muss, ihn verpflichten muss, hinter Mauern zu wohnen, sich dort zu schützen und zu verteidigen, oder sogar, in bestimmten Fällen, seinen Wohnsitz zu verlassen und sich dem Ganzen der Armee anzuschließen, das liegt auf der Hand. Dass in jedem Dorf ein Bevollmächtigter der Militärregierung dafür zu sorgen hat, dass diese Pflichten eingehalten werden, dazu gibt es keine Alternative. Aber daraus folgt nicht, dass auch die Verwaltung des kommunalen Eigentums, die Sorge für die öffentlichen Bauvorhaben und die Schutzpolizei der Stadtgemeinde in seiner Hand liegen müssen. Das sind ihrer Natur nach deutlich verschiedene Dinge, die auseinander gehalten werden können und müssen. Wenn nun den Siedlern in Algerien mehrere der größten und kostbarsten Freiheiten, die man in Frankreich genießt, nicht eingeräumt werden können, so gibt es doch keinen annehmbaren Grund dafür, ihnen die beiden großen bürgerlichen Freiheiten zu nehmen, die sogar in den absoluten Monarchien gegeben sind und nach Ansicht von Europäern ein Land erst fur sie bewohnbar machen. Ich meine die Freiheit der Person und des Eigentums. Die Freiheit der Person ist nicht gewährleistet, weil ein Wort des Gouverneurs reicht, um jemandem augenblicklich sein Eigentum und seine Familie zu nehmen und ihn ohne Prozess des Landes zu verweisen. Sie ist nicht gewährleistet, weil die Judikative so aufgebaut und das Strafverfahren so geartet ist, dass jeder von den Behörden, die keinerlei Sicherheit bieten, willkürlich festgenommen, festgehalten und verurteilt werden kann. Das Eigentum ist ständig in Gefahr wegen des Missbrauchs der zwangsweisen Enteignung im öffentlichen Interesse, der angewandten Beschlagnahmungen, der unkontrollierten Rechtsprechung und der Natur der Verwaltungsgerichte sowie wegen des Fehlens einer wirklichen Zivilgerichtsbarkeit. Weil diese Übelstände wohlbekannt sind, sind Abhilfen denkbar. Das fürchterliche Recht des Gouverneurs, jemanden nach Belieben aus der Kolonie auszuweisen, muss eingeschränkt, wenn nicht abgeschafft werden. Dazu gibt es zwei Mittel: 1. ihn zu verpflichten, seinen Ausweisungsbescheid zu begründen und ihn im Moniteur de France zu veröffentlichen; 2. den Bescheid außer Kraft zu setzen, sofern diese Verordnung nicht innerhalb einer gesetzten Frist durch eine Ministerialverfügung amtlich bestätigt wird. Mittels eines Gesetzes oder wenigstens eines königlichen Edikts sind weniger schnelle und ungezügelte Enteignungsformen als die in Algerien gebräuchlichen durchzusetzen. Auferlegt werden muss die Pflicht, den wirklichen Preis für ein Haus zu zahlen. Die Verkündung des öffentlichen Interesses ist an bestimmte Formalitäten zu binden, die verhindern, dass sie so leichtfertig gehandhabt wird wie heute. Dem Recht, Menschen und Tiere für den Armeedienst zu requirieren, sind bestimmte Grenzen zu setzen, damit es nur sehr selten gebraucht wird. Hierzu habe ich von sehr intelligenten Offizieren sehr befangene Argumente gehört. Sie sagten, weil es das erste Interesse der Siedler sei, dass ihr Gebiet verteidigt werde, wäre es seltsam, wenn sie es ablehnten, die Armee bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Wer sieht denn nicht, dass man

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sich in einer Kolonie niederlässt, um sich zu bereichern, und nicht, um Krieg zu fuhren, und dass niemand dorthin kommen wird, wenn er von vornherein weiß, dass er jederzeit seine Rinder, seine Pferde und seine Ernten einbüßen kann, weil die Armee sie für ihren Dienst einzieht? Wenn die Armee weiter auf diese Ressourcen zurückgreifen will, wird sie bald eine Wüste zu verteidigen haben. Andere sagen, es wäre eine große Ersparnis für die Staatskasse, auf die Ressourcen an Ort und Stelle zurückzugreifen, anstatt sie von weither zu holen. Ein unsinniges Argument: Das kostspieligste, was Frankreich tun kann, ist sicherlich, seine Kolonie menschenleer zu lassen und zu verhindern, dass sie sich bevölkert. Das sind lauter Argumente von ungebildeten Menschen, die der Gegenwart zuliebe die Zukunft aufopfern. Um der Freiheit und dem Eigentum der Menschen die Sicherheiten zu bieten, die man mit Recht von der Regierung in jedem zivilisierten Land fordern kann, muss vor allem eine wirkliche Rechtsprechung anstelle des zur Zeit in Afrika vorhandenen Blendwerkes eingeführt werden. Ich habe diese Frage sehr eingehend untersucht, und ich erkläre, dass ich keinen einzigen gewichtigen Grund sehe, der uns daran hindern sollte, unser gesamtes Rechtssystem, bis auf sehr wenige Ausnahmen, auf Afrika zu übertragen; ich würde es meinerseits nicht schwierig finden, die Richter in Algerien unabsetzbar zu machen, vorausgesetzt, dass man sie anders auswählt, als es bisher bei den meisten geschehen ist. Ich verstehe jedoch, dass man den Richtern die Unabsetzbarkeit nicht zuspricht, solange man die Wirkungen, die die Übernahme unseres Rechtssystems hervorbringen würde, noch nicht recht beurteilen kann. Ich begreife ebenfalls, dass man einige Einzelheiten unserer Zivilprozessordnung, die offensichtlich fehlerhaft sind, in Afrika nicht übernimmt. Doch davon abgesehen, ist es erforderlich, in Afrika unser Gerichtswesen einzuführen, schlicht und einfach so, wie es in Frankreich konstituiert ist, das heißt erstinstanzliche Gerichte und einen königlichen Gerichtshof. Das Gute, das Veränderungen an ihrer Verfassung ergeben könnten, würde nicht das Schlechte aufwiegen, das eine neue und außerordentliche Umgestaltung der Justiz hervorrufen würde. Es ist dringlich, dem Generalstaatsanwalt die außergewöhnlichen Vollmachten71, die ihm gewährt wurden, wieder zu entziehen; die Richter, wennschon nicht unabsetzbar, so doch wenigstens ortsgebunden zu machen; die Berufung vor Gericht ebenso zu ermöglichen wie in Frankreich; schließlich und vor allem die Schutzklauseln unserer strafrechtlichen Ermittlungsordnung einzuführen. Niemand auf der Welt hat jemals behauptet, diese Klauseln begünstigten die Freiheit der Beschuldigten. Man hat ihnen zu Recht besonders in Bezug auf die Festnahme und die Schutzhaft das Gegenteil vorgeworfen. Weshalb sie barbarisch machen, wo sie schon so wenig liberal sind? Ich wiederhole, dass alle diese Maßnahmen ohne Nachteil und Gefahr getroffen werden können.

71 Anmerkung von Tocqueville: Unter anderem, Haftbefehle auszustellen, das Verfahren so lange hinzuziehen, wie es ihm beliebt, oder es einzustellen, und die Richter je nach Lust und Laune in alle Landesteile zu versetzen.

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Fast alle Zivilprozesse finden zwischen Europäern statt. Dort wird die Justiz in der Hauptsache wirksam. Prozesse zwischen Einheimischen oder zwischen Einheimischen und Europäern sind Ausnahmefalle; ein dafür bereits eingeführtes Ausnahmeverfahren kann ohne weiteres beibehalten werden. Die meisten Strafprozesse werden ebenfalls gegen Europäer geführt. Falls es Einheimische betrifft und man glaubt, unsere Prozessordnung sei zu zögerlich (was ich nicht glaube), kann man für sie Kriegsgerichte einführen. Das ist von nebensächlichem Interesse; die bei uns lebenden Araber sind nicht sehr zahlreich und wenig zu fürchten. Keineswegs unbedeutend ist jedoch, den Europäern, die man einlädt, nach Afrika zu kommen, all die zivil- wie auch strafrechtlichen Garantien zu geben, die man gewohnt ist, als Notwendigkeit des zivilen Lebens zu betrachten. Hat man die zivile Rechtsprechung aufgebaut, muss man sich danach unverzüglich darum kümmern, der Verwaltungsjustiz genaue Grenzen zu setzen. Vor allem muss man schleunigst dem Verwaltungsgericht eine Zusammensetzung geben, welche das Eigentum sichert. Wie ich gezeigt habe, gibt es zurzeit überhaupt keine Sicherheiten. Nicht nur die Verwaltung, sondern auch der betroffene Beamte entscheidet in eigener Sache. Insgesamt glaube ich, dass die schnelle Kolonisation eines Teils von Algerien durch Frankreich machbar ist. Die größten Hindernisse liegen weniger im Land als bei uns. Ändern wir die Methoden, werden wir das Blatt wenden. Aber auf die Art, wie wir die Sache in Angriff genommen haben und immer noch nehmen, würden wir nicht einmal die Ebene Saint-Denis besiedeln können, wenn sie noch unbewohnt wäre.72

72 Randbemerkung von Tocqueville: Ich glaube, es wäre gut, eine weitere Untersuchung seitens der Kammern einzuleiten. Die erste hat bereits sehr gut getan.

Bericht über die Demokratie in der Schweiz [1848]1

Herr de Tocqueville äußerte seine Hochachtung für Herrn Cherbuliez aus Genf, den Verfasser der Schrift Über die Demokratie in der Schweiz, und unterbreitete den folgenden Bericht über dieses Werk: Meine Herren, mir schien, das Buch verdiene wegen der Bedeutung des vom Verfasser behandelten Themas eine besondere Prüfung; und weil ich davon überzeugt bin, dass eine solche Prüfung von einigem Nutzen sein könnte, habe ich sie unternommen. Meine Absicht ist es, mich völlig von den augenblicklichen Bedenken frei zu machen, wie es sich eigentlich in einem solchen Rahmen gehört, und jene Fakten zu übergehen, die uns nicht betreffen; das heißt, in der Schweiz weniger auf die politischen Geschehnisse zu achten als auf die Gesellschaft selbst, auf die Gesetze, die sie konstituieren, ihre Herkunft, ihre Tendenzen und ihren Charakter. Ich hoffe, das Bild werde, so eingegrenzt, des Interesses noch wert sein. Was in der Schweiz geschieht, ist kein Einzelfall. Es ist eine besondere Entwicklung innerhalb der allgemeinen Umwälzung, die den ganzen alten Bau der Institutionen Europas in den Ruin stürzt. Ist die Bühne auch klein, hat das Schauspiel daher doch seine Größe. Es hat vor allem eine einzigartige

1

Tocqueville hielt den Vortrag Rapport sur la democratie en Suisse am 15. Januar 1848 in der Academie des sciences morales et politiques im unmittelbaren Vorfeld der Europa weiten politischen Revolutionen von 1848. Er erschien zuerst in den Seances et travaux de l 'Academie des sciences morales et politiques, ler semestre 1848, S. 97-119. Äußerlich geht es in dem Bericht um ein Buch von Antoine Elisee Cherbuliez: De la dimocratie en Suisse (Band 1 und 2, Paris 1843). Cherbuliez (1797-1869) war Anwalt und Professor für politische Ökonomie und Staatsrecht in Genf. Unsere Übersetzung folgt dem Text der O.C., Bd. XVI, Paris 1989 (Gallimard), S. 203-220. Tocqueville hatte diesen Bericht als Anhang in die 12. Auflage von La Democratie en Amerique, Paris 1848 aufgenommen. Er wurde auch in der von Gustave de Beaumont edierte Werkausgabe (Bd. IX, 1866, S. 85-111) publiziert. Tocqueville entwickelt einige grundsätzliche demokratietheoretische Überlegungen in fünfAbschnitten, einer historischen Einbettung und Deutung des Wandels in der Schweiz als demokratischer Revolution, einer Skizze der Demokratie in den Kantonen, gefolgt von einer Darlegung der modernen Idee der Judikative mit einem Vergleich ihre Realisierung in der Schweiz und New York, einer institutionellen Analyse der föderalen Regierung der Eidgenossenschaft und einem abschließenden Ausblick auf anstehende Veränderungen. Diese Abschnitte sind redaktionell durch große Absätze gekennzeichnet.

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Bericht über die Demokratie in der Schweiz

Originalität. Nirgends kam die demokratische Revolution, die die Welt erschüttert, unter so komplizierten und seltsamen Umständen zustande. Ein und dasselbe Volk, aus mehreren Stämmen zusammengesetzt, mehrere Sprachen sprechend, sich zu mehreren Glaubensrichtungen und verschiedenen religiösen Sekten bekennend, mit zwei gleichermaßen konstituierten und privilegierten Kirchen; alle politischen Fragen alsbald in Religionsfragen umschlagend und alle Religionsfragen als politische Fragen auslegend; endlich zwei Gesellschaften, die eine sehr alt, die andere sehr jung, und trotz des Altersunterschieds untrennbar miteinander verbunden: Dieses Bild bietet die Schweiz. Um es richtig zu zeichnen, hätte man meiner Ansicht nach eine höhere Warte beziehen müssen als der Autor. Herr Cherbuliez erklärt in seinem Vorwort, und ich halte die Beteuerung für sehr aufrichtig, er habe sich das Gesetz der Unparteilichkeit auferlegt. Er befürchtet sogar, der völlig unparteiliche Charakter seines Werkes könne den Gegenstand etwas eintönig erscheinen lassen. Diese Furcht ist wirklich unbegründet. Der Autor möchte tatsächlich unparteiisch sein, doch gelingt ihm dies nicht. In seinem Buch finden sich wissenschaftlicher Sachverstand, Scharfblick, echtes Talent und offenkundig eine Gewissenhaftigkeit, die selbst in den leidenschaftlichsten Beifallsäußerungen hervorsticht; doch was sich darin nicht zeigt, ist eben die beschworene Unparteilichkeit. Man findet darin zugleich viel Esprit und wenig Freiheit des Geistes. Zu welchen Formen einer politischen Gesellschaft neigt der Autor? Das scheint sich zunächst recht schwer sagen zu lassen. Obwohl er das politische Verhalten der eifrigsten Katholiken in der Schweiz in gewissem Maße billigt, ist er ein so entschiedener Gegner des Katholizismus, dass er nicht weit davon entfernt ist zu verlangen, man solle die katholische Religion mit Hilfe des Gesetzes daran hindern, sich an den Orten zu verbreiten, wo sie nicht vorherrscht. Andererseits ist er den abtrünnigen Sekten des Protestantismus gegenüber sehr feindlich gesinnt. Gegen eine Volksherrschaft schreibend, geht er in Opposition zur Herrschaft des Adels; in Religionsdingen eine dem Staat unterstehende protestantische Kirche, in der Politik ein von einer bürgerlichen Aristokratie verwalteter Staat: das scheint das Ideal des Verfassers zu sein. Das ist Genf vor den letzten revolutionären Umbrüchen. Doch wenngleich nicht immer deutlich erkennbar ist, was er bevorzugt, so ist mühelos zu sehen, was er ablehnt. Verhasst ist ihm die Demokratie. In seinen Ansichten, seinen Neigungen, vielleicht auch seinen Interessen von der demokratischen Revolution, die er beschreibt, erschüttert, redet er von ihr stets nur als Feind. Er attackiert die Demokratie nicht nur wegen dieser oder jener ihrer Konsequenzen, sondern in ihrem Wesen: Er sieht nicht die ihr eigenen Qualitäten; er stellt den Mängeln nach, die sie hat. Unter den Übeln, die daraus entstehen können, unterscheidet er nicht das Fundamentale und Bleibende vom Zufälligen und Vorübergehenden, er trennt nicht das, was man als unvermeidlich hinnehmen, von dem, was man zu verbessern suchen muss. Vielleicht kann das Thema auch nicht in entsprechender Weise von jemand betrachtet werden, der so wie Herr Cherbuliez in die Umwälzungen in seinem Land verwickelt war. Man darf das bedauern. Wir werden im Zuge dieser Untersuchung noch sehen, dass die Schweizer Demokratie es sehr nötig hat, dass man die Unvollkommenheit ihrer Gesetze benennt. Doch um dies wirksam tun zu können, darf man sie nicht hassen.

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Herr Cherbuliez hat sein Werk Über die Demokratie in der Schweiz genannt. Dies legt die Vermutung nahe, nach Ansicht des Verfassers sei die Schweiz ein Land, in dem man ein Lehrbuch über die Demokratie schreiben könne und in dem es möglich sei, über die demokratischen Institutionen an sich zu urteilen. Darin liegt meines Erachtens die Hauptursache, aus der nahezu alle Irrtümer des Buches resultieren. Sein wahrer Titel wäre gewesen: Über die demokratische Revolution in der Schweiz? Die Schweiz befindet sich tatsächlich seit fünfzehn Jahren in einem revolutionären Zustand. Die Demokratie ist dort weniger eine reguläre Regierungsform als ein Mittel, dessen man sich regelmäßig bedient, um die alte Gesellschaft zu zerstören, und manchmal auch, um sie zu verteidigen. Man kann dort wohl die besonderen Begleiterscheinungen des revolutionären Zustande des demokratischen Zeitalters, in dem wir uns befinden, beobachten, aber nicht die Demokratie in ihrem bleibenden und ruhigen Zustand skizzieren. Wer sich diesen Ausgangspunkt nicht ständig vergegenwärtigt, wird den Anblick, dem ihn die Institutionen der Schweiz bieten, nur schwer begreifen; und was mich betrifft, so sehe ich eine unüberwindliche Schwierigkeit darin, mein Urteil über das zu fallen, was ist, ohne zu sagen, wie ich das, was gewesen ist, beurteile. Man täuscht sich gewöhnlich darüber, in welchem Zustand sich die Schweiz befand, als die Französische Revolution ausbrach. Weil die Schweizer seit langem in einer Republik lebten, stellte man sich gern vor, sie hätten den Institutionen und dem Geist, die die moderne Freiheit ausmachen, näher gestanden als die übrigen Bewohner des europäischen Kontinents. Es ist das Gegenteil, von dem man ausgehen muss. Obwohl die Unabhängigkeit der Schweizer aus einem Aufstand gegen die Aristokratie resultierte, lehnten sich die meisten damals gegründeten Regierungsformen an die Gewohnheiten, die Gesetze und sogar die Meinungen und Neigungen der Aristokratie an. Die Freiheit zeigte sich ihnen nur noch in Gestalt eines Privilegs, und die Idee des allgemeinen und natürlichen Rechts aller Menschen, frei zu sein, diese Idee blieb ihrem Geist ebenso fremd wie dem der Fürsten aus dem Hause Österreich, die sie besiegt hatten. Alle Machtbefugnisse wurden folglich ohne Zögern von den geschlossenen und sich aus ihresgleichen rekrutierenden aristokratischen Kreisen an sich gezogen und einbehalten. Im Norden nahmen diese aristokratischen Kreise einen industriellen, im Süden einen militärischen Charakter an. Doch beide waren sie ebenso homogen wie exklusiv. In den meisten Kantonen waren drei Viertel der Einwohner von jeder direkten wie unmittelbaren Beteiligung an der Landesverwaltung ausgeschlossen, außerdem gab es in jedem Kanton Bewohner ohne Bürgerrechte. Diese kleinen Gesellschaften, die sich in einem so großen Umbruch der Gesellschaft herausgebildet hatten, wurden bald so stabil, dass sich darin keine Bewegung mehr spüren ließ. Weder vom Volk bedrängt noch einem König unterworfen, beließ die Aristokratie den sozialen Leib unverändert in den alten Kleidern des Mittelalters.

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Tocqueville spricht von „De la Revolution democratique en Suisse".

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Die Fortschritte der Zeit hatten den neuen Geist längst in die der Monarchie am meisten verbundenen Gesellschaften Europas eindringen lassen, als die Schweiz ihm noch immer verschlossen blieb. Das Prinzip der Gewaltenteilung wurde von allen Publizisten bewundert; in der Schweiz galt es nicht. Die Freiheit der Presse, die es zumindest in mehreren absoluten Monarchien des Kontinents gab, existierte in der Schweiz weder de jure noch de facto; die Möglichkeit, sich politisch zu vereinigen, wurde weder ausgeübt noch anerkannt; die Redefreiheit war sehr weit beschnitten. Die Gleichheit der Steuern, zu der bereits alle aufgeklärten Regierungen neigten, fand sich dort ebenso wenig wie jene der Rechte. Das Gewerbe stieß auf tausend Hindernisse; die individuelle Freiheit hatte keinerlei gesetzlichen Schutz. Die Religionsfreiheit, die bis in die orthodoxesten Staaten vorzudringen begann, hatte sich in der Schweiz noch nicht zeigen können. Abtrünnige Glaubensgemeinschaften waren in mehreren Kantonen verboten, in allen wurden sie in ihrer Ausübung behindert. Die Vielfalt der religiösen Glaubensbekenntnisse führte fast überall zu einer politischen Handlungsunfähigkeit. In diesem Zustand befand sich die Schweiz noch 1798, als die Französische Revolution mit Waffengewalt auf ihr Gebiet vordrang. Diese hob dort die alten Institutionen vorübergehend auf, setzte aber nichts Solides und Stabiles an deren Stelle. Napoleon, der einige Jahre später mit der Mediationsakte3 die Schweizer aus der Anarchie herausholte, gab ihnen wohl die Gleichheit, doch nicht die Freiheit; die politischen Gesetze, die er ihnen aufzwang, waren so ausgerichtet, dass das öffentliche Leben gelähmt wurde. Die Souveränität, im Namen des Volkes ausgeübt, aber seinem Einfluss enthoben, lag wieder voll und ganz in den Händen der Exekutive. Als wenige Jahre danach die Mediationsakte mit ihrem Urheber gestürzt wurde, gewannen die Schweizer keinerlei Freiheit; sie verloren nur die Gleichheit. Überall übernahmen die alten aristokratischen Kreise wieder die Zügel der Regierung und setzten die überalterten Privilegien, die vor der Revolution geherrscht hatten, wieder in Kraft. Die Verhältnisse wurden, wie Herr Cherbuliez zu Recht sagt, fast wieder auf den Stand von 1798 zurückgeführt. Man hat die verbündeten Königshäuser zu Unrecht bezichtigt, sie hätten der Schweiz diese Restauration gewaltsam aufgezwungen. Sie wurde im Einvernehmen mit ihnen, aber nicht von ihnen vollzogen. Die Wahrheit ist, dass die Schweizer, wie die anderen Völker des Kontinents, von dieser vorübergehenden, aber allgemeinen und reaktionären Bewegung, die mit einem Schlag in ganz Europa die alte Gesellschaft wieder belebte, mitgerissen wurden; und da bei ihnen nicht die Fürsten die Nutznießer der Restauration waren, deren Interesse sich von den alten privilegierten

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Nach dem Scheitern der Helvetischen Republik (1798-1803) unternahm Napoleon Bonaparte in der Schweiz den Versuch, stabile politische Verhältnisse zu schaffen und den französischen Einfluss zu sichern. Zu diesem Zweck wurde in Paris eine neue Verfassung ausgehandelt, die hier erwähnte Mediationsakte. In ihr wurde vor allem das Verhältnis der Kantone neu geregelt. Die in der Helvetik vorgenommene Kantonseinteilung wurde größtenteils rückgängig gemacht und die alten Kantone wieder hergestellt. Die Schweiz zählte fortan 19 gleichberechtigte und autonome Kantone. Der Sturz Napoleons beendete auch die Mediation.

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Ständen unterschied, sondern die alten privilegierten Stände selbst, war diese dort umfassender, blinder und hartnäckiger als im übrigen Europa. Sie zeigte sich nicht tyrannisch, trat aber wohl alternativlos auf. Die Legislative wurde vollkommen der Exekutive überantwortet, letztere befand sich ausschließlich im Besitz der Geburtsaristokratie; die Mittelklasse wurde von allen Staatsangelegenheiten ausgeschlossen, das Volk insgesamt vom politischen Leben getrennt: Diesen Anblick bot die Schweiz in fast allen ihren Teilen bis 1830. Da eröffnete sich ihr die neue Ära der Demokratie! Diese Kurzdarstellung sollte zwei Dinge gut verständlich machen: Erstens, dass die Schweiz zu den Ländern Europas gehörte, wo die Revolution am wenigsten tief griff und die ihr nachfolgende Restauration am umfassendsten war. Dies hatte zur Folge, dass die dem neuen Geist fremden oder feindlichen Institutionen viel Macht bewahrt oder wieder errungen hatten, so dass der revolutionäre Impuls um so stärker wirken musste. Zweitens, dass das Volk im größten Teil der Schweiz bis dahin nie im geringsten an der Regierung beteiligt gewesen ist; dass die Rechtsformen, die die bürgerliche Freiheit garantieren - Vereinigungsfreiheit, Redefreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit der großen Mehrzahl dieser Bürger von Republiken ebenso unbekannt, und ich könnte fast sagen, noch unbekannter waren, als sie es den Untertanen der meisten Monarchien zur gleichen Zeit sein konnten. Das ist es, was Herr Cherbuliez oft aus dem Blick verliert, was wir uns aber unablässig zu vergegenwärtigen haben, wenn wir im Folgenden die Institutionen, die sich die Schweiz gegeben hat, sorgfältig untersuchen. Jedermann weiß, dass die Souveränität in der Schweiz in zwei Teile geschieden ist: Auf der einen Seite befindet sich der Bundesstaat, auf der anderen die kantonalen Regierungen. Herr Cherbuliez geht am Anfang [seiner Abhandlung] darauf ein, was sich in den Kantonen abspielt, und er hat Recht, denn dort sitzt die wirkliche Regierung der Gesellschaft. Ich werde ihm in dieser Ansicht folgen und mich, wie er, mit den kantonalen Verfassungen beschäftigen. Alle Kantonsverfassungen sind heute demokratisch; aber die Demokratie zeigt sich nicht in allen in derselben Gestalt. In der Mehrzahl der Kantone hat das Volk die Ausübung seiner Macht an repräsentative Versammlungen delegiert; nur in einigen hat es sie für sich behalten. Es tritt zusammen und regiert. Herr Cherbuliez nennt die Regierungsformen der ersteren repräsentative Demokratien und jene der anderen reine Demokratien.4 Ich werde die Akademie um Erlaubnis bitten, dem Verfasser nicht in seiner sehr interessanten Untersuchung der reinen Demokratien zu folgen. Dafür habe ich mehrere Gründe. Wiewohl die eine reine Demokratie lebenden Kantone in der Geschichte eine

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Cherbuliez unterscheidet „democraties representatives" und „democraties pures".

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große Rolle gespielt haben und noch eine erhebliche Rolle in der Politik spielen mögen, böten sie doch eher Anlass zu einer absonderlichen als zu einer nützlichen Studie. Die reine Demokratie bildet in der modernen Welt eine Ausnahme, selbst in der Schweiz, denn nur ein Dreizehntel der Bevölkerung wird auf diese Weise regiert. Zudem ist sie eine vorübergehende Erscheinungsform. Es ist nicht genug bekannt, dass in den Schweizer Kantonen, wo sich das Volk die Machtausübung am meisten bewahrt hat, ein Repräsentativorgan existiert, das mit einem Teil der Regierungsaufgaben betraut ist. Nun ist beim Studium der jüngeren Geschichte der Schweiz leicht zu sehen, dass die Angelegenheiten, mit denen sich in der Schweiz das Volk befasst, allmählich an Zahl abnehmen, und diejenigen, die seine Repräsentanten behandeln, dagegen von Tag zu Tag zahlreicher und unterschiedlicher werden. A u f diese Weise verliert die reine Demokratie ein Terrain, das die andere [repräsentative Demokratie] gewinnt. Die eine wird unmerklich zur Ausnahme, die andere zur Regel. Die reinen Demokratien der Schweiz gehören überdies einem anderen Zeitalter an; sie können weder die Gegenwart noch die Zukunft etwas lehren. Wenngleich man einen der modernen Wissenschaft entnommenen Namen verwenden muss, um sie zu bezeichnen, entstammen sie doch der Vergangenheit. Jedes Jahrhundert hat seinen dominanten Geist, dem nichts widersteht. Hat er sich etwa unter seiner Herrschaft Prinzipien zugelegt, die ihm fremd und entgegengesetzt sind? Er zögert nicht, sie sich zu Eigen zu machen, und, falls er sie nicht entkräften kann, scheut er sich nicht, sie sich anzupassen und zu verarbeiten. Das Mittelalter hatte damit geendet, mit Hilfe der Aristokratie die demokratische Freiheit zu errichten. Durch die republikanischsten Gesetze hatte es neben dem allgemeinen Wahlrecht Platz für religiöse Glaubensrichtungen und eine Vielzahl an Meinungen, Gesinnungen, Gewohnheiten, Vereinigungen und Familien geschaffen, die außerhalb der Gesellschaft standen, und damit wahre Herrschaft ermöglicht. Man kann die kleinen Schweizer Kantone nur als demokratische Regierungsformen des Mittelalters betrachten. Sie sind die letzten und achtenswerten Trümmer einer Welt, die es nicht mehr gibt. Die repräsentativen Demokratien der Schweiz sind hingegen dem modernen Geist entsprungen. Sie haben sich alle auf den Ruinen einer alten aristokratischen Gesellschaft gegründet; sie folgen alle dem einen Prinzip der Volkssouveränität; sie haben es alle in ihren Gesetzen nahezu gleich angewandt. Wir werden sehen, dass diese Gesetze sehr unvollkommen sind, aber sie reichen, um zu zeigen, dass die Demokratie und selbst die Freiheit in der Schweiz neue und ungewohnte Kräfte sind. Anzumerken ist zunächst, dass das Volk selbst in den repräsentativen Demokratien der Schweiz die unmittelbare Ausübung eines Teils seiner Macht in den eigenen Händen behalten hat. In einigen Kantonen müssen die wichtigsten Gesetze, nachdem sie von der gesetzgebenden Versammlung gebilligt wurden, noch einer Volksabstimmung unterzogen werden. Damit entartet die repräsentative Demokratie in diesen besonderen Fällen zur reinen Demokratie.

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In fast allem muss das Volk von Zeit zu Zeit, gewöhnlich in nahen Abständen, sich darüber einig sein, ob es die Verfassung beibehalten oder abändern will. Das stellt auf einmal und in immer wiederkehrenden Abständen sämtliche Gesetze in Frage. Alle gesetzgebenden Vollmachten, die das Volk nicht in den eigenen Händen behielt, übertrug es einer einzigen Versammlung, die unter seiner Aufsicht und in seinem Namen handelt. In keinem Kanton ist die gesetzgebende Versammlung in zwei Kammern geteilt; überall besteht sie aus einer einzigen Körperschaft; nicht genug damit, dass deren Vorgehen nicht von dem Erfordernis, sich mit einer anderen Versammlung abzustimmen, gebremst wird, werden ihre Willensäußerungen nicht einmal durch längere Erörterung behindert. Zwar sind die Beratungen über allgemeine Gesetze an bestimmte Formalitäten gebunden, die sie in die Länge ziehen, aber die wichtigsten Entschlüsse können mit einem Mal als Verordnungen beantragt, diskutiert und verabschiedet werden. Die Verordnungen machen die sekundären Gesetze zu etwas ebenso Gewichtigem, Raschem und Zwingendem wie die Leidenschaften einer Menge. Außerhalb der Legislatur gibt es nichts, was dem Widerstand leistet. Die Gewaltenteilung und vor allem die relative Unabhängigkeit der Legislative, der Exekutive und der Judikative bestehen in Wirklichkeit nicht. In keinem Kanton werden die Repräsentanten der Exekutive direkt vom Volk gewählt. Die Vertreter der Legislative bestimmen sie. Die Exekutive ist daher mit keinerlei eigenen Machtmitteln ausgestattet. Sie ist und kann nie mehr sein als das Werk und Hilfsmittel einer anderen Gewalt. Zu dieser Ursache von Schwäche gesellen sich mehrere andere. Nirgends wird die exekutive Gewalt von einem einzigen Menschen ausgeübt. Man überträgt sie einer kleinen Versammlung, wo die Verantwortung geteilt ist und entsprechend umgesetzt wird. Überdies sind der exekutiven Gewalt mehrere ihr zukommende Rechte verwehrt. Sie hat kein oder nur ein unerhebliches Vetorecht gegenüber Gesetzesinitiativen. Sie hat kein Begnadigungsrecht, sie darf ihre Beamten weder ernennen noch absetzen. Man kann sogar sagen, dass sie keine Beamten hat, denn sie ist gewöhnlich verpflichtet, auf die kommunalen Verwaltungsbeamten zurückzugreifen. Mangelhaft sind die Gesetze der Schweizer Demokratie jedoch vor allem wegen des schlechten Zustandes und der schlechten Zusammensetzung der Judikative. Herr Cherbuliez merkt das an, aber meines Erachtens nicht genügend. Er scheint selbst nicht recht zu begreifen, dass gerade die Judikative in den Demokratien hauptsächlich dazu berufen ist, sowohl der Schutzwall als auch die Abwehr des Volkes zu sein. Die Idee der Unabhängigkeit der Judikative ist eine moderne Idee. Das Mittelalter hatte sie nicht gekannt oder sie zumindest nie anders als sehr verworren begriffen. Man kann sagen, dass die Exekutive und die Judikative anfangs bei allen Nationen Europas vermischt waren; selbst für Frankreich, wo die Justiz dank einer sehr glücklichen Ausnahme frühzeitig ein sehr kraftvolles Eigendasein besaß, gilt, dass die Teilung der beiden Gewalten sehr unvollständig blieb. Allerdings hatte nicht die Verwaltung die Justiz in der Hand, sondern die Justiz hatte sich zum Teil die Administration einverleibt.

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Die Schweiz war dagegen wohl dasjenige von allen Ländern Europas, wo die Justiz am meisten mit der politischen Macht verschmolz und am vollständigsten zu einem ihrer Attribute wurde. Man kann sagen, dass die Vorstellung, die wir von der Justiz als einer unparteiischen und freien Macht haben, die immer wieder in alle gesellschaftlichen Belange interveniert und zwischen alle Gewalten tritt, um sie zur Einhaltung des Gesetzes zu ermahnen, nie im Bewusstsein der Schweizer verankert war und dass sie noch heute dort nur sehr unvollständig vorhanden ist. Die neuen Verfassungen haben zweifellos den Gerichten einen anderen Platz zugewiesen, als dies unter der alten Gewaltenteilung üblich war, aber sie haben ihnen keine unabhängigere Stellung eingeräumt. Die Amtsgerichte werden vom Volk gewählt und stehen zur Wiederwahl. Das oberste Gericht eines jeden Kantons wird nicht von der Exekutive, sondern von der Legislative ausgewählt, und nichts schützt seine Mitglieder vor der täglichen Willkür der Mehrheit. Nicht genug damit, dass das Volk oder die Versammlung, die es vertritt, die Richter auswählt, tut es sich auch bei deren Auswahl keinerlei Zwang an. Im Allgemeinen ist kein Befähigungsnachweis vorgeschrieben. Der Richter ist außerdem nur Vollstrecker des Gesetzes und nicht befugt zu überprüfen, ob dieses Gesetz der Verfassung entspricht. In Wirklichkeit ist es die Mehrheit selbst, die mittels der Richterschaft Urteile spricht. Wäre übrigens in der Schweiz die Judikative von Gesetzes wegen mit der erforderlichen Unabhängigkeit und den Rechten ausgestattet, die sie nötig hätte, so hätte sie doch Mühe, ihre Rolle wahrzunehmen, denn die Justiz ist eine von Tradition und Meinung bestimmte Macht, die sich auf tradierte Rechtsvorstellungen und -bräuche stützen können muss. Ich könnte leicht die Mängel, die sich in den soeben beschriebenen Institutionen finden, aufzeigen und nachweisen, dass sie sämtlich darauf hinauslaufen, die Volksherrschaft in ihrem Gang unregelmäßig, in ihren Entschlüssen überstürzt und in ihrem Handeln tyrannisch zu machen. Aber das würde zu weit führen. Ich werde mich darauf beschränken, diese Gesetze mit denen, die sich eine ältere, friedlichere und erfolgreichere demokratische Gesellschaft gegeben hat, zu vergleichen. Herr Cherbuliez meint, die unvollkommenen Institutionen der Schweizer Kantone seien die einzigen, welche die Demokratie zustande bringen oder hinnehmen könne. Der Vergleich, den ich anstellen werde, wird das Gegenteil beweisen und zeigen, wie man anderswo aus dem Prinzip der Volkssouveränität mit mehr Erfahrung, Geschicklichkeit und Besonnenheit andere Ergebnisse erzielen konnte. Als Beispiel verwende ich den Staat New York, der ebenso viele Einwohner hat wie die gesamte Schweiz. Im Staat New York herrscht, wie in den Schweizer Kantonen, die durch das allgemeine Wahlrecht umgesetzte Souveränität des Volkes. Aber das Volk übt seine Souveränität nur an dem einen Tag aus, an dem es seine Delegierten wählt. Es behält in keinem Fall irgendeinen Anteil an der Legislative, Exekutive oder Judikative inne. Es wählt diejenigen, die in seinem Namen regieren sollen, und dankt bis zur nächsten Wahl ab. Obgleich die Gesetze geändert werden können, ist ihre Grundlage stabil. Man ist nicht wie in der Schweiz darauf verfallen, die Verfassung ununterbrochen immer wiederkehrenden Überprüfungen auszusetzen, die, ob nun tatsächlich oder bloß möglicher-

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weise, das soziale Gefiige in der Schwebe belassen. Im Falle des Bedarfs stellt die legislative Versammlung fest, dass eine Abänderung der Verfassung notwendig geworden ist, und in der nachfolgenden Legislaturperiode wird sie vollzogen. Obwohl sich die Legislative ebenso wenig wie in der Schweiz der öffentlichen Meinung entziehen kann, ist sie so organisiert, dass sie deren Launen widersteht. Kein Antrag kann Gesetz werden, bevor er nicht der Prüfung durch beide Häuser unterzogen wurde. Diese beiden Teile der gesetzgebenden Versammlung sind in derselben Weise gewählt und zusammengesetzt; beide gehen also gleichermaßen aus dem Volk hervor, aber sie repräsentieren es nicht auf genau dieselbe Weise: Der eine hat vor allem dem Tagesgeschäft Folge zu leisten, der andere die Gewohnheiten und langfristigen Ziele zu verfolgen. In New York besteht die Gewaltenteilung nicht nur zum Schein, sondern in Wirklichkeit. Die exekutive Gewalt wird nicht von einer Körperschaft, sondern von einem Menschen ausgeübt, der allein die gesamte Verantwortung trägt und ihre Befugnisse und Vorrechte entschieden und energisch nutzt. Vom Volk gewählt, ist er nicht, wie in der Schweiz, Geschöpf und Unterstellter der gesetzgebenden Versammlung; er ist ihr gleichgestellt, er repräsentiert wie sie, wenngleich in einer anderen Sphäre, den Souverän, in dessen Namen sowohl der eine als auch die andere handeln. Er bezieht seine Kraft aus derselben Quelle wie sie. Er übt die exekutive Gewalt nicht nur im Auftrag aus, sondern verkörpert deren natürliche und legitime Vorrechte. Er ist Befehlshaber der bewaffneten Kräfte und ernennt deren wichtigste Offiziere; er benennt mehrere hohe Beamte des Staates; er übt das Begnadigungsrecht aus; sein Vetorecht, das er gegen Beschlüsse der gesetzgebenden Versammlung erheben kann, ist zwar nicht absolut, jedoch wirksam. Wenn der Gouverneur des Staates New York auch gewiss weit weniger mächtig ist als ein konstitutioneller König in Europa, ist er zumindest unendlich mächtiger als eine kleine Ratsversammlung in der Schweiz. Augenfällig ist der Unterschied aber vor allem in der Organisation der Judikative. Der Richter ist, wiewohl aus dem Volk hervorgehend und von ihm abhängig, eine Macht, der es sich selbst unterwirft. Die Judikative bezieht diese außerordentliche Stellung aus ihrer Herkunft, ihrer Stetigkeit, ihrer Kompetenz und vor allem aus den Sitten und der öffentlichen Meinung. Die Mitglieder der höheren Gerichte werden nicht, wie in der Schweiz, von der gesetzgebenden Versammlung gewählt, deren kollektiver Wille oft erregt, manchmal blind und immer unzurechnungsfähig ist, sondern vom Gouverneur des Staates. Einmal eingesetzt, gilt der Amtsträger als unabsetzbar. Kein Prozess entgeht ihm, keine Strafe darf von jemand anderem verhängt werden als von ihm. Er legt das Gesetz nicht nur aus, man kann sagen, dass er es richtet; wenn die gesetzgebende Versammlung im raschen Wechsel der Parteien vom Geist oder Buchstaben der Verfassung abweicht, bringen die Gerichte sie wieder darauf zurück, indem sie sich weigern, ihre Beschlüssen anzuwenden. So kann der Richter zwar das Volk nicht verpflichten, seine Verfassung beizubehalten, aber er zwingt es zumindest, sie solange zu respektieren, wie es sie gibt. Er richtet das Volk nicht, wirkt aber auf es ein und beschränkt es in seinen Entscheidungen. Die Judi-

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kative, die in der Schweiz kaum existiert, ist der wahre Mäßiger der amerikanischen Demokratie. Wenn man jetzt diese Verfassung in den kleinsten Einzelheiten untersucht, wird man darin auch nicht einen aristokratischen Zug entdecken. Nichts, das einer Ständegesellschaft gleicht, keinerlei Privileg, es herrschen überall dieselben Rechte, alle Gewalt geht vom Volk aus und ist darauf gerichtet, alle Institutionen sind von einem einzigen Geist beseelt, es gibt keine widerstreitenden Tendenzen: Das Prinzip der Demokratie hat alles durchdrungen und beherrscht alles. Und dennoch haben diese so vollständig demokratischen Regierungen eine ganz andere stabile Grundlage, einen viel friedlicheren Verlauf und weit regelmäßigere Züge als die demokratischen Regierungen der Schweiz. Man darf sagen, dass das zum Teil aus der Unterschiedlichkeit der Gesetze herrührt. Die Gesetze des Staates New York, die ich soeben beschrieben habe, sind darauf ausgerichtet, die natürlichen Mängel der Demokratie zu bekämpfen; die Schweizer Institutionen, deren Bild ich umrissen habe, scheinen im Gegenteil dazu geschaffen, jene zu steigern. Hier zügeln sie das Volk, da treiben sie es an. In Amerika hat man befürchtet, dass seine Macht tyrannisch werden könne, während man sie in der Schweiz anscheinend nur unangreifbar machen wollte. Ich will den Einfluss, den der Mechanismus der Gesetze auf das Los der Völker haben kann, nicht übertreiben. Ich weiß, dass man die großen Ereignisse dieser Welt in der Hauptsache allgemeinen und tieferen Ursachen zuschreiben muss; aber man kann nicht bestreiten, dass die Institutionen eine gewisse eigene Wirksamkeit zeitigen und aus sich selbst heraus zum Wohl oder Wehe der Gesellschaften beitragen. Hätte Herr Cherbuliez, statt fast alle Gesetze seines Landes grundsätzlich abzulehnen, kenntlich gemacht, was an ihnen mangelhaft ist und wie man sie vervollkommnen kann, ohne ihre Grundsätze zu verändern, dann hätte er ein Buch geschrieben, das für die Nachwelt würdiger und für seine Zeitgenossen nützlicher gewesen wäre. Nachdem er gezeigt hat, was die Demokratie in den Kantonen ausmacht, untersucht der Verfasser, welchen Einfluss sie auf die Eidgenossenschaft selbst ausübt. Bevor ich Herrn Cherbuliez auf diesem Weg folge, muss verdeutlicht werden, was er selbst versäumt hat, nämlich zu zeigen, was die föderale Regierung ist, wie sie de jure und de facto organisiert ist und wie sie arbeitet. Man dürfte zunächst fragen, ob die Gesetzgeber der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Föderalverfassung schaffen oder nur einen Bund etablieren wollten, mit anderen Worten, ob sie daran dachten, die Souveränität der Kantone zum Teil preiszugeben oder ungeteilt zu erhalten. Wenn man beachtet, dass sich die Kantone mehrere der Souveränität innewohnende Rechte versagt und diese an die föderale Regierung dauerhaft abgetreten haben; wenn man außerdem bedenkt, dass in den die Landesregierungen betreffenden Fragen die Mehrheit über das Gesetz abstimmen solle, dann kann man nicht bezweifeln, dass die Gesetzgeber der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine wirkliche Föderalverfassung einführen wollten und nicht einfach nur einen Bund. Aber man muss zugeben, dass sie das Falsche taten, um zum Ziel zu gelangen.

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Ich scheue mich nicht zu sagen, dass meines Erachtens die Föderalverfassung der Schweiz die unvollkommenste aller Verfassungen dieser Art ist, die es bisher in der Welt gegeben hat. Liest man sie, so glaubt man sich ins tiefe Mittelalter zurückversetzt und kann nicht genug darüber erstaunen, dass dieses verworrene und unvollständige Werk das Produkt eines so gelehrten und erfahrenen Jahrhunderts wie des unseren ist. Man wiederholt oft, und nicht ohne Grund, der Vertrag habe die Rechte der Eidgenossenschaft übermäßig eingeschränkt, er habe dem Handeln der Behörde, die sie repräsentiert, bestimmte Optionen mit wesentlich nationalem Charakter entzogen, die von Natur aus in den Zuständigkeitsbereich der Bundesversammlung [diete, Tagsatzung]5 gehören würden, wie etwa die Postverwaltung, die Regelung der Maße und Gewichte, die Münzprägung usw. Und man schreibt die Schwäche der föderalen Macht der geringen Anzahl der ihr anvertrauten Befugnisse zu. Es ist wohl wahr, dass der Vertrag über die Verfasstheit der eidgenössischen Regierung mehrere Rechte, die dieser Behörde von Natur aus und sogar notwendig zukommen, fortgelassen hat; aber darin liegt nicht die wirkliche Ursache ihrer Schwäche, denn die Rechte, die der Vertrag ihr gegeben hat, würden ihr, sofern sie davon Gebrauch machen könnte, zur Genüge erlauben, bald alle diejenigen, die ihr fehlen, zu bekommen oder jedenfalls sich ihrer zu bemächtigen. Der Bund kann Truppen zusammenstellen, Steuern erheben, Krieg fuhren, Frieden vereinbaren, Handelsverträge abschließen und Botschafter ernennen. Die Kantonalverfassungen und die Wahrung der Gleichheit vor dem Gesetz sind unter seinen Schutz gestellt, was ihm erlauben würde, sich bei Bedarf in alle lokalen Angelegenheiten einzumischen. Der Brückenzoll und anderen Abgaben für Straßen usw. werden vom Bund geregelt, was ihn ermächtigt, die großen öffentlichen Arbeiten zu leiten oder zu kontrollieren. Schließlich ist der Bund laut Artikel 4 der Verfassung berechtigt, alle für die innere und äußere Sicherheit der Schweiz erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, was ihm die Möglichkeit eröffnet, alles zu beherrschen. Die stärksten Föderalregierungen hatten keine größeren Vorrechte, und weit davon entfernt zu glauben, in der Schweiz sei die Kompetenz der Zentralmacht zu begrenzt, neige ich zu dem Gedanken, dass deren Grenzen nicht sorgfaltig genug gezogen sind. Woher kommt es also, dass die Regierung der Eidgenossenschaft bei so weitreichenden Vorrechten für gewöhnlich so wenig Einfluss hat? Der Grund dafür ist einfach: Man gab ihr nicht die Mittel dafür, das auszuüben, was man ihr zugestanden hat: das Recht zu fordern.

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Die Tagsatzung war eine Versammlung von Abgesandten der einzelnen Kantone der Schweizer Eidgenossenschaft. Als Dachorgan der alten Eidgenossenschaft blieb sie von den kantonalen Regierungen überhaupt sowie deren Apparaten abhängig. Dies gilt insbesondere für die Zeit ab 1815, wo sie reihum in Bern, Luzern und Zürich ansässig war. Sie besaß nur beschränkte exekutive und legislative Kompetenzen. Wenige Wochen nach Tocquevilles Bericht erarbeitete die Tagsatzung 1848 die erste Schweizer Bundesverfassung, die am 12. September 1848 angenommen wurde. Damit gründete sie den modernen Schweizer Bundesstaat und löste sich selbst und den Bundesvertrag von 1815 auf.

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Nie wurde eine Regierung besser in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit versetzt und außerdem durch die Unvollkommenheit ihrer Organe zur Machtlosigkeit verurteilt. Es gehört zum Wesen föderaler Regierungen, nicht im Namen des Volkes, sondern im Namen der Staaten, aus denen sich die Konföderation zusammensetzt, zu handeln. Sonst würde die Verfassung sofort aufhören, föderal zu sein. Daraus ergibt sich, neben anderen notwendigen und unvermeidlichen Konsequenzen, dass die föderalen Regierungen gewöhnlich weniger kühn in ihren Entschlüssen und langsamer in ihren Entscheidungen sind als andere Regierungsformen. Die meisten Gesetzgeber der Konföderationen waren bemüht, mittels mehr oder minder wohldurchdachter Verfahren, auf die ich nicht näher eingehen will, diese natürlichen Mängel des föderalen Systems teilweise zu korrigieren. Die Schweizer haben es aber durch die besonderen Formen, die sie wählten, unendlich viel anfälliger als irgendwo sonst gemacht. Bei ihnen handeln die Mitglieder der Bundesversammlung nicht nur im Namen der jeweils von ihnen vertretenen Kantone, sondern sie fassen im Allgemeinen keinen Beschluss, der nicht von diesen beantragt oder gebilligt worden wäre. Fast nichts ist ihrem freien Willen überlassen; alle fühlen sich durch ein imperatives Mandat gebunden, das ihnen von vornherein auferlegt wurde; daher ist die Bundesversammlung ein Gremium, wo man in Wahrheit kein Interesse an Verhandlungen hat, wo man nicht vor jenen spricht, die den Beschluss fassen sollen, sondern vor jenen, die nur dazu berechtigt sind, ihn auszufuhren. Die Bundesversammlung ist eine Regierung, die nichts von sich aus beschließt, sondern sich darauf beschränkt, das zu realisieren, was zweiundzwanzig andere Regierungen je einzeln beschlossen haben; eine Regierung, die, was auch immer komme, nichts entscheiden, nichts einplanen, nichts ausrichten kann. Man kann sich keine Kombination vorstellen, die besser geeignet wäre, die natürliche Trägheit einer föderalen Regierung zu steigern und deren Schwächen in Demenz zu verwandeln. Doch unabhängig von den Gebrechen, die allen föderalen Verfassungen anhaften, erklärt sich die eingewurzelte Hilflosigkeit der Regierung der Schweizerischen Eidgenossenschaft noch aus vielen anderen Gründen. Nicht nur, dass die Eidgenossenschaft eine schwächliche Regierung hat, man kann sogar sagen, dass sie gar keine eigene Regierung besitzt. Ihre Verfassung ist in dieser Hinsicht einzigartig in der Welt. Die Eidgenossenschaft gibt sich Oberhäupter, die sie nicht repräsentieren. Das Direktorium, das die Exekutive der Schweiz bildete, wird nicht vom Bund gewählt, geschweige denn vom helvetischen Volk; es ist eine Zufallsregierung, die die Eidgenossenschaft alle zwei Jahre von Bern, Zürich oder Luzern entlehnt. Diese Gewalt, die von den Bewohnern eines Kantons gewählt wird, um die Angelegenheiten eines Kantons zu lenken, wird somit nebenbei zum Haupt und Arm des ganzen Landes. Dies kann sicherlich als eine der größten politischen Kuriositäten in der Geschichte der menschlichen Gesetze gelten. Die Wirkungen solcher Verhältnisse sind immer beklagenswert und oft sehr erstaunlich. Nichts ist zum Beispiel seltsamer als das, was 1839 geschah. In jenem Jahr hatte der Bund seinen Sitz in Zürich, und das Direktorium des Staats Zürich fungierte als Regierung der Eidgenossenschaft. Da kommt es zu einer

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Revolution im Kanton Zürich. Eine Revolution des Volkes stürzt die bestehenden Behörden. Die Bundesversammlung ist sogleich ohne Vorsitz, und das Leben des Bundes hängt in der Schwebe, bis es dem Kanton beliebt, sich andere Gesetze und andere Vertreter zu geben. Das Zürcher Volk hatte, als es seine lokale Administration wechselte, unwillentlich der Schweiz den Kopf abgeschlagen.6 Hätte die Eidgenossenschaft eine eigene Exekutive, so könnte sie sich dennoch mangels direkter und sofortiger Wirkungsmöglichkeiten bei den Bürgern keinen Gehorsam verschaffen. Diese Ursache von Schwäche ist gewichtiger als alle anderen zusammen; aber um sie verständlich zu machen, darf man sie nicht nur erwähnen. Eine föderale Regierung kann einen sehr begrenzten Wirkungsbereich haben und doch stark sein, wenn sie in diesem engen Bereich eigenständig ohne Zwischenglieder agieren kann, wie es die gewöhnlichen Regierungen in ihrem unbegrenzten Spielraum, in dem sie sich bewegen, tun; sie haben ihre Beamten, die sich an jeden Bürger direkt wenden, ihre Gerichte, die jeden Bürger zwingen, sich ihren Gesetzen unterzuordnen, sie verschaffen sich ohne weiteres Gehorsam, weil sie immer nur individuellen Widerstand zu befurchten haben und weil alle Schwierigkeiten, die man ihnen bereitet, im Rechtsstreit enden. Eine föderale Regierung kann im Gegenteil einen sehr ausgedehnten Wirkungsbereich haben und sich dennoch nur einer sehr schwachen und prekären Autorität erfreuen, wenn sie, statt sich an die Bürger individuell zu richten, verpflichtet ist, sich an die Kantonalregierungen zu halten; denn wenn diese sich widersetzen, begegnet die föderale Macht weniger einem Staatsangehörigen als einem Rivalen, den sie bekriegen müsste, um sich durchzusetzen. Die Stärke einer föderalen Regierung beruht folglich weit weniger auf dem Ausmaß der ihr zugebilligten Rechte als auf der ihr belassenen mehr oder minder großen Fähigkeit, jene eigenständig zu gebrauchen: Sie ist immer stark, wenn sie den Bürgern gebieten kann; sie ist immer schwach, wenn sie ausschließlich darauf angewiesen ist, den lokalen Regierungen Anweisungen zu erteilen. Die Geschichte der Konföderationen bietet Beispiele für beide Modelle, doch soviel ich weiß, ist in keiner Konföderation der Zentralgewalt jedes unmittelbare Einwirken auf die Bürger so vollständig verwehrt wie in der Schweiz. Dort kann die föderale Regierung sozusagen von keinem einzigen ihrer Rechte eigenständig Gebrauch machen. Sie verfugt über keine Beamten, die nur ihr unterstellt sind, sie gebietet über keine Gerichte, die ausschließlich ihre Souveränität repräsentieren. Man möchte sagen, es handelt sich um ein Wesen, welches man zwar ins Leben gerufen hat, das man aber um seine Organe gebracht hat. So ist die föderale Verfassung rechtlich beschaffen. Betrachten wir jetzt in wenigen Worten mit dem Verfasser des Buchs, das wir analysieren, welchen Einfluss die Demokratie auf sie ausübt. 6

Tocqueville bezieht sich hier auf den Züriputsch. Aufständische Bauern rückten am 6. September 1839 in Zürich ein und erzwangen den Sturz der liberalen und die Einsetzung einer konservativen Regierung.

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Man kann nicht bestreiten, dass die demokratischen Revolutionen, die seit fünfzehn Jahren fast alle Kantonalverfassungen nacheinander veränderten, großen Einfluss auf die föderale Regierung ausgeübt haben; aber dieser Einfluss wirkte in zwei sehr gegensätzlichen Richtungen entkräftend. Es ist notwendig, sich über dieses doppelte Phänomen Klarheit zu verschaffen. Die demokratischen Revolutionen, die in den Kantonen stattfanden, hatten zur Folge, dass das lokale Leben mehr an Aktivität und Stärke gewann. Die neuen Regierungen, die aus diesen Revolutionen hervorgingen, können sich auf das Volk stützen, das sie vorwärts drängt, wodurch sie mehr Macht und eine noch größere Vorstellung von ihrer Machtfülle haben, als sie die von ihnen gestürzten Regierungen vorweisen konnten. Und weil eine vergleichbare Erneuerung nicht gleichzeitig auf föderaler Ebene stattfand, musste sich daraus ergeben und ergab sich tatsächlich, dass die föderale Regierung vergleichsweise den Kantonen gegenüber noch hinfalliger dastand als zuvor. Der Hochmut der Kantone, der Trieb zur lokalen Unabhängigkeit, die Erwartung, alle inneren Angelegenheiten des jeweiligen Kantons zu kontrollieren, die Missgunst gegenüber einer zentralen und übergeordneten Macht, sind lauter Empfindungen, die seit der Errichtung der Demokratie verstärkt auftreten; und in dieser Hinsicht kann man sagen, dass sie die ohnehin schwache Regierung der Eidgenossenschaft weiter geschwächt und ihre tagtäglichen und gewohnheitsmäßigen Aufgaben noch mühsamer und schwieriger gemacht haben. Aber in anderen Hinsichten verschafften sie ihr einen Einfluss und sozusagen eine Existenz, die sie zuvor nicht besessen hatte. Die Errichtung der demokratischen Institutionen in der Schweiz brachte zwei völlig neue Dinge hervor. Bis dahin kannte jeder Kanton nur sein Eigeninteresse, seinen eigenen Geist. Das Aufkommen der Demokratie hat alle Schweizer, gleich aus welchen Kantonen sie stammen, in zwei Parteien geschieden: eine, die für die demokratischen Prinzipien eintritt, die andere, die dagegen opponiert. Es schuf gemeinsame Interessen, Ideen und Leidenschaften, die, um sich Genüge zu tun, das Bedürfnis nach einer gemeinsamen und sich über das ganze Land erstreckenden Zentralregierung weckten. Die föderale Regierung besaß also erstmals die Macht, die sie zuvor immer entbehrte; sie konnte sich auf eine gefahrliche, aber in den freien Ländern, wo die Regierung ohne diese fast nichts vermag, unentbehrliche Kraft stützen. Während die Demokratie die Schweiz also in zwei Teile spaltete, reihte sie die Schweiz in eines der großen Lager ein, die sich die Welt teilen; sie schuf ihr eine außenpolitische Seite; wenn sie ihr auch natürliche Freundschaften eintrug, brachte sie ihr ebenso die unumgänglichen Feindschaften; um die einen zu pflegen und fortzuführen und die anderen zu überwachen und einzudämmen, gab sie ihr das unwiderstehliche Bedürfnis nach einer einheitlichen Regierung. Dem lokalen öffentlichen Bewusstsein ließ sie ein nationales Bewusstsein folgen. Das sind die unmittelbaren Effekte, mit denen sie die föderale Regierung stärkte. Der indirekte Einfluss, den sie ausübte und überall weiterhin ausüben wird, ist nicht minder groß.

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Die Widerstände und Schwierigkeiten, denen eine föderale Regierung ausgesetzt ist, sind desto vielfaltiger und stärker, je mehr sich die vereinigten Bevölkerungen in ihren Institutionen, ihren Empfindungen, ihren Gewohnheiten und ihren Ideen unterscheiden. Es ist weniger die Gleichheit der Interessen als die vollkommene Analogie der Gesetze, Ansichten und sozialen Bedingungen, die die Arbeit der amerikanischen Union erleichtern. Man kann sogar sagen, dass die seltsame Schwäche der alten föderalen Regierung in der Schweiz hauptsächlich der erstaunlichen Verschiedenheit und der einzigartigen Gegensätzlichkeit von Geist, Ansichten und Gesetzen der Bevölkerungen, die sie zu regieren hatte, geschuldet war. Von Natur aus einander so fern stehende und unähnliche Menschen unter derselben Führung zu behalten und auf dieselbe Politik festzulegen, war das mühseligste Werk. Einer viel besser verfassten und klüger organisierten Regierung wäre das nicht geglückt. Die demokratische Revolution, die in der Schweiz stattfindet, hat den Effekt, dass sich nacheinander in allen Kantonen gewisse politische Institutionen, Regierungsmaximen und Ideen durchsetzen. Wenn die demokratische Revolution den Unabhängigkeitsgeist der Kantone gegenüber der Zentralmacht steigert, so erleichtert sie andererseits deren Wirken; sie beseitigt großenteils die Ursachen des Widerstandes, und ermöglicht den Kantonen, ohne dass sie die Kantonalregierungen dazu ermuntert, der föderalen Regierung zu gehorchen und deren Maßnahmen Folge zu leisten. Es ist notwendig, die beiden gegensätzlichen Effekte, die ich soeben beschrieben habe, sehr sorgfältig zu untersuchen, um den gegenwärtigen Zustand des Landes zu begreifen und den künftigen Status vorauszusehen. Beachtet man nur die eine dieser beiden Tendenzen, so wird man dazu verleitet, anzunehmen, das Aufkommen der Demokratie in den Kantonalregierungen werde sich unmittelbar und leichthin dahingehend auswirken, dass sich der legislative Bereich der föderalen Regierung ausdehnt, indem die Regierung in ihren Händen die lokalen Angelegenheiten konzentriert, kurz, dass die ganze Wirtschaft des Bundes zentralisiert wird. Ich bin davon überzeugt, dass eine solche Umwälzung noch länger auf Hindernisse stößt, als man gemeinhin vermutet. Die heutigen Kantonalregierungen werden nicht viel mehr Gefallen an einer derartigen Umwälzung zeigen als ihre Vorläufer, und sie werden alles tun, um sich ihnen zu entziehen. Ich denke allerdings, dass trotz dieses Widerstandes, die föderale Regierung dazu gezwungen sein wird, immer mehr Macht in diesen Dingen zu erlangen. Die Umstände werden ihr dabei dienlicher sein als die Gesetze. Sie wird ihre Vorrechte vielleicht nicht sehr augenfällig erweitern, aber sie wird sie anders und häufiger gebrauchen. Sie wird de facto viel stärker werden, mag sie auch de jure dieselbe bleiben; sie wird sich mehr durch die Auslegung als durch eine Änderung des Vertrages entfalten und die Schweiz beherrschen, ehe sie imstande ist, sie zu regieren. Absehen lässt sich auch, dass gerade diejenigen, welche bisher am meisten gegen ihren gleichmäßigen Ausbau opponiert haben, diesen bald herbeiwünschen werden, sei es, um dem zeitweiligen Drängen einer so schlecht verfassten Macht zu entgehen, sei es, um sich gegenüber der unmittelbaren und belastenden Tyrannei der lokalen Regierungen abzusichern.

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Sicher ist, dass die zukünftige föderale Verfasstheit der Schweiz, welche Abwandlungen der Vertrag auch immer erfahren mag, sich grundlegend und unwiderruflich verändern wird. Die Konföderation hat sich in ihrem Wesen verändert. Sie ist in Europa zu etwas Neuem geworden; eine aktive Politik hat bei ihr eine passive Neutralitätspolitik abgelöst; ihr Dasein, vormals rein kommunal ausgerichtet, ist nunmehr national geworden: sie hat ein emsiges, unsicheres und ungewisses Dasein erhalten.

Rede vor der Deputiertenkammer [27. Januar 1848]1

Tocqueville: Ich habe nicht die Absicht, die Diskussion, die begonnen hat, im Einzelnen fortzusetzen. Ich denke, sie wird auf uns wieder zukommen und dann viel sinnvoller sein, wenn wir das Gefangnisgesetz zu diskutieren haben.2 Der Beweggrund, der mich dazu fuhrt, diese Tribüne zu betreten, ist allgemeiner. Der Paragraph 4, der heute zur Diskussion steht, verlangt von der Kammer, einen generellen Blick auf die gesamte Innenpolitik zu werfen, besonders aber auf jene Seite der Innenpolitik, auf die sich der Zusatzantrag meines ehrenwerten Freundes Herrn Billault bezieht und die er hervorhebt.3 Es ist dieser Teil der Diskussion um das Antwortschreiben, den ich vor der Kammer aufgreifen möchte. Meine Herren, ich weiß nicht, ob ich mich täusche, aber wie mir scheint, ist der gegenwärtige Stand der Dinge, der momentane Zustand der öffentlichen Meinung, ja der Geisteszustand in Frankreich beunruhigend und betrüblich. Für meinen Teil sage ich der Kammer ehrlich, dass ich erstmals seit fünfzehn Jahren die Zukunft mit Sorge betrachte; und was mich darin bestätigt, ist der Umstand, dass dies nicht nur mein Eindruck ist; ich glaube, alle, die mich jetzt hören, würden mir auf Befragen antworten, dass in den Regionen, die sie vertreten, die gleiche Stimmung herrscht; dass ein gewisses Unbehagen und eine gewisse Furcht die Gemüter ergriffen haben und dass erstmals seit vielleicht sechzehn Jahren das Empfinden von Instabilität, jenes Empfinden, das Revolutionen gewöhnlich vorausgeht und sie ankündigt, das sie manchmal sogar hervorbringt, dass diese Stimmung in zunehmenden Maße im Lande herrscht.

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Der Disours pronoci ä la chambre des deputes, in dem Tocqueville die am 23. und 24. Februar 1848 beginnende Revolution vorhersagt und ihre Bedingungen analysiert hat, liegt hier erstmals vollständig auf Deutsch vor. Er ist Teil der Auseinandersetzungen um das Antwortschreiben auf die Thronrede. Die Übersetzung folgt den O.C., Bd. III 2, Paris 1985, S. 745-758. Tocqueville bezieht sich auf die vorangegangene Diskussion über die Brutalitäten und Veruntreuungen in den Strafvollzugsanstalten des Landes, die zu Unruhen in Clairvaux und La Rochejaquelein gefuhrt hatten. Der Antrag von Adolph Auguste Marie Billault (1805-1863) verlangte von der Regierung, sich unermüdlich für die Sittlichkeit der Bevölkerung einzusetzen. Dahinter stand die Ansicht, das Kabinett habe die öffentliche Sittlichkeit verdorben.

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Wenn ich recht verstanden habe, was neulich der Finanzminister abschließend sagte , gesteht das Kabinett selbst die Realität dessen ein, wovon ich spreche; aber es führt sie auf gewisse Einzelursachen zurück, auf die neuesten Zwischenfalle des politischen Lebens, auf Versammlungen, die die Geister erregt, und auf Reden, die die Leidenschaften angefacht haben. Meine Herren, ich befürchte, wenn man das Übel, das man eingesteht, auf solche Ursachen zurückführt, dann erfasst man nicht die Krankheit, sondern nur die Symptome. Was mich betrifft, so bin ich überzeugt, dass die Krankheit nicht dort sitzt; sie ist allgemeiner und umfassender. Diese Krankheit, die man um jeden Preis heilen muss und die, glauben Sie wohl, uns alle erfassen wird, hören Sie wohl, uns alle, wenn wir uns nicht davor in acht nehmen; das ist der Zustand, in dem sich der Gemeinsinn und die Sitten befinden. Worin besteht die Krankheit: das ist es, worauf ich Sie aufmerksam machen möchte. Ich glaube, dass sich die Sitten und der Gemeinsinn in einem gefahrlichen Zustand befinden; ich glaube außerdem, dass die Regierung auf eine äußerst riskante Weise dazu beigetragen hat und dazu beiträgt, diese Gefahr zu erhöhen. Deshalb habe ich die Tribüne bestiegen. 4

Wenn ich, meine Herren, einen aufmerksamen Blick auf jene Schicht werfe, die herrscht, auf die Schicht, die politische Rechte hat, und anschließend auf jene, die beherrscht wird, dann erschreckt und beunruhigt mich das, was in der einen wie in der anderen vorgeht. Um zunächst von der, wie ich sagte, herrschenden Schicht zu reden (beachten Sie bitte, dass ich diese Worte in ihrer allgemeinsten Bedeutung verwende; ich spreche nicht nur von der Mittelschicht, sondern von allen Bürgern gleich welcher Stellung, die politische Rechte besitzen und sie ausüben), ich spreche also von dem, was mich bei der herrschenden Schicht beunruhigt und erschreckt. Was ich da sehe, meine Herren, das kann ich in einem Wort ausdrücken: Die öffentlichen Sitten verderben dort, sie sind dort schon gründlich entstellt; sie verschlechtern sich von Tag zu Tag; immer mehr werden die gemeinsam geteilten Überzeugungen, Empfindungen und Ideen von Einzelinteressen und individuellen Zielen abgelöst sowie von Auffassungen verdrängt, die dem Privatleben und -interesse entspringen. Ich habe nicht die Absicht, die Kammer zu zwingen, sich mehr als erforderlich mit diesen traurigen Einzelheiten zu befassen; ich werde mich darauf beschränken, meine Gegner selbst anzureden, meine Kollegen von der Regierungsmehrheit. Ich bitte sie, für ihren eigenen Gebrauch, sich eine Art zahlenmäßiger Übersicht über die Wählerschaft, die sie in diese Kammer entsandt hat 5 , anzufertigen. Mögen sie eine erste Gruppe aus denen bilden, die sie nicht wegen politischer Ansichten, sondern aus besonderem Freundschafts- oder Verbundenheitsgefuhlen heraus gewählt haben. In einer zweiten

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Pierre Sylvain Dumon (1797-1870) hatte an den Vortagen mehrmals gesprochen, jedoch auf sehr technische Art, so zur finanziellen Verschuldung, aber auch zum Salzmonopol. In seiner letzten Rede gab er zu, dass man das Kabinett bezichtige, die Prinzipien von 1789 preisgegeben zu haben; es habe jedoch immer im Einvernehmen mit der Kammer gehandelt. Unter der Julimonarchie (1830-1848) waren nur ca. 240.000 sog. Aktivbürger wahlberechtigt.

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Gruppe mögen sie jene zusammenfassen, die nicht vom Standpunkt des öffentlichen oder allgemeinen Interesses, sondern aus einem rein lokalen Interesse für sie stimmten. Dieser zweiten Gruppe mögen sie eine dritte aus denen hinzufugen, die aus rein individuellen Interessen für sie votierten; und ich frage sie, ob die, die übrig bleiben, zahlreich sind; ich frage sie, ob diejenigen, die einem uneigennützig öffentlichen Empfinden, geteilten Ansichten und Überzeugungen folgend abstimmen, ob diese die Mehrheit der Wähler bilden, die ihnen das Deputiertenmandat anvertraut haben; ich bin mir sicher, dass sie leicht das Gegenteil aufdecken werden. Ich werde mir noch erlauben, sie zu fragen, ob nicht ihres Wissens die Anzahl derer, die aus persönlichen Einzelinteressen heraus für sie stimmen, seit fünf oder zehn Jahren unaufhörlich zunimmt und ob die Anzahl derjenigen, die sie aus politischer Überzeugung wählen, nicht unaufhörlich abnimmt? Mögen sie mir schließlich sagen, ob sich um sie herum und vor ihren Augen, nach und nach eine eigenartige Duldsamkeit in der Öffentlichkeit für das einstellt, von dem ich spreche, ob nicht schrittweise eine Art von vereinfachter Volksmoral entsteht, wonach der Mann, der politische Rechte besitzt, es sich selber, seinen Kindern, seiner Frau und seinen Verwandten schuldet, in ihrem Interesse einen persönlichen Gebrauch von diesen Rechten zu machen; so dass dies allmählich zu einer Verpflichtung für den Familienvater erhoben wird? Ich frage sie, ob diese neue Moral, die man in den großen Zeiten unserer Geschichte nicht kannte und die auch zu Beginn unserer Revolution unbekannt war, sich immer weiter entwickelt und Tag für Tag mehr das Denken bestimmen wird? Was aber ist das alles, wenn nicht ein fortschreitender und tiefgreifender Verfall, ja eine immer weitläufigere Verkommenheit der öffentlichen Sitten? Und wenn ich mich vom öffentlichen Leben abwende und das Privatleben betrachte und beobachte, was sich da abspielt, wenn ich auf das alles achte, dessen Zeugen Sie insbesondere seit einem Jahr geworden sind, auf alle diese Aufsehen erregenden Skandale, alle diese Verbrechen, Verstöße, Straftaten und außerordentlichen Laster, die bei jeder Gelegenheit offensichtlich und die in jeder Gerichtsverhandlung enthüllt werden6, wenn ich das alles betrachte, habe ich da nicht Anlass zurückzuschrecken? Habe ich nicht allen Grund zu behaupten, dass bei uns nicht nur die öffentlichen Sitten verfallen, sondern auch die Tugenden verkommen? (Widerspruch aus der Mitte.) Und merken Sie wohl, ich sage das nicht aus Sicht des Moralisten, sondern von einem politischen Standpunkt aus; denn kennen Sie die allgemeine und tiefere Ursache für den Verfall der privaten Lebensformen? Es ist die Verderbnis der öffentlichen Sitten. Eben weil in den wichtigsten Bereichen des Lebens keine Moral herrscht, gibt es sie auch nicht bei den untersten. Eben weil im öffentlichen Leben das Interesse die uneigennützigen Empfindungen verdrängt hat, wird es im Privatleben zur Regel. 6

Seit Anfang 1847 hatte eine Reihe von wirklichen oder vermeintlichen Skandalen die öffentlichen Gewalten diskreditiert: Unterschlagungen in der Heeres- und Marineverwaltung, Liquidation der Zeitung Epoque, wo Emile de Girardin (1806-1881) die Finanztricks der Administration gegeißelt hatte. Es gab Verdachtsmomente gegen die in Verwaltungsräten der Eisenbahngesellschaften sitzenden Pairs und Deputierten wegen der Art, wie Konzessionen oder Staatszuschüsse erlangt wurden, usw.

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Man hat gesagt, es gebe zweierlei Moral: eine politische Moral und eine Moral des privaten Lebens. Freilich, wenn das, was nun geschieht, so sein sollte, wie ich es beschreibe, dann wurde die Falschheit einer solchen Maxime nie deutlicher und leidiger bewiesen als heutzutage. Ja, ich bin davon überzeugt; ich glaube, dass in unseren privaten Sitten etwas geschieht, das die guten Bürger unbedingt in Unruhe versetzen und alarmieren sollte; und ich glaube, dass das, was mit unseren privaten Sitten geschieht, großenteils mit dem zusammenhängt, was sich in unseren öffentlichen Sitten ereignet. (Widerspruch aus der Mitte.) Nun! Meine Herren, wenn Sie mir in dieser Hinsicht nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens den Reaktionen aus Europa. Ich denke, dass ich so wie sonst niemand in dieser Kammer darüber auf dem Laufenden bin, welches Bild man sich in Europa von uns macht und was man dort von uns sagt. Nun gut! Ich versichere Ihnen mit der ganzen Aufrichtigkeit meines Herzens, dass ich nicht nur betrübt, sondern zutiefst betroffen darüber bin, was ich jeden Tag lese und höre; es tut mir weh, wenn ich sehe, wie man die Tatsachen, von denen ich spreche, gegen uns ausnutzt, wie man daraus übertriebene Schlussfolgerungen gegen die ganze Nation, ja gegen den ganzen Nationalcharakter zieht; ich bin traurig, wenn ich sehe, wie sehr Frankreichs Einfluss in der Welt nach und nach verblasst; ich bin betrübt, wenn ich sehe, dass nicht nur Frankreichs moralischer Einfluss nachlässt... Janvier. Ich bitte ums Wort. (Unruhe.) Tocqueville: ... sondern auch der Einfluss seiner Grundsätze, seiner Auffassungen, seiner Ansichten. Frankreich hatte als erstes Land, unter den Donnerschlägen seiner ersten Revolution, der Welt Grundsätze gegeben, die seitdem zu den Prinzipien der Erneuerung in allen modernen Gesellschaften wurden. Das war sein Ruhm, das war sein wertvollster Teil. Nun wohl! Meine Herren, ebendiese Grundsätze werden jetzt durch unser Beispiel geschwächt. Der Gebrauch, den wir selbst davon machen, bewirkt, dass die Welt an ihnen zweifelt. Europa, das uns anschaut, beginnt sich zu fragen, ob wir recht oder unrecht hatten; es fragt sich, ob wir wirklich, wie wir so oft wiederholt haben, die menschlichen Gesellschaften einer glücklicheren und wohlhabenden Zukunft entgegenfuhren, oder ob wir sie gemäß unserem Beispiel in den moralischen Verfall und finanziellen Ruin fuhren. Das, meine Herren, schmerzt mich am meisten an dem Anblick, den wir der Welt bieten. Er schädigt nicht nur uns, sondern fugt auch unseren Grundsätzen, unserer Sache, diesem geistigen Vaterland, an dem ich, als Franzose, mehr hänge als an dem natürlichen und irdischen Vaterland, das wir vor Augen haben, Schaden zu. (Unruhe von verschiedenen Seiten.) Meine Herren, wenn der Anblick, den wir bieten, aus der Ferne, von den äußersten Rändern Europas her betrachtet solch eine Wirkung hat, was, denken Sie, bewirkt er erst in Frankreich selbst bei jenen Schichten, die keine Rechte haben und aus der politischen Untätigkeit heraus, zu der unsere Gesetze sie verurteilen, uns allein auf dem großen Schauplatz handeln sehen, auf dem wir uns befinden? Was denken Sie, wird die Wirkung sein, die solch ein Anblick bei ihnen auslöst?

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Meinerseits erschrecke ich darüber. Man sagt, es gebe keine Gefahr, weil es keinen Aufruhr gibt; man sagt, weil es an der Oberfläche der Gesellschaft keine wirtschaftlichen Schwierigkeiten gebe, seien die Revolutionen weitab von uns. Meine Herren, gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, dass ich glaube, Sie irren sich. Die Unruhe ist zwar nicht durch Tatbestände belegt, aber sie steckt tief in den Gemütern. Schauen Sie an, was bei den Arbeitern vorgeht, die heute, das gebe ich zu, ruhig sind. Es ist wahr, sie sind keineswegs von den politischen Interessen aufgewühlt wie einst; aber sehen Sie nicht, dass ihre Interessen, statt politisch, sozial geworden sind? Sehen Sie nicht, dass sich in den Reihen der Arbeiter nach und nach Ansichten und Ideen aufflakkern, die darauf abzielen, nicht nur dies oder jenes Gesetz, jenes Ministerium oder gar jene Regierung zu Fall zu bringen, sondern die ganze Gesellschaft umzustürzen, ja sie in ihren Grundfesten, auf denen sie heute beruht, zu erschüttern? Hören Sie nicht, was jeden Tag in den Arbeiterkreisen gesagt wird? Hören Sie nicht, was dort unablässig wiederholt wird, nämlich dass alles, was sich über ihnen befindet, ungeeignet und unwürdig sei, sie zu regieren; dass die bisherige Verteilung der Güter in der Welt ungerecht sei; dass das Eigentum auf Grundlagen beruhe, die nicht gerecht verteilt sind? Und sind Sie nicht davon überzeugt, dass solche Ansichten, wenn sie erst Fuß fassen, sich überall ausbreiten und die Massen beherrschen werden und über kurz oder lang, ich weiß nicht wann und wie, aber jedenfalls über kurz oder lang zu den furchtbarsten Revolutionen führen müssen? Das ist, meine Herren, meine tiefe Überzeugung; ich glaube, dass wir uns zur Stunde auf einem Vulkan betten (Zurufe); ich bin zutiefst davon überzeugt. (Unruhe von verschiedenen Seiten.) Gestatten Sie mir jetzt, kurz, aber offen und aufrichtig nach den wirklichen Urhebern, den Haupturhebern des Übels, das ich soeben zu schildern versuchte, zu forschen. Ich weiß sehr wohl, dass derartige Übel, wie die eben erwähnten, nicht alle, vielleicht nicht einmal hauptsächlich, aus dem Handeln der Regierungen erwachsen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass die großen Revolutionen, die so oft von Grund auf dieses Land verändert und umgewälzt haben, in den Gemütern eine eigenartige Unbeständigkeit hinterlassen mussten; ich weiß auch, dass sich für die Äußerungen, Hetzereien und die Erregungen der Parteien nebensächliche, aber gewichtige Ursachen finden ließen, die dazu dienen könnten, das bedauerliche Phänomen zu erklären, welches ich ihnen soeben erläutere; aber ich habe eine zu hohe Meinung von der Bedeutung der Staatsgewalt in dieser Welt, um nicht davon überzeugt zu sein, dass, sobald in der Gesellschaft eine sehr große Not entsteht, sei es eine große politische oder moralische Zwangslage, die Regierung damit viel zu tun hat. Was also tut die Staatsgewalt, um das Ihnen soeben geschilderte Übel zu erzeugen? Was hat die Regierung getan, um diese umfassende Verwirrung in den öffentlichen Sitten und danach in den privaten Sitten aufkommen zu lassen? Wie hat sie dazu beigetragen? Ich glaube, meine Herren, dass man, ohne jemanden zu verletzen, sagen kann, dass die Regierung sich vor allem in den letzten Jahren größere Befugnisse, stärkeren Einfluss und mehr und erheblichere Vorrechte verschafft hat, als sie je zuvor besaß. Sie ist be-

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deutend größer geworden, als sich diejenigen, die sie einsetzten, als auch diejenigen, die sie 1830 erhielten, je vorstellen konnten. Andererseits kann man behaupten, dass der Grundsatz der Freiheit weniger verwirklicht worden ist, als man es sich damals erhoffte. Ich urteile nicht über die Ereignisse, ich suche nach deren Auswirkungen. Wenn ein so eigenartiges und unerwartetes Ereignis, so schlechte Begierden und sündhafte Erwartungen gefordert hat, glauben Sie dann nicht, dass angesichts dessen viele edle Empfindungen und uneigennützige Erwartungen verletzt wurden; dass viele ehrliche Gemüter von der Politik enttäuscht wurden und einen seelischen Zusammenbruch erlitten?7 Doch es ist vor allem die Art, wie dieses Ergebnis erzielt wurde, die verdeckte und bis zu einem gewissen Punkt heimliche Vorgehensweise, mit der dieses Resultat erzielt wurde, die der öffentlichen Moral einen unheilvollen Schlag versetzte. Durch das Wiederaufhehmen alter Vollmachten, die man seit dem Juli für abgeschafft hielt, durch das Inkrafttreten alter Befugnisse, die ungültig schienen, durch die Erneuerung alter Gesetze, die als aufgehoben galten, durch sinnentstellendes Anwenden neu geschaffener Gesetze, durch alle diese verhüllten Mittel, durch geschickte und beharrliche Betriebsamkeit ist die Regierung letzten Endes zu einem größerem Handlungsspielraum, größerer Wirksamkeit und stärkerem Einfluss gelangt, als es je zuvor in Frankreich der Fall war. Das ist es, meine Herren, was die Regierung getan hat, was insbesondere das jetzige Kabinett zu verantworten hat. Und bedenken Sie, meine Herren, dass diese, wie ich sie eben nannte, verdeckte und heimliche Art, nach und nach die Staatsmacht wieder auszubauen, sie gewissermaßen überraschend zu ergreifen und dazu andere Mittel zu gebrauchen als die, welche die Verfassung zur Verfugung stellt; glauben Sie, dass dieses befremdende und geschickte Schauspiel, das mehrere Jahre der Öffentlichkeit dargeboten wurde, auf einer solch großen Bühne, vor der ganzen Nation, die es beobachten konnte, glauben Sie, dass solch ein Schauspiel dazu angetan war, die öffentlichen Sitten zu bessern? Für meinen Teil bin ich zutiefst vom Gegenteil überzeugt; ich will meinen Widersachern nicht unterstellen, dass sie unehrenhafte Motive gehabt hätten; wenn man will, gestehe ich zu, dass sie beim Gebrauch der Mittel, die ich tadle, meinten, sich auf ein notwendiges Übel einzulassen; dass die Größe des Ziels ihnen den Blick für die Gefährlichkeit und Anstößigkeit des Mittels getrübt hat. Ich will das glauben, aber waren die Mittel deswegen weniger gefahrlich? Sie glauben, dass die Umwälzung, die seit fünfzehn Jahren die Rechte der Staatsmacht verändert hat, notwendig war, meinetwegen; und dass sie nicht von vornherein beabsichtigt war - ich will es glauben; aber es ist nicht minder wahr, dass sie sie durch Mittel vollbracht haben, die die öffentliche Sittlichkeit missbilligt; außerdem haben sie sie vollzogen, indem sie nicht die ehrliche Seite der 7

Seit dem Kabinett Auguste Casimir Periers (1811-1876) handelten alle Regierungen nach dem Grundsatz der Gegenwehr. Danach hatten die Wiederherstellung oder die Sicherung der Ordnung Vorrang vor der Gewährung weiterer Freiheiten. Unter Perier wurden 1830 und 1831 in Paris und Lyon die ersten Aufstände gegen die Julimonarchie niedergeschlagen. 1834 wurde ein weiterer Aufstand der Lyoner Seidenweber ebenso unterbunden.

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Menschen, sondern ihre schlechte Seite, ihre Begierden, ihre Schwächen, ihr Eigennutz, oft auch ihre Lastern gestärkt haben. (Unruhe.) So haben sie, obwohl vielleicht zu einem redlichen Zweck, Dinge getan, die keineswegs ehrenhaft waren. Und um diese Dinge zu tun, mussten sie Menschen um ihre Hilfe bitten, mussten sie sie mit ihrer Huld erfreuen und mit denen täglichen Umgang pflegen, die weder einen ehrenhaften Zweck verfolgten noch ehrenhafte Mittel verwendeten, sondern nichts weiter wollten als die grobe Befriedigung ihrer privaten Interessen dank der ihnen anvertrauten Macht; auf diese Weise hat man Unsittlichkeit und Laster belohnt. Als Beispiel, um zu zeigen, was ich sagen will, möchte ich nur jenen Minister erwähnen, dessen Namen ich nicht nennen werde, der in das Kabinett berufen wurde, obwohl ganz Frankreich wie auch seine Kollegen bereits wussten, dass er dessen nicht würdig war; der aus dem Kabinett ausschied, weil diese Unwürdigkeit allzu offenkundig wurde, und den man dann wohin versetzte? Auf den höchsten Stuhl innerhalb der Justiz, den er bald gegen die Anklagebank eintauschen musste.8 Nun wohl, meine Herren; ich sehe diesen Fall nicht als Einzelfall an; ich betrachte ihn als Zeichen eines allgemeinen Verfalls, als am meisten hervorstechenden Zug einer ganzen Politik; wenn Sie die Richtung einschlagen, die Sie gewählt haben, dann brauchen Sie solche Leute. Aber vor allem mit dem Amtsmissbrauch, wie ihn der Außenminister nannte, hat sich der moralische Verfall, von dem ich soeben sprach, ausgedehnt und im Land Fuß gefasst. Damit haben Sie direkt und unvermittelt auf die öffentliche Moral eingewirkt, nicht mehr durch Beispiele, sondern durch Taten. Ich möchte die Herren Minister auch in dieser Hinsicht nicht schlechter hinstellen, als ich sie wirklich sehe; ich weiß gut, dass sie einer enormen Versuchung ausgesetzt waren; ich begreife gut, dass keine Regierung zu irgend einem Zeitpunkt und in keinem anderen Land Ähnliches auszustehen hatte; dass die Staatsmacht niemals so viele Bestechungsmittel zur Verfugung hatte und sich einer politischen Klasse gegenüber sah, die derart darauf fixiert und erpicht war, dass die Möglichkeit, sie durch Korruption zu beeinflussen, um so größer und der Wunsch, sie auf diese Weise zu lenken, um so unwiderstehlicher wurden. Ich gestehe also zu, dass es kein vorsätzlicher Wunsch war, der die Minister dazu führte, jeen großen Frevel zu begehen, bei den Menschen einzig die Saite des Privatinteresses anzuschlagen; ich weiß wohl, dass sie auf eine abschüssige Bahn, die ihnen keinen Halt bot, gelockt wurden; ich weiß das alles; deshalb mache ich ihnen nur den einen Vorwurf, dass sie nicht nur genötigt waren, sondern auch bewusst in Kauf nahmen, nicht an allgemeine Vorstellungen, Empfindungen und Anschauungen zu appellieren, sondern an Einzelinteressen. Einmal auf diese Bahn geraten, wurden sie, das halte ich fur sicher, wie auch immer ihr Wille oder Wunsch zur Umkehr beschaffen war, zwangsläufig von einer unausweichlichen Macht weiter vorangetrieben, und zwar dorthin, wo sie sich seitdem befinden.

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Die Rede ist von Jean-Baptiste Teste (1780-1852). Guizot, der ihm nicht traute, vermochte ihn im Dezember 1843 abzuschieben, allerdings zu dem Preis, dass er ihn zum Pair von Frankreich und Kammerpräsidenten des Berufungsgerichtes ernannte.

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Dazu brauchten sie nur eines zu tun: auszuharren. Von dem Moment an, wo sie die soeben beschriebene Haltung durchgesetzt hatten, brauchten sie sich nur acht Jahre lang zu behaupten, um das alles durchzusetzen, was wir bei ihnen beobachten konnten, nämlich, wie erwähnt, nicht nur bestimmte Regierungsmethoden auszunutzen, sondern sie auch hinreichend zu erschöpfen. Diese Ursachen trieben sie erst dazu, übermäßig viele Stellen einzurichten; dann, als diese zu knapp wurden, sie zu teilen und aufzusplitten, damit sie, wennschon nicht mehr Stellen, wenigstens mehr Lohn zahlen konnten, wie dies in allen Finanzämtern praktiziert wurde. Dieselbe Zwangsläufigkeit bewog sie, als trotz dieser Kniffe wiederum Stellen knapp wurden, bereits besetzte Stellen auf Schleichwegen als offen auszugeben, wie wir neulich bei der Affäre Petit sahen. Der Minister für auswärtige Angelegenheiten hat uns oftmals gesagt, die Opposition sei mit ihren Angriffen im Unrecht, sie mache ihm heftige und schlecht begründete, ja falsche Vorwürfe. Aber, ich frage ihn selbst, hat ihn die Opposition selbst in den schlechtesten Auseinandersetzungen jemals dessen bezichtigt, was heute bewiesen ist? (Unruhe.) Die Opposition hat dem Minister für auswärtige Angelegenheiten sicherlich ernste Vorwürfe gemacht, vielleicht waren sie sogar übertrieben, ich weiß es nicht; aber sie hat ihn nie solcher Taten bezichtigt, wie er sie neulich selbst eingestanden hat. Und für meinen Teil erkläre ich, dass ich den Außenminister nicht nur niemals dieser Dinge bezichtigt, sondern ihn auch niemals ihrer verdächtigt habe. Niemals! Nie hätte ich geglaubt, wenn ich den Minister für auswärtigen Angelegenheiten von dieser Tribüne aus in bewundernswerter Überlegenheit die Bedeutung der Moral in der Politik darlegen hörte, ihn solche Worte gebrauchen hörte, so dass ich ungeachtet meiner Opposition stolz auf mein Land war, mit Sicherheit hätte ich niemals geglaubt, dass das, was geschehen ist, möglich sei. Ich hätte gemeint, nicht nur ihm, sondern mir selbst Unrecht zu tun, wenn ich unterstellte, was doch die Wahrheit war. Soll ich glauben, wie man neulich behauptete, dass der Außenminister, wenn er diese so schönen und edlen Worte gebrauchte, nicht sagte, was er dachte? Was mich betrifft, werde ich nicht so weit gehen; ich glaube, dass der Minister fur auswärtige Angelegenheiten von Natur aus und nach Manier anders gehandelt hätte, als er es tat. Aber er wurde wider Willen von jenen politischen Umständen dazu gedrängt und fortgerissen, die er sich selbst auferlegt hatte und die ich soeben geschildert habe. Er fragte neulich, was an dem Fall, den er eine Kleinigkeit nannte, denn so ernst sei. Das Ernste, das, was Ihnen vorgeworfen wird, ist, dass Sie, gerade Sie, vielleicht am wenigsten von allen Politikern dieser Kammer, mit Ihrer Redeweise einen Grund zu der Annahme gegeben haben, dass Sie derartige Taten begangen hätten, und dass Sie überführt seien. Und wenn diese Tat, wenn dieses Schauspiel so geartet ist, dass es eine tiefe und zerstörerische Wirkung auf die Sittlichkeit ausübt, was soll es dann erst für eine Wirkung auf die Sittlichkeit der Staatsbediensteten haben? Es gibt einen Vergleichsfall, der mich auf eine einzigartige Weise betroffen gemacht hat, sobald ich ihn erfuhr.

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Vor drei Jahren war ein Beamter des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, ein hoher Beamter, in einer Sache anderer Ansicht als der Minister. Er äußerte seine Meinungsverschiedenheit nicht offen, er handelte stillschweigend.9 Der Herr Minister für auswärtige Angelegenheiten erklärte, es sei ihm unmöglich, mit einem Mann zusammen zu arbeiten, der nicht vollkommen so denke wie er; er schickt ihn weg, oder, um es offen zu sagen, erjagt ihn fort. (Unruhe.) Und heute ist es ein anderer, weniger ranghoher, aber dem Minister fur auswärtige Angelegenheiten persönlich näher stehender Beamter, der das ausfuhrt, was Sie bereits wissen. (Hört! Hört!) Zuerst hat der Außenminister nicht bestritten, dass er davon wusste; er hat es seitdem geleugnet, ich gehe für einen Moment davon, dass er nichts davon wusste ... Von links: Aber doch! Aber doch! Tocqueville: Aber wenn er auch bestreiten kann, dass er diese Fakten gekannt habe, so kann er wenigstens nicht mehr leugnen, dass es sie gegeben hat und dass sie ihm jetzt bekannt sind; sie sind offenkundig. Nur handelt es sich hier nicht mehr um einen politischen Sinneswechsel eines Beamten von Ihnen; wir sprechen über eine moralische Abschwörung, da, wo das Herz und Gewissen des Menschen am stärksten betroffen sind; hier ist nicht nur der Minister kompromittiert, hier ist es der Mensch, nehmen Sie sich in acht! Nun wohl! Sie konnten eine mehr oder minder ernste politische Meinungsverschiedenheit mit einem ehrenwerten Mann, der nur gegen Sie gestimmt hat, nicht ertragen; dagegen finden Sie keinen Tadel, mehr noch, Sie finden nur Anerkennung für denjenigen Beamten, der, wenn er auch nicht Ihrem Denken entsprechend gehandelt hat, Sie doch niederträchtig kompromittiert und Sie in die gewiss peinlichste und ernsteste Lage seit Ihrem Eintritt in die Politik gebracht hat. Sie behalten diesen Beamten; mehr noch, Sie belohnen ihn, Sie zeichnen ihn aus.10 Was wünschen Sie, soll man denken? Wie wollen Sie verhindern, dass wir eines von beiden glauben: entweder, dass Sie in einzigartiger Weise Partei für derlei Abspaltungen ergreifen, oder dass es Ihnen nicht freisteht, sie zu bestrafen? (Aufhorchen.) Ich fordere Sie auf, trotz des enormen Talents, das ich Ihnen zugestehe; ich fordere Sie auf, diese Zusammenarbeit zu beenden. Wenn der Mensch, von dem ich rede, Ihnen zuwidergehandelt hat, weshalb behalten Sie ihn dann in ihrer Nähe? Wenn Sie ihn in Ihrer Nähe behalten, wenn Sie ihn belohnen, wenn Sie sich weigern, ihn auch nur im leisesten zu rügen, muss man zwangsläufig das folgern, was ich soeben gefolgert habe. Von links: Sehr gut! Sehr gut! Odilon Barrot: Das ist entscheidend!

9 Edmond Drouyn de Lhuys (1805-1881), Handelsleiter im Außenministerium, hatte gegen die Abfindung von Pritchard gestimmt, woraufhin Guizot seinen Rücktritt forderte. 10 Guizot hatte am 26. April 1846 August Genie zum Kommandeur der Ehrenlegion befördern lassen.

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Tocqueville: Aber, meine Herren, nehmen wir an, dass ich mich über die Ursachen des genannten Übels täusche, nehmen wir an, dass die Regierung im allgemeinen und das Kabinett im besonderen wirklich nichts damit zu tun hatten; gehen wir davon einen Moment aus. Ist der Schaden, meine Herren, deswegen etwa weniger enorm? Schulden wir nicht unserem Land und uns selbst die tatkräftigsten und beharrlichsten Anstrengungen, um ihn zu überwinden? Ich sagte Ihnen schon, dass dieses Übel über kurz oder lang, ich weiß nicht wie und wo beginnend, aber doch über kurz oder lang zu heftigen politischen Auseinandersetzungen und Umwälzungen in diesem Land fuhren wird; seien Sie davon überzeugt. Wenn ich einmal nachforsche, was zu verschiedener Zeit, in verschiedenen Epochen, bei verschiedenen Völkern die Ursache war, die zum Ruin der herrschenden Klassen führte, dann sehe ich wohl dieses oder jenes Ereignis, diesen oder jenen Menschen, diese oder jene zufällige oder äußere Ursache; aber glauben Sie mir: Die wirkliche Ursache, die zugrunde liegende Ursache dafür, dass Menschen die Macht verlieren, besteht darin, daß sie unwürdig geworden sind, sie innezuhaben. (Erneutes Aufhorchen.) Denken Sie, meine Herren, an die alte Monarchie; sie war stärker als Sie, stärker von ihrem Ursprung her; sie konnte sich besser als Sie auf alte Bräuche, auf überlieferte Sitten und auf einen uralten Glauben berufen; sie war tiefer verwurzelt als Sie, und dennoch fiel sie in den Staub. Und weshalb stürzte sie? Glauben Sie, das geschah wegen diesem oder jenem Zwischenfall? Denken Sie wirklich, dass dies dem Handeln dieses oder jenes Menschen geschuldet war, einem Mangel, dem Ballhausschwur, Lafayette oder Mirabeau? Nein, meine Herren; es gab eine tiefere und wahrere Ursache, und diese Ursache bestand darin, dass die damals herrschende Klasse wegen ihrer Gleichgültigkeit, wegen ihres Egoismus, wegen ihrer Laster unfähig und unwürdig geworden war, weiter zu regieren. (Sehr gut! Sehr gut!) Das ist die wirkliche Ursache. Nun, meine Herren! Wenn es jederzeit notwendig ist, diese patriotische Besorgnis zu hegen, um wie viel wichtiger ist sie dann nicht in unserer Zeit? Spüren Sie nicht, dank einer unwillkürlichen Eingebung, die sich nicht weiter analysieren lässt, aber sicher ist, dass in Europa erneut die Erde bebt? (Unruhe.) Riechen Sie nicht... was soll ich sagen? einen revolutionären Sturm in der Luft? Wo er entsteht, diese Sturm, woher er kommt, weiß man nicht, und auch nicht, glauben Sie wohl, wen er hinwegfegt; und in solchen Zeiten bleiben Sie angesichts des Verfalls der öffentlichen Sitten, und dieses Wort ist wirklich nicht zu stark, ruhig! Ich rede hier ohne Verbitterung, ich spreche zu Ihnen, glaube ich, auch unparteiisch; ich gehe gegen Menschen vor, denen ich nicht zürne; aber ich bin schließlich verpflichtet, meinem Land zu sagen, was meine tiefe und feste Überzeugung ist. Nun wohl! Meine tiefe und feste Überzeugung ist es, dass die öffentlichen Sitten verkommen, und, dass der Verfall der öffentlichen Sitten Ihnen in kurzer, vielleicht in nächster Zeit neue Revolutionen bringen wird. Hängt denn das Leben der Könige an festeren und schwerer zu zerreißenden Fäden als das anderer Menschen? Sind Sie zur Stunde sicher, dass es für Sie einen neuen Morgen geben wird? Vermögen Sie zu sagen, was in Frankreich in einem Jahr, in einem Monat, am nächsten Tag geschehen kann? Sie wissen es nicht; aber

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was Sie wissen, ist, dass ein Sturm am Horizont aufzieht und immer weiter auf Sie zurückt; und Sie kommen ihm nicht zuvor? (Zwischenrufe aus der Mitte.) Meine Herren, ich bitte Sie inständig, das nicht zu tun; ich bitte Sie nicht nur, ich flehe Sie an; ich werfe mich gern vor Ihnen auf die Knie, so sehr halte ich die Gefahr für real und ernst, so sehr bin ich davon überzeugt, dass es nicht nur leere Rhetorik ist, sie deutlich zu machen. Ja, die Gefahr ist groß! Bannen Sie sie, solange noch Zeit ist; beseitigen Sie das Übel durch wirksame Mittel, indem Sie nicht nur seine Symptome, sondern es selbst angehen. Man hat von Änderungen in der Gesetzgebung gesprochen. Ich bin sehr geneigt zu glauben, dass diese Änderungen nicht nur nützlich, sondern notwendig sind; so bin ich von der Nützlichkeit einer Wahlrechtsreform und der Dringlichkeit einer Parlamentsreform überzeugt; aber ich bin nicht unvernünftig genug, meine Herren, um nicht zu wissen, dass es nicht die Gesetze sind, die das Schicksal der Völker bestimmen; nein, die großen Ereignisse dieser Welt erzeugt nicht das Gesetzeswerk; was die Ereignisse hervorruft, meine Herren, das ist der Geist der Regierung. Halten Sie an den Gesetze fest, wenn Sie es wollen; ich denke zwar, dass Sie damit sehr unrecht täten, aber halten Sie sie bei; behalten Sie sogar die Leute, wenn Sie Lust dazu haben, ich meinerseits werde Sie nicht daran hindern; aber, um Gottes willen, ändern Sie den Geist der Regierung, denn, ich sage es Ihnen nochmals, dieser Geist wird Sie in den Abgrund führen. (Lebhafte Zustimmung von links.)

Rede zur Frage des Rechts auf Arbeit [12. September 1848]1 (Vorgetragen vor der Verfassungsgebenden Versammlung während der Diskussion des Verfassungsentwurfes)2

Wenn ich mich nicht irre, erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich auf den letzten Teil der Rede stütze, die Sie soeben gehört haben. Sie enthielt ein komplettes und kompliziertes Verfahren, das ich nicht berufen bin, durch ein anderes zu ersetzen.3 Mein momentanes Ziel ist es lediglich, jenen Zusatz zu diskutieren, über den und zu dessen Gunsten mein Vorredner gerade gesprochen hat. Welche Natur hat dieser Abänderungsvorschlag? Welche Tragweite hat er? Was ist seine, meines Erachtens fatale, Absicht? Das ist es, was ich untersuchen möchte. Zunächst ein Wort über die Arbeit des Ausschusses. Der Ausschuss hat tatsächlich, wie der Vorredner sagte, zwei Fassungen ausgearbeitet, aber im Grunde hatte und hat er dabei nur ein und denselben Gedanken verfolgt. Dieser wurde zunächst in eine erste Formulierung gebracht. Die Worte, die auf dieser Tribüne und anderswo fielen, und mehr noch als die Worte haben die Fakten gezeigt, dass diese Formulierung unvollständig und gefahrlich war; er hat deshalb auf sie verzichtet, nicht jedoch auf deren Grundgedanken. Diese Formulierung ist nun wieder aufgegriffen worden. Mit ihr sind wir im Moment konfrontiert. Man legt die beiden Fassungen vor; meinetwegen! Vergleichen wir sie miteinander angesichts neuer Fakten. Mit seiner letzten Fassung beschränkt sich der Ausschuss darauf, der Gesellschaft die Pflicht aufzuerlegen, Hilfe zu leisten, sei es durch Arbeit, sei es im engeren Wortsinn 1

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Die konzeptionell und politisch bedeutsame Rede Discours prononce ä l 'Assemblee Constituante dans la discussion duprojet de Constitution sur la question du droit au travail, in der sich Tocqueville mit dem Sozialismus, der Arbeit und der Rolle des Privateigentums auseinandersetzt, wurde unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung im Moniteur universel vom 13. September 1848 mehrmals nachgedruckt und danach in die von Gustave de Beaumont herausgegebene Ausgabe der CEuvres completes aufgenommen. Unsere Übersetzung folgt den O.C., Bd. III 3, Paris 1990, S. 167-180. Die am 4. September 1848 eröffnete Diskussion des Verfassungsentwurfs in der Verfassungsgebenden Versammlung zog sich zwei Monate lang hin. Artikel 8 wurde vom 11. bis zum 15. September diskutiert. Tocqueville verweist hier auf die Rede von Pelletier, der ein ganzes System kommunaler Aufkaufsund Vertriebsstellen für die Erzeugnisse von Erwerbslosen vorgestellte hatte. Die Geldmittel sollten hauptsächlich aus einer Lohnsteuer und aus staatlichen Subventionen zur Verfugung gestellt werden.

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und nach Maßgabe ihrer Mittel durch Beistand in allen Notlagen; damit wollte der Ausschuss den Staat ohne Zweifel eine größere und erhabenere Pflicht auferlegen als bisher, aber er wollte nichts absolut Neues schaffen: er wollte die öffentliche Wohlfahrt erweitern, bestätigen und regulieren: er wollte nichts anderes als die öffentliche Wohlfahrt fortsetzen. Der Zusatz macht dagegen etwas anderes, und mehr noch; der Zusatz in dem Sinn, den ihm die vorgetragenen Reden und vor allem die neuesten Ereignisse verleihen, der Zusatz, der jedem einzelnen das allgemeine, absolute und unhintergehbare Recht auf Arbeit zuspricht, dieser Zusatz fuhrt zwangsläufig zu einer dieser Konsequenzen: Entweder gibt der Staat allen Arbeitern, die sich an ihn wenden, den ihnen fehlenden Arbeitsplatz, wodurch er allmählich selbst zum Unternehmer wird; und wenn er zum allgegenwärtigen Unternehmer aufgestiegen ist, den einzigen, der keine Arbeit verweigern darf und in der Regel geringere Arbeitsbelastungen fordert, treibt es ihn unwiderstehlich dahin, dass er zum wichtigsten und bald zum einzigen Unternehmer wird. Ist dies einmal erreicht, dann ist die Steuer nicht mehr das Mittel, um den Staatsapparat zu unterhalten, sondern das wichtigste Mittel, das Gewerbe zu unterstützen. Indem er so in seinen Händen alles private Kapital vereinigt, wird der Staat schließlich zum Alleineigner aller Dinge. Das aber ist der Kommunismus. (Allgemeines Aufhorchen.) Will der Staat dagegen der fatalen Notwendigkeit entgehen, die ich soeben geschildert habe, will er also nicht selbst und mit seinen eigenen Hilfsquellen allen Arbeitern, die sich an ihn wenden, Arbeit geben, sondern dafür sorgen, dass sie diese stets bei privaten Unternehmen finden, so muss er zwangsläufig jene gesetzliche Regelung des Gewerbes durchsetzen, die der ehrenwerte Vorredner, wenn ich mich nicht irre, in seinem Vorschlag vorsah. Er ist verpflichtet, so zu handeln, dass es keine Arbeitslosigkeit gibt; das zwingt ihn, die Arbeiter so aufzuteilen, dass sie nicht miteinander konkurrieren, er muss die Löhne regulieren, sowohl die Produktion zurückschrauben wie auch ankurbeln, kurzum, zum großen und einzigen Organisator der Arbeit werden. (Unruhe.) Obwohl sich auf den ersten Blick die Fassung des Ausschusses und jene des Abänderungsvorschlages einander zu berühren scheinen, so fuhren die beiden doch zu sehr gegensätzlichen Ergebnissen; es sind gleichsam zwei Wege, die von demselben Punkt ausgehen, aber am Ende weit getrennt voneinander liegen: Der eine führt zum Ausbau der öffentlichen Wohlfahrt; und was gewahrt man am Ende des anderen? Den Sozialismus. (Zeichen von Zustimmung.) Machen wir uns nichts vor, man gewinnt nichts, wenn man Diskussionen aufschiebt, deren Ursprung im Innersten der Gesellschaft selbst verankert ist und die über kurz oder lang, auf diese oder jene Weise, entweder durch Worte oder durch Taten, an der Oberfläche erscheinen. Das, worüber wir heute reden und was sich vielleicht dem Wissen seines Autors4 entzieht, aber wenigstens für mich in aller Deutlichkeit dem Vorschlag des ehrenwerten Herrn Mathieu zugrunde liegt, das ist der Sozialismus ... (Anhaltende Unruhe - Murren von links.) 4

Mathieu (Departement Drdme) hatte bei der Darlegung seines Zusatzes am Vortag bestritten, dass er Sozialist sei. Das Recht auf Arbeit zu proklamieren war für ihn eine Konsequenz der Verkündung des Rechts auf Eigentum.

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Ja, meine Herren, es tut Not, dass früher oder später diese Frage des Sozialismus, die jedermann furchtet und an die sich bisher niemand herangewagt hat, hier verhandelt wird; es tut Not, dass diese Versammlung sie rasch entscheidet, es tut Not, dass wir das Land von dem Gewicht befreien, mit dem ihm dieser Gedanke des Sozialismus die Brust belastet; es tut Not, dass aus Anlass dieses Vorschlages, die Frage des Sozialismus entschieden wird, und ich gestehe, dass ich hauptsächlich deswegen auf dieses Rednerpult gestiegen bin, es tut Not, dass man weiß, dass die Nationalversammlung weiß, ja, dass ganz Frankreich weiß, ob die Februarrevolution eine sozialistische Revolution ist oder nicht. (Sehr gut!) Man sagt und wiederholt es; wie oft habe ich hinter den Juni-Barrikaden diese Parole gehört: Es lebe die demokratische und soziale Republik! Was versteht man unter diesen Worten? Man muss Klarheit schaffen, es geht vor allem darum, dass die Nationalversammlung dies tut. (Unruhe von links.) Die Versammlung darf davon ausgehen, dass ich nicht beabsichtige, vor ihr die verschiedenen Systeme zu untersuchen, die sämtlich unter demselben Wort, Sozialismus, verstanden werden können. Ich will mit wenigen Worten versuchen, die charakteristischen Züge, die alle diese Systeme kennzeichnen, zu bestimmen und zu überprüfen, ob die Februarrevolution dergleichen, eben jenen eigentümlichen Zustand und jene Merkmale gewollt hat. Wenn ich mich nicht täusche, meine Herren, ist der erste Charakterzug aller Ordnungen, die den Namen Sozialismus tragen, ein energischer, ständiger und unmäßiger Appell an die materiellen Leidenschaften des Menschen. (Beifall.) So sagten die einen, es gehe darum, „die körperlichen Bedürfhisse des Menschen wieder anzuerkennen"; andere forderten, dass „auch die Arbeit, selbst die härteste, nicht nur nützlich, sondern auch angenehm" sein müsse; weitere sagten, die Menschen müssten „nicht nach ihrer Leistung, sondern nach ihren Bedürfnissen entlohnt" werden; und schließlich hat der letzte Sozialist, den ich erwähnen will, Ihnen hier gesagt, das Ziel des Sozialismus und ihm zufolge auch der Februarrevolution sei es, allen uneingeschränkten Konsum zu ermöglichen. Ich kann also mit Recht behaupten, meine Herren, dass der gemeinsame Charakterzug aller sozialistischen Schulen ein nachdrücklicher und ständiger Appell an die materiellen Leidenschaften des Menschen ist. Es gibt einen zweiten Charakterzug, nämlich einen bald direkten, bald indirekten, aber immer beständigen Angriff auf die Grundlagen des individuellen Eigentums. Von dem ersten Sozialisten, der vor fünfzig Jahren sagte, dass das Eigentum der Ursprung aller Übel dieser Welt sei, bis zu jenem Sozialisten, den wir auf dieser Tribüne gehört haben und der, unbarmherziger als der erste, vom Eigentum auf den Eigentümer schließend, uns sagte, Eigentum sei Diebstahl5, attackieren, ich wage zu sagen, alle Sozialisten direkt oder indirekt das individuelle Eigentum. (Das ist wahr, das ist wahr!) Ich 5

Gemeint sind Francois Nöel Babeuf (Manifeste des Egaux [O: 1795], dt. in J. Höppner / W. SeidelHöppner: Von Babeuf bis Blanqui, Leipzig 1975, Bd. II, S. 70-80) und Pierre Joseph Proudhon (Qu 'est-ce que la propriete?, Paris 1840, dt. Was ist Eigentum ?, Graz 1971).

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möchte nicht behaupten, dass es alle so unverhohlen und, gestatten Sie es mir zu sagen, ein wenig rücksichtslos anfechten, wie einer unserer Kollegen; aber ich behaupte, dass alle es mit mehr oder weniger versteckten Mitteln, sofern sie es nicht zerstören wollen, es doch umwandeln, herabmindern, behindern, einschränken und es zu etwas anderem machen möchten, als zu dem persönlichen Besitz, mit dem wir vertraut sind und den man seit Beginn der Welt kennt. (Sehr starker Beifall.) Hier nun der dritte und letzte Zug, der meiner Ansicht nach die Sozialisten aller Schattierungen und aller Schulen charakterisiert: es ist ein tiefer Argwohn gegenüber der Freiheit, gegenüber der menschlichen Vernunft; es ist eine tiefe Verachtung des Individuums gegenüber sich selbst als Mensch; was sie alle charakterisiert, ist der beständige, vielfaltige und unaufhörliche Versuch, die menschliche Freiheit auf jegliche Art zu entstellen, zu beschneiden und zu behindern; dahinter steckt die Vorstellung, dass der Staat nicht nur das Oberhaupt der Gesellschaft ist, sondern sozusagen auch der Gebieter eines jeden Menschen sein sollte; was sage ich! sein Meister, Lehrer und Erzieher (sehr gut!), der aus Furcht, ihn fehlgehen zu lassen, ständig bei ihm und um ihn herum sein muss, um ihn zu geleiten, zu schützen, aufzufangen und zu zügeln; kurzum, es handelt sich, wie ich soeben sagte, um den mehr oder minder starken Entzug der menschlichen Freiheit. (Erneut Bekundungen von Zustimmung.) An dieser Stelle würde ich, wenn ich eine allgemeine Formel finden müsste, um auszudrücken, was ich vom Sozialismus insgesamt halte, sagen, dass er eine neue Form von Knechtschaft ist. (Lebhafte Zustimmung.) Sie sehen, meine Herren, dass ich nicht im einzelnen auf die Lehren eingegangen bin; ich habe den Sozialismus in seinen Hauptzügen geschildert; sie genügen, um ihn kenntlich zu machen; seien Sie sicher, dass überall da, wo Sie sie sehen, der Sozialismus ist, und seien Sie sicher, dass sich überall da, wo sie den Sozialismus erblicken, diese Züge anfinden. Nun wohl! Meine Herren, womit haben wir es zu tun? Handelt es sich, wie so oft behauptet wurde, um die Fortsetzung, die legitime Ergänzung, ja die Vervollkommnung der Französischen Revolution? Ist das, wie so oft gesagt wurde, die Verrichtung und natürliche Entwicklung der Demokratie? Nein, meine Herren, es ist weder das eine noch das andere; rufen Sie sich, meine Herren, die Französische Revolution in Erinnerung; überdenken Sie diesen schrecklichen und ruhmreichen Ursprung unserer modernen Geschichte. Hat die Französische Revolution, wie gestern ein Redner behauptete, das materielle Empfinden und die materiellen Bedürfnisse des Menschen befriedigt? Waren das die Taten, die sie weltweit berühmt machten? Glauben Sie, dass es sich dabei um Zuwendung, Wohlstand, uneingeschränkten Konsum und die schrankenlose Befriedigung der physischen Bedürfnisse handelt? Mathieu (Departement Dröme): Ich habe nichts dergleichen gesagt.6

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Mathieu hatte gesagt: „Wenn das Volk Barrikaden baut und dem Tod ins Auge blickt, geht es ihm nicht einfach darum, politische Rechte zu erwerben." Diese Behauptung hatte sofort sehr heftige Proteste ausgelöst.

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Tocqueville: Glauben Sie, dass sie mit solchen Reden eine ganze Generation aufrütteln, begeistern, mobilisieren, an die Fronten schicken und, den Tod vor Augen, allen Gefahren des Krieges aussetzen konnte? Nein, meine Herren, nein; indem sie von höheren und schöneren Dingen, von der Vaterlandsliebe, der Vaterlandstreue, von Tugend, Edelmut, Selbstlosigkeit und Ruhm sprach, hat sie diese großen Dinge vollbracht; denn schließlich, meine Herren, seien Sie dessen sicher, gibt es nur ein Motiv, das Menschen dazu bewegt, große Dinge zu vollbringen, und das besteht darin, an die aufrechte Gesinnung zu appellieren. (Sehr gut! Sehr gut!) Und das Eigentum, meine Herren, das Eigentum! Zweifellos hat die Französische Revolution einen konsequenten und grausamen Krieg gegen eine gewisse Anzahl von Eigentümern geführt; aber den Grundsatz des individuellen Eigentums, den hat sie immer respektiert, in Ehren gehalten und in ihre Verfassung an vorderster Stelle aufgenommen. Kein Volk hat ihm mehr respektiert; er wurde sogar auf dem Titelbild der Verfassung festgehalten. Aber die Französische Revolution hat noch mehr getan; sie hat nicht nur das individuelle Eigentum geheiligt, sondern es auch allgemein anerkannt; sie hat eine größere Anzahl von Bürger daran teilhaben lassen.7 (Verschiedene Zurufe: Das ist es, was wir verlangen!) Und dank dessen, meine Herren, brauchen wir heute nicht die unheilvollen Konsequenzen jener Lehren zu befurchten, die die Sozialisten unlängst im Lande und sogar in diesem Saal verbreiteten; weil die Französische Revolution Frankreich mit zehn Millionen Eigentümern besiedelt hat, kann man, ohne Gefahr ihre Lehren auf dem Rednerpult zulassen; sie können die Gesellschaft zweifellos erschüttern, aber dank der Französischen Revolution werden sie nichts gegen sie ausrichten können und sie nicht zerstören. (Sehr gut!) Und was schließlich die Freiheit angeht, meine Herren, so gibt es etwas, das mir ins Auge fallt, dass nämlich das Alte Regime, das zugegebener Maßen, in vielerlei Hinsicht andere Ansichten teilte als die Sozialisten, nichtsdestotrotz in politischer Hinsicht ähnliche Ideen hegte wie sie. Es stand ihnen alles in allem näher als uns. In der Tat bekannte sich das Alte Regime offen zu jener Ansicht, dass die Weisheit allein dem Staat innewohne, dass die Untertanen schutzbedürftige und schwache Wesen seien, die man immer an die Hand nehmen müsse, damit sie nicht fallen oder sich verletzen; dass es gut sei, die individuellen Freiheiten unablässig einzuschränken, zu behindern, zu minimieren; dass es notwendig sei, das Gewerbe gesetzlich zu regeln, die Güte der Erzeugnisse sicher zu stellen und die freie Konkurrenz zu verhindern. Das Alte Regime dachte gerade in dieser Hinsicht so, wie die Sozialisten von heute. Und wer bitte hat etwas anderes verkörpert? Die Französische Revolution!8

7 8

Vgl. Annie Moulin, Les paysans dans la societe frangaise de la Revolution ä nos jours, Paris 1988, und Paul Bois, Paysans de l'Ouest, Le Mans 1960. Mit dem Allarde-Gesetz vom 2. März 1791 wurden die Zünfte und die privilegierten Manufakturen abgeschafft, mit dem Le Chapelier-Gesetz vom 14. Juni 1791 alle Vereinigungen von Gesellen oder Meistern verboten und so der freie Markt eingeführt.

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Meine Herren, wer hat alle diese Hindernisse überwunden, welche überall den freien Verkehr der Personen, Güter und Ideen behinderten? Wer hat dem Menschen seine individuelle Größe wiedergegeben, seine wahre Größe, wer? Die Französische Revolution. (Beifall und Unruhe.) Es war die Französische Revolution, die alle diese Sperren beseitigt und alle Ketten zerrissen hat, die Sie unter anderem Namen wieder einfuhren möchten; und es sind nicht nur die Mitglieder jener unsterblichen Verfassungsgebenden Versammlung, der Assemblee Constituante [9. Juli 1789-10. August 1792], welche die Freiheit in Frankreich und in der Welt begründet und die Doktrinen des Alten Regimes verworfen haben, sondern das taten auch die herausragenden Männer aller nachfolgenden Versammlungen, sogar der Anfuhrer der blutigen Diktatur des Konvents. Ich habe neulich seine Worte wieder gelesen, hier sind sie: „Meiden Sie", sagte Robespierre, „meiden Sie die alte Manie." Sie sehen, dass sie nicht neu ist. (Gelächter.) „Meiden Sie die alte Manie, alles regeln zu wollen; lassen Sie den Einzelnen, lassen Sie den Familien das Recht, frei alles zu tun, was anderen nicht schadet; lassen Sie den Kommunen das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu verwalten; kurzum, geben Sie der Freiheit der Einzelnen das zurück, was ihr unrechtmäßig weggenommen wurde, das, was nicht notwendigerweise der öffentlichen Gewalt zusteht."9 (Aufsehen.) Was folgt daraus? Meine Herren, jene große Bewegung, wie sie die Französische Revolution darstellt, hätte nun in jene Gesellschaft münden sollen, die uns die Sozialisten mit Entzücken schildern, jener durch Verordnungen unabänderlichen, festgelegten und abgezirkelten Gesellschaft, wo der Staat sich um alles kümmert, wo der Einzelne nichts ist, wo die Gesellschaft auf sich selbst alle Kraft und alles Leben vereinigt und zusammenzieht, wo dem Menschen nur der Wohlstand als Ziel gesetzt ist. Das ist eine Gesellschaft, wo es keine Luft gibt und das Licht nicht mehr durchdringt! Was! Für diese Gesellschaft von Bienen oder Bibern, für diese eher aus klugen Tieren denn aus freien und zivilisierten Menschen gebildete Gesellschaft wäre die Französische Revolution vollzogen worden! Dafür wären so viele berühmte Menschen auf den Schlachtfeldern oder auf dem Schafott gestorben, hätte soviel ehrenvolles Blut die Erde getränkt; dafür wären so viele Leidenschaften entfacht worden und so viel Geist und so viele Tugenden hervorgetreten! Nein, nein, ich schwöre es bei den Menschen, die für diese große Sache umgekommen sind; nein, nicht dafür sind sie gestorben; das geschah für etwas Größeres, Heiligeres, ihrer und der Menschheit Würdigeres. (Sehr gut!) Wäre nur jenes zu tun gewesen, dann

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Rede Maximilien Robespierres (1758-1794) über die Verfassung vom 10. Mai 1793. In der deutschen Ausgabe wird diese Passage folgendermaßen übersetzt: „Vermeidet das alte Streben der Regierungen, zu sehr regieren zu wollen; überlasst den Einzelnen und den Familien das Recht, alles zu tun, was den anderen nicht schadet; lasst den Gemeinden die Macht, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, soweit sie nicht hauptsächlich die allgemeine Verwaltung der Republik angehen. Mit einem Wort, gebt der individuellen Freiheit alles, was nicht in natürlicher Weise zu der öffentlichen Autorität gehört, und damit werdet ihr dem Ehrgeiz und der Willkür möglichst wenig Anhaltspunkte gelassen haben." Maximilien Robespierre, Ausgewählte Werke, Hamburg 1989,421.

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wäre die Revolution überflüssig gewesen; das weiterentwickelte Ancien Regime hätte dafür genügt. (Anhaltende Unruhe.) Ich sagte soeben, der Sozialismus maße sich an, die gesetzmäßige Fortentwicklung der Demokratie zu sein; ich meinerseits werde nicht, wie es einige unserer Versammlungsmitglieder versucht haben, nach der wahren Etymologie des Wortes Demokratie suchen. Ich werde nicht, wie man es gestern getan hat, seine griechischen Wurzeln aufdecken, um zu wissen, woher dieses Wort kommt. (Lachen.) Ich werde die Demokratie dort suchen, wo ich sie lebendig, aktiv und triumphierend gesehen habe, in dem einzigen Land der Welt, wo sie existiert, wo sie heute in der modernen Welt etwas Großes und Beständiges schaffen konnte, in Amerika. (Raunen.) Da sehen Sie ein Volk, wo alle Bedingungen gleicher sind als bei uns; wo das Sozialgefüge, die Sitten und Gesetze demokratisch sind; wo alles vom Volk ausgeht und auf es zurückwirkt, und wo doch jeder Einzelne eine vollständigere Unabhängigkeit und eine größere Freiheit genießt als zu jeder anderen Zeit oder an jedem anderen Ort der Erde; ein Land, das durch und durch demokratisch ist; ich wiederhole es, es ist die einzige Demokratie, die heute in der Welt existiert, die einzige wahrhaft demokratische Republik, die man in der Geschichte kennt. Und in dieser Republik suchen Sie den Sozialismus vergebens. Nicht nur, dass sich dort die Theorien der Sozialisten nicht des öffentlichen Geistes bemächtigen konnten, sie haben auch in den Diskussionen und in den öffentlichen Angelegenheiten dieser großen Nation eine so geringe Rolle gespielt, dass sie nicht einmal behaupten können, man furchte sie dort. Amerika ist heute dasjenige Land der Welt, wo sich die Demokratie am vollkommensten entfaltet, und es ist auch dasjenige, wo die sozialistischen Lehren, die Ihnen zufolge so gut mit der Demokratie übereinstimmen, am wenigsten Einfluss haben; es ist das Land im ganzen Universum, wo es sich für die Verfechter dieser Lehren am wenigsten lohnt, vorzusprechen. Meinerseits, das gestehe ich gern, würde ich nichts dagegen haben, wenn sie nach Amerika gingen; aber ich rate ihnen in ihrem eigenen Interesse, das nicht zu tun. (Schallendes Gelächter.) Ein Mitglied: Man verkauft gerade ihre Güter!10 Tocqueville: Nein, meine Herren, die Demokratie und der Sozialismus gehören nicht zusammen. Es sind nicht nur zwei verschiedene Dinge, sondern Gegensätze. Sollte Demokratie zufällig darin bestehen, eine Regierung zu bilden, die noch quälender, kleinlicher und restriktiver ist, als alle anderen, mit dem einzigen Unterschied, dass man sie vom Volk wählen und im Namen des Volkes agieren ließe? Aber was hätten Sie dann getan, außer der Tyrannei einen legitimen Anstrich zu geben, den sie nicht besaß, und 10 Im Dezember 1847 hatten Anhänger Etienne Cabets (1788-1856) am Red River im Nordwesten von Texas eine kommunistische Kolonie gegründet. „Ikarien" aufzugeben, stand noch nicht zur Debatte, aber Meinungsverschiedenheiten entzweiten die Kolonisten. Im Dezember 1848 wurde unter Leitung Cabets in Navoo (Illinois) am Mississippi eine neue Kolonie gegründet. Vgl. Joachim Höppner (Hg.): Etienne Cabet und seine Ikarische Kolonie, Frankfurt am Main 2002; Etienne Cabet: Reise nach Ikarien, Magdeburg 1893.

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ihr damit die Stärke und Allmacht zu verleihen, die ihr fehlten! Die Demokratie erweitert den Bereich der individuellen Unabhängigkeit, der Sozialismus engt ihn ein. Die Demokratie verleiht jedermann seine Würde, der Sozialismus macht jedermann zum Bediensteten, zum Werkzeug, zu Einem unter Vielen. Demokratie und Sozialismus verbindet nur ein Wort, die Gleichheit; aber beachten Sie den Unterschied: Die Demokratie will die Gleichheit in Freiheit, und der Sozialismus will die Gleichheit zwangsweise in Unfreiheit. (Sehr gut! Sehr gut!) Die Februarrevolution darf also nicht sozial sein; wenn sie es nicht sein darf, ist es wichtig, den Mut zu haben, das zu sagen; wenn sie es nicht sein soll, muss man die Kraft aufbringen, das laut zu verkünden, wie ich es hier mache. Wenn man das Ende nicht will, darf man die Mittel nicht fordern; wenn man das Ziel ablehnt, darf man nicht den dorthin führenden Weg einschlagen. Man legt Ihnen heute nahe, ihn zu begehen. Man darf nicht jene Politik befolgen, die einst Babeuf vorgegeben hat, dieser Großvater aller modernen Sozialisten. (Zustimmendes Lachen.) Man darf nicht in die Falle geraten, die er selber benannt hat, oder die vielmehr sein Biograph, Freund und Schüler Buonarotti in seinem Namen angeführt hat. Hören Sie, was Buonarotti sagte; es ist auch nach fünfzig Jahren noch wert, vernommen zu werden. Ein Mitglied: Hier ist kein Babouvist. Tocqueville: „Die Abschaffung des individuellen Eigentums und die Errichtung der großen nationalen Gemeinschaft waren das letzte Ziel seiner (Babeufs) Arbeiten. Aber er hätte sich wohl gehütet, sie einem kommenden Siegeszug gleichzusetzen; er dachte, man müsse sich so verhalten, dass das ganze Volk aus Bedürfnis und Interesse das individuelle Eigentum abschafft." Hier nun die wichtigsten Maßnahmen, die er zur Anwendung bringen wollte. (Hier spricht sein Lobredner.) „Durch Gesetze eine öffentliche Ordnung errichten, in der die Eigentümer zwar vorübergehend ihren Besitz behalten, aber weder Zinsen erhalten noch Annehmlichkeiten oder Anerkennung genießen; wo sie, weil gezwungen, ihre Einnahmen größtenteils für Kulturabgaben und Gebühren zu verausgaben, von steigenden Steuern belastet und aus dem Geschäft gedrängt würden und schließlich allen Einfluss verlören, so dass sie im Staat nur noch eine verdächtige Klasse von Fremdlingen bildeten, die dazu gezwungen wäre, unter Preisgabe ihrer Güter auszuwandern oder durch ihren eigenen Beitritt die Errichtung der universalen Gemeinschaft zu besiegeln."11 (Gelächter.) Ein Abgeordneter. Da haben wir es! Tocqueville·. Das ist, meine Herren, das Programm Babeufs; ich wünsche von ganzem Herzen, dass es nicht dasjenige der Februarrepublik sein soll; nein, die Februarrepublik soll demokratisch sein, aber nicht sozialistisch ... Eine Stimme von links: Doch! (Nein! nein! - Unterbrechung.) Tocqueville: Und wenn sie nicht sozialistisch ist, was ist sie dann? Eine Stimme von links: Royalistisch!

11 Tocqueville resümiert hier Filippo M. Buonarotti, Conspiration pour l 'Egalite dite de Babeuf, Brüssel 1828, S. 309-311.

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Tocqueville, dorthin gewandt: Sie würde es vielleicht werden, wenn man Sie machen ließe (Lebhafter Beifall.), aber sie wird es nicht werden. Wenn die Februarrevolution nicht sozialistisch ist, was wird sie dann sein? Ist sie, wie viele Leute sagen und auch glauben, ein reiner Zwischenfall? Soll sie nur ein reiner Austausch von Personen oder Gesetzen sein? Ich glaube nicht daran. Als ich letzten Januar in der Deputiertenkammer redete und die damalige Mehrheit auf diesen Bänken aus anderen Gründen, aber ebenso murrte, wie man es soeben getan hat... (Sehr gut! sehr gut!) (Der Redner weist auf die Linke.) ... sagte ich zu ihnen: Hüten Sie sich, der Sturm der Revolutionen hat sich erhoben; riechen Sie ihn nicht? Revolutionen ziehen auf; sehen Sie sie nicht? Wir sind auf dem Vulkan. Ich habe das gesagt; der Moniteur bezeugt es.12 Und weshalb habe ich es gesagt? ... (Störung von links.) War ich so geistesschwach zu glauben, die Revolutionen rückten heran, weil dieser oder jener Mann an der Macht war, weil dieses oder jenes politische Vorkommnis augenblicklich das Land erregte? Nein, meine Herren, weshalb ich davon überzeugt war, dass die Revolutionen heranrücken, und was tatsächlich die Revolution hervorgebracht hat, war dies: Mir wurde klar, dass infolge eines umfassenden Verstoßes gegen die heiligsten Grundsätze, welche die Französische Revolution in der Welt verbreitet hatte, Macht, Einfluss, Ehrenränge und Lebensweise sozusagen dermaßen auf eine einzige Schicht zugeschnitten worden waren, dass kein einziges Land der Welt einem vergleichbaren Anblick bot; selbst im aristokratischen England, in jenem England, das wir damals so oft und zu unrecht als Beispiel und Vorbild angesehen haben, nahm das Volk, wenn auch nicht direkt, so doch zu einem erheblichen Umfang am öffentlichen Leben teil; wenn es nicht selbst wählte (und es wählte oft), brachte es mindestens seine Stimme zu Gehör; es bekundete denen, die herrschten, seinen Willen; sie wurden von ihm angehört und es von ihnen. Hier dagegen - nichts desgleichen. Ich wiederhole es, alle Rechte, alle Macht, aller Einfluss und alle Ehrenränge, ja, das gesamte politische Leben waren auf eine extrem kleine Schicht beschränkt; und darunter - nichts! Nun wohl! Deswegen war ich davon überzeugt, dass die Revolution unmittelbar bevor stand. Ich sah, dass im Inneren dieser kleinen privilegierten Schicht das geschah, was sich auf Dauer stets in kleinen, in sich geschlossenen Aristokratien vollzieht, es geschah, dass das politische Leben erlosch, dass die Korruption von Tag zu Tag um sich griff, das die Intrige die öffentlichen Tugenden verdrängte, dass alles verfiel und sich verschlimmerte. Das gilt für Oben. Und was passierte unten? Unterhalb dessen, was damals als Rechtsstaat galt, das Volk im eigentlichen Sinn, das Volk, das weniger misshandelt wurde als man gemeinhin sagt (denn es gilt vor allem gegenüber den gestürzten Mächten gerecht zu sein), dessen man aber zu wenig gedachte, das Volk, das sozusagen außerhalb der ganzen öffentlichen 12 Siehe Tocquevilles Rede vom 27. Januar 1848 in diesem Band, S. 188.

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Entwicklung lebte, dieses Volk schuf sich ein Eigenleben: Während es sich immer mehr vom Geist und Herzen derer löste, die es vermeintlich lenkten, gab es sich mit Herz und Seele denen hin, die mit ihm selbstverständlich in Verbindung standen, und viele davon waren diese irreführenden Utopisten, mit denen wir uns soeben befassten, oder gefahrliche Demagogen. Weil ich sah, wie diese beiden Klassen, die eine klein, die andere groß, die eine von Neid, Misstrauen und Wut, die andere von Sorglosigkeit und zuweilen von Egoismus und Gefühlskalte erfüllt, weil ich sah, wie diese beiden Klassen zunehmend getrennt voneinander und sogar gegeneinander handeln, sagte ich, und zwar zu recht: Der Sturm der Empörung erhebt sich und bald wird die Revolution kommen. (Sehr gut!) Wurde die Februarrevolution gemacht, um so zu enden? Nein, meine Herren, das glaube ich nicht; so sehr wie niemand von Ihnen bin ich vom Gegenteil überzeugt, will ich das Gegenteil; ich wünsche es nicht nur im Interesse der Freiheit, sondern auch im Interesse der öffentlichen Sicherheit. Ich kann nicht behaupten, dass ich auf die Februarrevolution hingearbeitet hätte, ich gestehe es ein; aber nachdem diese Revolution stattfand, will ich, dass es eine bedeutsame Revolution wird, denn ich möchte, dass es die letzte sein wird. Ich weiß, dass nur große Revolutionen von Dauer sind; eine Revolution, aus der nichts folgt, die von Geburt an mit Unfruchtbarkeit geschlagen ist, die keine weitere Entwicklung anstößt, kann nur dazu dienen, weiter Revolutionen zu erzeugen, die ihr folgen. (Beifall.) Ich möchte deshalb, dass die Februarrevolution einen Sinn hat, einen klaren, deutlichen, wahrnehmbaren Sinn, der hervorsticht, den alle erkennen können. Und was ist dieser Sinn? Ich fasse ihn in zwei Losungen: Die Februarrevolution soll die wahrhafte Fortsetzung, die wirkliche und aufrichtige Ausführung dessen sein, was die Französische Revolution gewollt hat; sie soll die Verwirklichung dessen sein, was unsere Väter nur gedacht haben. (Lebhafte Zustimmung.) Ledru-Rollin: Ich bitte um das Wort. Tocqueville: Das soll die Februarrevolution sein, nicht mehr, nicht weniger. Die Französische Revolution wollte, dass es in der Gesellschaft keine Klassen mehr gebe, sie hatte nie die Idee, die Bürger in Besitzer und Proletarier zu scheiden, wie Sie es machen, Sie werden in keinem der großen Dokumente der Französischen Revolutionen die mit Hass und Streit aufgeladenen Wörter finden. Die Revolution wollte, dass es - politisch - keine Klassen gebe; die Restauration, das Julikönigtum wollte das Gegenteil. Wir müssen zu dem zurückkehren, was unsere Väter anstrebten. Die Revolution wollte, dass die öffentlichen Lasten für alle Bürger gleich verteilt sind, wirklich gleich; sie ist daran gescheitert. Die öffentlichen Ausgaben sind in bestimmten Bereichen ungleich verteilt geblieben: wir müssen sie gleich gestalten: nochmals, wir müssen das anstreben, was unsere Väter wollten und das verwirklichen, was sie nicht umzusetzen vermochten. (Sehr gut.) Die Französische Revolution, das habe ich Ihnen bereits gesagt, hatte nicht den lächerlichen Anspruch, eine soziale Macht zu schaffen, die von sich aus jedem Bürger zu Glück, Wohlergehen und Wohlstand verhilft und die zweifelhafte Weisheit der Regierung an Stelle des praktischen und zweckmäßigen Wissens der Regierten setzt; sie glaubte

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ihre Aufgabe genügend zu erfüllen, wenn jeder Bürger Bildung und Freiheit erhält. (Sehr gut!) Sie hatte diesen festen, edlen und stolzen Glauben, den Sie anscheinend nicht haben, dass es dem beherzten und anständigen Menschen genügt, diese beiden Dinge, Bildung und Freiheit, zu haben, um von denen, die ihn regieren, nichts weiter zu verlangen. Das war es, was sie wollte; sie hatte weder die Zeit noch die Mittel, es umzusetzen. Wir müssen es uns jetzt zum Ziel setzen und verwirklichen. Schließlich hatte die Französische Revolution den Wunsch, der sie in den Augen der Völker nicht nur verehrungswürdig, sondern unsterblich macht, den Wunsch, die Wohlfahrt in die Politik einzuführen; sie führte die staatliche Sorgepflicht gegenüber den Armen ein, gegenüber jenen Bürgern, die Not leiden, und schuf damit einen umfassenderen, allgemeineren und höheren Grundsatz, als man ihn vor ihr kannte. Diesen Grundsatz müssen wir aufgreifen, nicht, ich wiederhole es, indem wir die Fürsorge und Umsicht des Staates an die Stelle der individuellen Vorsorge und Einsicht setzen, sondern indem wir tatsächlich und effektiv mit den Mitteln, über die der Staat verfügt, denen Hilfe leisten, die leiden, ja allen Beistand leisten, die ihre Mittel erschöpft haben und die nun im Elend leben müssen, wenn ihnen der Staat nicht die Hand reicht. Das hat die Französische Revolution verwirklichen wollen; das ist es, was wir nun selbst in Angriff nehmen müssen. Ist das etwa Sozialismus? Von links: Ja! Ja! Nichts anderes. Tocqueville: Nein! Nein! Nein, das ist nicht Sozialismus, das ist auf die Politik angewandte christliche Nächstenliebe; daran ist nichts ... (Unterbrechung.) Vorsitzende: Sie verstehen einander nicht; das ist sonnenklar; Sie sind nicht einer Meinung; Sie werden die Tribüne betreten; aber stören Sie nicht. Tocqueville: Daran ist nichts, was den Arbeitern ein Recht über den Staat gibt; nichts daran zwingt den Staat, an die Stelle der individuellen Vorsorge zu treten und die individuellen Ersparnisse und individuelle Rechtschaffenheit zu ersetzen; nichts daran ermächtigt den Staat, in das Gewerbe einzugreifen, ihm Verordnungen aufzuzwingen, das Individuum zu knechten, um es besser zu regieren oder, wie man unverschämter Weise vorgibt, um es vor sich selbst zu schützen; das ist nur auf die Politik angewandter christlicher Glaube. Ja, die Februarrevolution soll christlich und demokratisch sein; aber sie soll nicht sozialistisch sein. Diese Worte fassen mein ganzes Ansinnen zusammen, und ich schließe damit, indem ich sie ausspreche. (Sehr gut! Sehr gut!)

Bericht der Antragskommission zur Verfassungsänderung [8. Juli 1851]1

Berichterstatter. Meine Herren, bevor ich den Bericht zu verlesen beginne, bitte ich die Versammlung, mir eine Bemerkung zu gestatten. Der Bericht ist in zwei Teile gegliedert. Der erste, weit bedeutendere, enthält die Beschlüsse der Kommission sowie alle ihre Beweggründe. Der zweite soll kurz erklären, aus welchen Gründen, seien sie grundsätzlich oder nachgeordnet, die Kommission die verschiedenen eingereichten Anträge abgelehnt hat. Ich werde die Versammlung um Erlaubnis bitten, ihr nur den ersten Teil des Berichts vorzutragen. Ich war vor kurzem schwer krank, und ich befurchte, dass es zu anstrengend für mich wird, den Bericht insgesamt vorzutragen. Von allen Seiten: Ja! Ja! Eine Stimme·. Dann kann ein anderes Kommissionsmitglied vortragen. Berichterstatter (verliest):

Erster Teil Meine Herren, eine Vielzahl von Bürgern wünscht, dass die Verfassung geändert werde. Zweihundertdreiunddreißig unserer Kollegen haben gemeinsam den Antrag eingereicht.2 Eine grundsätzlichere Frage kann rechtlich sicher nicht aufgeworfen werden, und ich weiß nicht, ob selbst in diesem Land, das seit sechzig Jahren so viele einzigartige Ereignisse erlebt und so seltsame Wechselfalle erlitten hat, einer beratenden Körperschaft jemals eine größere Entscheidung abverlangt wurde.

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Unsere Wiedergabe des Rapport fait par Μ. de Tocqueville, au пот de la Commission chargee d'examiner lespropositions sur la revision de la Constitution folgt den O.C., Bd. III 3., Paris 1985, S. 433-453. Der am 8. Juli erstattete Bericht wurde seinerzeit sogleich im Moniteur Universel vom 9.7.1851 veröffentlicht, S. 1943-1945. Nachgedruckt wurde er in der Beaumont-Ausgabe der (Euvres completes, Bd. IX., S. 574-606. Die detaillierte Verfassungsanalyse benennt die Gefahr des kommenden Bonapartismus, der am 2. Dezember 1851 mit dem Staatsstreich von Louis Napoleon einsetzt, deutlich. Das waren die Unterzeichner des vom Victor Due de Broglie (1785-1870) eingebrachten Antrags auf Gesamtänderung. Der Antrag lautete: „In Ansehung von Artikel 111 der Verfassung äußert die

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Eine neue Verfassung ist gewöhnlich das notwendige Ergebnis einer Revolution. Sie fasst zusammen, präzisiert und legalisiert die Ideen und Tatsachen, welche die vorausgehende Revolution verkündet oder durchgesetzt hat. Aber unter den Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit, ohne jeden offensichtlichen Zwang, willentlich die Grundlagen der Gesetzgebung anzutasten, um zu versuchen, sie anders zu fassen oder umzustellen, der Gesetzgebung eine solche umfassende Erschütterung zuzufügen, und dies bei einem Volk, das selbst von gegensätzlichen Leidenschaften und Interessen erschüttert ist, dessen gesamte politische Einrichtungen vor noch nicht vier Jahren umgekrempelt wurden, während alle anderen, vielleicht zum ersten Mal in der Welt, diskutiert und ernsthaft in Frage gestellt wurden, das ist selten und verwegen, meine Herren. Sehen wir nach, ob es notwendig ist. Aber zunächst: ist es wahr, dass die jetzige Verfassung mangelhaft ist? Sind ihre Fehler jedenfalls derart, dass es dringlich erforderlich ist, sie zu erneuern? In der Kommission hat niemand bestritten, dass die Verfassung Mängel besitzt und dass es sinnvoll sei, sie zu berichtigen. Die Minderheit beließ es bei der Auffassung, dass diese Mängel, ein allen Werken des Menschen innewohnendes Übel, nicht Hauptursache der zu beklagenden Unruhe und Beklemmung seien und nicht die schwierige Lage, in der sich das Land befindet, erzeugt hätten. Gesagt wurde, man müsse sich nicht die Verfassung vornehmen, sondern die Politiker, die sie seit zwei Jahren in die Praxis umsetzen, und man rede nur soviel davon, die Gesetze zu verbessern, weil man sich selber nicht verändern wolle. Hätten die monarchistischen Parteien nicht unablässig darauf abgezielt, die Republik zu stürzen, statt sich darauf zu beschränken, sie zu lenken, hätte die Exekutive nicht ständig mit großem Aufwand und Skandalen versucht, ihre Kompetenzen zu überschreiten, so hätte die Verfassung, trotz ihrer Unvollkommenheiten, den Interessen Sicherheit und den Gemütern Gelassenheit bieten können. Die Mehrheit, meine Herren, hat diese Ansicht nicht geteilt; sie war davon überzeugt, dass unabhängig von allen Einzelursachen, die man anführen könnte, das Übel hauptsächlich den Mängeln der Verfassung zugeschrieben werden müsste. Das Begehren, die Macht zu ergreifen und zu erhalten, die politischen Vorurteile, die schlechten Erfahrungen, der Groll und der Streit der Parteien, so wurde gesagt, wären der übliche Gang der Geschichte. Gut wären diejenigen Verfassungen, die mühelos diese der Menschennatur innewohnenden Mängel im Zaum halten oder bezwingen, schlecht diejenigen, die sie begünstigen und anstacheln. Die Verfassung von 1848 hat letzteren Charakter; sie macht die Regierung unbeständig und ungestüm; sie verlangt von den Regierenden solch eine Mäßigung, eine Uneigennützigkeit und eine Art von Selbstverleugnung, dass es gefährlich wird, sie von Menschen einzufordern, und vielleicht kindisch, sie zu erwarten. Viel Kritik wurde an ihr geübt (Aufmerksamkeit); wir begnügen uns hier damit, die beiden wichtigsten Punkte kurz darzustellen; denn wenn sie berechtigt wären, würden sie ausreichen, um die geforderte Verfassungsänderung einzuleiten. Der erste betrifft jenen Akt, mit dem die Volkssouveränität ausgeübt wird: die Wahl der Nationalversammlung. Hunderttausend Wähler bei einem einzigen Wahlgang gleichGesetzgebende Versammlung den Wunsch, dass die Verfassung gemäß dem genannten Artikel insgesamt überarbeitet werde."

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zeitig per Liste über zehn Repräsentanten abstimmen zu lassen, bedeute soviel, wie die Minderheit triumphieren oder die Mehrheit aufs Geratewohl agieren zu lassen. Ein trügerisches Ergebnis oder eine blinde Abstimmung, das sind gewöhnlich die Konsequenzen solch eines Systems. Es ist letzten Endes unmöglich, dass die Bevölkerung eines Departements den Verdienst jener einzuschätzen vermag, die sich zur Wahl stellen. Die meisten Wähler haben kaum je von einem oder zwei der Kandidaten reden gehört; alle anderen kennen sie nicht einmal dem Namen nach. Was folgt daraus? Dass in unruhigen Gegenden oder in Zeiten starker öffentlicher Erregtheit die Gewaltparteien das Volk, ohne es einzubeziehen, dazu nötigen, sie zu wählen; dass in ruhigen Landstrichen und zu friedlichen Zeiten die Liste der Abgeordneten im voraus von einigen Drahtziehern aufgestellt wird, um Privatinteressen zu bedienen oder persönlichen Feind- und Freundschaften zu genügen; und dieser Liste folgen dann die Wähler wie einem Leitfaden, der sie durch das Dunkel führt, das sie umgibt. Das Wahlergebnis, das noch von der Gesamtheit der Bürger auszugehen scheint, ist in Wirklichkeit das Werk einer sehr kleinen Clique. Der zweite Kritikpunkt, der an der Verfassung geübt wurde und auf den wir Sie verweisen wollen, ist noch bedeutender, denn er zielt auf den Ursprung, die Beschaffenheit und die Beziehung der beiden großen Gewalten, die die Gesetze geben und anwenden. Eine einzige Kammer, die mit der Gesetzgebung beauftragt ist, und ein einziger Mensch, der mit der Exekutive, der Leitung aller Angelegenheiten betraut ist; beide von der Gesamtheit der Bürger direkt gewählt; die Versammlung allmächtig im Rahmen der Verfassung; der Präsident ihr innerhalb der selben Grenzen zu Gehorsam verpflichtet, aber dank seiner Wahl mit solcher moralischen Macht ausgestattet, dass Widersetzlichkeit unvorstellbar und Unterordnung hinfallig wird. Im Übrigen ist er mit allen Vorrechten versehen, die das Haupt der Exekutive in einem Land besitzt, wo die allgegenwärtige und alles bestimmende öffentliche Verwaltung von der Monarchie und fur sie geschaffen wurde. Diese beiden großen Gewalten sind dem Ursprung nach gleich aber ungleich in ihren Rechten. Sie sind vom Gesetz zur gegenseitigen Kontrolle bestimmt, aber von ihm gewissermaßen zu Argwohn, Neid und Machtkampf aufgefordert. Dennoch sind sie gezwungen, miteinander verknüpft in ständigem Einvernehmen zusammenzuarbeiten, ohne einen Mittler oder Schlichter zu haben, der sie versöhnen oder zügeln könnte: Das sind nicht die Voraussetzungen für eine feste und starke Regierung. Solange die Dinge in diesem Zustand verbleiben, wird man sagen können, dass die Republik noch nicht ihre Bestimmung gefunden hat, dass ihre Regierung schwach und die Erprobung ihrer Loyalität noch aussteht. Die Verfassung ist also fehlerhaft. Hätten wir jedoch, meine Herren, nur die Mängel der Verfassung an sich betrachtet, dann hätten wir uns gescheut, dem Land unverzüglich eine Verfassungsänderung zuzumuten, eine immer gefährliche, aber zur Zeit besonders zu furchtende Maßnahme. Wir hätten ruhigere Zeiten und günstigere Umstände abgewartet, hätten dabei auf den gesunden Menschenverstand gesetzt, der drei Jahre lang ausgereicht hat und weiter ausreichen könnte, um in der Praxis die Mängel der Verfassung zu korrigieren, wenn der allgemeine Stand der Dinge, die öffentliche Stimmung, die besonderen Gefahren des Augenblicks und alle Bedingungen, mit denen wie es zu tun haben, es gestatten würden, die Abstimmung hinauszuschieben.

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Meine Herren, es ist heikel, schwierig, vielleicht sogar in bestimmter Hinsicht gefährlich, diese verschiedenen Gründe vor der Versammlung und vor dem Land darzulegen. Wir nennen sie jedoch unverhohlen und unumwunden. Bedenken Sie wohl, wenn Sie uns anhören, wie auch das Land nicht vergessen wird, dass es nicht von uns abhängt, die Frage nach der Verfassungsänderung zu stellen. Wenn so gefahrliche Fragen aufgeworfen sind, ist es gefährlicher, ihren Ernst zu verschleiern oder die wahren Motive zu kaschieren, die man hat, um sie zu lösen, als klar und entschieden zu sprechen. Im Anblick der Krise, die der Nation droht, wird neben der Notwendigkeit, die Bürger aufzuklären und uns zu überzeugen, alles andere nebensächlich. Die Verfassungsänderung wurde von unterschiedlichen Seiten angegriffen. Mitglieder der Kommission, die zwar der Mehrheit dieser Versammlung angehören, aber dennoch gegen die vorgeschlagene Maßnahme sind, waren nicht die schärfsten unter den Opponenten 3 , und die Kritikpunkte unterschieden sich nur in den Blickwinkeln. Sie schlagen vor, abermals die allgemeine Wahl auszurufen, sagten die einen, aber Sie haben sie zerstört. Kann man eine Verfassung, die das Werk der ganzen Nation war, von einem Teil der Nation ändern lassen? Können die Mitglieder, die gegen das Gesetz vom 31. Mai gestimmt haben, weil es ihrer Ansicht nach die Wählerschaft nicht dezimierte, sondern verstümmelte, ehrlichen Herzens für die Verfassungsänderung stimmen, solange das Gesetz vom 31. Mai nicht abgeändert wurde? Man täuscht sich, wenn man meint, man könne in der Versammlung jemals die verfassungsmäßige Dreiviertelmehrheit erzielen. Wenn man für die Verfassungsänderung stimmt, wird man also nicht erreichen, dass sie stattfindet, sondern nur die moralische Macht der Verfassung schwächen und Verstöße gegen sie begünstigen.4 Die Verfassung hat zweifellos ihre Mängel, sagten die anderen; aber der Zeitpunkt, um sie zu korrigieren, ist schlecht gewählt. Welche einheitliche Vorstellung sollte die verfassungsgebende Versammlung angesichts der gegenwärtigen Spaltung der Parteien und der daraus folgenden Verwirrung der Gemüter verkörpern? Das Land sieht nur, dass der Missstand mehr noch in ihm selbst steckt als in den Gesetzen; möge es erst einmal wissen, was es will, dann werde man versuchen können, das Bestehende zu ändern. Aber solange es so gespalten ist, wie wir es sehen, bedeutet die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung, es ohne Gewinn aufzuwühlen, den Kranken neu zu betten, ohne ihn zu heilen, noch mehr Chaos zu stiften, statt Klarheit zu schaffen. In dieser hervorgerufenen ertragslosen Aufregung ist die konservative Mehrheit, die uns kurzerhand gerettet hat, in Gefahr, sich aufzulösen: Sie kann geschlossen vor die

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Ein Teil der Orleanisten war gegen die Änderung, weil sie eine sofortige Wiedereinsetzung LouisNapoleons für unmöglich hielten. Tocquevilles Argumentation zielt darauf ab, dass in der Versammlung die Dreiviertelmehrheit für die Verfassungsänderung nur mit Unterstützung eines Teils der Republikaner möglich sei, und man diese Unterstützung nur erhalten werde, wenn das Gesetz vom 31. Mai aufgehoben werden könnte. Republikanische Mitglieder der Kommission waren Godefroy Cavaignac (1801-1845), Jules Favre (1809-1880), Jean-Baptist Charras (1810-1865) und Hippolyte Charamaule (17941886).

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Wähler treten, solange es sich nur um das Tagesgeschehen unter der bestehenden Regierung handelt; doch sobald die Regierung selbst in Frage gestellt wird, werden sich die verschiedenen Fraktionen, die die Mehrheit bilden, von ihren Kollegen abspalten und so ihren gemeinsamen Gegnern das Feld räumen. Außerdem haben in diesem Land viele, die die Verfassungsänderung fordern, anderes im Sinn; in Wirklichkeit wollen Sie gar nicht die Revision; viele, die sie besonders lautstark fordern, wären sehr verärgert, wenn sie sie erreichten, und sie würden sich hüten, die Frage aufzuwerfen, die uns beschäftigt, wenn sie sich nicht sicher wären, dass sie nicht beantwortet werden kann. Im Grunde will man die Nation nur aufwiegeln, die Wähler in Verlegenheit bringen und sie von vornherein für eine verfassungswidrige Kandidatur gewinnen, für die sich die Administration bereits mit vollem Eifer und solcher Dreistigkeit einsetzt, dass sie alles übertrifft, was man bereits in anderen Situationen erleben konnte. Was man zudem erreichen will, ist sich selbst oder seinen Freunden gute Chancen bei den nächsten Wahlen einzuräumen, indem man jetzt schon auf die Leiden und Leidenschaften des Volkes eingeht und ihm mit der trügerischen Hoffnung schmeichelt, dass eine Verfassungsgebende Versammlung die Nöte, an denen es leidet, beseitigen werde.5 Die Mehrheit in Ihrer Kommission, meine Herren, ließ sich von diesen Argumenten nicht überzeugen. Sie bestreitet nicht, dass die Änderung gefährlich ist, hält sie aber fur sehr notwendig. Es ist gewiss falsch, der öffentlichen Meinung zu leichtfertig zu folgen; aber es ist gewiss nicht immer klug oder gar patriotisch, sich ihr zu widersetzen. In dieser Sache variieren die Maßgaben für Staatsmänner nach Zeitgeist und Form der gesellschaftlichen Institutionen. In freien Ländern und insbesondere in demokratischen Ländern, wo Gutes wie Böses nur mit Hilfe der Massen vollbracht werden können, muss man vor allem deren Zuneigung und Vertrauen behalten. Wenn sie besorgt, beunruhigt, verletzt sind und ein Heilmittel verlangen, welches man ihnen aber verweigert, weil man es für weniger wirksam hält, als sie es sich vorstellen, dann treibt man sie aus Verzweiflung dazu, unter anderen Ratgebern ein anderes Verhalten an den Tag zu legen und anderen politischen Maximen zu folgen. Im Übrigen müssen wir das, was sie jetzt ihrem Instinkt folgend fordern, nach gründlicher Untersuchung der Lage und Dinge selbst anstreben. Vergessen wir nicht, meine Herren, in welcher Lage wir uns befinden. Es ist eine sehr seltsame und neue Situation! Hätte die Wahl des Präsidenten der Republik in dem Rhythmus stattgefunden, den die Verfassung vorschreibt, das heißt, am 12. Mai 1849, dann hätte die Amtszeit des Präsidenten ein Jahr nach der Abwahl dieser Versammlung geendet.6 Und erst 1861,

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Tocqueville entlarvt hier die Ziele der bonapartistischen Partei, geißelt aber auch die Haltung Pierre Antoine Berryers (1790-1868). Siehe La Conversation avec Berryer, im Anhang zu den Souvenirs, ОС XII, S. 290f. Mit dem Gesetz vom 28. Oktober 1848 wurde die erste Präsidentenwahl für den 10. Dezember jenes Jahres angesetzt. Zugleich wurde das erste Mandat um sechs Monate verkürzt, damit die zweite Wahl im Mai 1852 stattfinden konnte.

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nach 12 Jahren Erfahrung und Stabilität, hätten das Oberhaupt der Exekutive und die gesetzgebende Versammlung ihre Funktionen gleichzeitig niedergelegt. Aber als Nebeneffekt bewirkt das Gesetz vom 28. Oktober 1848, das sich auf Artikel 116 der Verfassung beruft, dass die Amtszeit des am 10. Dezember 1848 gewählten Präsidenten im kommenden Mai endet. Somit werden die Exekutive und die Legislative in selben Monat und innerhalb weniger Tage übergeben. Mit Sicherheit wurde noch nie ein so großes und mit dem Gebrauch der republikanischen Freiheit noch nicht vertrautes Volk, per Gesetz in eine solche ungewisse Situation gebracht, wurde eine neue Verfassung auf eine so harte Probe gestellt. Und in welchem Landstrich der Erde, meine Herren, wird sich diese heraufbeschworene totale Machtfinsternis ereignen? Bei dem Volk der Welt, das zwar häufiger als jedes andere seine Regierung gestürzt hat, jedoch mehr als alle anderen gewohnt ist und das Bedürfnis hat, regiert zu werden. Die Nationen, die föderalistisch organisiert sind und auch diejenigen, die, ohne die Souveränität geteilt zu haben, eine Aristokratie besitzen oder tief in den Sitten verwurzelte provinzielle Freiheiten genießen, diese Nationen können lange mit einer schwachen Regierung leben und sogar eine Zeitlang das völlige Fehlen einer Regierung ertragen. Jeder Teil des Volkes hat ein Eigenleben, sodass die Gesellschaft eine zeitlang aufrechterhalten werden kann, auch wenn das Zusammenleben zeitweilig behindert oder unterbrochen ist. Aber gehören wir zu diesen Nationen? Haben wir nicht alles zentralisiert und so eine Regierung geschaffen, die offensichtlich sehr leicht zu stürzen ist, die man aber keinen Augenblick entbehren kann. Aber in welcher Zeit soll man dies erproben? Kurz nach einer großen Revolution, inmitten der Leidenschaften und ausschweifenden Ambitionen, die jede Revolution hinterlässt und die von den erst entstehenden Institutionen schlecht beherrscht werden. Ist dies nur eine eingebildete Gefahr, einer dieser üblichen Zufalle, die sich in der Geschichte aller freien Völker ereignen oder ist dies eine jener seltenen Gefahrensituationen, die man seinem Land nicht zumuten darf, wenn man es davor bewahren kann? Das einzige reguläre und legale Mittel, das wir haben, um das zu erreichen, das einzige vielleicht, das uns bleibt, um zu verhindern, dass alle Gewalten in verfassungswidrige Hände gelangen oder außer Kontrolle geraten, ist, sie augenblicklich einer Verfassungsgebenden Versammlung anzuvertrauen, welche die Autorität der Nation und die Kraft des Neubeginns inne hat. Man kann allerdings sagen, dass die Gefahr, die wir soeben aufzeigten, mehr vermeintlich als wirklich, mehr zu beargwöhnen als zu furchten ist. Tatsächlich wird die Regierungsgewalt nie vakant sein, weil in dem Moment, in dem die eine Regierung gestorben ist, die andere bereits geboren sein wird. Theoretisch ist das klar; aber in der Praxis wird die Übertragung der Herrschaft von der einen auf die andere, was man auch immer tut, eine große Krise sein; denn es wird notwendigerweise eine ziemlich lange Zeit verstreichen, während derer die Regierung, die endigt, keine Autorität mehr besitzen, und diejenige, die anfangt, noch keine Macht haben wird. Und ist man sich übrigens sicher, dass die Gefahr, auch wenn sie nur in der Einbildung der Bürger bestände, deswegen weniger groß ist? Würde sie auch nur die frevel-

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haften Ambitionen einiger Leute übermäßig anstacheln und die Ängste der großen Mehrzahl zum Äußersten treiben, wäre das nicht eine große Gefahr, und vielleicht die größte, die man befürchten muss? Wenn wir nicht umgehend dem Volk in dieser Situation, die ihm so außerordentlich und so kritisch erscheint, zu Hilfe eilen, wer garantiert uns dann, dass das Volk, weil übermäßig geängstigt, nicht versuchen wird, sich selbst zu retten, indem es auf irgendein verfassungswidriges Vorgehen verfällt, das gefahrlicher ist als alles andere? Achten wir auf die Stimmung, betrachten wir die Tatsachen: Die Nation wurde von den Februar-Ereignissen überrascht; das bestreitet niemand. Damals war sie unzufrieden, sie war noch nicht revolutionär. Sechzig Jahre voller Neuerungen, Unruhe und politischer Anstrengungen hatten sie ermüdet; sie hatte noch nicht Zeit gehabt, vollständig zur Ruhe zu kommen, als der unerwartete Sturz der Julimonarchie sie selbst in eine der erstaunlichsten, wenn nicht der heftigsten Krisen ihrer langen Revolution stürzte. Sie musste sich ungewollt zum Kampf stellen, ihren neuen Gewohnheiten Gewalt antun, die Geschäfte und Aufgaben, denen sie sich von Herzen gewidmet hatte, beiseitelassen und wider Willen das Feld der Revolutionen betreten und dort kämpfen. Sie tat das mit bewundernswerter Courage und Ergebenheit, mit anhaltendem Enthusiasmus und praktischer Klugheit, deren ihre Verleumder sie nicht für fähig gehalten hatten und die ihr unter den Menschen ewig zur Ehre gereichen werden. Es gelang ihr, die Rebellionen schlagartig niederzugeschlagen und die Anarchie zu besiegen. Aber das gelang ihr nur durch Zeit, viele Kämpfe, Sorgen, Verluste und Opfer. Heute ist die Nation erschöpft; sie ist müde und zugleich erregt und beunruhigt. Sie erinnert sich daran, dass man im Februar nicht nur die politischen Institutionen des Landes umgestürzt hat, sondern, noch viel tiefer greifender, den Aufbau der gesellschaftlichen Institutionen antasten wollte, der für das Wohl so notwendigen und für die Sitten so teuren Einrichtungen, die bisher die gemeinsame und geachtete Grundlage für alle bürgerlichen Regierungen geboten haben. Diese Erinnerung belastet selbst in der Ruhephase, die sie zurzeit genießt, ihre Vorstellung und lässt sie erschauern und erbeben. In diesem Zustand fühlt sie sich von der unwiderstehlichen Kraft des Gesetzes in eine neue Krise getrieben, die vielleicht noch schrecklicher wäre als alle anderen. Sie sieht auf lange Sicht, wie die beiden großen Gewalten, welche die Gesellschaft lenken und erhalten, in sich zusammenbrechen und gleichzeitig verschwinden, ohne dass noch deutlich erkennbar wäre, was an ihre Stelle treten könnte; denn die Zusammensetzung und der Geist der künftigen Versammlung sind von den Umständen der Wahl abhängig, und der Präsident darf nicht erneut gewählt werden. Man stelle sich die Angst und das Entsetzen vor, die alle Gemüter bei dem Gedanken erfassen müssen, den enormen Raum, den die Regierung bei uns innehat, eines Tages leer zu finden! Ist nicht zu befürchten, dass sich die Wähler angesichts dieser Bestürzung und Angst im letzten Moment dazu getrieben fühlen, nicht aus Begeisterung für einen Namen oder einen Mann, sondern aus Furcht vor dem Unbekannten und Abscheu vor der Anarchie in einem populären Akt die Exekutive erneut denjenigen zu übergeben, die sie innehaben? Man prüfe den von der Verfassung selbst vorgeschriebenen Modus der Präsidentenwahl, und man wird sehen, dass er diesem unheilvollen revolutionären Ausgang so um-

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fassend, wie es das Gesetz nur vermag, entgegenkommt. Eine große Nation, die auf einem großen Territorium lebt, eine Nation, bei der der Bereich der Exekutive nahezu grenzenlos ist und der einzige Repräsentant dieser Gewalt von der Gesamtheit der Bürger direkt gewählt wird, ohne dass diese die Mittel haben, sich umfassend informieren, unterrichten oder verständigen zu können; so etwas, ich scheue mich nicht, das zu sagen, gab es noch nie bei einem Volk dieser Erde. Das einzige Land der Welt, das etwas Ähnliches aufweist, ist Amerika. Aber beachten Sie den gewaltigen Unterschied! In Amerika ist das allgemeine und direkte Wahlrecht allgemeines Gesetz; man hat nur eine einzige Ausnahme eingeführt, sie betrifft die Wahl des Präsidenten. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird auch in einer allgemeinen Wahl bestimmt, aber nicht direkt. Und doch ist die Bedeutung der Exekutive in den USA, meine Herren, im Vergleich zu der, die sie in Frankreich inne hat und immer haben wird, was immer man auch tun mag, klein; dennoch hat man in diesem Land, wo die Republik sozusagen von Anfang an existierte, sei es in den Gewohnheiten, den Vorstellungen oder den Sitten und wo sie eher in Erscheinung zu treten hatte, als entstehen musste, es nicht gewagt, die Wahl des Repräsentanten der Exekutive dem Risiko einer allgemeinen und direkten Wahl auszusetzen. Die zu wählende Gewalt erschien noch so groß und vor allem dem Wähler so unerreichbar, dass dessen Entscheidung kaum hinreichend fundiert und wohl überdacht sein konnte. Die amerikanische Nation wählt nur Delegierte, die wiederum den Präsidenten wählen. Diese repräsentieren zweifellos den allgemeinen Geist des Landes, seine Vorlieben, seine Neigungen, oft auch seine Wünsche und Vorurteile, aber sie verfugen wenigstens über Kenntnisse, die das Volk nicht haben kann. Sie können sich eine genaue Vorstellung von den allgemeinen Bedürfnissen des Volkes und seinen wirklichen Unsicherheiten machen, sie kennen die Kandidaten, können sie miteinander vergleichen, abwägen und das entscheiden, wozu der einzelne Bürger in seinem Umfeld und oft aus Unwissenheit heraus, inmitten der Arbeiten und Pflichten seines Privatlebens, nicht fähig ist. So konnte man in den letzten sechzig Jahren beobachten, dass die Amerikaner oft sehr bekannten, manchmal auch sehr berühmten Männer nicht das höchste Amt der Republik einräumten, sondern unbekannte Männer wählten, die aber den politischen Erfordernissen des Augenblicks besser entsprachen. Wenn die Gefahren der allgemeinen und direkten Wahl die Gesetzgeber der Vereinigten Staaten beunruhigt haben, um wie viel mehr müssten sie uns stutzig machen, die wir in einem Land leben, wo die meisten Bürger noch nicht gewohnt sind, sich mit politischen Angelegenheiten zu befassen, wo sie nur gelegentlich daran denken und nicht einmal die Namen derjenigen kennen, die sie regieren oder sie zu regieren meinen; wo die Bürger bereits genug jener Qualitäten erworben haben, welche die Demokratie fordert, um ungern jemanden ihresgleichen an die Spitze der Regierung zu stellen, aber noch nicht das Wissen und die Erfahrung besitzen, welche die demokratischen Völker benötigen, um bewusst zu handeln. Wer, außer den bekannten Demagogen, die eigennützige und gewaltsame Vorlieben anpreisen und empfehlen, oder den Fürsten, die von Geburt an bekannt sind und herausstechen, wer ist die einzige Person, deren Namen bekannt und im Gedächtnis der zehn Millionen Wähler vom Lande, die Frankreich besiedeln, tief verankert ist, wenn nicht der Mann, der die öffentliche Gewalt seit Jahren

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ausgeübt hat, der lange für jeden Bürger sichtbar jene Zentralverwaltung verkörperte, die man bei uns überall entdeckt, die man in allem merkt und die man Tag für Tag, ohne sie zu suchen, über oder neben einem findet? Und wenn infolge dieser öffentlichen Angst, mangels eines anderen bekannten Kandidaten, infolge des verfassungswidrigen Handelns der Parteien oder der Regierung selbst, eine antikonstitutionelle Wahl stattfände, was würde dann geschehen? Glaubt man, dass die einzige Folge solch einer Handlung die Aufhebung eines Verfassungsartikels wäre? Hat ein Volk, sobald es eigenhändig einen Teil seines Grundgesetzes verletzt, nicht praktisch alles Übrige entkräftet und das ganze Gefüge seiner Regierung zerstört? Nein; die gesamte Verfassung wäre außer Kraft gesetzt, einem plötzlichen Impuls folgend durch eine unüberlegte Anstrengung aufgehoben, sodass keine legitime Macht bestehen bliebe, die etwas Neues an deren Stelle setzen könnte. Und was ist die Verfassung, meine Herren, so unvollkommen sie einem auch erscheint? Müssen wir nicht antworten, dass sie das Gesetz und Recht verkörpert? Sobald die Verfassung nicht rechtmäßig geändert, sondern verletzt und außer Kraft gesetzt wird, ist alles erlaubt, kann alles getan werden, ist alles möglich; es gibt dann kein politisches Recht mehr; das einzige und letzte Sinnbild, das uns davon noch verblieben ist, wäre verschwunden. Frankreich wäre von neuem den Launen der Menge und den Gefahren der Gewalt ausgeliefert. Wer könnte zu denken und wer würde zu sagen wagen, die Nationalversammlung als Hüterin des Rechts solle seelenruhig zulassen, dass man die Nation vor ihren Augen abermals in Richtung Revolution und Wagnis treibt? Die Nationalversammlung bezieht aus der Verfassung ihre ganze Macht, sie ist kraft derselben die erste Staatsgewalt und nichts ohne sie. Ihre Pflichten, ihr Verantwortungsbewusstsein, ihre eigensten Interessen und ihre Ehre zwingen sie, jene zu verteidigen. Kann die Versammlung dulden, dass Beamte der Exekutive die ihnen von der Verfassung erteilten Befugnisse missbrauchen, um von der Verfassung nicht gestützte Kandidaturen zu dulden und zu begünstigen? Und wenn sie es trotzdem versuchten, müsste das nicht unvermeidlich zum offenen und heftigen Kampf der beiden großen Gewalten fuhren? In diesem Kampf, der nur legitim sein kann, wenn er gefordert und notwendig ist, aber in jedem Fall zu beklagen wäre, wäre die Nationalversammlung mit Sicherheit die Stärkere und sie wäre im Recht. Sie würde ohne jeden Zweifel triumphieren, aber um welchen Preis? Sitzen wir denn so fest im Sattel, dass wir nicht befürchten müssen, dass inmitten dieses inneren Krieges der Regierung jene Partei, die der natürliche und gemeinsame Feind jeder Regierung ist, hervortreten und die Macht anstreben werde? Kann man beim Retten der Ordnung sicher sein, dass man das Gesetz, das man verteidigt, selbst einhält? Wer ist sich seines Urteils so sicher, dass er vorauszusagen wagte, wohin die Erfordernisse, die Gefahren und Folgen eines solchen Kampfes fuhren könnten; in welchem Moment die Versammlung, die gezwungen wäre, zum Schutz der Gesetze alle Vollmachten an sich zu reißen, den Rahmen der Rechtmäßigkeit aufgeben und die Regierung den Umständen ausliefern werde, bevor die Gesellschaft wieder gefestigt wäre; vielleicht geriete man nur auf einem anderen Weg auf dasselbe Feld der Gewalt und Gefahr, wohin eine verfassungswidrige Wahl zwangsläufig führte.

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Ich weiß, dass man leicht behaupten kann, trotz der Schrecken des Augenblicks und der Art und Weise, wie man sie angeht, dass die Wähler sich selbst treu bleiben und wissen, wie sie die verschiedenen Kandidaten kennen lernen und beurteilen können und wie sie die Verfassung verstehen und den Gesetzen Folge leisten müssen. Ich weiß, dass man behaupten kann, die Exekutive werde sich selbst zurücknehmen, ihre Bediensteten werden sich zurückhalten, keiner von uns werde sich von der Hitze des Augenblicks hinreißen lassen, und die Faktionen werden sich gegenseitig respektieren. Das alles lässt sich leicht sagen, und man weiß nicht recht, was man darauf erwidern soll. Also schieben wir das beiseite. Wir sprechen weder zu Schönrednern noch zu Kindern, sondern zu Politikern, die mit alltagsweltlichen Dingen konfrontiert werden und sich nicht gern mit Worten abspeisen lassen. Wir begnügen uns damit, an ihre Einsichten, an ihre Erfahrungen und an ihr Gewissen zu appellieren. Wenn alle Umstände, die Lebensbedingungen, der Charakter und die Interessen der Menschen bekannt und die Folgen der Handlungen und Leidenschaften erfasst sind, mögen sie sich in aller Ruhe und mit Bedacht die Frage stellen, ob aus dem jetzigen status quo etwas anderes als eine große Krise entstehen kann, und ob diese Krise nicht nahezu zwangsläufig entweder zur Amtsüberschreitung oder zur Anarchie führen muss, auf jeden Fall aber zum Untergang der Republik und womöglich zum Verlust der Freiheit! Ehrliche Menschen, die sich diese furcht erregenden Fragen aufrichtig stellen, die alles das bedenken, was wir aufgezählt haben und was uns nicht zustand zu sagen, werden sich schließlich davon überzeugen, dass unter allen ungeheuerlichen Gefahren, die die Zukunft in sich birgt, die Verfassungsänderung durch eine Verfassungsgebende Versammlung noch die geringste ist. Das war der Eindruck, den die Mehrheit Ihrer Kommission hatte, und sie gab uns den Auftrag, es Ihnen zu sagen. Von der Notwendigkeit einer Verfassungsänderung überzeugt, hat sie sich gefragt, welche Art von Revision in Frage käme. Sie schlägt Ihnen vor, den Wunsch zu äußern, die Verfassung insgesamt zu überarbeiten. Man hat gesehen, dass die heftigste und am besten begründete Kritik an derselben die Form betraf, wie die Volkssouveränität heute bei der Wahl der Nationalversammlung und vor allem des Präsidenten ausgeübt wird; und damit den Wahlmodus, die Anzahl und den Umfang der großen Gewalten. Das sind, meine Herren, die wichtigsten Fragen hinsichtlich des Regierungsaufbaus; man kann diese nicht neu begründen, ohne zwangsläufig alle anderen anzurühren. Es ist also zwingend, die ganze Verfassung mehr oder minder gründlich, aber in ihrer Gesamtheit zu überarbeiten. Die Verfassungsänderung darf nicht nur Teile betreffen. Aber worin soll die Gesamtrevision bestehen? Haben wir der künftigen Verfassungsgebenden Versammlung in dieser Hinsicht Vorschriften zu machen oder wenigstens gegenüber dem Land eine Meinung zu äußern? Wie weit reicht unser Recht in dieser Sache? Was ist unsere Pflicht?

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Und, um auf die grundlegende und wichtigste Fragen einzugehen: Soll die Verfassungsänderung innerhalb oder außerhalb der Republik stattfinden? (Erhöhte Aufmerksamkeit.) In der Kommission wurde behauptet, dass die Republik die einzige Verkörperung des Prinzips der nationalen Souveränität sei, die einzige, die mit ihrer vollständigen Ausübung in Übereinstimmung gebracht werden könne. Das republikanische Prinzip falle mit dem Prinzip der Volkssouveränität zusammen, denn es sei ebenso wie dieses unveräußerlich und nicht übertragbar, da niemand den Bürgern das natürliche Recht nehmen könne, sich selbst zu regieren, noch künftige Generationen dadurch zu binden seien, dass man ein Regierungssystem schaffe, das seinen Daseinsgrund in sich selbst trage und seiner Natur nach unsterblich sei oder zu sein vorgebe.7 Diese Vorstellung, meine Herren, wurde von einer sehr großen Mehrheit Ihrer Kommission zurückgewiesen. Wir dürfen keinen Augenblick lang daran denken, eine Theorie zu übernehmen, die im Namen der Volkssouveränität dazu führen könnte, das Volk gegen seinen Willen in politischen Formen festzuhalten, die es als seinen Sitten, seinem Geist, seiner Größe und seinem Wohlergehen zuwider beurteilen würde. Ohne uns lange darüber zu streiten, haben wir untersucht, ob es tatsächlich angebracht sei, eine Entscheidung zwischen Republik oder Monarchie zu treffen. Wir sind uns einig, dass wir, selbst wenn wir das wünschten, nicht das Recht hätten, der Nation anzuempfehlen, die Republik aufzugeben. Wir sind eine gesetzgebende Versammlung, die kraft einer republikanischen Verfassung gewählt wurde und wir beziehen alle unsere Befugnisse aus dieser Verfassung. Die Republik ist die rechtmäßige Regierungsform unseres Landes, und wir gehören dieser Regierung an: Wir haben also nicht das Recht, ihre Grundwerte anzutasten. Die Mehrheit Ihrer Kommission war gleichfalls der Ansicht, dass wir nicht berechtigt sind, der künftigen Verfassungsgebenden Versammlung die Republik als einzig mögliche Regierungsform nahe zulegen. Tatsächlich wäre es einigermaßen kindisch, die Willensäußerungen einer souveränen Versammlung, die alle Gewalt innehat und ausübt, vorab binden zu wollen; so hat die Verfassung vorausschauend festgelegt, da nicht zwei Nationalversammlungen zugleich tagen können, dass die Verfassungsgebende Versammlung unabhängig von ihren eigentlichen Arbeiten befugt sei, die dringendsten Gesetze zu verabschieden. Wie könnte eine Versammlung, die ursprünglich nicht dazu berufen wurde, sich mit der Verfassung zu beschäftigen, und die außerdem seit mehr als zwei Jahren besteht, einer Versammlung Einschränkungen auferlegen, die aus dem Volk hervorgeht und den Willen der Nation vollstreckt? Aber folgt daraus, dass wir unser Recht ausgeschöpft und unsere Pflicht voll erfüllt haben, nachdem wir den Wunsch unterbreitet haben, dass die Verfassung geändert werde? Müssen wir nicht alles unternehmen, um in der Versammlung die verfassungsmäßige Mehrheit zu erreichen, mangels derer die Forderung nach einer Verfassungsänderung nur eine fruchtlose und gefahrliche Drohung wäre? Ist es nicht notwendig, zu einer 7

Den Gedanken, dass die Republik die natürliche Regierung jeder Gesellschaft sei, vertrat Louis Eugene Cavaignac (1802-1857).

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gemeinsamen Überzeugung zu gelangen, die alle verbinden könnte, welche aufgrund der drohenden Gefahr eine Verfassungsänderung wünschen? Wir haben gewiss der künftigen Verfassungsgebenden Versammlung nichts vorzuschreiben. Aber haben wir der Nation nicht wenigstens einen Rat zu geben, um ihr zu helfen, durch die gleichsam förderliche wie auch gefährliche Krise zu gelangen, in die wir selbst sie notgedrungen stürzen müssen? Keinen richtungweisenden Rat für den heiklen Weg, auf den wir sie schicken? Wer sind wir denn, wenn nicht ihre eigentlichen Ratgeber? Die einzigen Politiker, die in der Lage sind, die Gesamtsituation, die derzeitigen Bedürfnisse des Landes, den Zustand der Parteien und das, was getan und was nicht getan werden kann, beurteilen zu können? Es wäre weder klug noch redlich, der Nation in einem so kritischen Augenblick unsere Erfahrung und unsere Einsichten zu versagen und die Wähler in dem Moment, wo sie über jene souveräne Versammlung zu entscheiden haben, ihren Zweifeln und ihrer Unsicherheit preiszugeben. Man sagt, und niemand bestreitet es, dass die größte Gefahr bei der Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung das Machtvakuum sei, das aus diesem Anlass innerhalb der großen konservativen Mehrheit des Landes entstehen könnte, ein Vakuum, das womöglich aufgehetzten Minderheiten in den Wahlkreisen zum Sieg verhelfen könnte. Das ist wahr, und man kann sagen, dass es vielleicht seit der Februarrevolution noch nie so notwendig gewesen ist, dass alle Fraktionen dieser großen Partei, die man die Ordnungspartei genannt hat, sich einigen und eine gemeinsame Basis finden, wo sie sich verständigen können. Wie findet man sie? Leider sagt man der Welt und uns selbst nichts Neues, wenn man eingesteht, dass das Land und die Versammlung hinsichtlich der Frage, auf welche Weise die Regierung gewählt werden sollte, zutiefst gespalten sind, und man sich heute in dieser Frage nicht einigen kann. Aber wenn man sich hinsichtlich der Zukunft schon nicht verständigen kann, kann man sich wenigstens weiter über die aktuellen Fragen einig werden. Welche Partei kann ohne Republik glauben, dass der Augenblick ihres Triumphes gekommen sei; wer gesteht nicht zu, dass es, falls die von ihm bevorzugte Lösung ausgeschlossen wäre, am klügsten und sinnvollsten sei, die jetzigen Institutionen zu behalten, die, wie mangelhaft man sie auch immer einschätzt, zumindest den Vorteil haben, dass sie die Zukunft offen lassen? Und wer könnte nicht zugestehen, dass man sie, wenn man sie beibehält, weniger gefährlich machen muss? Meine Herren, das ist der gemeinsame Boden, auf dem wir uns seit drei Jahren faktisch und folglich zuverlässig bewegen, ohne unseren Überzeugungen Gewalt anzutun, ohne unsere Ehre aufzuopfern, deren Hingabe man nicht einmal seinem Land schuldet. Es geht nur darum, sich nicht in dem Moment davon zu entfernen, wo es vielleicht am meisten notwendig ist, sich daran zu halten. Eine Formulierung wurde vorgeschlagen, die eben diese Gedanken im Vorwort Ihrer Resolution zum Ausdruck bringen soll. Sie besagte, die Revision werde verlangt, um die Institutionen der Republik zu verbessern. Die Mehrheit der Kommission hat diese Formulierung abgelehnt, weil sie befürchtete, dass damit der Anspruch erhoben werde, das Stimmverhalten der künftigen Verfas-

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sungsgebenden Versammlung zu beeinflussen und deren Freiheit einzuschränken. Sie zog es deshalb vor, die soeben geäußerten Gedanken im Bericht festzuhalten.8 Einig war sich die Kommission in folgendem Punkt: Wenn trotz aller redlichen Bemühungen übereinzukommen - und trotz der gemeinsamen Versuche, die mit der Aufrichtigkeit Ihrer Überzeugungen und ihrer Würde in Einklang zu bringen sind - die legalen Schritte, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, scheitern; wenn in der Versammlung nicht die Stimmenzahl zustande kommt, die erforderlich ist, damit die Änderung legal stattfinden kann; wenn kurzum die Verfassung bestehen bleibt, dann muss sie unangefochten und ausnahmslos befolgt werden. Darin war sich die in so vielen Punkten gespaltene Kommission einig, und wir haben die feste Zuversicht, dass sich dieselbe Einigkeit auch in der Versammlung zeigen wird. Jeder muss begreifen, dass, wenn der legale Versuch, eine Verfassung zu ändern, scheitert, diese eine neue Bestätigung erhält. Solange man legal den Gedanken hegen konnte, dass die Verfassung revidiert werde, konnte man daran denken, sie zu ändern oder sich sogar anschicken, etwas zu tun, was sie noch nicht gestattete. Von dem Tag an, da diese Erwartung nicht mehr gestattet ist, bleibt nur noch die Möglichkeit, sich ihren Vorschriften zu fügen und sie zu befolgen; denn die Verfassung ist, wie bereits gesagt, die einzige Rechtsgrundlage, sie ist das einzige politische Recht, das wir heute in Frankreich kennen; außerhalb derselben gibt es nur noch Revolutionen oder Wagnisse. Es muss der feste Wille der Nationalversammlung sein, nicht nur selbst die Verfassung zu respektieren, sondern auch dafür zu sorgen, dass man sie respektiert. Um diesen Vorsatz besser auszudrücken und Ihnen Gelegenheit zu bieten, sich ihm anzuschließen, schlägt Ihre Kommission Ihnen vor, in der Einleitung der unterbreiteten Resolution den Wortlaut des Artikels 111 der Verfassung aufzunehmen, um allen wirklich begreiflich zu machen, dass wir nur kraft der Verfassung und in Ansehung der von ihr selbst gestellten Bedingungen denken, dass sie revidiert werden muss. Wir rechnen damit, dass die Verwaltung und sogar alle Parteien sich diesem Gedanken gemäß verhalten werden und sich dessen bewusst sind, dass jeder Versuch, dem Volk verfassungswidrige Bewerber zu unterbreiten, von dem Moment an, da die Verfassung nicht länger legal revidiert werden kann, nicht mehr nur unangebracht und irregulär, sondern strafbar wäre. Meine Herren, wir kommen zum Schluss der großen Aufgabe, die Sie uns aufgegeben haben und die mehr Kraft und Zeit erfordert hätte, um gut verrichtet zu werden. Die Arbeit Ihrer Kommission ist beinahe abgeschlossen. Ihre Arbeit beginnt erst. Sie befinden sich in einer jener feierlichen und zum Glück recht seltenen Epochen im Leben der Nationen, in denen eine Versammlung, deren Befugnisse bald endigen, die aber noch Herrin ihrer selbst und der Zukunft ist, die Geschicke eines ganzen Volkes in Händen hält und sie mit einem Wort, vielleicht unwiderruflich, hierhin oder dorthin lenken kann. Was auch immer Sie beschließen, sicher ist, dass Ihnen mit Recht ein Großteil 8

Diesen Zusatz zum Entwurf des Herzogs Jacques-Victor-Albert de Broglie (1821-1901) hatte der Abgeordnete Hippolyte Melon Victor Charamaule (1794—1886) vorgeschlagen. Tocqueville hielt ihn persönlich als bloßen Wunsch für annehmbar, aber Odilon Barrot (1791-1873) focht ihn an, und zwar als Einschränkung der Freiheit der künftigen Konstituante.

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des Wohls oder des Übels, das dem Land über lange Zeit hinweg zufallen wird, zugeschrieben werden wird. Meine Herren, wir werden Lob oder Tadel nicht nur von denen erhalten, die heute ängstlich darauf warten, was wir tun werden, sondern auch von der nachfolgenden Generation. Angesichts einer so bedeutenden und so lang währenden Verantwortung wird jeder ohne Zweifel seine persönlichen Interessen, seine augenblicklichen Überzeugungen, seine Rivalitäten, seine Feindschaften und auch seine Freundschaften vergessen, um nur an das Land und seine Geschichte zu denken. (Bravo! Sehr gut! Von einigen Bänken der Linken.)

Zweiter Teil Nachdem wir der Versammlung gezeigt haben, in welchem Geist die Kommission ihre Arbeit verrichtet hat und zu welchen allgemeinen Schlussfolgerungen sie gelangt ist, haben wir nur noch kurz zu erklären, aus welchen Gründen die Kommission alle eingereichten Änderungsanträge abgelehnt hat, und Ihnen unsererseits eine Neufassung vorzulegen, die wir Ihnen gleich bekannt geben werden. Vier Einzelanträge wurden eingebracht. Die Kommission hat jeden der Autoren angehört. Der erste Antrag stammt von dem ehrenwerten Herrn Larabit.9 Er lautet wie folgt: „Ich habe die Ehre, der Gesetzgebenden Versammlung folgenden Antrag zu unterbreiten: 1. Dass die Versammlung den Wunsch nach Änderung des Artikels 45 der Verfassung betreffs der Wiederwählbarkeit des Präsidenten der Republik äußere; 2. dass diese Änderung nicht einer neuen Verfassungsgebenden Versammlung übertragen, sondern der Souveränität des französischen Volkes anheim gestellt werde, welches gleichzeitig aufgefordert sei, frei für die Wahl eines Präsidenten der Republik zu stimmen; 3. dass hierzu eine Bekanntmachung der Versammlung dem französischen Volk verkünde, dass es aufgrund seiner Souveränität ihm allein zukomme, mit seinen Stimmen zu sagen, ob es denselben Präsidenten der Republik wieder wählen wolle oder nicht." Ihre Kommission muss Ihnen leider sagen, dass sie Sie mit diesem Antrag zurückweisen muss, denn es ist nicht rechtens Artikel 45 der Verfassung abzuschaffen oder das Volk seitens der Versammlung zum Verletzen dieses Artikels anzustiften. Sie schlägt Ihnen einmütig vor, den Antrag per Vorlage abzuweisen. Nach diesem Beschluss erklärte der ehrenwerte Herr Larabit, er teile seinen ursprünglichen Antrag und stelle, ohne den ersten Teil fallen zu lassen, den zweiten als gesonderten Antrag. Die Kommission musste deshalb erneut beraten. 9

Marie-Denis Larabit (1792-1876), Absolvent der Ecole Ρolytechnique, war im Kaiserreich Pionieroffizier und Begleiter Napoleons auf Elba. In der Konstituante saß er links, doch in der Gesetzgebenden Versammlung trat er für die Monarchie ein. Am 2. Dezember 1852 wurde er verhaftet, versöhnte sich aber rasch mit dem Regime. Ab 1853 war er Senator.

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Der zweite Teil des Antrags des Herrn Larabit, wonach die Änderung nur den Artikel 45 betreffen soll, hat nichts Verfassungswidriges. Ihre Kommission fordert Sie deshalb auf, ihn nicht wie den ersten per Vorlage auszuschließen, sondern ihn aus den bereits genannten Gründen, wonach die Verfassungsänderung vollständig sein müsse und nicht nur bestimmte Teile betreffen dürfe, abzulehnen. Der zweite Antrag stammt von dem ehrenwerten Herrn Bouhier de l'Ecluse 10 ; er lautete ursprünglich: „Am zweiten Sonntag des Mai 1852 sind alle Wähler Frankreichs aufgerufen, nach dem allgemeinen Stimmrecht, wie es das Gesetz vom 31. Mai festlegt, und nach folgendem Modus in ihren Wahlkreisen abzustimmen: 1. in Ausübung von Artikel 45 der Verfassung und gemäß seinen Bedingungen einen provisorischen Präsidenten der Republik zu wählen; 2. eine Verfassungsgebende Versammlung zu wählen, die mit der Vollmacht ausgestattet ist, eine Gesamtrevision der Verfassung vorzunehmen und die Regierung Frankreichs zu ernennen." Der erste Punkt dieses Antrags überschreitet offenkundig den Rahmen der Verfassung, und wir mussten ihn per Vorlage ausschließen. Seitdem hat Herr Bouhier de l'Ecluse erklärt, er verzichte auf den Artikel 1. Ihre Kommission fordert Sie deshalb nicht mehr auf, den so reduzierten Antrag von Herrn Bouhier de l'Ecluse per Vorlage auszuschließen, rät aber dennoch dazu, ihn abzulehnen. Der Antrag von Herrn Bouhier de l'Ecluse betrifft nicht nur die Revision der Verfassung, sondern auch den Modus der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung. Beide Fragen hängen ohne Zweifel eng zusammen, aber sie können weder in denselben Beschluß aufgenommen, noch mit derselben Abstimmung gelöst werden, denn um die eine zu entscheiden, sind drei Viertel der Stimmen erforderlich, während für die andere die einfache Mehrheit der Abstimmenden genügt. Außerdem schien es Ihrer Kommission, dass dieser Antrag darauf abzielt, die Nationalversammlung zu veranlassen, dem Land die Frage: Republik oder Monarchie zu stellen, wozu wir uns, wie bereits gesagt, nicht fur berechtigt halten. Der ehrenwerte Herr Creton 11 , der Verfasser des dritten Antrags, fordert Sie auf, einen Revisionswunsch in folgender Form zu äußern: „Art. 1. Die Versammlung äußert den Wunsch, zum Ende ihrer Amtszeit eine Verfassungsgebende Versammlung zwecks Gesamtrevision der Verfassung von 1848 einzuberufen. 10 Robert-Constant Bouhier de l'Ecluse (1799-1870) war unter der Restauration Anwalt in Paris, dann Stellvertreter des Staatsanwalts. 1848 wurde er von seinem Heimatdepartement Vendöe in die Verfassungsgebende Versammlung gewählt. Er stimmte gegen die Verfassung, jedoch fur den Zusatzantrag von Grevy. Er vertrat die Auffassung, dass Frankreich mittels des allgemeinen Stimmrechts seine traditionellen Grundgesetze restaurieren sollte. 1852 wurde er erneut gewählt, musste aber, weil er den Eid verweigerte, zurücktreten. 11 Nicolas-Joseph Creton, Anwalt aus Amiens, wurde im Dezember 1846 zum Deputierten gewählt. In der Verfassungsgebenden Versammlung sprach er sich für die Wahl Louis-Napolöons aus. In der Legislative figurierte er als einer der Anführer des Orleanismus und trat vergebens dafür ein, die Gesetze über die Verbannung der königlichen Familie aufzuheben.

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Art. 2. Die Gesetzgebende Versammlung äußert den Wunsch nach einer Gesamtrevision mit dem Entschluss, dass die Befugnisse der Verfassungsgebenden Versammlung uneingeschränkt sein sollen. Diese Versammlung soll die Grundlagen der Regierung und der Verwaltung des Landes endgültig festlegen. Folglich wird die Verfassungsgebende Nationalversammlung zuerst zwischen Republik und Monarchie zu entscheiden haben. Art. 3. Falls die Republik bestätigt werden sollte, wird die Versammlung zu entscheiden haben, ob die gesetzgebende Gewalt zwei Versammlungen zu übertragen ist und ob das Haupt der Exekutive nicht gemeinsam von beiden Versammlungen gewählt werden muss. Art. 4. Falls die Monarchie akzeptiert werden sollte, wird die Versammlung ein Grundgesetz verfassen und verkünden, dessen Einhaltung das Staatsoberhaupt bei der Thronbesteigung zu schwören hat. Die Versammlung wird kraft der ihr vom französischen Volk übertragenen Vollmachten weiterhin die Person bestimmen, die das erbliche Amt des Monarchen bekleiden wird." Der Antrag unterscheidet sich von den anderen offensichtlich darin, dass er die künftige Verfassungsgebende Versammlung verpflichtet, sich für die Republik oder für die Monarchie auszusprechen. Wir haben zuvor dargelegt, aus welchen Gründen wir denken, dass die jetzige Nationalversammlung nicht dazu berechtigt ist; wir haben gesagt, weshalb wir als republikanische Versammlung, die kraft einer republikanischen Verfassung tätig ist und ihre Macht allein aus derselben bezieht, nicht die Republik in Frage stellen dürfen. Ausschließlich dem Volk, dessen Beauftragte wir sind, steht es zu, eine derartige Frage aufzuwerfen und zu entscheiden. Die Kommission hat mit sehr großer Mehrheit den Antrag von Herrn Cretons verworfen. Gegen den Antrag von Herrn Payers12 seien nicht dieselben Einwände gerichtet. Er besagt: „Art. 1. Eine Verfassungsgebende Versammlung wird zum 3. November 1851 einberufen, um die Artikel 20, 21, 30, 41, 45, 70, 77 und 102 der Verfassung zu überprüfen. Art. 2. Die Wahlen werden am Sonntag, dem 19. Oktober 1851 stattfinden und nach den durch das Gesetz vom 15. März 1849 festgelegten Listen erfolgen. Art. 3. Solange die Verfassungsgebenden Versammlung tagt, wird die Amtsperiode der jetzige Gesetzgebende Versammlung verlängert." Der gewichtigste Einwand gegen den Antrag des ehrenwerten Herrn Payer war, dass er auf eine Teilrevision abzielt, was die Kommission aus den angegebenen Gründen als kaum praktikabel betrachtet. Wenn ihre Ansicht noch der Begründung bedurfte, fand sich diese gerade bei der Prüfung des Antrags des ehrenwerten Herrn Payer. Was soll nämlich ihm zufolge reformiert werden? 12 Jean-Baptiste Payer (1818-1860) war Dozent für Geologie an der Ecole normale superieure, als er 1848 Kanzleichef des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten wurde. Vom Departement Ardennes in die Verfassungsgebende Versammlung gewählt, trat er dort als gemäßigter Republikaner hervor. 1852 verabschiedete er sich von der Politik, um sich ganz der Lehre der Botanik an der Naturwissenschaftlichen Fakultät zu widmen.

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1. Das Wahlsystem und der Modus, wonach die Volkssouveränität ausgeübt wird; 2. die gesamte Legislative; 3. der Wahlmodus der Exekutive; 4. das Verwaltungssystem des Landes. Wir fragen, wie es möglich sein soll, diese ausschlaggebenden Artikel der Verfassung anzurühren, ohne in alle anderen mehr oder minder profund einzugreifen; würden solche Veränderungen im Grundgesetz vorgenommen, würde es offensichtlich notwendig werden, die gesamte Verfassung zu überarbeiten, um neue Beziehungen und eine neue Harmonie zwischen ihren Teilen herzustellen; es gibt fast keine partielle Verfassungsänderung (soweit sie von Bedeutung ist, und nur im Hinblick auf eine derartige Revision ist es klug, die Verfassung des Landes in Frage zu stellen), es gibt keine ernsthafte Teilrevision, sagen wir, die nicht eine Gesamtrevision nach sich zieht. Ihre Kommission, meine Herren, schlägt Ihnen vor, den Antrag Herrn Payers abzulehnen. Übrig war noch der von 233 unserer Kollegen gestellte Kollektivantrag. Diejenigen von ihnen, die der Kommission angehörten, erklärten selbst, dass die Fassung, an der sie und ihre politischen Freunde mitgewirkt hatten, nur eine allgemeine Stimmung ausdrükken sollte und nur als Bestandteil oder höchsten als Grundlage für den endgültigen Beschluss dienen könne. Diese Fassung wurde ausgeschlossen, und unser ehrenwerter Vorsitzender unterbreitete uns den folgenden Antrag, der seines Erachtens den von 233 unserer Kollegen gestellten Antrag in allem Wesentlichen wiedergibt: „Die Nationalversammlung äußert in Bezug aufArt. 111 der Verfassung den Wunsch, die Verfassung insgesamt zu überarbeiten, entsprechend den Bedingungen des genannten Artikels." Diese Fassung fasst die Auffassung zusammen, die wir Ihnen zur Kenntnis gegeben haben; sie wurde mit 9 gegen 6 Stimmen angenommen. Wir wurden beauftragt, Sie zu bitten, diese anzunehmen. Herr Vorsitzender. Der Bericht ist bereits gedruckt, er wird morgen verteilt; zu welchem Tag wollen Sie die Diskussion ansetzen? Zahlreiche Zurufe: Montag! Montag! Jules Favre: Ich bitte um das Wort. Baze\ Herr de Melun hat noch eine Stellungsnahme zu dem Antrag ... (Nach der Verlesung des Berichts herrschte lange Unruhe. Gruppen bildeten sich überall im Saal; sie führten laute und hitzige Gespräche. Viele Repräsentanten der Rechten und der Linken baten bei den Sekretären um Wortmeldung für die Diskussion über die Verfassungsänderung.)13

13 Am 19. Juli wurde der Revisionsantrag zur Abstimmung gestellt. 446 von 724 stimmberechtigten Abgeordnete sprachen sich dafür, 278 dagegen aus. Der Antrag auf eine legale Änderung der Verfassung wurde damit abgelehnt.

Personenverzeichnis

Ankersmith, F. R. 44 Aristoteles 25, 26, 52, 54 Aron, R. 44 Babeuf, F.-N. 38,193, 198 Balbi, A. 62 Barrot, O. 187,215 Bazard, S.-M. 22 Baze (Deputierter) 219 Beaumont, G. 14, 16, 42, 46, 53, 109, 142, 163, 191,203 Beausejour, Felix de 57 Beccaria, C. 52, 56 Berryer, R A. 207 Berthois 134 Billault, Α. Α. M. 179 Blanc, L. 22 Bodin, Ch.-E. 56,57 Boesche, R. 43 Bohlender, M. 32,40 Boudon, R. 18,44 Bouhier de l'Ecluse, R.-C. 217 Bourmont 124 Broglie, J.-V.-A. Due de 203,215 Bugeaud, Th.-R. 137 Buonarotti, F. M. 198 Cabet, E. 197 Cavaignac, G. 206 Cavaignac, L. E. 213 Chain, B.A. 22,44 Charamaule, Η. Μ. V. 206, 215 Charras, J.-B. 206 Chateaubriand, F.-R. 51 Cherbuliez, Α. E. 34,163-167, 169-172. Chevalier, M. 22

Clauzel 125 Clinton, D. 32,44 Constant, B. 50,56 Couppey, J.-L. 64 Craiutu, A. 14,44 Creton, N.-J. 217,218 Cujas, J. 52 Cuvier, G. L. Ch. F. D. de 101 Damremont, D. de 159 Demontes, V. 137 Domat, J. 52 Drescher, S. 27, 28, 44, 45 Drolet 23 Droz, J.-F.X. 59 Dumon, P. S. 180 Dupleix, J. F. 142, 155 Dürr, E. 35,45 Duvergier, J.-B. 151,158 Duvivier, F.-F. 125 Elisabeth I. 69,71,78 el-Kader, Abd 31, 112, 114-122, 132, 135, 142, 154 Elster, J. 17,44,45 Enfantin, B.-P. 138 Eschenburg, Th. 43, 44 Favre, J. 206,219 Fetscher, I. 22,45 Filangieri, G 56 Füret, F. 29, 30, 40, 43, 45, 46 Gannett, R. T. 45 Genie, A. 187 Girardin, E. de 181

Personenverzeichnis

222 Gobineau, Α. 41,43 Goldhammer, Α. 42,43 Guellec, L. 42,44 Guizot, F. G 12,14,45,46,49,50,51,109,185,187 Hecht, M. 21,45 Heinrich IV. 85 Heinrich VIII. 69,85 Hennis, W. 21,25,43 Herb, K. 45 Hereth, M. 45 Hettling, M. 36 Hidalgo, O. 45 Himmelfarb, G 26,42,45 Hirschman, А. O. 23, 45 Höppner, J. 193, 197 Janara, L. 45 Janvier (Deputierter) 182 Jardin, A. 14,27,44,45 Kahan, A. 16,29,42,43,45 Karl VII. 116 Kaufmann, F.-X. 28,45 Koebner, R. 22,45 Krause, S. 41 Kristol, I. 26 Lamberti, J.-C. 42 Lamoriciere, L.-Ch.-L. J de 31, 123, 125, 128, 129, 134 Landmann, Abbe J.-M. 137 Landshut, S. 43 Larabit, M.-D. 216,217 Laurence, J. 130,154 Lavoisier, A L. de 85, 90 Lawler, P. A. 23,46 Ledru-Rollin, A.-A. 200 Lhuys, E. D. de 187 Lisle, R. de 110 Louis-Philippe, due d'Orlean 14 Luden, Heinrich 59 Ludwig XIV. 84,94 Ludwig XV. 105 Ludwig XVI. 14,59,105,106 Lukes, J. 29 Machiavelli, N. 52

Malesherbes, Ch.-G de Lamoignon de 14,106 Mansfield, J. C. 23, 43, 46 Marx, K. 27,36,46 Mathieu (Abgeordneter) 37, 192, 194 Mayer, J. P. 41,42,43 Melonio, F. 1 5 , 2 9 , 3 0 , 4 2 , 4 3 , 4 4 , 4 5 Melun (Deputierter) 219 Michodiere 85 Mignet, F.A. 51 Mill, J. St. 16, 21, 32, 45, 46, 81 Mohammed 114 Moheau 85 Montesquieu, Ch.-L. de Secondat 25,44, 51, 52 Moulin, A. 195 Napoleon I. bzw. Napoleon Bonaparte 55, 166 Napoleon III. bzw. Louis-Napolöon 15, 36, 39, 49, 203, 206, 207 Nisbet, R. 18,44,46 Nolla, E. 42 Offe, C. 18,46 Payer, J.-B. 218,219 Pelletier (Deputierter) 191 Perier, A. C. 184 Pierson, G 14, 46 Pitts, J. 31,32,42,46 Piaton 26, 52, 54 Poirel 110 Pothier, R.-J. 52 Proudhon, P.-J. 193 Putnam, R. D. 46 Radnor, W. Р. В. 61, 62, 75, 76 Reeve, Η. 43 Regnier, P. 54 Richter, Μ. 31,46 Robespierre, Μ. 38, 196 Rosanvallon, P. 14,17,46 Rousseau, J. J. 21, 22, 25, 52, 62 Royer-Collard, P. P. 14, 50 Schleifer, J. 42,46 Sövigne, M. de 54 Siedentop, L. 14,45,46 Sieyes, E. J. 30 Smith, A. 52

Personenverzeichnis Stoffels, Ε. 16 Stora, В. 31,46 Test, J.-B. 185 Thierry, A. 51 Thiers, A. 50 Todorov, T. 31,46 Valde, S. Ch. 132,154,159 Villemain, A. F. 50 Villeneuve-Bargemont, A. de 62

Vossler, O. 47 Watkins, Sh. 47 Weber, M. 20,47 Welch, Ch. B. 31,47 Wilke, J. 41 Winthrop, D. 43 Wolin, Sh. 27,47 Zbinden, H. 43 Zunz, O. 42,43