Klage ALS Gotteslob Aus Der Tiefe: Der Mensch VOR Gott in Den Individuellen Klagepsalmen 3161487001, 9783161578496, 9783161487002

English summary: Christiane de Vos examines the self-conception and the image of God conveyed by the person who is prayi

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Vorgehen
1.3 Textgrundlage
Teil 1 Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Gott anhand ausgewählter Psalmen
2. Psalm 56
2.1 Text
2.2 Einleitung
2.3 Exegese
2.4 Verlauf des Gebetes
2.5 Gegner als Ursache der Not
3. Psalm 88
3.1 Text
3.2 Einleitung
3.3 Exegese
3.4 Verlauf des Gebetes
3.5 Der klagende Mensch
3.6 Gott und das Leben
4. Psalm 38
4.1 Text
4.2 Einleitung
4.3 Exegese
4.4 Verlauf des Gebetes
4.5 Der leidende Mensch vor Gott
4.6 Die Rolle anderer Menschen
4.7 Der zornige und doch vertraute Gott
Teil 2 Der Mensch vor Gott
5. Ich – Aussagen
5.1 Der Mensch wendet sich an Gott
5.1.1 Das Ich des Beters
5.1.2 Anrufen Gottes
5.1.3 Standpunkt des Beters
5.1.4 Zusammenfassung
5.2 Orientierung auf Gott
5.2.1 Gebet
5.2.2 Vertrauen
5.2.3 Ehrfurcht
5.2.4 Aufmerksamkeit
5.2.5 Sehen
5.2.6 Weg
5.2.7 Erwartung
5.2.8 Schutz
5.2.9 Gegenwart Gottes
5.2.10 Zusammenfassung
5.3 Notbeschreibung
5.3.1 Bezeichnungen der Not
5.3.2 Angst und Elend
5.3.3 Bilder des Körpers
5.3.4 Einsamkeit / soziale Isolation
5.3.5 Flucht
5.3.6 Lebenszeit
5.3.7 Dauer der Not
5.3.8 Tod
5.3.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
5.4 Lob Gottes
5.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
6. Klage über Andere
6.1 Beschreibung der Gegner
6.1.1 Verhalten und Einstellung der Gegner
6.1.2 Metaphern
6.1.3 Eigenschaften
6.1.4 Beziehung zu den Gegnern
6.1.5 „Neutrale“ Bezeichnungen
6.2 Die Gegner zwischen Mensch und Gott
6.3 Schlussfolgerungen
7. Wie der Beter Gott negativ erlebt
7.1 Abwendung
7.1.1 Ferne
7.1.2 Fehlendes Eingreifen
7.1.3 Zusammenfassung
7.2 Gegen den Beter gerichtet
7.2.1 Vernichtung
7.2.2 Verstoßung
7.2.3 Zorn
7.2.4 Zusammenfassung
8. Was der Beter von Gott erwartet
8.1 Gottes Zuwendung
8.1.1 Wahrnehmung
8.1.2 Bewegung
8.1.3 Einstellung
8.1.4 Zusammenfassung
8.2 Gottes Handeln am Beter
8.2.1 Führen / Weisen
8.2.2 Retten / Helfen
8.2.3 Schützen
8.2.4 Leben erhalten und erneuern
8.2.5 Richten / Prüfen
8.2.6 Vergeben
8.2.7 Zusammenfassung
8.3 Gottes Handeln gegen die Widersacher
8.3.1 Abwenden / Gottesferne
8.3.2 Handeln
8.3.3 Bestrafen / Vergelten
8.3.4 Richten / Anklagen
8.3.5 Entmachten
8.3.6 Bekämpfen
8.3.7 Belehren
8.3.8 Vernichten
8.3.9 Die Gegner in Not
8.3.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
8.4 Beweggründe
8.4.1 Situation des Beters
8.4.2 Die Beziehung Beter-Gott
8.4.3 Gottes Attribute
8.4.4 Zusammenfassung
9. Wie der Beter Gott anredet
9.1 Gott
9.2 Macht
9.3 Rettung
9.4 Zuverlässigkeit
9.5 Gerechtigkeit
9.6 Lob
9.7 Israel
9.8 Zusammenfassung
10. Wie der Beter Gott positiv erlebt
10.1 Zuwendung
10.2 Wahrnehmung
10.3 Eingreifen / Handeln
10.4 Führen / Weisen
10.5 Rettung / Hilfe
10.6 Schutz
10.7 Leben erneuern und erhalten
10.8 Richten
10.9 Vergeben
10.10 Handeln an den Widersachern
10.11 Gottes Macht und Güte
10.12 Zusammenfassung
11. Zusammenfassung
Literatur
Bibelstellenregister
Hebräisches Wortregister
Sachregister
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Klage ALS Gotteslob Aus Der Tiefe: Der Mensch VOR Gott in Den Individuellen Klagepsalmen
 3161487001, 9783161578496, 9783161487002

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Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) • Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

11

ARTIBUS

Christiane de Vos

Klage als Gotteslob aus der Tiefe Der Mensch vor Gott in den individuellen Klagepsalmen

Mohr Siebeck

Vos: geboren 1 9 6 3 ; Studium der Evangelischen Theologie in Bielefeld-Bethel, Erlangen, Hamburg und Neuendettelsau; Pastorin; 2004 Promotion. CHRISTIANE DE

978-3-16-157849-6 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISBN 3-16-148700-1 ISSN 1611-4914 (Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2005 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Druck Partner Rübelmann GmbH in Hemsbach auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Schaumann in Darmstadt gebunden.

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich am 17.9.2004 an der Rijksuniversiteit Groningen öffentlich verteidigt habe. „Die Motive des Glaubens an die Gebetserhörung im Alten Testament" - mit dem Thema des gleichnamigen Aufsatzes von Köberle fing alles an. Welche Motive nennen Menschen, um Gott zur Erhörung des Gebets zu bewegen? Einiges Sichten und Suchen führte mich dann zu einer Einschränkung der Textgrundlage auf die individuellen Klagepsalmen sowie zu einer Ausweitung der Fragestellung auf das grundsätzliche Verhältnis des Menschen zu Gott. Die Frage, inwieweit das Gottesbild und das Selbst- und Weltbild des Menschen zusammenhängen, fesselt mich über das Gebiet des Alten Testaments hinaus. So hoffe ich, dass diese Arbeit nicht nur innerhalb des Faches als Gesprächsbeitrag gesehen wird, sondern auch als eine Vorüberlegung zu dem Problem des Gottes- und Selbstverständnisses in unserer gegenwärtigen Situation. Wie wichtig die Klage zu Gott ist, hat Müller treffend formuliert: „Statt weiter mit den traditionellen Motiven kirchlicher Verkündigung Antworten zu geben, für die die zugehörigen Fragen längst abgestorben sind, sollten wir in Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge zeigen, inwiefern die Anklage Gottes eine Möglichkeit darstellt, Daseinsverdrossenheit religiös, d.h. vor Gott als der angemessenen Instanz zu artikulieren; wagen wir dies nicht, so entlassen wir jeden, der dem menschlichen Dasein und so seinem eigenen nicht zustimmen kann, in den Atheismus." (Müller, Gottesfrage 19952, 297). Das Arbeiten an der Dissertation hat sich über viele Jahre erstreckt fünf Jahre hat sie aus beruflichen Gründen sogar ganz auf Eis gelegen - , und trotzdem haben die Klagepsalmen mich nicht losgelassen. In dieser Zeit habe ich mich mit zahlreichen Kolleginnen und Freundinnen ausgetauscht; ihnen allen möchte ich für das Mitdenken ganz herzlich danken. Stellvertretend möchte ich Dorothea Erbele-Küster, Jutta Hausmann, Ruth Koßmann, Gerdientje Kramer, Rüdiger Schmitt, Klaas Spronk und Peterjan van der Wal nennen sowie die alttestamentlichen Sozietäten der Universitäten Hamburg, Groningen und Münster. Der erste Anstoß für dieses Unternehmen kam damals von Prof. Dr. Horst Dietrich Preuß, meinem 1993 verstorbenen Doktorvater. Ich denke in tiefer Dankbarkeit an ihn zurück; er hat mich stets ermutigt und angeregt. Nach seinem Tod haben

VI

Vorwort

Prof. Dr. Ed Noort und Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Spieckermann mich „adoptiert" und in großer Offenheit und Geduld begleitet. Sehr zu danken habe ich auch der Rijksuniversiteit Groningen für das Stipendium, mit dem sie meine Arbeit gefördert hat. Für die Aufnahme in die Reihe „Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe" danke ich den Herausgebern Prof. Dr. B. Janowski, Prof. Dr. M.S. Smith und Prof. Dr. Dr. h.c. H. Spieckermann sowie Dr. H. Ziebritzki und J. Trispel für die fachkundige Begleitung bei der Erstellung der Druckvorlage. PD Dr. R. Schmitt und Dipl.-Theol. F. Niemeier bin ich sehr dankbar für die Mithilfe bei der Fertigstellung der Register. Auch meine Familie und Paten möchte ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen. Meine Eltern Hellmut und Leonore Wilkens, meine Paten Edgar und Hildegard Rieß sowie meine Tante Hannah Diercks waren mir auf sehr unterschiedliche Weise eine Rückendeckung. Schließlich möchte ich meinem Mann Cor de Vos danken, der mit mir nicht nur über die Psalmen nachgedacht, sondern auch viele Psalmen gesungen hat. Er hat die Höhen der Arbeit an der Dissertation und die Tiefen der Zeiten, in denen für das Alte Testament keine Energie mehr übrig war, mit mir durchlebt. Sein beharrlicher Beistand und seine intensive Kritik bleiben mir hoffentlich auch weiterhin erhalten! Münster, Mai 2005

Christiane de Vos

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

1. Einleitung 1.1 Fragestellung 1.2 Vorgehen 1.3 Textgrundlage

l 1 2 4

Teil 1 Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Gott anhand ausgewählter Psalmen 2. Psalm 56 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Text Einleitung Exegese Verlauf des Gebetes Gegner als Ursache der Not

3. Psalm 88 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Text Einleitung Exegese Verlauf des Gebetes Der klagende Mensch Gott und das Leben

4. Psalm 38 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

Text Einleitung Exegese Verlauf des Gebetes Der leidende Mensch vor Gott Die Rolle anderer Menschen Der zornige und doch vertraute Gott

10 10 12 13 18 19

21 21 23 25 33 34 35

39 39 41 44 51 53 54 55

vm

Inhaltsverzeichnis

Teil 2 Der Mensch vor Gott 5. Ich - Aussagen 5.1 Der Mensch wendet sich an Gott 5.1.1 Das Ich des Beters 5.1.2 Anrufen Gottes 5.1.3 Standpunkt des Beters 5.1.4 Zusammenfassung 5.2 Orientierung auf Gott 5.2.1 Gebet 5.2.2 Vertrauen 5.2.3 Ehrfurcht 5.2.4 Aufmerksamkeit 5.2.5 Sehen 5.2.6 Weg 5.2.7 Erwartung 5.2.8 Schutz 5.2.9 Gegenwart Gottes 5.2.10 Zusammenfassung 5.3 Notbeschreibung 5.3.1 Bezeichnungen der Not 5.3.2 Angst und Elend 5.3.3 Bilder des Körpers 5.3.4 Einsamkeit / soziale Isolation 5.3.5 Flucht 5.3.6 Lebenszeit 5.3.7 Dauer der Not 5.3.8 Tod 5.3.9 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 5.4 Lob Gottes 5.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

6. Klage über Andere 6.1 Beschreibung der Gegner 6.1.1 Verhalten und Einstellung der Gegner 6.1.2 Metaphern 6.1.3 Eigenschaften 6.1.4 Beziehung zu den Gegnern 6.1.5 „Neutrale" Bezeichnungen 6.2 Die Gegner zwischen Mensch und Gott 6.3 Schlussfolgerungen

7. Wie der Beter Gott negativ erlebt 7.1 Abwendung 7.1.1 Ferne 7.1.2 Fehlendes Eingreifen 7.1.3 Zusammenfassung

58 58 58 61 63 71 73 73 74 76 76 77 78 78 79 80 83 85 85 86 89 93 95 95 96 96 99 101 104

108 109 109 115 117 118 119 119 121

129 129 129 134 136

Inhaltsverzeichnis 7.2 Gegen den Beter gerichtet 7.2.1 Vernichtung 7.2.2 Verstoßung 7.2.3 Zorn 7.2.4 Zusammenfassung

8. Was der Beter von Gott erwartet 8.1 Gottes Zuwendung 8.1.1 Wahrnehmung 8.1.2 Bewegung 8.1.3 Einstellung 8.1.4 Zusammenfassung 8.2 Gottes Handeln am Beter 8.2.1 Führen / Weisen 8.2.2 Retten / Helfen 8.2.3 Schützen 8.2.4 Leben erhalten und erneuern 8.2.5 Richten/Prüfen 8.2.6 Vergeben 8.2.7 Zusammenfassung 8.3 Gottes Handeln gegen die Widersacher 8.3.1 Abwenden / Gottesferne 8.3.2 Handeln 8.3.3 Bestrafen / Vergelten 8.3.4 Richten / Anklagen 8.3.5 Entmachten 8.3.6 Bekämpfen 8.3.7 Belehren 8.3.8 Vernichten 8.3.9 Die Gegner in Not 8.3.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 8.4 Beweggründe 8.4.1 Situation des Beters 8.4.2 Die Beziehung Beter-Gott 8.4.3 Gottes Attribute 8.4.4 Zusammenfassung

9. Wie der Beter Gott anredet 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8

Gott Macht Rettung Zuverlässigkeit Gerechtigkeit Lob Israel Zusammenfassung

IX 137 137 140 140 143

145 145 145 148 149 151 152 152 155 159 161 164 166 167 169 169 170 171 172 173 174 175 175 177 179 183 184 187 188 192

195 196 199 204 205 206 207 207 208

X

Inhaltsverzeichnis

10. Wie der Beter Gott positiv erlebt

210

10.1 Zuwendung 10.2 Wahrnehmung 10.3 Eingreifen / Handeln 10.4 Führen / Weisen 10.5 Rettung / Hilfe 10.6 Schutz 10.7 Leben erneuern und erhalten 10.8 Richten 10.9 Vergeben 10.10 Handeln an den Widersachern 10.11 Gottes Macht und Güte 10.12 Zusammenfassung

211 212 213 213 214 216 217 217 218 219 219 221

11. Zusammenfassung

223

Literatur Bibelstellenregister Hebräisches Wortregister Sachregister

229 239 253 259

Kapitel 1

Einleitung 1.1 Fragestellung Wie steht der Mensch vor Gott in den individuellen Klagepsalmen? Das ist die Leitfrage dieser Untersuchung. Um diese Frage klären zu können, ist sowohl dem Selbstbild des Menschen als auch seinem Gottesbild nachzugehen sowie nach dem Verhältnis von Selbst- und Gottesbild des Menschen zueinander zu fragen. Die Klagen des Einzelnen, die Textgrundlage dieser Studie, haben stets die gleiche Ausgangslage: Ein von Not getroffener Mensch ruft JHWH an. Diese Not erfährt der Betende1 als eine existentielle Bedrohung, aus der er nur den einen Ausweg sieht, nämlich Gottes rettendes Eingreifen. Das Selbstbild des Beters spiegelt sich in unterschiedlichen Elementen der Klagen des Einzelnen. Zu diesen zählen auch Vertrauensäußerungen und Lobpreis, dominiert wird das Selbstverständnis jedoch durch die Notlage. Wie schildert sich der Klagende in dieser Situation, und welche Rolle spielen hierbei andere Menschen? Es wird sich zeigen, dass, so unterschiedlich die Not auch beschrieben sein mag, sie in diesen Texten immer auf eine Ursache zurückgeführt wird, und die liegt bei Gott. Folglich richtet sich der betroffene Mensch an Gott. Das Gottesbild des Beters zeigt sich in der Art, wie er JHWH benennt, wie er welche Erwartungen an ihn äußert und welche Gotteserfahrungen, aktuelle, vergangene und erhoffte, er ins Spiel bringt. Die Analysen der einzelnen Äußerungen zum Selbstverständnis und Gottesbild des Beters sind deswegen von großem Belang, weil es hier um den Kern der individuellen Klagepsalmen geht. Das Verhältnis von Mensch und Gott ist die Basis des Gebetsvollzugs, gleichzeitig ist seine Erhaltung oder Erneuerung auch das Ziel des Klagegebetes. Es wird sich herausstellen, dass dieses Ziel innerhalb des einzelnen Psalms nicht im-

' Ich spreche in dieser Untersuchung durchgehend von „dem Beter"; dies geschieht ausschließlich um der Lesbarkeit willen; die Klagelieder des Einzelnen spiegeln genauso gut Erfahrungen der einzelnen Frau wider. Zur Diskussion, ob auch Frauen im alten Israel diese Gebete gesprochen haben vgl. JANOWSKI, Konfliktgespräche 2003, 42f.

2

1.

Einleitung

mer erreicht wird. Jede Klage eines Einzelnen spiegelt einen Prozess wider, der seine Dynamik erhält durch die Spannung zwischen dem in existentieller Not befindlichen Menschen und dem als fern erlebten Gott, von dem allein Rettung erwartet wird. Diese Spannung äußert sich in den meist unvermittelten Wechseln von Klage und Lob, von Hilfeschrei und Vertrauensäußerungen. Zwischen diesen Polen spielt sich das Gebetsgeschehen ab. Deshalb muss parallel zu den inhaltlich orientierten Fragen das Augenmerk auch der jeweiligen Funktion der einzelnen Elemente der individuellen Klagepsalmen gelten. Der Mensch klagt vor Gott, weil sein Leben gefährdet ist. Er droht zu denen zu gehören, die von Gottes Hand abgeschnitten sind (88,6)2, zu den Toten, die JHWH nicht loben können, weil leben und loben untrennbar zusammengehören. In diesem Sinne ist selbst das Klagegebet aus der Tiefe, an der Grenze zum Totenreich, ein Lob, denn solange der Mensch klagt, ist er noch am Leben und kämpft noch um Gottes rettende Zuwendung. Leben ist nach dem Verständnis der individuellen Klagepsalmen nur in der Beziehung zu JHWH möglich. Mit seiner Klage hält der Mensch an seinem Leben und an Gott fest, der dieses Leben in der Hand hat. Darum sind die Klagen des Einzelnen ein Zeugnis der Klage als Gotteslob aus der Tiefe.

1.2 Vorgehen Um sowohl die Dynamik des Gebetsverlaufes nachzeichnen als auch allgemeine Aussagen über das Selbstverständnis und Gottesbild des betenden Menschen machen zu können, habe ich zwei unterschiedliche Vorgehensweisen gewählt. In einem ersten Schritt (Teil I Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Gott anhand ausgewählter Psalmen) wird anhand dreier sehr verschiedener individueller Klagepsalmen, die einen großen Teil der Themen der Klage des Einzelnen insgesamt abdecken, die Fragestellung innerhalb eines Psalms beleuchtet. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Dynamik des Psalms und den Zusammenhang der einzelnen Elemente zueinander zu analysieren. Mit der Exegese der Beispiel-Psalmen kommen für die Klage des Einzelnen typische Themen wie die Todesnähe des Beters (88), die Klage über andere Menschen (56) oder eine Mischung aus mehreren Motiven (38) zur Sprache. Der Verlauf der gewählten Beispiel-Psalmen ist sehr

2 D i e Stellenangaben aus den Psalmen erwähne ich ohne „Ps"; andere Bücher werden ausdrücklich genannt.

1.2 Vorgehen

3

unterschiedlich; dies soll die These unterstützen, dass die individuellen Klagepsalmen nicht einen ganz bestimmten, typischen Aufbau kennen. In einem zweiten Schritt (Teil II Der Mensch vor Gott) gilt die Fragestellung dann nicht mehr dem einzelnen Psalm, sondern der Textgruppe der Klagen des Einzelnen insgesamt. Nachdem das Gegenüber von Mensch und Gott innerhalb der Beispiel-Psalmen untersucht wurde, werden in den folgenden Kapiteln die individuellen Klagepsalmen quer gelesen. Zunächst geht es um den Menschen selbst, um das, was er über sich sagt, wie er seine Lage erfährt und wie er sich, sein Vertrauen und seine Not Gott gegenüber beschreibt. Sodann werden alle Aussagen analysiert, die der Mensch über Gott macht, sei es in direkter Anrede, sei es über Gott in der dritten Person. Um der Übersichtlichkeit willen wird in der Analyse getrennt, was inhaltlich sehr eng miteinander und ineinander verwoben ist. Auf diese Weise wird deutlich, wie sehr die einzelnen Elemente einander entsprechen. Als Beispiel sei der Aspekt der Zuwendung genannt: Wendet sich der Beter an Gott (5.1), tut er dies, weil er leidet unter der Abwendung Gottes (7.1) und hofft, dass Gott sich ihm wieder zuwendet (8.1) und sich im Gegenzug von den Widersachern abwendet (8.3.1); wenn Gott sich ihm zuwendet, lobt er ihn (10.1). Dem Aufbau des Teils II (Der Mensch vor Gott) liegen in erster Linie formale Kriterien zu Grunde, was zu einer Trennung der Aussagen in der lsg (5. Ich-Aussagen), der Berichte in der 3pl (6. Klage über Andere), der Anreden (9. Wie der Beter Gott anredet) und der Aussagen in der 2sg beziehungsweise 3sg (7. Wie der Beter Gott negativ erlebt, 8. Was der Beter von Gott erwartet, 10. Wie der Beter Gott positiv erlebt) geführt hat. Innerhalb dieser formalen Unterteilung bestimmen inhaltliche Kriterien die Analyse, die sich aus der Sammlung und Sichtung ergeben haben. Die thematischen Abgrenzungen bleiben durch die detaillierte Auflistung der Textbelege stets kontrollierbar. Innerhalb dieser Abgrenzungen ergibt sich des Öfteren das Problem, dass Metaphorik und Semantik einander im Wege stehen, dass die Kategorisierung nach Bild- oder sinnverwandten Aussagen nicht scharf zu trennen ist; schildert der Klagende zum Beispiel, dass Wasserfluten ihn bedrohen, so kann dies unter dem Bild Wasser eingeordnet oder aber unter der Kategorie drohender Tod subsumiert werden; um der Deutlichkeit willen werde ich an Ort und Stelle an dieses Dilemma erinnern. Die inhaltliche Fragestellung nach dem Menschen vor Gott in den Klagen des Einzelnen bringt es mit sich, dass hier Texte zusammengelesen werden, die nicht alle die gleiche Herkunft oder auch Entstehungszeit haben. Es wird sich allerdings zeigen, dass trotz der sicherlich vorhandenen

4

1.

Einleitung

Zeitunterschiede in der Entstehung der einzelnen Psalmen die Grundmotive und -formen in den Gebeten gleich bleiben.3 Methodisch habe ich mich bewusst auf ein kursorisches Lesen beschränkt, weil dies sich zur Erhellung der Fragestellung als nötig erweist. Dabei untersuche ich den Gebetsverlauf des Endtextes. Die zahlreichen Möglichkeiten, diese Texte auf andere Weise zu analysieren, zu vergleichen, sie in anderen Kontexten zu verstehen, würden in diesem Zusammenhang nichts beitragen.

1.3 Textgrundlage Die individuellen Klagepsalmen werden seit Gunkel4 gemeinhin als Gattung bezeichnet. Nun ist sowohl über die Bezeichnung dieser Gruppe von Psalmen als auch die Kategorie „Gattung" häufig und vielfältig diskutiert worden. Um die Grundlage dieser Arbeit zu verdeutlichen, will ich einige Punkte ansprechen. Für Gunkel galten als Kriterien zur Gattungsbestimmung 1) ein gemeinsamer Sitz im Leben, 2) gedankliche Übereinkünfte, die sich aufgrund des gemeinsamen Sitzes im Leben erklären lassen, und 3) Verwandtschaft in der „Formensprache", womit er sowohl Satzformen als auch den Wortschatz meint.5 Nun herrscht heute keine allgemeine Einigkeit mehr über die Frage, ob die individuellen Klagepsalmen mit Sicherheit alle drei Kriterien erfüllen. Es gibt mehr oder weniger einleuchtende Vermutungen über einen oder mehrere Sitze im Leben,6 aber auch dies muss aufgrund mangelnder Information über die Hintergründe und den möglichen kultischen Rahmen der

3 Andererseits ist genau eines dieser entscheidenden Motive, die Klage gegen und / oder vor Gott, auch das Kriterium der Zusammenstellung der Textgrundlage. Klage ist das Auswahlkriterium und typisches Merkmal zugleich. Dies ist unweigerlich ein methodischer Zirkelschluss, der jedoch nicht zu vermeiden ist. 4 Genauer gesagt: In der Exegese wird GUNKEL am Beginn der Gattungsdiskussion gesehen, während dieser selbst auf Vorläufer wie HUPFELD-RIEHM, REUß, BUHL, BAETHGEN, KAUTZSCH oder KÖNIG hinweist (GUNKEL/BEGRICH, Einleitung 1975 3 , 8). 5

6

GUNKEL /BEGRICH, Einleitung

19753,22f.

Mir leuchten die Annahmen von u.a. GERSTENBERGER, Psalms 1 1988, 1 3 - 1 4 , und ALBERTZ, Religionsgeschichte 2 1992, 573, die individuellen Klagepsalmen seien im so genannten Kleinkult anzusiedeln, am meisten ein; vgl. auch GERSTENBERGER, Psalter 1995 2 , 9; und ebenso SPIECKERMANN, Suchbewegungen 1998, 142f, der unter Hinweis auf AVALOS (AVALOS, H., Illness and Health Care in the Ancient Near East. The Role of the Temple in Greece, Mesopotamia, and Israel [HSM 54], Atlanta 1995) meint, die Zentrierung auf den Tempel müsse noch einmal neu bedacht werden.

1.3 Textgrundlage

5

Praxis hypothetisch bleiben.7 Mit anderen Worten: Ein gemeinsamer Sitz im Leben kann für die Klage des Einzelnen als eine Gattung nicht bestimmt werden.8 Auch eine Differenzierung innerhalb der Textgruppe der individuellen Klagepsalmen zwischen unter anderen Krankheitspsalmen oder Feindpsalmen9 oder ihre Umbenennung10 hilft in der Gattungsproblematik und der mit ihr verbundenen Suche nach einem Sitz im Leben nicht weiter.11 Da der Begriff der Gattung sehr eng mit Gunkels Kriterien verbunden ist, ist es vielleicht konstruktiv, die Klage des Einzelnen nicht „Gattung", sondern unbelasteter „Textgruppe" oder „Textsorte" zu nennen.12

7

Anders ACHENBACH, der Undanks der Tatsache, dass die Individualklagen in ihrer jetzigen Form ihren rituellen und institutionellen Zusammenhängen entrissen seien, mit Nachdruck auf die Relevanz der Frage nach den überlieferungs- und gattungsgeschichtlichen Ursprüngen hinweist (Klagegebete 2004, 581f). So wichtig diese Frage jedoch sein mag, so schwer lässt sich darauf eine fundierte Antwort finden. 8 Gegen u.a. SEYBOLD, Einführung 1986, 99, der sagt: „Als fruchtbar hat sich für die Gliederung der Gruppe die Frage nach der Zuordnung zu einem speziellen Sitz im Leben in Form von institutionellen Voraussetzungen erwiesen, die es erlaubt, die Eigenart der Gebete mit den Situationszusammenhängen zu verbinden." Als Situationen nennt er u.a. Tempelgerichtsverfahren, Krankenpsalmen, sieht aber auch Psalmen, die nicht einzuordnen seien. Alle Einordnungen jedoch sind Resultat von Spekulationen. Vgl. zu dieser Problematik auch SPIECKERMANN, der in Bezug auf die Hymnen feststellt, dass sich die Fragstellung nach dem Sitz im Leben nicht bewährt hat, und stattdessen auch für die verstärkte Frage nach der inhaltlichen Funktion formaler Gestaltungselemente plädiert (SPIECKERMANN, Hymnen 2003, 138). 9 Vgl. zu den Krankenpsalmen SEYBOLD, Gebet 1973; die Feindpsalmen als eigenständige Psalmengruppe verteidigt BEYERLIN, der auch von einer Gattung der Bittgebete neben der der Klagegebete ausgeht (BEYERLIN, Feindpsalmen 1970, 154). Diese und auch andere Differenzierungen sind deswegen problematisch, weil sie ein bestimmtes Motiv eines Psalms wählen und davon die Bestimmung der „Gattung" ableiten; dieses jeweilige Motiv ist aber zum einen lediglich eines von mehreren, und zum anderen bleibt ungeklärt, inwieweit hier nicht das Textverständnis eingeschränkt wird, indem eine Aussage konkret gedeutet wird, während sie ursprünglich vielleicht auch eine metaphorische Bedeutung hat. 10 Vgl. KRAUS, der den unterschiedlichen Psalmengruppen neue Namen gibt, angeregt von den hebräischen Psalmenüberschriften. Die Klagen des Einzelnen subsumiert er unter „Gebetslieder"; für diese Bezeichnung bezieht er sich auf N'PSRI (KRAUS, Psalmen 1 19896, 40). " Vgl. auch NASUTI, der herausarbeitet, dass GUNKEL die Gattungen mit einem historischen Interesse unterschied, und kritisiert, dass der Weg der beschreibenden Exegese verlassen wurde: „... they have moved from a descriptive to a constructive enterprise." (NASUTI, Deflning 1999,49). 12 Vgl. auch FUCHS, Klage 1982, 285-287, der sich gründlich mit dem Gattungsbegriff auseinander setzt und selbst die Unterscheidung von „Gattung" und „Gattungskern" vorschlägt, wobei letzterer die inhaltliche Basis bildet, die in unterschiedlichen Sitzen im Leben aktuell werden kann. Der Begriff „Sitz im Leben" bekommt bei ihm auf diese Weise allerdings eine andere als die ursprüngliche Bedeutung, ist mit „Sitz im Leben"

6

1. Einleitung

Für diese Textgruppe der individuellen Klagepsalmen treffen Teile der Kriterien Gunkels zu: In erster Linie haben sie ein Thema, eine Ausgangslage gemeinsam, nämlich einen Menschen, der sich in Not befindet. Konkrete Anlässe aber, Umstände oder liturgische Abläufe sind nicht oder nicht mehr zu rekonstruieren.13 Dies hat seinen Grund in der Art der Überlieferung, durch die diese Gebetstexte zu Standardformularen eines allgemeinen Gebetsbuches geworden sind. Janowski fasst den Charakter der Psalmen treffend zusammen: Sie verbinden „ein geringes Maß an Zeitgebundenheit mit einem Höchstmaß an Situationsgebundenheit",14 Dabei ist die Situation eben keine konkrete, sondern eine typische, die verschiedene existentielle Erfahrungen des Menschen abdecken kann.15 Zweitens lassen sich in Anlehnung an Gunkels Kriterien typische Elemente nennen, die zu einer Klage des Einzelnen gehören können. Mit dem Wort „können" ist allerdings ein weiteres Problem angesprochen, denn nicht alle typischen Elemente sind in jedem Psalm zu finden, der aber trotzdem als individueller Klagepsalm angesehen werden kann. Gerne wird in der Exegese der Klagen des Einzelnen auf ein von Westermann16 entwickeltes Schema zurückgegriffen,17 um den typischen Aufbau eines Klagelieds des Einzelnen darzustellen. Dieser typische Aufbau findet sich jedoch in keinem einzigen individuellen Klagepsalm vollständig. Darum stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, die Klagen des Einzelnen an einem solchen Aufbau zu messen, nur um Abweichungen feststellen zu können. Weiter kommt man, wenn man typische Elemente benennt, die in einem doch die ursprüngliche, für die Textentstehung bestimmende Anwendungssituation eines Textes gemeint. 13 Dies heißt jedoch nicht, dass es solche nicht gegeben hat. Formelle Kriterien und textliche Anhaltspunkte nennt GERSTENBERGER, Ritualpraxis 2003, 76-80. 14 JANOWSKI, Konfliktgespräche 2003, viii; zur Nachsprechbarkeit der Psalmen vgl. auch JANOWSKI, Biblia 1999, 136f. 15 GUNKEL selbst stellt fest, wie „... wenig Greifbares sich über die äußere Situation der Psalmisten angeben läßt." (GUNKEL / BEGRICH, Einleitung 1975 3 , 189) und schlussfolgert anschließend, dass die Not nicht aus den Bildern geschlossen werden kann, sondern aus dem, was mit den Bildern ausgedrückt wird. Allerdings wird er in seinen Annahmen bestimmter Nöte dann doch recht konkret. Sehr gut fasst BERLEJUNG den Charakter der Psalmensprache (hier bezogen auf die Vorstellung von Tod und Leben) zusammen: „Durch den Einsatz von Metaphern konnte man daher: 1. zwei semantische Ebenen einführen, da das gewählte Wort über einen doppelten primären kognitiven Inhalt (wörtliche und übertragene Bedeutung) verfügte, 2. (damit verbunden) eine doppelte psychologische Wirkung erzielen, 3. den Bedeutungsspender zur Perspektive des Bedeutungsempfängers machen." (BERLEJUNG, Tod 2001, 465f). 16

Vgl. WESTERMANN, Struktur 1977 5 , 129, wonach ein Psalm folgenden Aufbau hat: Anrede (und einleitende Bitte) - Klage - Hinwendung zu Gott (Bekenntnis der Zuversicht) - Bitte - Lobgelübde. WESTERMANN selbst nennt dies allerdings „stark stilisiert". 17 Als ein Beispiel sei genannt JANOWSKI, Konfliktgespräche 2003, 41 (dort auch mehr Literatur).

1.3

7

Textgrundlage

individuellen Klagepsalm vorkommen können, aber nicht alle zu finden sein müssen.18 Auch die Reihenfolge der Elemente bleibt dann offen, und dies entspricht mehr der Gestalt der Klage des Einzelnen, zumindest wenn man vom Endtext ausgeht. Ein Element allerdings ist konstitutiv, und das ist die Klage. In den individuellen Klagepsalmen geht es immer um einen Einzelnen, der J H W H aus einer Notlage heraus anruft. Er beklagt sich bei Gott, er verklagt Gott und Andere vor Gott.19 Die typischen Elemente, die einen Klagepsalm des Einzelnen charakterisieren, in welcher Zusammenstellung auch immer, sind dann Anrufung Gottes, die Notschilderung (die so genannte Ich-Klage, Gott-Klage oder Feind-Klage), Vertrauensäußerungen, Bitten und Lobpreis. Wie die Ausführungen zu den Beispiel-Psalmen zeigen werden, hat jede Klage des Einzelnen einen eigenen Verlauf mit einer eigenen Dynamik,20 die sich aus der Spannung zwischen der aktuellen Erfahrung der Gottverlassenheit und der erwünschten, erinnerten oder neu erlebten Erfahrung der Gottesnähe ergibt. Diese Dynamik entsteht durch die jeweilige Abfolge der einzelnen Elemente. Die Psalmen, die die Grundlage dieser Arbeit bilden, sind nach dem Kriterium der individuellen Klage zusammengestellt. Da die Definition eines individuellen Klagepsalms umstritten ist, bleibt die Auswahl dennoch in gewissem Maße subjektiv. Prinzipiell gehe ich, mit vereinzelten

18 Auch wenn sie an dem Begriff Gattung festhalten, ZENGER sogar in einer Einzelexegese etwas als „gattungsuntypisch" ([HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 536) bezeichnen kann, so kommen HOSSFELD und ZENGER doch auch zu dem Ergebnis: „Die überwiegende Mehrheit der biblischen Psalmen läßt sich streng genommen keiner üblichen Gattung zuordnen, außer man definiert sie so allgemein, daß sie nur noch die Geschehens- und Sprachmuster der Grundsituationen Klage und Bitte, Lob und Dank wiedergeben." (HOSSFELD / ZENGER, Psalmen 1993,18). " MANDOLFO plädiert zu Recht für „grievance" oder „protest" statt „lament", weil „lament" (= Klage) nicht das gesamte Aussagespektrum der betreffenden Texte abdeckt. Um der Kommunikabilität willen bleibt sie aber bei „lament" (vgl. MANDOLFO, God 2002, 1). Mit den deutschen Wörtern „anklagen", „verklagen" und „beklagen" kann man besagtes Spektrum allerdings besser treffen. Vgl. auch MILLER, Lord 1994, 5 4 - 5 7 , der die Begrifflichkeit diskutiert und die betreffenden Gebete sehr allgemein „prayers for help" nennt. 20 Mit KAISER, Einleitung 1984 5 , 335, der die Beschreibung der Klagepsalmen auch offener lässt, indem er von „konstituierenden Elementen" spricht, die in Reihenfolge und Zahl wechseln können; GERSTENBERGER, Psalms 1 1988, 12, führt „basic elements" auf;

v g l . a u c h GERSTENBERGER, Ritualpraxis

2 0 0 3 , 7 6 , JANOWSKI, Konfliktgespräche

76f, der von einem „Gebetsprozeß" spricht, und DE VOS, Klaaggebed

2004.

2003,

8

1.

Einleitung

Ausnahmen,21 von der Endtextgestalt aus. Zu den individuellen Klagepsalmen zähle ich: 3; 4; 5; 6; 7; 9-10*; 13; 17; 22; 25; 26; 27*; 28; 31; 35; 38; 39; 41; 4 2 ^ 3 ; 51; 54; 55; 56; 57; 59; 61; 64; 69; 70=40,12-18; 71; 86; 88; 102*; 109; 130; 140; 141;142;143.

21 Die Ausnahmen sind 9-10, 27 und 102. Alle drei Psalmen haben einen größeren Teil, der keine Klage enthält, sondern von Lob und Dank geprägt ist. Damit wäre die Textgrundlage der individuellen Klagepsalmen verzerrt.

Teil 1

Verhältnisbestimmung zwischen Mensch und Gott anhand ausgewählter Psalmen

Kapitel 2

Psalm 56 2.1 Text 1 Für den Chorleiter. Nach ,Eine Taube auf fernen Terebinthen'1. Von David, ein miktäm2, als die Philister ihn in Gat ergriffen.3 2 Sei mir gnädig, Gott, denn Menschen stellen mir nach. Täglich bedrängen mich Kämpfer4. 3 Meine Feinde stellen mir nach jeden Tag, ja, viele bekämpfen mich aus der Höhe5. 4 Tags fürchte ich mich, (doch) ich vertraue dir. 5 Auf Gott - ich rühme sein Wort auf Gott vertraue ich, ich fürchte mich nicht. Was kann Fleisch mir tun? 6 Täglich kränken sie meine Worte;6 ' Anstelle von D1?!? ist mit dem app G''1?» zu lesen. Vgl. die ausführliche Diskussion bei [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 106 (und Exegese 112), der allerdings MT belässt. 2 Ob • n u n von u r o .schreiben' oder o r n .verbergen' abzuleiten ist, bleibt umstritten. Es kommt weiter vor in 16 und verbindet ferner als Überschrift die Psalmen 56-60. Vgl. [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 3

2000,106f.

Vgl. lSam 21,1 lff. 4 Pluralisch übersetzt im Sinne des par.mem.; der sg ist kollektiv aufzufassen. 5 Vgl. STÄHLI, DIL, 758 z.St.: evtl. „hochmütig", KRAUS, Psalmen 1 19896, 566, streicht DilQ aus inhaltlichen und metrischen Gründen. TÄTE, Psalms 1990, 66, zieht es zur Gottesanrede von 4. Es gibt keinen zwingenden Grund für eine Textänderung (mit u.a. VAN UCHELEN, Psalmen II 19862, 111). Ich übersetze DilO im Sinne von DilDO (mit u.a. RAABE, Psalm Structures 1990, 93). 6 Zu 6a gibt es zahlreiche Änderungsvorschläge. Der Text ist nach KRAUS, Psalmen 1 19896, 566, „nicht richtig überliefert". Er schlägt vor, lüliy n 3 T ,sie bereden und beraten sich' zu lesen. Auch HAL? hält den Text für korrupt (818). [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 107, übersetzt im Anschluss an RAABE, Psalm Structures 1990, 95, der

2.1 Text

11

gegen mich sind alle ihre Pläne zum Bösen. 7 Sie rotten sich zusammen7, sie lauern8, sie bewachen meine Fersen, weil sie nach meinem Leben trachten. 8 Trotz des Bösen - gibt es für sie ein Entrinnen?9 Im Zorn stürze die Völker hinab, Gott. 9 Mein Elend10 zeichnest du auf, verwahre meine Tränen in deinem Schlauch". Ist es nicht in deinem Buch? 10 Dann12 müssen meine Feinde sich rückwärts wenden am Tag, (an dem) ich rufe. Dies weiß ich, dass Gott für mich ist. 11 Auf Gott - ich rühme sein13 Wort - , auf J H W H - ich rühme sein Wort 12 auf Gott vertraue ich, ich fürchte mich nicht. Was kann ein Mensch mir tun?

a s das suff lsg von ' genitivus obiectivus auffassen will mit dem Nomen als adverbialem Akkusativ: „Den ganzen Tag verletzen sie mich durch ihre Worte gegen mich" (105). Dies ist eine überaus komplizierte Interpretation, die nicht nötig ist und an der Spitze des Textes vorbeigeht (vgl. die Exegese). Mit RIEDE, Feindmetaphorik 2000, 9724, bleibe ich bei MT. 1 1113' (113 II .angreifen'; vgl. zur Stelle HAI?, 177) wird mit Hieronymus (congregabuntur) geändert in l l j " ("I"I3 II .sich zusammenrotten'). 8 Ob man hier Ketib 1 ( q a l ) oder Qere ID'EH' (hi) liest, ist für die Übersetzung nicht relevant. Anders [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 107f, der meint, der hi „könnte" mehr intransitive und qal eher transitive Bedeutung haben. ' Anders DAHOOD, Psalms I 1966, 40, „From their malice deliver us"; BRATCHER / REYBURN, Handbook 1991, z.St.: „So recompense them for their crime"; BUBER / RoSENZWEIG, Schriftwerke 19866, 86: „Zum Arg ein Entrinnen ihnen"; HAL?, 879, z.St.: „werden sie (für sich) entkommen?". Gegen die Ergänzung von ]ltj mit (so übersetzt LXX und mit ihr u.a. SEYBOLD, Psalmen 1996, 225); die Änderungsvorschläge, z.B. obs anstelle von sind unnötig (gegen KRAUS, Psalmen 1 19896, 566; mit TÄTE, Psalms 1990, 67). Die Form B^S verstehe ich als als inf pi und nicht imp pi. 10 Übersetzung mit HAÜ, 634: „unstetes Leben = Elend". 11 LXX ändert in ¿VWTIIÖV oou (TUja); damit geht aber das hebräische Wortspiel verloren ( n j — 12 Wörtliche Übersetzung. Gegen TÄTE, Psalms 1990, 67, der dies konditional verstehen will („If that is true ..."). 13 Entsprechend 5 übersetze ich in 11 a+b mit suff 2sg (so auch app prp).

12

2. Psalm

56

13 Deine14 Gelübde, Gott, obliegen mir15, ich zahle dir Dank. 14 Denn du hast mein Leben gerettet vor dem Tod; - hast du nicht meine Füße vor dem Sturz (gerettet)? - 1 6 um zu wandeln vor Gott im Licht des Lebens.

2.2 Einleitung Psalm 56 steht mitten in einer Reihe von Klagen des Einzelnen, in denen die Klage über andere Menschen ein dominierendes Element ist. Auch sprachliche Gemeinsamkeiten mit den Psalmen um 56 herum fallen auf: als Bezeichnung Dritter, die zur Klage führen (56,2; 55,14), ebenso an« (56,12) bzw. (57,5). Die Bedrohenden sind zahlreich (D-rn 56,3; 55,19), Gegner stellen nach (^m 56,2.3; 57,4), sie greifen an (TU 56,7 und 59,4). Der Beter bittet: D'nbK -aan (56,2; 57,2) und bekennt sein Vertrauen auf Gott (msa» 56,4; vgl. 56,5.12 und 55,24). Den Aufbau des Psalms in seiner vorliegenden Gestalt kann man wie folgt schildern: 2-3 4-5 6-7 8 9-10a 10b-12 13-14

Anrufung und erste Notschilderung Vertrauensbekundung Zweite Schilderung der Gegner und ihres Handelns Wunsch gegen die Gegner Äußerung der Hoffnung Vertrauensbekundung17 Dank und Lob18

14 Das suff 2sg ist hier als Objekt zu verstehen: „die Gelübde, die dir gegenüber getan sind"; vgl. JOÜON / MURAOKA, Grammar 1991, §129e. 15 / M L 3 , 781 bv: „v. Aufgaben, Leistungen, die jmdm. obliegen: ... Gelübde Ps 56, 3 ". 16 KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 566, bezeichnet den R^H-Satz genauso wie in 9 als Glosse; dies erwägt auch RIEDE, Feindmetaphorik 2000, 98 42 . Mit ZENGER ist sehr zu bezweifeln, ob diese Einschätzung zutrifft (vgl. [HOSSFELD]/ ZENGER, Psalmen 2000, 108, zu 9c und 14b). 17 KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 566, nimmt 9 - 1 2 zusammen als „Äußerungen der Gewißheit". Damit berücksichtigt er nicht hinreichend den qualitativen Unterschied zwischen 9 - 1 0 a (Hoffnung) und 1 0 b - 1 2 (Gewissheit). Einen anderen größeren Abschnitt sieht ZENGER in 6 - 1 0 a („zentrale Bitten mit Feindschilderung und Ausblick auf Rettung": [HOSSFELD]/ ZENGER, Psalmen 2000, 110); hier muss jedoch mehr differenziert werden. 18 Wenn KRAUS über den Psalm sagt: „Ps 56 bietet ein eigenartiges Textbild. Einige auffallende Wiederholungen (2 / 3; 5 a a / 11) stören im Gedankengefüge. V o n einem Kehrreim in 5aoc und 11 kann keine Rede sein." (KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 566), dann

2.3

Exegese

13

Der Anlass dieses Klagegebetes ist die Bedrängnis des Beters durch Feinde. Der Psalm weist als prägende Elemente Notschilderungen (vor allem Klage über Dritte: 2b-3, 6-7) und Hoffnungs- bzw. Vertrauensäußerungen auf (4b-5, 9-10a / 10b-12, wobei die Wiederholung von 5 in l l f besonders auffallend ist19). Ich werde im folgenden auf den Psalm im einzelnen eingehen, um anschließend auf die Rolle Dritter in diesem individuellen Klagepsalm zu sprechen kommen.

2.3 Exegese 2aa Das Gebet setzt ein mit dem Imperativ ü'n^N der zugleich das Grundanliegen der Klage zur Sprache bringt, "j-jn ist einer der häufigsten Imperative in den Klagen des Einzelnen, der, wie es häufig der Fall ist, entweder in einer Reihe von Imperativen steht20 und / oder mit einer durch "3 eingeleiteten Begründung21 oder aber mit dem Hinweis auf Gottes Gottsein verbunden ist.22 Gott wird um seine gnädige Zuwendung gebeten. Dies wird motiviert durch die Beschreibung des feindlichen Verhaltens Anderer dem Beter gegenüber: „denn Menschen stellen mir nach". Baethgen hat die Begründung dieser Bitte gut geschildert: „Es steht im Gegensatz zu Gott, den der Sänger anruft; er will sagen: wie kannst du, Allmächtiger, es zulassen, dass eine vergängliche Creatur mich in dieser Weise martert."23 2aßb.3 Was er bereits im '3-Satz begann, setzt der Beter fort: Er schildert seine Notlage. Menschen üben Druck aus,24 bekämpfen ihn, stellen ihm nach.25 Während in 2 die Gegner mit singularischen Bezeichnungen

stellt sich die Frage, wessen Gedankengefüge den Maßstab für eine solche Einschätzung bietet. 19 Ob dies nun eine Antiphon („Antifona di fiducia" 4 - 5 und 11-12: RAVASI, Salmi II 1988 4 , 131) bzw. ein Refrain (so RAABE, Psalm Structures 1990, 9 0 - 1 1 1 ) ist oder nicht (so ohne weitere Begründung KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 566), muss hier nicht entschieden werden. Entscheidend ist die Beobachtung dieser Wiederholung, die ich nicht für ein Versehen halte wie u.a. GUNKEL: der angebliche Kehrreim 5 = 11.12 ist nur ein trügerischer Schein ..." (GUNKEL, Psalmen 1968 5 , 243). Vgl. auch die Diskussion bei [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen

2 0 0 0 , 109.

20

So in 4,2; 25,16; 27,7; 41,5.11; 86,16. 21 Notschilderung: 6,3; 25,16; 31,10; 56,2; Sündenbekenntnis: 41,5; Vertrauensbekundung: 57,2. Auch 86,3 wird man so verstehen können. 22 51,3: T i p r p ; vgl. „8.1 Gottes Zuwendung". 23

24

BAETHGEN, Psalmen

18972, 164.

So die Grundbedeutung von fn 1 ?. Vgl. REINDL, f l A 549. 25 wörtlich „schnaufen, keuchen", schildert bildlich die Wut des Gegners, „der einem unablässig mit aller Kraft nachhetzt" (MAIBERGER, ^NE, 931).

14

2. Psalm 56

eher pauschal als Kollektivum benannt sind, werden sie in 3 durch die pluralischen Begriffe konkreter, fassbarer. 26 Die Feinde verhalten sich dem Beter gegenüber von oben herab.27 In anderen Psalmen ist es Gott, der aus c h o ,aus der Höhe' handelt.28 Das heißt: Die Gegner haben keinen Respekt vor der Stellung Gottes und messen sich sogar dessen Position an. Diese Menschen sind zahlreich (3b). Die Bedrohung ist eine ständige: •viT^a (2.3 und später 6). „köl hayyöm points not only to the continuity of the deeds of the foes, but also to the fact that there seem to be no signs of their coming to an end."29 Seybold nimmt an, dass 3 „... den etwas undeutlichen Vers 2 (nachträglich) erklären"30 wolle. Hier wird jedoch die Wiederholung bewusst als Stilmittel eingesetzt, um das Ausmaß der Bedrohung zu schildern und damit indirekt die Dringlichkeit des göttlichen Eingreifens zu betonen. 4-5 Unvermittelt stellt der Beter seine Furcht seinem Vertrauen in Gott gegenüber.31 Während er in 4 Gott direkt anredet, redet er in 5 über Gott, als sei diese Aussage nicht nur für Gott, sondern auch für ihn selbst und seine Widersacher bestimmt. Mit dem Wort Gottes, das er rühmend erwähnt, bezieht sich der Beter auf das, das für ihn feststeht. Gottes "irn ist gleichzeitig das, auf das er sich beruft, aufgrund dessen er Gott vertraut, das ihm seine Furcht nimmt. Nach Spieckermann eröffnet die Theologie des göttlichen in den Psalmen „... eine Dimension der wirkmächtigen Präsenz Gottes ...".32 Ein Blick in die Konkordanz zeigt, dass "Ol im Psalter im Kontext von Verheißung, Schöpfung und Gebot steht. Hier wird IDT nicht näher umschrieben.33 Während in vielen Psalmen (allen voran 26

RIEDE, Feindmetaphorik 2000, 98, sieht in diesem sg-pl-Wechsel eine Steigerung. Das muss nicht zwingend geschlussfolgert werden: Man denke an die Redeweise „der Russe kommt" aus der Zeit des Kalten Krieges, die auch einen bedrohlichen, kaum noch zu steigernden Eindruck machte. 27 Zu Übersetzung und Textkritik vgl. Anmerkung in der Übersetzung. 28 Vgl. 7,8; 71,19; 102,20. 29 30

DHANARAJ, Motif 1992, 166. SEYBOLD, Psalmen 1996, 226.

31 GUNKEL, Psalmen 19685, 244, meint: „Aber der .Ausdruck der Gewißheit' ... den sie enthalten, scheint hier bei weitem zu früh zu kommen; auch fährt 6ff mit der in 2.3 begonnenen Klage fort." Damit verkennt er gerade die Dynamik des Gebetsgeschehens, in dem die aktuelle Erfahrung der Bedrohung der gemachten Erfahrung des berechtigten Gottesvertrauens gegenübergestellt wird. Auch noch lange nach GUNKEL erwarten so manche Exegeten eine ungebrochene, stromlinienförmige Entwicklung zum Positiven hin. Das bieten die Klagen des Einzelnen jedoch beinahe nie. 32

33

SPIECKERMANN, Wort Gottes

1994,168.

Vgl. TÄTE, Psalms 1990, 69 („... is not further defined ..."). Auch [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 113, lässt die Bedeutung offen: „Ob damit allgemein ein dem Bittenden zukommendes »Wort« göttlichen Trostes bzw. der Verheißung göttlicher Nähe gemeint ist ... oder ob hier eher (dies ist uns wahrscheinlicher) auf die Tradition der

2.3

Exegese

15

119) vom Wort Gottes die Rede ist, auf das sich der Mensch bezieht,34 fällt auf, dass hier der Beter in einem Klagepsalm ausdrücklich das Wort Gottes lobt.35 Durch dieses Lob, so Spieckermann, eignet sich der Beter Gott als objektiven Grund des Vertrauens auch subjektiv an.36 Aus dieser Position, aus dieser Gewissheit bei Gott heraus, stellt der Beter die Möglichkeiten seiner Gegner in Frage: ,Was kann Fleisch mir tun?' Diesen Vers beschreibt Dhanaraj als „a kind of self-assurance. But both the parts together form the confession of trust."37 Formal ist dies eine rhetorische Frage, die jedoch inhaltlich mehr als eine lediglich rhetorische Funktion hat. Der Mensch bringt sein Schwanken zwischen der Bedrohung durch Dritte und seinem Vertrauen auf Gott in dieser Frage zum Ausdruck. Zenger nennt diese Haltung die „Paradoxie von »Furchtlosigkeit inmitten der Furcht«".38 6-7 Das Reden und Handeln der Feinde kränkt ihn in seinem Anliegen.39 Auffallend ist, dass der Mensch hier von seinem ~i;n redet, nachdem er gerade Gottes i r n als seinen Halt gepriesen hat. Der ~D"i Gottes steht fest, während sein eigener, menschlicher "irn bedroht ist. Die Gegner sind voll böser Absichten, keinen Moment fühlt sich der Betroffene frei von ihren beobachtenden Blicken. Ihr aggressives Verhalten wächst sich für ihn zur Lebensgefahr aus. 8 ]ltj, das Böse, Üble, der Frevel kennzeichnet Einstellung und Handeln der Gegner. Diesem p» mögen die Feinde selbst nicht entrinnen, das ist der Wunsch des Beters. 8a verstehe ich als rhetorische Frage. Ihr schließt sich gleich die Bitte an: ,1m Zorn stürze die Völker hinab'. 40 So überheb-

rait der Formel »Fürchte dich nicht« breit belegten Heilszusagen Gottes ... angespielt wird, ist schwer zu sagen." Nach SEYBOLD, Psalmen 1996, 226, ist dies der „Urteilsspruch Gottes". Das ist zumindest verkürzt, wenn es denn überhaupt zutrifft. Weder Inhalt noch Wortwahl sprechen hierfür. Vgl. auch GERLEMAN, der herausarbeitet, dass "Dl gerade wenig oder gar nichts mit dem Gerichtszusammenhang zu tun hat: „... es ist fraglich, ob es überhaupt als juristischer terminus technicus begegnet." (GERLEMAN, ""OL, 438). Auch im größeren Zusammenhang sind keinerlei Anhaltspunkte für die Sicht Gottes als Richter zu finden (eine Ausnahme dürfte 51,6 sein). 34 Z.B. in den individuellen Klagepsalmen 17,4; 130,5. 35 SPIECKERMANN, Wort Gqttes 1994, 170, meint sogar, dass „das Wort... fast hypostatischen Charakter bekommen''hat. 36 SPIECKERMANN, Wort Gottes 1994,170. 37 DHANARAJ, Motif 1 9 9 2 , 1 6 1 f . 38

35

[HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen

2000,114.

DUHM sagt es so nett: „Man erführe gern, was er mit .seiner Sache' (v. 6 12) eigentlich meint, aber konkrete Angaben dieser Art darf man ja leider von den Psalmdichtern nicht erwarten." (DUHM, Psalmen 1899, 155). 40 8b wird von etlichen Exegeten aufgrund inhaltlicher Kriterien als nachträgliche Einfügung angesehen. Hier sei die Rede von Gottes Zorn gegen die Völker, welches als Motiv nicht in einen individuellen Klagepsalm passe. In diesem Sinne äußert sich

16

2. Psalm 56

lieh die Feinde sich verhalten (vgl. 3 nino), so tief müssen sie stürzen aus der Position, die sie sich anmaßen, die ihnen aber nicht zukommt. Dies ist die einzige direkte Bitte an Gott in diesem Psalm, die Bezug auf die Gegner hat. D'Bü steht hier das einzige Mal in den Klagen des Einzelnen im Plural. Damit soll die Größe und Bedeutung der Menge, die den Beter anfeindet, betont werden. Kraus charakterisiert diese Bitte als Anrufung Gottes in der Funktion des Richters. Was ihn zu dieser Einschätzung bringt, ist undeutlich.41 Gott wird gebeten, die Völker, von denen Bedrohung ausgeht, zu vernichten42 - und das ist sicher zu unterscheiden von richten. Gott soll hier deutlich Partei ergreifen für den, der ihn anruft, und dessen Stellung verteidigen. 9-10a Es folgt darauf, ebenso unvermittelt wie bereits in 4, eine Vertrauensbekundung in 9. Das Elend des Menschen ist nicht unbemerkt bei Gott. Er muss die Tränen aufbewahren und verzeichnen. Nachdem der Mensch sich dessen vergewissert hat, kann er auch die Folgen dieses „Gott-mit-mir / Gott-für-mich" aussprechen: Die Feinde werden sich rückwärts wenden. Ihre Macht wird abnehmen ,an dem Tag, an dem ich rufe', mit anderen Worten: Der Klagende ist sich der Erhörung seines Gebetes gewiss. 10b-12 ,l? •'nin-'nj (10b). Hier wird wieder (wie schon in 5) von Gott in der 3. Person gesprochen. Dass Gott auf der Seite des Menschen steht, der ihn anruft, bekennt der Beter. 11-12 sind nahezu parallel zu 5. Das ~irn Gottes wird als Orientierung für den Menschen gerühmt. Sein Vertrauen gilt Gott, und das schließt Furcht aus. Wiederum bannt das

KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 5 67: „Die Appellation an den göttlichen Völkerrichter ist ein Element der Kulttradition Jerusalems ...". Diese und andere Spekulationen weist ZENGER von der Hand, meint aber, dass 8 eine spätere Zufügung einer redaktionellen Hand ist, „die den Cluster der Klage- und Bittgebete Ps 5 2 - 5 9 * zusammengestellt..." hat ([HossFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 111). Auf der anderen Seite meint TÄTE, Psalms 1990, 70: „It is possible that .peoples' should be construed in a broader sense of judgment on evil people, foreign and domestic ..." Wie später noch zu zeigen ist, ist die alles durchdringende Anwesenheit der Feinde auch eine typische Eigenschaft der Gegner in den individuellen Klagepsalmen, ebenso kennzeichnend ist es, die übermächtige Anzahl der feindlich Gesonnenen zu betonen, beides - die Präsenz der Feinde und ihre große Zahl wird mit D'QU angesprochen. SPIECKERMANN, Wort Gottes 1994, 170, deutet dieses Phänomen als „universale Dimension der Feindwelt", das mit D'QIJ angesprochen wird. 8b ist nicht zwingend als Ergebnis einer nachträglichen kollektivierenden Umdeutung zu sehen. 41 KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 567. "IT imp hi kommt innerhalb des Psalters nur hier vor. Die Wurzel selbst steht eher im Zusammenhang mit Sterben und Tod. 42 Vgl. eine gewisse Ähnlichkeit mit 59,12.

2.3 Exegese

17

Gottvertrauen die Furcht vor anderen Menschen. Das führt den Beter zu der herausfordernden Frage ,Was kann ein Mensch mir tun?' 43 13-14 In direkter Anrede nimmt der Mensch Bezug auf die Gelübde, die er offensichtlich abgelegt hat. Diesen will er sich jetzt stellen mit seinen rnin. 44 Das "3 hat hier hinweisenden (vgl. das darauf folgende «bn) und begründenden Charakter. ,Du hast mein Leben gerettet vor dem Tod': Die Bedrohung des eigenen Lebens, die von den Gegnern ausging, hat Gott abgewandt. Interessanterweise werden hier im Dank die Feinde nicht mehr genannt, als gäbe es sie nicht mehr. Mit der Bedrohung sind auch die aus dem Blickfeld gewichen, die diese Not verursacht haben.45 Ob man hier jedoch von einem Stimmungsumschwung im klassischen Sinne der „Gattung" Klagelied des Einzelnen reden kann,46 ist zweifelhaft, fehlt doch ein einmaliger Umbruch in dem Gebet. Eine alternative Sichtweise formuliert Gerstenberger: „Praise elements, however, function in individual complaints in a precursory fashion before salvation materializes, as buttresses of petition .,.".47 Gerade der Verlauf dieses Psalms mit seinem Wechsel zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Bedrängnis und Zuversicht legt eine solche Sicht nahe. Das Klagelied endet im Lob, in dem der Beter die Perspektive seines Lebens benennt: „... um zu wandeln vor Gott im Licht des Lebens."48 14b fasst die Bedeutung des Lebens in nuce zusammen durch die Metapher des Lichtes. Unter seinem Einfluss „... gedeiht Leben, verschwindet Dunkelheit, Trauer und Sorge, kann es Heil, Glück und Freude geben. Dies ist die nächste und auch wohl beste Erklärung dafür, daß das Licht zum Inbegriff und Symbol des Lebens werden konnte."49

43

Zu diesem Vers vgl. 118,6: n n t ) n t o ' / n o » 7 » «b mir. Dies ist der einzige Beleg von r n i n im Plural in den Psalmen, wahrscheinlich im Anschluss an 1,-T13 gebildet, r n i n im par.mem. zu T73 auch in 50,14; hier auch r n i n mit übti. -175 kommt häufiger mit D^Ö vor: 22,26; 61,9; 65,2; 66,13; 76,12; 116,14.18. Dies spräche dafür, hier rnin als Dankgelübde zu verstehen. Das Wort allein aber reicht nicht aus, um hier von einem liturgischen Ablauf mit Heilsorakel auszugehen, so wie es in der älteren Literatur im Gefolge BEGRICHS propagiert wird. 45 Vgl. „6.3 Schlussfolgerungen". 46 Vgl. die Ausführungen unter „1.3 Textgrundlage". 47 GERSTENBERGER, Psalms 1 1988, 85 (in der Exegese von Ps 13). 48 Vgl. 89,16; 116,9. 44

49

BARTH, Errettung

19872, 34.

18

2. Psalm 56

2.4 Verlauf des Gebetes Wie steht es um das Verhältnis des Beters zu Gott in diesem Psalm? Er beginnt mit der Bitte ,sei mir gnädig', um in der Gewissheit zu schließen ,du hast mein Leben gerettet vor dem Tod'. In dem und durch das Gebet scheint der Klagende also eine Entwicklung durchzumachen. Wie verläuft sie? In diesem individuellen Klagepsalm sind andere Menschen Ursache der Not, die zur Klage führt. Welche Rolle spielen die Gegner in dem Verhältnis des Menschen zu Gott? Im Verlauf des Gebetes schwindet der Anteil der Feind-Klage zugunsten des Vertrauens auf Gott und zugunsten des Gotteslobes. Die einzelnen Schritte kann man wie folgt beschreiben: 2 Gott wird direkt angesprochen. Er soll sich dem Menschen gnädig zuwenden. Im Moment dieser Bitte erfährt der Mensch Gott also nicht als gnädig. Der Imperativ wird mit dem Hinweis auf Dritte motiviert. 3 Das Verhalten der Feinde wird als aggressiv und bedrohlich beschrieben in der Sprache des Krieges (Fortsetzung des Motives aus 2b). Dabei geht der Beter nirgends auf die mögliche Entstehung dieser Feindschaft ein, auch nicht auf seine eigene Haltung gegenüber seinen Gegnern; die Not wird nicht hinsichtlich irgendwelcher Ursachen hinterfragt, sondern lediglich konstatiert. 4 Der Mensch wendet sich unvermittelt wieder an Gott. Furcht vor den Feinden wird dem Vertrauen zu Gott gegenübergestellt, als ob der Mensch zwischen diesen beiden Befindlichkeiten schwankt. 5 Wie ein Bekenntnis und eine Selbsteinrede folgt der Ruhm des Wortes Gottes. Dies mündet in die halb ernsthaft, halb rhetorisch anmutende Frage: ,Was kann Fleisch mir tun?' 6-7 Ebenso unvermittelt wie in 4 wechselt in 6 wiederum die Perspektive: Die Bedrohung durch Andere dominiert. Dabei beschreibt der Mensch das Verhalten seiner Gegner in 6 als das, was man heute stalking50 oder mobbing nennen würde, in 7 in Termini der Jagd. Innerhalb von 6-7 steigern sich die Aussagen von der Kränkung bis zur Lebensgefahr. 8 Wiederum unvermittelt wendet sich der so bedrohte Mensch an Gott. Hier fordert er das einzige Mal in diesem Gebet Gott auf, gegen die Feinde aktiv zu werden. Er fragt nach deren Ergehen angesichts ihrer Einstellung bzw. Taten, um anschließend seinen eigenen Wunsch bezüglich ihres Ergehens deutlich auszusprechen: ,1m Zorn stürze die Völker hinab'. 50

Interessanterweise kommt stalk .pirschen' aus dem Wortfeld der Jagd, ebenso wie zahlreiche Feindschilderungen in den individuellen Klagepsalmen. Vgl. hierzu „6.1.2 Metaphern".

2.5 Gegner als Ursache der Not

19

9 Nach dieser Bitte wendet sich die Blickrichtung wieder auf die Beziehung des Beters zu Gott. Er bekundet sein Vertrauen, und zwar ausführlicher, bildreicher als in 4b. Die Frage ,Ist es nicht in deiner Aufzeichnung?' klingt dann auch kaum unsicher, sondern eher wie ein vertrautes „unter-uns". 10 Diese Sicherheit in Gott hat Konsequenzen: Die Feinde müssen sich abwenden. Der bedrohte Mensch hat sich bei Gott dessen versichert: ,Dies weiß ich, dass Gott für mich ist'. 11-12 Auch wenn 11-12 nahezu wörtlich eine Wiederholung von 5 sind, steht dieses Lob doch auf sichererem Boden. Die Bedrohung scheint ihren existentiellen Charakter verloren zu haben, die Frage ,Was kann ein Mensch mir tun?' ist rein rhetorisch. 13-14 sind die Schlussfolgerung aus der erfahrenen Rettung durch Gott. Der Mensch dankt Gott für die Zuwendung - noch einmal mit einer Frage, die den dialogischen Charakter des Gebetes verstärkt - und benennt das Ziel seiner anfänglichen Bitte um Gottes Gnade: ,um zu wandeln vor Gott im Lichte des Lebens'. Auffallend ist in diesem Psalm der ständige Wechsel von Klage und Vertrauensbeteuerung. Dabei vollzieht sich eine Entwicklung: Ist anfangs die Klage über Dritte der Schwerpunkt, schwindet deren Bedeutung immer weiter, bis hin zu 10, wo die Abwendung der Feinde zur Gewissheit wird. Entsprechend dazu wächst der Anteil des Vertrauens auf Gott bis zum Dank 13f.

2.5 Gegner als Ursache der Not Dieser Psalm fällt durch die vielfachen und vielfältigen Bezeichnungen auf, mit denen die Menschen belegt sind, die den Beter in Not gebracht haben. Sie können in zwei Gruppen unterteilt werden: Zum einen die eigentlichen Feindbezeichnungen nnb (2), n n i o (3), r e a (8) und ^ i « (10), und zum anderen zunächst neutralere Begriffe wie 0i)tj (2), (5) und dik (12). Bemerkenswert ist, in welchem Zusammenhang diese Bezeichnungen auftauchen: In der Notschilderung, der Feind-Klage, sind die Gegner als solche deutlich charakterisiert; hier finden wir die zuerst genannten Begriffe wie an1? ,Krieger', 'Tpttf ,meine Feinde', .Völker' und "Tin ,meine Feinde'. Bei der Anrufung Gottes und in den Vertrauensbekundungen ihm gegenüber spricht der Beter hingegen von Di)« .Mensch', ~ien ,Fleisch' und Dl« .Mensch'. Diese Bezeichnungen werden jeweils im di-

20

2. Psalm 56

rekten Kontrast zur Anrede und Benennung Gottes verwandt.51 Das heißt: Solange der Beter auf sich gestellt seinen Gegnern ausgeliefert ist, sind sie mächtig und bedrohlich. Legt er aber diese Not Gott vor, werden die Dritten zu Menschen, ja, zu „Fleisch", das gegenüber Gott nichts ausrichten kann. Der Beter stellt hier in dem Gefüge Gott - Beter - Dritte als Betroffener die Feinde Gott gegenüber. Dabei führt der Gegensatz von Furcht vor den feindlichen Mitmenschen und Vertrauen in Gott letztlich in die Gewissheit von Gottes Sieg über die Gegner. Anders gesagt: Im Erleben des Beters schließen die Macht der Gegner und die Macht Gottes einander aus. Gott wird um seine gnädige Zuwendung gebeten, weil dann die Feinde dem Betroffenen nichts mehr anhaben können. Vielleicht ist es darum bezeichnend, dass der Mensch Gott in 56 nur ein einziges Mal bittet, an den Feinden zu handeln. Die Dritten fungieren aus Sicht des Betroffenen als Signal für sein Verhältnis zu Gott und damit gleichzeitig für seine Lebensaussichten (14).

51

M i t WESTERMANN, m » , 4 4 .

Kapitel 3

Psalm 88 3.1 Text 1 Ein Psalmlied. Von den Söhnen Korachs. Dem Chorleiter: nach der Weise „Machalat" zu singen.1 Ein maskll2 Hemans des Esrachiters.3 2 JHWH, Gott meiner Rettung4, tags schreie ich, nachts vor dir. 3 Es komme vor dich mein Gebet, neige dein Ohr meinem Flehen. 4 Denn satt von Übeln ist meine Seele und mein Leben reicht an das Totenreich. 5 Ich werde gerechnet zu denen, die hinabsteigen in die Grube, ich bin geworden wie ein Mann ohne Kraft5. 6 Unter den Toten bin ich ein Entlassener6 ' Wörtlich „wechselsingen". Die Übersetzung von " r a t o ist nicht genau geklärt. HAL?, 605, sowie HOSSFELD / ZENGER, Psalmen 2000, 27, übersetzen mit „Weisheitslied". 3 Da ich in der Exegese auf die Überschrift nicht weiter eingehe, sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass hier eine doppelte Überschrift vorliegt: 1.: r n p \53l? "liDtQ Tttf; 2.: ' t n m n TO-n'p ^SED niJü'p n'pna-'pü niHöb. GESE sieht hierfür zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder ist zu einer alten eine neuere Überschrift hinzugefügt worden, oder die erste Überschrift ist eine versehentliche Wiederholung der von 87 (GESE, Büchereinteilung 1984, 165); ähnlich B o o u , Psalmen 1994, 73. 4 MT wird beibehalten; gegen app prp "FlIB mit HOSSFELD / ZENGER, Psalmen 2000, 565 u.v.a. 5 V",» ist hapax legomenon, vgl. HAL39. 6 "ip'sn bereitet nahezu allen Exegeten Probleme. Wörtlich übersetzt bedeutet es „freigelassen"; app prp "Faü'n = hofal von 31D .zurückgebracht, -geführt, -gegeben werden', dem folgt KRAUS, Psalmen 2 1 989 6 , 772, und übersetzt „unter Toten ,muß ich wohnen'" (771); HAL3, 328, schlägt vor: ! X ? n p 'ri93 ,wie dem Unheil Verfallene'; SEYBOLD, Psalmen 1996, 343, leitet das Wort von ES'n .Stoff ab und übersetzt „bei den Toten ist mein Lager"; zwei Kommentare bleiben bei der MT-Version: TÄTE, Psalms 1990, 396, und [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 565; letzterer unter Verweis auf JANOWSKI, 2

22

3. Psalm 88

gleichwie Erschlagene, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand abgeschnitten sind. 7 Du hast mich in die unterste Grube versetzt, in Finsternisse, in Tiefen7. 8 Auf mich stemmt sich dein Zorn, und [mit] allen deinen Brandungen hast du [mich] niedergedrückt8. 9 Du hast meine Vertrauten von mir entfernt, du hast mich ihnen9 zum Abscheu10 gemacht, ich bin gefangen11 und komme nicht heraus. 10 Mein Auge schmachtet vor Elend. Ich rufe zu dir, JHWH, alle Tage, ich breite meine Hände aus zu dir. 11 Wirst du an den Toten Wunder tun, oder werden Schatten aufstehen, dich loben? 12 Wird erzählt im Grab von deiner Treue, von deiner Zuverlässigkeit im Abgrund? 13 Wird in der Finsternis dein Wunder bekannt, und deine Gerechtigkeit im Land des Vergessens? 14 Aber ich, zu dir, JHWH, schreie ich um Hilfe, und am Morgen kommt mein Gebet vor dich.

Todesverständnis 2001, der wiederum im Anschluss an WILLI, Freiheit 1977, 'TDSIN versteht „... als Bezeichnung für das Erlöschen bestimmter Pflichten ... die normalerweise erst mit dem Tod aufhören. Der Ausdruck hat ursprünglich also einen positiven Bedeutungskern, der in Ps 88 aber in negativem Licht erscheint." (JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 6). Zur Begründung meiner Übersetzung vgl. die Exegese. 7 Anstelle von rv6iiD3 hat die LXX KOU ev OKIÄ Qaväxov ,und im Schatten des Todes'. Sie bringt ni^lIÖS mit .Schatten' in Verbindung und bleibt damit im Bild der „Finsternisse". 8 n"3ü: app prp ,L> rnet (von m« II) ,mir sind widerfahren' (so auch KRAUS, Psalmen 2 19896, 772); ich bleibe bei MT und leite ITJJ? ab von H3i) II pi .Gewalt antun' (mit u.a. [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen

2000, 565).

als poetische Form für M 1 ?; vgl. JOÜON / MURAOKA, Grammar 1991, §103f. 10 ninuin steht im pl, einige Handschriften verbessern dieses und geben den sg wieder. Das ist nicht nötig. Der pl ist ein Stilmittel, um die Intensität zu unterstreichen, vgl. Gtf§124e. " (pt pass qal m sg) muss nicht geändert werden; ich fasse es als Nominalsatz auf.

3.2 Einleitung

23

Wozu, 12 JHWH, verstößt du mich, verbirgst dein Angesicht vor mir? 16 Elend bin ich und sterbend13 von Jugend an, ich trage deine Schrecken, ich erstarre14. 17 Über mich sind deine Zornesgluten hingegangen, deine Schrecknisse haben mich vernichtet15. 18 Sie umringen mich wie Wasser den ganzen Tag, sie schlagen über mir zusammen.16 19 Du hast von mir entfernt den Liebenden, den Freund, meine Vertrauten - Finsternis17. 15

3.2 Einleitung 88 ist ein Korachitenpsalm wie auch 84, 85 und 87,18 die durch Gemeinsamkeiten (zum Beispiel n^an 84,9; 88,3.14; Eis? 84,3; 88,4.15) und Kontraste (vgl. zum Beispiel 85,11 mit 88,12.13) miteinander verbunden sind. Der nachfolgende 89 enthält viele entscheidende Motive und Wörter, die auch in 88 zu finden sind, wenn auch in einem völlig unterschiedlichen Kontext: So beherrscht Gott die Chaosgewalt des Wassers (88,8; 89,10); es ist die Rede von ^ n (88,6; 89,11.32.35.40) und der Viwtf (88,4; 89,49). 12

Zu no'p ,Wozu?' vgl. MICHEL, der zwischen nob und differenziert und überzeugend herausarbeitet, dass HO1? im Unterschied zu iJHD (,Warum?') nicht vergangenheits-, sondern zukunftsorientiert ist. „lama fragt nach dem bei einem Geschehen intendierten oder immanenten Sinn." (MICHEL, Wozu 1997, 21). 13 Interessanterweise schwächt LXX hier ab mit der Formulierung Kai ev KÖnoig (,und in Sorgen / harter Arbeit'). Es gibt keinen Grund, M T zu verlassen. Jiljl von D13 .verscheiden, umkommen' (vgl. HAI?, 176). 14 Anstelle von rms» hat app prp (und auch HAI?, 866+868) rniSN von 313 .erkalten, erschlaffen'; in „erkalten" fände die Todesmetaphorik einen weiteren Ausdruck. Andererseits gibt es keinen zwingenden Grund, MT zu ändern. |1S ist hapax legomenon mit der Bedeutung „erstarren" und passt zur Erwähnung des Gottesschreckens; mit KRAUS, Psalmen 2 1989 6 , 773, u.a. 15 '?rnnaa ist als Form unerklärlich. Zu lesen ist von noi£ pi .vernichten, zum Schweigen bringen' (vgl. HAL?, 970), wobei die Bedeutung „vernichten" besser in den Kontext von Tod und Sterben passt (anders [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 566, und JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 6). 16 « p j HAL3, 682, z.St. (mit bs) „umzingeln". Da hier die Wasser das Subjekt sind, übersetze ich im Anschluss an BUBER: „sie schlagen über mir zusammen" (BUBER / RoSENZWEIG, Schriftwerke 1986 6 , 133). 17 Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Psalm „am Schluß beschädigt" ist (KRAUS, Psalmen 2 1 989 6 , 773); ^B'NQ ist zu lesen. 18 Wie diese Gruppe „... einerseits als chiastische und andererseits als linear progressive Komposition gestaltet ist", arbeitet ZENGER heraus: [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 574.

24

3. Psalm 88

88 ist einer der dunkelsten Psalmen des Psalters. In ihm dominiert die Klage gegen Gott, der im Erleben des Beters lebensbedrohlich wirkt.19 Vertrauensbekundungen oder Lob Gottes fehlen ebenso wie auch jeder Einfluss Dritter („Feind-Klage") 20 88 besteht also eigentlich nur aus zwei der Elemente, die man üblicherweise in individuellen Klagepsalmen finden kann, nämlich Anrede und Klage. Inhaltlich wird dieser Klagepsalm durch die Furcht vor dem „bösen" Tod bestimmt.21 Der Aufbau des Psalms wird durch die Anreden vorgegeben:22 2-10a

2-3 4-6 7-10a 10b—13 10b 11-13

Anrede und Bitte um Zuwendung Notschilderung Gott-Klage und Ich-Klage Anrede Fragenreihe

19

Immer wieder findet sich in Kommentaren der Hinweis auf die sachliche und auch sprachliche Nähe zu Hiob. Vgl. z.B. HAAG, Psalm 88 1986, 150. 20 Deshalb diesen Psalm nicht als individuellen Klagepsalm anzusehen, geht jedoch zu weit. HAAG, Psalm 88 1986, 155, tut dies unter Verweis auf den durch WESTERMANN (Struktur 1977 5 ) herausgearbeiteten Aufbau der „Gattung" Klagelied des Einzelnen (stattdessen hätten wir es hier mit der „Gattung der Gerichtsklage des leidenden Gerechten" zu tun, so HAAG, Psalm 88 1986, 156). In ähnlichem Fahrwasser bewegt sich JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 9, der zwar nicht direkt abstreitet, dass 88 ein Klagelied des Einzelnen ist, es aber ein „singuläres Klagelied" nennt und von „Normalform" und „gattungstypisch" redet. Hier zeigt sich, wie problematisch es ist, wenn man Texte an Maßstäben misst, die in der Textsorte selbst keine Grundlage haben; mit LINDSTRÖM, Suffering 1994, 202. Vgl. auch „1.3 Textgrundlage". 21

Gegen SEYBOLD, Gebet 1973, 169, der in 88 mit Sicherheit einen Krankheitspsalm sieht, und ILLMAN, Psalm 88 1991, der sich in seinem Aufsatz (in dem er vor allem klassische Positionen zusammenfasst) SEYBOLD anschließt in dessen Einschätzung dieses Psalms als Gebet eines Kranken (damit ist er nicht allein; SEYBOLDs Position wurde von zahlreichen Exegeten ohne weitere Diskussion übernommen). Bemerkenswert ist, dass ILLMAN sehr wohl meint, die Schuldfrage müsste man außer Acht lassen, da es für diese keine Anhaltspunkte im Psalm gebe, aber sich andererseits sehr intensiv der Krankheitsfrage widmet, obwohl hierfür ebenso wenige Indizien zu finden sind (vgl. vor allem 115f). KRAUS hält es sogar für möglich, dass der Beter „... als Ausgestoßener vor den Toren lebt." (KRAUS, Psalmen 2 1 989 6 , 773). Ganz anders und überzeugender ordnet KRIEG diese Frage ein, ob 88 nun das Gebet eines Kranken ist oder nicht: „Dass ein Kranker sich mit diesem Gedicht identifizieren kann, ist nur eine der vielen legitimen Möglichkeiten, die seine Bilder eröffnen." (KRIEG, Todesbilder 1988, 286). Denn: „Beachtet man freilich zum einen die Vielschichtigket der Notschilderung ... bzw. die dabei auftretende Überlagerung der Metaphern ... und sieht man zum anderen, daß diese Vielfalt letztlich Ausgestaltung einer fundamentalen Todesbedrohung ... ist, erscheint ... die interpretatorische Engführung auf eine schwere somatische Krankheit ... nicht textgemäß." ([HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 567). Ähnlich äußert sich TÄTE, Psalms 1990, 401. 22 Anders ILLMAN, Psalm 88 1991, 114, der den Psalm aufteilt in 2 (address), 3 (Petition) und 4 - 1 9 (complaint).

3.3

14-19

14 15-19

Exegese

25

Anrede Gott-Klage und Ich-Klage

3.3 Exegese 2 Der Beter ruft J H W H an und nennt ihn ' H Ü I B ' "nV« ,Gott meiner Rettung'. Gott und die Rettung sind nicht nur inhaltlich, sondern auch grammatisch durch die cstr-Verbindung eng miteinander verwoben. Da diese Anrede singulär ist, dürfte es sich nicht um eine bloße Formel handeln. 23 Schon in diese Anrede legt der klagende Mensch seine Erfahrung und sein Anliegen: Er weiß, dass Gott ein rettender Gott sein kann, und klagt in diesem Gebet ein, dass Gott sich (wieder) als Retter erweisen möge. Täte meint zu dieser Anrede „... it seems to me that v 2 should be read as complaint rather than as a Statement of confidence."24 Tag und Nacht, also ständig, schreit der Mensch zu Gott (pi?ü)25. Auch in den beiden folgenden Anrufungen JHWHs finden sich solche Zeitangaben: In 10 ruft der Mensch und in 14 kommt das Gebet Gott entgegen.26 Der Mensch stellt sich vor (^J)) Gott. Immer wieder wird in den Anrufungen diese Haltung vor Gott betont: ^ s 1 ? (3), T1?« (10-14), ^ p n (14). 3 Der erwünschte Kontakt mit Gott wird in Verben der Bewegung ausgedrückt: Vor Gott möge das Gebet kommen, und Gott seinerseits möge sein Ohr zu dem Flehen des Beters neigen. Dieses ist grammatisch die einzige direkte Bitte in dem gesamten Psalm.27 Der Beter wendet sich zu Gott und bittet wiederum Gott, sich ihm zuzuwenden. Die anthropomor-

23

Z u G o t t a l s 'RIÖITTF: v g l . 6 2 , 2 ; 8 9 , 2 7 ; 1 4 0 , 8 , u n d „ 9 . 3 R e t t u n g " .

24

TÄTE, Psalms 1990, 396; vgl. auch 401. Anders KRIEG, Todesbilder 1988, 282, der meint, 88 enthält „... mit ,Hilfe' ein Stichwort von Vertrauens- oder Lobelement und macht so schon die erste Anrede zugleich zum Vertrauenselement." Ein Stichwort allein jedoch macht noch keine Vertrauensaussage. KRIEG argumentiert hier verkürzt; eine Vertrauensaussage dürfte in der Anrede mit anklingen, aber mehr auch nicht. 25 pUU steht in den Psalmen immer im Zusammenhang mit dem Schreien um Erhörung, vgl. 34,18; 107,6.28. Zu der aussageverstärkenden Funktion der Zeitangaben vgl. auch „5.1.2 Anrufen Gottes" und „5.3.7 Dauer der Not". 26 SEYBOLD, Gebet 1973, 70, deutet diese Anrufungen (88,2.10.14) als eine „rituelle Bußhaltung": Gerade dass die Schuldfrage fehlt, die im Bußkontext zu erwarten wäre, ist eines der Charakteristika dieses Psalmes. Darum fehlt für diese Deutung von 88 jede Grundlage. Ich stimme CULLEY zu: „... it is not said ... that the difficult situation is to be unterstood as discipline for wrongdoing." (CULLEY, Psalm 88 1988, 299). 27 BROYLES bemerkt hierzu: „The absence of any petition for intervention may suggest that the form of deliverance required is self-evident from the lament itself." (BROYLES, Conflict 1989, 207).

26

3. Psalm

88

phe Rede von Gott drückt aus, dass der Mensch die Nähe Gottes als Person wünscht.28 4 Der Mensch begründet seine Bitte um Gottes Zuwendung. Seine Existenz CüBJ und "_n) ist ganz und gar durch Faktoren bestimmt, die das Leben unmöglich machen. Er verwendet das an sich positive Bild vom Sattsein. Von der Sättigung geht normalerweise Befriedigung aus, sie ist nötig zum Überleben.29 In 19 der insgesamt 25 Belege von mtu in den Psalmen ist Gott derjenige, der den Menschen sättigt.30 Hier wird der Sättigende nicht genannt, doch darf wohl auch hier vorausgesetzt werden, dass es Gott ist, der den Menschen sättigt. In diesem Falle jedoch ist der Mensch gesättigt mit njn. Hin geht in den individuellen Klagepsalmen meistens von den Gegnern des Beters aus;31 im Zusammenhang mit Gott findet es sich nur noch in 71,20 (Individualklage) und 90,15. Die Fülle, die den Menschen satt sein lässt, ist hier die Fülle des Übels. In ' i ö b j klingt dessen ursprünglichen Bedeutung „Kehle"32 an, die gut in das Bild von 4a passt. Der Mensch ist also nicht lebens-, sondern leidenssatt. Was dieser Zustand für sein Leben bedeutet, drückt der Beter in 4b sehr spannungsgeladen aus. Sein Leben grenzt an den Bereich des Todes, die ^ifct?,33 und zwar sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Mit D"n ist nämlich auch die Lebensdauer angesprochen. 34 Während D""n das „... physische Lebendigsein, Gesundheit, gutes Gedeihen und Glück in jeder Beziehung ,.."35 umfasst, steht bist?; für die Unmöglichkeit des Lebens. 5 Passivisch drückt der Klagende seinen Zustand aus: ,ich werde gerechnet'; durch wen, scheint schon keine Rolle mehr zu spielen, Beziehungen zu anderen Menschen sind aus dem Blick geraten. Er gehört in den Augen

28

Vgl. u.a. 17,6; 31,3; 71,2; 86,1; 102,3. IDE (auch als Substantiv) im positiven Sinne findet sich in den Psalmen noch in 16,11; 17,14; 17,15; 22,27; 37,19; 59,16; 63,6; 65,5; 78,25.29; 81,17; 90,14; 91,16; 103,5; 104,13.16.28; 105,40; 107,9; 132,15; 145,16; 1 4 7 , 1 4 - u n d zwar sowohl im wörtlichen als auch übertragenen Sinne; vergleichbar negativ wie hier in 88,4 wird die Wurzel noch in 123,3.4 verwandt. 30 16,11; 17,14.15 (als Wunsch); 63,6; 65,5; 78,25.29; 81,17; 9 0 , 1 4 (als Wunsch); 91,16; 103,5; 104,13.16.28; 105,40; 107,9; 132,15; 145,16; 147,14. 31 28,3; 35,4.12; 38,13.21; 41,2.8; 55,16; 71,13.24; 109,5; 140,3; 141,5; im Sinne von ,(mein) Elend / Unglück' findet es sich in 35,26; 70,3; 88,4; ausdrücklich von Gott zugelassen ist n m in 71,20. Im pl n i n nur in 88,4 und 141,5. 32 Vgl. WOLFF, Anthropologie 1984 4 , 2 6 - 3 1 . 33 Zu J)J3 hi in Kombination mit dem Bereich des Todes vgl. 107,18: '-\VV~IV lü'ä'.l 29

nio. 34 35

Vgl. HAL\ 297; SEEBASS, Leben, BARTH, Errettung 1987 2 , 32.

521.

27

3.3 Exegese

der Lebenden, die sonst weiter nicht in Erscheinung treten,36 zu denen, die .hinabsteigen in die Grube'37. Tin ist eigentlich die Zisterne. Laut Keel spielen hier die Aspekte der Tiefe und des Wassers mit hinein, beides können Bilder der tödlichen Bedrohung sein.38 Eine Zisterne wurde auch als Gefängnis benutzt,39 da man aus eigener Kraft aus dieser Tiefe nicht herauskommen kann. Der Klagende vergleicht sich mit einem Mann ohne Kraft, V N40. wird in den Psalmen weitgehend im Sinne von Jemand' gebraucht.41 6 Hat sich der Beter in 5 noch mit einem schwachen Menschen verglichen, so ist er in 6 tatsächlich unter den Toten.42 Dieser Nominalsatz schildert den Zustand des Klagenden als eines unter die Toten Entlassenen. Dem Beter geht es wie einem, der „... in eine höchst mißliche soziale Lage entlassen werden konnte, so existiert nach Ps 88,6 auch der Beter unter den Toten aus dem Kreis der Lebenden als freigelassener', also als jemand, der J H W H keinen Dienst mehr leisten kann und damit nicht mehr unter der Gewalt Gottes steht."43 Anschließend folgt wieder ein Vergleich, ebenfalls aus dem Bereich des Todes: .gleichwie Erschlagene im Grabe liegen', wobei Erschlagene sicher keinen angesehenen Platz in der Erinne-

36 Sieht man einmal von 9 und 19 ab, wo aber nur negativ von der Distanzierung von Dritten die Rede ist. 37 113 "IT als Ausdruck für einen Sterbenden vgl. 28,1 (Klagelied des Einzelnen); 30,4 (Danklied des Einzelnen); 143,7 (Klagelied des Einzelnen); vgl. auch 22,30 ("EI? , "ni''" l 73) und „5.3.8 Tod". HEINTZ weist darauf, dass "Tis wegen dessen Gebrauch als Gefängnis den Eingang zur biKt? bezeichnet (HEINTZ, / n n , 503). 38

KEEL, Bildsymbolik

1 9 8 4 " , 6 0 - 6 3 . JANOWSKI l e g t N a c h d r u c k a u f d i e

konkrete,

nicht nur übertragene Bedeutung dieses Redens in Räumen (JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 12); das kann in diesem Falle zutreffen, ist aber nicht ausschließlich so aufzufassen. Es gibt in den Psalmen eine Fülle von Äußerungen, die im übertragenen Sinne räumliche Aspekte ansprechen. Wahrscheinlich ist z.B. 71,2 (,rette mich in deine Gerechtigkeit') dazu zu rechnen; vgl. „8.4.3 Gottes Attribute". 39 Vgl. auch HEINTZ, "ito / n u , 503. 40 Da y 1} hapax legomenon ist, lässt sich nicht viel aus diesem Ausdruck für die Exegese ableiten. 41 Wenn TÄTE meint: „The "DJ indicates a strong, vigorous man." (TÄTE, Psalms 1990, 396), so fehlt dafür die Grundlage in den Psalmtexten. 42 Vgl. hierzu auch EGO, Wasser 2002, 224: „Der klagende Beter ... befindet sich also seinem eigenen Empfinden nach höchst real im Totenreich ...". ILLMAN meint, DD stünde für den im Krieg Erschlagenen. Das würde in diesem Falle die negative Seite des Todes unterstreichen. Ich kann aber für diese Deutung in dem vorliegenden Kontext keine weitere Unterstützung finden (vgl. [RLNGGREN]/ ILLMAN/ [FABRY], niQ, 782). 43

JANOWSKI, Todesverständnis

2 0 0 1 , 13. V g l . [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen

2000,

565. Das Wort „Entlassener" ist im Unterschied zu „Freigelassener" im Deutschen offen für eine negative Konnotation, darum ist diese Übersetzung zu bevorzugen. TÄTE, Psalms 1990, fasst diese Aussage sogar ironisch auf in folgendem Sinn: „... released from the normal obligations of life - but 'free' among the death!" (402; vgl. auch 396).

28

3. Psalm 88

rung der Lebenden erhalten.44 Das Entscheidende an diesem Zustand sagt der "itdK-Satz: Diese Toten sind abgeschnitten von dem Einflussbereich 45 JHWHS. Kein Gedenken Gottes, kein Handeln von seiner Seite kann einer, der im "Dp liegt, erwarten. „Jedes einzelne Grab ist ein kleines »Totenreich«."46 m ni .abgeschnitten sein' bezieht sich in nahezu allen Belegen auf das Abgeschnittensein des Lebens von Gott.47 Es tut sich in dieser Klage die denkbar größte Spannung auf: Der Mensch schreit nach der Zuwendung Gottes und ist dem Bereich, in dem J H W H nicht mehr eingreifen kann, so nahe wie nur möglich. 7 Nach der Schilderung des eigenen Zustandes klagt der Beter nun Gott direkt an;48 er bleibt dabei zunächst in dem Wortfeld des Todesbereichs. J H W H selbst ist es, der den betroffenen Menschen in die unterste Grube versetzt hat. Der Superlativ nvnnn und die angehängten Erläuterungen rrftitag C3tuno3 (im Plural) intensivieren die Aussage. 8 Der Zorn Gottes ist mit vernichtender Wirkung über den Menschen gekommen.49 Ein bitterer Ton ist nicht zu überhören, bedenkt man, dass "[OD in anderen Psalmen positiv verwandt wird; Gott hält und trägt seinen Menschen.50 Das Wasser von seiner bedrohlichen Seite wird zur Schilderung der Erfahrung Gottes verwandt: ^naeÄrta] - der Plural und verstärken die Aussage, die durch das nochmalige Suffix 2sg weiter nahe am angeklagten Gegenüber, nämlich Gott, bleibt. Die Brandungen, hier ein Bild des Gotteszorns, schwächen den Klagenden.51 9 Nun kommt in der Gott-Klage die soziale Lage des betroffenen Beters in den Blick. Gott hat von ihm seine Vertrauten entfernt, selbst deren

44 Mehr noch, laut PREUß hatten die Erschlagenen, „die also keines natürlichen Todes gestorben sind ... nach damaliger Auffassung einen besonders schlechten Platz in diesem Totenreich." (PREUß, Psalm 88 1974, 68). 45 „Vergessen = Nicht-Gedenken [ist] nicht lediglich das Aufhören des gedanklichen, sondern des Lebensbezugs, der zwischen der Gottheit und ihrem Verehrer besteht...", so

SCHOTTROFF, Gedenken

1964,184.

46

KEEL, Bildsymbolik 1984", 53. Wenn KOCH auffällt wie selten Grab und Unterwelt in Beziehung gesetzt werden", so dürfte in diesem Psalm eine Ausnahme vorliegen ( v g l . KOCH, n n p , 1 1 5 6 ) . 47 Mit Ausnahme von Est 2,1. Vgl. HAÜ, 179f; in diesem Sinne belegt in 2Chr 26,21; Jes 53,8; Klgl 3,54; Ez 37,11. 48 Vgl. hierzu auch GERSTENBERGER, Psalms 2 2001, 143: „Now Yahweh himself is named as the one responsible for the suppliant's pains." 49 Zum Zorn Gottes vgl. auch „7.2.3 Zorn". 50 Vgl. z.B. 3,6: „Ich liege und schlafe; ich erwache, denn JHWH hält mich ("323")." Zu "[OD mit bs .kommen über' vgl. HAL\ 717. 51 Zu m ü II mit Gott als Subjekt: 90,15; 102,24.

3.3 Exegese

29

Abscheu - auch hier intensiviert durch den Plural52 - vor dem Klagenden veranlasst, mehr noch, der Betroffene ist selbst zum Abscheu geworden. Auch soziale Isolation ist eine tödliche Bedrohung.53 Nach der Reihe von Anklagen fällt der Klagende auf sich selbst zurück und klagt über das Eingeschlossensein.54 Der Mensch ist also ausgeschlossen aus menschlicher Gemeinschaft und eingeschlossen in seine Not. 10a So wird der Blick des Menschen getrübt. Angesichts des eigenen Elends verzagt sogar das Auge.55 Jeder Hoffnungsschimmer fehlt. Indirekt wird auch hier die Metapher der Finsternis angesprochen. Zudem kann das Auge als pars pro toto aufgefasst werden: Der ganze Mensch sieht keine Hoffnung mehr.56 10b Erneut ruft der Beter JHWH an, wiederum mit einer umfassenden Zeitangabe Von dem Klagenden geht die Bewegung aus zu ihm, der Mensch breitet57 in einer Gebetshaltung die (offenen) Hände aus zu Gott, von dessen Hand er sich bereits abgeschnitten wähnt (6) - die Bitte um die Gegenbewegung von Gottes Seite aus, wie sie am Beginn des Psalms ausgesprochen wird, fehlt hier dann auch. Die nun folgenden Fragen können für die Bitte um Reaktion stehen. 11 Diese Reihe von Fragen (11-13) werden alle mit der Fragepartikel n eingeleitet.58 Auffälligerweise fehlt hier das Ich des Beters. In diesen Fragen werden die Wirklichkeit der Totenwelt und die Möglichkeiten JHWHs miteinander konfrontiert. Sie sind deutlich rhetorische Fragen. Hier spricht keiner, der offensteht für die Antwort „Ja". Dies untermauert der Kontext: ,die von deiner Hand abgeschnitten sind' (6). Warum aber wählt der Beter hier die Form der Frage? Zum einen zur Steigerung der Aussage, der betroffene Mensch treibt es auf die Spitze.59 In diesen Fragen schwingt ein Vorwurf, eine An52 „Der Intensitäts-Plural ... meint eigentlich die Fülle / den Inbegriff von Abscheu ...", so [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 565. 53

54

B A R T H , Errettung

19872, 57.

Vgl. hierzu die ähnliche Klage Klgl 3,7. NHN im Sinnzusammenhang von Gefangensein findet sich außerdem in Dtn 15,16; Ri 16,20. 55 ZENGER verweist auf 6,8; 13,4; 19,9 als Belegstellen für das Auge „... als Erlebnismedium von Leben bzw. Tod ..." [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 572. Vgl. auch „5.3.3 Bilder des Körpers". 56 Vgl. die Ausführungen von TÄTE, Psalms 1990, 402: „The 'eye(s)' is a synecdoche for the whole person, an indicator of the vitality and health of a person ... or of the lack of vitality and of depleted strength ...". 57 notö im pi ist hapax legomenon. 58 „Sie täuschen ... eine Freiheit zur Frage nur vor.", PREUß, Psalm 88 1974, 69. 59 „Eine rhetorische Frage ist eine, die keine Antwort erhalten, sondern den Gegner verwirren, den Hörer mitreißen oder eigene Stellungnahme ausdrücken will, eine Frage, die eine Aussage in Frageform kleidet, sodaß die Aussage dadurch klar wird." Holger Münzer © Kultur-Netz 1989-2001 http:// kultur-netz.de/ hdk/ rhet_fra.htm.

30

3. Psalm 88

klage mit.60 Zum anderen stellt man gewöhnlich eine rhetorische Frage, um das Gegenüber aus der Reserve zu locken, zu einer Reaktion zu drängen. Sicher wird nicht nur ein vor der Hand liegendes „nein" zur Bestätigung erwartet.61 Als einzige in der Reihe bezieht sich die erste der Fragen auf das Handeln Gottes: .Wirst du an den Toten Wunder tun?'62. Alle folgenden Fragen werden aus der Perspektive der Totenwelt gestellt. Die suggerierte Verneinung der ersten Frage macht die positive Beantwortung der folgenden auch unmöglich. Ein n"?563 wäre die Voraussetzung für das Aufstehen und Loben der Toten. So, wie es in der Frage unterstellt wird, können Tote JHWH nicht loben.64 Leben und Loben hängen untrennbar miteinander

60

E b e n s o JANOWSKI, Konfliktgespräche

2003, 249.

61

SPRONK, Afterlife 1986, hält die Fragen auch für rhetorische, geht in seinen Vermutungen aber weiter und meint: „The way the question is formulated indicates that it is intended as a polemic against the opposite view." (272). Ihm schließt sich LIWAK, D'HSI, 633, an. Ich frage mich, ob in dieser Textsorte eine theologische Polemik zu erwarten ist. 88 ist ein Klagepsalm und kein theologisches Traktat, in dem man sich mit anderen Auffassungen auseinandersetzt. Textimmanent zumindest ist hierfür in diesem Psalm kein Raum; im Rahmen der Entstehungs- oder Wirkungsgeschichte des Textes ist dies natürlich wohl denkbar. Eine Polemik ist eher vorstellbar bei Jes 26,14 (s.u. die Fußnote zu D'NS"!). Anders ist die Interpretation von KRAUS: „Die Fragen ... wollen Jahwe zum Einschreiten bewegen." Soweit kann ich ihm zustimmen, nicht aber in seiner Einschätzung der Erwartungshaltung des Klagenden: „Gott müßte ein Wunder tun ... Wird er es tun? Mit dieser Frage tritt ein Belter an die äußerste Grenze des Alten Testaments." (KRAUS, Psalmen 2 1 989 6 , 775f). Er suggeriert, dass die Frage mit der Hoffnung auf eine Antwort „Ja" gestellt wird, und damit überlädt er den Text. SEYBOLD verweist zu Recht darauf, dass die Fragen Gott die Vorgänge um das Danklied vorhalten (SEYBOLD, Psalmen 1996, 345). In andere Richtung spekuliert CULLEY: Eventuell sind die Fragen „... a sign that the Psalmist is more active in the art of persuasion and therefore than one might suspect at first glance. Darkening the picture can be a form of persuasion." (CULLEY, Psalm 88 1988, 291). Dichter am Text bleibt JANOWSKI mit seiner Feststellung, die Fragen hätten „appellatorischen Charakter" (JANOWSKI, Konfliktgespräche 2003, 246); weniger sanft beschreibt GERSTENBERGER, Psalms 2 2001, 144, die Fragen als „highly provocative and aggressive". 62 Es bleibt undeutlich, warum JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 5, diese erste Frage anders übersetzt als die folgenden („Für die Toten solltest du ein Wunder tun oder werden Totengeister sich erheben, dich zu preisen?"). 63 HARDMEIER, Gedenken 1988, 304f 55 , übersetzt „Handeln wider Erwarten", da „der Begriff ,Wunder' in besonderer Weise mit supranaturalistischen Vorstellungen belastet ist." 64 „In der äußersten Gottferne des Todes / der Scheol gibt es keine Vergegenwärtigung ("•!) der großen Taten Gottes im Lobpreis des Menschen (HT)." LESCOW, Komposition 2001, 34.

3.3 Exegese

31

zusammen.65 Parallel zu den DTIO werden hier die •"«an genannt, die Schatten oder auch Totengeister sind.66 12 Ebenso ist die Verkündigung des "ton den Lebenden vorbehalten, im Grabe ist man wie im Totenreich67 abgetrennt von der Zuwendung und Treue Gottes. 13 In der Finsternis wird eben nicht das Wunder Gottes bekannt, noch seine Gerechtigkeit im ,Lande des Vergessens'68, wo das Vergessen gegenseitig ist: Weder können die Toten JHWH loben noch gedenkt JHWH der Toten. 14 Ganz betont auf sich selbst verweisend O?«]), ruft der Beter erneut Gott an. War JHWH in der ersten Anrede (2) noch ,Gott meiner Rettung', so schreit der Mensch jetzt um diese Rettung (,nritii)69. Am Morgen soll das Gebet des Klagenden Gott entgegenkommen, m p pi steht meist für die Begegnung zwischen Mensch(en) und Gott, die von beiden Seiten ausgehen kann.70 "ip3 ist sowohl Zeitangabe als auch zum Bereich der Licht- und Finsternismetaphorik zu rechnen: Wenn das Gebet des Menschen vor Gott

65 „Man beachte aber, daß der Lobpreis Jahwes zugleich die Funktion eines Merkmals der Lebendigkeit hat; im Tode, d.h. aber schon im Zustande des vom Totenreich in Beschlag Genommenen preist man ihn nicht...", so BARTH, Errettung 1987 2 , 151; ähnlich WESTERMANN, Loben 1968", 121; vgl. auch 6,6; 30,10; 115,17. 66 Vgl. als inhaltlich sehr ähnliche Stelle Jes 26,14 (mit derselben Parallele von DTID und D'NB"!): „Die Toten werden nicht leben, die Totengeister stehen nicht auf."; zu D'SS-i in diesem Sinne vgl. weiter Hi 26,5; Prov 2,18; 9,18; 21,16; Jes 14,9; 26,19; als Bezeichnung für eine „vorisraelit. Bevölkerungsgruppe" (LLWAK, O'NET), 626) sind •'«ST zu finden in u.a. Dtn 2,11.20; 3,11.13 Jos 12,4; 13,12; IChr 20,4. Zu •'NE") vgl. auch die Ausführungen von PODELLA, Jenseitsvorstellungen 1988, 85-87, und SCHMIDT, Dead 1994 (Exkurs zu den Rephaim: 267-273). SCHMIDT rezipiert DE MOOR (Rephaim 1976) sehr kritisch und geht vor allem auf die Frage einer möglichen Verbindung der zwei Gruppen von Rephaim ein. Zu den D'NS"! in den poetischen und prophetischen Texten meint er: „The term in these traditions only functioned to designate humanity's postmortem, weakened existence." (269). Zur Diskussion vgl. weiter den bereits erwähnten

DE MOOR u n d PERLITT, Riesen 67

1994.

p^OtO hat als Wurzel .zugrunde gehen', es ist also der Ort des Untergangs; vgl. hierzu HAI?, 3. 68 ¡VIÖ? .Vergessen' ist hapax legomenon-, vgl. HAL3, 688. Inhaltlich vgl. 94,17 und 115,17 (dort n n n » . 69 Blltf pi ,um Hilfe rufen', ist laut HAL?, 1340 eigentlich „ein sukzessives Ausstossen von Schreien" (Zitat JENNI). 70 Gott bzw. Attribute Gottes als Subjekt: 21,4; 59,11; 79,8; 89,15; betende Menschen als Subjekt Richtung Gott: 95,2; andere Menschen als Subjekt: 18,19.

32

3. Psalm 88

kommt, ist es schon nicht mehr ganz finster. Wahrscheinlich liegt in 14b das Motiv der Hoffnung auf die Rettung Gottes am Morgen vor.71 15 Wiederum folgt eine Frage, dieses Mal eingeleitet mit np*7.72 Anklagend fragt der betroffene Mensch, wozu JHWH ihn verstoßen hat und sein Angesicht vor ihm verbirgt. Das heißt: Die Abwesenheit, die Unerreichbarkeit Gottes wird vom Menschen erlebt als aktive Aggression vonseiten Gottes. Solange Gott nicht hilft, nicht eingreift, ist er gegen den Menschen gerichtet - so beschreibt es dieser.73 16 Bisher standen die Angaben von Zeit(dauer) in den Anrufungen JHWHs, hier beschreibt der Mensch seine Not mit einer umfassenden Zeitangabe: Von Jugend an ist er dem Tode nahe. Verursacht wird dies Leiden durch Gott selbst; dessen Schrecken 74 lassen den Menschen erstarren. Bewegung ist aber eines der zentralen Merkmale für Leben und Erstarrung ein Zeichen des Todes. 17 Die Aggression Gottes, seine Zornesgluten, überströmen75 den Menschen. Die Schrecknisse 76 Gottes sind vernichtend. Auch hier wird wieder zum Plural gegriffen, um das totale Ausmaß der Bedrohung zu schildern. Der Mensch lässt keinen Zweifel an dem Ursprung seiner Not: Es sind deine Zornesgluten und deine Schrecknisse, du vernichtest. 18 Die Fortsetzung der Notschilderung steht ganz im Zeichen der Metaphorik des Wassers als eines lebensbedrohlichen Elementes. Auch hier 71

TÄTE sieht 14 und 15 zusammen im Lichte des Motivs der Erhörung am Morgen und meint: „The reference to unanswered prayer in the moming in v 14 has a bitter note because the morning was a time to expect God's help." (TÄTE, Psalms 1990, 403). Vgl. allgemein zur Thematik der Hilfe Gottes am Morgen JANOWSKI, Rettungsgewißheit 1989. ,2 HD1? in Gott-Klage: 10,1; 22,2; 42,10 (= 43,2); 44,24 (Klagelied des Volkes); 74,1 (auch mit njl); 74,11. Die Übersetzung mit „wozu" anstelle von „warum" (vgl. dazu die Anmerkung in der Übersetzung) passt zu der auch sonst völlig fehlenden Frage nach einem Verschulden als Ursache des Leides. So sehr allerdings die von MICHEL herausgestellte Bedeutung von HO1? überzeugt, so wenig einsichtig ist mir seine Schlussfolgerung, nämlich dass mit HO1? keine Anklage Gottes verbunden ist (MICHEL, WOZU 1997, 24, in einer Auseinandersetzung mit WESTERMANN). Auch in der Frage „Was hast du dir dabei gedacht?" klingt deutlich eine Anklage. 73 Tod bedeutet nichts anderes als von Jahwe selbst vollzogene Gottverlassenheit", so PODELLA mit Verweis auf u.a. 88,15 (PODELLA, Jenseitsvorstellungen 1988, 74). 74 f D » steht in dieser Form nur hier; n a ' « .Schrecken' geht aber nicht nur von Menschen aus, sondern oft wie hier explizit von Gott (Gott explizit Subjekt: Ex 23,27; Hi 9,34; 13,21; Ps 88,16; Gott indirekt Subjekt: Ex 15,16; Jos 2,9; Ps 55,5; Gott nicht Subjekt: Esr 3,3; Hi 20,25; 33,7; 39,20; 41,6; Spr 20,2; Jes 33,18; Jer 50,38). 75 "OS nimmt die Wassermetaphorik von 18 schon voraus. Mit Wasser als Subjekt findet sich "Ol! in den individuellen Klagepsalmen noch in 42,8 (Gott-Klage!). 76 Vgl. als einzige Parallele zu 'ippijq Hi 6,4: .Gottes Schrecken stellen sich gegen mich'.

3.4 Verlauf des

33

Gebetes

wird die Aussage verstärkt durch eine umfassende Zeitangabe ( D V N > 3 ) . Wie Wasser umringen die Schrecknisse den Menschen, sie schlagen selbst über ihm zusammen. Es fällt auf, dass dieser Vers mit 4+5 der einzige ist, in dem das ausdrückliche „Du" fehlt, das sonst den ganzen Psalm durchzieht, entweder als Verbform 2sg oder als Suffix 2sg. Allerdings dürfte sich der Vergleich in 18 auf 7 m in ,deine Schrecknisse' beziehen. 19 Gott hat den betroffenen Menschen bereits aus dem Lebensbereich entfernt. Nicht nur er selbst wendet sich ihm nicht zu, auch die Menschen, die dem Klagenden zugeneigt waren, hat er von ihm entfremdet. In anderen individuellen Klagepsalmen sind es diese Menschen selbst, die sich vom Beter abwenden,77 hier ist Gott der Handelnde. Die Klage endet mit dem Wort, das den Psalm insgesamt überschattet: „Finsternis", und somit in dem Bereich des Todes. Der Psalm schließt „... with the grim prospect of the dreadful darkness of the impending netherworld confronting the Speaker ...".78 Dieses Wort ist der letzte Vorwurf, mit dem der Klagende an JHWH appelliert, sich als sein Gott zu erweisen. _L

3.4 Verlauf des Gebetes Einerseits ist der Psalm dreigeteilt durch die Anreden, wobei die Fragenreihe 11-13 eine formale und inhaltliche Mitte bildet:79 formal durch ihre Stellung und sprachliche Form, inhaltlich durch die krasse Gegenüberstellung von Attributen Gottes und der Welt des Todes. Auf die Frage, ob Gottes Einfluss bis in diese Welt reicht, ist deutlich ein Nein impliziert. Im ersten und dritten Teil beschreibt der Klagende seine bedrohliche Lage in Vergleichen und Metaphern der Totenwelt (Wasser, Grab/ Grube, Tiefe, Finsternis, Gefangenschaft usw.). Diese Fülle der Metaphern deutet auch an, dass sich der Mensch an der Grenze des Sagbaren und damit des Lebens befindet. Insgesamt kann man auch einen fortschreitenden Abstieg in die immer tiefere Finsternis beobachten: von •'nBier "n1?« rnrr in 2 bis zu "¡Bnc in 19.80 Jeder der drei Teile endet mit dem Bild der Finsternis

77

Vgl. 5 5 , 1 3 - 1 5 . TÄTE, Psalms 1990, 404. 79 Sie deshalb „Sinnachse" zu nennen, ist jedoch eine Überinterpretation (gegen JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 21), denn nicht der ganze Sinn des Psalms hat hier sein Zentrum. Dies würde den Spannungs verlauf des Psalms verkennen, der viel eher als eine sich nach unten bewegende Spirale beschrieben werden kann. 80 KRAUS ordnet den Beginn und den Abschluss des Psalms auf ganz andere Weise einander zu: „'nuiC' Tlb« (2) - diese Gewißheit leuchtet über aller Finsternis auf." (KRAUS, Psalmen 2 1 989 6 , 776). Dies ist eine vorschnelle Harmonisierung, womit der Prozess, den das Gebet widerspiegelt, verkannt wird. 78

34

3. Psalm 88

(10a; 13; 19). So bildet der Verlauf des Gebetes gleichsam eine von oben nach unten laufende Spirale: Den ganzen Text hindurch kreist der Mensch immer um dasselbe Thema und wird gleichzeitig von der Finsternis immer mehr in die Tiefe der drohenden Sprachlosigkeit gezogen.

3.5 Der klagende Mensch Dieser Psalm ist voller Anklage gegen Gott. Der Mensch will mit seiner Anrede ,Gott meiner Rettung', mit der Schilderung seiner Situation am Rande des Todes, mit direkten Vorwürfen an Gott und mit rhetorischen Fragen Gottes Zuwendung einklagen, die ihm das Leben wieder ermöglichen würde.81 Wie sieht der Mensch sich gegenüber Gott? Wie erlebt er ihn und was erwartet er von ihm? Um diese Fragen zu klären, will ich auf das Bild, das der klagende Mensch von sich selbst gibt, eingehen und anschließend darauf, wie Gott hier als Gegenüber des Menschen gesehen wird. Für die Frage, welches Bild der Mensch von sich selbst zeichnet, ist entscheidend, was in den Beschreibungen der Notsituation ausdrücklich gesagt wird: Der Mensch ist in einer extremen Grenzsituation des Lebens, er befindet sich an der Grenze des Todes.82 Der Mensch ist in Todesnot. Er ist akut bedroht, einen „bösen" Tod zu sterben. Der Tod an sich muss nämlich nicht negativ oder gar bedrohlich sein. Doch hier fehlen alle Voraussetzungen für einen „guten" Tod, wie zum Beispiel Eingebettetsein in ein soziales Umfeld, Sterben im Kreise der Familie in hohem Alter.83 Der Mensch in 88 ist isoliert, gefangen und ,von Jugend an' vom Tode be81 ZENGER hat diesen Psalm als „Theodizeeklage" charakterisiert. Die Grundfrage der Theodizee ist aber die nach dem gerechten Gott, und gerade die ist nicht Gegenstand der Auseinandersetzung mit Gott, so sehr manch andere Motive auch an Hiob erinnern mögen ([HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 570). KRIEG versucht ebenfalls, die Grundfrage des Klagegebetes zu erfassen. „Hört Jahwe den Beter im Milieu des Todes?" (KRIEG, Todesbilder 1988, 283, ähnlich nochmals 286). Dies wirkt sehr undeutlich, beinahe kommt der Verdacht auf, als wolle KRIEG sich der Fragereihe 1 1 - 1 3 anschließen und diese Frage dann ernsthaft und nicht rhetorisch stellen. KRIEG trifft nicht den Kern der Problematik, schließlich fragt der Beter nicht danach, was JHWH kann oder nicht, sondern er klagt, er fordert, er nötigt Gott zum Hören und Eingreifen. 82 Leben ist nämlich „... nicht das bloß medizinische Existieren und Funktionieren, sondern prall gefüllt mit Gottes Gaben und daher schon bei Krankheit, die oft mit Isolation von der Lebensgemeinschaft verbunden war, in seinem Kern getroffen, dem Tode nah." (so SEEBASS, Leben, 521). 83 Dies sind nur einige der zahlreicheren Aspekte des „guten" Todes. Vgl. u.a. ILLMAN, der herausarbeitet, „... daß der Tod im hohen Alter, in Sättigung und Erfüllung durch Nachkommenschaft, mit Begräbnis im Familiengrab in der Heimat als das Ideal angesehen wurde." ([RLNGGREN]/ILLMAN / [ FABRY], niQ, 773).

3.6 Gott und das Leben

35

droht. In dieser Klage reicht der Tod mit seiner Bedrohlichkeit ins Leben hinein; eine scharfe Grenze zwischen beiden ist nicht zu ziehen.84 Darum kann der Tod die „schwächste Form des Lebens"85 sein. Um seine Situation zu beschreiben, wählt der Beter die Form der Ich-Aussage (4-6, 9b10a, 16-18)86, der Aussagen über Gottes Tun (7-9a, 15, 19), rhetorische Fragen (11-13) und die anklagende Frage (15). Weiter fällt auf, welch dichtes Netz durch den häufigen Gebrauch von Suffixen 1 und 2sg gewoben wird: Es geht um das Ich gegenüber dem gesuchten Du. Jeder weitere Aspekt fehlt, alles andere ist außerhalb der Perspektive. Eine Fülle von Metaphern und Vergleichen steht für die große Bedrängnis, aus der heraus der Mensch zu Gott ruft, den er bis zum Schluss anredet: ,du hast entfernt'. Was will der Mensch mit seiner Klage erreichen? Außer in 3 (,neige dein Ohr meinem Flehen') findet sich im gesamten Gebet keine explizite Erwartung an Gott. Trotzdem spricht aus dem Psalm eine Erwartungshaltung, der Vollzug des Klagegebetes an sich bringt dies zum Ausdruck. Die Notsituation ist in diesem Fall jedoch bereits so groß, dass offensichtlich zum Bitten kein Raum mehr besteht; es fehlt die nötige Distanz zur eigenen Not, um ausdrücklich bitten zu können. Doch schon mit der Schilderung der eigenen Situation allein drängt der Mensch Gott.87 Der Klagende beschreibt seine Lage nicht nur, er weist stets wieder den Verursacher an, Gott selbst. Er wirft Gott dessen Tun vor. Die Anklage Gottes wird auf diese Weise zur Einklage von Gottes Zuwendung zum Betroffenen. Der Mensch klagt vor Gott ein, dass dieser auch für ihn wieder ,Gott meiner Rettung' sein soll, "nüii^ "n^N.

3.6 Gott und das Leben Dass Gott eben im Moment der Klage kein 'ninö 1 ist, wird deutlich in 4-19. Mehr noch, Gott unterlässt die Hilfe nicht nur, er selbst ist es, der den Menschen in diese Not gebracht hat. Was in anderen Klagen des Einzelnen die menschlichen Gegner des Beters tun, tut hier Gott.88 In 88 ist Gott selbst der Feind des Beters.89 Wenn Gott die Macht hat über das Le84

Nach PREUß ist hier der Tod „ein Bereich, ein Raum, eine Sphäre, die ins Leben der Menschen hineinreicht..." (PREUß, Psalm 88 1974, 66). 85

86

KAISER, Tod

1977, 29.

Dazu zähle ich inhaltlich auch 88,4, in der grammatisch ,meine Seele' und ,mein Leben' Subjekt sind, vgl. auch „5.1.1 Das Ich des Beters". 87 Vgl. LINDSTRÖM, Suffering 1994,215. 88 Vgl. 88,7 mit 143,3 89 Vgl. auch die Ausführungen hierzu bei GROß / KUSCHEL, Gott 1995 2 , 54; und GROß, Psalm 88 1999, 166.

36

3. Psalm 88

ben, dann muss er der Verursacher der erfahrenen Not sein, so die offensichtliche Schlussfolgerung des Beters von 88.90 Um Gottes Macht und Einfluss geht es nahezu in dem gesamten Psalm, wenn auch meistens in der Negativ-Umschreibung, in abgrenzender Weise. JHWH ist ein Gott der Rettung, der Hilfe, so benennt der Klagende am Beginn des Gebetes Gott. JHWHs Macht, so wirft der Mensch stets wieder ein, ist jedoch durch den Tod begrenzt: Er gedenkt nicht mehr derjenigen, die in dem Bereich des Todes weilen. Die Toten sind abgeschnitten vom Einflussbereich JHWHS (6). Besonders deutlich wird diese nicht zu überwindende Grenze zwischen Gott und dem Tod in den rhetorischen Fragen 11-13. Nirgends im Psalm finden sich sonst positive Attribute Gottes. An dieser Stelle werden sie genannt, um ihre Bedeutungslosigkeit im Tod hervorzuheben: Keine Wunder, keine Bewegung, kein Lob, keine Verkündigung der göttlichen Gnade und Treue, keine Gerechtigkeit gibt es mehr in der Tiefe des Totenreiches. Stattdessen gibt es Tote, Schatten, Grab, Abgrund, Finsternis und Vergessen. An dieser Grenze zwischen Tod und Leben, beinahe mehr im Tod als im Leben, befindet sich der Klagende von 88. Das einzige, was ihn noch unterscheidet von denen, die völlig abgeschnitten sind von der Hand JHWHs, ist seine Klage.91 Noch ruft er zu Gott, noch sagt er „Du" zu dem, der für den Beter ausschließlich ein Gott der Lebenden ist.92 Der betroffene Mensch will also mit seiner Klage erreichen, dass Gott auch für ihn Gott ist und bleibt, dass er am Leben bleibt. Das Gottsein Gottes ist das zentrale Thema dieses Psalms, inwieweit, wird unterschiedlich gedeutet. Es ist jedoch ausschließlich aus der Gebetsperspektive des klagenden Menschen zu verstehen, es geht um das Gottsein Gottes nicht als dogmatische Fragestellung, sondern in Beziehung zum Menschen. Um es negativ abzugrenzen: Der Mensch äußert mit seiner Klage keinen Lebensüberdruss oder „Verlust des Glaubens an Gottes Existenz, Gegenwart und Hilfe"93, im Gegenteil, er klammert sich mit seiner Klage an Gott und das Leben. Auch die Annahme, nicht nur für den Menschen, auch für Gott selbst stehe sein Gottsein auf dem Spiel, trifft 90 „Jahweh è considerato il responsabile di questa tragedia perché al suo dominio risponde tutto, bene e male, luce e tenebra, fortuna e disgrazia ..." (RAVASI, Salmi II 1988 4 , 815). Vgl. auch GROß / KUSCHEL, Gott 1995 2 , 57. " „Nur als zu Gott hin Klagender kann der Beter noch existieren." (PREUß, Psalm 88 1974, 72). 92 Typisch und interessant ist übrigens, dass hier wie auch in den anderen Individualklagen jeder Hinweis auf das Schöpfersein Gottes fehlt (im Gegensatz zu den Exegesen dieser Texte), vgl. hierzu näher „8.4.4 Zusammenfassung". 93 So BARTH, Errettung 1987 2 , 98. JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 20, analysiert zu Recht, dass der Beter die Einheit zwischen dem Gott seines Glaubens (den ruft er an mit , nj™'' "H1?» mrp in 2) und dem Gott seiner Erfahrung (diese äußert er in 4-10a; 1519) wieder herbeizuführen sucht: Dies ist der eigentliche Grund der Klage vor Gott.

3.6 Gott und das Leben

37

nicht den Kern der Klage.94 Wie bereits in der Exegese ausgeführt, wollen die rhetorischen Fragen eine Reaktion Gottes herausfordern. Welche Provokation geht von der Fragenreihe aus? Janowski sieht hier vor allem einen Appell an Gottes Eigeninteresse, das „... es ihm verbieten müßte, den Beter vorzeitig in die Scheol zu verbannen, da er sich dadurch eines kostbaren Zeugen und Verehrers seiner Güte und Treue berauben würde."95 Dieser Aspekt spielt in anderen Psalmen eine gewichtigere Rolle,96 hier bleibt dem Betroffenen zu wenig Distanz, die für solche Argumentation nötig ist. Somit sind die Fragen eher als Vorwurf denn als indirekte Argumentation zu sehen, mit der Gott sich selbst zuliebe zum Eingreifen bewegt werden soll. Mit seinen Provokationen in 11-13 will der Mensch Gott auf die Grenze seiner Macht hinweisen, die er laut überliefertem Glauben hat. Ob der Mensch hier wirklich ein Wunder erhofft 97 oder tiefe Bitterkeit über diese harte und bedrohliche Grenze des Todes äußert, ist schwer eindeutig nachzuweisen. Angesichts des gesamten Gebetes halte ich das letztere für wahrscheinlicher.98 Da die Frage nach dem Gottsein Gottes aus einer ganz spezifischen und dazu noch extremen Situation heraus gestellt wird, kann dieser Text höchstens einer von vielen Beiträgen für eine entsprechende systematisch-theologische Schlussfolgerung sein.99 Für eine umfassende Antwort bietet dieser Klagepsalm keine Grundlage. „In Ps 88 spricht ein Betroffener zu YHWH selbst; er getraut sich, im Gebet zu YHWH zu sagen, was, von YHWH gesagt, wohl kaum mehr akzeptabel wäre. Das Gottesverhältnis des einzelnen entscheidet sich, alttestamentlich betrachtet, nicht in der Rede von Gott, sondern in der Rede zu Gott ... Da der einzelne Mensch hier aber nicht nur um sein Leben, sondern im selben Atemzug auch um das Gottsein seines Gottes ringt, sind

94

In diese Richtung argumentiert ZENGER: „Wenn und wo Gott nicht mehr gelobt werden kann, steht sein Gott-Sein auf dem Spiel. Daß ;HWH seiner Verehrer nicht »gedenkt« (V 6c), hat Konsequenzen für ihn selbst: Dadurch verschwindet auch er selbst aus dem Gedächtnis. Das Schreckensbild vom »Land des Vergessens«, mit dem der Abschnitt schließt und das JHWH zum rettenden Eingreifen bringen soll, ist die drohende Möglichkeit für Gott selbst!" ([HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 2000, 573); ähnlich äußert sich LESCOW, Komposition 2001, 34. 95 JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 24. 96 Vgl. 6,6 und, im dankenden Rückblick, 30,10. 97 So unterstellt JANOWSKI, Todesverständnis 2001, 23. 98 Das bedeutet nicht, dass der Psalm nicht zu anderen Zeiten anders gelesen wurde. 99 Gegen HARDMEIER, der unmittelbar von exegetischen Ergebnissen zur systematisch-theologischen Frage übergeht: „Und das heißt systematisch-theologisch gefragt: In welcher Weise und in welchem Maße ist nicht nur der Mensch auf Gott angewiesen, sondern auch Gott auf den Menschen?" (HARDMEIER, Gedenken 1988, 303).

38

3. Psalm

88

seiner Rede kaum Grenzen gesetzt."100 Der Mensch kann nur noch lebender Mensch bleiben, wenn Gott sich ihm als sein Gott zuwendet. Solange der Betroffene klagt, solange er noch Gott anspricht, ist Gott noch sein Gott. Solange der Beter klagt, ist er auch noch am Leben.

100

GROß / KUSCHEL, Gott 1995 2 , 46.

Kapitel 4

Psalm 38 4.1 Text 1 Ein Psalm Davids, um zu gedenken1. 2 JHWH, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich [nicht]2 in deinem Grimm. 3 Denn deine Pfeile haben mich getroffen und deine Hand ist auf mich herabgefahren3. 4 Nichts Heiles ist an meinem Fleisch wegen deines Grolls, nichts Unversehrtes in meinen Gebeinen wegen meiner Sünde. 5 Denn meine Vergehen kommen über mein Haupt, wie eine Last sind sie mir zu schwer4 geworden. 6 Meine Wunden stinken [und] eitern wegen meiner Torheit. 7 Sehr5 gekrümmt und gebeugt6 bin ich, den ganzen Tag laufe ich in Trauer herum. 8 Denn meine Lenden sind voller Entzündung, nichts Heiles ist an meinem Fleisch. 9 Sehr7 kraftlos und zerschlagen bin ich, ich schreie vor dem Tosen meines Herzens.

1 TAIN1? übersetzt DUHM mit „bei der Darbringung der Askara" (DUHM, Psalmen 1899, 113). T3Tnb in einer Psalmenüberschrift findet sich sonst nur noch in 70. 2 Das aus 2a ist hier zu ergänzen. Mit u.a. KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 446. 3 App prp: njni, es besteht aber kein Grund, MT zu verlassen. Ich übersetze nn^rn gegen KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 446, der für 13DFI1 plädiert, weil das „der Topik der Psalmensprache entspräche." Diese Argumentation ist recht vage, ist es doch die Frage, ob man von der Topik der Psalmensprache überhaupt reden kann. 4 Wörtlich: „schwerer als ich selbst"; laut JOÜON / MURAOKA, Grammar 1991, §141 i, handelt es sich hier um eine elliptische Steigerung: „Likewise an infinitive expressing the action which the subject cannot perform ...". 5 ~fi*Cp iü bezieht sich auf beide Verben von 7a. 6 Die Verben HIB und nntD sind synonym. 7 Wie in 7 ist "t'ND'IIJ auf beide Verben von 9a zu beziehen.

40

4. Psalm 38

10 Mein Herr, vor dir ist all mein Sehnen, mein Seufzen ist nicht vor dir verborgen. 11 Heftig pocht mein Herz, meine Kraft hat mich verlassen, und das Licht meiner Augen, auch das8 habe ich nicht mehr. 12 Meine Freunde und meine Gefährten9 halten sich fern von meiner Plage, selbst meine Nächsten halten sich fern. 13 Die mir nach dem Leben trachten, legen Schlingen, und die bedacht sind auf mein Unheil, sprechen Drohungen aus, und argen Trug10 planen sie den ganzen Tag. 14 Aber ich, ich bin wie ein Tauber11 und höre nicht, wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftut. 15 Ich bin wie ein Mensch, der nicht12 hört und keine Entgegnungen hat in seinem Mund. 16 Ja, auf dich, JHWH, harre ich, du wirst antworten, mein Herr,13 mein Gott. 17 Denn ich sage: dass sie sich ja nicht freuen über mich, und großtun gegen mich beim Wanken meines Fußes. 18 Denn ich bin dem Sturz nahe, und mein Schmerz ist mir immer gegenwärtig. 19 Ja, ich bekenne14 meine Schuld, 8 DH'DJ ,auch die' fällt aus dem Kontext durch das pronomen im pl, während ein Bezug zu I i « zu erwarten wäre. App: frt dl; die LXX A übersetzt abweichend Kai aúxó, das sich auf „Licht" bezieht, LXX B hat diese Wendung nicht, wodurch der Sinn des Satzes ebenso deutlich bleibt. Da der Bezug zum Augenlicht eindeutig ist, übersetze ich mit der LXX A ad sententiam singularisch. 9 KRAUS, Psalmen 1 19896, 446, streicht 'Uli, denn „es macht den Eindruck einer sekundären Ergänzung." Dafür fügt er das DH'DJ aus 11 hier ein - er begründet diese Operation mit seinem Eindruck; ein Eindruck ist als Kriterium nicht recht überzeugend. 10 niQIDl ist laut GK §124e ein Amplifikativ-Plural, „... durch welche[n] sichtlich eine Intensivierung des Stammbegriffs bezweckt wird." " Zu Oinp und D^lfQ!: im Hebr. (wie im Arabischen auch) weist schon die Vokalfolge i-dages-e (i-e) auf ein menschliches Gebrechen hin; vgl. hierzu auch JOÜON / MURAOKA, Grammar 1991, §88 b („adjectives of infirmities or of physical peculiarities"). 12 JOÜON / MURAOKA, Grammar 1991, §160c, nimmt an, dass hier gewählt wurde, um die Wiederholung von ¡'N zu vermeiden. 13 Zur Diskussion, ob "Í/IN als „(All)Herr" oder „mein Herr" zu übersetzen ist, vgl. die Ausführungen zu 'IHK unter „9.2 Macht". An dieser Stelle weist die Nachbarschaft von "nbtj eine Übersetzung mit Possessivpronomen an, auch wenn ElßFELDT, ]T1N, 73, dies hier gerne offen halten möchte. 14 Schuld „bekennen"; HAL?, 629, hat diese Übersetzung zur Stelle (ebenso wie KOCH, ]ll), 1167), stellt das Verb jedoch in Frage und schlägt 112« von n j II .anfeinden, angreifen' vor. Diese Alternative bringt aber nicht mehr Deutlichkeit in den Satz, darum ist MT zu lesen.

4.2

Einleitung

41

ich bin bekümmert wegen meiner Sünde. 20 Aber15 meine Feinde leben16 und sind mächtig, und zahlreich sind, die mich ohne Grund hassen. 21 Sie vergelten Gutes mit Bösem, sie sind gegen mich, weil ich das Gute verfolge17. 22 Verlass mich nicht, J H W H , mein Gott, sei nicht fern von mir. 23 Eile mir zu Hilfe, mein Herr, meine Rettung.

4.2 Einleitung 3818 gehört zu der Gruppe von Davids-Psalmen (3-41). Was sein direktes Umfeld betrifft, so lassen sich wenig Anknüpfungspunkte mit dem Weisheitspsalm 37 erkennen, sieht man von dem weisheitlichen Begriff n^it* in 38,6 einmal ab. 39 hingegen weist ähnliche Motive auf, wie zum Beispiel das Stumm-Sein gegenüber Anderen (38,14 / 39,3) und Gottes nD' und n:r (38,2 / 39,12), der mit seiner Hand (38,3 / 39,12) den Menschen straft. In 38 sind die unterschiedlichsten typischen Elemente der Klage eines Einzelnen enthalten: Gott wird angerufen und um Hilfe gebeten; der Beter beschreibt seine Not, die sowohl durch seine Sünde als auch durch Gottes Zorn und nicht zuletzt durch das Verhalten von Mitmenschen verursacht wird. Lob- und Dankelemente fehlen allerdings. Während in 56 der Schwerpunkt auf der Klage über Dritte und in 88 auf der Klage gegen Gott liegt, bietet 38 beides, wenn auch in ganz anderer Gewichtung. Die Kom-

15

1 ist in 20f deutlich zum Ausdruck eines Gegensatzes verwandt, vgl. GK §154a. D"n = pt pl. BUBER übersetzt „Die mich ums Leben befeinden, sind Menge." (BuBER / ROSENZWEIG, Schriftwerke 1986 6 , 62). Es gibt keinen Grund, MT zu verlassen, wie app prp und KRAUS, Psalmen 1 1989®, 446, es tun, der iT'n hier unpassend findet und meint, der Topik der Psalmensprache entspräche hier besser 03n (vgl. Anmerkung 3). 17 Hier ist Qere ' S i n zu lesen. 18 Eine alphabetische Struktur habe der Psalm mit oder, besser gesagt, durch seine 22 Verse (von der Überschrift wird hierbei abgesehen), so wird öfter bemerkt. Diese Entdeckung wird durch eine lange Reihe von Kommentaren weitergegeben (vgl. GUNKEL, Psalmen 1968 5 , 160; DAHOOD, Psalms I 1966, 234; KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 446; CRAIGIE, Psalms 1983, 302; OEMING, Psalmen 2000, 210). Hier wird zu viel Gewicht auf die Anzahl der Verse gelegt, denn das Alphabet ist in dem Psalm nicht zu finden. 16

42

4. Psalm 38

plexität des Textes hat mehrfach Anlass zu Thesen über unterschiedliche Zusätze gegeben. 19 Die wiederholten und stets längeren Anreden Gottes20 strukturieren das Gebet: Auf sie folgt jeweils ein neuer Sinnabschnitt mit neuen Aspekten der Not und dem Umgang des Menschen mit ihr. Der Aufbau von 38 lässt sich wie folgt schildern:21 2-9

10-15

16-21

22-23

2 3-9

Anrede und Bitte Notschilderung 3 Gott-Klage 4-9 Ich-Klage 10 Anrede und Vertrauensäußerung 11-13 Notschilderung 11 Ich-Klage 12-13 Klage über Dritte 14-15 Einstellung des Beters 16 Anrede und Vertrauensäußerung 17-21 Notschilderung 17-18 Klage über Dritte 19 Eingeständnis der Schuld 20-21 Klage über Dritte Anrede und Bitte

" Als Beispiel sei LINDSTRÖM genannt, der aufgrund metrischer Gesichtspunkte und mit Hilfe einer „motif-oriented analysis" zu dem Ergebnis kommt, dass in 4-6.19 spätere Zusätze vorliegen (LINDSTRÖM, Suffering 1994, 247). 20 Vgl. die Ausführung hierzu in „4.4 Verlauf des Gebetes". 21 Der Vielschichtigkeit des Psalms entsprechen die unterschiedlichen Ansichten über seinen Aufbau: DAHOOD, Psalms I 1966, 234f, sieht folgenden Aufbau: „2-11 illness; 12-17 reaction of others; 18f summarize 2-11; 20f summarize 12-17; 22f conclusion". Aus inhaltlichen Gründen ist es jedoch nicht möglich, 18f und 20f als Zusammenfassung vorausgegangener Klage anzusehen, geht es in der Klage 20f doch um ganz andere Gegner als in 12f. Wenig differenziert schildert CRAIGIE, Psalms 1983, 30, den Aufbau: „2 opening prayer; 3 - 1 1 description of the physical malady; 12-21 reaction of friends and acquaintances; 22f concluding prayer for God's presence and deliverance"; SEYBOLD, Psalmen 1996, 159-161, sieht diesen Psalm als Krankengebet, was sich auch in seiner Analyse widerspiegelt: 1 Überschrift; 2-9: Gnadenappell und Schuldbekenntnis; 10-13 Elendsschilderung; 14-17 Selbstrechtfertigung; 18-23 flehentliche Bitte; aus SEYBOLDS Sicht haben die Gegner offensichtlich eine untergeordnete Stellung. Meine Analyse ähnelt am meisten der HOSSFELDs, der den Psalm auf die gleiche Weise unterteilt (HOSSFELD/[ZENGER], Psalmen

1993, 239).

4.2 Einleitung

43

38 ist das Klagegebet eines Menschen, der unter Krankheit22 und Schwäche, unter Isolation und Anfeindung durch Freunde sowie Feinde leidet und der dieses Leiden als Folge von Gottes Zorn23 und seiner Sünde deutet. Wie bei anderen Psalmen auch wird in Bezug auf 38 diskutiert, inwieweit er in einem kultisch-rituellen Kontext zu sehen ist und wie dieser gegebenenfalls ausgesehen haben könnte.24 Da aber zum einen jegliches Vergleichsmaterial fehlt und zum anderen auch der Text selbst keine eindeutigen Hinweise enthält, müssen diese Überlegungen spekulativ bleiben.25

22

SEYBOLD, Gebet 1973, 67: „Ps. 38 wird durch die Bezeichnung "MJ V 12a MT, 'SilWB V 18b, V 18a, durch seine detaillierte Zustandsbeschreibung in V 4ff. und die Schilderung der sozialen Situation in V 12ff. eindeutig als Krankheitspsalm bestimmt." Es ist sehr gut möglich, dass in der Notschilderung eine Krankheit angesprochen ist. Ob jedoch die Grundfrage in SEYBOLDs Dissertation den Texten angemessen ist, möchte ich bezweifeln, kommt er doch am Schluss zu dem Ergebnis, dass gerade einmal drei der 150 Psalmen mit Sicherheit Krankheitspsalmen sind (SEYBOLD, Gebet 1973, 169). Sowohl seine inhaltlichen Kriterien als auch seine Einbettung der Texte in einen vermuteten institutionellen Zusammenhang sind angesichts der Basis sehr spekulativ. " Zum Zorn Gottes vgl. „7.2.3 Zorn". 24 Als Beispiel sei hier SCHULZ genannt, der meint, man müsse sich ein Heilungszeremoniell mit Sühne- und anderen Riten vorstellen, in denen die Feindverfluchung ihren angestammten Ort hat (SCHULZ, Fluchsymbolik 1986, 37). 25 Vorsichtig und überzeugender sind CRAIGIE, Psalms 1983, 302f: „It is thus safest to conclude that the psalm had initially no formal associations with cultic of liturgical practice"; HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen 1993, 240: „Eine feste Büß- und Krankenliturgie ist nicht erkennbar". GERSTENBERGER fasst zusammen: „... flesh, bones, head, loins, heart, and eyes are affected. These references to the supplicant's misery are all stereotyped and liturgical." (GERSTENBERGER, Psalms 1 1988, 162). Der Formularcharakter der Psalmen ist unbestritten, und zu diesem gehören die stereotypen Aussagen. Dass diese in irgendeiner Weise liturgisch verwendet wurden, dürfte ebenfalls unbestritten sein, doch bei der Beantwortung der Fragen nach dem Wie und Wo kann man über Vermutungen nicht hinauskommen. Auch die nahezu wörtliche Übereinstimmung von 38,2 mit 6,2 reicht für die Annahme einer bestimmten Liturgie nicht aus, obgleich man recht sicher von einer Abhängigkeit bzw. einem Bearbeitungsverhältnis beider Anreden ausgehen kann. Interessanterweise fehlt aber in Folge der Parallele 6,2 sowohl Gott-Klage als auch Sündenbekenntnis: Der gleiche Beginn führt zu einem Gebet mit anderen Schwerpunkten (vgl. hierzu ausführlicher LOHFINK, Schriftauslegung 1988, besonders 36-39).

44

4. Psalm 38

4.3 Exegese 2 Der Beter ruft nvr an und beruft sich damit auf die bestehende und wieder zu erneuernde Beziehung zwischen Gott und Beter.26 Zugleich wird durch die Bitten die aktuelle Gotteserfahrung geschildert. Der Klagende hat Gottes Zorn und Grimm auf sich gezogen und bittet nun Gott, dass er von dieser Haltung ablassen möge.27 Wie der Beter diesen Zorn erlebt, wird durch die Verben deutlich: er sieht sich gestraft und gezüchtigt.28 no'29 und m , 3 ° bezeichnen pädagogisches Handeln, das durch den par. mem. noch verstärkt wird.31 Der betroffene Mensch fragt nicht nach dem „Warum", auch wird Gott nicht angeklagt,32 weil er straft. Die Strafe ist in den Augen des Beters offensichtlich berechtigt, doch nun bittet er um ein Ende dieser pädagogischen Maßnahme. Schon die Bitten zeigen, dass die Not des Beters als Folge des göttlichen Handelns gesehen wird. Dies wird noch deutlicher in der Notschilderung. 26

Vgl. GERSTENBERGER, Psalms 1 1988, 162: „Such renewed invocations apparently emphasize confidence over against fear ..., confidence in the unshakable communion that exists between supplicant and his personal God." " Die Form der Vetitive (punktuell, von aktueller Bedeutung) unterstützt dabei den dringlichen Charakter dieser Bitte. Wie GERSTENBERGER, Psalms 1 1988, 161, darauf kommt, 2 aufgrund der negativen Bitten von einer „preventive petition" zu sprechen, bleibt undeutlich. 28 Es ist nicht möglich, das Motiv des Gotteszornes von den Verben zu trennen, wie LINDSTRÖM dies tut: „In Ps 38:2, an experience of the wrathful action of YHWH has been related to a pedagogical model of explanation ..." (LINDSTRÖM, Suffering 1994, 246), als sei der willkürliche Zorn Gottes nachträglich durch die Hinzufügung der Verben gezähmt worden; gegen GROß, Zorn 1999, 22567, der hier sehr wohl den Menschen unter der blinden Wut Gottes leiden sieht. Wenn dem so wäre, müssten die folgenden Verse des Psalmes umgeschrieben werden. 29 Nach BRANSON, HD', hat das Verb mit der Grundbedeutung seiner Wurzel „unterweisen" (689) oft die Konnotation „korrigieren, d.h. jemanden unterweisen durch die .Korrektur' seiner vergangenen Taten mittels Strafe." (691). Laut HAL1, 392, „züchtigen, strafen" nur von Gott. (Das bedeutet, dass mit p'^H in 141,5 Gott gemeint ist.) 30 na" hat die Grundbedeutung „richtig stellen; zeigen, was recht ist" (so MAYER, m \ 621); es kommt in forensischem und pädagogischem Kontext vor. 31 Mit Gott als Subjekt: 6,2; 38,2; 94,10; vgl. auch Jer 2,19 (Gott inhaltlich Subjekt). Siehe u.a. LINDSTRÖM, Suffering 1994, 245: „... the two verbs NA" und ID' ... when they appear together, seem to refer to an action with pedagogical effect or purpose." und HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen

1993, 239. LOHFINK, Schriftauslegung

1988, 38 25 , be-

merkt hierzu: „Zum besseren Verständnis ist vielleicht darauf hinzuweisen, daß in der antiken Erziehung durchaus mit Schlägen gearbeitet wurde. Trotzdem blieb der Erzieher Erzieher und wurde nicht zum Stafrichter." 32 Gegen LINDSTRÖM, Suffering 1994, 246, der, wie bereits erwähnt, von einem als willkürlich erlebten Zorn Gottes ausgeht, gegen den dann der Beter klagt. Dies dürfte in 88 der Fall sein, hier aber zeugen die Verben von einem anderen Verständnis des göttlichen Zorns.

4.3 Exegese

45

3 Der Beter beschreibt, weiter in direkter Anrede Gottes, die Ausmaße der göttlichen Strafmaßnahme.33 Zwei Bilder zieht er dafür heran, die Pfeile und die Hand Gottes. .Deine Pfeile haben mich getroffen', pn ist in den Psalmen öfter ein Instrument Gottes34 und auch außerhalb des Alten Testaments als Mittel eines Gottes zur Bestrafung von Menschen bekannt.35 Auch die Hand Gottes, die der Beter zu spüren bekommt, ist ein bekanntes Motiv im Alten Testament.36 4 Der Klagende beschreibt seinen Zustand: Nichts ist mehr heil in Fleisch und Knochen. Aufgrund der Notschilderung wurde und wird über die Art der Not spekuliert. Es kann gut sein, dass es sich hier um eine Krankheit handelt, aber eine gezielte Diagnose37 ist nicht möglich und bestimmt auch nicht beabsichtigt. Der Beter leidet, körperlich, psychisch, oder sowohl körperlich als auch psychisch, wobei offen bleiben muss, ob die Schilderungen der Not wörtlich oder metaphorisch aufzufassen sind. Ihm ist der Grund der Strafe klar: Er beschreibt nicht nur seinen Zustand, er benennt auch dessen Ursachen. Dieser Verlust der Unversehrtheit rührt von dem Zorn Gottes und der eigenen Sünde her. Beides, die menschliche Sünde und göttlicher Zorn, werden parallel zueinander genannt38, sie ste33 BAUKS bezeichnet die Verse 3-7 als ein „ausführliches Schuldbekenntnis", womit sie lediglich einen Aspekt der komplexeren Not benennt (Feinde 2004, 83). 34 Vgl. 45,6; 64,8 (gegen Widersacher). Ob sich diese Strafe immer in Krankheit des betroffenen Menschen niederschlägt, ist zu bezweifeln (gegen DAHOOD, Psalms 1 1966, 235: „This theme has been adopted by Hebrew poets to express the belief that illness comes from Yahweh."); vgl. z.B. Hab 3,11 und REDE, Feindmetaphorik 2000, 141. 35 Vgl. z.B. den Pestgott ReSep mit Pfeil: AN EP 473, 474, 476; im AT u.a. auch Ps 76,4 (laut XELLA, Resheph, 703, wird hier deutlich die Tradition von Reäep als Pestgott aufgenommen), Klgl 3,12 in der Rede über Gottes Handeln; Dtn 32,23 innerhalb einer Gottesrede. 36 Zur strafenden Hand Gottes vgl. 21,9; 32,4; 39,11; 44,3; 74,11. 37 Wie z.B. Aussatz, wie es u.a. ANDERSON, Psalms 1972, 301, annimmt. Nicht dass ich hier eine Krankheit für unwahrscheinlich halte, aber es fällt doch auf, dass sich die Exegeten auf diese Verse stürzen und spekulieren, während niemand auf die Idee kommt, aufgrund von 11 die Diagnose „Herzprobleme, hoher Blutdruck" zu stellen, was ebenso (un-)angebracht ist, wie 4 - 9 zum Anlass einer Krankheitsbestimmung zu nehmen. Bei 4 könnte man ebenso gut an eine Entsprechung zur deutschen Redewendung „etwas fahrt einem in Mark und Bein" denken, die auch nicht als Anspielung auf eine konkrete Krankheit aufgefasst wird. Dass Krankheitsschilderungen durchaus auch metaphorisch verwandt werden, zeigt z.B. Jes 1,6 (auch mit Dhp ... ]'«). Vgl. andererseits die Diskussion bei BARTH, Errettung 19872, 98f, der meint, metaphorisch dürften auf Krankheit bezogene Aussagen nur dann verstanden werden, die eine reale Krankheit wahrscheinlich nicht voraussetzen. Dies ist als Kriterium schwer zu handhaben. 38 Mit \3SD eingeleitet, vgl. 6 'R1?!» "3BQ. Beides, ijQBT \?BD und "riNtsn "3BQ, ist laut LINDSTRÖM, Suffering 1994, 242, ein späterer Zusatz. Zur Begründung führt er inhaltliche Kriterien an. Es stellt sich die Frage, inwieweit hier bei LINDSTRÖM nicht bezüglich der theologischen Themen dieses Psalms Voraussetzung und Schlussfolgerung ineinander übergehen.

46

4. Psalm 38

hen also in engem Zusammenhang, der allerdings, wie später zu zeigen ist, nicht mit dem Modell des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zu erklären ist.39 Durch den spürbaren Zorn Gottes wird der Beter sich seiner Sünde bewusst und bekennt sie, wie auch die Sünde des Menschen den göttlichen Zorn provoziert hat. Aus der Sicht des Beters bedingen Zorn und Sünde einander. 5 ,Denn meine Vergehen kommen über mein Haupt'.40 ]ii) gilt als „zentraler Begriff für menschliche Schuld und Verhängnis".41 Mit dieser Aussage wird der schon angesprochene Zusammenhang zwischen Vergehen und Ergehen nochmals ausdrücklich genannt. In den ^tt-Formulierungen spricht der Beter gleichzeitig an, wie er das Leben eigentlich wünscht: heil und unversehrt. 6 Der Klagende setzt die Schilderung des eigenen Zustandes fort, und auch hier nennt er deutlich die Ursache seiner Not: , wegen meiner Torheit'.42 „Die Torheit bewirkt Unheil und führt in den Tod ,..".43 7 44 Gekrümmt und gebeugt ist der Klagende durch das Elend. Mit nil) wird auf die ,njii> (5) angespielt,45 die eigenen Vergehen lasten schwer auf

39 Anders u.a. KOCH, NON, 859, wo er NTSN wie folgt umschreibt: Es drückt „die religiöse Disqualifikation bestimmten menschlichen Tuns und Verhaltens am häufigsten aus." Im weiteren Verlauf nimmt KOCH eine Differenzierung zwischen n«tan und n»tsn vor: riKlsn bedeute „nicht nur die böse Tat, sondern auch eine entsprechende Tatfolge." rujan demgegenüber spreche die einzelne Tat an, „... ntttsn dagegen die bleibende, von JHWH beobachtete und eines Tages heimzusuchende oder gegebenenfalls zu sühnende Verhaltenssphäre" (861). Allerdings dreht KOCH später diese Unterscheidung um, vgl. KOCH, ]1i>, 1167. Zur Problematisierung des KOCH'schen Modells des Tun-Ergehen-Zusammenhangs vgl. „8.3.10 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen". 40 KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 445, übersetzt „meine Vergehen wachsen mir über den K o p f (ähnlich auch andere Kommentare); hiermit schließt er für deutsche Ohren die Konnotation mit einer ursächlichen Verbindung zwischen Vergehen und Ergehen aus, die aufgrund der hebräischen Wortwahl (vgl. l K ö n 2,37 mit tÖNl + "Oü; inhaltlich ähnlich l K ö n 8,32 mit "[IT nn1?; Jer 32,18 u.ö.) und des Kontextes (vgl. die bisherigen Ausführungen) aber anzunehmen ist. 41 KOCH, |U>, 1160; der pl ist verhältnismäßig selten (dieselbe Form wie hier, Tiiii), steht noch in 51,11). Etymologisch ist das Wort abzuleiten von mi) (vgl. 7a). 42 n ^ l « ist ein Begriff der Weisheit. Vgl. S/EB0, Vi«, 77 (weisheitlicher Terminus älteren Datums); HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen 1993, 243. n ^ l « kommt nur noch in 69,6 und 22x in Prov vor. Zum Begriff des Toren / der Torheit in der älteren Weisheit

vgl. HAUSMANN, Menschenbild 43

1995, 9 5 f .

SiCB0, Vi«, 77. 44 Diesen Vers will SEYBOLD metri causa in den Teil 14ff verschieben (SEYBOLD, Psalmen 1996, 159); die Metrik allein wiegt allerdings als Argument nicht schwer genug, und inhaltlich sehe ich keinen Anlass für einen solchen Eingriff. 45 Zur Stelle meint KOCH, 1161: Es „läßt sich zwar wiedergeben: ,Ich bin gebeugt', dem Zusammenhang angemessen wäre ebenso ,ich bin vernichtet'."

4.3

Exegese

47

dem Menschen. Sein Traueraufzug46 zeigt, dass er sich dem Bereich des Todes nahe sieht. 8 Der Beter ist völlig durchdrungen von seinem Leiden; in 8b wiederholt er zusammenfassend die Schilderung von 4: "ifcna chp ]"«. 9 Die Fülle der Variationen, mit denen der Beter seinen Zustand beschreibt, steht für die Intensität des Leidens. Er ist ohne Kraft, zerschlagen47, und das sehr vgl. 7). Interessanterweise wird hier indirekt die Löwenmetapher angesprochen: JÄIÖ bezeichnet das Brüllen des Löwen,48 und non) bedeutet „Knurren, Tosen"49. Dieses Tosen spielt sich ab in -g1?, dem Sitz des Verstandes. Auch dies deutet wiederum darauf, dass das Leiden des Beters nicht auf eine bestimmte Krankheit zu beschränken ist, sondern den ganzen Menschen erfasst hat.50 10 Mit der Anrede setzt der Beter erneut ein und betont sein Vertrauen zu Gott, dass er ihn sieht und mit all seinem Begehren und Klagen kennt. Auch wenn für den Menschen im Augenblick Gottes Rettung verborgen ist, so ist sein Sehnen und Seufzen doch vor Gott nicht verborgen,51 das ist seine Hoffnung. Durch die Not ist eine Distanz zu J H W H entstanden, wie auch die Ferne Gottes die Not verursacht.52 11 Der Klagende knüpft an das Bild des unruhigen Herzens in 9 an; im pe'al'al "irnntp hört man es geradezu pochen. Wieder betont er seine Kraftlosigkeit, die sich auch im Verlust des Augenlichtes53 bemerkbar macht. 12 Nun kommt ein weiterer Aspekt der Not zur Sprache, die Reaktion des sozialen Umfelds. Nahe Stehende distanzieren sich von dem Betroffe46 Vgl. - n p in 35,14; 42,10; 43,2. Zu den Riten der Trauer vgl. 28,3; 2Sam 1,11; Hi 1,20; Jes 37,1. 47 r a n findet sich auch ausdrücklich mit Gott als Subjekt: 44,20; hier ungenannt zumindest derjenige ist, der die Zerschlagenheit des wenn nicht gar verursacht. 48 Vgl. 22,14. 49 HAI?, 639. DUHM, Psalmen 1899, 111, ändert '31? sogar in setzt: „Ich schreie lauter als das Brüllen des Löwen ..." (so auch

lSam 4,12; lSam 51,10, während er Menschen zulässt,

,Löwe' und überGUNKEL, Psalmen

19685, 161). 30

Vgl. BARTH, Errettung 1987 2 , 94: „Von der Krankheit scheint immer, auch wenn es sich um ein lokal begrenztes Leiden handelt, der ganze Mensch an Leib und Seele betroffen zu sein." 51 Mit "ino wird oft das Gottesverhältnis des Menschen charakterisiert: ~ino mit Bezug auf Gottes Verborgenheit: 10,11; 13,2; 22,25; 27,9; 69,18; 88,15; 102,3; 143,7 (vgl. „7.1.1 Ferne"); Schutz bei Gott: 17,8; 31,21; 61,5; 64,3 (vgl. „8.2.3 Schützen"); Bitte, Gott möge sich verbergen vor den Sünden des Menschen: 51,11; einzig in 55,13 geht es um das Verhältnis von Menschen untereinander. 52 Vgl. „7.1.1 Ferne". 53 KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 448, geht hier von der wörtlichen Bedeutung, also einem tatsächlichen Verlust des Augenlichtes aus, im Unterschied zu 6,8; 13,4 - warum er das meint, bleibt offen und unverständlich.

48

4. Psalm

38

nen angesichts dessen Elends. Zwischen den Subjekten und den dazu gehörigen Verben besteht eine ungeheure inhaltliche Spannung: Der Freund, der Nächste, der also dem Betroffenen normalerweise sehr nah ist, der hält sich fern.

13 13a ist chiastisch aufgebaut: Handlung + Subjekt X Subjekt + Handlung. Die Not wird extremer. War soeben noch von Distanzierung der Freunde die Rede, schildert der Klagende nun die hinterlistige und unverhohlene Aggression Dritter. Ob es sich bei ihnen um die in 12 Genannten handelt, bleibt undeutlich; der Schritt von ,sich fernhalten' zu ,nach dem Leben trachten' ist zumindest sehr groß. Typisch für die Klage über Gegner ist die Schilderung ihres Verhaltens. Der Beter verwendet eine Metapher aus der Jagd (Schlingenlegen);54 er leidet unter verbalen Drohungen Anderer und ihren Verschwörungen. Das Verhalten der Gegner wird wie der eigene Zustand als lebensbedrohlich erfahren.55 Die Zeitangabe 'b's avn verstärkt die Aussage. 14 Mit stellt sich der klagende Mensch deutlich in einen Gegensatz zu denen, die ihn bedrohen. Ohren und Mund sind zu. Wie ein Tauber, wie ein Stummer ist er, er verschließt sich. 15 Der Beter beschreibt seine Haltung nochmals in anderen Worten.56 niroin 57 nimmt die Wurzel m- aus 2 auf; keine Scheltrede58 will der Mensch über seine Lippen bringen. Er unterlässt alle Gegenwehr, die Reaktion auf dieses feindliche Verhalten überlässt der Klagende Gott. Sowohl die Beschreibung der Aggression der Gegner als auch die passive Haltung des Beters ihnen gegenüber soll Gott zum Eingreifen bewegen.

54

Vgl. hierzu RIEDE, Feindmetaphorik 2000, 350. Der Wunsch nach einer Institutionalisierung hat KRAUS dazu gebracht, hier Folgendes anzunehmen: „Durch den Aufweis der ursächlichen Verschuldung wollen sie [die .Feinde', ChdV] ein sakrales Verwerfungsurteil erzielen und den Unheilsträger aus ihrem Lebenskreis verbannen" (KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 449). In einem ganz anderen Kontext sieht SCHULZ diese Widersacher beheimatet: „Ps 3 8 , 1 3 f f setzt voraus, daß unbekannte Unheiltäter durch zauberische Machenschaften den Beter in Bann schlagen" (SCHULZ, Fluchsymbolik 1986, 47). 56 D i e auffallende inhaltliche Doppelung der Verse 14 und 15 bringt HOSSFELD zu der Annahme, 14 sei sekundär gebildet in Anlehnung an den Nachbarpsalm 3 9 , 2 f . l 0 (HOSSFELD/ [ZENGER], Psalmen 1993, 240). D i e Wiederholung ist tatsächlich befremdend, ob dies jedoch in Anlehnung an 39 geschehen ist, scheint fraglich, liegt doch zu 39,2f keine Übereinstimmung im Wortbestand vor. Eine solche lässt sich eher zu 39,10 erkennen, doch da herrscht eine ganz andere Haltung Gott gegenüber. 55

57

Vgl. 39,12, w o die Bedeutung von n i r o i n allerdings in eine ganz andere Richtung, nämlich auf die vernichtenden Strafen Gottes, zielt. 58 n i n a i n ist im „pädagogischen Gebrauch .Zurechtweisung, Rüge, Tadel, Warnung' und läßt sich gattungsmäßig als Scheltrede bestimmen" (MAYER, M \ 627).

4.3

Exegese

49

16 In einer Reihe von vier mit "359 eingeleiteten Sätzen folgen in 16-19 Beweggründe für Gottes Eingreifen zugunsten des Beters.60 Mit einer erneuten Vertrauensaussage versichert der Mensch JHWH, dass er von ihm eine Antwort erwartet. Diese ist in zweierlei Hinsicht notwendig, wie der Kontext zeigt: Zum einen wünscht der Beter eine Reaktion Gottes auf seine Klage, zum anderen bittet er JHWH, an seiner Stelle gegenüber denen, die ihn bedrängen, zu reagieren.61 Der Beter betont seine Beziehung zu Gott 'n^K - n « . Im Vergleich zur Anrede in 10 bildet 16 in mehrfacher Hinsicht eine Steigerung: Die Beziehung von Beter zu Gott ist sprachlich enger gestaltet durch die häufige Verwendung von Suffixen, die nun dreifache Anrede (m/r, ' r m , -nbs) sowie durch die Verben (bir ,warten', n:i? .antworten'), die ganz klar die Erwartungshaltung des Menschen schildern. In 17 motiviert der Beter Gott, zu seinen Gunsten Partei zu ergreifen. Er gibt ein Selbstgespräch wieder und verweist darin auf die drohende Möglichkeit, die Gegner könnten sich voll Schadenfreude größer wähnen als der Betroffene. 62 Damit zieht der Beter Gott indirekt auf seine Seite. Gerade noch hat er die Beziehung zu Gott betont, und nun drängt er ihn auf diese Weise, sich auch tatsächlich als ,mein Herr' und ,mein Gott' zu erweisen. Das drohende Wanken seiner Füße steht für seine Unsicherheit und die Bedrohung durch Dritte.63 18 Der Klagende bezeichnet seine Lage als die eines Menschen, der kurz vor dem Sturz ist. Die gewählten Wörter drücken ein Paradox aus. Es steht fest, dass der Beter nicht fest steht. ]i3) kommt von ]13 feststehen, sicher sein', und ]i33 ist er zum Fallen, man könnte wörtlich auch übersetzen ,ich bin festgesetzt zum Fallen'.64 59

Das

hat in diesem Kontext sowohl hinweisenden als auch begründenden Charak-

ter. M i t HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen 60

61

V g l . RAVASI, Salmi

1993, 240.

1 1 9 8 8 4 , 7 0 2 ; u n d HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen

1993, 244.

Vgl. GUNKEL, Psalmen 1968 5 , 162. 62 Ein mit ]9 eingeleiter Hinweis auf mögliches Verhalten der Gegner zur Motivation der Bitte um Gottes Eingreifen findet sich auch in 7,3(2x); 13,5; vgl. die Ausführungen zur Klage über Dritte als Beweggrund für Gottes Eingreifen unter „8.4.1 Die Situation des Beters". 63 Vgl. die sehr ähnliche Aussage im gleichen Kontext des drohenden Jubels der Feinde in 13,5. Dass eine ungetrübte Gottesbeziehung das Wanken ausschließt, zeigen 16,8; 17,5; 21,8; 55,23; 125,1 (jeweils mit BIO). Gottes Schutz bewahrt vor dem Wanken: vgl. 62,3=7; 66,9 (im Rückblick); 94,18; 112,6; 121,3. 64 HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen 1993, 245, diskutiert die Frage, ob der „Sturz" ethisch (= Sündenfall) oder physisch (= Krankheit) zu deuten sei, und befürwortet letztere Interpretation. Der Sündenfall im systematisch-theologischen Sinn ist hier sicher nicht zu finden; zudem legt der Psalm eine solche scharfe Alternative (ethisch oder physisch) nicht nahe; dafür sind die Schilderungen des körperlichen (und seelischen) Zustandes und das Eingeständnis der eigenen Sünde als Ursache dieser Not zu sehr miteinander

50

4. Psalm 38

19 Der Beter spricht offen aus, dass ihm seine Schuld bewusst ist. Diese Aussage wird von manchen als ein formelles Sündenbekenntnis beziehungsweise die Bereitheit dazu aufgefasst. Inwieweit hier von einem Sündenbekenntnis geredet werden kann, hängt von dem Verständnis eines solchen ab. Was die Vermutung angeht, ein solches Sündenbekenntnis dürfte im Tempel stattgefunden haben,65 so liegen im Text selbst keinerlei Hinweise darauf vor. Hier wird eine allgemeine Annahme, die angesichts des Textbefundes spekulativ bleiben muss, in den Text hineingetragen. Ein liturgisch-formaler Akt dürfte hier nicht angesprochen sein,66 weder der Kontext noch der Wortbestand weisen darauf hin.67 Der Text besagt lediglich, dass der Beter vor Gott ausspricht, um seine Schuld zu wissen und von ihr bedrückt zu sein. Hiermit knüpft er an 4 ("nwan \33Q) an.68 20-21 Wiederum tauchen Dritte in der Klage des Beters auf. Mit ihrer Charakterisierung - sie sind zahlreich, hassen ohne Grund und vergelten Gutes mit Bösem - sind typische Merkmale von Gegnern genannt, die sich auch in anderen Klagen des Einzelnen finden.69 Während Kraus meint, in 20 würden die Verleumdungen der Feinde aus 13 zurückgewiesen,70 und den Vers damit in den Textzusammenhang einbettet, zweifelt Hossfeld an der Ursprünglichkeit von 20f.71 Tatsächlich kann man nicht so leicht eine Verbindung von den "TN zu den bereits in 12f erwähnten Gegnern72 ziehen. Während sie dort zum engeren Umkreis des Klagenden gehören, wird hier mit der anderen Bezeichnung offensichtlich auch ein anderer Typus angesprochen. Zudem fällt auf, dass in 20f der Beter Nachdruck auf seine ver woben. 65

S o z . B . HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen

1993, 245.

66

Mit GERSTENBERGER, Psalms 1 1988, 163: „Confession of guilt is very important in Psalm 38, although the element is interspersed throughout the complaint and sometimes only hinted at (vv. 2,4b-5,6b-7,19). There is no open, direct, formulaic confession, to be sure, as in Ps 51:6-7." 67 ]1B und 133 in Kombination gibt es in den Psalmen nur hier, im restlichen AT liegen in Lev 5,1; Ez 43,10 noch zwei Belege vor für 133 mit als Objekt, und auch dort ist nicht von einem formellen Sündenbekenntnis, sondern vom Bekannt- bzw. Bewusstmachen der Sünde die Rede. 68 LINDSTRÖM, der aus dem gesamten Psalm aufgrund einer motivorientierten Analyse den Schuldaspekt herausschält, hält 19 für eine spätere Hinzufügung (LINDSTRÖM, Suffering 1994, 243). 69 Vgl. hierzu „6.1.4 Beziehung zu den Gegnern". Zu 2 0 - 2 1 meint SCHULZ: „Der fluchmagische Vergeltungswunsch wird indirekt, aber unmißverständlich ausgedrückt." Er führt aus, der Psalm bediene sich hier symbolisch des fluchmagischen Hexereimediums (SCHULZ, Fluchsymbolik 1986, 46). Diese Auslegung ist genauso krass wie unverständlich. 70

KRAUS, Psalmen

71

HOSSFELD/[ZENGER], Psalmen

72

1 19896, 449. 1993, 240.

Es sei daran erinnert, dass es zudem fraglich ist, ob in 12 und 13 die gleichen Menschen gemeint sind.

4.4 Verlauf des

Gebetes

51

guten Taten legt, nachdem er zuvor in 19 und 4 offen über seine Vergehen geredet hat. Wie sind diese Spannungen zu verstehen? Von unterschiedlichen Schuldbegriffen auszugehen, ist keine Lösung. 73 Besieht man die Verse im Kontext des Psalms, wird deutlich, dass der betende Mensch sich sehr wohl Gott, nicht aber seinen Feinden gegenüber in der Schuld sieht. Wie im einzelnen später noch nachzuweisen ist, haben die „Feinde" in den individuellen Klagepsalmen eine Signalfunktion. Sie zeigen an, dass der Beter aus dem Einflussbereich Gottes herauszufallen droht.74 Sieht man die Feind-Klage aus dieser Perspektive, passt 20f genau an diese Stelle vor der abschließenden Bitte des Psalms um Gottes erneute Zuwendung. 22-23 Mit einem Vetitiv hat der Psalm begonnen, und mit einem solchen (... wird er auch abgeschlossen. Diese Bitte spricht deutlich aus, worum es dem Beter letztendlich mit seiner Klage geht: um die Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott. ,Verlass mich nicht' 75 , bittet der Betroffene. Er nennt ihn ,mein Gott / mein Herr', der sich als solcher nicht von ihm entfernen darf. Sein Anliegen ist dringend76, darum ruft er ihn als .meine Rettung' an, als die er ihn erfahren will. Die Anreden Gottes, deren Anzahl hier nochmals gesteigert wird, sind zugleich Bitte.77

4.4 Verlauf des Gebetes Während in den beiden anderen Beispiel-Psalmen 56 und 88 ein ganz deutlicher Spannungsbogen nachgezeichnet werden kann, ist der Verlauf dieses Gebetes weniger eindeutig. 78 Was fällt auf? Die Thematik und das Anliegen dieses Psalms wird in den Bitten an seinem Anfang und Ende deutlich. Der Beter spricht Gott als den an, der ihn seine Strafe spüren lässt, und drängt ihn, sich ihm wieder zuzuwenden. Zwischen diesen Bitten sind, durch die Anreden Gottes voneinander abgesetzt, drei Teile zu erkennen. Dabei schildern die Anreden und die mit ihnen verbundenen Aussagen über Gott in 2.10.16.22f die Art der Beziehung von Mensch und 73

Gegen KRAUS, Psalmen 1 1989 6 , 449. Vgl. LINDSTRÖM, der herausstellt, dass die Gegenwelt an Macht gewinnt, wenn Gott sich zurückzieht (LINDSTRÖM, Suffering 1994, 249f). Die Feinde stehen für die sozialen Aspekte der Chaosmacht (248). Vgl. „6.3 Schlussfolgerungen". 75 Vgl. "DSTOTT^! in 27,9; 71,9.18; 119,8. 76 Die Bitte ntöin findet sich auch noch in 22,20; 70,2.6; 71,12; 141,1. 77 Vgl. auch „9. Wie der Beter Gott anredet". 78 Der Text scheint verschiedene Stadien von Erweiterung und Bearbeitung erfahren zu haben. Spekulationen über einen möglichen Wachstumsprozess will ich hier nicht anstellen, da die Frage dieser Untersuchung dem Endtext gilt. 74

52

4. Psalm 38

Gott: In 2 geht es um die Einstellung Gottes zum Beter, so wie dieser sie erlebt; in 10 bekundet der Beter seine Einstellung zu Gott, und in 16 werden die Positionen beider, Gottes und des Beters, genannt; 22f schließlich benennt das Anliegen des Gebetes: Gottes Nähe wird erbeten, Gott wird gedrängt, dem betroffenen Menschen zu helfen, gegen Gottes strafendes Handeln selbst und aus der menschlichen Misere von Schmerz, Schuld, Isolation und Anfeindung. Die Anreden strukturieren in diesem Fall nicht nur das Klagegebet, sondern zeigen auch eine Klimax auf. Gott wird immer dringlicher angerufen: 2 niT 10 -rm 16 'n1?« ' n « mir 22-23 -nb« m/r - 'nüittfn - n « Auch das Geflecht von Beziehungen und Notschilderungen ist sehr vielfältig und vielschichtig. Im ersten Teil (2-9) geht es um das Handeln Gottes am betroffenen Menschen sowie den Menschen in seiner Not, mit seiner Sünde. Nach der erneuten Anrede und Vertrauensbekundung (1015) wird die Beschreibung der eigenen Not fortgesetzt, doch wendet der Beter schnell den Blick weg von seinem körperlichen Zustand hin zu seiner sozialen Situation: Das Verhalten Dritter ihm gegenüber und seine Reaktion sind Thema dieses Abschnittes. Im dritten Teil, in dessen Beginn der Beter wieder seine Beziehung zu Gott benennt, werden dann nochmals alle Bereiche der Not aufgenommen, wobei diese Notschilderungen jedoch nicht direkt an die in den ersten beiden Teilen anschließen: Die Gegner sind offensichtlich andere, und auf die Sünde geht der Beter in diesen Versen viel ausführlicher ein, wobei hier der Akzent auf dem Bekennen der Schuld liegt und es nicht um Sünde als Ursache der Not geht. Beter 2-9 2 Anrede und Bitte Gott 3-9 Notschilderung Beter 10-15 10 Anrede und Vertrauensäußerung Beter Gott 11-13 Notschilderung 11 Ich-Klage Beter 12-13 Klage über Dritte Freunde • Beter Beter • Gegner 14-15 Einstellung des Beters 1 6 - 2 1 16 Beter •« • Gott Anrede und Vertrauensäußerung 17-21 Notschilderung Beter « • Gegner 17-18 Klage über Dritte Beter 19 Eingeständnis der Schuld Gegner Beter 20-21 Klage über Dritte Beter •« • Gott Anrede und Bitte 22-23

4.5 Der leidende Mensch vor Gott

53

4.5 Der leidende Mensch vor Gott 38 stellt das Gebet eines Menschen dar, dessen körperlicher, psychischer und sozialer Zustand desolat ist. Wie beschreibt und erklärt sich der Beter seine Not? Er nennt als Ursache seines Leidens den Zorn Gottes und seine eigene Sünde (par.mem. 4) sowie seine Torheit (6). Wenn er klagt, dass ihn seine Vergehen (5) belasten, erklärt er seine Not als Folge von Gottes Handeln. 79 2 bildet die inhaltliche Überschrift dieses individuellen Klagepsalms. Der Mensch akzeptiert den Zorn Gottes, er bittet jetzt allerdings um ein Ende dieser Züchtigung, vielleicht weil das Ziel des Zornes erreicht ist: Der Mensch spricht voll Einsicht über seine Schuld und Torheit (4.6.19); vielleicht auch einfach, weil er das Leiden nicht mehr erträgt. Zu der Beschreibung des eigenen Zustandes kommen in der Schilderung der Not die Freunde, die dem Betroffenen nicht beistehen, sondern sich angesichts seines Leidens von ihm distanzieren. Der Mensch ist isoliert, er sieht sich als Opfer von Intrigen und Anfeindungen. Feinde trachten ihm nach dem Leben. Wie beschreibt der Mensch seine Einstellung gegenüber Gott? Er betont die vertraute Nähe Gottes, der den Beter mit all seinen Wünschen kennt (10), er bekennt sein Vertrauen auf Gott, wobei das ,du wirst antworten, mein Herr, mein Gott' von 16b beides ist, Vertrauensaussage und eindringliche Bitte. Diese Bitte wird am Ende des Psalms deutlich ausgesprochen, wo der Mensch einerseits Gott bittet, ihn nicht zu verlassen, was die Nähe JHWHs impliziert, andererseits aber fleht ,eile mir zu Hilfe', was eine Ferne Gottes voraussetzt. Fern ist JHWH mit seinem Beistand,

79 LINDSTRÖM wendet sich scharf gegen die Vorstellung, die Krankheit des Beters sei eine „retribution" (LINDSTRÖM, Suffering 1994, 247). Die Not erfährt der Klagende jedoch als Folge der eigenen Sünde wie des göttlichen Zorns - ob dies dann zugleich eine Buße bzw. Vergeltung ist, möchte auch ich stark anzweifeln. Das heißt aber nicht, dass mit der Vorstellung der Buße auch die der Sünde aus dem Psalm herauszuargumentieren ist, wie LINDSTRÖM das tut. Von eigenen Verfehlungen (38,4.6.19) ist schließlich an verschiedenen Stellen des Endtextes ausdrücklich die Rede. LINDSTRÖM setzt den Sündenund den Vergeltungsgedanken unvermittelt gleich. Dies zeigt sich auch bei seiner Gegenüberstellung von 6 und 38, die mit den gleichen Vetitiven beginnen (LINDSTRÖM, Suffering 1994, 250). In 6 sei, obgleich auch hier von Gottes Zorn geredet wird, der Vergeltungsgedanke nicht nachzuweisen. Zutreffend ist, dass der Beter in 6 nicht von eigenen Verfehlungen redet, aber sehr wohl unter den Folgen des göttlichen Zorns leidet. Es sieht also danach aus, als würde LINDSTRÖM von der Erwähnung der Verfehlungen des Menschen den Vergeltungsgedanken ableiten. Diese Deutung entspricht jedoch nicht dem Text.

54

4. Psalm

38

seiner Hilfe. Dies ist der Kern der Not.80 Darum redet der Mensch Gott, dem er vertraut, an als "ru&lltfn "iiN, in der Hoffnung, dass Gott sich tatsächlich als sein Heil, seine Rettung erweisen wird. Durch die wiederholten Anreden Gottes (2.10.16.22f) vergewissert sich der Beter der bestehenden und zu erneuernden Gottesbeziehung. Die Worte, mit denen der Beter Gott zum Eingreifen drängen will, variieren. Zu den Anreden, die das erwünschte Verhältnis von Beter und Gott ansprechen, kommt die Ich-Klage, in der der Klagende seinen erbärmlichen Zustand schildert. Der Gott des Beters muss sich angesichts des menschlichen Leidens dieser Beziehung stellen. Des weiteren weist der Beter Gott auf seine passive Haltung gegenüber seinen Widersachern (1415). Damit wird Gott auf indirekte Weise gebeten, an Stelle des Beters auf die Anfeindungen Dritter zu reagieren. Ein anderer Versuch, Gott zu bewegen, ,mein Heil' zu werden, ist das Selbstgespräch in 17. Wenn der Mensch in dem Gebet vor Gott zu sich selbst sagt ,dass sie sich ja nicht freuen über mich und großtun gegen mich beim Wanken meines Fußes', will er damit bei Gott etwas erreichen. Dies ist die indirekte Bitte an Gott, sich auf die Seite des Beters zu stellen und dieser drohenden Schadenfreude anderer jeden Anlass zu nehmen.

4.6 Die Rolle anderer Menschen In diesem Psalm spielen andere Menschen eine sekundäre Rolle, die Gegner bilden die „sekundäre Not". Sie werden nicht nur erst spät im Text eingeführt, es wird auch in der Art der Klage über sie deutlich, dass ihr Verhalten die Not verstärkt, nicht aber primär ausmacht.81 Sie werden terminologisch und inhaltlich sehr unterschiedlich beschrieben, so unterschiedlich, dass anzunehmen ist, es handele sich um verschiedene Gruppen von Gegnern. In 12 klagt der Beter über die "JUTi "Drm und 'ailp, die sich zurückziehen und keine Solidarität mit dem Freund, Gefährten und Nächsten zeigen. Ob es diese Personen sind, mit denen der Beter in einer so geschilderten Beziehung lebt, die laut 13 aktiv, heimlich und planmäßig gegen den betroffenen Menschen vorgehen, ist nicht deutlich, aber eher anzuzweifeln. Eine weitere Steigerung in der Aussage über Dritte bieten 20f, wo die Gegner ausdrücklich "TR ,meine Feinde' genannt werden. Diese sind mächtig und bedrohlich durch ihre Anzahl und ihren Hass. 80

Vgl. auch LINDSTRÖM, Suffering 1994, 244f: Die zentrale Not ist „that Y H W H has withdrawn his saving presence." 81 Ein Psalm, in dem die Widersacher die primäre Not bilden, ist 56. Vgl. die Exegese zu 56 in 2.3 und „6. Klage über Andere."

4.7 Der zornige

und doch vertraute

Gott

55

Ihre Anfeindungen sind, so der Getroffene, grundlos. In dieser Beziehung schildert der Beter sich selbst als denjenigen, der im Unterschied zu den Feinden das Gute tut. Dieses Klagelied eines Einzelnen bietet die Schilderung von mindestens zwei, wahrscheinlich aber drei verschiedenen Gruppen anderer Menschen, die sich durch die Beziehung zum Beter und ihr Verhalten ihm gegenüber voneinander unterscheiden. Über das Verhältnis dieser Gruppen zueinander lässt sich dem Text nichts entnehmen. Durch die Vielfalt der Gegner, den Angriff von verschiedenen Seiten, wird die Bedrohlichkeit der Notsituation verstärkt.

4.7 Der zornige und doch vertraute Gott Im Unterschied zu anderen Individualklagen beschreibt der Klagende hier den Zorn Gottes als bewusst eingesetztes Instrument, mit dem der Mensch gezüchtigt werden soll.82 Gottes Grimm deutet der Mensch als gerechtfertigte pädagogische Maßnahme. Er deutet seine Not als Folge des göttlichen Zornes. Doch wie kommt der Beter darauf, Gott als zornig zu beschreiben? Ein Hinweis auf das Verständnis des Gotteszorns ist die Bitte am Abschluss des Psalms ,sei nicht fern von mir'. Die Kombination der Motive von Gottes Zorn und seiner Verborgenheit finden sich häufiger in individuellen Klagepsalmen.83 Zugespitzt kann man sagen: Bereits die Abwesenheit der helfenden Zuwendung Gottes kann als Zorn Gottes erlebt werden.84 In der Exegese ist deutlich geworden, dass der Zusammenhang zwischen eigenen Sünden und J H W H s strafendem Zorn als Erklärung für die Notlage dient. Die Verfehlungen des Menschen stören die von Gott gegebene Ordnung und haben Gottes Zorn und somit eine Strafe für den Menschen zur Folge. Nur durch Gottes Eingreifen kann die Verstrickung des Menschen in diesen Zusammenhang gelöst werden.85 82 Gegen OEMING, Psalmen 2 0 0 0 , 2 1 1 , der meint, der Beter erfahre den Jähzorn eines wütenden Gottes und zu 2 sagt: Hier „steckt auch ... ein Element der Anklage Gottes. Gott droht in seiner Wut, das rechte Maß zu verlieren!". Der Zorn Gottes ist hier jedoch eingebettet in eine akzeptierte Deutung der Lebenssituation; den unfassbaren, vernichtenden Zorn Gottes findet man in anderen individuellen Klagen. Vgl. z.B. 88, w o er als unberechenbar und zerstörerisch geschildert wird (hier werden Gottes Zornesfluten 'piin parallel zu ^'nua .deine Schrecknisse' genannt; siehe auch „3.3 Exegese"). 83

Vgl. z.B. 27,9. Vgl. „7.1 Abwendung". 85 CRAIGIE, Psalms 1983, 303, geht auf den Zusammenhang von menschlicher Sünde und göttlichem Zorn ein: „The poet attributes his sickness to the divine discipline and rebuke, but it shoud be recalled that his own perception of the state of affairs was not necessarily correct; he spoke and prayed from the depth of physical and mental despair, 84

56

4. Psalm 38

Gott, den der Beter im Augenblick der Klage als zornigen Gott erfährt, wird um seine erneute hilfreiche Zuwendung gebeten: dass Gott die Klage des Menschen wahrnimmt (10), auf sie antwortet (16) und sich für den Klagenden gegen dessen Widersacher einsetzt (17). 22f sind die Zusammenfassung des Gebetes: Gott soll wieder ,mein Herr, mein Heil' werden. „Alles, was zwischen ... [2 und 22] steht, dient der Begründung und dem Nachdruck dieser Bitten."86 In 38 kommt es zu der typischen Dialektik der beiden Pole, zwischen denen sich der Klagende bewegt: Er betont und sucht die Nähe zu dem, der sich von ihm entfernt und ihm damit die Lebensgrundlage genommen hat. Er setzt auf den, der seine Krankheit verursacht hat. Der Beter wendet sich um Hilfe an den, der ihn zurechtweist. Gott ist der, der die Not zulässt beziehungsweise als Mittel der Züchtigung einsetzt, und Gott ist zugleich auch der, der aus dieser Not heraushelfen kann. Den Psalm durchzieht das Vertrauen des Menschen auf Gott, das zu keinem Zeitpunkt gefährdet ist. Basis der Klage ist das unverbrüchliche Vertrauen darauf, dass Gott imstande und bereit ist, sich dem Menschen wieder zuzuwenden. Das Fehlen der hilfreichen Nähe Gottes bildet die eigentliche Not. So ist sein Eingreifen zugunsten des klagenden Menschen, seine Nähe das eigentliche Ziel der Klage. Nur durch die Zuwendung Gottes kann der Mensch das wieder erlangen, was ihm fehlt: ein heiles und unversehrtes Leben (4).

a situation within wich it was easy for theological perspectives to go haywire. The facts were these: (a) he was terribly sick; (b) God, as omnipotent, must at the very least have permitted the sickness; (c) the psalmist had sinned as he freely confesses (v 19). From the facts, he drew the 'logical' conclusion that the sickness must be a consequence of sin. But such was not the case in Ps 6, nor was it the case in the Book of Job: we do not really know whether it was the case in Ps 38, or whether it was only the psalmist's lonely despair which impelled him to such a conclusion." So gut CRAIGIE die Situation auch analysiert, drängen sich doch zwei Fragen auf. Zum einen, ob er nicht unterschiedliche Niveaus vermengt, wenn er dem Psalmbeter unterstellt, durch die erlittene Not zu einer etwas verwirrten Theologie zu kommen; aufgrund des Erlebnisses eines einsamen verzweifelten Beters wäre dieses Gebet sicher nicht in den Psalter aufgenommen worden. Die Theologie muss also ernst genommen werden. Zum anderen ist es die Frage, ob CRAIGIE nicht zu schnell die dogmatische Aussage von der Allmacht Gottes in dem individuellen Klagepsalm entdeckt. Dies ist eine äußerst zweifelhafte Annahme. Die Omnipotenz Gottes wird in den Klagen des Einzelnen nicht thematisiert, seine absolut verlässliche Gegenwart wohl. 86

HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen

1993, 239.

Teil 2

Der Mensch vor Gott

Kapitel 5

Ich - Aussagen Wie sieht der betende Mensch sich selbst? Wie beschreibt er seine Haltung, seine Erfahrungen, seine Erwartung? Um diese Fragen beantworten zu können, werden sämtliche Aussagen in der 1. Person Singular gesichtet. Die Klage über andere Menschen wird hier allerdings nicht aufgeführt, weil sie so umfangreich ist, dass ihr ein eigener Abschnitt gewidmet ist.1 Auch wird die Bedrängnis, in die sich der Beter durch Gott gebracht sieht, gesondert verhandelt.2

5.1 Der Mensch wendet sich an Gott 5.1.1 Das Ich des Beters In diesem Abschnitt geht es um die Selbstbezeichnungen des Beters. Schon die Art, wie der Mensch sich selbst benennt, sagt etwas darüber, wie er sich in seiner Not erfährt und wie er sich Gott gegenüber sieht.

' Vgl. „6. Klage über Andere". Vgl. „7. Wie der Beter Gott negativ erlebt".

2

5.1 Der Mensch wendet sich an Gott

59

Suffix 1. Singular3; ^ D i r p 4 - Sohn deiner Dienerin; "Ol5 - Wort, Sache; -rrr6 - einzig; rq1? / n1?7 - Herz; D-'n8 / rrn9 - Leben; Tpn 10 - fromm, getreu; töso11 - Seele / Leben; TP? 1 2 - dein Knecht; nn 1 3 - Geist Die häufigste Form, mit der der Mensch auf sich selbst verweist, ist das Suffix lsg. Die Klagen des Einzelnen sind vor allem in den Notbeschreibungen, Vertrauensäußerungen und Bitten von einem dichten Netz der Suffixe lsg für den Beter und 2sg beziehungsweise 3sg für Gott durchzogen; dies wurde bereits in den Exegesen der Beispiel-Psalmen deutlich. Ö9514 mit dem Suffix lsg 15 ist in vielen Fällen mit dem bloßen Suffix lsg bedeutungsgleich und kann somit als Personal-, Possessiv- oder Reflexivpronomen übersetzt werden. In anderen Belegen ist mit t£i?5 das Leben im Sinne der Existenz des betroffenen Menschen gemeint.16 An manchen Stellen klingt die Grundbedeutung „Kehle" noch durch.17 Parallel zu töBj benennt der Mensch sein Leben als "rn-rr , das einzige, das er hat. So betont er, dass seine Existenz, die zu retten er Gott bittet, auf dem Spiel steht.

3 3,2-8; 4,2-4.8f; 5,2-4.9; 6,2-4.5.7-11; 7,2-7.9.11; 9,14; 13,2-6; 17,l-3.5f.8f.l3; 22,2f.8.10-21; 25,lf.4f.7.11.15-21; 26,1-3.6.9.1 lf; 27,7-12; 28,l-3.6f; 31,2-6.8-12. 14-17.22f; 35,1-4.7.9-17.19.21-24.26-28; 38,2-6.8-13.16-23; 39,2-6.8-11.13f; 41, 5f.8.10-13; 42,2-12; 43,1-5; 51,3-5.7-14.16f; 54,3-7.9; 55,2-7.9.13f. 17-19; 56,2f. 5-7.9f.l2-14; 57,2-5.7-9; 59,2-5.10-12.17f; 61,2-4.6.9; 64,2f; 69,2-22.30; 71,2-10. 12f.l5.17f.20-24; 8 6 , l - 4 . 6 f . l l - 1 4 . 1 6 f ; 88,2^1.7-10.14f. 17-19; 102,2-6.9-12.24f; 109,1-5.20-22.24-26.29f; 130,2.5f; 140,2.5-8.10; 141,l-6.8f; 142,2-8; 143,1.3.6-12. 4

86,16.

5

PI + suff lsg: 56,6. 6 + suff lsg: 22,21; 35,17. 7 13,3.6; 17,3; 25,17; 26,2; 27,8; 28,7; 38,9; 57,8(2x); 61,3; 69,21; 86,11.12; 141,4. 8 7,6; 26,9; 31,11; 64,2; 88,4; vgl. auch die Ausführungen in der Exegese von 88,4 unter 3.3. 9 143,3. 10 11

86,2.

3,3; 6,4f; 7,3.6; 13,3; 17,13; 22,21; 25,1.20; 26,9; 31,8.10.14; 35,3f.7.9.12f.l7; 38,13; 41,5; 42,2f.5.6.7.12; 43,5; 54,5f; 55,19; 56,7.14; 57,2.5.7; 59,4; 69,2.11.19; 71,10.13.23; 86,2.4.13f; 88,4.15; 109,20; 130,5.6; 141,8; 142,5.8; 143,3.6.8.11 f. 12 + suff 2sg: 27,9; 31,17; 69,18; 86,2.4.16; 109,28; 143,2.12; + suff 3sg: (in Zitat Dritter) 35,27. 13 31,6; 142,4; 143,4.7. 14 Mit einer Ausnahme steht 093 in den Klagen des Einzelnen immer mit dem suff lsg. Die Ausnahme steht in 69,2, doch haben LXX und Symmachus sehr wohl "0?? entsprechende Übersetzungen. 15 Wie z.B. 109,20; vgl. dazu die Ausführungen von WOLFF, Anthropologie 19844, 44ff, und JANOWSKI, Konfliktgespräche 2003, 204f. 16 Wie z.B. 25,20. 17 Wie z.B. 88,4; vgl. auch die Exegese von 88 unter 3.3.

60

5.

Ich-Aussagen

Auch 33 / 31? ,Herz' steht immer mit dem Suffix lsg. 33b ist nicht nur der Sitz der Emotionen18, sondern auch des Verstandes19, des Muts, des Willens und des Nachdenkens.20 'S1?! "ni-bp nsia 2 1 .prüfe mich auf Nieren und Herz' 22 bittet der Mensch und meint damit sich in seiner ganzen Existenz.23 Das Herz spielt auch in Notbeschreibungen eine Rolle.24 Ebenso ist mp ,Lebensodem', wie und 33b immer mit Suffix lsg, nicht ein bestimmter Bestandteil des menschlichen Körpers oder Lebens, sondern ein ganzheitlicher Begriff für Willen, Lebenskraft und das Leben überhaupt.25 Wenn der betende Mensch sagt: ' n n T P S « T J T S .deiner Hand vertraue ich meinen Geist an' (31,6), so übergibt er sich Gott mit seinem ganzen Leben. • " n / n*n drückt ganz explizit aus, wofür n n , und 331? oft stehen: Es geht um das ganze Leben des Menschen in der Klage. Nach seinem Leben trachten die Gegner, sein Leben ist gefährdet, und sein Leben bittet er JHWH zu erhalten.

"Ol ,die Angelegenheit' des Beters, kann als eine Selbstbezeichnung in erweitertem Sinne gelten, ""m ,meine Worte', werden durch Dritte beleidigt. Hinter seinen n n g i steht der Beter selbst, ebenso wie Gott hinter den seinen.26 In einigen individuellen Klagepsalmen bezeichnet sich der Beter als Diener Gottes. Damit betont er bereits in der Selbstbezeichnung seine Beziehung zu ihm. Als sein Diener appelliert er an JHWHs Nähe und Hilfe. Mit der Bezeichnung Tjpi) ,dein Diener' beziehungsweise ^noS"|3 ,Sohn deiner Dienerin' macht der Beter deutlich, dass er sich in Abhängigkeit von Gott als seinem Herrn27 sieht, und drückt damit gleichzeitig seine Hoffnung aus, dass dieser sich auch als sein Herr verhalten wird, der für seinen Diener verantwortlich ist. Sein "Qtf-Sein führt der Mensch als Mo-

18 Vgl. z.B. 13,3. " V g l . z.B. 17,3. 20 Vgl. hierzu ausführlicher PREUß, Theologie 2 1992, 119f. 21 n a i v mit Q. 22 PI + suff lsg: 26,2. 23 Vgl. auch 7,10, wo es allgemein darum geht, dass Gott Herz und Nieren prüft. Zu diesem Ausdruck vgl. JANOWSKI, Konfliktgespräche 2003, 170-173. 24 Vgl. „5.3.3 Bilder des Körpers". 25 Allerdings findet sich n n im Unterschied zu BS] nie als Bezeichnung für die ganze Person, n n meint „... also das .Innere' der Menschen, sein geistiges Zentrum, von dem aus die ganze .Person' engagiert ist." (FABRY, n n , 396). 26 Vgl. auch die Exegese von 56 unter 2.3. 27 Vgl. in 86, dem individuellen Klagelied mit den meisten Belegen dieser Selbstbezeichnung, die häufige Anrede 'J/W 86,3—5.8f.l2.15 (auch wenn in 86,15 nicht von allen Zeugen überliefert ist; vgl. txt app).

5.1 Der Mensch wendet sich an Gott

61

tivation für Gottes Eingreifen an.28 Er stellt sich auf die Seite Gottes, im Gegensatz zu den Widersachern, die zuschanden werden sollen.29 Als wünscht er sich Geborgenheit bei Gott, der im Unterschied zu Menschen immer ein guter und zuverlässiger Herr ist.30 In 86, dem Psalm, der von der Selbstbezeichnung des Beters als ""Di? Gottes durchzogen ist, begründet der Mensch (86,2) seine Bitte um Bewahrung mit dem Hinweis auf seine eigene Treue (TDn); auf diese Weise unterstreicht er die Gemeinschaft mit JHWH.31 Im par.mem. motiviert er seine Bitte um Gottes Hilfe mit der Bekundung seines Vertrauens O^N noian). 5.1.2 Anrufen Gottes Wenn der Mensch Gott anruft, bleibt es nicht beim bloßen Beten, er expliziert vor ihm, dass er betet und wie sein Beten zu verstehen ist. Wie dringend sein Anliegen ist, unterstreicht er mit Hilfe von umfassenden Zeitangaben. -it?K32 / r r m 3 3 - Wort; 'rntw "Ol 3 4 - die Worte meiner Klage; Tin 3 5 mein Seufzen; pJJT qal36 - schreien; "Ui hi37 - erzählen; b i s hitp38 - beten; pua qal39 - schreien; 'Vip40 - meine Stimme; Tin:« Vip41 - Stimme meines Seufzens; " 3 3 'Tip42 - Stimme meines Weinens; "flitö "Tip43 - Stimme mei-

28

V g l . auch RINGGREN / [RÜTERSWÖRDEN / SIMIAN-YOFRE], "NU, 1 0 0 0 .

29

Vgl. 109,28. 30 Vgl. WESTERMANN, 13D, 191, wo er auch betont, dass es bei der Selbstbezeichnung als ^"lafl nicht primär um Untergebensein, sondern um „das Zugehören zu dem Herrn und das Geborgensein bei dem Herrn geht". Dies unterstützen auch die Imperative im Kontext dieser Selbstbezeichnung; in 86 z.B. sind dies u.a. rnDB .bewahre' (86,2), ,sei mir gnädig' (86,3), na» .erfreue' (86,4). 31 Zu TDn als Ausdruck für eine enge Gemeinschaft mit JHWH, vgl. STOEBE, non, 619. 32 5,2 pl + suff lsg; 54,4 pl cstr (+ 'S). 33 17,6 (+ suff lsg). 34 22,2. 35 5,2; 39,4. 36 142,2.6. 37 + - m s .meine Not': 142,3. 38 5,3. ' 39

88,2.

40

3,5; 5,4; 27,7; 55,18; 64,2; 130,2; 141,1; 142,2.

41

102,6.

42

6,9. 5,3.

43

62

5.

Ich-Aussagen

nes Schreiens; -i^nn ^p 4 5 - Stimme meines Flehens; "irniinn Vip46 - Stimme meines Flehens; tnp qal47 - rufen; Ti-in48 - meine Klage; rriö qal49 seufzen; rrip50 - Klage; jnto pi51 - (um Hilfe) schreien; 'ntfiü52 - mein Hilfeschrei; -[Stü qal53 - (aus)schütten; T u n t i 5 4 - mein Flehen; "3^nn 5 5 - Flehen; "n'i'sn56 - mein Gebet Die Bezeichnungen für Gebet und Beten lassen sich in neutrale unterteilen und in solche, die das Gebet bereits als Klage und Flehen charakterisieren. Die meisten Erwähnungen stehen erwartungsgemäß am Beginn des Gebets. Zu den neutralen Gebetsbezeichnungen gehören ~ioä / rnp«, ''rip und, sehr häufig, top qal. Ob Ti'pQn (und das einmal belegte ^ s hitp) zu den neutralen Begriffen gehört, ist umstritten. In seiner gebräuchlichen Übersetzung ist es neutral. Da es aber vor allem in Klagen des Einzelnen belegt ist, könnte der Kontext nahelegen, „...an die Anrufung Gottes in persönlicher und allgemeiner Not zu denken."57 Da es andererseits zwar überwiegend, nicht aber ausschließlich in individuellen Klagen verwandt und lange nicht jedes Klagelied eines Einzelnen als Ti^sn bezeichnet wird, ist die neutrale Übersetzung „mein Gebet" einer bereits gefärbten wie „meine Klage" vorzuziehen. Das Gebet wird mit einer Vielfalt an Bezeichnungen charakterisiert als eines, das der Beter aus der Not heraus spricht. Er zieht alle Register, um Gott auf seine Klage, sein Flehen, sein Seufzen oder seinen Hilfeschrei aufmerksam zu machen. Häufig kommen Genitivverbindungen mit bip vor, durch die der Klagende seine Stimme als eine flehentliche, schreiende, seufzende oder weinende schildert. Es liegt in der Natur der Sache, dass die meisten Erwähnungen mit Suffix 1 sg gebildet sind. Damit unterstreicht der Beter, dass es um ihn, sein Gebet, sein Anliegen geht. Auch 44

28,2.6; 31,23; 130,2; 140,7. 5,3. 46 86,6 (mit Intensiv-Plural). 47 3,5; 4,2; 17,6; 22,3; 27,7; 28,1; 31,18; 55,17; 56,10; 57,3; 61,3; 69,4; 86,3.7; 88,10; 102,3; 130,1; 141,1. 48 17,1; 61,2; 142,7. 49 55,18. 50 55,3; + suff lsg: 64,2; 142,3. 51 28,2; 31,23; 88,14. " 39,13; 102,2. 53 + Tri) ,meine Klage': 142,3. 54 6,10; 55,2. 55 143,1. 56 4,2; 6,10; 17,1; 35,13; 39,13; 54,4; 55,2; 61,2; 69,14; 86,6; 88,3.14; 102,2; 109,4; 141,2.5; 143,1. 57 HAÜ, 1635. 45

63

5.1 Der Mensch wendet sich an Gott

durch die Wahl der Verben charakterisiert er deutlich, dass er leidet: Er berichtet von seiner Not, schreit um Hilfe, seufzt und schüttet seine Klage vor Gott aus. Wie extrem die Not ist, macht er durch seine Standortbestimmung deutlich: tnptj 7 1 ?« H » n nstpu

Vom Ende der Erde rufe ich zu dir

61,3

Der Betroffene befindet sich am Rande des Abgrunds, an der Grenze zum Totenreich,58 er droht von der Erde in die Unterwelt hinunterzufallen. Er ist so weit von Gott entfernt wie es überhaupt noch möglich ist, solange er lebt. Umfassende

Zeitangaben 59

... ddv - tags ... und nachts; Di'n'ta 60 - den ganzen Tag; nV^? ... Di" - am Tag ... in der Nacht; D-nna-! ipäi mj; 62 - abends, morgens und mittags In den Ausführungen zu den Beispiel-Psalmen 38, 56 und 88 fiel bereits die aussageverstärkende Funktion der umfassenden Zeitangaben auf. In der Klage geht es dem Beter ums Ganze, nicht weniger als sein Leben steht auf dem Spiel. Darum fleht er Gott ,Tag und Nacht' an, seine Not zu wenden. Dadurch, dass der Betende JHWH auf die Unaufhörlichkeit seines Klagens aufmerksam macht, unterstreicht er die Dringlichkeit seines Anliegens. 61

5.1.3 Standpunkt des Beters Rechtschaffene

Einstellung / Unschuld

63

pnn - Gerechtigkeit Der betende Mensch sieht sich selbst auf der Seite der Gerechtigkeit, so sagt er es ausdrücklich in 17,1. Er beruft sich auf seine eigene Gerechtigkeit, die als Kriterium für JHWHs Urteil zu seinen Gunsten dienen soll (7,9) oder durch die er Gottes Nähe erfahren will (17,1s).64 In 35,27 lobt der Mensch Gott für die Wiedererlangung seiner Gerechtigkeit, nachdem

58 5

Vgl. hierzu auch RIEDE, Feindmetaphorik

2000, 361.

» 22,3.

60

86,3. 88,2. 62 55,18. 63 7,9 (+ suff lsg); 17,1.15; 35,27 (+ suff lsg). 64 Vgl. auch „8.2 Gottes Handeln am Beter". Zu njTia / tribute". 61

vgl. „8.4.3 Gottes At-

64

5.

Ich-Aussagen

er zu Unrecht Not und Bedrohung erlitten und ihn gebeten hat, sich für sein Recht einzusetzen. m 6 5 - (Rechts-) Streit .Streite meinen Streit' bittet der Mensch JHWH. Er bittet ihn, stellvertretend seinen Streit für ihn zu führen, den zu streiten er sich nicht imstande sieht. Dieser T i ist nicht im engeren (und ursprünglichen) juristischen Sinne zu verstehen, sondern im Kontext der Notsituation, die der Beter beschreibt: Bedrängt durch Gegner, geschwächt durch Not, erhofft er sich von JHWH die Rettung. Ziel des Streites, den Gott übernehmen soll, ist „die Durchsetzung oder Wiederherstellung der Lebensordnung".66 ntü'67 - Rechtschaffenheit; ein68 - Unschuld Voll Vertrauen auf seinen OFT wendet sich der Beter an Gott. DH ist dabei nicht nur die Unschuld des Beters, sondern auch ein Machtbereich, in den er sich stellt. Gleiches gilt für 1UT. Mit n®' und nn verbindet der Beter die Erwartung, dass diese imstande sind, ihn zu schützen. So wie seine Gegner in den Machtbereich der Sünde gehören, so gehört er selbst in den Bereich der Rechtschaffenheit und Unschuld. Dementsprechend beruft er sich auf seine Loyalität,69 wenn er Gott bittet zu richten (7 und 26).70 Die schützende Kraft des ein und n g ' lässt den Beter auf JHWH hoffen (25,21).71 Die eigene Unschuld beziehungsweise Integrität72 (oh) eröffnet ihm die Nähe Gottes (41,13). Unschuldsbeteuerungen

In drei individuellen Klagepsalmen beteuert der betende Mensch auf unterschiedliche Weise seine Unschuld: n»t "RRTOIRN« -nb« RNRR JHWH, mein Gott, wenn ich das getan habe,

65

7,4-6

+ suff lsg: 43,1. [HOSSFELD] / ZENGER, Psalmen 1993, 270. Zu dieser Bitte vgl. auch „8.2.5 Richten / Prüfen". 67 25,21 (zusammen mit Dh Subjekt von 1H3 qal .schützen'). 68 + suff lsg: 7,9; 26,1.11 (beide Male mit "J^n qal .wandeln); 41,13; ohne suff: 25, 21. 69 Zu 7,9 vgl. KWAKKEL, Righteousness 2002, 46 und 66, der überzeugend herausarbeitet, dass der Beter mit dem Hinweis auf seine und Dh seine Loyalität JHWH gegenüber betont. 70 Vgl. "3BSÜ in 7,9 und 26,1. 71 Zusammen mit 72 Für diese Übersetzung plädiert KWAKKEL, Righteousness 2002, 66. 66

65

5.1 Der Mensch wendet sich an Gott 'BD? l?,ur0,j~DN

wenn Unrecht an meinen Händen klebt, "Dl* wenn ich meinem Freund Böses angetan habe D|71 ' " H ^ '"l^1?'!!?'! und meinen Feind ohne Ursache ausgeplündert, JB,1 rriN ^ ' T V s o verfolge mich der Feind und hole mich ein "H H1?*? DÖT1 und trete mein Leben zu Boden ]3t£ -ISI!1? 'Jiapi und lasse meine Würde im Staub wohnen. •NN nyitfpn PNS nirv nratf -n^sp n r m n HQ-lQ «ba

Höre, JHWH, die gerechte Sache, merke auf mein Flehen, höre mein Gebet v o n Lippen ohne Trug.

"S3 li'jSJS y n i «

Ich wasche meine Hände in Unschuld. n y r -nwisn-Kb'i U 9 und / oder durch ausdrückliche Nennung des betenden Ichs als Objekt: - j v '3"« BIT n j l j n a

HIV «lirtj

nate]

Wie lange soll mein Feind sich gegen mich erheben?

13,3

Denn meine Feinde reden über mich und die mir auflauern, beratschlagen miteinander.

71,10

In drei Psalmen verlässt der Mensch die Anrede an Gott, um zwischendurch seine Widersacher direkt anzusprechen:120 ]1K -'jys- 1 ?? -3B0 i-iio Weicht von mir, alle Übeltäter 'Sil?? ÜÖM} nFliJl Aber du, ein Mensch meinesgleichen121, '^TJ? 1

Dritte unter Einbeziehung

6,9 55,14

mein Freund und Vertrauter

Gottes122

Sowohl in der Klage mit als auch ohne direkte Nennung des Beters wird Gott einbezogen. Zum einen in der Klage des Menschen über die Gegner: rris^n f «

117

bei denen es keine Veränderungen gibt

55,20

In 46 Versen insgesamt 17 Belege im Singular gegenüber 8 Singular-Belegen bei den insgesamt 72 Nennungen von Gegnern des Beters unter Einbeziehung des Beters. 118 3,2f.7; 13,3; 17,9.11; 22,7f.l3f.l7-19; 25,19; 27,10.12; 31,5.12.14; 35,7.1 lf. 15f. 19.21; 38,12f.20f; 41,6-8.10; 42,4.10 (= 43,2).ll; 54,5; 55,4.13.19; 56,2f.6f; 57,5.8; 59,4; 64,7; 69,5.10.12f.22.27; 71,10; 86,14; 102,9; 109,2-5.20.25; 140,5f; 142,4f.7; 143,3. 119 hat in den 33 Belegen 23x Suff lsg. 120 4,3-6; 6,9; 55,14f. 121 Übersetzung mit HAL\ 838. 122 5,1 1; 10,2-5.11.13; 17,9; 28,5; 54,5; 55,4.20; 69,10; 86,14; 109,2.31.

6.3 Schlussfolgerungen D'n1?»

«Vi ^pöO nVi

121

und die Gott nicht fürchten. und sie haben dich nicht vor Augen.

86,14

Hier sind es diejenigen, die ihrerseits fern von Gott sind, die dem klagenden Menschen Elend bereiten. Ein anderes Phänomen sind die Zitate von Äußerungen der Gegner über das Verhältnis von Gott zum Beter:123 naö iabg 10» n s j b m j y ' p g r JS "TFipri

Er spricht in seinem Herzen: Gott vergisst es, er verbirgt sein Angesicht, er sieht es nimmermehr.

10,11

In diesen Fällen zweifeln die Gegner an, ob Gott den Beter überhaupt noch hört, geschweige denn, dass er eingreift und den Menschen aus seiner Not rettet. Diese Zitate, die der Beter schließlich Gott gegenüber äußert, können auch noch eine andere Funktion für das Verhältnis zwischen Betendem und Gott haben: Hinter den wiedergegebenen Äußerungen Dritter könnten eigene Zweifel des Klagenden stecken, die er auf diese Weise Gott indirekt vorhält.124

6.3 Schlussfolgerungen Sowohl die Belege als auch die Bezeichnungen für die Gegner des Menschen in den Klagen des Einzelnen sind zahlreich. So häufig sie sind, so unübersichtlich und bedrohlich ist die Bedrängnis, die von ihnen ausgeht. Neben der Fülle der Namen, die die Feinde haben, ist die Form auffallend: Es überwiegen Partizipialkonstruktionen.125 Das heißt: In der Klage über Dritte wird das Handeln der Gegner angesprochen, es geht nicht nur um deren Einstellung gegenüber dem Beter, sondern um das, was sie dem Klagenden antun und was (mit) den Anlass zur Klage gibt: „Der Beter, der wider die andrängende Bedrohung und Befeindung zu Jahwe schreit, gibt nicht und will auch gar kein sachliches Bild seiner Gegner geben. ... Im Vordergrund steht die ... Schilderung eines Geschehens."126 Diese Feststellung gilt nicht nur für die Bezeichnungen der Gegner, sondern auch für die Beschreibungen ihres Handelns und ihrer Haltung. Die Variationen in 123 124

3,3; 10,4.lOf; 22,9; 4 2 , 4 = 42,11; 71,11. Mehr hierzu unter „6.3 Schlussfolgerungen" und „8.4.2 D i e Beziehung Beter-

Gott". 125 Z.B. "B'SJ 'CpnD ,die mir nach dem Leben trachten' (35,4; 3 8 , 1 3 ) oder 313 " C n ,Lüge Redende' (5,7). 126 KEEL, Feinde 1969, 98. Vgl. auch JANOWSKI, Feindbild 1995, 164.

122

6. Klage über Andere

den Aussagen, die unterschiedlichen Themenbereiche zeigen an, wie groß und vielfältig die Not ist, die von Dritten ausgeht. Die Betroffenheit des klagenden Menschen wird noch unterstrichen durch die auffallend häufige Verwendung des Suffix lsg bei den Bezeichnungen der Gegner. In der Exegese dieser Texte stand lange Zeit eine Frage im Zentrum des Interesses: Wer sind diese Feinde?127 Mit viel Mühe versuchte man, ihre Identität zu klären. Die Basis dieser Bemühungen waren entweder Deutungen der unterschiedlichen Themen und Metaphern der Feind-Klage oder auch die Interpretation der Vorstellungswelt, die diesen Texten zu Grunde liegt. Die Erklärungen sind beinahe so zahlreich wie die Widersacher in den Individualklagen. Ich will mich an der Diskussion über ihre Identität nicht beteiligen, da eine solche Fragestellung den Texten nicht angemessen ist. Wir haben es mit Formularen zu tun, die demnach absichtlich offen für unterschiedliche Deutungen sind. Dies wird durch die Beobachtung unterstützt, dass kein Psalm mit nur einem semantischen Bereich auskommt, um die Feinde zu beschreiben. Dadurch wird es unmöglich, einen bestimmten Aussagebereich mit einer konkreten Deutung zu verbinden. Es fehlt also naturgemäß die Grundlage für die Beantwortung der Frage nach der Identität der Widersacher. Ebenso muss man auf die Frage nach der konkreten Notsituation antworten: „We need not suppose that each lament arose from and was intended only for use on one occasion."128 Hier interessiert die Rolle, die Funktion, die Dritte in dem Verhältnis von Mensch und Gott in den individuellen Klagepsalmen haben. Dabei gehe ich davon aus, dass die Feinde Menschen sind, wobei manche Aussagen über sie so gehalten sind, dass mit ihnen mehr als persönliche Widersacher gemeint sein können. Dies setzt auch Keel voraus und folgert: „Man würde die Pss jedoch mißverstehen, wenn man glaubt, in ihren Schilderungen der Feinde nichts als eine naturgetreue Wiedergabe derselben zu besitzen. Mittels der Projektion werden die Anfechtungen des Beters (zum Beispiel die Zweifel an der Verläßlichkeit Jahwes) auf die Wi-

127

Einen guten Überblick über die Positionen verschafft TÄTE in seinem Kommentar: TÄTE, Psalms 1990, 6 0 - 6 4 . Vgl. BARTH, Errettung 1987 2 , 107, zu möglichen Interpretationen. 128 TÄTE, Psalms 1990, 63. Ich halte Deutungsversuche für spekulativ und überdies in diesem Zusammenhang für überflüssig. Damit wende ich mich u.a. gegen KRAUS, der in seinem Kommentar regelmäßig dergleichen Versuche unternimmt. Vgl. auch seine Ausführungen in seiner Theologie der Psalmen, wo er Institutionen der Krankenreinigung und Gottesgerichtsbarkeit aus den individuellen Klagepsalmen ableitet (KRAUS, Theologie 1989 2 , 162.164-165).

6.3

Schlussfolgerungen

123

dersacher übertragen und als solche erfahren, die von außen auf den Beter eindringen."129 So hilfreich das psychologische Konzept der Projektion für die Exegese auch sein mag (und so dankbar, wie es rezipiert wurde) 130 , ist doch Skepsis geboten. Eine Betrachtung der Entstehungsgeschichte der Projektion ist bei keinem der Texte möglich. Zudem weist die psycholgisch exakte Definition des Begriffes Projektion - und der ist nun einmal ein psychologischer Begriff - dessen exegetischer Nutzung zur Erklärung der Feindproblematik enge Grenzen: „Projektion ist ein (innerer) Abwehrmechanismus. In ihr wird ein verbotenes oder nicht mehr befriedigbares eigenes Motiv von der betreffenden Person als Motiv einer oder mehrerer anderer Personen oder der Umgebung wahrgenommen." 131 Wenn man von diesem Verständnis ausgeht, ist Projektion lediglich für die Feindschilderungen, in denen die Feinde mit Zweifeln an Gottes Gottsein zitiert werden, eine Deutungsmög/icMei/. 132

Ich will es aus einer anderen Perspektive so formulieren: Den „Feinden" ist eine „typische" Bedeutung zu eigen.133 Das feindliche Gegenüber wird zur Chiffre des Bösen, der Feind zum Antityp, zum Urbild dessen, was die eigene Existenz infrage stellt und bedroht. Diese Widersacher können sehr extrem von dem Betroffenen geschildert werden. Nicht von ungefähr gibt es Diskussionen darüber, wieweit die Rede von den Feinden eine Welt des Dämonischen und Magischen anspricht.134 Prinzipiell geht es bei der Frage, inwiefern Feinde als Dämonen zu deuten sind, um das Problem der Differenzierung von offiziellem Glauben, der den Dämonenglauben verbot135 und einer Volksfrömmigkeit, in der dämonische Gewalten eine aus 129 KEEL, Feinde 1969, 216. KEEL untersucht den Entstehungsprozess solcher Feindschaften eines Einzelnen zu Mitmenschen seiner Umgebung. Er geht von der starken Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen aus. Schon die Konfrontation mit Befremdlichem kann ein Gefühl der Unsicherheit auslösen, was bis zur Xenophobie führen kann (KEEL, Feinde 1969, 90). 130 Vgl. z.B. JASCHKE, Psychotherapie 1990, der die Feinde in psychoanalytischer Begrifflichkeit im Anschluss an KEEL als Ich-Ideal und Über-Ich deutet. 131 TOMAN, Projektion, 1689. 132 Vgl. ERBELE-KOSTER, Rezeptionsästhetik 2001, 122f. 133 Vgl. GERSTENBERGER, Mensch 1980, 144: „Die Klagegebete verwenden zur Bezeichnung des Bösen weiträumige Chiffren." 134 Vgl. VORLÄNDER, Gott 1975, 253: „Nun spricht aber die Gleichartigkeit der Bilder, Begriffe und Vorstellungen, die für die .Feinde' in den Psalmen einerseits, für Dämonen und Zauberer in mesopotamischen Texten andererseits gebraucht werden, mit großer Wahrscheinlichkeit für die Deutung der .Feinde' als Zauberer bzw. Dämonen." Dass es magische Vorstellungen gegeben hat, führen die Verbote der entsprechenden Praktiken in Ex und Dtn deutlich vor Augen: „The religion of Israel flourished in a cultural milieu permeted with magical concept, as is reflected in the strong biblical Opposition to sorcery." (DAN, Magic, 704). 135 „Doch solch ein Verbot der Furcht von übermächtigen und unerreichbaren Feinden befreite den einzelnen Kranken in Israel ja nicht von seinen Ängsten und von den Mechanismen, die Feindbilder erzeugten. ... Wenn der kranke Israelit sich vor Feinden fürchtete, dann kamen dafür nur noch Menschen in Frage - es sei denn, er sah in Jahwe,

124

6. Klage über

Andere

gesprochene Rolle spielen. Zwischen beiden - offiziellem Glauben und Volksfrömmigkeit - ist jedoch nicht eindeutig zu unterscheiden. Ebenso wenig eindeutig lässt sich die Frage beantworten, inwieweit die Feinde nun als Dämonen zu verstehen sind. Wenn demnach die Frage nach der inhaltlichen Bedeutung der Widersacher kaum befriedigend zu klären ist, so lässt sich jedoch ihre Funktion in dem Beziehungsgefüge Beter - Gott klar fassen. Betrachtet man die verschiedenen Aspekte, die in den unterschiedlichen Psalmen zur Sprache gebracht werden, ergibt sich ein vielschichtiges und facettenreiches Beziehungsgefüge Klagender - Dritte - Gott. Was tun die Gegner? All das, was eingangs in der Bestandsaufnahme gesagt wurde, weist auf zwei entscheidende Implikationen des Redens und Handelns der Widersacher hin: eine feindliche Beziehung zu den Mitmenschen und eine zerrüttete Beziehung zu Gott. Die Aggressoren schließen durch ihr Verhalten den Betroffenen aus der Gemeinschaft aus. Das hat den sozialen Tod zur Folge; als eine solche Bedrohung erlebt und beklagt der Beter seine Not. Isolation innerhalb des sozialen Kontextes bedeutet für alttestamentliche Menschen noch mehr als für uns heute (zumindest von dem her, was bewusst ist) eine tödliche Bedrohung: „Ohne dessen [i.e. des Mitmenschen, ChdV] helfende Gegenwart gibt es für ihn keine Erfüllung des Lebens ... In der Einsamkeit aber müsste sich früher oder später die Unmöglichkeit erweisen, sein Leben zu erfüllen. Er müsste hier einsehen, dass ihm die Bedingung des Lebens und damit das Leben selbst genommen worden ist."136 Wenn nun statt der Freunde nur noch Feinde den Menschen umgeben, ist die Not offensichtlich. Diese Feinde führen dem Beter vor Augen, dass sein Gottesverhältnis nicht intakt ist. Zur Abwendung der Feindbedrohung bittet er um die Nähe Gottes und hofft und vertraut auf sie.137 Das, was indirekt in jedem Fall mitspielt, bringen die Widersacher manchmal auch direkt zur Sprache: sie zweifeln an der Zuwendung Gottes zum Klagenden, und damit treffen sie den Kern der Not des betroffenen Menschen.138 Dieser erfährt die Aggression der Mitmenschen als eine Bedrohung seiner Gottesbeziehung. Aus der Perspektive des Beters können die Gegner nur mächtig werden, solange Gott sich ihm

seinem Gott, selber seinen großen Feind." so LOHFINK, Wörter 1977, 149. S o sehr LOHFINK grundsätzlich überzeugt, m ö c h t e ich doch die m ö g l i c h e Situation, aus der heraus solche Feindbilder entstehen könnten, nicht auf die der Krankheit beschränken. 136 BARTH, Errettung 1987 2 , 57; vgl. im gleichen Sinne JANOWSKI, Feindbild 1995, 163. 137

Vgl. z.B. 55,2; 7 1 , 1 2 . D i e s e Zitate v o n Äußerungen der Gegner haben natürlich in der Entwicklung eines Klagepsalms hinsichtlich des Verhältnisses Beter - Gott auch eine Funktion; vgl. dazu die Ausführungen unter „8.4 Beweggründe". 138

6.3

Schlussfolgerungen

125

nicht zuwendet. Darum ist die Kernbitte der Feindklage die um Gottes erneute Zuwendung. Weil seine Gottesbeziehung gestört ist, ist die Aggression der anderen erst möglich, so erlebt es der Betroffene. Eine andere Differenzierung in der Klage über andere Menschen legen die unterschiedlichen Psalmen nahe. Einmal werden die Feinde ganz deutlich als die Verursacher der Not benannt. Sie bedrängen den Menschen so sehr, dass er von Gott seine Rettung vor ihnen erfleht.139 Dies ist der Fall in dem bereits vorgestellten Psalm 56, wo sich alles zwischen den Widersachern, dem betroffenen Menschen und Gott abspielt.140 Hier machen die Gegner die primäre Not aus. Zum anderen sind die Feinde und das feindliche Verhalten der Freunde oft eine Folge einer anderen, primären Not. Ist der Mensch zum Beispiel von Krankheit getroffen, verstärkt die Anfeindung und Beschuldigung durch Mitmenschen oder ihre Distanzierung vom Beter noch die Bedrängnis und Hilflosigkeit.141 Die Mitmenschen reagieren aggressiv auf das Elend des Betroffenen. Die Gegner sind in diesen Gebeten die „sekundäre Not". Hierfür kann Psalm 38 als Beispiel dienen.142 Man darf vermuten, dass diese Reaktion der Ablehnung beziehungsweise Distanzierung aufgrund der Vorstellung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zustande kommt. Wenn es einem Menschen nicht gut ergeht, straft Gott ihn für sein Tun; und Menschen, mit denen Gott nicht ist, meidet man. Entscheidend ist, dass der so oder so angefeindete Klagende isoliert ist. Aus dieser Situation heraus bittet er um ein Eingreifen Gottes, um seine Nähe, damit ihm wieder Leben ermöglicht werde. Ob die Feinde nun die primäre oder die sekundäre Not ausmachen, in jedem Fall ist ihr Verhalten und Reden ein Indiz für die gefährdete Gottesbeziehung des Menschen, der klagt.143 Hieraus ergibt sich folgende These: Der Kern der Klage über Dritte ist der, dass diese dem Beter sein bedrohtes Gottesverhältnis vor Augen führen. Für den betroffenen Menschen gilt, dass die gnädige Zuwendung Got139 In diese Kategorie gehören 7, 17, 35, 54, 55, 56, 57, 59, 64, 69, 70, 86, 109, 140, 142, 143; in 3 und 4 ist dies nicht ganz so deutlich, doch sind sie dem genannten Schwerpunkt am nächsten. 140 Vgl. „2. Psalm 56". 141 Dazu zählen 5, 6, 9 - 1 0 * , 13, 22, 25, 27*, 31, 38, 41, 4 2 - 4 3 , 71, 88, 102*. Zu dieser Unterscheidung der primären von der sekundären Not vgl. auch BAUKS, Feinde 2004, 93, wo sie differenziert zwischen Anderen als „Katalysatoren des Elends" und als „Ursache". 142 Vgl. „4. Psalm 38". 143 „In the complaints where Yahweh is considered an active agent bringing the distress, the enemies may have inflicted serious harm on the people, but they are not the primary concern — Yahweh is. The psalmists' chief interests lie in confronting Yahweh for exposing the people to the eniemies' devastation." BROYLES, Conflict 1989, 219.

126

6. Klage über Andere

tes den Feinden ihre bedrohliche Macht nimmt. Die Gegner sind für den Klagenden Vertreter der bösen Gegenwelt und spiegeln die fehlende Nähe Gottes zum Betroffenen. 144 Folgende Beobachtungen unterstützen diese These: In 56 wurde deutlich, dass im Erleben des Klagenden die Macht der Feinde und die Macht Gottes einander ausschließen. Da, wo der Mensch Gott und sein Wort preist, werden die Feinde zu „Fleisch", zu bloßen „Menschen". Die Klage über ihr Verhalten beschreibt die Gegner dagegen als Krieger und Jäger, die dem Menschen nach dem Leben trachten. In vielerlei Weise kommt dies auch in anderen Klagepsalmen zum Ausdruck: In der Klage sind die Gegner bedrohlich, während sie in den Vertrauensbekundungen und im Lob Gottes dem Menschen nichts mehr antun können. Die Macht der Gegner wird durch die Macht Gottes ausgeschaltet. Der Klagende appelliert an die Macht Gottes, gegen die Widersacher einzuschreiten. Das, was durch das Gebet an sich schon deutlich wird, dass nämlich von Gott die Erlösung aus der Not erwartet wird, spricht der Mensch in den meisten Fällen auch deutlich aus.145 'ty

DlT njiriB

Wie lange soll mein Feind sich gegen mich erheben?

-T]^» 'JiTDin rnrr naip steh auf, JHWH, hilf mir, mein Gott,

-n1?

13,3

3,8

¡Tarr'B ja, all meinen Feinden hast du auf das Kinn geschlagen, n-130 D'BEh "3IÖ hast den Frevlern die Zähne zerschmettert.

Die Macht Gottes und die Macht der Feinde schließen einander aus, die Gegner können den Beter nur so lange bedrängen, wie Gott seine Macht nicht zeigt. Andere Klagen des Einzelnen zeugen von einer anderen Sicht des Zusammenhangs von Gottes Macht und Einfluss der Feinde. In diesen Fällen lässt Gott nicht nur die Aggression zu, er steht im Erleben des Beters auf der Seite seiner Widersacher: « H l .72---C» nn«-'3

Denn sie jagen, den du geschlagen hast

69,27

Auch können die Feinde dem Beter genau das gleiche antun wie Gott:

144

Damit ist aber kein Automatismus angesprochen; dieser Zusammenhang von Aggressivität der Gegner und der Ferne Gottes gilt ausschließlich aus der Erlebensperspektive des betroffenen Menschen. 145 Vgl. „8. Was der Beter von Gott erwartet".

6.3

127

Schlussfolgerungen

Klage über Andere: D-aü'na? 'ja'löin

er lässt mich in Finsternissen wohnen

143,3

Klage über Gott: n i ' n n n l i n a "prro du hast mich ins unterste Grab gesetzt, niVaa? 5 - 3C'np2

88,7

in Finsternisse, in Tiefen.

Doch ob das Tun und Reden der Gegner von Gott nur zugelassen wird, ob die Widersacher nun auf der Seite Gottes gegen den Menschen stehen, in jedem Fall ist der Einfluss der Feinde ein Zeichen für die gestörte Gottesbeziehung. In seiner Dissertation zur theologischen Bedeutung der Feinde in Klagepsalmen nennt Dhanaraj das Beziehungsgefüge Gott - Feinde - Beter ein „triangular relationship" 146 und vereinfacht damit in unzulässiger Weise:147 Hier ist kein Raum dafür, dass teilweise beide, Gott und Feinde, als aggressiv erlebt werden durch den Beter; auch die Differenzierung zwischen dem Phänomen Feinde als primäre oder sekundäre Not nimmt Dhanaraj nicht vor. Befremdend ist, was er über die Widersacher schreibt: „... they want to break the relationship of the psalmists to Yahweh ,.."148, und zwar, weil sie selbst keine Gottesbeziehung haben. Eine Feindbezeichnung wie DO"] mit ihrer religiösen Konnotation („Gottloser") unterstützt diese Annahme; viele andere Bezeichnungen und Beschreibungen Dritter jedoch nicht.149 In einigen Individualklagen (sicher nicht in allen) erlebt der Mensch seine Gegner sicher auf diese Weise, doch dies zu einer objektiven Aussage zu machen, lässt sich nicht halten. In den individuellen Klagepsalmen sind die Widersacher kein eigenständiger Faktor, sondern nur ein Anzeichen für die fehlende gnädige Zuwendung Gottes im Erleben des Beters. Darum bittet der Mensch auch vor allem um diese erneute Zuwendung. Ist Gott auf der Seite des Beters und dazu sollen Gott auch die Bitten um Rache an den Feinden bewegen verlieren die Aggressoren ihren Feindcharakter. Ein weiteres Indiz unterstützt die These, Ziel der Feind-Klage sei primär die Bitte um Gottes Nähe, weil sie das Verschwinden der Gegner zwingend zur Folge hat: Im Danklied werden die Feinde, wenn überhaupt, höchstens beiläufig er-

DHANARAJ, Motif 1992, 1. DHANARAJ, Motif 1992, 2. 148 DHANARAJ, Motif 1992,23. 149 Man denke z.B. an die Freunde, die sich vom Betroffenen distanzieren und in diesem Verhalten bereits als Aggressoren erfahren werden. 146 147

128

6. Klage über Andere

wähnt, während sie in nahezu allen Klagen des Einzelnen eine Rolle spielen.150 Somit legt sich diese Schlussfolgerung nahe: In den individuellen Klagepsalmen geht es über den „Umweg" über die Widersacher um die Stellung des Menschen vor Gott.

150

Vgl. auch BARTH, Errettung 19872, 104. Es befremdet, dass RIEDE auf diesen Tatbestand nicht eingeht. Er spricht durchgehend von den Individualpsalmen und in seiner Einleitung sogar ausdrücklich von „Klage- und Dankpsalmen" (RIEDE, Feindmetaphorik 2000, 1; vgl. auch 3 14 ), ohne auf die so unterschiedliche Gewichtung der Problematik in diesen beiden Textsorten einzugehen.

Kapitel 7

Wie der Beter Gott negativ erlebt 7.1 Abwendung ist fern, er hat sich abgewandt oder droht, sich vom Beter abzuwenden, und bleibt passiv trotz der großen Not, in der sich der Klagende befindet. Die Erfahrung, dass Gott sich abzuwenden droht oder sich bereits abgewandt hat, dominiert in den individuellen Klagepsalmen. Ob er nun fern ist und bleibt oder nicht zugunsten des Beters eingreift, in jedem Fall fehlt dem Beter die gnädige Zuwendung Gottes. Im folgenden Abschnitt geht es um die Zusammenhänge und sprachlichen Ausdrücke der Klage über die Abwendung Gottes. JHWH

7.1.1 Ferne Die Erfahrung, dass Gott sich von ihm distanziert hat, lässt den Menschen vor Gott klagen. Sprachlich findet dies in unterschiedlichen Formen seinen Ausdruck, in Fragen (Klagen), Vetitiven (Bitten) und Schilderungen der Not. Folgende Verben werden zur Beschreibung von Gottes Ferne verwandt: "DT qal +

- nicht gedenken

Wenn Gedenken die „liebende Zuwendung"2 Gottes zum Menschen bezeichnet, so fehlt diese dem Beter, der sich zu denen gehörig erlebt, derer Gott nicht mehr gedenkt. Für den Menschen ist es lebensnotwendig, dass Gott seiner gedenkt, denn nur den Toten gilt Gottes Gedenken nicht mehr.3 •"?S + "iriD hi4 - das Angesicht verbergen 1 2

88,6.

SCHOTTROFF, Gedenken 1964, 217. 3 Vgl. die Exegese von 88 unter 3.3. 4 13,2 (mit H31J--IJ;); 27,9 (Vetitiv); 51,11 (Imperativ; Objekt sind die menschliche Sünden); 69,18 (Vetitiv); 88,15 (mit na1?); 102,3 (Vetitiv); 143,7 (Vetitiv).

130

7. Wie der Beter Gott negativ

erlebt

Wenn Gott den Menschen nicht mehr ansieht, sondern sich abwendet (cns ist abzuleiten von ms ,zu-/ wenden'), ist die Beziehung zwischen Beter und JHWH gestört, die ein erfülltes Leben erst ermöglicht. Ist Gott jedoch verborgen, können Sorgen und Nöte den Betroffenen beherrschen. Der Beter setzt seine Not in direkte Verbindung mit Gottes Verborgenheit: rt!¿3 -pnacn Hin; Wie lange, JHWH, vergisst du mich 13,2-3 völlig? •VFiDF) r™™iJB Wie lange verbirgst du '3BD I'JBTIIJ dein Angesicht vor mir? •CE55 rriül) n'ütj f u t r i r Wie lange muss ich Sorgen tragen in meiner Seele, •DV ' 3 3 K u m m e r in meinem Herzen Tag für Tag? '^V

D1

T i™""1^

Wie lange soll mein Feind sich gegen mich erheben?

In 13 sind die Widersacher Teil der „sekundären Not".5 In einer Reihe von vorwurfsvollen Fragen (rutrifl ,wie lange?') benennt der Betroffene vor Gott seine Not. Dass JHWH ihn vergessen, sein Angesicht vor ihm verborgen hat, nennt er als erstes. Erst danach führt er die Folgen dieser Abwendung Gottes auf: Er wird von Sorgen aufgefressen und vom Feind bedroht. Dass die Ferne Gottes die ursächliche Not ist, wird deutlich durch die auf die Fragenreihe folgende Bitte um erneute Aufmerksamkeit und Zuwendung Gottes. Die Ferne oder Nähe JHWHs zum Beter bestimmt dessen Ergehen. Gott ist der, der die Not wenden kann. In 51 ist die Lage anders: Hier bittet der Mensch Gott gerade darum, sein Angesicht zu verbergen, und zwar "Äono ,vor meinen Sünden'. 6 Das, wovor Gott sein Angesicht verbirgt, spielt keine Rolle mehr, ob es nun der Beter in seiner Not ist oder die Sünde des Menschen. 003 qal7 - etw. aufgeben, sich nicht mehr kümmern um8 Diese Bitte des Klagenden an Gott, ihn nicht aufzugeben, findet sich in einer ganzen Reihe von ähnlichen Bitten, die einander kommentieren: nnpn-1?« .verbirg nicht', tarrb« ,weise nicht ab', 'íbísfi"^« ,gib mich nicht

5

Vgl. „6.3 Schlussfolgerungen". Vgl. hierzu auch GROß, Gottesnähe 2004, 66-73, der den Widerspruch der Bitten um Gottesferne und -nähe herausarbeitet, wobei er allerdings nicht differenziert zwischen dem Beter selbst und seinen Sünden: „Der Sünder versucht in 51,1 la die bedrohliche Gottesnähe durch die Bitte abzuwenden, Gott möge sein Gesicht vor ihm und seinen Sünden verbergen; eine Bitte, die er freilich nicht durchhalten kann, sondern in 51,13 in die Bitte um weiterhin gewährte Nähe des Gottesangesichts überführt." (73). 7 27,9 (Vetitiv). 8 Übersetzung mit HAL\ 657. 6

7.1

131

Abwendung

a u f , "inian"^"! ,und verlass mich nicht'. Bei allem geht es darum, dass Gott die Hilfe des Beters ist: "m,Tj>. pirn / p m qal9 - fern / fern sein Bezieht sich p m / pirn auf die Gottesferne, ist hiermit sowohl der räumliche als auch der persönliche Aspekt angesprochen: räumlich in dem Sinne, dass der Beter fern ist von Gott und zugleich fern ist von dem Bereich, in dem Leben möglich ist, persönlich in der Hinsicht, als dass von Gottes erneuter Zuwendung nicht weniger als das Leben des Menschen abhängt. Bittet er: "3QD prnn-1?« ,sei nicht fern von mir', so ist dies das Anliegen des individuellen Klagepsalms in nuce.10 3TJJ qal11 - verlassen Am bekanntesten ist dieses Verb durch die Eingangsfrage des 22. Psalms: nD1? '^t!

Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?

22,2

Diese erste Frage mit ihrer doppelten Anrede ist gleichsam die thematische Überschrift des Klagepsalms. Es folgt die Beschreibung der Gottesferne und ihrer Auswirkungen. All seine Not erscheint dem Klagenden unbegreiflich: nob ,Wozu?' Mit der Wurzel 3TJJ wird öfter das Verhältnis zwischen Gott und Mensch beschrieben, wobei sowohl Gott als auch der Mensch Subjekt sein können.12 mtö qal / ni13 - vergessen mtf meint weniger das zufällige, unbeabsichtigte Vergessen als vielmehr das aktive Entfernen einer Person oder Sache aus dem Bewusstsein.14 Wenn der Klagende Gott anruft: 9

p i r n : 2 2 , 2 (mit HD1?; Subj ist ,meine Hilfe'); p m als Vetitiv: 2 2 , 1 2 . 2 0 ; 3 5 , 2 2 ; 38,

22; 71,12. 10

Vgl. 3 8 , 2 2 und die Exegese von 38 unter 4.3. 22,2 (mit na 1 ?); 2 7 , 9 (Vetitiv); 38,22 (Vetitiv); 71,9 (Vetitiv); 7 1 , 1 8 (Vetitiv, Zitat der Widersacher). 12 D i e knappe Hälfte der Belegstellen im A T sind Aussagen theologischer Art, „sei es, daß Gott den Menschen (etwa 4 0 x ) , sei es daß der Mensch Gott ... verläßt (etwa 6 0 x ) . " (STÄHLI, nru, 251). 13 10,12 (Vetitiv); 13,2 (mit r u i r i B ) ; 31,13 (ni., Gott ist indirekt Subjekt); 4 2 , 1 0 (mit 1 nD ?). 14 Es meint „»vergessen« in dem Sinne, daß Personen und Dinge, die zeitlich oder räumlich »fern« ... sind..., so daß man sie nicht mehr im Bewußtsein hat und wahrnimmt. ... Insbesondere aber kommt Vergessen durch die bewußte Abwendung von gegenwärtigen Personen, Dingen, Verpflichtungen ... zustande, ...vor denen man »das Angesicht verbirgt«...", so SCHOTTROFF, rot!), 899f. 11

132

7. Wie der Beter Gott negativ "inngttf no'p

erlebt

Wozu hast du mich vergessen?

42,10

fragt er zum einen nach dem Sinn dieses Vergessens und will sich zum anderen bei Gott wieder in Erinnerung rufen. n^i) hi / hitp15 - verbergen / sich verbergen Grundsätzlich ist die Frage in 10,1 formuliert. Sie zeigt, dass das Verlassensein durch Gott eine Basiserfahrung des Menschen in Not ist: pin-N ibi?N n y r no1? r n i H niPiB1? CP1?^

Wozu, JHWH, stehst du fem, verbirgst dich in Zeiten von Not?

10,1

Der Mensch beklagt sich bei JHWH, dass dieser fern ist, während und wodurch es ihm schlecht geht. Die Folgen der Abwendung Gottes schildert der Beter in den folgenden Versen (10,2-10): Die Widersacher sind übermächtig geworden. Die Macht der Gegner und die Macht Gottes sieht der Beter in Konkurrenz zueinander. Die Nähe Gottes und die Macht der Gegner schließen einander aus.16 Dies bestätigt ein Zitat der Gegner in 10,11: b» r o ö ia 1 ?} "IDK Er spricht in seinem Herzen: Gott hat vergessen, n i j y t a V3S TFlDH er hat sein Angesicht verborgen, er sieht es nimmermehr.

10,11

So fern Gott der Not des Menschen ist, so fern ist er auch den Übeltaten derer, die dem Klagenden das Leben schwer machen. Entweder greift Gott ein, oder die Gegner haben freie Hand. „Die JHWH-Ferne schafft ein Vakuum zugunsten des Wirkens der Feinde."17 Aber auch in Notsituationen, in denen Gegner keine oder nur eine sekundäre Rolle spielen, gilt eines immer: Die Distanz Gottes hat in letzter Konsequenz den Tod des Beters zur Folge.18 Ohne JHWHs Zuwendung kann der Mensch nicht leben: "?aü ^JB -iFipn-1?« "Yta "IT'DJ; ,Fibüü;n

15

Verbirg nicht dein Angesicht vor mir, dass ich nicht gleich werde denen, die hinabsteigen in die Grube."

143,7

10,1 (mit HD1?); 55,2 (Vetitiv). Vgl. auch die Exegese von 56 unter 2.3. 17 HOSSFELD / [ZENGER], Psalmen 1993, 87. Das heißt also auch: Wenn Gott nicht fern ist, den Betroffenen nicht vergisst, dann greift er ein: t j t KÖ3 Hin'' n ö l p •".3? naton ,Steh auf, JHWH, Gott, erhebe deine Hand, vergiss nicht die Armen' (10,12). Vgl. auch 41,12, wo der Mensch deutlich eine kausale Verbindung zwischen der Macht Gottes und der Macht der Gegner sieht: ,Daran erkenne ich, dass du Gefallen an mir hast, wenn mein Feind nicht über mich triumphieren d a r f . 18 „Seine Verborgenheit ist die andere Seite seines Gottseins, die ... in der existentiellen Erfahrung als lebensbedrohend bezeugt wird." (PERLITT, Verborgenheit 1971, 373). " Vgl. auch 31,13. Zu dem Bild der Grube vgl. die Exegese von 88,5 unter 3.3 und „5.3.8 Tod". 16

7.1

Abwendung

133

Wie kommt es zu der Ferne Gottes dem Beter gegenüber? Mit anderen Worten: Agiert oder reagiert Gott, wenn er sich vom Beter abwendet? Eine Durchsicht der Belege zeigt, dass mit wenigen Ausnahmen in den betreffenden Individualklagen nicht an eine Verursachung der Not durch mögliche Verfehlungen des Menschen selbst gedacht wird.20 Lindström fragt: „YHWH's absence: reaction to man's transgression?"21 und antwortet mit einem kategorischen Nein. In nahezu allen Klagen des Einzelnen handelt es sich um ein aktives und nicht re-aktives Verhalten JHWHs.22 Manche Exegeten „tragen ... hier zwar häufig das Sünden-SündenfolgeDenkschema ein, aber es greift in solchen Fällen zu kurz."23 Gottes Ferne ist dem Menschen unerklärlich,24 und gerade weil Gottes abweisende Haltung unberechenbar ist, erfährt der Betroffene dies als bedrohlich.25 Auf die Erfahrung der Ferne Gottes reagiert der Beter, der sich in der Notsituation befindet: Er fragt weniger nach der Ursache der Not als dass er die (drohenden) Folgen von Gottes Haltung ihm gegenüber beschreibt. Eine weitere Beobachtung ist an dieser Stelle festzuhalten: Ist es außerhalb der Psalmen der Mensch, der Gott verlässt (3TU), so klagt in den Klagen des Einzelnen der Mensch darüber, dass Gott ihn verlassen hat beziehungsweise zu verlassen droht. Ebenso wie 3Ti> bezeichnet rotö außerhalb der individuellen Klagen häufig das Verhalten von Menschen gegenüber Gott und seinem Bund.26 In den Klagen des Einzelnen spiegelt sich die Gegenseite des Verhältnisses von Gott und Mensch wider, deren andere Seite von den Verpflichtungen des Menschen gegenüber Gott handelt. Hier wird Gott auf seine Verantwortlichkeit gewiesen: dass er sich wieder als der Gott des Beters erweist, indem er sich ihm wieder zuwendet und ihn nicht seiner Not überlässt.

20

Die Ausnahme könnte in 38 (zu 38,4 vgl. „4.3 Exegese") sowie 6 9 (dort bekennt der Mensch seine Schuld) und vielleicht noch in 143 (hier bittet der Mensch Gott um die Weisung des rechten W e g e s ) vorliegen, in keinem Fall wird aber eine Verbindung direkt genannt. BALENTINE betont, dass selbst wenn in diesen Psalmen die Sünde Ursache der Abwendung Gottes v o m Beter sein sollte, in den Gebeten doch deutlich wird, dass der Mensch gegen die Bestrafung protestiert: „the sin does not merit the punishment." (BALENTINE, God 1984, 51). 21 LINDSTRÖM, Suffering 1994, 6 5 - 1 2 8 . Zur Kritik an seinen zu radikalen Eingriffen in 38 vgl. die Exegese von 38 unter 4.3. 22 S o auch GROß, Gesicht 1999, 185. 23 GROß, Gesicht 1999, 189. 24 Vgl. BALENTINE, God 1984, 56. 25 Vgl. SIMIAN-YOFRE, c n s , 646, der auch die fehlende Verbindung von Gottes Verbergen des Angesichts mit menschlicher Schuld feststellt, aber dagegen sehr wohl die Klage über Gottes Ferne im Kontext der Betonung von JHWHs Treue sieht. 26 Vgl. ausführlicher hierzu SCHOTTROFF, nsts, 902f.

134

7. Wie der Beter Gott negativ

erlebt

7.1.2 Fehlendes Eingreifen Gott bleibt passiv, er greift nicht zugunsten des Beters ein. Darum klagt der Mensch vor Gott über seine Not (Notschilderungen), er bittet ihn, zu reagieren (Imperative und Vetitive). Das fehlende Eingreifen Gottes wird zum einen im Kontext der gestörten Kommunikation und zum anderen mit der passiven Haltung JHWHs erklärt. Der Mensch beschreibt Gott als passiv mit Verben fehlender Kommunikation. Gott ist taub, schweigt und antwortet nicht: tonn II qal27 - taub sein Der Beter muss bei Gott auf offene Ohren stoßen; diese sind die erste Voraussetzung für eine mögliche Gebetserhörung. Bin hat in diesem Zusammenhang die Konnotation von „untätig, gleichgültig sein" 28 . Erst wenn Gott dem Klagenden Aufmerksamkeit schenkt, hat der Beter eine Chance, dass seine Not sich wendet. Dem Vetitiv tznnn-1?» entspricht die Bitte naotö ,höre'. 29 nön qal30 - schweigen Die bedrohlichen Folgen des göttlichen Schweigens schildert der Beter, um die Dringlichkeit seines Anliegens zu unterstreichen: 'Jgö nöni1"|S Tis

damit nicht, wenn du mir gegenüber schweigst, ""'JCBr. ich gleich werde denen, die hinabsteigen in die Grube.

28,1

Der Mensch leidet unter der mangelnden Zuwendung Gottes, was in dem zitierten Vers ausdrücklich betont wird durch das "JSD ,von mir weg'. Die Bewegung Gottes ist eine der Abwendung, während der Beter eindringlich um eine Reaktion Gottes bittet. Was es bedeutet, wenn diese Reaktion Gottes ausbleibt, schildert der Klagende in 28,1 unmissverständlich: Die Abwendung Gottes bedeutet den Tod des Menschen.31 njy I qal32 - antworten

" 2 8 , 1 ; 35,22; 39,13; 109,1. 28 Vgl. D e l c o r , Bin, 641. 29 Vgl. „8.1 Gottes Zuwendung". 30 28,1. 31 Zu der Wendung "Ii 3 nni" vgl. die Exegese zu 88,5 unter 3.3. und „5.3.8 Tod". 32 22,3; vgl. auch 18,42 (kein individueller Klagepsalm).

7.1

135

Abwendung

Für mi? I gilt das Gleiche wie für Bin .schweigen'. Ohne eine Reaktion Gottes auf die menschliche Klage findet der Beter „keine Ruhe" (22,3). Häufiger als in der Notbeschreibung findet sich mi> I als Imperativ.33 Auch über Gottes passive Haltung dem Beter gegenüber wird geklagt. Folgende Aussagen sind hierzu zu rechnen: denn keiner ist da, der hilft. 34

22,12

gib mich nicht der Gier meiner Gegner preis.

27,12

n i o n neq "J'-m Mein Herr, wie lange siehst du noch zu?

35,17

-iTir n a t£)S_33 •J.rrrr'?«

•pcxr.- 1 *«

nsnrj nträ»- 1 ?»

überlass mich nicht dem Spott des Toren!

39,9

Lass mich nicht zuschanden werden!

25,2.20 31,2.18 71,1

Der Mensch fühlt sich allein; er ist der Not ausgeliefert, ohne dass Gott eingreift. Die typische Bitte niön«"1?« / tintr^N ,lass mich nicht zuschanden werden' ist formal eine Ich-Aussage, auf der inhaltlichen Ebene wird jedoch Gott implizit als logisches Subjekt angesprochen, denn nur Gott kann durch sein Eingreifen verhindern, dass der betroffene Mensch zuschanden wird. In töia klingt sowohl die Scham als auch die drohende Vernichtung mit.35 Diesen Wunsch verbindet der Klagende in allen Fällen mit einer Vertrauensäußerung36 oder dem Hinweis auf seine Ausrichtung auf Gott.37 Von seiner Seite aus sucht der Beter die Nähe, die er von Gottes Seite erhofft, denn die erneute Zuwendung Gottes bewahrt ihn vor Scham, Schande und letztendlich vor Vernichtung. Solange Gott nicht zugunsten des Beters eingreift, haben die Faktoren, die die Not verursachen, freie Bahn.

33

Vgl. „8.1 Gottes Zuwendung". Dies ist im Unterschied zu den anderen Zitaten ein indirekter Vorwurf an Gott: "ITiD l'tj"*? soll die vorangegangene Bitte ,sei nicht fern von mir' motivieren. 35 Mit STOLZ, 013, 270. In einer Bitte um die Beschämung der Gegner macht der Beter deutlich, dass ihm diese Konsequenz der völligen Vernichtung vor Augen steht, vgl. 31,1 und „8.3.8 Vernichten". 36 riB3 qal: 25,2. 37 non qal ,Zuflucht suchen: 25,20; 31,2; 71,1; t o p qal ,rufen': 31,18. 34

136

7. Wie der Beter Gott negativ

erlebt

7.1.3 Zusammenfassung Auf sehr vielfache Weise bringt der Mensch zur Sprache, dass er unter der Ferne Gottes leidet: Gott hat den betroffenen Menschen verlassen und vergessen. „Aus den Augen, aus dem Sinn", so erfährt der Klagende Gottes Haltung ihm gegenüber. Gott hat den Dialog abgebrochen, er äußert sich nicht. Der darunter leidende Mensch fleht JHWH an, ihn nicht der bedrängenden Not zu Uberlassen. Wie kommt es zur Ferne Gottes? Diese Frage wird in den individuellen Klagepsalmen selbst nicht gestellt, in der Not zählen nur die gegenwärtige Erfahrung und die drohenden Folgen dieser Situation. Dies ist zu betonen angesichts der Neigung, zwischen die Zeilen ein Sündenbewusstsein oder eine Bußhaltung in die Texte hineinzulesen, die in nur wenigen Texten tatsächlich eine Rolle spielt.38 Entscheidend ist, dass die Distanzierung Gottes von dem Menschen als JHWHS Handeln beziehungsweise bewusste Passivität erlebt wird, das sich nahezu nie auf ein vorausgegangenes Tun des Beters bezieht. Gottes Verhalten ist Aktion39, nicht Re-aktion. Die Abwendung Gottes vom Beter ist der Kern aller beklagten Not, denn sie wird in allen Fällen letztendlich auf die Ferne Gottes zurückgeführt. Die Widersacher des Beters gewinnen an Macht. Auch psychisches, körperliches und soziales Elend, dessen letzte Konsequenz der Tod ist, wächst mit zunehmender Verborgenheit oder Passivität Gottes. Ein weiterer Hinweis darauf, dass die Not des Menschen letztendlich durch die Abwendung Gottes entsteht beziehungsweise an Einfluss gewinnt, sind die dominierenden Bitten um Zuwendung und Zuhören Gottes.40 Obgleich die aktuelle Erfahrung des Beters die Distanz Gottes ist, ruft er eben diesen verborgenen Gott an, nicht länger fern zu sein. Was bedeutet dies für das Gottesbild? Eine Änderung der Situation kann nur durch Gott kommen, der Mensch selbst ist völlig abhängig von seiner erneuten, gnädigen Zuwendung, um wieder leben zu können. Der Beter kann nur eines tun, nämlich klagen, auf Gott eindringen, dass dieser durch seine Zuwendung die Not abwendet. Er kann sich nur auf die Beziehung zu Gott und dessen Verantwortlichkeit ihm gegenüber berufen. Gott ist der, auf dem alle Erwartungen zur Wende der Not ruhen, ausschließlich er ist derjenige, der aktiv eingreifen kann zugunsten des betroffenen Menschen. 38 Vgl. hierzu die Ich-Aussagen zur eigenen Unschuld bzw. zum Schuldbewusstsein unter „5.1.3 Standpunkt des Beters" sowie „5.1.4 Zusammenfassung" und dieselben Themen bei der Behandlung der Beweggründe „8.4.1 Situation des Beters". 39 Die kann sich auch in fehlender Aktivität zeigen. 40 Vgl. die folgenden Kapitel: „7.2 Gegen den Beter gerichtet", „8.1 Gottes Zuwendung".

7.2 Gegen den Beter

137

gerichtet

Somit wird deutlich: So lange JHWH abgewandt bleibt, beherrscht die Not den Klagenden. Die mangelnde Zuwendung Gottes ist demnach der Kern aller Not. Mit seiner Klage bekennt der Beter seine ausschließliche Abhängigkeit von Gott.

7.2 Gegen den Beter gerichtet Der Beter klagt nicht nur über Gottes Ferne und Passivität, sondern auch darüber, dass Gott ihn vernichtet, verstößt und ihn seinen Zorn spüren läßt. Auch wenn Abwendung JHWHs einerseits und seine aggressive Zuwendung andererseits in der Ausdrucksform völlig unterschiedlich zu sein scheinen, liegen sie bezüglich der Gotteserfahrung in den Klagen des Einzelnen doch nahe beieinander. Es wird sich zeigen, dass der Beter bereits die fehlende gnädige Zuwendung als aktive Einstellung JHWHS gegen sich erfahren kann. 7.2.1 Vernichtung Dass es Gott selbst ist, der den Beter vernichtet, wird in nur wenigen Psalmen ausdrücklich gesagt oder als drohende Gefahr beschrieben. Das zeigt sich vor allem in 88, wo der Klagende seine Not direkt auf Gott zurückführt.41 Gottes Gewalt hat den Beter in ganzer Härte

getroffen

Klip ninn-^-Dinn Flut ruft zur Flut ^p1? beim Tosen deiner Sturzbäche, 1-oy -bs T ^ i ^nam?-1?:? alle deine Brandungen und Wellen gehen über mich hin. n"3JJ ^na^tJ-tai

[mit] allen deinen Brandungen hast du [mich] niedergedrückt

TIS JT33 njjj auf meinem Wege hat er meine Kraft niedergedrückt 42,

5 m n g s ^-moa

n v r r t a D"B3 '3130

41 42

42,8

88,8 102,24

deine Schrecknisse haben mich vernichtet.

88,17

Sie umringen mich wie Wasser den ganzen Tag,

88,18

Vgl. die Exegese von 88 unter 3.3. Zur textkritischen Problematik vgl. die Übersetzung von 88 in der Exegese.

138

7. Wie der Beter Gott negativ TP,

IB'jsn

'pr'xr.'.

erlebt

sie schlagen über mir z u s a m m e n du hast mich a u f g e h o b e n und mich

102,1

niedergeworfen 1233 ' t y a l o n "3« I i ; ni3FlQ tc-K niD". l i a - b ü n i r n i r o inion dB3 o o m

N i m m weg von mir deine P l a g e durch die W u c h t deiner H a n d vergehe ich. M i t Strafen züchtigst du j e d e n f ü r [seine] Schuld, du zerstörst wie die M o t t e , was ihm kostbar ist

39,11 f

Gott verkürzt oder beendet das Leben des Menschen •3.-.SCT. ms—Ei' 1 ?'

in den Staub des T o d e s legst du mich

22,16

'BS? D'RBrrDJJ lÖNR"1?«

r a f f e mich nicht weg mit d e n S ü n d e r n

26,9

D-ptth-DB • " C C R - b «

r a f f e mich nicht weg mit d e n Frevlern

28,3

n i ' r i n n "Yi33 'jnttf

D u hast mich in die unterste G r u b e versetzt, in Finsternisse, in T i e f e n

88,7

er hat meine T a g e verkürzt 4 3

102,24

' a s s mich nicht hinwegsteigen in der Mitte meiner Tage 4 5

102,25

rribiflps C-3CTS3 "Ü", 'ö' 'ana ^ j ^ B F r 1 »

Gott ist es, der den Menschen zu töten droht. Damit gerät der Mensch in einen Bereich, der für Gott nicht mehr erreichbar ist. 46 Im Tod ist jede Bitte um Zuwendung sinnlos. Vorzeitig, in der Mitte des Lebens sterben zu müssen, ist eines der Kennzeichen des „bösen" Todes. 47 Wenn Gott zwischen dem Beter und seinen Widersachern keinen Unterschied macht, sondern beide wegrafft, versetzt er den betroffenen Menschen damit in den Bereich, aus dem seine Bedrohung gerade kommt. Er entfernt ihn aktiv aus seinem Aktionsradius und überlässt ihn nicht nur dem Tod, sondern im Tod auch noch seinen Gegnern.

43

Vgl. 89,46. gibt hier Rätsel auf. N o r m a l e r w e i s e k o m m t n b u hi „hin-/ h e r a u f s t e i g e n lass e n " mit M e n s c h e n als O b j e k t im positiven Kontext vor, wie z.B. d e r A u f n a h m e Elias in den H i m m e l o d e r auch der ( W i e d e r - ) B e l e b u n g durch Gott, vgl. 30,4; 71,20; l S a m 2,6. N u r an dieser Stelle ist das V e r b negativ gefärbt. 45 Vgl. dieses M o t i v als W u n s c h gegen die G e g n e r 55,24. 46 Vgl. 88,6b: ,... die von deiner H a n d abgeschnitten s i n d ' . 47 Vgl. BARTH, Errettung 1987 2 , 54f. 44

139

7.2 Gegen den Beter gerichtet Gott versetzt

den Menschen

in soziale

"SBO ' ¡ i T P 'i'pnin iö'p rrtairin 'jnitf Bni nnfc'360 nprnn

Isolierung

Du hast meine Vertrauten von mir entfernt, du hast mich ihnen zum Abscheu gemacht.

88,9

Du hast von mir entfernt den Liebenden, den Freund.

88,19

D a s s E i n s a m k e i t in d e n K l a g e n des E i n z e l n e n nicht nur e i n e Einschränkung, s o n d e r n e i n e B e d r o h u n g d e s L e b e n s ist, hat Barth ü b e r z e u g e n d h e rausgearbeitet: „ W i r k l i c h l e b e n kann der M e n s c h nur in Gemeinschaft mit seinesgleichen" ,48 E i n e B i t t e fällt v ö l l i g aus d e m R a h m e n der b i s h e r n a c h g e z e i c h n e t e n T e n d e n z der I n d i v i d u a l k l a g e n : n j ' ^ a s i 'JtJQ 49J)ü'n Wende dich ab von mir, dass ich wieder fröhlich werde ^ D T ? 3 bevor ich gehe und nicht mehr bin.

39,14

W ä h r e n d alle B i t t e n in d e n K l a g e n d e s E i n z e l n e n auf d i e erneute Z u w e n d u n g G o t t e s z u m B e t e r z i e l e n , wird hier das V e r h ä l t n i s u m g e k e h r t . N u r in der A b w e n d u n g G o t t e s sieht der M e n s c h n o c h e i n e C h a n c e z u m L e b e n . 5 0 D i e N ä h e G o t t e s erfährt er als l e b e n s b e d r o h l i c h . 5 1 D e n Gott, d e s s e n Zuw e n d u n g L e b e n e r m ö g l i c h t , hat der B e t r o f f e n e hier aus d e m B l i c k v e r l o ren.

48

Vgl. BARTH, Errettung 19872, 26. In HAI} ist man sich nicht recht einig, worauf Ultfn zurückzuführen ist: laut HAI}, 1487, kommt es nicht von nuttf, sondern von DOT I hi .verkleben'; schaut man dagegen bei HAI?, 1489 BSV} I hi nach, wird dort für ¡"II2E optiert. In letzterem Sinne übersetzen nahezu alle, mit Ausnahme von BUBER / ROSENZWEIG („laß sichs abheften von mir"), Schriftwerke 1986 6 , 63. 50 Hier wird „von der Abwesenheit Gottes Besserung erhofft... Ein von tiefer Verzweiflung und Enttäuschung eingegebenes Gebet." OEMING, Psalmen 2000, 217; vgl. auch GUNKEL, Psalmen 19685, 165. LINDSTRÖM, Suffe ring, 1994, 254 sagt: „This formulation is almost a parody of the prayers in the Psalter tradition." Unverständlich ist, dass BARTH diese Bitte zusammen mit der in 28,1 („schweige nicht...") als Beispiel des drohenden Todeszustandes nennt (BARTH, Errettung 19872, 116). 51 Eine solche Bitte findet sich sonst nur noch bei Hiob; vgl. Hi 10,20f; 14,6. Zu der Spannung zwischen den Bitten um Gottes zugewandtes Angesicht und 39,14 vgl. auch GROß, Gottesnähe 2004, 74: „Wenn das Leben ohne Gott unmöglich, das Leben mit Gott aber unerträglich ist, dann ist Gott dem Beter ein rätselhaftes, ambivalentes Gegenüber geworden." 49

140

7. Wie der Beter Gott negativ

erlebt

7.2.2 Verstoßung Gegen die (drohende) Verstoßung durch Gott wendet sich der Beter mit Bitten (Vetitiven) und Fragen (nob): ri3T II qal mülqal

"31?™ ^D1? Wozu hast du mich verstoßen? 1

NP^ HO ? Wozu, JHWH, '(ÖBJ min verstößt du mich?

nB3 hi ...Tj^gB ^NaTDPrbN weise nicht ab deinen Knecht... 1ÜB3 qal 'JBBFl"^» gib mich nicht auf -[Whi

'^¡OPT1?*?

Verstoß mich nicht

43,2 88,15 27,9

51,13 71,9

Nicht nur in den deutschen Wörtern „abweisen, aufgeben, verstoßen" liegt ursprünglich eine Bewegung, für die hebräischen Begriffe gilt das Gleiche. Gott hat den Beter von sich weggestoßen. Er entfernt ihn aktiv aus seiner Nähe, aus seinem Einflussbereich. Ohne die hilfreiche Gegenwart Gottes aber kann der Mensch nicht leben. Gibt Gott ihn auf, bedeutet das für den Betroffenen nichts weniger als den Tod.52 7.2.3 Zorn Wenn Gott auf den Beter zornig ist, fühlt dieser sich fern von aller Hilfe Gottes. Folgende Bezeichnungen finden sich für den Zorn Gottes: *]«53, non54, EJJT55, rpip56 und ]nn 57 . Auch wenn diese Begriffe unterschiedliche Herleitungen haben,58 lassen sich schwerlich Nuancierungen finden. Alle Bezeichnungen kommen parallel zueinander vor. Sie sind als Äußerungen nicht nur Gott vorbehalten, auch menschlicher Zorn wird mit denselben Begriffen belegt. Die Rede vom Zorn Gottes in den Klagen des Einzelnen findet sich in zwei unterschiedlichen Kontexten: 1) Der Zorn Gottes eingebettet in ein 52

Vgl. hierzu die Exegese von 88 unter 3.3. 6,2; 7,7; 27,9; 69,25. 54 6,2; 38,2; 59,14; 88,8. 55 38,4; 69,25; 102,11; vgl. DDT pt m sg: 7,12. " 3 8 , 2 ; 102,11. 57 69,25; 88,17. 58 eigentlich „Nase" spricht das Schnauben vor Zorn an; non „hat ursprünglich wohl vor allem die innere, heiß machende Erregung beim Zorn zum Ausdruck gebracht" (SCHUNCK, non, 1033; ähnlich SAUER, nonN; in DBJ fließen manchmal Anklänge an „drohen", „Böses antun" ein; «^p gibt häufig „eine rasch aufsteigende, heftige und bald auch wieder verklingende Gemütsbewegung" (SAUER, ^Hp, 664) wieder. ]i"in ist die „brennende Wut" (FREEDMAN, mrt, 183). 53

7.2 Gegen den Beter

gerichtet

141

Erklärungsmodell. Hierbei ist der Zorn Gottes Strafe für den Menschen. Dies ist in 6 und 38 der Fall. 2) Der Beter erlebt den Zorn Gottes als irrational, vernichtend und unerklärlich, wie zum Beispiel in 88. Zu 1): Der Zorn Gottes, den sich der Mensch erklären kann, findet sich u.a. in 38. Wie bereits in der Exegese von 38 klar wurde, drückt der Mensch mit folgender Bitte aus, dass er das Handeln Gottes als eine Reaktion, versteht:59 "Jirain ^ ¡ M " 1 » } n y r ' P E ' n ^nongi

JHWH, strafe mich nicht in deinem

38,2 6 0

Zorn und züchtige mich [nicht] in deinem Grimm.

Die Strafe Gottes ist eine Reaktion auf das Verhalten des Beters, wobei letzteres im Psalm als "nstsn ,meine Sünde', Tijii; .meine Vergehen' und 61 'FI ?!« ,meine Torheit' bezeichnet wird. Zorn Gottes und Bestrafung des Beters sind aufeinander bezogen. Und doch bittet der Mensch Gott, von seinem Zorn abzulassen. Er klagt aus der Betroffenheit heraus, wobei aber nicht die Berechtigung der Strafe beklagt oder gar in ihrem Sinn in Frage gestellt wird. Diese Verbindung von Verhalten des Beters und Strafe Gottes ist jedoch nicht unauflösbar. Vielmehr ruft der Mensch Gott in der Erwartung an, dass er diesen Zusammenhang aufbrechen kann. Er weiß, dass Gott nicht nur strafen, sondern dieses Strafen auch beenden kann. In 6 zum Beispiel folgt auf die zitierte Bitte in 6,3 die Bitte rnrv "Don ,sei mir gnädig, JHWH*. Der Erfahrung des Zornes Gottes wird die Bitte um sein gnädiges Handeln gegenübergestellt. Zur Klage führt den Menschen das Wissen, dass zwar das Vergehen, der Zorn und die Strafe zusammengehören, dass zwar der Zorn die Reaktion auf das menschliche Handeln ist,62 1

59

Dies wird besonders deutlich in 38,3, vgl. die Exegese zu 38 unter 4.3. Die gleiche Bitte steht auch am Anfang von 6 - mit dem kleinen Unterschied, dass anstelle von in 6 als Bezeichnung für den Gotteszorn steht. 61 Vgl. zu diesem Verständnis des göttlichen Zorns als Re-aktion: 6,2; 38,2.4. Gegen GROß, Zorn 1999, 225, der meint, in 6 sei im Unterschied zu 38 der göttliche Zorn unerklärbar. Er trennt für seine Argumentation das Motiv des Zorns von den Verben und weist auf die betonte Stellung von ^BNB und ^[nong, die die Bitte um ein Nachlassen des Zornes und nicht so sehr des Züchtigens unterstreiche. Hier wird zu viel seziert, denn die Stellung von und ^nong ist hier eher „for the sake of emphasis" (JOÜON / MURAOKA, Grammar 1991, §160f)- Sowohl in 6 als auch in 38 meint die Eingangsbitte: Gott ist zornig auf den Menschen, und darum straft er ihn, der Mensch seinerseits bittet Gott, von diesem strafenden Handeln abzulassen. Der Zorn ist das Motiv des Strafens. Anders ERBELE-KÜSTER, Rezeptionsästhetik 2001, 157f, die den par.mem. als antithetisch auffasst und meint, der göttliche Zorn sei nicht als Folge des menschlichen Vergehens zu verstehen. 60

62 In diesem Sinne spricht der Psalmist in 7,12 über JHWHs Zürnen, hier gegen die Widersacher gerichtet. Die „Idee der Gerechtigkeit [bedingt] ... den Zorn Gottes" (JA-

NOWSKI, Gerechtigkeit

1998, 26).

142

7. Wie der Beter Gott negativ

erlebt

doch der Zorn nicht die Schuld tilgt. Mit dem Ergehen wird das Tun nicht wieder gutgemacht. Aus der Not als Folge des göttlichen Zornes heraus bittet der Beter um die erneute gnädige Zuwendung Gottes. Die beklagte Situation ändert sich allein durch Gottes Eingreifen, nicht durch ein anderes Verhalten des Menschen. Um Gottes Eingreifen bittet der Mensch. Somit ist das einzige, was der Mensch zur Wendung der Not beitragen kann, seine Klage.63 Zu 2): Einen völlig anders gearteten Zorn Gottes findet man vor allem in 88.64 Hier erlebt der Mensch den Zorn Gottes als willkürlich und lebensbedrohlich.65 ilThni-qr^B 'pninaa 1*0123

über mich sind deine Zornesgluten hingegangen, deine Schrecknisse haben mich vernichtet.

88,17

Während bei der Rede von Gottes Zorn als Strafe für menschliches Fehlverhalten der Zorn eine Reaktion Gottes ist, ist er hier Aktion. Diese als willkürlich erlebten Zornesausbrüche Gottes bilden die primäre Not des Menschen. Gott zerstört das Leben des Menschen.66 Was wird als Zorn Gottes erfahren? Dass dies bereits mit dem Ausbleiben von Gottes Nähe beginnen kann, zeigt der Parallelismus in folgendem Vers: "3!3Q 1"3S inpn-'p« liW'BFT1?!?

Verbirg dein Angesicht nicht vor mir, weise deinen Knecht nicht ab im Zorn

27,9

Auch wenn diese Aussagen - die Verborgenheit Gottes und sein Zorn nicht immer innerhalb eines par.mem. zu finden sind, stehen sie doch auch in anderen Klagen des Einzelnen in inhaltlicher Nähe zueinander. Unheil und Leiden werden als Anzeichen für göttlichen Zorn gewertet. Gottes Verborgenheit wird beklagt: Verben wie pm, D^s + "inD hi und 3TU bestimmen die Bitten (Vetitive). So läßt sich sagen: Als Zorn Gottes erlebt 63 Und nicht, wie es die christliche Rezeption dieser Texte in diese Psalmen hineinliest, Reue oder Buße. 64

88,8.17; vgl. außerdem 27,9;

102,3.11.

65

Hier „erscheint der Zorn YHWHs nicht nur nicht motiviert, er wird nicht durch eine Tat oder Unterlassung des Beters veranlaßt, er bricht überhaupt nicht punktuell aus. Es gibt diesen Zorn einfach, und irgendwann - dem Betroffenen undurchschaubar - versehrt er den einzelnen YHWH-Verehrer." (GROß, Zorn 1999, 226). LINDSTRÖM findet ausschließlich diese Sicht des göttlichen Zornes in den individuellen Klagen, und nicht diejenige, in der Gottes Zorn eine Reaktion auf das Tun des Menschen ist. Dies ist allerdings nur möglich, wenn man mit ihm die Klage des Einzelnen literarkritisch gänzlich von jeglicher Schuld und Sünde säubert. Vgl. LINDSTRÖM, Suffering 1994, und meine Kritik unter „4. Psalm 38". 66 Dieser vernichtende Zorn ist der, den der Beter an anderer Stelle von Gott gegen seine Widersacher erbittet. Vgl. „8.3 Gottes Handeln gegen die Widersacher".

7.2 Gegen den Beter

gerichtet

143

der Beter bereits das Fehlen seiner Zuwendung.67 Passives Verhalten Gottes wird als aktiv gegen den Menschen gerichtet erlebt. Ist Gott verborgen, steht diese Abwesenheit gegen den Menschen. Wie geht der Mensch mit dieser Erfahrung um? Er fragt nicht nach der Ursache,68 nach dem Grund von Gottes Verborgenheit, sondern protestiert dagegen, er ruft Gott, der sich abgewandt hat, an und bittet ihn um erneute Zuwendung. 7.2.4 Zusammenfassung Wenn der Beter vor Gott darüber klagt, dass dieser ihn vernichtet, verstößt und ihn seinen Zorn spüren lässt, dann erfährt der Mensch Gott als gegen sich gerichtet. Gott geht mit vernichtender Gewalt gegen den Beter vor, versetzt ihn in soziale Isolation oder tötet ihn. Letztendlich hat die Not ihre Ursache in dem Abstand zwischen Gott und Mensch. Während der betroffene Mensch in den Individualklagen meist darüber klagt, dass Gott sich von ihm entfernt hat, beschreibt er hier die Erfahrung, dass Gott ihn, den Menschen, aktiv von ihm entfernt. Wie kommt es dazu, dass Gott sich gegen den Menschen wendet? Meist wird die Abwendung Gottes vom Beter nicht hinterfragt, es dominiert die gegenwärtige Situation. In Fragen fordert der Mensch Gott heraus: nab ,Wozu?', er fragt, mit welcher Absicht, welchem Ziel Gott den Betroffenen so behandelt. Eine Erklärung für die Aggression Gottes findet sich in manchen individuellen Klagepsalmen indirekt. Dabei wird das Verhalten Gottes als Re-aktion auf den Beter und sein Handeln beschrieben; der Klagende versteht den Zorn JHWHS als Strafe für eigenes Fehlverhalten. Das heißt aber nicht, dass der Beter sich in diese Folge seines Tun schickt; er bittet Gott vielmehr, von seinem strafenden Zorn abzulassen. Der Mensch selbst kann keine Bußleistung, keine Genugtuung erbringen. In anderen Klagepsalmen eines Einzelnen schildert der Betroffene die Erfahrung, dass JHWH sich willkürlich und aktiv gegen den Menschen richtet. Gott hat das Leben des Menschen in der Hand, und zwar sowohl die Wiederherstellung des ungefährdeten Lebens als auch dessen Beendigung. Darum kommt der Klagende zu Gott mit seiner Not, obgleich die aktuelle Not gerade durch Gott verursacht wird. Der Mensch konfrontiert Gott mit den Folgen seines Tuns. Ihm selbst bleibt nichts anderes, als Gott beharrlich um ein Ablassen von Zorn, Strafe und Vernichtung zu bitten. 67 Vgl. LINDSTRÖM, Suffering 1994, 212, der diese Verbindung zwischen der Abwendung Gottes und dem Zorn herausarbeitet; seine Situierung des deus praesens allein im Tempel ist allerdings nicht überzeugend. 68 Mit LINDSTRÖM, Suffering 1994,444f.

144

7. Wie der Beter Gott negativ

erlebt

Es wird der Spannung der individuellen Klagepsalmen nicht gerecht, wenn man sie vorschnell aufzulösen versucht, wie Schmidt dies tut: „Läßt der Mensch nicht erst dann Gott ,die alles bestimmende Wirklichkeit' sein, wenn er Lichtes wie Dunkles, Erfreuliches wie Leidvolles, das scheinbar Verständliche wie das Unfaßbare aus seiner Hand empfängt?" 69 Dabei bleiben die beiden „Seiten" Gottes, die ferne, zornige auf der einen und die gnädige, zugewandte auf der anderen, unverbunden nebeneinander oder einander gegenüber stehen. Gott ist so oder so die alles bestimmende Wirklichkeit, dies wird aus den Bitten und Fragen des Beters deutlich, aber nicht durch Akzeptanz des Leides, sondern durch das beharrliche Bitten um Gottes erneute Zuwendung.

69

SCHMIDT, Böses 1992, 22, er zitiert R. BULTMANN, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), in, ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1958, 2 6 - 3 7 , hier 26.

Kapitel 8

Was der Beter von Gott erwartet 8.1 Gottes Zuwendung Die Bitten um die erneute gnädige Zuwendung Gottes lassen sich in drei Gruppen aufteilen. Zum einen wird Gott gebeten, den betenden Menschen wieder wahrzunehmen (zu hören und zu sehen), zum anderen sind da die Imperative, bei denen es um eine Bewegung Gottes zum Beter hin geht, die letzte Gruppe bilden die Imperative, die Gottes Einstellung zum Klagenden ansprechen. Worum geht es dem Menschen, wenn er Gott aus einer Notsituation heraus anruft? Die hier aufgeführten Bitten treffen den Kern des Anliegens dieser Psalmen: dass Gott sich dem Menschen wieder gnädig zuwenden möge. 8.1.1 Wahrnehmung jm hi1 - hinhören; ]TK HB) hi2 - das Ohr neigen, zuwenden; qal3 - ach4 5 ten auf; 3tö[5 + ¡vn qal - aufmerksam sein; mu I qal - erhören; 3üp hi6 aufmerken; DQü qal7 - hören Imperative, die auf das (Er-)Hören Gottes zielen, stehen oft im par.mem.8 oder in Reihungen zueinander wie zum Beispiel in 17,1:

1

Imp + n-adhortativum: 5,2; 17,1; 39,13; 54,4; 55,2; 86,6; 140,7; 141,1; 143,1. Imp: 17,6; 31,3; 71,2; 86,1; 88,3; 102,3. 3 Imp + n-adhortativum: 5,2. Dieser Imperativ ist nur l x belegt in den Individualklagen. Wegen des Objektes, das hörbar ist ('j'jn .Seufzen') und des par.mem. zu n r m n , wird es hier unter der Kategorie „Wahrnehmung" eingeordnet. 4 ' l ^ n n 'rip'? ITbBp ^'JT« n3"rnn ,lass deine Ohren aufmerksam sein gegenüber der Stimme meines Flehens' (130,2). 5 Imp + suff lsg: 4,2; 13,4; 27,7; 55,3; 69,14.17f; 86,1; 102,3; 143,1.7 6 Imp hi + n-adhortativum: 5,3; 17,1; 55,3; 61,2; 86,6; 142,7. 7 Imp + n-adhortativum: 17,1; 39,13; 61,2; 102,2; 130,2; Imp: 4,2; 17,6; 27,7; 28,2; 54,4; 64,2; 143,1. 8 Z.B. i m // 5,2; IT« // DOlö 17,1; 39,13; 54,4; 143,1; jT« // Dtöp hi 86,6. 2

146

8. Was der Beter von Gott

erwartet

p-\)i n i x NUQÜ Höre, JHWH, die gerechte Sache, Ti'il •"Q'tSpr! merke auf mein Flehen, Tl'psnnj'tiW höre mein Gebet

17,1

rtüptp / UDO ist der am häufigsten belegte Imperativ, wenn es um das Hören JHWHs geht. Gott wird gebeten, das Anliegen des Beters zu hören.9 Schult macht die bemerkenswerte Feststellung, dass Gott im Alten Testament nie aufgefordert wird, das Lob des Menschen zu hören, sondern als Objekt des Hörens Gottes meist Klagen und Flehen genannt wird.10 Daraus kann man schlussfolgern, dass mit tfQü mehr als ein allgemeines Hören angesprochen ist. Der betroffene Mensch bittet Gott, sich ihm wieder gnädig zuzuwenden.11 Innerhalb der Vielfalt der Verben des Wortfelds „hören" betont ntöp hi das willentliche, bewußt aufmerksame Hinhören.12 Auch ]T« hi ,mit den Ohren handeln, hören'13, zielt auf eine Aktion Gottes. Wenn JHWH hört, heißt das für den betroffenen Menschen, dass er auf ihn zukommt; Hören ist eine Bewegung zum Rufenden hin.14 Diese Bewegung zum Beter hin betont auch die Wendung ^T« ntsn ,neige dein Ohr'. Von Gottes hörender Zuwendung15 erhofft sich der Klagende Hilfe. 16 Die Anspielung auf die Bewegung findet sich auch noch in der Grundbedeutung von niu .umwenden'.17 Es geht dem Beter nicht unbedingt um eine

' Dabei geht es um: T n ö » .meine Rede' (17,6); p^üi .gerechte Sache' (17,1); '^ip .meine Stimme' (27,7; 130,2); 'Jlinn 'rip ,die Stimme meines Flehens' (28,2); " n n .mein Klagen' (39,13; 61,2); -n'PBn .mein Gebet' (4,2; 39,13; 54,4; 102,2; 143,1). 10 SCHULT, DQÜ, 979. Diese Feststellung gilt allgemein für die Bitten um (Er-)Hören Gottes. Zu )T8 hi z.B. finden sich als Objekt: .mein Gebet' (55,2; 86,6); TOIE .mein Hilferuf (39,13); "3lJnn bip / "junir^!} .mein Flehen' (140,7 / 143,1); ' n n .mein Schreien' (17,1); "^ip ,meine Stimme' (141,1); n » / SN? .meine Worte' (5,2 / 54, 4); als Obj zu ntDp hi: "IJIB bn pi121 - verabscheuen Auch die Schilderungen des Beters, dass Gott an den Gegnern handelt, haben eine Entsprechung in den Bitten um Gottes Eingreifen gegen die Widersacher. Verglichen mit den dort gesammelten Aussagen ist die Anzahl der hier aufgeführten Belege jedoch auffallend gering. In der Bedrohung spielen die Gegner offensichtlich eine größere Rolle als in Zeiten, in denen diese Bedrohung nicht oder nicht mehr herrscht. Was die Wortwahl angeht, finden sich Übereinstimmungen in der Wurzel in« und dem Motiv des Pfeils.122 Inhaltlich handeln die positiven Erfahrungen von Gottes Handeln an den Widersachern von der Einstellung JHWHs und vor allem von ihrer erfolgten Vernichtung. Formell können sie unterteilt werden in allgemeine Bekenntnisse (z.B. 5,6f), auf den Beter bezogene Berichte (z.B. 57,3) und auf die Gegner zielende Konstatierungen (z.B. 109,27).

10.11 Gottes Macht und Güte „L.^

JHWH

3(ÖV ttfi-li? nn«! L >«"itD'' ni^nn msir-it?« ^rnB-rn np T^T 1 ?

113

j s t König für immer und ewig

10,16

denn du bist heilig, thronend (j e n Lobgesängen Israels

22,4

w i e groß ist deine Güte, die du denen bereithältst, die dich fürchten;

31,20

auf

5,7 (Obj 313 "131 ,Lügner'). 28,5. 115 57,3 (pt). 116 28,5. 1,7 109,27. 118 64,8, wo die Antwort Gottes auf die Bedrohung durch die Gegner sogar mit derselben Waffe ausgetragen wird. In 64,4 schildert der Psalmist die Pfeile der Widersacher, hier trifft Gott mit Pfeilen. Zum Motiv des Pfeils vgl. die Bemerkungen in der Exegese zu 38,3 unter 4.3. 119 109,27. 120 5,6 (Obj 11« -bVB-bl .alle Übeltäter'). 121 5,7 (Obj npiDi o-BlTD'"« .Mörder und Betrüger'). 122 pn (dort mit n be qal, hier mit ¡"IT hi). 114

220

10. Wie der Beter Gott positiv erlebt o'Dh1? nbiis du erweist sie denen, die sich zu dir flüchten, gegenüber den Menschen. 3iB"'3 denn du bist gut Dli?

er thront von der Urzeit an

Di-iö~ijj trnbt} i n p n a i Und deine Gerechtigkeit, Gott, reicht hoch;123 ni^Ti ivtoir-iitf« der du Großes getan hast. -p n-nb« Gott, wer ist wie du? Keiner ist dir gleich unter den Göttern, ftops "j'n» Herr, und nichts gleicht deinen Werken. Alle Völker, die du geschaffen hast, werden kommen 1 -a'-rt? f p s ? n n n p ' i und sich niederwerfen vor dir, Herr, "^pC/ n 3 3 - i und deinen Namen ehren; n i s b s : nfci)i nn« denn du bist groß, und du tust Wunder, 1 TJ3 ? D-nb« nri» du allein bist Gott.

54,8 55,20 71,19

86,8

86,9

86,10

Anreden "na124 - mein Herr; Tibs -n« 125 - mein Herr, mein Gott; n-n1?«126 - Gott; nn«127 - du; nn«]128 - du aber; nn«i129 - du aber, mein Herr; nn«! 131 130 n-n^K - du aber, Gott; nyr nn«] - du aber, JHWH; mn- 1 3 2 - JHWH; tönp 133 - Heiliger Israels Hier geht es im Lob des Menschen um Gott selbst. Der Beter betont, dass Gott gut ist, gerecht und mächtig. Wunderbares Handeln zeichnet ihn aus. Ist der Mensch in der Not einzig auf Gott gewiesen, der allein aus dieser Lage retten kann, preist er hier diese Einzigartigkeit Gottes als positive Erfahrung. Die Macht und Singularität bringen das Kollektiv in den 123

Vgl. 109,27, wo die Widersacher Gott als den Urheber großer Taten erkennen müssen. 124 86,5.8f. 125

126

86,12.

57,8; 71,19(2x). 127 5,5.13; 10,14(2x); 22,10f; 25,5; 31,4f.l5; 38,16; 43,2; 56,9; 61,6; 69,6.20; 71,3. 5f; 86,5.10.17; 102,14; 109,27; 140,7; 142,6; 143,10. 128 3,4; 71,7; 102,27f; 109,28; 142,4. 129 86,15. 130 55,24. 131 102,13. 132 5,13; 54,8. ,33 71,22.

10.12 Zusammenfassung

221

Blick: in 22 die Lobgesänge ganz Israels und in 86 sogar die gesamte Völkerwelt. In den Anreden134 spricht der betende Mensch Gottes Beziehung zu ihm, jhwhs Macht und Einfluss, an. Auffällig ist, dass der Beter wesentlich häufiger als in Klage und Bitte Gott mit nn« ,du' anredet. ,Du' gilt einer bereits genannten Beziehung, es ist die Anrede in einem fortgesetzten Dialog. Dass diese Anrede weniger in Klage und Bitte vorkommt, liegt zum einen an der Position innerhalb der Klagen des Einzelnen, an der diese positiven Erfahrungen mit Gott zu finden sind. Ein Klagepsalm beginnt mit Klage, mit der Anrede Gottes aus der Noterfahrung heraus, nicht mit Lobpreis. Dieser findet sich, wenn überhaupt, im späteren Verlauf des Gebets. Zum anderen könnte mit dem nn« auch eine bereits entstandene Vertrautheit und Nähe ausgedrückt werden. Dies legen vor allem die in einem Gegensatz formulierten Anreden nn«i sowie Kombinationen mit nn«i nahe. Während der Betroffene in Not steckt, steht Gott ihm als das Gegenteil der Not, nämlich das Leben, gegenüber.

10.12 Zusammenfassung Zunächst ist festzustellen, dass die formale Frage, ob die durch den Beter gemachten Aussagen präsentisch, futurisch oder perfektisch zu übersetzen sind, nicht eindeutig aufgrund grammatischer Kriterien zu klären ist. Die Übersetzung der Verben ist jeweils abhängig von der exegetischen Einschätzung des Inhalts, der Stellung der Aussage innerhalb des Textes und ihrer Funktion im Zusammenhang der Textsorte im allgemeinen. Eine Beobachtung in den Schilderungen der positiven Erfahrungen des Beters mit Gott ist neu, vergleicht man sie mit den negativen Beschreibungen und den geäußerten Erwartungen: Der Psalmist formuliert auffallend häufig allgemein gehaltene Aussagen, die auch über j h w h und nicht nur direkt an ihn gerichtet gehalten sind. Es gibt vergleichsweise weniger Suffixe, die die Beziehung zwischen betendem Menschen und Gott betonen. Bei den positiven, nicht bedrohlichen Schilderungen hat es der betende Mensch offenkundig nicht so nötig, an Gott festzuhalten, weil er sich seinerseits von Gott gehalten fühlt. Offensichtlich ist das sprachliche Netz des Dialogs nicht mehr so eng gewoben. Des weiteren finden sich häufig Aussagen, bei denen der Betende nicht bei sich selbst stehen bleibt, sondern sich in das Kollektiv integriert. Dies wird in der Exegese meist der so genannten Kollektivierung zugeschrieben, die im Verlauf der Redaktionsgeschichte der Psalmen vorgenommen 134

Vgl. ausführlicher zu den Anreden „9. Wie der Beter Gott anredet".

222

10. Wie der Beter Gott positiv

erlebt

worden sein soll. Vieles spricht für diese These,135 doch will ich eine Beobachtung dieser Annahme hinzufügen: Die Formulierungen in der 3pl / lpl kommen lediglich in diesem Kontext, den positiven Erfahrungen und Ausblicken, vor. In der Beschreibung der Not und den daraus resultierenden Hilfeschreien ist und bleibt der Klagende allein, dort gibt es keine im Plural gehaltenen Aussagen. Während sich der Mensch in seiner Not isoliert fühlt von Gott und seinen Mitmenschen, die ihm höchstens feindlich begegnen, gehört zu den positiven Erfahrungen die Integration in die Gemeinschaft. Formuliert der Betende seine Einsichten allgemein und / oder in der Mehrzahl, so gliedert er sich selbst damit in die Gemeinschaft ein und erlebt auf diese Weise seine Zugehörigkeit zu ihr.136 Thematisch sind die Schilderungen der positiven Gotteserfahrungen des Beters den negativen Erfahrungen und den Erwartungen deutlich zuzuordnen. Sie entsprechen einander, zum Teil bis in die Wortwahl hinein. Dabei dominieren die Schilderungen von Gottes Zuwendung und seiner rettenden Hilfe. Auffallend selten geht es um JHWHS Handeln an den Widersachern. Sobald die Gefahr gewichen ist, die Widersacher demnach keine solchen mehr sind, spielen sie kaum noch eine Rolle. Welche Funktion die positiven Aussagen des Beters über Gott haben, hängt von ihrer Stellung im jeweiligen Psalm ab. Durchbricht ein Lob oder eine Vertrauensbekundung die Notbeschreibung, dürften diese die Funktion der Erinnerung und Erwartung haben. Wie bei den Anreden im Kontext der Klage spricht auch hier der betende Mensch aus, wie er Gott in der Vergangenheit erfahren hat und in Zukunft zu erfahren hofft. Der betende Mensch stellt die aktuelle negative und die erinnerte sowie erwünschte positive Gotteserfahrung nebeneinander. Dieses Nebeneinander birgt eine eigene Dynamik, wobei er coram Deo seine gegensätzlichen Gotteserfahrungen ausspricht.137 Gott wird mit sich selbst konfrontiert. Endet dagegen das Psalmgebet mit einer positiven Schilderung, dürfte es sich hierbei um eine aktuelle Erfahrung handeln. Der Mensch hat den Weg aus der Not zum Leben zurückgefunden, er preist seinen Retter.

135 In diesem Kollektivierungsprozess wurden allerdings nicht nur die individuellen Texte um einige kollektive Verse erweitert, er ist zugleich eine Entwicklung in der Anwendung der Texte, bei dem sich die Gemeinschaft in dem betenden Ich der individualklage zusammenfand. Dies jedoch spielt bei der obigen Argumentation keine Rolle, da es Gegenstand der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Psalmen ist, die für diese Untersuchung nicht relevant sind. 136 137

Vgl. hierzu z.B. 61,6. Dies wurde in dem Beispiel-Psalm 56 bereits deutlich.

Kapitel 11

Zusammenfassung Wie steht der Mensch vor Gott in den individuellen Klagepsalmen? Für die Beantwortung dieser Frage wurden die Aussagen des Beters über sich und seine Situation sowie die in den Klageliedern des Einzelnen geäußerten Vorstellungen über Gott untersucht. Dies geschah auf zwei unterschiedlichen Wegen: Zum einen durch die Exegese der Psalmen 56, 88 und 38, die als Beispiele für die individuellen Klagepsalmen gewählt wurden. Dieser Schritt machte das Verhältnis von Mensch und Gott innerhalb des Verlaufs des jeweiligen Psalms deutlich. Zum anderen wurden alle Klagen des Einzelnen im Hinblick auf Aussagen des Beters über sich, Andere und Gott gelesen, um eine Übersicht über das Verhältnis von Mensch und Gott in der Textgruppe Klagelieder des Einzelnen zu gewinnen. Für die Textgrundlage, die Klagelieder des Einzelnen, erwies sich der Begriff „Gattung" als missverständlich und wurde darum durch den neutraleren Begriff „Textgruppe" ersetzt. In den Klagen des Einzelnen klagt ein durch Not getroffener Mensch vor und zu Gott. Damit wendet er sich an den, der in letzter Konsequenz die Not erst möglich gemacht hat, denn jegliche Not ist in der Erfahrung des Betroffenen eine Folge der Abwendung Gottes. Ist Gott fern, dann steht nicht weniger als das Leben des Klagenden auf dem Spiel. So hat der Einzelne in allen individuellen Klagepsalmen letztendlich nur ein Anliegen: die erneute gnädige Zuwendung Gottes. Schon durch den Vollzug des Gebetes an sich spricht der Beter die Erwartung einer Reaktion Gottes aus. Indem er mit seiner Klage nicht bei sich selbst stehen bleibt, sondern sich bewusst an Gott richtet, vertraut er darauf, dass dieser ihn retten kann. Vertrauen auf Gott ist somit Voraussetzung für das Gebet und seine Bestätigung zugleich sein Ziel. Jedes Klagegebet gibt einen Prozess wieder. Der Verlauf des Gebetes kann dabei im einzelnen sehr verschieden sein; so mündet nicht jede Klage in Lob und Dank, wie es viele Exegeten, die von einem festen Schema der Klagelieder des Einzelnen ausgehen, erwarten. Der Beter stellt zwei unterschiedliche Gotteserfahrungen einander gegenüber: Auf der einen Seite steht die Erinnerung an und Hoffnung auf den Gott, der sich gnädig zuwendet, auf der anderen Seite die aktuelle Erfahrung des Gottes, der sich abgewandt hat. Coram Deo konfrontiert der Mensch diese wider-

224

11.

Zusammenfassung

sprüchlichen Gottesbilder miteinander. Dieses Gefecht kann in eine erneute Erfahrung von Gottes Zuwendung münden (Psalm 56), es kann auch unentschieden mit einer Bitte um Hilfe enden (Psalm 38), oder der Ausweg aus der Finsternis und Gottesferne wird nicht gefunden (Psalm 88). Wie sieht sich der Mensch vor Gott in den individuellen Klagepsalmen? Am meisten fällt die Passivität des Beters auf. Alles muss von Gott kommen. Das kann selbst so weit gehen, dass Gott den Mund des Beters öffnen muss, damit dieser ihn loben kann (51,17). Auch gegen seine Widersacher kann er nichts ausrichten. Der Betroffene selbst hat keine Kraft mehr, er sieht keine Möglichkeit, selber etwas zur Wende seiner Not beizutragen, außer dem Klagen. Dies zeigt, wie abhängig der betende Mensch von Gott ist. Sein Leben ist auf Gottes Nähe angewiesen. Diese totale Abhängigkeit hat zur Folge, dass sich der Mensch in seiner Not ausschließlich auf Gott hin orientiert. Sprachlich zeigt sich das in den Klagen des Einzelnen unter anderem in einem dichten Geflecht von Suffixen, mit denen die Beziehung zwischen dem Ich des Beters und dem Du Gottes unablässig benannt wird. Auch auf diese Weise hält der Beter an Gott fest. Dementsprechend sind in Lob und Dank die Suffixe wesentlich seltener: Ist die Beziehung zwischen betendem Menschen und JHWH stabil, ist der Nachdruck auf dieser nicht so nötig. Wie schildert der Klagende nun im einzelnen seine Situation? Kennzeichnend ist die Vielfalt der Bilder, mit denen er seine Lage beschreibt. Dabei kongruieren die Bilder nicht miteinander: In der Notschilderung können Bilder verwandt werden, die in den Bitten an Gott, gegen die Not anzugehen, nicht wieder aufgenommen werden. Die Frage, ob ein Ausdruck im übertragenen oder konkreten Sinn zu verstehen ist, muss in den meisten Fällen unbeantwortet bleiben. Angesichts des Charakters der Texte dürfte häufig beides möglich sein. Die Fülle der Ausdrücke unterstreicht, wie massiv die Bedrohung und demnach die Dringlichkeit von Gottes Eingreifen ist. Die gleiche Funktion haben die umfassenden Zeitangaben: Unaufhörlich klagt der Beter vor Gott, ebenso wie ihn die Not ununterbrochen bedrängt. Allgemein gilt in den Notschilderungen die Aufmerksamkeit nicht der Frage nach dem Warum, nach der Genese der aktuellen Situation. Die Vorgeschichte spielt kaum je eine Rolle, was zählt, ist die bloße Tatsache der gegenwärtigen Not. Der Beter wendet seinen Blick selten zurück; was ihn umtreibt, ist die momentane Lage und ihre drohenden Folgen. Er fragt nach dem Sinn und Ziel (nob , Wozu?'). Dieser Wahrnehmung entspricht anders, als die Rezeptionsgeschichte vermuten ließe - die meist marginale Rolle, die das Thema Sünde spielt. Der Beter spricht seine Verfehlungen an, doch diese werden mit wenigen Ausnahmen nicht in einen Zusammenhang gestellt mit der Frage nach der Ursache der Not und nie mit einer

11.

Zusammenfassung

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möglichen Wiedergutmachung vonseiten des Menschen. Durch die gleiche Perspektive sind die Schilderungen der Konflikte mit anderen Menschen bestimmt. Auch hier zählt nur die Gegenwart, nicht die Vergangenheit eine Ausnahme bildet 55,14f. In der Ich-Klage beschreibt der betroffene Mensch sein Leben als eines an der Grenze zum Tod, bestimmt von Angst, Bedrängnis, Mangel an lebensnotwendigen Dingen, und bedroht durch Finsternis, Wasser, Wind, Gefangenschaft, Einsamkeit sowie vorzeitiges Sterben. Bildliche und konkrete Ausdrücke sind hier nicht klar zu unterscheiden. Gleiches gilt für die körperlichen Zustände, die der Klagende schildert. Die unabsehbare Dauer der Bedrängnis wirkt verstärkend. Alle Not erfährt der Beter als Folge von Gottes Ferne. Gott lässt die Not zu, darum ist auch die Ich-Klage letzten Endes Gott-Klage. In vielen individuellen Klagepsalmen nimmt die Klage über andere Menschen einen großen Raum ein. Die Klage über Gegner, Feinde oder auch untreu gewordene Freunde hat unterschiedliche Funktionen: Die Widersacher bilden die primäre oder die sekundäre Not. Im ersten Fall sind es die Gegner selbst, die den Betroffenen in die Not gebracht haben, im letzteren ist die primäre Not eine andere, auf die Dritte jedoch reagieren. Interessanterweise werden die Widersacher nur durch ihr Tun, ihr Reden, überhaupt ihre Einstellung zum Beter charakterisiert und interessieren als Person überhaupt nicht. Dies wird zum einen deutlich durch ihre Benennung in Form vieler Partizipialformen (zum Beispiel a n "irn ,Lüge Redende' 5,7) und zum anderen durch den auffallend geringen Anteil dieser Gruppe in Lob und Dank. Die Frage nach der Identität dieser anderen Menschen ist nicht textgemäß, wohl die Frage nach ihrer Funktion innerhalb des Gebetsgeschehens. Sie haben eine typische Bedeutung, sie stehen für das, was die eigene Existenz infrage stellt oder bedroht. Durch ihre aggressive oder distanzierte Haltung gegenüber dem Betenden bringen sie diesen in soziale Isolation, was der Todesnot gleichkommt. Der Einfluss der Gegner ist ein Indiz für die gefährdete Beziehung zwischen dem Beter und JHWH, denn nur weil Gott fern ist, können die Widersacher so einflussreich sein. Dementsprechend sind umgekehrt die Gegner nur durch die Macht Gottes zu entmachten. Hinter dieser Erfahrungsperspektive des betroffenen Menschen steht ein Denken in Machtbereichen: Entweder ist er dem Machtbereich des Todes ausgeliefert, oder Gott nimmt ihn in seinen Machtbereich auf, der das Leben erst ermöglicht. Letztendlich ist damit auch die Klage über andere Menschen auf indirektem Wege Gott-KlageIn der ausdrücklichen Gott-Klage ist das Hauptthema die Ferne JHWHs. Entzieht Gott dem Menschen seine Nähe, nimmt er ihm damit zugleich die Lebensgrundlage. Der Mangel an Gottes Zuwendung ist Kern aller

226

11.

Zusammenfassung

erfahrenen Not. Dabei hinterfragt der Klagende nicht die Abwendung, er fragt nicht nach der Ursache, sondern beklagt Gottes Haltung. Aus dieser Erfahrung der Gottesferne heraus beruft sich der Betroffene beharrlich auf seine Beziehung zu Gott und appelliert auf diese Weise an Gottes Verantwortlichkeit für ihn. Der betende Mensch erlebt Gott in der Gott-Klage allerdings nicht nur als distanziert, sondern auch als nah, doch dann im negativen Sinn. Er kann Gott als gegen sich gerichtet, sozial isolierend, vernichtend, ja tötend erfahren, JHWH entfernt den Menschen von sich, und zwar aktiv. Sein Zorn kann in diesem Zusammenhang entweder ein willkürlicher Akt oder eine Reaktion auf menschliches Fehlverhalten sein. In allen Fällen ist deutlich, dass der Mensch selbst keine Genugtuung zur Abwendung des göttlichen Zorns leisten kann. Indem er Gott mit den Folgen seiner Aggression konfrontiert, hofft er, dass dieser von seinem Zorn ablässt und sich wieder gnädig zeigt. Die Erfahrung von Gottes Ferne oder Aggression einerseits und seine erwünschte Nähe andererseits werden nicht in einen inneren Zusammenhang gebracht, die Schilderung der aktuellen Situation und die Bitten um Gottes Zuwendung stehen unverbunden nebeneinander. Häufig wird hier dennoch ein Zusammenhang gesehen, der dann mit dem Modell des so genannten „Tun-Ergehen-Zusammenhangs" erklärt wird. Dieser ist aber als Deutungsschema für die Klagen des Einzelnen nicht geeignet. Im Unterschied zu diesem Erklärungsmodell wird Gott in den individuellen Klagepsalmen nicht als bloße Macht, sondern sehr persönlich erfahren und angesprochen. Gott wird eine direkte und aktive Rolle zugedacht. Von ihm geht alle Aktion aus, nur sein Eingreifen kann die Lage des Betroffenen ändern. Gott steht zwischen Tun und Ergehen des Menschen. Da sich der Mensch in den Klagen des Einzelnen vollkommen passiv aufstellt sieht man einmal von der Aktion des Betens an sich ab - muss dementsprechend alles Handeln von Gott ausgehen. Der betende Mensch erhofft von ihm sogar Einsicht, damit er ihn daraufhin fürchtet, und ist auf Gottes Weisung, Rettung und Vergebung angewiesen. Die Bitten um Gottes Eingreifen gegen die Widersacher des Beters, in denen wiederum alles Handeln von Gott kommen muss und der Betroffene selbst völlig tatenlos bleibt, entsprechen der bereits beschriebenen Passivität des Klagenden. Diese resultiert auch hier aus der Kraftlosigkeit und Unfähigkeit, selbst Schritte zu unternehmen, und nicht aus einer wie auch immer friedliebenden Motivation. Im Gegenteil, der Beter fleht um Vergeltung: Was die Gegner ihm angetan haben, muss Gott jenen antun. Deutet der Mensch seine Not als Ferne Gottes, erhofft er sich von Gottes Nähe Schutz und Sicherheit, Hilfe und Rettung, Erneuerung und Erhaltung seines zerrütteten Lebens. Durch die Zuwendung Gottes gewinnt der

11.

Zusammenfassung

227

Betroffene eine unangreifbare Position, mehr noch, Gott selbst wird ihm zum schützenden Zufluchtsort. Der Raum der göttlichen Ordnung, die Gerechtigkeit Gottes, ist die ersehnte Zuflucht des Menschen in seiner Not. Auch hier kommt das Denken in Machtbereichen zum Tragen. Das Gottesbild der individuellen Klagepsalmen zeigt sich auch in den Anreden. Wiederum fällt die Fülle der Suffixe 1. Singular auf. Der Beter redet Gott an als mein Gott. Gott ist für ihn ein Gott in Relation zum Menschen, er erfährt ihn nur im persönlichen Bezug. Als Retter, Helfer, Befreier, Stärke, Macht und Richter, der ihm sein Recht verschafft, ruft er ihn an. Bemerkenswert ist, dass Gott nicht als Schöpfer angeredet wird. Im Unterschied zu den Notschilderungen und Bitten finden sich im Lob auffallend wenig persönliche Aussagen; das Netz der Suffixe ist nicht so engmaschig gewoben, es dominieren allgemeingültige Aussagen, die auch häufiger über JHWH als an ihn gerichtet ausgesprochen werden. Außerdem charakterisieren kollektiv gehaltene Formulierungen das Lob. War der Beter in seiner Not sozial isoliert, ist er im Lob Gottes in die Gemeinschaft integriert. Ein weiteres Kennzeichen der positiven Aussagen über Gott ist, dass die Widersacher in diesen Teilen der Klagen des Einzelnen bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit bekommen. Wenn die Aggression gegen den Betroffenen gestoppt ist, spielen deren Urheber keine Rolle mehr. Insgesamt enthält jeder individuelle Klagepsalm eine eigene Dynamik, die sich durch die unvermittelte Konfrontation der aktuellen Erfahrung von Gottes Abwendung mit der Hoffnung auf Gottes gnädige Zuwendung ergibt. Dabei finden sich in allen Bereichen der Klagelieder des Einzelnen, der Klage, den Erwartungen und dem Lob, thematische Entsprechungen: Erfährt zum Beispiel der Beter Gott als denjenigen, der sein Leben vernichtet, bittet er ihn um die Erhaltung seines Lebens und um die Vernichtung des Lebens seiner Widersacher; hassen ihn die Gegner, lässt er vor Gott seinem eigenen Hass freien Lauf. Seine negativen Erfahrungen sind das Gegenstück seiner Erwartungen, zum Teil bis in die Wortwahl hinein. Der Prozess der Klagegebete ist von Psalm zu Psalm unterschiedlich, doch die einzelnen Elemente haben durchgehend typische Funktionen. Die Anreden enthalten die erwähnte Spannung zwischen aktueller und erhoffter Gotteserfahrung in nuce: Wenn der Mensch Gott wie in 22,2 anruft als ,mein Gott', ihm aber im nächsten Atemzug vorwirft, ihn verlassen zu haben, stehen Anrede und Klage in einem krassen Widerspruch zueinander. Auf diese Weise erinnert er sich und zugleich Gott daran, dass Gott für ihn mein Gott war, ist und sich als solcher wieder erfahren lassen muss. Die Anreden sind ein Appell an Gottes Gott-Sein, um dessen willen

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11.

Zusammenfassung

er gebeten wird, dem Beter zum Leben zurück zu helfen. Durch die Anreden betont der Klagende seine Zugehörigkeit zu Gott. Die Vertrauensäußerungen haben zum Teil ähnliche Funktionen: Der betende Mensch ermutigt sich selbst durch Erinnerung an Gott, wie er ihn früher bereits erfahren hat, und er legt Gott einen Beweggrund vor, um sich wieder als der zu erweisen, wie er in den Vertrauensbekundungen benannt ist. Mit den Notschilderungen spricht der Beter aus, was ihn bedrängt. Indem er dies vor Gott tut, stellt er seine Not gleichzeitig in eine andere Dimension; auf indirekte Weise spricht er mit den Notbeschreibungen eine Erwartung aus, die Erwartung, dass Gott sich die Klage nicht nur anhört, sondern den Betroffenen aus der Not errettet. Auch dieses Element der Individualklage ist somit ein Appell an Gottes Verantwortlichkeit dem Beter gegenüber. Lob und Dank können je nach Interpretation der Tempora und Position innerhalb des Klagelieds des Einzelnen die Funktionen der Erinnerung, der Selbstermutigung und Erwartung oder die des Dankes, der Schilderung erfahrener Rettung und Beschreibung der aktuellen Situation haben. Lob ist das Kennzeichen des Lebens schlechthin. Nur Tote können J H W H nicht mehr loben (6,6; 88,12). Darum ist die Rückkehr aus der Todesnähe zum Lob Gottes für den Menschen lebensnotwendig. Mit dem Klagegebet insgesamt erhält der Betende die Beziehung zu Gott aufrecht. Er hält Gott und sich an Gott fest, indem er ihm seine Not und seine Erwartungen vorlegt. Nicht die Akzeptanz des Leidens, sondern die Errettung aus der Not ist Ziel seines Betens. Mit seiner beharrlichen Klage ringt der Mensch um die erneute Zuwendung Gottes, damit er zum Loben und so zum Leben zurückfindet. Solange der Mensch noch betet, auch wenn er klagt, ist er noch nicht tot. Darum ist die Klage ein Lob Gottes, wenn auch eins aus der Tiefe der Not.

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